Theater als Kritik: Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 9783839444528

Current research on the critique potential of theaters - and the theatrical element of critique.

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German Pages 578 [576] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das eine Kriterium für das, was geschieht. Aristoteles: Poetik. Brecht: »Kleines Organon«
Das Spiel des Theaters und die Veränderung der Welt
Die Fiktion der Kritik. Foucault, Butler und das Theater der Ent-Unterwer fung
Kritische Praktiken im Gegenwartstheater
Gegenwart und Entzug. Entwurf einer Grenzhaltung in Rabih Mroués Riding on a Cloud
Pluriversen im Versuch. Distanzlose Konstellationen der Welt bei Kate McIntosh
Postfundamentalistische Kritik – ein romantisches Projekt? Über (Un–)Möglichkeiten emanzipatorischen Theaters am Beispiel von René Pollesch
Werkgenealogie und Selbstkritik. Christoph Schlingensiefs Kunst und Gemüse. A. Hipler
Komik als ›kritische‹ Strategie. Zur Frage der Unterscheidbarkeit von Subversion und Affirmation am Beispiel von Verrücktes Blut
›I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION‹. Eine Praktik des Scheins als kritische Praxis: Zur Ironisierung anti–illusionistischer Topoi in Iggy und Maike Lond Malmborgs Per formance 99 Words for Void
Gewalt, Politik, Kritik
Hamamness. Zur kritischen Dimension einer Hamburger Theaterversammlung von 2015
Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis. Foucault, Butler und Le Roy
Affective Queertique. N.O. Body als Beispiel für das queering von Kritik
Kritische affektive Räume im Theater der Gegenwart
Kritik im Schlaf? Schlafen als Kritik
Nicht mehr – noch nicht. Überlegungen zu einem Theater des Utopischen
Theater als kritische Praxis des Denkens und Agierens
Rechtskritik und Klage. Szene der Entscheidung in Kafkas Heizer
Kritik und Klage. Loraux, Scholem, Billinger & Schulz
Kritisches Theater jenseits der Illusion?
Amnesie und Komplott. Zu Brechts Lustspiel Mann ist Mann
Brechts kleine Kritik
Kritisches Durchspielen. Spiel und Kritik in Milo Raus Five Easy Pieces
Kritisches Leben: Schlingensiefs Selbstsorge
affekt*argument*a*tivität. Überlegungen zur Verschmelzung von Argument und Affekt in theatraler Kritik
Tanzästhetische Strategien von Rausch. Körper/Szenen der Ausschreitung
Schreiben als/in Performance. new work von Christina Ciupke, Mart Kangro und Nik Haffner
Politics of Touch. Körper, Berührung, Kritik
Kritik und Kreativität im devised theatre
Zwischen kritischem und mythischem Denken in Stifters Dinge von Heiner Goebbels
Kritische (Ent–?)Subjektivierung im Theater?
Kritik und Öffentlichkeit im Theater
Das kritische Theater Friedrich Schlegels
Institutionskritik und Regie. Produktion und Rezeption der künstlerischen Freiheit am Bremer Theater 1969
Weiße Haut und schwarze Schminke. Ver flechtungen von Geschlecht und »Rasse« im deutschsprachigen Theater
Occupy Art. Zwischen Aktivismus und Kunst
Theater – Kritik – Agon. Die ›erweiterte Denkungsart der medialen Öffentlichkeit‹
Wenn die Flöte Hamlets kritisieren könnte. Kritik als Theater in der Sowjetunion der 1930er Jahre
Das Schauspiel der Kritik
Kritik des Dispositivs des Theaters in Vergangenheit und Gegenwart
Übersetzung und Kritik. Shakespeare, Voltaire, Lessing
Kritik des Parterres. Zur Agonistik des Geschmacks um 1800
Kritische Physis. Schillers Szenen der Kritik
Das Singspiel als kritische Praxis
»Am Anfang«. Die Kritik und ihre Aporien, der Tod und seine Abschaffung am Beispiel Valeska Gerts
Kraft des Irrens. Moholy–Nagys Experimentaltheater und die Biozentrik der Moderne
Störung. Dimensionen der Konstitution und Kritik im Dispositiv
Nachwuchsfestivals als kritisches Dispositiv. Zwischen institutioneller Öffnung und Einhegung von Kritik
Kritik der Kritik
»Mimique«. Zu Derridas Theatralisierung der Rede und seiner diakritischen Arbeit am Wort
»… das Ärmchen kam immer wieder heraus«. Vom Eigensinn als kritischem Überschuss
Diesseits der Kritik. oder Szene auf unsicherem Grund (in Nietzsches Also sprach Zarathustra)
»WIE GESTANK, DER IHN UMWEHT …«. Kritik im Zeichen von Gouvernementalisierung
Reenactment ist keine Rekonstruktion, sondern das Aufbrechen von Ereignissen
Krisen der Kritik und die Chance der Affirmation. Über die Bejahung von Instabilitätser fahrungen in Kunst und Theorie
Produktion als Kritik
Teilen statt Produzieren. Kollaboration als affirmative Kritik in 6M1L
Das Lehrstück (vom) Theater. Fragen an das Verhältnis von Kritik und Lehre
Autorinnen und Autoren
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Theater als Kritik: Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung
 9783839444528

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Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund (Hg.) Theater als Kritik

Theater  | Band 113

Die Tagung »Theater als Kritik« wurde 2016 von der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Kooperation mit dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Professur für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main durchgeführt. Tagung und Publikation wurden gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Hessische Theaterakademie, den Kulturfonds RheinMain, das Schweizerische Generalkonsulat, das Kulturamt der Stadt Frankfurt, die Freunde und Förderer der Goethe-Universität, die Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Goethe-Universität, das Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität und die Gießener Hochschulgesellschaft. Die Tagung konnte durchgeführt werden mit freundlicher Unterstützung durch das Künstlerhaus Mousonturm, das Frankfurt LAB und das Stadttheater Gießen.

Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund (Hg.)

Theater als Kritik Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Eike Dingler Lektorat: Magnus Chrapkowski Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4452-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4452-8 https://doi.org/10.14361/9783839444528 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund | 11

Das eine Kriterium für das, was geschieht Aristoteles: Poetik. Brecht: »Kleines Organon« Werner Hamacher | 19 Das Spiel des Theaters und die Veränderung der Welt Christoph Menke | 37 Die Fiktion der Kritik Foucault, Butler und das Theater der Ent-Unterwer fung Nikolaus Müller-Schöll | 49

Kritische Praktiken im Gegenwartstheater Gegenwart und Entzug Entwur f einer Grenzhaltung in Rabih Mroués Riding on a Cloud Julia Schade | 59 Pluriversen im Versuch Distanzlose Konstellationen der Welt bei Kate McIntosh Leon Gabriel | 69 Postfundamentalistische Kritik – ein romantisches Projekt? Über (Un-)Möglichkeiten emanzipatorischen Theaters am Beispiel von René Pollesch Andreas Tobler | 79 Werkgenealogie und Selbstkritik Christoph Schlingensiefs Kunst und Gemüse. A. Hipler Sarah Ralfs | 87

Komik als ›kritische‹ Strategie Zur Frage der Unterscheidbarkeit von Subversion und Affirmation am Beispiel von Verrücktes Blut Hans Roth | 95 ›I HATE THE ATRE – IT’S JUST ILLUSION‹ Eine Praktik des Scheins als kritische Praxis: Zur Ironisierung anti-illusionistischer Topoi in Iggy und Maike Lond Malmborgs Per formance 99 Words for Void André Eiermann | 103 Gewalt, Politik, Kritik Michael Wehren | 111 Hamamness Zur kritischen Dimension einer Hamburger Theater versammlung von 2015 Martin Jörg Schäfer | 121 Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis Foucault, Butler und Le Roy Olivia Ebert, Leonie Otto | 129 Affective Queertique N.O. Body als Beispiel für das queering von Kritik Sophie Nikoleit | 139 Kritische affektive Räume im Theater der Gegenwart Frithwin Wagner-Lippok | 149 Kritik im Schlaf? Schlafen als Kritik Annika Rink | 159 Nicht mehr – noch nicht Überlegungen zu einem Theater des Utopischen Philipp Schulte | 167

Theater als kritische Praxis des Denkens und Agierens Rechtskritik und Klage Szene der Entscheidung in Kafkas Heizer Juliane Prade-Weiss | 179 Kritik und Klage Loraux, Scholem, Billinger & Schulz Jörn Etzold | 189

Kritisches Theater jenseits der Illusion? Jana Telscher | 199 Amnesie und Komplott Zu Brechts Lustspiel Mann ist Mann Clemens-Carl Härle | 209 Brechts kleine Kritik Francesco Fiorentino | 221 Kritisches Durchspielen Spiel und Kritik in Milo Raus Five Easy Pieces Patrick Primavesi | 231 Kritisches Leben: Schlingensiefs Selbstsorge Jasmin Degeling | 241 affekt*argument*a*tivität Überlegungen zur Verschmelzung von Argument und Affekt in theatraler Kritik Matthias Naumann | 251 Tanzästhetische Strategien von Rausch Körper/Szenen der Ausschreitung Sabine Huschka | 261 Schreiben als/in Performance new work von Christina Ciupke, Mar t Kangro und Nik Haffner Daniela Hahn, Isa Wortelkamp | 273 Politics of Touch Körper, Berührung, Kritik Fanti Baum | 285 Kritik und Kreativität im devised theatre Markus Wessendorf | 297 Zwischen kritischem und mythischem Denken in Stifters Dinge von Heiner Goebbels Eliane Beaufils | 307 Kritische (Ent-?)Subjektivierung im Theater? Eva Holling | 317

Kritik und Öffentlichkeit im Theater Das kritische Theater Friedrich Schlegels Maud Meyzaud | 329

Institutionskritik und Regie Produktion und Rezeption der künstlerischen Freiheit am Bremer Theater 1969 Sabine Päsler | 337 Weiße Haut und schwarze Schminke Ver flechtungen von Geschlecht und »Rasse« im deutschsprachigen Theater Miriam Dreysse | 347 Occupy Art Zwischen Aktivismus und Kunst Dorothea Volz | 355 Theater – Kritik – Agon Die ›erweiter te Denkungsar t der medialen Öffentlichkeit‹ Meike Wagner | 365 Wenn die Flöte Hamlets kritisieren könnte Kritik als Theater in der Sowjetunion der 1930er Jahre Swetlana Lukanitschewa | 375 Das Schauspiel der Kritik Wolf-Dieter Ernst | 385

Kritik des Dispositivs des Theaters in Vergangenheit und Gegenwart Übersetzung und Kritik Shakespeare, Voltaire, Lessing Martina Groß | 397 Kritik des Parterres Zur Agonisitik des Geschmacks um 1800 Benjamin Wihstutz | 409 Kritische Physis Schillers Szenen der Kritik Sophie Witt | 419

Das Singspiel als kritische Praxis Lorenz Aggermann | 429

»Am Anfang« Die Kritik und ihre Aporien, der Tod und seine Abschaffung am Beispiel Valeska Ger ts Felix Stenger | 437 Kraft des Irrens Moholy-Nagys Experimentaltheater und die Biozentrik der Moderne Matthias Dreyer | 447 Störung Dimensionen der Konstitution und Kritik im Dispositiv Anna-Carolin Weber | 461 Nachwuchsfestivals als kritisches Dispositiv Zwischen institutioneller Öffnung und Einhegung von Kritik Benjamin Hoesch | 471

Kritik der Kritik »Mimique« Zu Derridas Theatralisierung der Rede und seiner diakritischen Arbeit am Wor t Judith Kasper | 483 »... das Ärmchen kam immer wieder heraus« Vom Eigensinn als kritischem Überschuss Veronika Darian | 493 Diesseits der Kritik oder Szene auf unsicherem Grund (in Nietzsches Also sprach Zarathustra) Marten Weise | 503 »WIE GESTANK, DER IHN UMWEHT ...« Kritik im Zeichen von Gouvernementalisierung Sebastian Kirsch | 513 Reenactment ist keine Rekonstruktion, sondern das Aufbrechen von Ereignissen Stefan Hölscher | 523 Krisen der Kritik und die Chance der Affirmation Über die Bejahung von Instabilitätser fahrungen in Kunst und Theorie Martina Ruhsam | 533 Produktion als Kritik Miriam Drewes | 543

Teilen statt Produzieren Kollaboration als affirmative Kritik in 6M1L Maren Butte | 553 Das Lehrstück (vom) Theater Fragen an das Verhältnis von Kritik und Lehre Mayte Zimmermann | 561 Autorinnen und Autoren | 571

Vorwort Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund »Theater als Kritik« – unter diesem Titel untersuchen die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, Theater als eine kritische Praktik im doppelten Sinne:* Vor dem Hintergrund der Krise klassischer Begründungen des Theaters wie der Kritik werden deren Geschichte, Theorie und Fragen neu beleuchtet. Nicht also die Gegenstände der Kritik des Theaters stehen zur Debatte, sondern vielmehr diese Kritik selbst. Zu den wiederkehrenden Denkfiguren im Diskurs des abendländischen Theaters gehört es, dass dieses, speziell dort, wo es sich mit Aspekten des Politischen, aber auch mit sozialen Praktiken und der Überlieferung befasst, als kritische Auseinandersetzung mit dem Bestehenden anzusehen sei. In dieser Auseinandersetzung kann Theater als Revision der an anderer Stelle gefällten Entscheidungen fungieren, als Verhandlung der in ihm aufgegriffenen Mythen, geschichtlichen Ereignisse und Vorgänge bzw. als szenische Artikulation eines Es soll anders sein1 (Adorno) – noch dort, wo keine wie auch immer geartete Lösung zu der als alternativlos angesehenen dargestellten in Aussicht gestellt wird. Zu dieser Ansicht trugen gleichermaßen die dem Theater feindlich gesinnten Philosophen, Kirchenfürsten, Dogmatiker und Tugendwächter bei, welche die subversive Kraft der Bühne fürchteten, das Theater zu verbieten und seine Macher zu verteufeln suchten, wie auch die das Theater verteidigenden Fürsprecher, die in ihm ein Mittel zur Kritik persönlicher wie gesellschaftlicher Verfehlungen sahen, eine Institution zur Erschütterung der anderswo errichteten Autoritäten, zur Kritik unhaltbarer ideologischer Positionen, zur Auflösung von Ordnungsmustern und Doktrinen jedweder Art. Theater, so ein bis in die jüngste Zeit von jenen, die es machen, wie von jenen, die es kommentieren, geteilter Common Sense, ist eine kritische Praktik. Dieser Common Sense ist in der jüngsten Zeit ins Wanken geraten. Er wurde in den vergangenen Jahrzehnten von zwei Warten aus radikal in Frage gestellt: mit Blick auf die in ihm idealisierte Theatervorstellung wie auch hinsichtlich des häufig allzu einfachen Begriffs von Kritik. Idealisierend erscheint die Vorstellung von Theater als kritischer Instanz, weil sie einen bestimmten Begriff von Theater verabsolutiert. Sie verschleiert die materiellen Bedingungen von Theater ebenso wie dessen allenfalls indirekt kritische Zwecke der Unterhaltung, der Vergnügung 1 | Vgl. Adorno, Theodor W.: »Engagement«, in: ders., Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1981, S. 409-430, hier: S. 429.

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und der heiteren Abendgestaltung. Sie sieht auf der individuellen Ebene ab von der mit Theater häufig verbundenen Befriedigung des eigenen Narzissmus, auf der institutionellen Ebene von den mit ihm verfolgten Zwecken aller Art. Zudem muss sich kritisches Theater, darin dem politischen Theater vergleichbar, die Frage gefallen lassen, ob seine Kritik nicht in aller Regel kaum mehr als ein preaching to the converted ist. Der Hinweis auf die kritische Potenz erscheint als Selbstlegitimation einer Institution, die nicht selten gerade im Modus der Kritik Normen reaffirmiert und verfestigt. Auf der anderen Seite unterminiert gerade das, was Theater als eine autonome Kunst auszeichnet, die mit ihm verfolgten heteronomen Zwecke, zu denen die Kritik zu zählen wäre. So verbirgt sich vielleicht hinter der Vorstellung von Theater als kritischer Praktik tatsächlich ein Spannungsverhältnis, dessen Pole das Theater und die Kritik darstellen. Zu einfach erscheint darüber hinaus die landläufige Vorstellung von Theater als Kritik auch mit Blick auf eine darin aufrechterhaltene Vorstellung von Kritik, die nicht von ungefähr in den vergangenen Jahrzehnten radikal erschüttert worden ist. Zu verweisen wäre hier einerseits auf die von Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Auf klärung unternommene radikale Kritik der überkommenen marxistischen Ideologiekritik, wie sie später von Adorno in seinen vielzitierten Aufsätzen »Der Essay als Form« und »Kulturkritik und Gesellschaft« aufgegriffen wird.2 Zum Zweiten wäre an Foucaults Genealogie der Kritik aus einer Haltung der Entunterwerfung im Verhältnis zu Formen der Menschenregierungskunst einerseits, seine Zurückweisung jeder fundamentalistischen Kritik andererseits zu erinnern, an die in jüngerer Zeit Judith Butler neuerlich angeknüpft hat.3 Alle drei fragen nach dem Grund, auf dem die Kritik ruht, sowie nach der Möglichkeit einer postfundamentalistischen oder postsouveränen Kritik. Die Erschütterung der Fundamente, für die Kritische Theorie und Poststrukturalismus gleichermaßen stehen, betrifft, wie sie verdeutlichen, nicht zuletzt alle überkommenen Formen einer selbst proto-totalitären Kritik. In Adornos Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft«, aus dem zumeist nur der eine, fälschlich zum Diktum4 verklärte Satz zitiert wird, wonach es barbarisch sei, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben«, wird in der Fortsetzung dieses Satzes darauf hingewiesen, dass »das« auch die »Erkenntnis« anfresse, »die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben«5. Im nur auf den ersten, flüchtigen Blick überraschenden Einklang mit Heideggers Ausführungen zum Wesen der im 17. Jahrhundert begründeten modernen Technik als eines »Gestell(s)«6 spricht Adorno davon, dass die »absolute […] Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte […] [,] ihn heute gänzlich 2 | Adorno, Theodor W.: »Der Essay als Form«, in: ebd., S. 9-33, insb. S. 27; ders.: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1997, S. 11-30. 3 | Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246. 4 | Vgl. etwa das Gros der Äußerungen in: Kiedaisch, Petra (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart 1995, S. 73-158. 5 | Adorno, 1997, S. 30. 6 | Heidegger, Martin: »Die Frage nach der Technik«, in: ders., Die Technik und die Kehre. 8. Aufl. Pfullingen 1991, S. 5-36, hier: S. 19ff.

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aufzusaugen sich anschickt« 7. Dem sei »der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation« 8. An diese »links-kritische Tradition« knüpften Michel Foucault und Judith Butler an, als sie der Kritik die »doppelte Aufgabe« zuwiesen zu zeigen, »wie Wissen und Macht arbeiten, um eine mehr oder minder systematische Ordnungsweise der Welt mit ihren eigenen ›Bedingungen der Akzeptabilität eines Systems‹ zu konstituieren, aber auch ›den Bruchstellen zu folgen, die ihr Entstehen anzeigen‹«9. Per se ist die Kritik eng mit der Aufklärung verbunden. In Anlehnung an Kant definiert Michel Foucault Kritik als »die Kunst[,] nicht dermaßen regiert zu werden«10. Unter Verwendung seines eigenen Verstandes sich die Frage zu stellen, wie man nicht regiert werden möchte oder genauer: nicht »auf diese Weise und um diesen Preis regiert«11 werden möchte, heißt, seinen Verstand im Sinne einer Kritik der Verhältnisse zu gebrauchen. Damit versteht Foucault Kritik als Einspruch gegen kirchliche, staatliche und elterliche Gesetze, mithin als ein Ausloten der Grenzen der Regierbarkeit. »Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.«12 Sofern sich Kritik nun aber in ihrem Widerstand gegen »jedwede Regierung« auf »universale und unverjährbare Rechte stützen zu können glaubt«, unterliegt sie auch jener Gefahr, die Adorno und Horkheimer beschrieben haben: dass die über ihre eigenen Grenzen unaufgeklärte Rationalität der Aufklärung Gefahr läuft, in ihr vermeintliches Gegenteil, den Mythos, zurückzufallen bzw. zu einer instrumentellen Vernunft zu verkommen. Des Weiteren scheint sich Kritik implizit stets zu einer Norm verhalten zu müssen, die sie noch in deren kritischer Aufarbeitung und Aufhebung bewahrt. Damit steht auch die Frage im Raum, welchen Geltungsanspruch Kritik überhaupt haben kann. Steht sie doch stets in einem Spannungsverhältnis zwischen einem Allgemeinen, das Maßstäbe für eine Kritik liefern muss, und dem Partikularen, das jeweils konkret kritisiert wird. Welcher Normativität also hängt Kritik explizit oder implizit an und wie wird diese problematisiert? Neben ihrem Verhältnis zur Normativität geht mit jeder Form der Kritik das Potential einer wie auch immer gearteten Utopie einher. Wer kritisiert, appelliert zumindest implizit an ein Besseres, an ein Anderes, auch wenn es nicht Aufgabe der Kritik ist, allgemeingültige Alternativen oder Lösungsvorschläge zu dem von ihr Kritisierten auszuarbeiten. Doch wie verhindert Kritik, zumal mit Blick auf das Menetekel der in Terror und Katastrophen endenden »großen Erzählungen«13 des 19. Jahrhunderts, den Umschlag der mit ihr einhergehenden, im- oder explizit teleologisch verfassten Entwürfe eines Anderen in den Terror gegen das, was sich dem eigenen Gegenbild widersetzt? 7 | Adorno, 1997, S. 30. 8 | Ebd. 9 | Butler, 2009, S. 239. 10 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? (Vortrag v. 1978.) Übers. v. Walter Seitter. Berlin 1992, S. 12. 11 | Ebd. 12 | Foucault, 1992, S. 15. 13 | Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Übers. v. Otto Pfersmann. Wien 2015.

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Aus den Spannungsfeldern der Kritik zwischen Norm und deren Entsetzung, Allgemeinem und Besonderem, Utopie und Gegebenem lassen sich im Hinblick auf künstlerische Praktiken und das Theater zentrale Beobachtungen ableiten. Die Frage, die Judith Butler anknüpfend an Foucaults Definition von Kritik stellt, ist die Frage nach der Möglichkeit der »Entunterwerfung« und damit der Transformation der Verhältnisse. Wie kann durch Kritik eine »Entunterwerfung« und damit eine »Entsubjektivierung«, insofern Subjektivität ohne Unterwerfung nicht möglich ist, in Gang gesetzt werden? Foucault setzt an die Stelle dieses rätselhaften Antriebs die »ursprüngliche Freiheit« des Menschen, die er nicht begründen kann, die für ihn aber, so Butler, die notwendige Voraussetzung ist, um im Inneren des Diskurses ein »Nichtwissen«14 platzieren zu können, das die Verhältnisse und das Subjekt selbst in Bewegung versetzt. Die Freiheit ist eine rein strategische oder gar, wie Foucault sagt, fiktionale Annahme, die dem Subjekt reale Freiräume erspielt. Foucaults Bezeichnung von Kritik als »Kunst« ist vor dem Hintergrund dieses Gedankengangs mehr als nur eine rhetorische Floskel. Sie zielt vielmehr auf den Kern der Sache: Kritik, die die »Selbstformierung des Subjekts aufs Spiel«15 setzt, ist eine ästhetische Praxis. Als ästhetische Praxis bringt sie hervor, was sie aufs Spiel setzt, und setzt aufs Spiel, was sie hervorbringt. Die »natürliche Freiheit« des Menschen ist seine ästhetische Freiheit. Damit einher geht die Frage, ob Kritik als Praxis in erster Linie eine Frage des Einzelnen ist, des einzelnen Künstlers oder der Künstlerin, die sich in ihren je singulären Theaterentwürfen gegen überlieferte Formen und festgefügte institutionelle Abläufe stellt. Dies involviert im Sinne Butlers eine Ethik der kritischen Praxis, für die der und die Einzelne Verantwortung übernehmen muss. In diesem Sinne ist auch Theater als Kunst eine kritische, weil entsetzende Praxis. Kritik an den Verhältnissen hängt damit nicht primär ab von einem bestimmten Inhalt, der verhandelt wird, sondern sie liegt in den Existenzweisen des Theaters selbst. Als Aufgabe der aufklärerischen Kritik gilt es mithin, die »Grenzen der Erkenntnis zu erkennen«16 und damit die Grenzen von Wissen, Macht und Subjekt. Wie werden die Grenzen der Erkenntnis und des Wissens von diesem selbst herausgefordert? Durch welche Strategien können dessen Konstitutionsbedingungen und Bruchlinien hervorgehoben werden? Welche Rolle spielen dabei affektive, emotionale, körperliche oder idiosynkratische Elemente, welche Rolle spielt die Materialität im Spannungsfeld zur Rationalität der Kritik? Wie sähe eine andere Form der Kritik aus, die nicht ausschließlich der Rationalität des Verstandes anheimgestellt wäre, wie es Kant wollte? Der doppelten radikalen Befragung der Legitimität von Theater als Kritik steht auf der anderen Seite eine vor allem in den Jahren seit der Jahrtausendwende zunehmend dringlichere Suche nach neuen Formen kritischer Praxis in Theater, Performance und Aktionskunst gegenüber. Hier zeigt sich der Wunsch, sich im Theater nicht lediglich in der Weise einer kontemplativen Verdoppelung zur Realität zu verhalten, sondern Theater auch als kritische Auseinandersetzung mit unhaltbaren Zuständen, Politiken und Normierungen, als Gegenentwurf, Protest, politische Aktion und Utopie zu behaupten. Vor diesem Hintergrund gilt es die Frage 14 | Butler, 2009, S. 243. 15 | Ebd., S. 244. 16 | Foucault, 1992, S. 18.

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zu diskutieren, wie ohne Vergessen der Aporien klassischer Kritikbegründung und mit Blick auf die Fragwürdigkeit überkommener wie zeitgenössischer Ansätze kritischen Theaters heute die im doppelten Sinne begriffene Kritik des Theaters neu zu begreifen wäre: Wie kritisiert Theater? Welche Art von Kritik wäre mit Blick auf die heutigen Praktiken des Theaters zu formulieren? Der vorliegende Band versammelt Beiträge des 13. Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, der vom 3. bis 6. November 2016 an der Justus-LiebigUniversität Gießen und der Goethe-Universität Frankfurt stattfand und die hier skizzierten Fragestellungen und Aporien diskutierte. Dabei lassen sich fünf, einander zum Teil überlappende Felder der Diskussion unterscheiden, die auf verschiedene, im Rahmen des Kongresses diskutierte Fragenkomplexe zu antworten versuchen:

1. K ritische P r ak tiken im G egenwartsthe ater Eine große Zahl verschiedener Praktiken gegenwärtigen Theaters sieht sich selbst als kritisch. Was wird dabei überhaupt und was ganz konkret kritisiert, aus welcher Perspektive, mit welchen Mitteln, welchem Recht und auf welchem Fundament? Welche Wirkung oder Wirksamkeit lässt sich beschreiben, welche den Ansprüchen zuwiderlaufende Realität? Wie verhält sich die auf der Ebene der Referentialität artikulierte Kritik zu deren Performanz? Wie sehen die Produktions- und Organisationsformen kritischer Theaterpraktiken aus und in welchem Verhältnis stehen sie zu den auf der Ebene von Inhalt und kritisiertem Objekt vorgebrachten Positionen?

2. The ater als kritische P r a xis des D enkens und A gierens Seit seinen Anfängen wird Theater in der abendländischen Tradition nicht nur im engeren Bezirk des »Theaters« als kritische Praxis begriffen. Es erscheint in der Polemik seiner Gegenstimmen wie in der Verteidigung seiner Befürworter zugleich als eine Form kritischer Praxis des Denkens und Agierens selbst. Wie lässt sich diese Kritik, die speziell in den vergangenen Jahren dazu geführt hat, von einem Denken der Bühne, einem auf das Singuläre hin orientierten Wissen der Künste oder von einem Widerstand der Körper zu sprechen, mit Blick auf Texte wie szenische Praktiken genauer fassen? In welchem Verhältnis stehen Kritik und Affirmation? Welches Verhältnis unterhält die mit Theater behauptete Subversion zur Stabilisierung und Auflösung bestehender Normen und Ordnungen?

3. K ritik und Ö ffentlichkeit im The ater Als Folge der Aufklärung ist das Üben von Kritik gerade im Theater mit der Herausbildung von Öffentlichkeit und deren Gegenöffentlichkeiten verbunden. In Lessings Hamburgischer Dramaturgie wird dabei exemplarisch vorgeführt, dass Kritik als Konstitution einer neuen Öffentlichkeit immer auch der Herausbildung von Selbstbildern einer Gesellschaftsschicht, ihrer Werte und ihrer Normen dient. Wie lässt sich historisch und aktuell das Verhältnis von Theater, Öffentlichkeit und

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Macht beschreiben (etwa im Vormärz, in der Zeit des Nationalsozialismus, in den zwei deutschen Staaten nach 1945 und bis 1989)? Welche Öffentlichkeiten werden durch kritische Praktiken anvisiert und gebildet? Welche Normen und Werte kommen dabei ins Spiel? Welche Rolle spielt die journalistische Theaterkritik als Repräsentantin der Öffentlichkeit im Spiel um die Anerkennung theatraler Ästhetiken? Wie sind Aufstieg und Niedergang der Theaterkritik mit dem allgemeinen Strukturwandel der Öffentlichkeiten verbunden?

4. K ritik des D ispositivs des The aters in V ergangenheit und G egenwart Wenn Theater im Sinne Foucaults als Dispositiv begriffen wird, so kann mit Agamben danach gefragt werden, wie an seiner »Profanierung« und am Hervorbringen der mit ihm ko-originären »Unregierbarkeit« gearbeitet wurde.17 Wie stellte sich die szenisch-praktische und die theoretische Kritik am eigenen Dispositiv bzw. an dessen Profanierung in entscheidenden Umbruchszeiten des Theaters dar, etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Theaterreformen, an der Weimarer Hof bühne, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im epischen Theater Brechts, in Einar Schleefs chorischen Inszenierungen oder im sogenannten Konzepttanz um die Wende zum 21. Jahrhundert?

5. K ritik der K ritik Wenn die Kritik heute selbst einer vielfältigen Kritik unterliegt, so sind davon gleichermaßen das Theater als kritische Praktik im weiteren Sinne wie auch das Postulat einer Kritik im engeren Sinne betroffen. Auch Theaterkritik, die sich zusehends zugunsten flüchtiger Empfehlungen oder nicht minder flüchtiger Verrisse auflöst, ist von der allgemeineren Kritik an der Kritik betroffen. Welche Aporien der Kritik lassen sich in dem kritischen Diskurs über die Kritik ausmachen? Welche Perspektiven eröffnet die Kritik der Kritik für andere verwandte Praktiken, wie sie in den vergangenen Jahren entwickelt wurden – des Widerständigen, der Dekonstruktion, der Verwendung, der Parodie? Am Zustandekommen des Kongresses und des vorliegenden Bandes waren zahlreiche Institutionen und Personen beteiligt, denen an dieser Stelle zu danken ist: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) förderte den Kongress mit einer großzügigen Zuwendung, die es erlaubte, ungefähr fünfzig Beiträge aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland in das Programm zu integrieren. Eine Auswahl aus diesen Beiträgen wird in einer Ausgabe der Zeitschrift Forum Modernes Theater veröffentlicht. Zu danken haben die Organisator*innen der Veranstaltung auch der Hessischen Theaterakademie, dem Kulturfonds Frankfurt RheinMain, dem Schweizerischen Generalkonsulat, dem Kulturamt der Stadt Frankfurt, den Freunden und Förderern der Goethe-Universität, der Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Goethe-Universität, dem Zent17 | Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin 2006, S. 34.

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rum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität und der Gießener Hochschulgesellschaft. Weiterhin danken wir dem Stadttheater Gießen, besonders Cathérine Miville und Kristin Schulze, sowie dem Künstlerhaus Mousonturm und dem Frankfurt LAB, namentlich Matthias Pees, Marcus Droß, Anna Wagner und Alessia Neumann für die gute Zusammenarbeit, die es ermöglichte, künstlerische Arbeiten von Boris Nikitin sowie von zahlreichen Studierenden aus dem Netzwerk der Hessischen Theaterakademie, konkret: aus den Studiengängen Angewandte Theaterwissenschaft, Choreographie und Performance, Dramaturgie und Regie, in das Programm des Kongresses zu integrieren. Ein besonderer Dank geht an alle am Kongress direkt und indirekt beteiligten wissenschaftlichen, administrativen und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne deren engagierte Mitwirkung das große Projekt dieses Kongresses nicht umsetzbar gewesen wäre, namentlich Jörn Etzold für die Mitarbeit bei der Antragstellung und Konzeption, Melina Hepp, Hanna Steinmair, Sonja Risse und Carmen Salinas, die den Hauptteil der Organisation leisteten, unterstützt durch Anna Artysiewicz, Inga Bendukat, Jakob Boeckh, Joschka César, Eva Döhne, Gregor Glogowski, Sylvie Guillou, Benjamin Große, Caro Heymann, Frieda Illig, Saija Kontio, Robert Läßig, Martha Oelschläger, Janna Pinsker, Julie Pownall, Anja Sauer, Franz Scherer, Angelina Stross, Christopher Weickenmeier, Meike Weigel, Jana Wilhelm und Maximilian Zahn. Ein herzlicher Dank geht schließlich an den transcript Verlag, der die Publikation von Beginn an mit großem Interesse unterstützt und begleitet hat, namentlich Carolin Bierschenk, Kathrin Popp, Johanna Tönsing, Kai Reinhardt, sowie vor allem an Magnus Chrapkowski, der mit großer Geduld und Genauigkeit die Endkorrektur des Bandes ausgeführt hat. * | Im Verlauf der Redaktionsarbeit an diesem Band waren die Herausgeber*innen mehrfach mit der Frage konfrontiert, weshalb im Buch an manchen Stellen von »Praktiken«, an anderen von »Praxis« die Rede ist. Zur Begriffsklärung sei hier der folgende Auszug aus einer in diesem Zusammenhang geschriebenen Korrespondenz eingefügt: Der Begriff »Theater als kritische Praktik« bezieht sich auf die Foucault’sche Begrifflichkeit, speziell auf deren Darstellung durch Paul Veyne, aber auch z.B. auf Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, der für den Dispositiv-Begriff besonders wichtig ist. Foucault spricht von Praktiken, weil er eine Philosophie ablehnt, die den Gegenstand als natürlich bzw. als Ziel und Ursache begreift. Er möchte zu einer Philosophie der Relationen gelangen, in der es um Praktiken geht, die in angrenzenden Praktiken verankert sind. Gleichwohl gibt es schon im Call auch den Begriff der Praxis. Das heißt: Eine kritische Praktik im Gegenwartstheater könnten Herangehensweisen genannt werden, die je singulär in ihrem Netz von Bezügen zu betrachten sind. Theater als kritische Praxis des Denkens dagegen bezeichnete dann das, was etwa Foucault seines Zeichens gemacht hat oder was Butler und Derrida machen. Eine Praxis des Denkens hieße hier: Denken in actu. Derrida bestand etwa darauf, dass Dekonstruktion keine Theorie sei, sondern eine Praxis der Auflösung von Seinsbehauptungen.

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Das eine Kriterium für das, was geschieht Aristoteles: Poetik. Brecht: »Kleines Organon« 1 Werner Hamacher

In der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft kommentiert Kant ein Prinzip der von ihm so genannten »Transzendentalphilosophie der Alten«2, das von seiner eigenen, der kritischen Transzendentalphilosophie, in ein gänzlich neues Licht gerückt werden soll. Dieses Prinzip fassen die Scholastiker, wie Kant schreibt, in den Satz: »quodlibet ens est u n u m , v e r u m , b o n u m «3 (B 113). Jedes beliebige Seiende ist eins, wahr, gut –: . Diese Prädikaten-Trias bestimmt das, was ist, als das, was mit sich selbst eins, was auch in Verbindung mit seinen Folgen mit sich selbst konsistent und in diesem Sinn wahr, und was im Hinblick auf die in ihm zusammengefasste Mannigfaltigkeit vollständig ist. Erfüllt ein Ding, beliebig welches, diese Bedingungen nicht, so fehlen ihm nicht nur die genannten Prädikate, es fehlt ihm damit zugleich das Sein. Was nicht eines, wahr und vollständig ist, ist nicht. Der Satz der Scholastiker definiert das Seiende demnach als jeweils Definiertes, er prädiziert ihm, dass es prädikativ verfasst und allein in dieser Verfasstheit als mit ihm selbst einig, wahr und vollständig erkannt ist. Der Vorbehalt, den Kant gegen diesen Satz geltend macht, seine Folgerungen würden lauter tautologische Sätze ergeben, trifft mehr noch als diese Folgerungen 1 | Anm. d. Hg.: Werner Hamacher starb am 7. Juli 2017 nach kurzer, schwerer Krankheit. Der Plenarvortrag im Rahmen des Kongresses der GTW 2016 war sein letzter öffentlicher Auftritt. Der vorliegende Text ist eine schriftliche Fassung des vorgetragenen Textes, die er für eine Nachbesprechung im Kolloquium der Theaterwissenschaft an der Goethe-Universität im November 2016 zur Verfügung gestellt hat. Hamacher stimmte dem Abdruck dieses Textes im Tagungsband kurz vor seinem Tod zu, kündigte aber an, dass er »zwei oder drei Passagen« zuvor noch revidieren wolle. Dazu ist er leider nicht mehr gekommen. Für den Abdruck in diesem Band wurden die im Text zitierten Passagen nachgewiesen und ein paar kleinere Rechtschreibungsfehler emendiert. Dagegen wurden Auslassungszeichen, die entweder auf in der Vortragsfassung gestrichene Ausführungen oder aber auf noch zu ergänzende Angaben oder Passagen verweisen, nicht getilgt. Sie erscheinen im Text in spitzen Klammern als . 2 | Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Bd. 1 (= Werkausgabe, Bd. III). Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, S. 123. 3 | Ebd.

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die Grundstruktur des Gedankens vom einen, wahren, guten Seienden. Aber der tautologische Charakter dieses Gedankens ist für Kant kein Anlass, ihn zu verwerfen. Er vermutet vielmehr, das Prinzip, das er aufstellt, sei, »wie es oft geschieht, falsch gedolmetscht worden«4. Recht verstanden, seien nämlich die »vermeintlich transzendentale[n] Prädikate der D i n g e […] nichts anders als logische Erfordernisse und Kriterien aller E r k e n n t n i s der D i n g e überhaupt«5 (B 113-14). Was vom Satz der Scholastiker zu Prädikaten der Dinge an sich selbst erklärt wird, sind demnach nur Kriterien des Denkens, von denen die Möglichkeit einer in sich einigen, wahren und vollständigen Erkenntnis gesichert werden soll. Als in sich konsistent und vollständig können nicht die Dinge, wie sie an sich sind, wohl aber müssen so, erklärt Kant, die »logische[n] Kriterien der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt«6 gedacht werden (B 115), wenn anders deren Wahrheit, die er als »Übereinstimmung unter sich selbst« 7 definiert, gesichert sein soll. Kant erklärt jedoch nicht allein die Übereinstimmung der Kriterien mit sich und untereinander, sondern überdies auch ihre Übereinstimmung mit der Erfahrung für erforderlich (B 115)8. Kaum anders demnach als die »Transzendentalphilosophie der Alten«, besteht auch die kritisch erneuerte auf einer nicht bloß formal-logischen, sondern sach-logischen Homogenität – eben derjenigen mit der Erfahrung – und behauptet, da jene materiale Erfahrung durch Prädikate a priori geprägt und vermittelt wird, die Übereinstimmung von logischen Kriterien mit den von ihnen allererst geformten empirischen Gegenständen. Logische Kriterien, so ist damit gesagt, sind Kriterien der möglichen Gegenstände von Kriterien. Sie sind Kriterien dafür, dass sie Kriterien für Etwas sind. Allein so garantieren sie ihre »objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori«9 (A 158). Was nicht unter ihrer Einheits-, Bewahrheitungs- und Perfektionsform steht, kann für Kant nur die Unform eines X – eines Unbekannten und Unerkennbaren – annehmen. Das einzige Beispiel, das Kant in seiner Reinterpretation des Prinzips der Scholastiker für die Unverzichtbarkeit des Kriteriums der Einheit anführt, kann nur dann erstaunlich wirken, wenn nicht auch in ihm die Reinterpretation – oder erneute ›Dolmetschung‹ – eines Prinzips der klassischen Ontologie erkannt wird. Um plausibel zu machen, dass zu jeder Erkenntnis eines Objekts die Einheit des Begriffs gehört, der die »Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Erkenntnisse«10 begründet, setzt er zu dieser Behauptung hinzu: »wie etwa die Einheit des Thema in einem Schauspiel, einer Rede, einer Fabel«11 (B 114). Kant spricht hier wohlgemerkt nicht von Schauspiel, Rede, Fabel, er spricht von ihrem Thema, also ihrem Gegenstand, und genauer von der Einheit dieses Themas. Die Erkenntnis der Einheit des Themas ist demnach Erkenntnis einer Einheit, die bereits von diesem Thema realisiert ist, und kann nur unter dieser Korrespondenzbedingung überhaupt den Anspruch erheben, objektive Erkenntnis zu sein. Dass diese Einheit zwischen 4 | Ebd. 5 | Ebd., S. 123f. 6 | Ebd., S. 124. 7 | Ebd., S. 125 (B 116). 8 | Vgl. ebd., S. 125. 9 | Ebd., S. 201. 10 | Ebd., S. 124. 11 | Ebd.

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Erkenntnis und ihrem Thema im Fall eines Schauspiels, einer Rede, einer Fabel realisiert sein könnte, versteht sich jedoch nicht etwa von selbst, sondern wird erst verständlich, wenn und solange das Prinzip thematischer Einheit für die Komposition von Schauspielen, Reden und Fabeln obligatorisch ist. Kant begründet also sein Kriterium der begrifflichen Einheit der Objekterkenntnis mit einer Poetik, die just diesem Kriterium entspricht. Seine Argumentation ist transzendental-philosophisch nur, indem sie zugleich transzendental-poetisch ist. Sie wäre gegenstandslos, wenn sie nicht in einer bestimmten historischen Form der Dichtung und der Rhetorik ihren Grund hätte, die ihrerseits vom Prinzip der Einheit, Wahrheit und Vollständigkeit eines jeweils Seienden geleitet wird. Das poetische – oder poetologische – Kriterium, auf das Kant sich stützt, kann nun offenbar nur ein solches sein, wie Horaz es in seinem Brief »de arte poetica« knapp charakterisiert mit der Formel simplex dumtaxat et unum (v. 23) und wie es diesem wiederum von Aristoteles in dessen Poetik mit der Definition vorgegeben war, die Tragödie sei Mimesis einer ›in sich geschlossenen und ganzen Handlung‹12 – teleías kai hóles práxeos (1450b 25). Diese Definition wird von Aristoteles präzisiert durch die Bestimmung der Mimesis als mythos – also als ›Rede‹ oder ›Fabel‹ – und durch die nähere Bestimmung des mythos als einer ›Zusammensetzung der Geschehnisse‹13 – synthesin ton pragmáton (1450a 3-5). Was sich in Kants Text als willkürliche Beispielsammlung für die Einheit des Thema ausnehmen könnte: dass es »Thema in einem Schauspiel, einer Rede, einer Fabel« ist, erscheint, im historischen Zusammenhang mit der aristotelischen Poetik gelesen, als Abbreviatur von deren Definition des Dramas und seiner ersten Elemente: des Schauspiels, der Rede, der Fabel und ihrer Einheit in der Synthesis von Geschehnissen. Aristoteles spricht zwar an keiner Stelle der Poetik von einem kriterion – das Wort wird von ihm nur ein einziges Mal, in der Metaphysik (6. 1063a 3) gebraucht –, aber die synthesis oder systasis (1450a 15), die Komposition oder Zusammensetzung von Geschehnissen zu einer Einheit, wird von ihm als Formprinzip jedes dramatischen Verlaufs charakterisiert und kann deshalb den Rückgriff Kants auf gerade sie als ein Beispiel für die Struktur des Kriteriums der Erkenntnis- und Gegenstands-Einheit sowohl sachlich als auch historisch begründen. Anders als Kant jedoch spricht Aristoteles von Handlungen und Geschehnissen, und die von ihm hervorgehobenen Elemente des Dramas und insbesondere der Tragödie erschöpfen sich in einer Synthesis nicht bloß der Erkenntnis, sondern beziehen sich durchweg auf die des Handelns und Geschehens. Dieses Geschehen untersteht zwar auch im Drama dem Gebot der Einheit und Allgemeinheit – deshalb nennt Aristoteles die poíesis im Vergleich zur Geschichtsschreibung das Philosophischere, philosophóteron (1451b 5) –, aber die Dichtung, und insbesondere die tragische, konstatiert keine allgemeinheitsfähige Einheit, sie führt sie vielmehr durch die Komposition der Handlungen erst herbei und führt nichts anderes als diese Herbeiführung vor. Die aristotelische Dramenanalyse ist keine Analyse epistemischer Sachverhalte, sie ist, wie die einschlägigen Konvergenzen mit der Nikomachischen Ethik deutlich machen, eine Analyse der Herausbildung von Handlungen. Deshalb geht sie nicht von der Übereinstimmung zwischen Erkennen und 12 | Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Üs. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 25. 13 | Ebd., S. 19.

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Handeln, sondern von der Divergenz zwischen beiden, nicht von dem Zusammenspiel zwischen Akteuren, sondern ihrem Konflikt, nicht von affektiver Harmonie, sondern von extremen Dissonanzen zwischen den pathé aus, und zeigt die Bewegungen, durch die Erleidnisse zu Einsichten und diese Einsichten entweder zu selbstzerstörerischen oder zu rettenden Handlungen erst werden. Mehr noch als eine Handlungstheorie ist die aristotelische Poetik eine Fehlhandlungstheorie, die darlegt, wie aus Elementen einer irrigen Überzeugung und einer vermiedenen oder übereilten Tat soziale und psychische Katastrophen oder wie aus Irreführungen und Fehlschlüssen günstigenfalls eine kognitiv geleitete Handlung resultiert: eine Handlung mithin, die zur Übereinstimmung mit sich und mit anderen Handlungen kommt. Einheit ist für Aristoteles weder in seinen Ethiken noch in seiner Poetik die Prämisse und Grundstruktur des Handelns, sondern derjenige Zusammenstoß, in dem irrige Annahmen und misslingende Handlungen aufeinandertreffen. Sie ist kein Tatbestand, sie ist selber, noch in ihrem äußersten Extrem, dramatischer Prozess. Unter den in der Poetik analysierten Elementen des Dramatischen steht deshalb die Einheit des Handlungsverlaufs gleichrangig neben vier anderen: der Anagnorisis, der Peripetie, der Angst (phóbos) und dem Mitleid (eléos). Anagnorisis besagt nicht Wiedererkennung, sondern Um-erkennung und also Erkenntnis, dass zuvor nicht erkannt worden ist; in der Peripetie schlägt die Handlung um, wendet sich gegen sie selbst und zeigt sich nicht in Einheit, sondern in Disparität mit sich; in der Angst sind die Akteure ihrem Handlungsunvermögen und ihrer Vernichtung ausgesetzt; im Mitleid generalisiert sich die Angst zur Mitangst und das Leiden, nicht das Handeln, die Passion, nicht die Praxis wird zum Element der Verallgemeinerung durch die passive Synthesis des Geschehens. Es ist also nicht nur schwierig, es ist unmöglich, den aristotelischen Begriff von Einheit und Allgemeinheit mit dem von Kant aufgestellten Kriterium einer beständigen und durchgängigen Übereinstimmung der Erkenntnis mit sich und der Erfahrung zu assimilieren. Das Kriterium der Einheit und Ganzheit des Handlungsverlaufs – und also des Themas der Fabel – ist nach der Darstellung der Poetik kein Kriterium einer synthetischen Erkenntnis, die a priori gesichert sein könnte, und kein Kriterium eines Handelns, das mit sich stets übereinkommen müsste. Vielmehr ist dieses Kriterium von einem Riss durchzogen, der Handeln und Erkennen von sich und von einander abspaltet und mit den Mitteln bloß der Vernunft nicht zu fassen und nicht zu überbrücken ist. Wie das Prinzip der Handlungseinheit in der aristotelischen Poetik von diesem Riss zugleich bekräftigt und suspendiert wird, zeigt sich am deutlichsten an der Struktur des fünften Elements der dramatischen Komposition, der kátharsis. So sehr diese kátharsis von Aristoteles als Resultat des dramatischen Prozesses dargestellt wird, wird sie dadurch nicht etwa zur beherrschenden Integrationsfigur, sondern bleibt ein Differenzierungsgeschehen: sie bleibt ein dramatisches Resultat, das die Züge des Handelns und des Wissens mitsamt denen ihrer dramatischen Diskrepanz trägt. Ihr Name spricht nicht von Reinheit, ob nun von physiologischer, affektiver, epistemischer oder ethischer, sondern von Reinigung als einer körperlichen Verrichtung, einem technischen Vorgang und einem kognitiven Geschehen. Im Vokabular Platons, an dem das des Aristoteles trotz aller Divergenzen orientiert bleibt, sind kátharsis und katharmós Begriffe aus dem weiten Wortfeld der diairetiká und des diakritikén, der Sonderungs- und Aussonderungskunst, der Scheidung zwischen Zu- und Abträglichem, der Ausscheidung und der Auslese, des Zertei-

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lens, Auseinanderschneidens und der Auswahl, der Selektion wie der Sekretion (Sophistes 226b-231b). Im Korpus der aristotelischen Schriften wird kátharsis am häufigsten in der Bedeutung von Sekretion und Menstruation gebraucht und in seiner »Tiergeschichte« dem allgemeineren, auch die physiologische kátharsis umfassenden Ausdruck ékkrisis, Abfuhr, Absonderung, subsumiert (H 2. 583a 2 u. 10). Die Deutung der dramatischen kátharsis hat sich also damit abzufinden, dass kátharsis einen kritischen, einen diakritischen Prozess bezeichnet, der im gleichen Sinn wie die anderen elementaren Prozesse des Dramas verläuft, eine Wendung, jedoch eine Abwendung, eine Scheidung, jedoch im Sinne von Abscheidung, somatischer Trennung, affektiver Differenzierung und kognitiver Distinktion meint, und als chronologisch und strukturell letztes unter den dramatischen Elementen nicht ein fixes Resultat, sondern ein Resultieren charakterisiert, einen Exodos also, einen Ausgang und Auszug, der im Drama aus dem Drama hinausführt. Kátharsis hat, so verstanden, den Sinn von Abschied. Der Abschied vom Drama im Drama, den Aristoteles kátharsis nennt, wäre nun aber keiner, wenn er nicht auch noch diesen Abschied als bloß dramatisch-theatralisches Element und somit als Irreführung kenntlich machte. Ein bisher von allen Kommentaren ausgeblendetes Detail der Poetik spricht diesen Umstand zwar nicht explizit aus, gibt jedoch einen Hinweis, der die paradoxen Implikationen des Begriffs – nach Semantik, Funktion und Stellung in der Reihe der übrigen Elemente des Dramas – in der aristotelischen Analyse bestätigt. Es wird zwar immer wieder, selbst von den besten Kennern der Poetik, behauptet, das Wort kátharsis komme darin nur ein einziges Mal vor. Das ist nicht ganz falsch, denn tatsächlich wird es darin nur einmal, und zwar im ›Tragödiensatz‹ des 6. Kapitels, als poetologischer Begriff gebraucht. Aber das Wort erscheint später ein zweites Mal, und dort in der Beschreibung der Komposition – also der synthesis – einer Tragödie am Beispiel der euripideischen Iphigenie auf Tauris. An dieser zweiten Stelle hat es zunächst die konventionelle Bedeutung einer rituellen Reinigung, wie sie von den Priestern einer Gottheit insbesondere zur Vorbereitung eines Opfers vollzogen wird. Die von Iphigenie vorgenommene Reinigung, so lautet das Argument des Aristoteles in diesem Kontext, ist dem Charakter der Iphigenie angemessen, denn diese ist die von der Opferung durch ihren Vater Agamemnon verschonte Priesterin der Artemis, die ihren Bruder Orest ihrerseits zu opfern gezwungen ist, jedoch gute Gründe hat, ihn vom Opfer zu verschonen. Das, so bemerkt Aristoteles, führt zur Rettung des Orest durch seine Reinigung, seine Katharsis: sotería dià tes kathárseos14 (1455b 13-14). Die Funktion der mit diesen Worten skizzierten Episode, die dem Philosophen aufs nächste vertraut gewesen sein muss, ergibt sich erst daraus, dass in der euripideischen Tragödie die Reinigungshandlung an Orest von Iphigenie nur vorgetäuscht wird, um Zugang zum Meer und zu einem Schiff zu gewinnen, das ihrem Bruder und ihr selbst die Flucht von Tauris nach Athen erlaubt. Der Bote spricht es in seinem Bericht an den Taurerkönig Thoas empört aus: dólia d’ en kathármata15 – ›die Reinigung war Lug und Trug‹ (1316). Vorgeführt als sakrale Entsühnung, erweist sich die Katharsis als List, als Finte und bloßes Schauspiel der Iphigenie, der es um Wichtigeres geht als den Dienst an ihrer Göttin, nämlich um 14 | Vgl. ebd., S. 57. 15 | Euripides: Iphigenie bei den Taurern. Griechisch/Deutsch. Üs. u. hg. v. Paul Dräger, Stuttgart 2014, S. 140.

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die Rettung ihres Bruders, um das Ende eines barbarischen Opferkults und den Abschied von der mit ihm verbundenen Reinigung. Nicht also rituelle Erlösung von Schuld ist die Katharsis für Euripides – und so auch für Aristoteles –, sondern Lösung aus Gefangenschaft und Todesangst. Sie bietet kein Schauspiel für reinheitsbedürftige Götter, sondern ein Schauspiel gegen den Dienst an ihnen. Katharsis ist ein Strategem zur Befreiung vom Kult der Katharsis. Damit zugleich ist sie jedoch die Finte, die aus dem Schauspiel mit dem Titel Iphigenie auf Tauris herausführt, indem sie dessen entscheidenden – kritischen – Zug selber als bloßes Schauspiel herausstellt, sie dadurch erhebt und überdies desavouiert. Als Rettung des Dramas vom Drama ist sie dessen Abwendung von ihm, eine Peripetie, metabolé und metábasis, die in ihrem Umsprung alle Beteiligten – auch das Publikum – der unerwarteten und deshalb frappierenden Erfahrung aussetzt, dass es nicht weitergeht, dass es mit dem Drama vorbei und das Theater aus ist. Darum ist es nicht schon ein Metadrama in dem Sinn, dass darin das Drama und seine Elemente in einer abstrakten Formel resümiert, sich selbst zum Gegenstand und ›dialektisch‹ aufgehoben würden, um als Über-Drama auf der höheren, sublimierten und subtilisierten Bühne eines allgemeinen Bewusstseins fortgesetzt zu werden. Meta-Drama ist die euripideische – und somit aristotelische – Katharsis nicht als Drama über das Drama und jenseits von ihm, sondern in dem Sinn, dass es sich darin von der dramatischen Aktion, die es ist, ablöst, sich selber verlässt und eben dieses Verlassen, die Sonderung von sich, diesen AutoExodos erfahren und bedenken lässt. Die kátharsis, von der Aristoteles spricht, ist demnach zwar eines der Elemente des Dramas, sie ist als sein extremes Element sogar das Kriterium des Dramatischen in seiner Einheit, aber sie ist dieses Kriterium allein, indem sie sich spaltet in eine innerdramatische Entfernung vom Drama und eine Entfernung von ihm, die es als Drama hinter sich lässt. Damit es überhaupt Praxis, Handlungen, Handlungssynthesen zu einer Einheit geben kann, muss es eine Ablösung von dieser Einheit geben, die ihrer kanonischen Form zwar angehört, aber diese Form dennoch zugleich auf dasjenige öffnet, was weder kanonisch noch Form noch Einheit ist. Die Reinigung von der Reinigung gibt nicht nur dem integralen Form-, Handlungs- und Geschehensbegriff den Abschied, sie gibt ihn zugleich dem Prinzip der alten und der kritischen Transzendentalphilosophie, jedes beliebige Seiende sei stets und gesichert eins, wahr und gut. Dass die Katharsis nicht mit sich übereinstimmt, sich nicht als wahr und nicht als vollständig ausweist –: erst dieses nicht lässt beliebiges Seiendes für die Zukunft des Handelns und Erkennens zu – und lässt überdies zu, dass es darunter und außerdem Noch-Nicht-Seiendes gibt.

2. Beinahe zweieinhalb Jahrtausende nach Aristoteles hat dessen Poetik in Bertolt Brecht einen ihrer besten Leser gefunden. In seinem »Kleinen Organon für das Theater«, dessen Titel nicht nur an Francis Bacons Novum Organum, sondern auch an die aristotelischen Schriften zur Logik erinnert, die von den Editoren »Organon« betitelt wurden, entwickelt Brecht in zum Teil expliziter Übereinstimmung mit den Grundzügen der ersten Poetik Überlegungen zu einem Theater, das wesentlich Praxis ist und sich ebenso wesentlich von jedem praktizistischen Miss-

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verständnis der dramatischen Aktion fernhält. Zweimal betont Brecht seine Nähe zum aristotelischen Handlungsbegriff ausdrücklich, zum ersten Mal, wenn er schreibt: »Und die Fabel ist nach Aristoteles – und wir denken da gleich – die Seele des Dramas«16 (§ 12). Mit ›Fabel‹ übersetzt hier Brecht den Begriff mythos, der bei Aristoteles nicht bloß Sage und Erzählung bedeutet, sondern Handlungsverlauf oder Komposition von Handlungselementen zu einem kohärenten Ganzen. In diesem Sinn heißt es in der Poetik, das Prinzip – archè – und gleichsam die Seele – psychè – der Tragödie sei der mythos (1450a 38): dieser biete also nicht allein den Inhalt oder Stoff, vielmehr die Bewegungsform des dramatischen Geschehens in seiner Gesamtheit. Auf dieses Zitat aus der aristotelischen Poetik folgt in einem späteren Paragraphen des »Organon« die Bekräftigung in den Sätzen: »Auf die ›Fabel‹ kommt alles an, sie ist das Herzstück der theatralischen Veranstaltung. […] Das große Unternehmen des Theaters ist die ›Fabel‹« – und Brecht präzisiert an dieser Stelle den Begriff ganz im Sinn des Aristoteles, indem er schreibt: »die ›Fabel‹, die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge, enthaltend die Mitteilungen und Impulse, die das Vergnügen des Publikums nunmehr ausmachen sollen« (§ 65)17. Damit ist ein weiteres Mal die Übereinstimmung zwischen dem brechtschen und dem aristotelischen Handlungsbegriff betont, nur dass hier ›die Seele‹ durch ›das Herzstück‹ ersetzt und mit den ›gestischen Vorgängen‹, die das Vergnügen des Publikums ausmachen sollen, ein Element des neuen Theaters genannt wird, das den Überlegungen des Philosophen fremd zu sein scheint. Tatsächlich spricht aber auch Aristoteles von der Geste – nämlich vom schéma im Sinn der mimischen Begleitung einer Aussage (1462a 3) –, und zwar genau dort, wo er den Rangunterschied zwischen Drama und Epos deutlich zu machen versucht. Gesten – oder, nach einer weiteren Bedeutung von schéma, Haltungen –, wie sie im Drama vorkommen, gelten nach einem von ihm referierten zeitgenössischen Argument als vulgär, gemacht für ein ungebildetes Publikum, das derartiger Mittel bedürfe, um der Handlung folgen zu können, während das Epos, das einem aristokratischen Hörerkreis vorgetragen wird, auf kommentierende und deshalb übertreibende Gestik verzichten könne. Aristoteles beantwortet dieses Argument mit dem Hinweis, auch Tragödien bedürften nicht der szenischen Aufführung, sondern bloß des Lesens (anagnósei), um die für sie charakteristische Wirkung zu tun (1462a 10 sqq.), und sie erzielten durch Handlungseinheit und Kürze eine eindringlichere Wirkung als jedes Epos. Deshalb erkennt er der Tragödie einen höheren Rang als dem Epos zu. Er reduziert damit die Gestik, wie die szenische Darbietung überhaupt, auf ein vulgäres Schauspielerproblem, das die interne Struktur des Dramas nicht berührt. Darauf, dass der Gestus ›die Seele‹ des Dramas nicht nur berührt, sondern sie ganz und gar ausmacht, insistiert dagegen Brecht mit seiner Wendung von der Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge. Der Gestus, vulgär wie er sein mag, ist für ihn nicht allein ein Inszenierungs- oder Aufführungsphänomen, er bestimmt für Brecht, anders als für Aristoteles, die innerste Struktur der ›Fabel‹, der Handlung, der dramatischen Komposition insgesamt. Indem er den Gestus zum Inbe16 | Brecht, Bertolt: »Kleines Organon für das Theater«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 23: Schriften 3. Frankfurt a.M. 1988, S. 65-97, hier: S. 70. 17 | Ebd. S. 92.

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griff des von ihm so genannten ›epischen‹ Theaters erhebt, privilegiert er genau dasjenige Element, das für Aristoteles un-episch, aber auch un-tragisch und undramatisch ist. ›Nicht-aristotelisch‹ ist die brechtsche Theaterkonzeption zunächst nur deshalb, weil sie diesen Gestus, der nicht zum aristotelischen Horizont – und also nicht zum hóron tes ousías 18 (1449b 23), nicht zum Wesensumriss – der Handlung gehört, in deren Mitte versetzt. Theoriehistorisch wird damit das dem Drama strukturell Fremde und Unwesentliche zum genuin Dramatischen gemacht. Dennoch hält Brecht auch mit dieser Umwendung des Äußerlichsten ins Innerste der aristotelischen Poetik die Treue. Er deutet nämlich die Katharsis, die darin das Extrem aller dramatischen Vorgänge bezeichnet, als Gestus. Er nennt sie Waschung. Mit diesem Begriff knüpft er wohl ebenso sehr an die Homerische niptra an – also die Fußwaschung, die zur Entdeckung, zur anagnorisis, der Narbe des Odysseus führt –, auf die Aristoteles sich mehrfach bezieht, wie an die Katharsis, an diese jedoch nicht als kultische Reinigung, sondern als Entfernung von ihr. Brecht schreibt im § 4 des »Organon«: Wenn man sagt, das Theater sei aus dem Kultischen gekommen, so sagt man nur, daß es durch den Auszug Theater wurde; aus den Mysterien nahm es wohl nicht den kultischen Auftrag mit, sondern das Vergnügen daran, pur und simpel. Und jene Katharsis des Aristoteles, die Reinigung durch Furcht und Mitleid, oder von Furcht und Mitleid, ist eine Waschung, die nicht nur in vergnüglicher Weise, sondern recht eigentlich zum Zwecke des Vergnügens veranstaltet wurde.19

Wenn die Initialbewegung des Theaters der Auszug aus dem Mysterienkult ist, und wenn dieser Auszug als Waschung vonstatten geht, dann ist diese Waschung und das Vergnügen daran, pur und simpel, genau das, wodurch das Theater zum Theater, die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge zum Drama, und wodurch der Gestus allererst zum Gestus wird. Wie die kátharsis für Aristoteles, so ist die Waschung für Brecht das oberste und letzte Kriterium des dramatischen, des Theatergeschehens, diejenige Entscheidungsinstanz, an der sich erweist, ob es überhaupt Theater oder keines, ob es eine Gesamtkomposition von Vorgängen oder keine ist. Im Unterschied zur aristotelischen Poetik ist es für Brechts »Organon« jedoch der Gestus selbst, der den Auszug aus den kultischen Verhaftungen zuwege bringt und der die Waschung vornimmt, die von den Dunkelheiten der rituellen Initiation und Identifikation befreit. Dieser Gestus ist für Brechts »Organon« Ablösung von allem, was ihm voraus, was an ihm und ihm gegenüber liegen kann, und folgt als diese Ablösung keinem ihm übergeordneten Zweck, sondern löst sich mit dem Vergnügen, das jede Befreiung macht, von allen Funktionen und teleologischen Bestimmungen, die ihm anhaften. Er kann diese Ablösung also nur dann sein, wenn er noch seine eigene kultische Funktion abstreift und Gestus der Abstreifung des Gestus wird, wenn er sich, wie es in Brechts Satz geschieht, aus der mystischen Reinigung, die einen Auftrag 18 | Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Üs. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 18. 19 | Brecht, Bertolt: »Kleines Organon für das Theater«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 23: Schriften 3. Frankfurt a.M. 1988, S. 65-97, hier: S. 67.

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zu erfüllen hat, pur und simpel, in eine profane Waschung verwandelt: »jene Katharsis des Aristoteles, die Reinigung […], ist eine Waschung«20. Die Profanierung, die sich in Brechts Neu- und Um-Übersetzung des obersten Begriffs der klassischen Dramentheorie abspielt, wiederholt nun aber diejenige Profanierung, der in der euripideischen Iphigenie die kátharsis durch ihre Verwandlung aus einem rituellen Akt in eine befreiende Finte unterzogen wird. Die Geste der Mystifikation springt um in die Geste der Befreiung von ihr und springt derart ab von sich selbst. Was Brecht Gestus nennt und was er an der Waschung exemplifiziert, ist ebenso sehr die Geste der Waschung wie die Abwaschung dieser Geste, ihr Exodos aus sich selbst. Sie ist kein stabiles dramatisches Requisit, dem eine bestimmte Bedeutung und ein Auftrag beigelegt werden könnten, sondern ein Vorgang der Entledigung von Bedeutungen und Aufträgen, das Geschehen einer Ablösung ohne anderen Zweck als das Vergnügen an ihr. Damit ist das entscheidende, das einzige Kriterium der Komposition aller gestischen Vorgänge, das Kriterium der ›Fabel‹ und des Gestus, das Fundamentalkriterium der ›Seele‹ als der Bewegungsform der Handlung in dessen Spaltung verlegt: das Kriterium des Kriteriums liegt darin, dass es von ihm selbst sich sondert, sich seiner selbst entledigt, sich als Kriterium deaktiviert und zum bloßen Auszug, zum Exodos des Kriteriums und aller ihm anhaftenden kriteriologischen Bestimmungen wird. Kriterium heißt: den Stand und Standard eben dieses Kriteriums verlassen. Die Freude, von der Aristoteles spricht – die hedoné (1453b 12), das chairein (1448b 8) –, das Vergnügen, von dem Brecht spricht, ist nichts anderes als der Genuss, den die Befreiung von jedem Kriterium verschafft. Wenn der Gestus nun aber eine sui-differenzielle Operation ist, dann muss er eine verändernde und zunächst sich selbst verändernde, in diesem Sinn jedoch eine geschichtliche Operation sein. Brecht macht das klar, indem er auf die Unkorrektheiten der traditionellen Abbildungen und deren Überspielung durch »die Illusion eines zwingenden Verlaufs«21 der Handlungen hinweist und das zeitgenössische Verhältnis zu ihnen als ein immer noch traditionelles, also inkorrektes, illusorisches und kultisches moniert: Auch wir übersehen gern derlei Unstimmigkeiten, wenn wir an den seelischen Waschungen des Sophokles oder den Opferakten des Racine oder den Amokläufen bei Shakespeare schmarotzen dürfen, indem wir versuchen, der schönen oder großen Gefühle der Hauptpersonen dieser Geschichten habhaft zu werden. 22 (§ 9)

An den Waschungen, diesmal den seelischen, zu schmarotzen und ihrer habhaft zu werden, kann nur besagen, über einen psycho-sozialen und kognitiven Abstand von Jahrhunderten und Jahrtausenden hinweg die Gefühle von Bühnenfiguren, trotz ihres illusionären und inkorrekten Charakters, anzueignen und damit zugleich die eigenen, aktuellen Gefühle von ihnen aneignen zu lassen. Dieser reziproken Appropriation der Gesten, der Waschungen, die Brecht in der Einfühlung am Werk sieht, soll derjenige andere Gestus widerstehen, der den Unterschied zwischen Zeiten, Traditionen und Dispositionen nicht bloß aufzuweisen, sondern jedes Mal aufs 20 | Ebd. 21 | Ebd., S. 69. 22 | Ebd., S. 69.

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Neue aufzureißen hat. Gelingt ihm dies nicht, so wird die Einfühlung zur In-einsFühlung, das Publikum, das sich in den Schauspieler, der Schauspieler, der sich in die dramatis persona, der Autor, der sich in die gestischen Vorgänge einfühlt, hätte, wie Brecht schreibt, die »Meinungen und Empfindungen [Anderer] zu seinen eigenen gemacht, so daß also tatsächlich nur ein einziges Muster derselben herauskäme«23 (§ 49). Statt der Kollektivierung der Gestik durch wechselseitige Aneignung nach einem einzigen Muster, statt der In-eins-Fühlung, Vereinsfühlung und Einheitsfühlung, statt der »Gleichschaltung«24 disparater Elemente zu einem einzigen Verhaltensschema (§ 71), hat der Gestus auf Uneins-Fühlung und Veruneinigung zu dringen: und zwar zuerst auf die der Bühnen-Figur, die den Gestus vorführt. Die einzige Einheit, die Brecht deshalb duldet, charakterisiert er in dem Satz: »Die Einheit der Figur wird nämlich durch die Art gebildet, in der sich ihre einzelnen Eigenschaften widersprechen«25 (§ 53). Der Gestus ist demnach Agent und Akteur nicht der Integration, sondern der Dissoziation von Ein- und Eigenheiten. Nachdem Brecht zu Beginn des »Kleinen Organon« seine Treue zur aristotelischen Poetik deutlich gemacht und an der präzisierenden Übersetzung ihrer Grundbewegung, der kátharsis, in Waschung demonstriert hat, kommt er sehr spät in seinem Text noch einmal auf eine Waschung zurück. In § 63 schreibt er: Gehen wir, um zum gestischen Gehalt zu kommen, die Anfangsszenen eines neueren Stücks durch, meines »Leben des Galilei«. […] Es beginnt mit den morgendlichen Waschungen des Sechsundvierzig jährigen […]. Mußt du nicht wissen, […] daß wir schließen werden mit dem Nachtmahl des Achtundsiebzig jährigen […]? Er ist dann schrecklicher verändert, als diese Zeitspanne es hätte zuwege bringen können. Er frißt mit haltloser Gier, […] er, der einst seine Morgenmilch achtlos getrunken hat […]. Aber trinkt er sie wirklich ganz achtlos? Ist sein Genuß an dem Getränk und der Waschung nicht eins mit dem an den neuen Gedanken? Vergiß nicht: er denkt der Wollust wegen! […] Aber notiere es deutlich, viel Schreckliches wird in dieser Sache passieren. 26

Was Brecht gestischen Gehalt nennt, beschränkt sich demnach beileibe nicht auf eine Geste der Waschung und ihre Verkettung mit einer zweiten und dritten; dieser Gehalt liegt vielmehr in der Zerreißung der Kette zwischen den Gesten und in der Haltlosigkeit, der sie überlassen werden. Gestus ist allein derjenige, in den viel Schreckliches eingreift – Aristoteles würde es deínon nennen oder auch phoberón –, und dieses Schreckliche greift nicht von außen in ihn ein, denn die Wollust der Waschung gleicht der des neuen Gedankens, und diese Wasch- und Denklust führt zu einer wissenschaftlichen, kosmologischen und sozialen Revolution, die auf die Geste der Waschung und des neuen Gedankens zerstörerisch zurückschlägt. Der Gestus ist also derart strukturiert, dass er eine Peripetie in seinen GegenGestus erfährt. Die Waschung wäscht nicht, sie verunreinigt sich; sie verführt den Wäscher, der sie wollüstig genießt, zum halben Verrat an seiner Sache und führt selber das Schreckliche herauf, das von der Katharsis, der tragischen, purgiert oder listig verabschiedet werden sollte. Der Gestus wäre, kurzum, nicht das Herzstück 23 | Ebd., S. 84. 24 | Ebd. S. 95. 25 | Ebd., S. 86. 26 | Ebd., S. 89f.

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des Dramas, wenn er nicht, synkopisch, gegen sich selbst schlüge; das Kriterium keins, wenn es sich nicht zerfällte. Was Brecht Geste nennt, ist keine lineare, keine einsinnige und keine konsistente Bewegung. Es ist eine gedoppelte, in sich gebrochene Bewegung, die ihre Bruchstelle offenhält – und zwar offen sowohl auf andere Bewegungen wie auf anderes als Bewegungen, auf eine andere Praxis wie auf etwas anderes als das, was unter dem Begriff ›Praxis‹ gefasst zu werden pflegt. Das wird ersichtlich, wo Brecht den historischen Grund seiner neuen Dramaturgie hervorhebt, indem er dazu auffordert, wir sollten »an uns als an die Kinder eines wissenschaftlichen Zeitalters denken«, denn »unser Leben ist in einem ganz neuen Umfang von den Wissenschaften bestimmt«27 (§ 14). Diese Wissenschaft, zunächst die Natur-, weiterhin die Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft, ist für ihn nicht nur eine Produktivkraft, sondern sie entbindet in uns, wie er schreibt, eine »Leidenschaft des Produzierens«, der ihre dramatische und gestische Darstellung gerecht zu werden hat. Auf die Frage: »Welches ist die produktive Haltung gegenüber der Natur und gegenüber der Gesellschaft, welche wir Kinder eines wissenschaftlichen Zeitalters in unserm Theater vergnüglich einnehmen wollen?«28, lautet seine Antwort: »Die Haltung ist eine kritische«29 (§ 21, 22). Diese Haltung, deren Begriff offenbar Brechts Übersetzung des aristotelischen ethos ist und wie dieses die gesamte Ethik des Verhaltens in der Gesellschaft und zu ihr umfasst; diese Haltung, die eine Leidenschaft aufrecht und am Leben erhält, kann produktiv heißen, da sie zur Produktion der Wissenschaft selbst antreibt, und sie kann kritisch heißen, da sie durch die Abstoßung von überlebten Verhältnissen die Leidenschaft für günstigere in der Zukunft rege hält. Nun lässt Brecht jedoch keinen Zweifel daran, dass die derart definierte kritische und deshalb wissenschaftliche und somit produktive Haltung eine Haltung gegen das von diesem Zeitalter seinen Kindern zudiktierte szientifischproduktiv-kritische Verhalten sein muss. Denn: »In diesen Kriegen durchforschen die Mütter aller Nationen, ihre Kinder an sich gedrückt, entgeistert den Himmel nach den tödlichen Erfindungen der Wissenschaft«30 (§ 18). Die Leidenschaft der Kritik, so ist damit gesagt, darf vor der Kritik dieser Leidenschaft nicht haltmachen. Sie muss leidenschaftliche Kritik noch an der Kritik werden und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kritik zu einem Sedativ der Passion, zu einer Geste der Vereinnahmung, der Einfühlung und Vereinsfühlung und somit zu einer Geste der Verkümmerung der Kritik, dieser großen Methode der Produktivität, zerfallen kann. Kritisch, wie Brecht sie denkt, könnte allein diejenige Haltung sein, die Distanz zu sich selbst hält, indem sie von sich selbst abstehend aus diesem Abstand zur Kritik kritisch, aus der Distanz zur wissenschaftlichen Produktivität produktiv und aus der Distanz zur Praxis praktisch zu sich selbst steht. Der praktische Gestus ist demnach von einer Haltung getragen, die jeder wissenschaftlichen Kontrolle voraus- und über jede hinausgeht, und ist charakterisiert durch einen Abstand zur Praxis, der diese allererst freigibt.

27 | Ebd., S. 70. 28 | Ebd., S. 73. 29 | Ebd. 30 | Ebd., S. 72.

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Brecht skizziert diese beiden eminent praktischen Bewegungen der kritischen Haltung – des Gestus zum Gestus –, indem er zugleich deutlich werden lässt, dass sie die Elementarbewegungen jedes ethos und jeder Ethik des Verhaltens überhaupt darstellen. Die erste führt ihn auf dem Weg der aristotelischen Analyse weiter, die zweite, nicht ohne aristotelische Reminiszenzen, um ein Weniges hinter diese zurück. Die aristotelische Bewegung wird im folgenden Satz des »Organon« gezeigt: Sie seien unterhalten mit der Weisheit, welche von der Lösung der Probleme kommt, mit dem Zorn, in den das Mitleid mit den Unterdrückten nützlich sich verwandeln kann, mit dem Respekt vor der Respektierung des Menschlichen, das heißt Menschenfreundlichen, kurz mit all dem, was die Produzierenden ergötzt. 31 (§ 24)

Erst indem das passive Mitleid, das den Unterdrückten gilt, wie ein Rohstoff in den aktiven Zorn gegen die Unterdrückung sich verwandelt, wird es einer kátharsis zugeführt, nämlich der Abfuhr in den Aufstand gegen Unterdrückung, nicht unähnlich derjenigen, die Iphigenie zum Ausbruch aus dem taurischen Kerker führt. Zorn ist ein nützlicher und ist sogar der einzig nützliche Affekt, der sich aus dem Mitleiden mit Anderen ableiten lässt, denn er ist der einzige, der zu einer Veränderung jener Verhältnisse antreibt, die ihn ausgelöst haben. Als Affekt der Kritik kann Zorn das Leiden in Handeln konvertieren, aber er wird praktisch nicht nach den Maßen der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Kritik, sondern setzt diese Maße erst selbst. Um nämlich Zorn zu sein, muss er sich gegen die Verletzung des Respekts vor dem Menschlichen richten, muss sich also als Respekt vor der Respektierung des Menschlichen betätigen und zu einer praktischen, eingreifenden Regung der Menschenfreundlichkeit werden. Dreimal wird in der aristotelischen Poetik das Menschenfreundliche – philánthropon – als unverzichtbare Tendenz des gelungenen Dramas bezeichnet (1452b 38, 1453a 2, 1456a 21), und der Zorn – der orgé –, den Aristoteles in seiner Rhetorik als ersten unter allen Affekten behandelt, wird von ihm vornehmlich als Zorn über den Mangel an Respekt – an timé – charakterisiert (1378a 30 sqq.). Nicht die Angst und das Mitleid, sondern der Zorn, der sich aus ihnen und über sie erhebt, ist für Brecht wie für Aristoteles der affektive Impuls zu einer Praxis, die sich gegen das Durch-einander-Sterben und für das Miteinander-Leben betätigt. Er ist ein kämpferischer, nicht aber ein wissenschaftlich induzierter und paralysierender, ein Affekt zugunsten einer Praxis der Freundlichkeit, die es noch nicht gibt, ein praktischer Affekt für eine ausstehende Praxis, deshalb Respekt vor der Respektierung, deshalb die eine genuin kritische Bewegung noch vor jedem normativ fixierten und konsensuell anerkannten Kriterium für die von ihm geübte Kritik. Zorn, so ist damit gesagt, ist das Kriterium noch vor und für alle Kriterien, an denen sich das praktische, aber auch das technische und wissenschaftliche Leben einer Gesellschaft, ob bewusst oder unbewusst, orientiert, und als dieses Proto-Kriterium ist er selber unkritisierbar. Nun kann es dem Dramaturgen – dem Stückeschreiber, dem Theatermacher, dem Schauspieler – nicht um die Betrachtung des Zorns zu tun sein; es muss ihm, wenn er selbst ein menschenfreundlich Zorniger ist, auf die Entfesselung des Zorns ankommen. Entfesselt kann er nicht werden, indem er als Modell vor31 | Ebd., S. 75.

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gelebt, ausagiert und im Rahmen einer Szene festgesetzt wird, sondern nur indem gezeigt wird, dass er angezeigt ist. Gezeigt muss deshalb auch das Zeigen werden, und zwar so, dass es den Zorn nicht erschöpft und zu einem Tatbestand erstarren macht, vielmehr nur so, dass dieses Zeigen als Skizze des Angezeigten erscheint (§ 39, 41). Eine dramatische Aktion, die den Zorn entbindet, kann also weder dessen Präsenz in Aktion suggerieren, noch kann sie als bindendes Vorbild für eine ähnliche Aktion vorgeführt werden: in beiden Fällen würde die Darstellung des Zorns seine Kanalisierung, diese Kanalisierung seine Paralysierung zur Folge haben. Gezeigt muss also werden, dass der Zorn ›selber‹ nicht gezeigt werden kann – dass also jedes dramatische Zeigen immer auch ein Zeigen des Nicht-Zeigen-Könnens ist –, und es muss gezeigt werden, dass das Angezeigte, der Zorn, keiner Regel untersteht, sondern jede Regel freistellt. Um das Aneignungs- und In-eins-Fühlungs-, um also das Entdramatisierungs-Theater zu einem genuin dramatischen zu machen, muss das Zeigen von einem Gestus begleitet werden, der es seiner konventionellen – seiner angeblich ›naiven‹ und ›unmittelbaren‹ – Geltung enthebt. Brecht beschreibt diese Epoché des Zeigens im »Organon« so: […] wir können die eine Hälfte der Haltung, die des Zeigens, um sie selbständig zu machen, mit einer Geste ausstatten, indem wir den Schauspieler rauchen lassen und ihn uns vorstellen, wie er jeweils die Zigarre weglegt, um uns eine weitere Verhaltungsart der erdichteten Figur zu demonstrieren. 32 (§ 49)

Die Geste, wie sie hier charakterisiert wird, löst das Zeigen des Schauspielers von der gezeigten Bühnenfigur ab – macht es selbständig – und lässt durch seine Unabhängigkeit von dieser Figur erkennen, dass diese erst vom Gestus zugelassen wird. Die Geste gehört nicht zur Figur, sie zeigt nicht wie diese, sie handelt nicht, wirkt weder suggestiv noch argumentativ auf die Figurenhandlung ein, sondern sie lässt es zu, dass diese – oder auch etwas Anderes – gezeigt wird. Sie lässt ein anderes denn ihr eigenes Zeigen und mit diesem ein Handeln auf der Bühne und darüber hinaus zu. Brecht fährt in seiner Gestenanalyse fort: »Wenn man […] sich das Lässige [in der Geste des Rauchens] nicht nachlässig denkt, haben wir einen Schauspieler vor uns, der uns sehr wohl unsern oder seinen Gedanken überlassen könnte.«33 Wird der Akzent, der in diesem Satz auf der Variationsreihe das Lässige, nachlässig und überlassen liegt, ebenso ernst genommen wie die anderen im »Organon« eingesetzten Aufmerksamkeitswecker Unterhalt und Unterhaltung (§ 20, 77), Begreifen und Eingreifen (§ 46), dann wird klar, dass das ganze Gewicht von Brechts neuem dramaturgischen Gedanken auf dem lassen und überlassen liegt. Die lässige Geste (des Rauchens) zeigt nicht, sie lässt zu, dass etwas sich zeigt; sie bildet keine dramatische Figur aus, sie lässt zu, dass sich eine solche, zumindest skizzenhaft, ausbildet; sie handelt nicht, sondern lässt zu, dass sich ein Handlungsverlauf abzeichnet. Im selben Zug wie die Elemente des Bühnengeschehens lässt sie aber auch das Verhältnis des Publikums zu ihm frei, denn der Gestus könnte uns sehr wohl unsern oder seinen [des Schauspielers] Gedanken überlassen.34 Nicht Einfühlung und Vereinnahmung wird vom Gestus bewirkt, nicht Suggestion oder Identifika32 | Ebd., S. 84. 33 | Ebd. 34 | Ebd.

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tion sind seine Wirkung, denn im strengen Wortsinn wirkt und bewirkt er nicht. Er ist eine Freigabe, die auch das Sehen, Fühlen und Denken der Zuschauer diesen selbst überlässt. Was mit dem Gestus vorgeführt wird, ist deshalb alles andere als ein mimischer oder ein sprachlicher Akt, es ist nicht das, was seit Austin performativ genannt wird, nämlich keine auf einem bereits erreichten Konsensus basierende Handlung, die innerhalb ihrer Setzungskonventionen zu einem mehr oder minder ›glücklichen‹ Abschluss gebracht werden könnte. Da er nur im Überlassen liegt, ist der Gestus eine Zulassung, eine Erlaubnis und Gewährung, er ist ein Permissiv, jedoch kein konventionsfundierter oder konsensbedürftiger, sondern einer, der aus den Konventionen, auf die er zurückgreift, entlässt und den Minimalkonsens, mit dem er operiert, zum Dissens freigibt. Weder kann dieser Gestus noch charakterisiert werden nach dem Beispiel der Beherrschung eines Stroms durch die Gesellschaft, die ihn zu ihrem macht (§ 25), noch nach dem Modell einer juridisch geregelten Abtretung von Vermögen, Eigentum oder Kraft an Andere, denen sie ›eigentlich‹ zukommen: er ist weder Aneignung noch Übereignung noch Zueignung eines Eigentums, denn ihm selbst, diesem Gestus, ist nichts zu eigen als die Überlassung einer Freiheit an Andere, die sie zuvor noch nie hatten. Er ist durch und durch Gestus-für-Andere, und da er sich durch das Lässige auszeichnet, ohne nachlässig zu sein, hält er – und ist deshalb Haltung, ethos – an sich als Freilassung für Andere, denen ihrerseits dadurch überlassen wird, zu wiederum Anderen sich gleichfalls, doch anders freilassend zu verhalten –: und ist deshalb der Anfang einer Ethik gestischer Dramaturgien, durch die aus einer Masse wechselseitig sich paralysierender Identifikationen eine Gesellschaft werden könnte, die einem jeden zugesteht, ein Anderer und anders zu werden als der, für den er sich hält oder für den er gehalten wird. Dieser von Brecht skizzierte Gestus des Überlassens ist mithin der Initialgestus aller Gesten, er ist derjenige, der allen Gesten vorausgehen muss, er ist der Zukunft – anderen Zukünften, nämlich den Zukünften von Anderen – zugewandt, ohne sie präskriptiv durch Programme beherrschen oder verwalten zu sollen: er gibt keine Direktiven für sie, sondern gibt sie frei. Da er eine Eröffnungsgeste – nämlich die Eröffnung aller nur denkbaren und vollziehbaren anderen Gesten – ist, liegt der Gedanke nahe, er sei eine arché, ein Grund, ein Form- und Ordnungsprinzip, wie Aristoteles es für das Drama im mythos, oder eine ousía, ein steter Wesensbestand und die Seele, wie noch Brecht sie in der ›Fabel‹ gefunden hat. Aber das Überlassen setzt keinen und es beobachtet keinen Grund, keine Form und keinen Bestand, am wenigsten den eines schon Gesagten – und in diesem Sinn ›Mythischen‹ –, sondern lässt ihn, aber auch alles andere im Horizont von Sprache und Handeln, allererst zu. Weder bietet noch gebietet er eine Ordnung; er ist vielmehr der Gestus einer an-arché und einer an-ousía, ohne die es weder einen Grund noch eine Bewegungs-Form des Handelns geben könnte. Er kann auch nicht als im strengen Sinn ›poietisch‹ charakterisiert werden, denn zwar ist er ein Gestus-für-Andere, aber er stellt nicht her, verfertigt nicht und bewirkt nicht im Sinn der durchgängigen intentionalen Bestimmung eines Anderen: deshalb bleibt er außerhalb des Horizonts der Poetik und des mit ihr eng verknüpften Handlungsbegriffs. Die Geste, die anderen Gesten – der Schauspieler und des Publikums – allererst zu erscheinen erlaubt, ist, strictu sensu, selber keine Geste, ohne eine bloße Vorgabe zur Geste, ein Prä- und Pro-Gestus zu sein: kein Zeigen, sondern Zulassung des

Das eine Kriterium für das, was geschieht

Zeigens; kein Handeln, sondern Gewährung eines Handelns wie eines Nicht-Handelns. Da Brecht mit dem Gestus des Überlassens vor den aristotelischen Raum der Wesensbestimmung, der formalen, der stofflichen und der affektiven Elemente des Dramas zurückgeht und diesen Gestus zur bloßen Eröffnung jenes Raums werden lässt, ist seine Dramaturgie – und somit seine Handlungstheorie insgesamt – nicht so sehr anti-aristotelisch, wie er selbst es meinte, als vielmehr strukturell antearistotelisch. Er denkt eine Offenheit für das Handeln und seine Freiheit, die von der aristotelischen Form-, Vermögens- und Substanz-Ontologie ebenso energisch wie wirkungsvoll eingeengt wird. Sein Gestus statuiert keine transzendentale Einheit, Wahrheit, Vollständigkeit, sondern räumt – a-transzendental und ad-transzendental – die Möglichkeit, aber auch die Abweisung einer solchen transzendentalen Prädikation nur ein. Es bleibt, was bei Aristoteles philánthropon und bei Brecht das Menschenfreundliche (§ 24) heißt. Wollte man mit der Geste des Überlassens ein Gefühl assoziieren, es könnte kaum ein anderes sein als diese Freundlichkeit. Aber sie ist, bei dem einen wie dem andern, ein abstraktes Gefühl für eine formelle Allgemeinheit, der keine ebenso allgemeine Realität entspricht. Für Brecht ist sie eine Freundlichkeit für diejenigen, die es als gesellschaftliche Allgemeinheit, als das Kollektivum ›Mensch‹ und ›menschliche Gesellschaft‹ noch nicht und vielleicht niemals gibt. Wäre sie bereits allgemein realisiert und nicht durch Fraktionierungen, Privationen und Privatisierungen korrumpiert, dann bräuchte die Geste des Überlassens sie nicht eigens zu skizzieren und durch ihre Skizze nicht wieder und wieder ihren Grundriss offenzulegen. Nur also, weil das Überlassen, das sich in ihr abzeichnet, keine allgemeine Praxis ist, weil sogar der Respekt vor der Respektierung des Menschenfreundlichen immer wieder verletzt wird durch Restriktionen und Verkrümmungen und weil diese Verletzung immer wieder Anstoß zu Angst und Mitangst geben muss, kann die Geste des Überlassens Gelegenheit zu deren nützlicher Verwandlung in Zorn geben. Erst der Zorn, der sich gegen ihre Restriktionen empört, kann diese Geste zu einer Geste generalisierender Verfreundlichung erweitern. Aber nur diese Geste kann Zorn freisetzen, ohne ihn zu Akten der Selbstzerstörung zu missleiten. Die beiden Züge in der Struktur des Gestus, die von Brecht herausgehoben werden – Gelassenheit und Zorn –, markieren die Eröffnung und den Ausgang nicht bloß der gestischen Vorgänge auf der Bühne, sondern jeden Handelns. Ohne sie wäre das Theater, aber auch das so genannte gesellschaftliche Handeln nichts weiter als eine Übermächtigungs- und Aneignungsprozedur, ein Massenhypnose- und Gängelungsmechanismus, ein Rauschmittel oder ein Narkotikum, das Handeln nicht zulässt und nicht fördert, sondern es lähmt. Ohne den Gestus des Überlassens, der das Handeln eröffnet, und ohne den Zorn, der über jeden bloßen Gestus hinausgeht, gibt es kein Handeln. Denn Handeln erschöpft sich nicht in Routinen, sondern mechanisiert sich darin; es wird nicht geleitet von Einheits- und Beherrschungshochgefühlen, sondern verkrüppelt daran; es dient keinem kontrafaktischen Ideal, sondern lässt Ideale als Handlungsverhütungsmittel hinter sich; es kann Konventionen und anderen Versicherungsträgern nicht vertrauen, es entspringt aus dem Misstrauen gegen sie. Handeln verläuft nicht nach einem Programm, und sei’s einem utopischen, das seinen erfolgreichen Abschluss definiert. Handlungen können gewiss zu Schlüssen führen, aber nur zu solchen, die weitere Handlungen eröffnen, von denen die vorausgehenden modifiziert oder de-

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mentiert und abgestoßen werden. Die Schluss- und Anschluss-Logik des Folgens, des Erfolgs und der Folgerung wird von der Praxis des Handelns außer Kraft gesetzt, denn: »Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war.«35 Wer handelt, entlässt sich und Andere – in Gelassenheit und Zorn – aus den Zwängen von Voraussetzungen und Folgen, er dekonditioniert und deprogrammiert die scheinlogischen Verlaufsordnungen des Handelns, um sie auf andere offen zu halten. Brechts Satz, aktuelles Verhalten solle seine »Natürlichkeit einbüßen und handelbar werden«36 (§ 40), besagt, dass Verhalten, so aktuell es sein mag, aus seiner Gewohnheit entlassen und zum Handeln nur werden könne, indem es handelbar und in den Grenzen seiner Handelbarkeit erhandelt werde. Selbst also die Aktualität – oder Gegenwärtigkeit – des Verhaltens ist kein Merkmal des Handelns, solange ihr ein zusätzlicher Impuls fehlt, der von eben dieser Aktualität – oder Gegenwärtigkeit – ab- und in eine noch ausstehende vorstößt. Handeln ist erhandeln, bevor noch die Bahnen des Handelns festliegen. Es ist eine Bewegung ohne Methode und ohne vorgefertigtes, providentielles oder auch nur antizipierbares Resultat. Deshalb kann Brecht in der ›Vorrede‹ zum »Organon« wie schon zuvor im Messingkauf zwar empfehlen, das Theater solle sich lieber Thaéter – und also ›Täter‹ – nennen, im letzten Paragraphen des »Organon« aber betonen, das Vergnügen an der Vollkommenheit des Theaters – und also des Thaeters – solle »in das höhere Vergnügen« an seiner Vorläufigkeit und Unvollkommenheit »gesteigert werden«; denn nur »seine schrecklichen und nie endenden Arbeiten […] samt den Schrecken seiner unaufhörlichen Verwandlung«37 lassen den Zuschauer produktiv (§ 77). Handeln, ob im Theater oder außerhalb davon, kennt nur Eröffnungen und Ausgänge, aber kein Ende. Es ist indefinit unvollkommen und infinit schrecklich. Eine Vergnügung und Unterhaltung ist Handeln jedoch, weil es zu sich selbst hinreichend Abstand hält, um sich auf diese nie endenden Schrecken einzulassen und sie im Zorn unaufhörlich zu verwandeln. Da es ein finites Kriterium für Handlungen und gestische Vorgänge nicht gibt, bleiben als ihre extremen und nahezu externen Determinanten allein der Pro- und Proto-Gestus der Gelassenheit und der Gesten-Ausbruch des Zorns: die menschenfreundliche Gelassenheit zum Zorn und der Zorn zugunsten dieser Gelassenheit. So eng mit dem Wortfeld um lassen, lässig und überlassen der Sinn von Ablösung, Abfuhr, Ausscheidung und Sonderung, damit aber auch der Bedeutungshof um das griechische kátharsis benachbart ist, so wenig ist diese Waschung doch auf die Abfuhr, am wenigsten die eine und einzige orgasmische Abfuhr extremer Innervationen eingeschränkt, die ein letztes Kriterium für das bieten könnte, was in Handlungen und Dramen geschieht. Dazu müsste sie eine höchste Urteilsinstanz, ein finaler Zustand, eine oberste und beständige Autorität sein. Dass Handlungen und Verhaltensweisen einer solchen Autorität nicht begegnen, davon spricht ein kurzes Gedicht, das Brecht 1938, zehn Jahre vor dem »Organon«, im dänischen Exil geschrieben hat. Es handelt »Vom Kind, das sich nicht waschen wollte«. Wenn es gewaschen wurde, »geschwind/Beschmierte es sich mit Aschen«. Als der Kaiser zu Besuch kam, war ein Tuch, mit dem die Mutter es hätte sauber kriegen können, 35 | Brecht, Bertolt: Der Jasager. Der Neinsager, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 3: Stücke 3. Frankfurt a.M. 1988, S. 57-72, hier: S. 71. 36 | Brecht, »Kleines Organon für das Theater«, a.a.O., S. 80. 37 | Ebd., S. 97.

Das eine Kriterium für das, was geschieht

»grad nicht da«. Deshalb bricht das Gedicht ab mit den Versen: »Der Kaiser ist gegangen/Bevor das Kind ihn sah/Das Kind konnt’s nicht verlangen.«38 Ein Kaiser, der wenig Zeit hat und vor dem sich nur saubere Kinder blicken lassen dürfen, ist offenbar ein kümmerlicher Kaiser, den zu treffen niemand innig wünschen und den verfehlt zu haben niemand recht bedauern kann. Auch wenn die höchste Urteilsinstanz das Schmutzkind zu sehen verlangt, das Verlangen beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Der Kaiser hat also nicht nur keine Kleider an, er tritt für das Kind, das sich am Schmutz vergnügt, gar nicht in Erscheinung. Er ist nicht da, kaum anders als der Waschschlappen grad nicht da ist. Es fehlt mithin jedes gemeinsame Kriterium für eine mögliche Entsprechung zwischen Kriterium und Handlung; jedes Kriterium für das Verhalten fehlt, aber auch jedes Kriterium für das Kriterium – außer diesem einen, dass es keines gibt. Nichts geschieht in diesem Gedicht, außer eben, dass nichts geschieht. Es bleibt dem Aschenputtel überlassen, sich zu waschen oder sich weiter zu beschmieren oder ein Drittes und Viertes zu tun oder zu lassen. Zu den Freuden der Befreiung, von denen das »Organon« spricht, gehört offenbar auch die Erfahrung, sie längst schon zu genießen: ob im Zorn, im Spiel oder in einer anderen mehr oder weniger erfreulichen Weise. Diese Erfahrung gehört nicht zu den Freuden, mit denen ein Tui-Kongress von Weißwäschern befasst ist, aber sie ist auch keine Katharsis zur Asche und nicht einmal eine Kritik des reinen Verhaltens, sie ist schlicht die Wahrnehmung – die wenig ›ästhetische‹ Wahrnehmung –, dass ein Urteil über sie nicht fällt und nicht zu fällen ist. Auch dieses Nicht-Urteil könnte noch als eins aufgefasst werden, aber allein in der ebenso irreduziblen wie monströsen Spaltform des k’eins. K’ein Kriterium: dies ist das Kriterium dafür, dass es Kriterien geben kann, jedoch nicht geben muss; es ist das Kriterium der Einheit, Wahrheit, Vollständigkeit von subjektiven wie objektiven Erfahrungen, aber dasjenige eine, das nicht in Einheit, Übereinstimmung mit sich und seinen Folgen besteht: k’eines ist das Kriterium dessen, was geschieht, da es zusammen mit der Einheit auch die Mannigfaltigkeit, mit dieser aber Mannigfaltigkeiten, die keiner Einheit unterstehen, erst zulässt. Sollte das Verhalten des Kindes – und des Gedichtes – als Kritik aufgefasst werden, dann läge das eine Kriterium dieser Kritik darin, dass sie keinen Kaiser zu treffen und selber keiner zu sein erwartet. Es schert sich nicht um den Sinn der Asche und nicht um den der Waschung. Der mag ihm von Anderen zugesprochen werden oder auch nicht. Das eine Kriterium für das, was geschieht, ist der apriorische Abschied von ihm. Was geschieht, ob erhandelt oder ersprochen, erwünscht oder erlitten, es ereignet sich, uneingefühlt, uneingedacht, diesseits jedes Seienden, das definiert werden könnte als eins, wahr und vollständig – unum, verum, bonum. 24.10.2016//4.11.2016

38 | Brecht, Bertolt: »Vom Kind, das sich nicht waschen wollte«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 19381956. Frankfurt a.M. 1988, S. 20.

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Das Spiel des Theaters und die Veränderung der Welt Christoph Menke

Das Verhältnis – das »und« – zwischen Theater und Kritik lässt sich durch zwei Sätze bestimmen: i. Das Theater ist nicht Kritik; es ist nicht dasselbe wie Kritik. ii. Das Theater ist kritisch; es bringt die Kritik in einer neuen Form hervor. Der erste Satz behauptet die Differenz von Theater und Kritik. Der zweite Satz behauptet ihre interne Verbindung. Beide Behauptungen hängen zusammen; die zweite setzt die erste voraus. Denn man kann nur verstehen, dass und wie das Theater kritisch ist (oder sein kann), wenn man versteht, dass es nicht dasselbe wie Kritik ist. In einer etwas altertümlichen Ausdrucksweise lässt sich dies formulieren: Man kann nur verstehen, dass und wie die Möglichkeit der Kritik dem Theater wesentlich ist, wenn man versteht, weshalb die Kritik nicht das Wesen des Theaters ist. Das Theater ist mehr, ja anderes als Kritik; auf diese Weise oder deshalb ist es jedoch gerade kritisch. Dass das Theater nicht Kritik ist – dass Kritik zu sein nicht sein Wesen ausmacht –, gilt, wenn Kritik die Operation der Scheidung und Entscheidung ist (Benjamin nennt die kritische Einstellung die »scheidende und entscheidende«1). Nach dieser Definition ist die Herkunft der Kritik aus der »Rechtssphäre« (Röttgers2) kein zufälliger Umstand. Wenn Platon die Beurteilung einer Behauptung einen Akt der »Kritik« nennt und dafür im Urteilen des Richters das Modell sieht 3, dann hält er damit fest, was die Kritik – und das heißt: Kritik in jeder Gestalt und Bestimmung – wesentlich ist. Die Kritik ist urteilend und richtend; die Kritik sagt Ja und Nein: So ist es richtig und so nicht. Eine Kritik, die aufhört zu urteilen oder zu richten, ist keine. Gleichgültig ob man deshalb ein Ende der Kritik über-

1 | Benjamin, Walter: »Kritik der Gewalt«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. II-1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 202. 2 | Röttgers, Kurt: Art. »Kritik«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart 1982, S. 651. 3 | Vgl. Platon: Theätet. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Frankfurt a.M. 2007, 170d, 201b-c.

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haupt fordert4: Das Theater jedenfalls ist eben deshalb nicht eine Praxis der Kritik. Die Bestimmung des Theaters – die Bestimmung, von der ich ausgehe und die ich im Folgenden näher erläutern werde – besagt, dass es eine Apparatur ist, die Spielen und Zuschauen miteinander verklammert. Das Theater ist ein Spielen vor Zuschauern oder ein Schauen von Spielen. Das Spielen ist aber kein Richten oder Urteilen. Und ebenso wenig ist es das Zuschauen, wenn es ein Schauen von Spielen ist. Denn zum Spielen – das ist seine Minimalbestimmung – gehört die Auflösung und Überschreitung der Bestimmtheit, die das richtende Urteilen (voraus-) setzt; urteilend unterscheiden lassen sich nur Bestimmungen (die darin als gegeben behandelt werden). Das Theater als Spielen und Zuschauen ist nicht kritischurteilend. Es ist nicht eine Praxis der Kritik, eine Instanz des Urteilens, nicht ein anderer, gar höherer Gerichtshof. Aber wenn das Theater nicht mit der Kritik identifiziert werden kann, so kann es ihr ebenso wenig entgegengesetzt oder äußerlich gegenübergestellt werden: als das Medium eines urteilsentlasteten Vergnügens, von Enthusiasmus ohne Logos, einer »grausamen« Affektion der Körper oder eines Miteinanders, das keine Abstände, daher keine Unterschiede und Entgegensetzung kennt. Das Theater, das Spielen vor Zuschauern oder Schauen von Spielen, bringt vielmehr aus sich selbst heraus die Notwendigkeit und Möglichkeit der Kritik hervor. Das Theater ist nicht Kritik, aber es wird zu Kritik. Das Spielen und Zuschauen im Theater spaltet sich von sich und wird zum richtenden Urteilen. Aber dadurch verändert sich zugleich die Form der Kritik: Indem das Spielen im Theater zu seinem Anderen wird, wird auch das Urteilen der Kritik anders. Die Kritik, die das Theater hervorbringt und ausübt (aber nicht ist), ist eine andere Kritik. Sie ist nicht anders, weil ihre Urteile milder und weniger entschieden wären, sondern weil sie nach einem anderen Maß (und daher auch auf andere Weise) urteilt. Die Kritik, die das Theater übt, hat einen anderen Begriff vom Vergehen, von dem Falschen, das sie verurteilt, als die richtende Kritik, die außerhalb des Theaters praktiziert wird. Das sind, noch einmal, die zwei Sätze zum Verhältnis von Theater und Kritik: Die Kritik, die Operation der Scheidung und Entscheidung, steht erstens im Gegensatz zum Theater als Spielen vor Zuschauern und Schauen von Spielen. Aber zweitens bringt das Spielen und Zuschauen des Theaters aus sich selbst heraus sein Anderes hervor, das die Operation der Kritik in neuer Weise möglich macht. Dieses immanente Anderswerden des Theaters, seine Spaltung von und in sich selbst, müssen wir zuerst begreifen (1.). Sie macht das Theater zum Vollzug einer Paradoxie (2.). In dieser Paradoxie gründet die neue Form der Kritik, die dem Theater spezifisch ist (3.).

E nt z weiung Die vorgeschlagene Grundbestimmung des Theaters lautet: Das Theater ist ein Spielen vor Zuschauern oder ein Schauen von Spielen. Das Theater ist also bestimmt durch eine wesentliche Differenz und eine ebenso wesentliche Verknüpfung von zwei Verhaltensweisen: von Spielen und Zuschauen. Diese Unterschei4 | Deleuze, Gilles: »Schluß mit dem Gericht«, in: ders., Kritik und Klinik. Frankfurt a.M. 2000, S. 171-183.

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dung hatte das traditionelle Theater personell und räumlich verteilt und damit gegeneinander abgeschlossen. Aber auch wenn man die Zuordnungen lockert und den Wechsel von der einen in die andere zulässt, ändert sich nichts an ihrer Differenz; die beiden Verhaltensweisen bleiben verschieden. Zugleich existieren die beiden Verhaltensweisen aber nur in ihrem Bezug aufeinander. Dieser wechselseitige Bezug definiert die eigentümliche Gegenwart (oder Gegenwärtigkeit) im Theater. Die Gegenwart im Theater ist die Gegenwärtigkeit des Spielens und des Zuschauens füreinander: Schauen von Spielen, Spielen vor Zuschauern. Im Theater teilen das Zuschauen und das Spielen, daher die Zuschauer und die Spieler, die Gegenwart eines Raums und einer Zeit. Diese räumlich-zeitliche Gegenwart versammelt sie. Es gibt die Zuschauer und Spieler des Theaters nur in diesem Zugleich, das dadurch ein Mit-, ja Füreinander wird; wenn einer von beiden abwesend, noch nicht oder nicht mehr da ist, ist es die andere auch – gibt es also gar kein Theater. Aber füreinander da sind sie nur als wesentlich und daher unaufhebbar Ungleiche. Ihre unauflösliche Gegenwart füreinander ist zugleich in sich gespalten. Daher die Kritik am Theater, die ihm stets Bilder vermeintlich differenzloser Vereinigung gegenübergestellt hat: die politische Versammlung der Bürger, die Gemeinschaft beim Fest oder die Versammlungen ohne Unterschiede, die sich um die Installationen der Gegenwartskunst herum ereignen sollen5. Die Spieler und Zuschauer des Theaters dagegen »teilen« die Gegenwart im doppelten Sinn: Sie ist ihnen nur so gemeinsam, dass sie sich entzweien; sie versammeln sich im Theater, um sich zu entzweien. Das betrifft, was sie tun und daher sind: Die Entzweiung zwischen Spielern und Zuschauern ist nur die oberflächliche Erscheinung der fundamentalen Entzweiung, die das Spielen und Zuschauen im Theater jeweils von sich selbst trennt. Die Spieler und Zuschauer haben im Theater kein einheitliches Wesen. Sie sind in sich entzweit – und dadurch (oder so, auf diese Weise) miteinander verbunden. Das Zuschauen spaltet sich im Theater in sich selbst in Dabeisein und Betrachten, und es spaltet damit zugleich das Verhältnis zwischen Zuschauen und Spielen in differenzlose Nähe und eisige Distanz. Die Entzweiung im Theater ist nicht das äußerliche Gegenüber der Einheit; sie ist die Entzweiung in Einheit und Entzweiung. Die Begründung dafür, weshalb das so ist (und nicht anders sein kann), findet sich in der Bestimmung des theatralen Spiels – darin, was »spielen« im Theater heißt. Diese Bestimmung läßt sich im Ausgang von dem Begriff des Spiels entwickeln, den die moderne Ästhetik ausgebildet hat.6 Hier ist »Spiel« der Gegenbegriff zu den theoretischen oder praktischen, erkennenden oder handelnden Vollzügen, durch die das Subjekt an der normativen Praxis der Gesellschaft teilnimmt. Erkennen und Handeln sind normativ strukturiert; sie stehen unter Normen des Gelingens. Theoretische und praktische Vollzüge sind auf ein Ziel gerichtet – auf die Erkenntnis, also die Wahrheit, und auf den Erfolg oder das Gute –, von dem aus sich ihre Regeln bestimmen. Die Einsicht der modernen Ästhetik, durch die sie den Begriff des Spiels einführt, lautet, dass dieses normative Modell, das menschliche als »subjektive« Vollzüge (und das Subjekt als die Instanz normativen Gelingens) definiert, defizitär ist. Denn es kann nicht einmal verstehen, wie es Erkennen und 5 | Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics. Dijon 2009. 6 | Siehe dazu den Entwurf im Anschluß an Herder in Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008, Kap. 3.

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Handeln geben kann. Erkennen und Handeln kann es nur geben, weil es davor (und darin) Vollzüge kategorial anderer Art gibt. Das sind spielerische Vollzüge. Sie unterscheiden sich von den normativen Vollzügen dadurch, dass sie regellos sind. Spielerisch sind solche Vollzüge, in denen etwas hervorgebracht wird und im selben Zug der Hervorbringung, durch die in ihr wirkende Kraft, bereits wieder aufgelöst und in etwas anderes verwandelt wird. Das Paradigma des ästhetischen Spiels ist das Prozessieren der Einbildungskraft: Sie schafft ein Bild, löst dieses Bild im, ja durch sein Hervorbringen wieder auf und verwandelt es im selben Zug in ein anderes Bild. Ästhetisches Spiel heißt: permanentes Hervorbringen, Auflösen, Verwandeln von Bildern, Gestalten und Formen – Wirken der »Kraft«. Nietzsche hat dieses ästhetische Spiel den dionysischen Zustand des Rausches genannt und darin die »physiologische [also natürliche, das heißt: präsubjektive] Vorbedingung« von allem »ästhetische[n] Thun und Schauen« gesehen.7 Vor allem aber hat er aus diesem ästhetischen Begriff des Spiels eine Theorie des theatralen Spielens, des Schauspielens entwickelt.8 Der (theatrale) Schauspieler, so Nietzsche, ist nicht wie der (epische) Rhapsode, der, »dem Maler ähnlich, [seine Bilder] mit betrachtendem Auge außer sich sieht«. Denn das »dramatische [genauer: theatrale] Urphänomen« besteht in einem Zustand der »Verzauberung«. In diesem Zustand vollzieht sich eine radikale Verwandlung des Subjekts: Es wird darin seine »soziale Stellung völlig vergessen« und differenzloses Glied einer »Gemeinde von unbewußten Schauspielern«, des rauschhaft dithyrambischen Chores. Das theatrale Urphänomen ist also das Sichverwandeln in einen Sichverwandelnden – das Sichverwandeln des Subjekts in einen ästhetischen Spieler, der in einem unendlichen Prozeß Bilder hervorbringt; das heißt: durch seinen Körper, dessen Bewegungen und Äußerungen, Gestalten hervorbringt und diese wieder auflöst und in eine andere Gestalt verwandelt. Wenn Nietzsche sagt, dass der Grund, das »Urphänomen« des Schauspielens das »Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur« ist, dann beschreibt dies nicht die Identifikation des einen Subjekts mit einem anderen (des Schauspielers mit der dramatischen Person). Die »fremde Natur«, in die das Subjekt ›einkehrt‹, ist vielmehr die eigene Fremdheit des Subjekts: Das Subjekt verwandelt sich zurück in einen ästhetischen Spieler. Mit dieser Rückverwandlung beginnt das Spielen im Theater. Aber darin besteht es nicht allein. »Die [ästhetische] Verzauberung ist [nur!, C.M.] die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr und als Satyr wiederum schaut er den Gott, d.h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision außer sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig.«9 Der Schauspieler spielt – und dann sieht er etwas; er hat eine »Vision«. Die Bilder, die der Schauspieler unablässig spielerisch hervorbringt und verwandelt, verändern sich in ihrem Sein. Eines wird festgehalten, fixiert und ausgestellt, so dass es angeschaut werden kann. Im Spielen des Schauspielers, der sich dem Rausch 7 | Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, in: ders., Kritische Studienausgabe. Bd. 6. Hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin/New York 1999, S. 116. 8 | Die folgenden Zitate: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie, in: ders., Kritische Studienausgabe. Bd. 1. Hg. v. G. Colli/M. Montinari. Berlin/New York 1999, S. 61. Dazu ausführlicher Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, Kap. 1. 9 | Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 61.

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der spielerischen Verwandlung hingibt, findet damit statt, was Nietzsche vorher als die »Erlösung«, also die Ablösung aus dem Rausch bezeichnet hat.10 Damit erst wird das Schauspielen zu einer »Kunst«. Genauer und ausführlicher: Die Kunst des Schauspielers besteht darin, sich im Rausch der spielerischen Selbstverwandlung zu verlieren und dann daraus ein Bild, eine Gestalt oder Form hervorgehen zu lassen, die er so fixiert, dass sie angeschaut werden kann. Das ist das Spielen im Theater: Es ist die Bewegung zwischen zwei unvereinbaren Zuständen. Das Spielen auf dem Theater führt dahin, ein Bild zu machen, das andere anschauen können. Aber der Schauspieler bringt dieses Bild aus dem anderen Zustand unablässiger Verwandlung hervor, in der es noch gar kein fixiertes, anschaubares Bild gibt. Schauspielen heißt, eine Form aus der Formlosigkeit des Spiels hervorzubringen. Im Schauspielen entzweit sich das Spiel von sich selbst, unterbricht es sich selbst und wird zu seinem Anderen. Das reine, ästhetische, rauschhaft-selbstvergessene Spiel der (Selbst-)Verwandlung wird zum theatralen Spiel als Vorspielen: zur Vorstellung (eines Bildes, einer Form oder Gestalt). Das erklärt, weshalb sich das Verhältnis zwischen Spielern und Zuschauern im Theater entzweit: weil das Spielen im Theater in sich entzweit ist. Bei der rauschhaften Verzauberung, der (Rück-)Verwandlung des Schauspielers in einen unbewusst spielenden Körper, sind die Zuschauer distanzlos dabei; die Verzauberung des Schauspielers wird von den Zuschauern mitvollzogen. Die fixierende Hervorbringung eines Bildes aus dem – und also gegen diesen – Zustand permanenter Umwandlung hingegen distanziert den Zuschauer; sie stellt ihm etwas vor, das er anschauen, betrachten und deuten kann. Die Entzweiung im Schauspielen entzweit die Gemeinschaft von Spielern und Zuschauern im Theater. Die Gemeinschaft von Spielern und Zuschauern ist im Theater in Gemeinschaft und Trennung entzweit.

Par adoxie Spielen im Theater heißt (etwas für jemanden) Vorspielen: die Hervorbringung von Formen, von Bildern, Gestalten, Bedeutungen, aus dem Abgrund der Formlosigkeit, der sich im reinen, ästhetischen Spiel unendlicher Verwandlung öffnet. Wie alle Kunst, wird das theatrale Spielen daher durch die Bewegung einer in sich gespannten Zweiheit definiert. Die Struktur dieser Zweiheit ist Gegenwendigkeit: eine Form, die sich gegen ihren eigenen Grund wendet; die sich von dem ablöst, ja losreißt (und das geht nicht ohne Gewalt: Form ist Gewalt), was zugleich ihre »Voraussetzung« oder »Vorbedingung« (Nietzsche) ist. Das ist der Moment der Konstitution der Form. Die Form konstituiert sich, indem sie sich gegen das wendet, das sie möglich macht; die Form konstituiert sich durch ihren Selbstwiderspruch. Dieser entscheidende Moment – der Moment, der darüber entscheidet, ob es eine Form gibt – definiert das Paradox der theatralen Form (das Paradox der Form im Theater oder, kurz, das Paradox des Theaters). Dessen genauere Bestimmung führt zur kritischen Kraft des Theaters: Der Weg zum Theater als Kritik führt über das Theater als Paradox. Das Paradox der theatralen Form hat darin seinen Grund, dass die Form, indem sie im theatralen Spiel aus dem Prozess ästhetisch spielerischer Verwandlung 10 | Ebd. S. 38.

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herausgelöst (und dadurch für den Zuschauer anschaubar) wird, zugleich in eine andere Relation eingeschrieben wird. Das ist die Relation, die Aristoteles Nachahmung, mimesis, nennt: Das theatrale Spielen ist als Vorspielen (von etwas für jemanden) konstitutiv mimetisch. Jedes Bild, jede Form, Gestalt und Bedeutung, die im Spiel des Theaters aus dem (und gegen das) Spiel der Verwandlung hervorgebracht wird, ist eo ipso, im Moment seiner Bildung, die Nachahmung einer anderen, vorhergehenden Form oder Gestalt. Kein Vorspielen ohne den Effekt der Nachahmung (oder einen »dramatischen« Effekt). Aristoteles bezieht die Nachahmung auf die »Zusammenfügung« der »Geschehnisse« zur Geschichte (mythos), die ein Drama als ein »Ganzes« darstellt. Dadurch ahmt es eine »Handlung« nach, die eine Form des Lebens (bios) oder der Praxis bildet. Aber mimetisch, nachahmend sind auch bereits die Elemente, wenn sie als »Geschehnisse« (pragmata) und damit Momente einer Handlung identifiziert werden.11 Jede einzelne Form, die auf dem Theater vorspielend hergestellt wird, ist die Nachahmung einer Form des Lebens. Indem also durch die Kunst des Schauspielens eine Form aus dem Rausch der Formlosigkeit hervorgebracht wird, tritt sie unmittelbar zugleich in ein Verhältnis zum Leben und seinen Formen: Sie erscheint als eine Nachahmung, eine Reproduktion derjenigen Formen, die die »Lebenswirklichkeit« ausmachen. Das Erscheinen einer Form ist ihr Erscheinen als Nachahmung einer anderen, einer wirklichen Form. Wenn aus dem Gezappel, Gewimmel und Gerenne, dem sinn- und richtungslosen Sichtummeln der Glieder, wenn aus dem Gelalle und Gemurmel, Gekrächze und Geschrei, in die sich das Spielen in Frank Castorfs Karamasow-Inszenierung immer wieder zurückverwandelt und auflöst, plötzlich, mit einem Mal, eine Form wird – eine Handlung, ein Satz, ein Gesang –, dann ist dies genau der Moment, in dem wir als Zuschauer aus dem Zustand selbstvergessenen Dabeiseins aufwachen und etwas erkennen, das heißt: es wiedererkennen. Jede Handlung, jeder Satz, jeder Gesang auf dem Theater ist die Nachahmung einer Wirklichkeit: einer Form des Lebens. Und das ist keine empirische Tatsache, sondern eine ontologische Bestimmung: Es betrifft, wie es Formen auf dem Theater gibt (das Theater ist eine ontologische Struktur). Wenn es Formen gibt – und dass es sie gibt, so haben wir gesehen, ist auf dem Theater nicht vorausgesetzt, sondern ein Effekt: Das Theater macht die Form zum Effekt der Formlosigkeit; wenn es also auf dem Theater Formen gibt, dann sind es Nachahmungen von Lebensformen. Im Moment der Form bezieht sich das Spiel des Theaters auf das Leben, also auf das, was wir die Wirklichkeit nennen. Gerade dadurch aber verschärft sich die zuvor beschriebene Spannung im theatralen Vorspielen zum Paradox. Die Spannung im theatralen Vorspielen besteht, wie gesehen, darin, dass die Form, indem sie im Spielen des Theaters hervorgebracht wird, sich gegen ihren eigenen Grund in der Formlosigkeit unendlicher Verwandlung wendet. Wenn aber der Moment, in dem sich die Form gegen ihren eigenen Grund wendet, zugleich der ist, in dem sie sich dem Leben zuwendet – eine Form des Lebens nachahmt –, dann steht die Form, die im Spiel des Theaters hervorgebracht wird, in zwei einander widerstreitenden Bezügen: Sie ist zurückbezogen auf ein Spielen, das in der permanenten Verwandlung, in das sie alles auflöst, formlos ist. Und sie ist zugleich nachahmend bezogen auf diejenigen Formen, aus denen die Lebenswirklichkeit besteht. Diese beiden Bezüge ziehen die theatralen Formen in entgegengesetzte 11 | Aristoteles: Poetik. Stuttgart 2003, Kap. 6 und 7.

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Richtungen: Das Vorspielen, das sie hervorbringt, löst sie immer wieder in das (reine, ästhetische) Spiel der Verwandlung auf, aus dem das Vorspielen die Form zuerst hervorgebracht hat; das Nachahmen hingegen begründet die theatralen Formen in der Wirklichkeit des Lebens, die ihnen vorhergeht und die sie nachahmen. Aber die Wahrheit ist, dass es diese beiden Operationen, die im Theater einander bekämpfen, das Vorspielen und das Nachahmen, nur zugleich und mit, ja durch einander gibt. Denn sie sind jeweils in sich ihr eigenes Gegenteil: Das Vorspielen ist Nachahmen, das Nachahmen ist Vorspielen. Diese beiden Operationen müssen zusammenwirken, damit es überhaupt eine Form (auf dem Theater) gibt. Und zugleich sind sie einander auf das schärfste entgegengesetzt. Das Vorspielen bezieht die Form auf das Formlose – das reine Spielen als hervorbringend-auflösendes Verwandeln – zurück; das Nachahmen dagegen macht die Form und ihre Hervorbringung an vorweg (»wirklich«) existierenden Formen fest. Im Nachahmen gibt es immer schon Formen – während es die Form im Vorspielen niemals gibt. Die Form im Theater erzittert zwischen der Formlosigkeit des Spiels und den Formen des Lebens, zwischen Abgrund und Grund, Nichts und Welt. Fassen wir zusammen. Die Grundbestimmung des Theaters – das war der erste Schritt – ist seine spezifische Gegenwärtigkeit: Spielen vor Zuschauern, Schauen von Spielen. Alles, was es im Theater gibt, gibt es nur in dieser wechselseitigen (und in sich entzweiten) Gegenwart von Spielen und Zuschauen. Der zweite Schritt besagt, dass sich das Spielen im Theater in sich selbst entzweit: in das reine, ästhetische Spiel der Formverwandlung, also das formlose Spiel der Formhervorbringung als Formauflösung und das vorstellende Hervorbringen von Formen; das theatrale Spielen ist Vorspielen. Der dritte Schritt besteht in der Einsicht, dass das Vorspielen einer Form im Theater immer zugleich das Nachahmen einer Form vor dem, außerhalb des Theaters ist: einer Form des Lebens. Die gegenwärtige Hervorbringung einer Form im Spiel ist die Reproduktion einer abwesenden Form, die durch ihre spielerische Wiederholung, also nachträglich, zur vorhergehenden »Wirklichkeit« gemacht wird. Durch die Nachahmung bringt das Theater die Wirklichkeit des Lebens als ihren Grund hervor; die nachgeahmte Wirklichkeit ist ein retroaktiver Effekt, aber der nachahmende Rückbezug deshalb nicht weniger elementar für das theatrale Vorspielen. Der vierte Schritt nun besteht in der These, dass das Theater eine paradoxe Operation der Form ist. In der Verklammerung von Vorspielen und Nachahmen ist das Theater zugleich Entgründung und Gründung der Form (ohne dies gleichzeitig sein zu können): die Gründung der Form im Leben und die Entgründung der Form im Spiel. Das Theater ist Handeln: das Hervorbringen einer Form; das Theater ist poiesis. Das Paradox der Form im Theater ist daher das Paradox seines Handelns. Die Poiesis des Theaters ist die Entfaltung eines Widerspruchs: auf der einen Seite die grundlose Setzung einer Form aus dem Spiel (die als grundlose zugleich auflöst, was sie setzt); auf der anderen Seite die nachahmende Wiederholung des Wirklichen (die sich dessen Formen als ihren Grund voraussetzt). Im Vollzug seiner Poiesis realisiert das Theater damit einen paradoxen Begriff des Handelns und der Subjektivität12: Das Subjekt besteht nur dort, wo der Selbstverlust in der spie12 | Hegemann, Carl: »Selbst und Selbst-Widerspruch. Notizen zum Drama der Subjektkonstitution«, in: Friedemann Kreuder u.a. (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Bielefeld 2012, S. 55-70.

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lerischen Auflösung und Verwandlung von Formen und die Selbsterkenntnis als Teilnehmer an den Formen des Lebens und der Praxis zusammentreten (und sich darin wechselseitig entgegensetzen).

K ritik Das Handeln des Theaters – das Handeln, das das Theater ist – ist die Entfaltung eines Paradoxes. Die Bewegungsform des Paradoxes, das Paradox als Bewegung, ist der Umschlag ins Gegenteil. In diesem Umschlag zeigt sich, dass das Vorspielen nur als Nachahmen und das Nachahmen nur als Vorspielen möglich (und deshalb zugleich unmöglich) ist. Das Vorspielen und das Nachahmen sind die beiden einander widersprechenden Momente der theatralen Poiesis, der Hervorbringung der Form im Theater. Durch diese beiden Operationen wird die Form des Theaters in zwei verschiedene Bezüge eingeschrieben: Das Vorspielen bezieht die Form auf das Spiel (aus dessen Formlosigkeit sie hervorgeht), die Nachahmung bezieht die Form auf das Leben (dessen Form sie reproduziert). Wenn aber im Theater das Spiel nur im Vorspielen existiert und das Vorspielen nur als Nachahmen möglich ist; und wenn umgekehrt gilt, dass das Leben im Theater nur durch seine Nachahmung da ist und das Nachahmen nur als Vorspielen möglich ist – dann verändert das Theater dadurch die beiden Elemente, die es durch das Paradox seines Handelns miteinander verklammert, grundlegend. Das Theater verändert das Spiel und das Leben. Das Theater bringt in seiner Hervorbringung der Form, und zwar durch deren Paradoxie, ein anderes Spiel und ein anderes Leben hervor. Das geschieht immer schon, wenn es Theater gibt. Für das Spiel haben wir dies bereits gesehen: Das Theater macht das reine Spiel unendlicher Verwandlung zu einem Moment in dem Widerstreit, durch den sich die Formhervorbringung vollzieht. Es gilt aber ebenso auch für die andere Seite: Das Theater verändert das Leben (oder die Welt). Das Theater ahmt die Formen des Lebens nach und setzt sie sich dadurch, also durch die Nachahmung, als vorgegebene voraus; die Wirklichkeit ist ein Effekt ihrer Nachahmung. Aber zugleich kann das Theater das Leben nur so nachahmen – das ist das Grundgesetz der theatralen Poiesis –, dass es dessen Formen im Vorspielen noch einmal hervorbringt. Hervorbringen durch Vorspielen heißt: Hervorbringen aus dem Abgrund der Formlosigkeit, Herausreißen – »Erlösung« (Nietzsche) – der Form aus dem (reinen, rauschhaft-ästhetischen) Spiel. Die Formen des Lebens werden daher durch ihre Nachahmung in ein Verhältnis zum Spiel gesetzt: Sie gehen nun aus dem Spiel hervor. Das ist die Veränderung der Formen des Lebens durch das Theater. Sie ist eine Veränderung der Form (oder der Form der Form). Durch die Nachahmung im Theater wird die Form in ein Verhältnis zum Spiel eingeschrieben, das dadurch zum Inneren der Form wird. Das Innere der nachgeahmten Form ist ihr Verhältnis zu dem, was sie nicht ist, die Unform des Spiels. Die Form des Lebens ist »wirklich«, weil sie dem Spiel äußerlich gegenübersteht. Die im Theater nachgeahmte Form dagegen ist die Einheit von Form und Spiel, von Form und Unform. Das andere Leben, das das Theater zeigt, ist ein Leben in anderer Form (und daher vielleicht keine »Lebensform« mehr). Diese Veränderung des Lebens durch das Theater lässt sich etwas genauer im Anschluss an Aristoteles’ Theorie des Dramas beschreiben. Aristoteles versteht die Formen des Lebens, die das Theater nachahmt, als Handlungen; das Leben, bios,

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ist Praxis. Im Rahmen der aristotelischen Poetik muss die Veränderung des Lebens durch das Theater daher als eine Veränderung der Praxis begriffen werden. Wie Marita Tatari im Anschluss an Bruno Snell gezeigt hat, ist genau dies der Sinn (oder die Funktion) des Ausdrucks »dran« – des anderen Wortes für Handeln bei Aristoteles oder des Wortes für ein anderes Handeln: Das Drama verändert das Handeln als Praxis zum Handeln als »dran«.13 Dran ist die dramatisierte, die im Drama reflektierte und dadurch transformierte Praxis. Diese Transformation besteht darin, dass sich im Inneren der Praxis eine »Spannung« auftut. Tatari beschreibt sie als »die Spannung zwischen der Möglichkeit (dynaton) und ihrer Erfüllung (telos)«: »Im Unterschied zum prattein zeigt das Verb dran diese Spannung […] zwischen Möglichkeit und Erfüllung«14. Das Gelingen der Praxis ist definiert durch die Entsprechung zwischen dem, was sie ermöglicht (den Vermögen), und dem, was ihr Zweck ist. Die Praxis ist in Übereinstimmung mit sich. In dem anderen Handeln dagegen, das das Theater durch sein Nachahmen herstellt oder zeigt, ist die Möglichkeit immer zugleich weniger und mehr als seine Zwecke. Dran heißt: Der Zweck kann die Möglichkeit nicht kontrollieren; die Möglichkeit überschießt den Zweck. Das andere Handeln, das das Theater durch sein Nachahmen herstellt oder zeigt, ist Handeln nicht als Zweckorientierung und -realisierung, sondern als ›Sichauslassen‹ (Nietzsche) von Möglichkeiten als treibender Kraft bestimmt. Das Theater dramatisiert das Handeln. Es entfaltet den Antrieb, der die Praxis über sich hinaustreibt; der sie beschleunigt, intensiviert, hysterisiert. Der Chor der herrschenden Mächte nennt das Antigones Trotz und Eigenwillen. Castorfs Karamasow-Inszenierung deutet so den Sinn von Dostojewskis Ausdruck nadryw. Nadryw ist die Kraft, die das Handeln des Subjekts an- und über sich hinaustreibt; seine »wunde Stelle«, in der zugleich sein Heil liegt.15 Damit ist nun klar, wogegen sich die Kritik des Theaters richtet, woran und wodurch das Theater Kritik leistet: Das Theater kritisiert jede Position und Haltung, die sich gegen die Veränderung des Lebens durch seine vorspielende Nachahmung richtet. Die Kritik des Theaters gilt der Abwehr, der Immunisierung des Lebens gegen die Veränderung, die es im Theater erfährt. Diese Veränderung besteht in nichts anderem als darin, dass das Leben – wie zugleich auch das Spiel – zum Moment in der paradoxen Einheit von Vorspielen und Nachahmen wird, die sich in der theatralen Poiesis entfaltet. Die Veränderung des Handelns ist der Effekt der 13 | Tatari, Marita »Die Doppelbindung ästhetischer Erfahrung als δρãν«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 8 (Tübingen 2009), S. 267-288. 14 | Ebd., S. 284. 15 | Die Dramatisierung des Handelns ist zugleich seine Possibilisierung und seine Fatalisierung. Für das andere Handeln, das das Theater zeigt, gilt einerseits, dass seine Möglichkeit andere Möglichkeiten enthält: Das Handeln ist nicht an einen bestimmten Zweck gebunden und durch eine bestimmte Form definiert, sondern enthält in sich die Möglichkeit anderer Zwecke und daher anderer Formen; die Veränderung der Wirklichkeit durch die Nachahmung im Theater besteht in ihrer Herabsetzung zur Möglichkeit – ihrer Possibilisierung. Aber sie bedeutet zugleich (und im umgekehrter Richtung), dass der Zweck nicht durch ein Subjekt gewählt oder gesetzt ist, sondern, umgekehrt, dem Subjekt voraus- und über es hinausgeht; dass nicht das Subjekt den Zweck, sondern der Zweck das Subjekt so bestimmt, dass es sich seiner Übermacht überlassen muss – die Fatalisierung. Die Dramatisierung des Handelns entfaltet zugleich die Unbestimmtheit und die Überbestimmtheit des Handelns.

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Grundoperation des Theaters: dass das Handeln, also das Leben im Theater nur so nachgeahmt werden kann, dass es vorgespielt wird. Die Abwehr gegen die Veränderung des Handelns ist die Immunisierung gegen das Paradox. Dagegen richtet sich die Kritik des Theaters: Die Kritik des Theaters – die Kritik, die es bloß als Theater übt – gilt jeder Haltung, die »sich dem Selbstwiderspruch verweigert«16. Das Theater kritisiert nur eines. Das ist die Immunisierung gegen die Paradoxie, also die Immunisierung gegen das Theater; denn das Theater ist der Vollzug der Paradoxie. Die Kritik, die das Theater leistet, erfolgt – nicht im Namen der Gleichheit oder Freiheit oder Solidarität, nicht im Namen von Ideen, Werten oder Tugenden, sondern – allein im Namen des Theaters: im Namen der Paradoxie des Handelns, die das Theater entfaltet. Die These lautet also: Die Kritik des Theaters gilt der Abwehr und Immunisierung der Praxis dagegen, von der Gewalt der Veränderung durch das Theater erfasst zu werden.17 Diese Immunisierung der Praxis gegen die Paradoxie im Theater tritt in zwei Grundformen auf. Die erste ist das Denken der Orthodoxie oder das orthodoxe Denken, die zweite das ökonomische Denken. Die Paradoxie des Theaters besteht darin, dass es hier das Spiel und das Leben (oder die Praxis) nur in der widersprüchlichen Einheit von Vorspielen und Nachahmen gibt; dadurch verändert das Theater das Leben. Dagegen behauptet das Denken der Orthodoxie, dass das Leben so ist, wie es ist, und dass es so richtig und durch das Theater unveränderlich ist. Die Orthodoxie ist die Sicht, nach der das Leben für sich und aus sich heraus existiert und dadurch gegen seine Veränderung durch das Theater gesichert ist. Nach orthodoxer Lehre hat es seinen Grund in sich; die Orthodoxie ist fundamentalistisch. Ihr geht es darum, die Formen des Lebens gegen das Theater durch den Nachweis zu sichern, dass sie durch sein Tun gar nicht verändert werden können. Die Orthodoxie ist die Behauptung der Unveränderbarkeit des Lebens (so wie es ist).18 Oder die Orthodoxie ist die Behauptung, dass die Veränderung der Form des Lebens durch das Theater bloß illusionär ist: entweder eine Lüge oder aber eine Veränderung nur zum Schein (eine Veränderung also, die nichts über das Wesen der Praxis und des Lebens aussagt; eine Veränderung, die nichts verändert). Es gibt aber nicht nur eine, sondern zwei Weisen des Denkens, die die Praxis gegen das Theater zu immunisieren versuchen, indem sie »sich dem Selbstwiderspruch verweigern«: Die eine – das ist die Weise der Orthodoxie – tut dies, »indem [sie] ihn einfach verbietet«, die anderen, »indem [sie] ihn einfach hinnimmt«19. Die Paradoxie bloß hinzunehmen heißt, die Spannung im Verhältnis von Spiel und Leben, von Vorspielen und Nachahmen zu neutralisieren und zu verharmlosen. Darin werden das Spiel und das Leben zu gegeneinander verrechenbaren, miteinander kommensurablen Größen, die daher auch in funktionale Verhältnisse gebracht werden können. So versteht das ökonomische Denken das Verhältnis von 16 | Hegemann, 2012, S. 69. 17 | »Durch das« Theater heißt zugleich »im« Theater, also so weit das Theater reicht. Wie weit es reicht, ist die Frage. 18 | Es gibt auch eine Orthodoxie oder einen Fundamentalismus des Spiels: die Ideologien des Vitalismus, des Irrationalismus und des Infantilen, Naiven, Wilden usw. (denen Nietzsches Kritik an der dionysischen Barbarei galt). 19 | Hegemann, 2012, S. 69.

Das Spiel des Theaters und die Veränderung der Welt

Spiel und Leben und bringt dadurch eine Technisierung dieses Verhältnisses hervor. Ökonomisch zu denken heißt, das Spiel in seiner Differenz zum Leben als eine Produktivkraft zur Erhaltung und Steigerung des Lebens zu sehen. Dadurch wird das Theater zum Inbegriff einer Technik, die das Verhältnis von Spiel und Leben möglichst produktiv und damit gefahrlos auszutragen versucht. Im Gegensatz zu der prinzipiellen Kritik, die das orthodoxe Denken am Theater übt, tritt das ökonomische Denken daher als seine Apologie auf. Gerade so aber ist das ökonomische Denken, mehr noch als das orthodoxe, eine Immunisierung gegen das Theater. Denn wenn es zutrifft, dass es im Theater nicht um »die Macht eines Effektes«, also das Bewirken eines Resultats geht, ist seine »Tugend«, das heißt seine Fähigkeit, »keine technische, sondern eine ethische«. Es ist die Fähigkeit, »sich am Rand der Leere [zu] bewegen«20. Die Technisierung des Theaters zu ökonomischen Zwecken, das heißt zu Zwecken der Produktivität und ihrer Steigerung, immunisiert die Praxis gegen die Konfrontation mit der »Leere«, mit dem Abgrund der Formlosigkeit, aus der das – wahre – Theater die Form hervorgehen lässt. Die Kritik des Theaters an der Immunisierung der Praxis gegen das Paradox ist daher eine doppelte Kritik: zugleich die Kritik am Denken der Orthodoxie – die Kritik an der Position, dass die Praxis richtig ist und das Theater illusionär; an der Position, dass das Theater die Praxis nicht ver- oder zerspielen kann (oder darf) – und die Kritik an einer Ökonomisierung, die Leben und Spiel, Nachahmen und Vorspielen zu einander steigernden und darin produktiven Operationen erklärt. Diese Doppelkritik ebenso am orthodoxen wie am ökonomischen Denken verlangt vom Theater eine riskante Doppelstrategie: Das Theater muss selbst sowohl orthodox wie ökonomisch sein. Das Theater muss einen orthodoxen Zug, einen Zug ins Orthodoxe, haben, um seine Ökonomisierung zu bekämpfen. Es muss versuchen, den Selbstwiderspruch aufzulösen21, die richtige Praxis hervorzubringen, die Form des wahren Lebens zu sein. Frank Castorf spricht vom »Potentatenhaften« des Theaters (das er an der Figur des Regisseurs festmacht), »um sich von dieser demokratischen Laber-Linie weg zu bewegen, damit man Sachen machen kann, die über den paradoxalen Umweg zum Neuen und auch zu einer Gefühlserkenntnis kommen«22 . Aber zugleich muß das Theater den Gegenzug machen und seinen eigenen Zug ins Autoritäre und Rechthaberische kritisieren, indem es die Spannungen von Leben und Spiel zu vermeiden versucht, sie abmoderiert oder ökonomisiert, den Ernst in Spielerei, Blödelei und Albernheit auflöst, die keinem weh tun. Das Theater kritisiert die Immunisierungen gegen das Theater durch Orthodoxie und Ökonomie, indem es sich, so schnell wie möglich, zwischen den beiden Polen hin und her bewegt: zwischen der rechthaberischen Wahrheit und der blödelnden Unterhaltung, zwischen Autorität und Laissez-faire. Das Theater kritisiert die Orthodoxie und die Ökonomie, indem es sie gegeneinander ausspielt. 20 | Badiou, Alain: Rhapsodie für das Theater. Wien 2015, S. 92. Badiou redet hier über die Tugend des Schauspielers. Siehe dazu Menke, Christoph: »Kritik und Apologie des Theaters« (Philosophiekolumne), in: Merkur 71, 813 (Feb. 2017), S. 43-51. 21 | Denn »ein Selbstwiderspruch entsteht nur, wenn man das starke Bedürfnis hat, ihn aufzulösen« (Carl Hegemann im Gespräch mit Frank Raddatz, in: F. Raddatz, Republik Castorf. Die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz seit 1992. Gespräche. Berlin 2016, S. 224). 22 | Frank Castorf im Gespräch mit Frank Raddatz; in: Raddatz, 2016, S. 337.

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Ist das nicht das Bewegungsgesetz von Castorfs Karamasow-Inszenierung, die Lehre, Kalkül und Unterhaltung oder Wahrheit, Nutzen und Absurdität gegeneinander ausspielt und dadurch einen »anderen Zustand«23 jenseits von beiden erzeugt? Die zwei Sätze zum Verhältnis von Theater und Kritik, die am Anfang standen, besagen, dass das Theater nicht – dasselbe wie – Kritik, aber kritisch ist und die Kritik in neuer Form hervorbringt. Die Begründung für die erste These – dass das Theater nicht Kritik ist – lautet, dass die Poiesis des Theaters in dem Vollzug einer paradoxen Weise des Handelns besteht. Die Kritik als urteilende Unterscheidung von richtig und falsch richtet sich auf Formen des Lebens, Handlungen oder Praktiken; sie setzt daher die Gegebenheit dieser Formen (die sie kritisiert) voraus. Das Theater dagegen depotenziert die Formen des Lebens zu einem Moment in ihrer paradoxen Einheit mit der Formlosigkeit des Spiels. Deshalb kann das Theater nicht kritisch urteilen: Das Theater löst den Gegenstand auf, auf den die Kritik sich bezieht. Eben dadurch wird das Theater aber zur Operationsbasis einer anderen Kritik. Die Kritik, der das Theater den Boden unter den Füßen wegzieht, trennt das eine, das Richtige, vom anderen, dem Falschen, unter Berufung auf eine Norm. So urteilt die vom Theater aufgelöste Kritik: indem sie das Richtige und Falsche einander äußerlich entgegengesetzt – sie voneinander scheidet. Auch die Kritik, die das Theater übt, urteilt. Sie verurteilt die Immunisierung der Praxis gegen ihre Veränderung durch das theatrale Handeln. In dieser Veränderung der Praxis durch das Theater besteht der Maßstab der Kritik, die das Theater übt. Die Veränderung der Praxis durch das Theater ist selbst aber keine normative Operation; das Theater verändert die Praxis nicht dadurch, dass es ihr neue Zwecke setzt oder sie mit höheren Idealen konfrontiert (also nicht im Namen der Gerechtigkeit oder Menschlichkeit oder Tugend). Die Praxis wird im Theater allein dadurch verändert, dass sie zu einem Moment in seinem paradoxen Vollzug wird. Das ist das Maß, nach dem die neue oder andere Kritik, die das Theater übt, urteilt: Sie unterscheidet zwischen dem Vollzug der Paradoxie und der Verweigerung dieses Vollzugs, der Immunisierung gegen die Paradoxie. Die neue Kritik, die das Theater übt, urteilt im Namen der Untrennbarkeit des Entgegengesetzten, von Spiel und Leben oder Praxis. Sie entscheidet zwischen dem Richtigen und Falschem im Namen der Unentscheidbarkeit. Die Kritik, die das Theater übt, macht das Paradox zur Norm. Das ist die Einsicht, die sich aus dem Nachdenken über das Theater für eine Theorie des kritischen Urteils gewinnen lässt: dass man im Namen des Paradoxes kritisieren, im Namen der Unentscheidbarkeit entscheiden kann. Das Denken des Paradoxes ist weder das Ende des Denkens noch seiner kritischen Kraft. Die Einsicht in die Unentscheidbarkeit heißt nicht anything goes. Die Erfahrung des Paradoxes im Theater ist nicht das Ende des Konflikts und der Militanz. Sie beginnen damit erst.

23 | Ebd., S. 341. Siehe Menke, Christoph: »›Alles ist erlaubt‹. Der Egoismus, die Liebe, die Kunst«, in: Thomas Martin (Hg.), Alles ist erlaubt. Das Karamasow-Gesetz. Berlin 2015, S. 52-60.

Die Fiktion der Kritik Foucault, Butler und das Theater der Ent-Unterwerfung Nikolaus Müller-Schöll

Kaum einmal an diesem Abend steht er still. Er tritt von einem aufs andere Bein. Er tänzelt, trägt in sich eine Unruhe, die ansteckt. Vielleicht, weil es kaum möglich ist, sich mit ihm zu identifizieren, ja weil man ihm am liebsten gar nicht mehr zuschauen und zuhören würde. Dann etwa, wenn er sich über die Blasen auf seiner Haut auslässt. Und weil man doch andererseits nicht anders kann, als von seiner merkwürdigen Art des Spiels angezogen zu werden. Weil man, gebannt und abgestoßen, zumindest sich nicht abwenden mag. Schwer zu sagen, was es genau ist, das einen zugleich anzieht und abstößt: Er ist nicht auffällig, auf den ersten Blick, oder kaum: ein schlaksiger, uns direkt fixierender Mann, schwarze Jeans mit Nietengürtel, schwarze Jacke, darunter ein T-Shirt, auf dem »Heiterkeit« steht. Aber etwas an ihm befremdet, irgendwann fällt es auf: keine Haare, keine Augenbrauen. Vielleicht ist es das, was ihn uns fremd macht, ja unheimlich. Und zugleich den Blick auf ihn zieht. Julian Meding, der Performer und Sänger im Hamlet des Schweizer Regisseurs Boris Nikitin, begrüßt uns an diesem Abend in der Basler Kaserne 1 auf die denkbar illusionsloseste Weise: stellt sich mit Namen vor, erklärt uns, dass wir hier im Theater sind. Und dass das Theater ihm zum Schutzraum geworden sei. Weil hier alles erzählbar sei, hier, wo immer die Möglichkeit der Fiktion da ist, wo alles Material wird. Aber stimmt das überhaupt? Ist er geschützt vor der Bloßstellung? Die Zweifel wachsen, wenn er mit vielen Details erzählt vom Tod seines Vaters in der Klinik, vom Umgang mit einer »klinischen Angststörung«, vom Rand der Gesundheit und auch davon, dass er sich durch die Rasur der Kopf- und Gesichtshaare »verpixelt« habe. Kann man alles das erfinden? Die Haare jedenfalls fehlen ihm. Ist das Hamlet? Ist das der authentische Performer namens Julian Meding? Ist er beides, weil, welch Fund, die Geschichte, die er uns erzählt, wirkt wie ein Kommentar zum Hamlet Shakespeares? Beginnend mit dem Tod und dem zum Bild, zum Geist mutierenden Vater, über die Delegitimierung des Außenseiters, den das System nicht mehr anerkennt, zur über Video eingespielten mise en abîme, einer Kindertheaterszene aus vergangenen Zeiten, bis hin zum Song von der Wasserleiche am Ende. Oder ist diese Geschichte, diese weitere Fußnote zum größten Stoff 1 | Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf die Aufführungen am 29. Sept. 2016 in der Kaserne Basel.

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des neuzeitlichen Theaters, nur so passend, weil sie passend gemacht wurde? Alles an diesem Performer, an Julian Meding, scheint konstruiert. Er ist eine Kunstfigur, ein buchstäblicher Self-made Man, einer, der sein Sprechen, diesen leicht aggressiven, nöligen, effeminierten Ton, sein Auftreten, diese leicht abstoßende, Anstoß erregende Erscheinung, seinen Gang, seinen Blick und selbst seine Geschichte, so scheint es, so oft bearbeitet hat, dass wir nicht nur sein Bild auf der ihn verdoppelnden Leinwand, sondern mehr noch ihn selbst nicht länger sehen können, ohne an Fotomontage, filmische Schnitte, Verpixelung zu denken, an Cyborgs, das untrennbare Gemisch von Fakt und Fiktion, Mensch und Maschine der Social Media. Er ist, wovon die Ästhetiker des 18. Jahrhunderts träumten: sein eigenes Werk. Doch zugleich ist Hamlet, wie gesagt, die jüngste einer Serie von Arbeiten Nikitins, der seine Handschrift im und nach einem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen entwickelte und dessen großes Thema die niemals feststellbare Grenze zwischen Realität und Fiktion ist. In der Tradition der klassischen Performance Art und ihrer deutschen Nachfolger, von Rimini Protokoll, Gob Squad, René Pollesch, She She Pop oder Hofmann & Lindholm, erwacht sein Interesse dort, wo statt klassisch ausgebildeten Schauspielern Akteure mit anderem Hintergrund auf die Bühne treten. Doch das Spezifikum seiner Arbeiten ist, dass in ihnen statt »Experten des Alltags«2 eher solche aus dem Theater auf der Bühne stehen. Als sie selbst. Als andere. Und so verrät denn auch der Abendzettel des Hamlet, dass der Text, die Geschichte Medings, seine Selbstentblößung und -inszenierung, geschrieben ist von Nikitin und ihm. In Nikitins Inszenierung wird sie beständig ergänzt und verdoppelt: Auf einer Videoleinwand sehen wir ihn, live von einer Kamera übertragen, die seine Erscheinung zugleich kommentiert, durch Close-ups näherrückt und durch den seitlichen Winkel wegstellt, durch Effekte der Beleuchtung zur Geistererscheinung erhebt oder mit anderem, dokumentarisch wirkendem Material versetzt. Von einem Moment an wird seine Bühnenperformance begleitet von einem BarockQuartett, drei Streichern und einem Cembalo, die in ihrer Musik Akzente setzen, die mal an Händel, mal an Strawinsky, häufig aber auch an nicht identifizierbare Filmmusik erinnern, eingesetzt zur Steigerung der Spannung und doch, wie es scheint, zugleich, wenn wir ihre Herstellung sehen, darin neobarock, des Effektvollen der eigenen Effekte immer bewusst. Es ist ein Abend, der uns festhält, weil er uns buchstäblich ins Wanken bringt, uns schwanken lässt, wie der Performer vor uns schwankt, unschlüssig nicht nur, was uns hier eigentlich gezeigt wird, sondern auch, ob das, was wir da sehen, in seinen zum Teil intimsten, abstoßendsten, ja ekligen Details eigentlich etwas ist, was wir sehen und hören wollen. Keine Frage also: Wie wenige andere führt Boris Nikitin das Theater derzeit an einen kritischen Punkt. In sehr präziser Weise könnte man hier von Theater als einer kritischen Praxis sprechen, als Kritik. Das erfordert allerdings weitere Erläuterung.

2 | Vgl. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin 2007.

Die Fiktion der Kritik

K ritik in der K rise Denn auf der einen Seite scheint es heute kaum noch anderes als kritisches Theater zu geben: Es ist geradezu ein unausgesprochener Imperativ in großen Teilen des heutigen Theaters, dass es gelte, kritisch zu sein. Im Umgang mit der Ökonomie, der Politik, der Religion, der Moral, mit Normen und Normierungen und, allgemeiner gesprochen, mit jeder Form von Herrschaft und Macht. Doch im selben Maß, wie dieses Selbstverständnis beinahe eine Art von Common Sense darstellt, liegt es nahe, es selbst einer eingehenden Kritik zu unterziehen. Denn nicht nur stellt die Kritik im Theater bekanntlich sehr häufig eine Form des wohlfeilen preaching to the converted dar, sieht ab von den eigenen materiellen Bedingungen und den mit ihr verfolgten, weniger kritisch zu nennenden Zwecken der Selbstlegitimierung und der Befriedigung des eigenen Narzissmus, sie vergisst vor allem auch die radikale Erschütterung, welche die Kritik außerhalb des Theaters, Kritik in einem philosophischen wie politischen Sinne, in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat. Dass Kritik wichtig, unumgehbar und notwendig erscheint, davon zeugt eine auffällige Häufung von Aktivitäten aller Art, die auf die vielen Krisen der vergangenen Jahre – auf Finanz-, Banken-, Euro-, Griechenland-, Ukraine- und schließlich die sogenannte Flüchtlingskrise – mit der Rückbesinnung auf die gemeinsame Wurzel von Kritik und Krise erinnern, das griechische krinein: Angesichts der als kritisch angesehenen Gegenwart wird auf die Unvermeidbarkeit und Notwendigkeit von Kritik verwiesen. »Was ist Kritik?«, fragte eine Philosophenkonferenz Anfang 2016 in Berlin. Kritik war das – unabhängig von der GTW festgelegte – Thema des Kongresses der Gesellschaft für Medienwissenschaft 2016. Eine Konferenz zum gleichen Thema fand zeitgleich mit dem Kongress auch in Aix-en-Provence und Marseille statt. – Doch über der Einsicht, dass sie an der Zeit sei, über der Konjunktur von Kritik kommt auch mit Heftigkeit deren radikale Infragestellung neuerlich zur Sprache. Es stehe, so der wiederkehrende Kalauer, kritisch um die Kritik. Wozu noch Kritik, schreiben die Philosophen Rahel Jaeggi und Thilo Welsche in einem bei Suhrkamp erschienenen Sammelband mit dem Titel Was ist Kritik?, »angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich so darstellen, als gäbe es zu ihnen keine Alternative und in ihnen keine Entscheidungsspielräume?«3 Warum Kritik, fragt Richard Rorty, wenn angesichts der Ungewissheit, dass Kritik zu Besserem führe, es doch näher liege, eine problematische Praxis eben durch eine alternative Praxis zu ersetzen.4 Das Argument gleicht jenem der Konservativen seit je, wonach ein Kritiker allererst beweisen müsse, dass er, was er kritisiert, besser könnte. Und die Antwort wäre entsprechend mit und ohne Lessing und Marx, dass ein Anderes zunächst einmal in der Kritik des Alten zu finden sei, nicht bereits vorwegnehmend dogmatisch bestimmt werden muss. Gleichwohl behält Rortys Einwand vor dem Hintergrund einer nicht länger voraussetzbaren teleologischen Geschichte, derzufolge man davon ausgehen konnte, dass das, mit Brecht gespro-

3 | Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 7. 4 | Vgl. Rorty, Richard: »Feminism, Ideology, and Deconstruction: A Pragmatist View«, in: Slavoj Zizek (Hg.), Mapping Ideology. London/New York, S. 226-234, hier: S. 227.

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chen, »schlechte Neue« allemal besser wäre als das »Gute Alte«5, eine gewisse Berechtigung. »Gegen Kritik« überschrieb Armen Avanessian vor einiger Zeit einen Vorabdruck seines bei Merve erschienenen Buch-Essays zur Ethik des Wissens und kritisierte dabei eine Kritik, die das Kritisierte wie den Kritisierenden legitimiere, wies auf die Verstrickung des Kritikers im Kritisierten hin, wie auch auf das Festhalten der Kritik an starren Normen.6 »Vom Unbehagen an der Kritik« sprach der Journalist Thomas Eidlinger im Untertitel seines Suhrkamp-Bändchens Der wunde Punkt 7, als »euphorisierende Droge« bezeichnete sie in pejorativer Absicht Bruno Latour.8 Als Teil eines Zirkels bzw. eines geschlossenen Systems des Philosophierens erschien sie, zumindest in großen Teilen, beginnend mit Kant, Jean-Luc Nancy, der ihr die Notwendigkeit einer radikalen Auflösung des Zusammenhangs entgegensetzt.9 So kommt man denn kaum umhin, zunächst einmal Kritik, ihre historischen Erscheinungsformen, in ihrer Eigenlogik vorzustellen: »Wir nähern uns dem Zustand der Krise und dem Jahrhundert der Revolutionen«10, formulierte Rousseau im ausgehenden 18. Jahrhundert. Er prägte damit den gleichermaßen diagnostischen wie prognostischen Begriff des Zeitalters der Aufklärung, das in Frankreich auch als Siècle Critique, das kritische Jahrhundert, bezeichnet wurde. »Unser Zeitalter«, schreibt Kant, »ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich«11. Sein Kritik-Begriff ist der gegen die Schulmetaphysik gerichtete Gegenbegriff zur Dogmatik. Philosophie ist dogmatisch, wenn ihr nicht eine kritische Prüfung der Elemente und Grenzen der Funktionen a priori der Rationalität vorausgegangen ist. In ihrer Einleitung zum Sammelband geben Jaeggi und Wesche auf engem Raum einen systematischen Abriss dessen, was Kritik aus heutiger Sicht meint: Analyse, Beurteilung, Ablehnung, ein konstitutiver Bestandteil menschlicher Praxis, der sich aus Spielräumen, Deutungs- und Entscheidungsmöglichkeiten ergebe, die das menschliche Handeln der Kritik aussetzten. Infragestellung von gesellschaftlichen Werten, Praktiken und Institutionen, von den mit ihnen verbundenen Welt- und Selbstdeutungen. In ihr sind Dissoziation und Assoziation immer verbunden, da auch die radikale Widerlegung eine Bezugnahme bleibt. Immer gehen mit ihr einher die grundlegenden Fragen nach den 5 | Vgl. Benjamin, Walter: »Tagebuchnotizen 1938«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. VI. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1985, S. 532-539, hier: S. 539. 6 | Avanessian, Armen: »Gegen Kritik«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 47 v. 23. Nov. 2014, S. 39. 7 | Edlinger, Thomas: Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik. Berlin 2015. 8 | Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich/Berlin 2007, S. 37. 9 | Nancy, Jean-Luc: »Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik. Critique, Crise, Cri.« Unveröff. Vortragsmanuskript v. Nov. 2015. Aus dem Französ. übers. v. Esther von der Osten. 10 | Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation. Paris 1815, S. 69 [meine Übersetzung, N. M. S.]. 11 | Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1990, S. 7 (A XI).

Die Fiktion der Kritik

Maßstäben, dem Standpunkt, nach der kritischen Praxis selbst und nicht zuletzt nach deren Verhältnis zu den von ihr analysierten Akteuren oder Werken.12 Während Jaeggi und Wesche aber, wenn sie von einem »Programm bildenden Schlüsselbegriff«13 sprechen, nach einem quasi-ontologischen Begriff von Kritik zu suchen scheinen, letztlich nach Kritik als einem Fundament, hallt im Titel ihres Bandes zugleich das Echo einer »postfundamentalistische(n) Kritik« nach, die sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Sie setzt die kritische Situation der Kritik voraus und ist nicht von ungefähr von Beginn an aufs engste mit dem Theater verbunden.

P ostfundamentalistische K ritik Dass »Krise und Kritik« in einer Weise zusammenzudenken sind, die Kritik selbst nicht länger von der konstatierten Krise ausnimmt, kann als Quintessenz des 20. Jahrhunderts als Jahrhunderts jener Weltkrisen bezeichnet werden, die mit dem 1. Weltkrieg, der Inflation, den neuen Erfindungen und Entdeckungen in den Naturwissenschaften, den veränderten Produktionsweisen und den geschichtlichen Katastrophen einhergingen. Vor dem Hintergrund der fundamentalen Krisenerfahrungen ihrer Zeit, welche die Grundlagen der Gesellschaft, der Politik, vor allem aber die Wissenschaften und Künste selbst umfassten, arbeitete eine Gruppe von Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern um Bertolt Brecht und Walter Benjamin Anfang der 30er Jahre am Zeitschriftenprojekt »Krise und Kritik«.14 Der gleichzeitigen Arbeit Brechts am Fragment gebliebenen, inkommensurablen »Fatzer«15 und dem Entwurf einer das Theater der radikalen Umwandlung aussetzenden »Großen Pädagogik«16 des Lehrstücks war es darin verwandt, dass die »kritische Grundsituation der heutigen Gesellschaft« ausdrücklich positiv gesehen wurde und mit der Prämisse beantwortet wurde, dass sich das Projekt »im Ganzen nicht auf Autoritäten stützen« könne.17 Beginnend spätestens mit dieser Diskussion der frühen 30er Jahre lässt sich, wenngleich ohne verbürgten kausalen Zusammenhang, die Entwicklung einer Kritik nachzeichnen, die in Absetzung von der durch ein Subjekt und (s)eine Geschichte verbürgten Kritik des 18. und 19. Jahrhunderts zu retten versucht, was es mit ihr auf sich hatte, ohne doch die mit ihrer aufklärerischen Tradition verbundenen Probleme zu vergessen. Zu nennen wäre hier zum einen die von Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Auf klä12 | Vgl. Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo: »Einführung: Was ist Kritik?«, in: dies. (Hg.), 2009, S. 7-20, hier: S. 7-13. 13 | Vgl. ebd., S. 12. 14 | Vgl. »Dokumente zum Zeitschriftenprojekt ›Krise und Kritik‹«, in: Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M. 2004, S. 289-328; Benjamin, Walter: »Krisis und Kritik«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. VI, S. 619 -621. 15 | Brecht, Bertolt: »Fatzer«, in: ders., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 10-1: Stückfragmente und Stückprojekte Teil 1. Frankfurt a.M./Berlin/Weimar 1997, S. 387-529. 16 | Vgl. dazu Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972, S. 205-210. 17 | Vgl. »Dokumente zum Zeitschriftenprojekt ›Krise und Kritik‹«, a.a.O., S. 297.

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rung 18 unternommene radikale Kritik der überkommenen marxistischen Ideologiekritik, wie sie später von Adorno in seinem vielzitierten Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft«19 aufgegriffen wird. Zum anderen wäre Roland Barthes’ Aufsatz »Was ist Kritik?«20 zu erwähnen, der davon spricht, dass jede Kritik in ihrem Diskurs »einen impliziten Diskurs über sich selbst enthalten müsse«21. Vor allem aber wäre an Foucaults Genealogie der Kritik aus einer Haltung der »Entunterwerfung« im Verhältnis zu Formen der Menschenregierungskunst einerseits, seine Zurückweisung jeder fundamentalistischen Kritik andererseits zu erinnern.22 Alle drei fragten nach dem Grund, auf dem die Kritik ruht. Die Erschütterung der Fundamente, für die Kritische Theorie und Poststrukturalismus gleichermaßen stehen, betrifft, wie sie verdeutlichten, nicht zuletzt alle überkommenen Formen einer selbst proto-totalitären Kritik. Die vielleicht denkwürdigste Position in jüngerer Zeit aber hat mit Sicherheit die Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Judith Butler entwickelt. Sie liest die von Foucault als »Entunterwerfung« beschriebene Haltung der Kritik bzw. den Willen, »nicht regiert zu werden«23, nicht »derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren […] und nicht von denen da«24, als »Fiktion« im Sinne Nietzsches.25 Es sei »›ein Teil der Philosophie und gleichzeitig kein Teil der Philosophie‹ […] ›etwas der historischen Praxis der Revolte Verwandtes‹«26. Foucaults Einsatz sieht sie darin, dass er zur Begründung der Möglichkeit von Kritik als einer »Praxis des Staunens, des Fragens« oder der »Kunst der freiwilligen Widersetzlichkeit« nicht weniger als sein ganzes Denken aufs Spiel setzt.27 Butler hebt an Foucaults Geste also das Wagnis hervor, eine »ursprüngliche Freiheit« zu behaupten, die er »nicht begründen kann«, seine »Setzung«, die die vom »Macht-Wissen gezogenen Grenzen überschreitet« und »dem Subjekt die Perspektive für eine kritische Distanz zur etablierten Autorität zeigt«28. Die Kritik Foucaults, die »kritische Distanz«, die er im Akt der »Entunterwerfung« dem Subjekt zuspricht, bezogen auf eine immer andere konkrete Unterwerfung, die das Subjekt konstituiert, als immer andere konkrete Widersetzlichkeit gegen diese, kann ausgesprochen werden, so schreibt sie, weil sie »mit List inszeniert« wird.29 18 | Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1971. 19 | Adorno, Theodor W.: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I. Frankfurt a.M. 1977, S. 11-31. 20 | Barthes, Roland: »Was ist Kritik?«, in: ders., Literatur oder Geschichte. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1969, S. 62-69. 21 | Ebd., S. 65. 22 | Foucault, Michel: »Was ist Kritik?«, in: ders., Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Berlin 2010, S. 237-257. 23 | Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Jaeggi/Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, a.a.O., S. 221-246, hier: S. 232f. 24 | Ebd., S. 232. 25 | Vgl. ebd., S. 240. 26 | Vgl. ebd., S. 241f. Es handelt sich hier um ein Foucault-Zitat im Text Butlers. 27 | Vgl. ebd., S. 242. 28 | Vgl. ebd., S. 243. 29 | Vgl. ebd., S. 243.

Die Fiktion der Kritik

Es ist kein Zufall, dass Butler in ihrer selbst kritischen Würdigung Foucaults an dessen Kritikbegriff die Inszenierung hervorhebt, das als ob, kurz gesagt: das Theater. Durch eine Inszenierung, durch Theater, wird kritische Distanz eröffnet. Theater ist diese kritische Distanz. Es erlaubt, die vermeintlich feste Bindung zwischen Wahrheit, Macht, Unterwerfung und Subjektivierung dadurch als nicht weiter begründbar zu erkennen, dass es sie in einem selbst nicht begründbaren Akt auflöst und verschiebt. Zu Recht hebt Butler die ethische und politische Dimension dieses Aktes hervor, zugleich seine Fiktionalität im Sinne Nietzsches, seine »Kunst«. Der Akt der Begründung »ursprünglicher Freiheit« ist selbst, was er behauptet, eine nicht weiter begründbare Auflösung von Gründungen, eine anti-fundamentalistische Praxis, durch welche, noch einmal Butler, »das Selbst sich in der Entunterwerfung bildet, seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von Neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein und was wird als Leben zählen?«30

The ater als K ritik Wenn nun aber Butler und andere nahelegen, dass gewissermaßen jeder Kritik, die diesen Namen verdient, die Inszenierung, das Theater eigen ist – in Gestalt ihrer strategischen Übertretung, dort, wo sie so tut, als ob das, wofür es keinen Grund gibt, einen hätte –, was ist dann das Spezifikum von Theater als Kritik? Platter gesagt: Wenn alle Kritik Theater ist, ist dann auch jedes Theater Kritik? Mitnichten. Vielmehr ist Theater kritisch nur dort, wo es, wie die Philosophie ihr Denken, die Philosophie selbst, das Theater aufs Spiel setzt. Wo es sich von jedem Grund, jeder Autorität, jeder Rückversicherung in Regeln, Normen, Institutionen, Konventionen, Handwerk und Technik löst und Spieler*innen wie Zuschauer*innen dergestalt im gleichen Maß an den Rand der eigenen Sicherheiten führt wie die philosophische Kritik. Kritisch ist Theater als jene temporäre Überschreitung der Normen, in der diese ausgesetzt und neu verhandelt werden. Selten ist deshalb heute jenes Theater kritisch, das in die Tagespolitik oder das Soziale einwirken möchte, das sich als Fortsetzung politischer Interventionen geriert, sich Empowerment oder Emanzipation auf die Fahnen schreibt, Minderheiten integrieren oder Randgruppen zur Anerkennung verhelfen möchte. Mögen seine Absichten integer und sein Anliegen legitim und wichtig sein, so endet es in aller Regel überm schnell Begriffenen, Wohlbekannten nicht nur in schlechter Kunst, sondern auch in einer schlechten Politik. Die unerträglichen Verhältnisse werden instrumentalisiert, um den des konventionellen Theaters überdrüssigen Zuschauer in moralische Geiselhaft zu nehmen. Wer dürfte es wagen, ein well-made play zu kritisieren, das sich der Versöhnung zwischen Deutschen und Türken, der Kritik des Finanzmarkts, den xenophoben Umtrieben von Pegida und AfD oder den Nöten der Palästinenser widmet? Wer dürfte den Narzissmus von Performern kritisieren, die sich so wichtigen Themen wie Sterbehilfe, Abschiebungspraxis oder der Erinnerungspolitik widmen? Wer dürfte seine Langeweile äußern, wenn doch auf der Bühne gerade syrische Flüchtlinge, Rollstuhlfahrer oder Menschen mit abweichendem Chromosomensatz ins Spiel integriert werden? 30 | Ebd., S. 246.

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Theater als Kritik begibt sich ins Jenseits aller Seinsbestimmungen und Versicherungen, dorthin, wo der Boden unter den Füßen zu wanken scheint, und nimmt sich dabei die selbst nicht weiter begründbare Freiheit, kein Theater mehr oder aber ein Theater jenseits allen bekannten Theaters zu gründen. Teils schon Legende und eine Epoche eröffnend, teils nur im Gedächtnis weniger Beteiligter und Zuschauer verankert, sind die Beispiele solcher Gründungen, die immer auch, zumindest für einen kritischen Moment, Aufkündigung des bekannten Theaters bis zur Möglichkeit der Aufkündigung jeden Theaters waren. Peter Handkes Publikumsbeschimpfung, Peter Steins Bremer Tasso und die dortige Frauenvolksversammlung, Klaus-Michael Grübers Winterreise, Robert Wilsons the CIVIL warS, Ariane Mnouchkines 1789, Reza Abdohs The Law of Remains, Frank Castorfs achtstündiger Bau in Karl-Marx-Stadt, Einar Schleefs Frankfurter Mütter, Xavier le Roys Self Unfinished, Josef Szeilers und Claudia Bosses 36-stündiges Massakermykene, René Polleschs Heidi Hoh-Zyklus, Wanda Golonkas Performance-Serie An Antigone oder der zehnteilige Zyklus »Life and Times« des Nature Theatre of Oklahoma (zumindest in seinen vorliegenden Teilen), die Reihe wäre beinahe ad libitum fortzusetzen – gemeinsam ist diesen Beispielen, dass in ihrem Verlauf über die implizite oder explizite Kritik dessen, was an anderen Orten praktiziert wurde, hinaus zunächst einmal das Theater selbst, die eigenen Voraussetzungen und Bedingungen kritisch untersucht und aufs Spiel gesetzt wurden. In Zweifel gezogen wurde es bis zum Punkt der Aufkündigung der es begründenden geschriebenen und ungeschriebenen Verträge zwischen Spieler*innen und Zuschauer*innen, Intendant*in und Ensemble, Regisseur*in und Schauspieler*innen, Theater und Gesellschaft, und dies durch die Einnahme einer kritischen Distanz zum Vorausgehenden, durch eine Gründung ohne Grund und Boden. Kritik, so lehrt allerdings auch der Blick auf diese kritischen Momente einer noch ungeschriebenen Geschichte des Theaters als Kritik, will permanent erneuert sein, sie schlägt in kürzester Zeit um in das, wogegen sie sich wendete. Nichts anderes formulierte Brecht im vielzitierten Satz: ›Das Theater theatert alles ein.‹ Nicht zuletzt ist zu bedenken, ob nicht Bruno Latours Invektive gegen die Kritik darin recht zu geben ist, dass sich wie die Theorie auch das Theater in jeder geschichtlichen Situation fragen muss, ob die zu früheren Zeiten geschmiedeten Waffen seiner Kritik in der Gegenwart noch angemessen sind.31 Einer Philologie der Kritik, die eine selbst kritische Philologie des Theaters zu sein hätte, wächst hierbei nicht zuletzt die Aufgabe zu, sich von dem zu entfernen, was Heiner Müller als »deutsche […] Misere in der Philologie« bezeichnete, von ihrer Eigenschaft, »Sprengsätze […] in Teekannensprüche zu verwandeln«32 . Sie hätte stattdessen, um im Bild zu bleiben, das kritische Potential in den Teekannensprüchen freizulegen, also an den kritischen Momenten festzuhalten und sie gegen das zu behaupten, wogegen sie sich richteten, wie auch gegen das, was aus ihnen später wurde. Und nicht zuletzt hätte sie sich die Freiheit der Entunterwerfung zu nehmen, das Recht, hier und jetzt die Begründung neuer Formen des Theaters als Kritik zu versuchen, auch wenn diese neue Begründung nicht anders möglich ist denn als Fiktion.

31 | Latour, 2007, insb. S. 20. 32 | Müller, Heiner: »Zu Wallenstein«, in: ders., Material. Texte und Kommentare. 2. Aufl., Leipzig 1990, S. 102-104, hier: S. 103.

Kritische Praktiken im Gegenwartstheater

Gegenwart und Entzug Entwurf einer Grenzhaltung in Rabih Mroués Riding on a Cloud Julia Schade

K rise (der) K ontingenz Angesichts einer Gegenwart in der Krise müssen wir endlich wieder kritisch mit der gängigen Historie umgehen. Es bedarf einer längerfristigen Historisierung des Geschehens und einer offenen Deutung von Fakten […]. Unsere politische Aufgabe ist es daher vor allem eine ›Gegenaufklärung‹ zu etablieren, die alternative Konzepte zur aufklärerischen Denkschule beinhaltet.1

Diese auf den ersten Blick eher harmlos anmutenden Zeilen stammen von einer Gruppierung mit dem sprechenden Titel »Kontrakultur«, die sich als »kritischer Gegenpol zu der zeitgeistigen Kultur der sogenannten Moderne«2 versteht und eine zentrale Plattform der intellektuellen Köpfe der sogenannten Neuen Rechten – genauer: der Identitären Bewegung – ist.3 Anders als frühere rechte Bewegungen übt sich diese ›neue‹ Rechte nicht mehr in plumpen Rassismen oder expliziten Verleugnungen der Shoah. Vielmehr begreift sie sich als Erbe der deutschen ›Konservativen Revolution‹ und gründet ihren intellektuellen Gegen-Diskurs im Anspruch, aus einer angeblich marginalisierten Position – und gleichzeitig gegenaufklärerischen Haltung – heraus Kritik an der Gegenwart, Kritik an der dominierenden gegenwärtigen Auslegung der Vergangenheit und an einem vermeintlich ›herrschenden‹ linken Diskurs üben zu wollen: Angesichts von Dekonstruktion und angeblicher postmoderner Beliebigkeit wettert sie gegen Unentscheidbarkeit und plädiert für ein ›Zurück zum Eigentlichen‹ und eine gesicherte identitäre Nar-

1 | www.kontrakultur.de/tag/historisierung; www.kontrakultur.de/2014/11/13/fragmen tierung-des-seins-und-gegenaufklaerung [zuletzt aufgerufen am 2. November 2016. Mittlerweile ist die Seite gelöscht]. 2 | Ebd. 3 | Kontrakultur gehört zu den aktivsten Ablegern der Identitären Bewegung, ist europaweit mit anderen neurechten Bewegungen vernetzt und erfährt aktive Unterstützung durch den Verleger und Chefstrategen Götz Kubitschek, dessen Institut für Staatspolitik und AntaiosVerlag zu den einflussreichsten Plattformen der Neuen Rechten gehören und der den faschistischen AfD-Flügel rund um Björn Höcke offen unterstützt.

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ration des Eigenen.4 Darüber hinaus macht sie sich den Begriff der ›Offenheit‹ zunutze: Hinter der Forderung nach einer »offenen Deutung von Fakten« verbirgt sich dabei jedoch nichts anderes als ein Geschichtsrelativismus, der maßgeblich dadurch begründet ist, dass er Kontingenz und Offenheit als Beliebigkeit missversteht.5 Angesichts dieser reaktionären Vereinnahmung des Kritik-Begriffs ist es umso dringlicher, sich folgende Frage zu stellen: Wie könnte eine Kritik der Gegenwart und eine Reflexion von Geschichte und deren Repräsentation heute aussehen, die nicht Universalismen und Relativismen anheimfallen, sondern Offenheit und Kontingenz gegen ihre Missdeutung als Beliebigkeit verteidigen? Oder anders mit Bruno Latour gefragt: »Was heißt es, wenn dieses Fehlen eines festen Grundes von den übelsten Kerlen als Argument gegen die Dinge gerichtet wird, die uns teuer sind?«6 Wie kann und muss sich eine Kritik heute positionieren, die weder eine bloße Negierung des Gegebenen und seiner Bedingungen ist noch zur bloßen Wiederholung einer liberalen Geste wird, die Kritik auf Fragen von Freiheit und universalistischen Menschenrechten beschränkt? Wie muss Kritik neu ausgehandelt werden, wenn sie, wie Karen Barad postuliert, heute, statt konstitutive Ausschlüsse zu untersuchen, selbst zum bloßen Instrument einer »destruktiven Praxis« geworden ist, die ebendiese Ausschlüsse fortschreibt? 7 Der vorliegende Beitrag möchte vor diesem Hintergrund aufzeigen, dass auch und vielleicht gerade im Feld der Theaterwissenschaft, der es um die Frage der Repräsentation geht, eine neue (politische) Dringlichkeit besteht, sich mit diesen Fra4 | Micha Brumlik legt in seiner Analyse neurechter Diskurse ausführlich dar, inwiefern diese auf Denker wie Martin Heidegger, Julius Evola oder Alexander Dugin zurückgreifen, um Konzepte des Völkischen und einer kulturalistisch gedeuteten Homogenität zu etablieren. Vgl. ders.: »Das alte Denken der neuen Rechten. Mit Heidegger und Evola gegen die offene Gesellschaft«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2016), S. 81-91, hier: S. 91. 5 | Eine eingehende Verhandlung von Kontingenz, Hegemonie und Universalität in zeitgenössischen Diskursen des Politischen in der Linken findet sich in: Butler, Judith/Žižek, Slavoj/Laclau, Ernesto: Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left. London/New York 2000. 6 | Latour, Bruno: Das Elend der Kritik. Zürich/Berlin 2007, S. 12. Latours Vorwurf, die Kritik sei nicht »kritisch« genug gewesen, der hauptsächlich gegen die französische poststrukturalistische Kritik gerichtet ist, findet seinen Wiederhall im neueren amerikanischen Ansatz des surface reading: Dieser plädiert für eine neue, vermeintlich offenere Art der Kritik, die sich gegen eine sogenannte »hermeneutics of suspicion« und ein »symptomatic reading« wendet. Entgegen deren »politischer Agenda«, die zu sehr von Fragen der »identity politics« bestimmt sei, soll eine Kritik der Oberflächen eine undogmatischere deskriptive Praxis ermöglichen. Zu fragen bleibt, ob ein solcher, sich als unpolitisch postulierender Ansatz, der dasjenige beschreiben zu können glaubt, was an der Oberfläche immer schon da, »already present« ist, nicht dem Glauben einer unmittelbar erreichbaren Faktizität anheimfällt. Vgl. Best, Stephen/Marcus, Sharon: »Surface Reading: An Introduction«, in: Representations 108 (2009), S. 1-21. 7 | Barad, Karen: »Matter feels, converses, suffers, desires, yearns and remembers«. Interview mit Karen Barad im Rahmen der 7th European Feminist Research Conference am 6. Juni 2009 an der Universität Utrecht. https://quod.lib.umich.edu/o/ohp/11515701.0001.001/1:4.3/-new-materialism-interviews-cartographies?rgn=div2;view=fulltext vom 18. Feb. 2018.

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gen – und damit auch mit den eigenen blinden Stellen ­­­­– zu beschäftigen. Anhand einer Inszenierung des libanesischen Künstlers Rabih Mroué möchte ich untersuchen, wie ein Nachdenken über das aussehen könnte, was Foucault die »Historizität des eigenen Standpunktes« 8 nennt – eine Reflexion über die Bedingungen eines Standpunktes also, von dem aus Kritik an einer bestimmten Vorstellung von Gegenwart und Geschichte allererst möglich ist.

W as geschieht da gegenwärtig ? Foucault zufolge ist es erstmalig Kant, der in seinem Text »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«9 von 1784 die philosophische Frage nach der Gegenwart so stellt, dass sie als »Scharnier zwischen der kritischen Reflexion und der Reflexion über Geschichte«10 fungiert. Das Neuartige an Kants kleiner Schrift ist für Foucault, dass sie nach der »Aktualität des Unternehmens«11 der Aufklärung selbst fragt und damit nicht einen ahistorischen Standpunkt behauptet, sondern die Frage vielmehr von einem ganz spezifischen historischen Moment aus stellt: »Was geschieht da gegenwärtig? Was geschieht mit uns? Was ist das für eine Welt und eine Zeit, in der wir leben?«12 Für Peter Osborne ist dies der Beginn eines philosophischen Diskurses über die Moderne: Gerade weil Kant Vernunft als losgelöst von Tradition und Geschichte denkt, also als über jede Historizität hinausgehend, eröffnet er einen Diskurs, der erstmalig die Gegenwärtigkeit (present-ness) der Gegenwart zum spezifischen Objekt philosophischen Denkens macht.13 Für Foucault folgt daraus, dass die Relevanz der Aufklärung für unsere Gegenwart und das, was er selbst eine kritische »Haltung«14 nennt, nicht in der bedingungslosen Treue zu den Elementen ihrer Lehre liegen darf. Vielmehr ist »der Faden, der uns auf diese Weise mit der Auf klärung verbinden kann, […] die permanente Reaktivierung einer Haltung […], das heißt eines philosophischen ethos, das man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte«15. Eine solche kritische Haltung der Gegenwart und in der Gegenwart muss damit, um sich nicht an sich selbst zu verraten, immer auch eine Kritik der Bedingung ihrer Historizität sein.

8 | Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?« (1984), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 4. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt a.M. 2005, S. 687-707, hier: S. 703. 9 | Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, ersch. in: Berlinische Monatsschrift, Dez. 1784, S. 481-494. Hier zitiert nach: ders., Politische Schriften. Hg. v. Otto Heinrich von der Gablentz. Wiesbaden 1965, S. 1-9. 10 | Foucault, Michel: »Subjekt und Macht« (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV. Frankfurt a.M. 2005, S. 269-294, hier: S. 280. 11 | Ebd. 12 | Ebd. 13 | Osborne, Peter: The Politics of Time. Modernity and Avantgarde. London/New York 1995, S. 21. 14 | Foucault, 1984, S. 703. 15 | Ebd., S. 699.

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E rkr ank te R epr äsentation Wie aber Kritik an Gegenwart und Geschichte üben, wenn das Vermögen fehlt, diese voneinander zu unterscheiden? Wenn es also nicht mehr möglich ist, zwischen einem Davor und einem Danach der Gegenwart zu differenzieren und sich eine andere Zeitlichkeit als diejenige der Gegenwart vorzustellen? Genau vor diesem Problem steht Yasser in Rabih Mroués Riding on a cloud16. Der ältere grauhaarige Mann im roten T-Shirt und mit leicht schleppendem Schritt betritt die Bühne und setzt sich an einen kleinen Tisch am linken Ende, auf dem sich DVDs und Kassetten stapeln, die er im Verlauf der minimalistischen Performance nacheinander zeigen und kommentieren wird. Zusammen mit seinen Erklärungen und weiteren Dokumenten wie Schulzeugnissen und Familienfotos fügen sie sich zu einer Erzählung, die um ein Ereignis kreist, das einen radikalen Einschnitt in die Ordnung der Gegenwart bedeutet. So erzählt Yasser, es gebe geschichtliche Momente wie den Holocaust, die Nakba, den Fall der Mauer, 9/11, die Geschichte in ein Davor und ein Danach einteilten.17 Eben ein solches Ereignis ist auch der Tag des 17. Februar 1987 während des libanesischen Bürgerkriegs, als dem jungen Yasser von einem Scharfschützen in den Kopf geschossen wird. Die Konsequenz dieser Verletzung ist ein Einbruch seines Repräsentationssystems. Nicht nur die Erinnerung ist ihm genommen, sondern auch die Fähigkeit, eine Repräsentation als eine solche zu erkennen – photographische Abbildungen von Gegenständen versteht er nicht, er kann das Dargestellte in der Darstellung nicht wiedererkennen, erfasst die Indexikalität und das Verweissystem nicht mehr. Im Grunde trägt er damit die besten Voraussetzungen für einen (ungewollten) Ikonoklasmus in sich. Wenn Yasser nicht zu verstehen vermag, dass sein Ich und das Ich des Yasser auf dem Photo identisch sind und dass er gleichzeitig hier und dort sein kann, dann heißt dies schlicht, dass die eigene Zeitlichkeit für ihn nicht vorstellbar ist. Ihm fehlt das, was Werner Hamacher in Anschluss an Kant das »Vermögen der Vorstellungen«18 nennt: das Vermögen, Zeit – und damit auch die Gegenwart und die Vergangenheit – als Vorstellung zu begreifen, also Vorstellungen zu bilden, zu reproduzieren und in Begriffe zu fassen. Seine Krankheit ist damit zugleich eine Krankheit der Repräsentation, ihr Symptom der Entzug. Symptomatisch steht sie für das, was Jalal Toufic angesichts des libanesischen Bürgerkrieges und in Anlehnung an Maurice Blanchots Écriture du désastre 19 »the withdrawal of tradition past a surpassing disaster«20 nennt: Nach einem inkommensurablen, unermesslichen Ereignis werden Kulturgüter wie Kunstwerke, Fotografie, Literatur, Musik und Film von einem 16 | Mroué, Rabih: Riding on a Cloud. Performance, gesehen im Rahmen von Theater der Welt, Mannheim, am 24. Mai 2014. 17 | Sicherlich ist eine solche vergleichende Aneinanderreihung des Holocaust angesichts seiner Singularität mit Vorsicht zu betrachten. Andersherum dürfte seine Gleichstellung mit der Nakba für eine große Zuschauerschaft im arabischen Raum als Provokation gelten. 18 | Hamacher, Werner: »Ex tempore. Zeit als Vorstellung bei Kant«, in: Joachim Gerstmeier/ Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Politik der Vorstellung. München 2006, S. 68-94, hier: S. 74. 19 | Blanchot, Maurice: L’écriture du désastre. Paris 1980. 20 | Toufic, Jalal: The Withdrawal of Tradition Past a Surpassing Disaster. Forthcoming Books 2009. Internetpublikation: www.jalaltoufic.com/downloads/Jalal_Toufic,_The_Withdrawal_ of_Tradition_Past_a_Surpassing_Disaster.pdf [zuletzt aufgerufen am 26. Feb. 2018].

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»immateriellen Entzug«21 befallen, der sie trotz ihrer materiellen Vorhandenheit vor jeglichem Zugriff verschließt.22 Betroffen von dieser Bewegung des Entzugs ist Toufic zufolge auch das Vermögen, Stellung zur eigenen Zeit und Gegenwart zu beziehen. Wenn Zeitgenossenschaft dadurch gekennzeichnet ist, der Zeit voraus, ihr im Sinne Nietzsches unzeitgemäß23 zu sein, so liegt die Konsequenz des unermesslichen Desasters in der völligen Distanzlosigkeit zu ihr und in dem Unvermögen, diese ins Verhältnis zu anderen Zeitlichkeiten zu setzen. Ebendies gilt für Yasser. Er (er-)kennt keine andere Zeit als das Hier und Jetzt, als die vermeintlich unmittelbare Gegenwart und wird damit – gezwungenermaßen – naiver Stellvertreter eines Präsenzbegriffs, wie er sich im Diskurs der Performance Studies der achtziger und neunziger Jahre manifestiert: eines Verständnisses von Gegenwart als unmittelbar, unreproduzierbar, dem Moment verschrieben und damit ahistorisch.24

D ie F ik tion des G egenwärtigen Indem Yasser die Gegenwart als seine einzige Zeit versteht, sitzt er dem auf, was Peter Osborne die »Fiktion des Gegenwärtigen«, die »fiction of the contemporary«25 nennt – der Projektion einer zeitlichen Einheitlichkeit in die Gegenwart, wo eigentlich eine heterogene Vielheit vorliegt: The concept of the contemporary projects a single historical time of the present, as a living present […]. [It] thus projects into presence a temporal unity that is actually, in principle, futural or anticipatory. The concept of contemporary is thus inherently speculative […]. [A]ll constructions of the contemporary are fictional, in the sense of fiction as a narrative mode. 26 21 | Ich ziehe hier entgegen der deutschen Ausgabe, die von Rückzug spricht, die Übersetzung von ›withdrawal‹ als Entzug vor: Während Ersterer eine immer noch vorhandene Materialität voraussetzt, impliziert Entzug gerade deren Verlust. Vgl. Toufic, Jalal: »Abspann inklusive«, in: ders., Der Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster. Wien 2011, S. 9-40, hier: S. 10. 22 | Toufic bezieht sich in erster Linie auf Künstler aus dem arabischen Raum. Hier ist im Besonderen Walid Raad zu nennen, in dessen Arbeit Scratching on Things I Could Disavow: A History of Art in the Arab World das Schrumpfen seiner Kunstwerke sowie das Verschwinden von Farben Ausdruck eben dieses Entzugs sind. 23 | Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie – Unzeitgemäße Betrachtungen I-III (= Kritische Gesamtausgabe, Abt. 3, Bd. 1). Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin 1972. Siehe auch: Agamben, Giorgio: »Was ist Zeitgenossenschaft«, in: ders., Nacktheiten. Frankfurt a.M. 2010, S. 21-37. 24 | Vgl. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance. London/New York 1993; sowie Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized Culture. New York 1999. Für eine ausführliche Kritik des von Phelan und Auslander vertretenen Diskurses des Ephemeren siehe Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment. London/New York 2011. 25 | Osborne, Peter: Anywhere or Not at All: Philosophy of Contemporary Art. London/New York 2013, S. 15. 26 | Ebd., S. 22f.

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Diese Fiktion des Gegenwärtigen gibt Osborne zufolge vor, die Totalität der in der Gegenwart zusammenlaufenden Zeiten im Ganzen erfassen und überblicken zu können. Nicht nur beschreibt Osborne das Konzept des Gegenwärtigen hier als Fiktion, sondern rückt es darüber hinaus in die Nähe einer Spekulation. Die spezifische Eigenschaft des Gegenwärtigen liegt damit sowohl in der Negation seines eigenen spekulativen Fundaments als auch seines Als-ob-Charakters. Es erweist sich so schlicht als grundlos, als Kontingenzfigur, die, anstatt eine in sich homogene präsentische zeitliche Einheit zu sein, eine Unendlichkeit an möglichen Zeitlichkeiten in sich trägt. Yasser jedoch verfällt der Projektion einer präsentischen Gegenwart und glaubt, diese sei universell, allgemeingültig, allem vorgängig und unmittelbar. Darüber hinaus lässt er sich von ihrem Als-ob vollends täuschen, denn er nimmt alles für wahr, kann Realität nicht von Fiktion unterscheiden, die Prinzipien der mimesis und der Wiederholung sind ihm fremd. Es ist bezeichnenderweise das Theater, mit dessen Hilfe er schließlich Repräsentation und die Fiktion des Gegenwärtigen (wieder) verstehen lernt. Yasser erklärt die Vereinbarung zwischen ihm und seinem Bruder Rabih Mroué so: We agreed that I have to learn what it means: to play, to act. We agreed that I have to learn how to differentiate between what is fiction and what is not, between what is real and what is not. I am a fictitious character. Yasser on stage resembles Yasser in real life. But how can Yasser on stage be different from the Yasser outside the theater? Who is he? Who is ›I‹? How come this is not me, although I am playing myself now?27

E nt zug und G renzhaltung Was Yasser schließlich wieder erlernt, ist weder die Logik eines Theaters als schlüssige mimesis oder imitatio noch diejenige einer authentischen Verschmelzung von Dar-

27 | Mroué, Rabih: Riding on a Cloud. Aufzeichnung der Performance im Rahmen von Home Works 6 im Babel Theatre in Beirut am 25. Mai 2013. Ab Minute 00:02:35. Siehe auch Mroué, Rabih: »How come this is not me, even though I am playing myself?«, Interview von Hassan Maroon mit Rabih Mroué, in: Boris Nikitin/Caren Schlewitt/Tobias Brenk (Hg.), Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum Zeitgenössischen Dokumentarischen Theater. Berlin 2014, S. 76-83; Mroué, Rabih: »›Kein Bild ist hundertprozentig real.‹ Rabih Mroué im Gespräch mit Johannes Odenthal«, in: Johannes Ebert et al. (Hg.), Zeitgenössische Künstler. Arabische Welt. Göttingen 2011, S. 159-171.

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steller und Dargestelltem im »maniacally charged present«28 der Theatersituation. Vielmehr ist es ein Verständnis von Repräsentation als Entzug dieser Gegenwart, wie es Jean-Luc Nancy als »präsentierte, dargebotene oder ausgestellte Präsenz« beschreibt, die »nicht nur ein (de jure oder de facto) Abwesendes vergegenwärtigt, was in der bloßen Gegenwart nicht anwesend ist«, sondern immer auch auf den Entzug des so Präsentierten verweist.29 Der Entzug ist damit zugleich immer auch Bezug zum Als-ob der Gegenwart. Ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu dessen Kontingenz und Unbegründetheit erlaubt schließlich das, was Foucault die »Historizität des eigenen Standpunktes«30 nennt, die für ihn die wesentliche Voraussetzung für Kritik ist – für eine »historisch-kritische Haltung«31: »[S]ie ist auch Modus einer Beziehung, die man zu sich selbst herstellen muss […]. Es heisst, sich selbst zum Gegenstand einer komplexen und strengen Ausarbeitung zu machen«32. Diese Formulierung impliziert jedoch keineswegs, die eigene Betrachterinnenposition als Subjekt der Aussage zum letztbegründeten Fundament einer kritischen Haltung zu erheben. Ganz im Gegenteil plädiert Foucault für ein Ethos der »Grenzhaltung«33: Die Kritik wird definiert als »Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie«34. Damit betont er den entscheidenden Unterschied zu Kants Projekt, für das zwar durchaus die Frage nach den Grenzen maßgebend ist, das aber dabei eben durch die negative Figur eines Unvermögens geprägt ist, diese Grenzen zu überschreiten: Die Kritik ist gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie. Doch während die Kant’sche Frage die Frage nach den Grenzen war, auf deren Überschreitung die Erkenntnis verzichten muss, scheint es mir, dass die kritische Frage heute in eine positive Frage verkehrt werden muss. 35

Damit formuliert Foucault die Kritik als eine Haltung, die nicht als »Verweigerungsverhalten«36 funktioniert, sondern als positiv gewendete potentielle Überschreitung: »Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln.«37 An dieser Stelle ist wichtig zu betonen, dass es auch bei Foucault nicht um den Gestus einer endgültigen Überschreitung geht. Er spricht vielmehr von einer »Form möglicher Überschreitung«38. Die Betonung liegt also auf der Potentialität, nicht dem finalen Außerkraftsetzen von Grenzen – denn dies würde wiederum eine vollständige und endgültige Erkenntnis dessen voraussetzen, was diese Grenzen sind. Foucault plädiert demnach keineswegs für eine transzendentale Geste, sondern für ein An-den-Grenzen-Sein, das sich einfachen Dualismen 28 | Phelan, 1993, S. 148. 29 | Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder. Zürich/Berlin 2006, S. 66. 30 | Foucault, 1984, S. 703. 31 | Ebd. 32 | Ebd., S. 698. 33 | Ebd., S. 702. 34 | Ebd. 35 | Ebd. 36 | Ebd. 37 | Ebd. (Hervorhebungen von mir, J.S.). 38 | Ebd.

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entzieht: »Man muss der Alternative des Draußen und Drinnen entkommen; man muß an den Grenzen sein.«39 Statt eine Geste des Hinter-sich-Lassens und der transzendentalen Überschreitung zu behaupten, deuten diese Worte vielmehr auf einen Verzicht: An-den-Grenzen-Sein muss damit auch heißen, die Unumstößlichkeit desjenigen Standpunktes aufzugeben, der Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis der Gegenwart als einheitliches Konstrukt und Ausgangspunkt für eine universelle Kritik bieten könnte. Damit problematisiert Foucault nicht zuletzt all jene kritischen Ansätze, die in einer totalen Geste »global und radikal sein wollen«40 und damit ihre Neuartigkeit und den radikalen Bruch mit allem Zuvorgewesenen behaupten. Diese nämlich vermögen es in ihrem Absolutheitsanspruch nicht, die Historizität des eigenen Standpunktes zu hinterfragen und damit jenem Foucault’schen ethos der Grenzhaltung gerecht zu werden. In diesem Sinne warnt Foucault vor genau jenen radikalen Programmen, die im Zuge der eingangs beschrieben Behauptung von Neuartigkeit »eine andere Denkungsart, eine andere Kultur oder eine andere Weltanschauung« und eben auch eine andere Geschichte propagieren – denn diese, so schließt er, führten »in Wirklichkeit nur zur Fortführung der schädlichsten Traditionen«41.

E nt wurf im D iesseits der K ritik Riding on a Cloud setzt nun hier an. Weit entfernt davon, ein Absolutes zu propagieren, ein radikales Projekt oder ein Gegen-Narrativ Yassers zum herrschenden Diskurs, zur herrschenden Geschichtsschreibung zu formulieren, fragt die Inszenierung eher nach dem, was Foucault wie folgt formuliert: »Welcher Anteil an dem als universal, notwendig und obligatorisch Gegebenen ist singulär, kontingent den willkürlichen Zwängen geschuldet?«42 Die Antwort der Inszenierung begnügt sich aber keineswegs mit einer bloßen Bestandsaufnahme des Gegebenen und dessen Kritik. Indem wir Yasser in seinem Lernprozess folgen, führt die Inszenierung die Konstruktionsmechanismen von Gegenwarts- und Geschichtsvorstellungen vor, belässt es aber nicht dabei. Eben durch das Zeigen auf Yassers Unvermögen, sich selbst in der Gegenwart zu verorten, unterstreicht sie umso stärker, dass eine zeitgenössische Kritik an der Gegenwart diese Gegenwart nicht als unmittelbare, ahistorische, mit sich identische bereits voraussetzen kann, sondern sich ihrer Vielheit und Unbegründetheit stellen muss. Der wesentliche Punkt dabei ist jedoch, dass Riding on a Cloud eben nicht Kontingenz mit Beliebigkeit gleichsetzt, wie es die anfangs kurz skizzierte Neue Rechte und deren geschichtsrevisionistische Bewegungen tun. Vielmehr besteht der kritische Einsatz der Inszenierung darin, in Zeiten der Vereinnahmung des Kontingenz-Gedankens durch eine neurechte Kritik und der Erstarkung neuer Universalismen und Absolutheitsansprüche, wie beispielsweise im Spekulativen

39 | Ebd. 40 | Ebd., S. 703. 41 | Ebd. 42 | Ebd., S. 702.

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Realismus43, umso dringlicher die Frage nach dem Umgang mit einem unsicheren Grund und dem Verhältnis zur Gegenwart und Geschichte aufzuwerfen. Dabei riskiert sie etwas, was ich als Entwurf bezeichnen möchte: eine Grenzhaltung, die eben nicht darin besteht, eine Überschreitung zu behaupten, sondern die sich als permanente Bewegung im Diesseits der Kritik44 verortet. Damit verhandelt sie zwar Figuren der Transzendenz, des Universellen und Letztbegründungen implizit, behauptet aber niemals ein ›Darüber-Hinaus‹. Yassers Unvermögen wird eben nicht als Mangel gekennzeichnet und einer richtigen Erkenntnis, wie die Gegenwart angeblich funktioniert, gegenübergestellt. Die Performance suggeriert weder einen festen Standpunkt, von dem aus eine sichere Erkenntnis unserer und Yassers Grenzen möglich wäre. Noch behauptet sie im Umkehrschluss, dass, mit Foucault gesprochen, eine kritische Haltung »nur in der Unordnung und der Kontingenz durchgeführt werden kann«45. Vielmehr liegt ihr kritischer Gestus darin, diese Unordnung und Kontingenz ernst zu nehmen und dabei der singulären Zeitlichkeit, in der sich Yasser befindet, dennoch zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne dabei wiederum Relativismus zu betreiben. Als Entwurf eines Diesseits der Kritik steht sie so für das fortwährende Risiko, immer wieder neu hinterfragen und immer wieder von neuem entwerfen zu müssen, was ihre Grenzen sind und was sie sein könnten.

43 | Siehe Quentin Meillassoux’ Versuch einer Wiedereinführung des Absoluten durch Insistenz auf Kontingenz in ders.: Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence. Paris 2006. 44 | Vgl. die Beiträge von Leon Gabriel und Marten Weise in diesem Band. Der vorliegende Artikel ist im Dialog mit diesen im Rahmen eines gemeinsamen Panels auf der Tagung entstanden. 45 | Foucault, 1984, S. 704.

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U niversum und universale V erkennung In Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn bescheinigt Nietzsche dem menschlichen Intellekt einen unabwendbaren Anthropozentrismus: [M]enschlich ist er [der Intellekt], und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt. […] [S]o meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.1

Spöttisch invertiert Nietzsche das philosophisch-naturwissenschaftliche Universum (ob nun gemäß Newton oder Leibniz)2: Wo dieses den Schöpfergott in universelle Gesetze überträgt und dessen Unbegrenztheit qua mathematischer Prinzipien verhandelbar macht,3 sieht Nietzsche den Verstand als das selbstgenügsame Epizentrum all dieser sauberen Ordnungssysteme. Und nicht nur das: Der Verstand wird selbst zur Verkennung dort, wo er die universale Verkennung kritisch aufzudecken sucht. Wie lässt sich eine Kritik an ebendiesem universalen Verständnis einer Welt und eines Weltalls artikulieren, welche dem Menschen als Projektionsfläche seiner eigenen Transzendierung dienen? Gemäß dem universalistischen Anspruch wird es dem Subjekt erst durch die transzendentale Vernunft ermöglicht, der univer-

1 | Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873, aus dem Nachlass). Frankfurt 2000. 2 | Vgl. Haß, Ulrike: »Von der Schau-Bühne zur Architektur und über das Theater hinaus. Raumbildende Prozesse bei Sabbatini, Torelli, Pozzo und Appia«, in: Norbert Otto Eke/Ulrike Haß/ Irina Kaldrack (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. München 2014, S. 345-370. 3 | Dies ist in Differenz zu Kant vor allem das philosophische Ziel des Descartes-Weggefährten Henry More. Vgl. Koyré, Alexandre: From the Closed World to the Infinite Universes. Baltimore 1957, S. 125-154.

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sellen Ordnung reflektierend gegenüberzustehen.4 Doch ist nicht diese Leistung des Verstandes Teil dessen, was wir seit Kant ›Kritik‹5 nennen – selbst wenn Kant in seiner ›dritten Kritik‹ im Gegensatz zu etwa Newton oder den Empiristen den spekulativ-praktischen Charakter dieser Annahme erkennt?6 Demgegenüber ließe sich zugleich fragen, ob nicht diese Vorstellung vom Universalismus heute längst angesichts der weltweiten »Mundialatinisierung« 7 und der damit einhergehenden Selbstinfragestellung der Idee Europas8 in die Krise geraten ist. Befinden wir uns nicht am Ende der einen, sinnhaft konstituierten Welt9 – und erleben wir nicht, wie diese entweder zynisch zu Grabe getragen oder aber krampfhaft irgendwie gerettet werden soll? Lässt sich dennoch ein Denken von Kritik stark machen, welches weder in einen blinden Relativismus (im Stil: ›Alles ist eine reine Frage der Konstruktion/Interpretation‹) noch eine Apologie angeblicher Faktizität (à la ›Zurück zum Realen/Objektiven!‹) verfällt? Statt mit dem Universalismus- auch den Kritikbegriff über Bord zu werfen, soll in diesem Beitrag anhand einer Arbeit der Choreographin Kate McIntosh aufgezeigt werden, wie sich eine unhintergehbare Heterogenität der Weltzugänge in immer neuen Konstellationen denken lässt. Diese Pluriversen stehen damit gewissermaßen dem distanzierenden Modus der (Erkenntnis-)Kritik gegenüber. Dieser Gegensatz zielt auf die Frage, ob die Pluriversen als Versuchsgefüge einer Veränderungspraxis dennoch einen kritischen Zugriff auf das, was um uns herum geschieht,

4 | So Kants Position in der ›ersten Kritik‹, wo ein Schematismus der »Natur« unterstellt wird, allerdings »ist die systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß; welche aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Principium zu finden, und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhänge-Frankfurt a.M. 1974, S. 567 [B 675, 676/A 647, 648]). In der ›dritten Kritik‹ hingegen wird die Natur zu einem Universum, »das nicht mehr von der schöpferischen und gebieterischen Aktion einer Vorsehung getragen wird«. Dennoch bleibt es bei der Aufgabe, eine »unauffindbare Einheit« zu denken. Nancy, Jean-Luc: Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung. Zürich/Berlin 2003, S. 67. 5 | Demgegenüber stehen die vorkritischen Schriften Kants, wo etwa auch eine Kosmogonie ausgearbeitet wird, so insbesondere in: Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755). Frankfurt 2005. 6 | Kant gesteht ein, dass die Behauptung eines transzendentalen Wesens hinter den Naturerscheinungen eine spekulative Annahme ist, die allerdings als eine solche die notwendige Basis der menschlichen Erkenntnis stellt. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790). Hamburg 2009, § 75, S. 311-314. 7 | Vgl. Derrida, Jacques: »Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft«, in: ders./Gianni Vattimo (Hg.), Die Religion. Frankfurt 2001, S. 9-106. 8 | Vgl. zu Europa als Universalismus: Guénoun, Denis: Hypothèses sur l’Europe: Un essai de philosophie. Paris 2000. 9 | Derrida, Jacques: Béliers. Le dialogue ininterrompu: entre deux infinis, le poème. Paris 2003, u.a. S. 79f.

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ermöglichen: als ständige Verschiebung und ein Uneinig-Sein der Kritik mit sich selbst, um sich den Vielheiten der Gegenwart zu stellen.10

U ntried U ntested – W elt zugänge ohne G rund In ihrer Performance Untried Untested11 nutzt McIntosh die Bühne als leeres Arbeitsblatt, um Körper, Materialien, Formen und Positionen in deren Wechselbeziehung auszutesten. Verschiedene Dinge werden mit vier Performerinnen zusammengebracht und dabei wird eine annähernde Gleichwertigkeit beider Seiten angestrebt, um neue Subjekt-Objekt-Relationen zu versuchen: Die Performerinnen ziehen eine Papierwand hoch und beginnen, schwarze Ballons aufzublasen, lassen diese jedoch allein zurück; ein Ventilator versetzt die Ballons sehr langsam in Bewegung. In ihrer sich dadurch abzeichnenden Eigenzeitlichkeit bewegen sich die Ballons als Masse minimal, aber auch jeder einzeln nach einem eigenen Tempo. Als die Performerinnen zurückkehren, entdecken sie, dass die Ballons bei Reibung Geräusche erzeugen und sich elektrostatisch aufladen, dann beginnen die Performerinnen, die Ballons jeweils mit einem kleinen Knall platzen zu lassen. Im Kontakt mit den Ballons ändert sich jedoch das menschliche Verhältnis zu diesen: Deren Materialität wird beobachtet, ertastet, behorcht, und schließlich werden sie imitiert, indem die Performerinnen immer dann kollabieren, wenn die Ballons explodieren. Mehr und mehr Dinge werden auf die Bühne gebracht: eine Kartoffel, Federn, Bücher, ein Seil. Alles wird observiert in der jeweiligen Eigenart, es wird damit gespielt, es wird imitiert, wortlos werden die neuesten Entdeckungen gezeigt. Und es wird alles zu Boden geworfen, wohl um speziell die Schwerkraft und den Kontakt mit dem Grund zu überprüfen. Schließlich wird der Bühnenboden selbst zum Objekt des Alles-Ausprobierens: Das braune Arbeitspapier, die Experimentierfläche, wird ein Teil des Testfeldes, indem es zerknüllt und neu angeordnet wird, zusammen und mittels der Performerinnen-Körper, die sich bereits wie Objekte verhalten. Untried Untested kehrt unsere anthropozentrische Weltsicht um und testet neue Relationalitäten, die aus dem Kontakt mit den Dingen hervorgehen. Allerdings verzichtet die Performance auf eine Behauptung über eine wie auch immer geartete Wesensart der Dinge. Die Tests bleiben spielerische Möglichkeiten, und die bestehende Differenz zwischen einem menschlichen Körper und einem Objekt wird gerade durch das Ausstellen der Versuche an der vorhandenen, aber nicht gänzlich bestimmbaren Materialität offensichtlich.

10 | Vgl. die Beiträge von Julia Schade und Marten Weise in diesem Band. Der vorliegende Artikel ist im Dialog mit ihnen im Rahmen im Rahmen des gemeinsamen Panels »Diesseits der Kritik« auf der Tagung entstanden. 11 | McIntosh, Kate: Untried Untested (Premiere: 9. Februar 2011, Campo Ghent). Bei meiner Analyse stütze ich mich auf meine Notizen eines Aufführungsbesuches ebenso wie auf eine durch Kate McIntosh dankenswerterweise zur Verfügung gestellte Aufzeichnung.

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M ultiversen /P luriversen McIntosh experimentiert mit szenischen Arrangements, die spielerisch die Vorstellung eines distanzierten Betrachtenden einer einzigen äußeren Realität verunsichern, wobei Untried Untested in ihrem Schaffen den Wendepunkt hin zu installativen Settings markiert. Bereits in Dark Matter 12 erkundete McIntosh die Diskrepanz zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und je singulärem Weltzugang mittels eines explizit artikulierten Verweises auf das Konzept der »Many Worlds« bzw. »Multiversen« oder, wie ich es nennen möchte, der Pluriversen: McIntosh stellt dem ›Universum dieses Theaterabends‹, wie sie in einem Monolog äußert, die vielen anderen möglichen Welten, in denen wir sein könnten oder gerade sind, gegenüber. Gespielt wird also mit einer immer gegebenen Heterogenität unserer Wahrnehmung gegenüber einer notwendigen Einheitlichkeit der künstlerischen oder wissenschaftlichen Darstellung. Meiner Auffassung nach wird diese thematische Auseinandersetzung mit Multi-/Pluriversen durch eine konzeptionelle Übertragung in Untried Untested zugespitzt. Multiversen ist die Bezeichnung für mögliche andere Welten, wie sie die theoretische Physik formuliert, nach der es unzählbare Universen mit je eigenen Gesetzen gibt, die außerhalb der per Lichtmessung sichtbaren Dimension unseres Universums liegen. Für Jean-Luc Nancy und Aurélien Barrau wird diese (letztlich empirisch nicht überprüf bare) Annahme zum Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Überlegungen einer »Dekonstruktion des Kosmozentrismus«13, nachdem »sich die Sicherheit einer geordneten Wahrheit des Universums (und im Universum) verbrannt hat«14. Die Autoren suchen mittels des so entliehenen Multiversen-Terminus einer ihrer Ansicht nach stattfindenden Sinnverschiebung ein Bild zu geben (ein Bild jedoch, das gleichzeitig die Kategorien jedes Weltbildes sprengt): Diese Sinnverschiebung wäre demnach die Auflösung vormals fundamentaler (Denk-)Ordnungen und bildete deren nunmehr stets wandelbare Neuverknüpfungen. Insofern beschreiben Multiversen einen Veränderungszustand, der dem sich spätestens mit dem 20. Jahrhundert durchsetzenden relationalen Denken der Beweglichkeit anstelle fixierter Gründungen Rechnung trägt sowie Abschied nimmt vom Paradigma der Einheit und Eigentlichkeit, welches nicht zuletzt auch das Denken des »eigentlichen Zeitalters der Kritik«15 (wie es bekanntermaßen bei Kant heißt)16 ge-

12 | McIntosh, Kate: Dark Matter (Premiere: 21. Nov. 2009, Kaaistudios Brüssel). 13 | Barrau, Aurélien: »… Et de l’unstruction«, in: ders./Jean-Luc Nancy, Dans quels mondes vivons-nous? Paris 2011, S. 105-153, hier: S. 143. [Alle Übersetzungen des Bandes: L.G.] 14 | Barrau, Aurélien/Nancy, Jean-Luc: »Préambule«, in: Barrau/Nancy, 2011, S. 11-20, hier: S. 15. 15 | Barrau, 2011, S. 143. 16 | »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können« (Kant, 1974, S. 13 [A XI, XII]).

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prägt hat. Multiversen sind dann der Ansatz, die »Dialektik von Einem und Ordnung«17 und damit den Anspruch des Universalismus auszusetzen. Aber von der Einheit zur Pluralität übergehen kann nicht einfach darin bestehen zu vervielfältigen, die Menge der diskreten Einheiten zu vergrößern (wie dies beispielsweise bei der »Multikulturalität« wiedergekäut wird). In einem solchen Übertrag oder in einer solchen Transformation sind es die Paradigmen des »Einen« und der Komposition oder Strukturierung von Einheiten, die aufs Spiel gesetzt werden.18

Multi- oder Pluriversen sind damit nichtstabile Einheiten, bevölkert von anderen stabilen Einheiten oder Essenzen (sie sind also nicht mehr Universen innerhalb eines großen Multiversums und auch nicht bloße Multiplizierungen), sondern Modalitäten in Transformation.19 Denn die vielen Pluriversen liegen nicht in einem fernen Nirgendwo, sondern dienen dazu, der scheinbaren Dichotomie aus Immanenz und (Quasi-)Transzendenz zu entkommen. Sie sind Beziehungsmodi zum Außer-sich-Sein, ohne auf eine Transzendenzfigur zu verweisen.20 Gleichzeitig sind sie Kontingenzfiguren, weil ihre Heterogenität, ihre Interdependenzen und ihre Verschachtelungen immer andere Konstellationen hervorbringen – weshalb ich, um ihrer Pluralität, die über die bloße Vielzahl diskreter Einheiten hinausgeht, Rechnung zu tragen, eben von Pluriversen spreche. Und insofern ist auch das, was wir ›Welt‹ nennen, bereits durchzogen von lauter Nanowelten, die sich wiederum berühren, überschneiden, voneinander entfernen.21 Wenn das Universum das Unendliche qua einheitlicher mathematischer Ordnung denkt, so handelt es sich bei dem, was hier mit den Multi-/Pluriversen vorgeschlagen wird, darum, ein Unendliches in der Vielheit von Modalitäten und Singularitäten zu denken sowie vor allem in der Unbegrenztheit ihrer Berührungspunkte. Auch wenn sich die vielen Luftballons zu Beginn von Untried Untested wie ein scheinbar veranschaulichendes Bild der Pluriversen ausnehmen, ist der eigentliche ›pluriversale‹ Moment jene minimale Kontaktaufnahme von Performerinnen und Materialien, also das Aufgreifen und Spielen mit den Ballons.

V ersuchsfelder der V er änderung Wenn Pluriversen Heterogenitäten beschreiben, die gefestigte Entitäten auflösen, so betrifft dies auch den Raum dieses Zusammentreffens selbst, also die Bühne in Untried Untested. Deren Ausgangsfläche wird zerrissen, doch der eigentliche Bühnenraum, die Black Box, und damit auch die Publikumssituation werden unangetastet gelassen. Die Spannung entsteht nunmehr durch die an dieser Arbeit deutlich sichtbare Trennung von einerseits einem topologischen Denken der Plu17 | Barrau, 2011, S. 143. 18 | Barrau/Nancy, 2011, S. 14. 19 | Martin, Jean-Clet: Plurivers. Essai sur la fin du monde. Paris 2010, S. 39. 20 | Nancy, Jean-Luc: »De la struction«, in: Barrau/Nancy, 2011, S. 79-104, hier: S. 91. 21 | Und diese sind, um Leibniz’ Diktum abzuwandeln, inkompossibel, während die »Welt« dergestalt kompossibel und frakturiert zugleich ist. Vgl. Martin, 2010, S. 119.

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riversen und andererseits einem Denken der Kritik, einerseits einem Modus der Erfahrung und Veränderung und andererseits einem Modus der evaluierenden Observation. Ich verbleibe zunächst noch auf der Ebene des Bühnengeschehens, des Veränderungs-Erfahrungsmodus, der Pluriversen: Untried Untested führt das Zusammenfügen neuer Konstellationen vor, ohne einen neuen Sockel der Identität zu bauen, ohne ein neues Fundament zu bilden. McIntosh eröffnet eine Veränderungspraxis des grundlosen Versuchens, welche auch diejenigen verändert, die sich ihr aussetzen. Untersuchtes Objekt und untersuchendes Subjekt verändern sich beide. Durch den Prozess der Kontaktaufnahme, der Berührung und der daraus resultierenden Zerstörung bzw. des Umfallens und später der Veränderung der Performerinnen durch ebenjenen Kontakt verschiebt Untried Untested die Perspektive darauf, wer überhaupt hier was testet: Mag es zunächst so scheinen, dass die Materialien ausprobiert werden, so stellt sich bald die Frage, ob nicht vielmehr die Performerinnen ›versucht‹ werden oder nicht vielmehr die je spezifische Bezugnahme zwischen Subjekt und Objekt selbst – wobei gerade die Subjekt-ObjektLogik umgangen wird. Denn durchaus interpretieren und gewichten die Performerinnen im Zugriff ihre Umwelt, jedoch wirkt diese Umwelt wiederum auf sie zurück. Während in Untried Untested also die scheinbar objektivierende Distanz zwischen Zuschauenden und Bühnengeschehen im Sinne der Grundkonstellation der Schauanordnung nicht verändert wird, wohnen die Zuschauenden dennoch einem Experimentierfeld bei, welches sich nicht auf die Ordnung eines Als-ob reduzieren ließe. Auf der Bühne wird die Möglichkeit anderer Kausalketten und Nachbarschaftsverhältnisse eröffnet, indem die Performerinnen versuchen, sich auf die Eigengesetzmäßigkeiten der Materialien einzulassen. Dabei vollziehen sie jedoch nicht den transzendierenden Schritt, das vermeintliche Objekt so zu behandeln, als ob es zum einzigen ordnungsstiftenden Gesetzgeber der Performance würde. Denn wie sich nunmehr wiederum rückblickend durch das, was mit den Performerinnen geschieht, auch wieder bezogen auf die Dinge sagen lässt, so erweisen sich auch diese bei all jenen Versuchen nicht als fixierte Entitäten, sondern als plastischen Mutationen unterworfene Materialitäten,22 welche sich aus ihrem bekannten Kontext lösen und gewissermaßen ›sich selbst‹ wie auch den Betrachtenden fremd werden (oder fremd werden können).

A ls - ob und Topologie : D istanz (losigkeit) McIntoshs Theaterabende dürften sich nicht auf den ersten Blick als Praktiken der Kritik erschließen. Doch damit kommt der Modus der evaluierenden Observation erneut ins Spiel, welcher in Untried Untested tatsächlich dem Publikum durch die nach wie vor intakte Bühnensituation ermöglicht wird. Ein eher installatives Bühnengeschehen der pluralen Eigenlogiken, Kollisionen und Verschiebungen der Pluriversen wird mit einem Testfeld für die Zuschauenden kombiniert, dessen Pointe darin liegt, dass sie im Modus der reflexiven Distanz eine Erfahrung beobachten 22 | Vgl. Malabou, Catherine: Plasticity at the Dusk of Writing: Dialectic, Destruction, Deconstruction. New York 2010, S. 78: »The mutability of beings is what opens a future in the absence of any openness of the world.«

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können, die nichts mit ebenjener reflexiven Distanz zu tun hat. So aber bleiben, überspitzt ausgedrückt, die Zuschauenden im universal-(quasi-)transzendentalen Modus der Kritik, welcher doch eigentlich gerade selbst auf dem Prüfstand steht. Doch ließe sich nun nicht letztlich auch der Sinnverschiebungszustand der Pluriversen wiederum kritisch wenden? Die Schwierigkeiten, die der Übergang einer Vorstellung vom einen Universum zu den vielen Pluriversen bereitet, hängt mit den immer noch wirkmächtigen Resten eines Konzepts von Theater zusammen, das den Schauplatz hervorhebt und intrinsisch mit dem urteilenden Beobachtermodus der Kritik verlinkt ist (häufig durch jene Vulgäretymologie, dass sich ›Theater‹ vom theatron als Bereich des Zuschauens ableite – ganz so, als handelte es sich hier um ein und denselben Begriff des Sehens). Simpel formuliert: Theater ermöglicht Kritik, weil es Zustände zur (ggf. unentscheidbaren) Evaluation ausstellt, so als ob diese in der Schauanlage einsichtig würden. So wird zwar ein transzendentales Denken abgelehnt, an der qua Schauanlage gegebenen kritischen Reflexionsmöglichkeit szenischer Kunst im Modus der Distanz jedoch festgehalten. Kants transzendentale Bedingung knüpft aber nicht zuletzt an eine optische Anlage an, selbst dort, wo diese in die symbolische Ordnung oder – wie bei Edmund Husserl als »transzendentale Subjekt-Objekt-Korrelation« – in ein transzendentales Ur-Ich übersetzt wird.23 Kritische Reflexion, Illusion, Alsob – dies sind allesamt Figuren eines auf einer distanzierten Bildlichkeit auf bauenden Modus, Reste jenes sonst oftmals als überholt bezeichneten Theaterbegriffes der Aufklärung, gewissermaßen Einschlüsse verfestigter Kontingenzen, nicht aber transhistorische ontologische Bedingtheiten. Diese bildhaften Kategorien der Kritik finden sich nun als Residuen auch in den Positionen des Postfundamentalismus wieder, wie sie etwa Michel Foucault oder Judith Butler in ihren vielzitierten Aufsätzen zur Kritik vertreten. Foucault wie Butler insistieren mit Nietzsches »regulativer Fiktion« auf einem Diesseits der Kritik, welches den kantischen Modus des Als-ob aufgreift.24 Kritik bedeutet dann das Sprechen ohne jegliche gesicherte Grundlage, aber mit dem Mut der Setzung, als ob es eine Grundlage gäbe, was nach Butler dem Subjekt die Möglichkeit einer »kritischen Distanz« eröffnet.25 Pluriversen sind demgegenüber topologische Gefüge, »distanzlose Konstellationen«, sie beschreiben das undistanzierbare Eingebundensein in einen niemals fixierten und immer erst zu schaffenden Grund zwischen Menschen, Dingen etc., der auch nicht beschrieben werden kann, als ob man ihn überschauen könnte, da 23 | Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg 2012, S. 196. Husserl löst den von ihm entdeckten Widerspruch, Subjekt in wie auch Objekt für die Welt zu sein, in einem kantischen Schritt auf: Die Welt wird zum rein funktionalen, d.h. letztlich unbegründeten »Boden«, während »das absolute einzige letztlich fungierende Ego« den transzendentalen letzten Grund liefert (ebd., S. 203ff.). 24 | Foucault, Michel: »Was ist Kritik?«, in: ders., Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Berlin 2010, S. 237-257. Diese postfundamentale Position eines Wissens um die Fiktion bei gleichzeitigem Festhalten an (verschiedenen) Fiktionen, bedeutet aber demnach eben auch einen fortbestehenden Bezug zum kritischen Horizont. Es wäre dann die Frage, wie in diesem nicht mehr geurteilt würde, oder genauer: wie sich suchen ließe nach einem »Urteil, das weder bestimmend noch reflektierend/ästhetisch (als-ob) ist« (Nancy, 2003, S. 67). 25 | Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt 2009, S. 221-247, hier: S. 243.

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dieser Modus nicht mehr gegenüber einer Welt stattfindet und auch nicht mehr als ein In-der-Welt-Sein, sondern immer schon als ununterscheidbarer Teil pluraler Welten. Topologische Gefüge kennen im Gegensatz zu den neuzeitlichen Instanzen des distanzierenden Bildes, zu dem das kritische Diszernieren gehört, keinen Modus des Als-ob.26

E ntfremdung und P r a xis der K ritik Schließen sich damit die beiden Modi Kritik/Distanz und Pluriversen/Pluralität/ Topologien aus? Wenn die Pluriversen eine Sinnverschiebung beschreiben, so ist diese letztlich schon innerhalb des Kritikbegriffes angelegt, worauf nicht zuletzt eben Foucault und Butler hinweisen, die neben dem Modus der distanzierten Betrachtung ebenso den topologischen Modus beschreiben. So spricht Butler zwar auch im englischen Original ihres Essays von der »distance« – Foucault hingegen benutzt diesen Terminus überhaupt nicht, führt aber mehrfach die Notwendigkeit der Herstellung einer reflexiven Vorstellung unserer selbst aus. Zugleich erwähnt Butler die Notwendigkeit und das Risiko, in der Kritik »seine Selbstförmigkeit als Subjekt aufs Spiel setzen«27, und Foucault nennt diese Kritik explizit einen »philosophischen ethos« und eine »experimentelle Haltung«28. Mein Vorschlag mit und gegen Foucault und Butler wäre es nun, diese »Distanz« aus ihrer Nähe zur Distanz, die das universelle Subjekt à la Kant zu sich selbst hat, zu befreien. Kurz: Handelt es sich bei der »kritischen Distanz« Butlers, bei der Praktik der Kritik einer Entunterwerfung nicht viel weniger um eine Distanz als vielmehr um eine Entfremdung, eine alienation? Vielleicht lohnt es, das Spannungsfeld von kritischem und topologischem Modus, von notwendigen Residuen eines universalen und (quasi-)transzendentalen Denkens gegenüber einem pluriversalen Eingebundensein nicht gleich aufzugeben. Für Nancy und Barrau liegt die politische Aufgabe eines Denkens, das der Pluralität Rechnung tragen möchte, nicht darin, dem Chaos eine neue Ordnung oder Gründung gegenüberzustellen, sondern vielmehr darin, sich auf selbiges einzulassen, sich »ins Chaos zu versenken«29, ganz so, wie es die Performerinnen in Untried Untested tun, indem sie die Ränder der symbolischen Ordnung des geordneten Weltverstehens austesten, ›an den Dingen lauschen‹ und dabei gemäß des 26 | Vgl. Haß, Ulrike: »While We Were Holding It Together: Das Reale einer Illusion«, Vortrag, gehalten auf der Tagung To Do As If – Realitäten der Illusion im zeitgenössischen Theater, Gießen, 6. Juli 2012. 27 | Butler, 2009, S. 244. Als problematisch ist Butlers Rede anzusehen, das Subjekt würde so »seine Grenzen überschreiten«. Angesichts expansiver Akkumulationslogiken im Weltinnenraum würde ich eher vorschlagen, vielmehr die je gegebenen Grenzen zu umspielen, zu verzweigen und zu destabilisieren. 28 | Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Bd. 4: 1980-1988. Frankfurt 2005, S. 687-707, hier: S. 702. Auch Foucault bleibt dabei teilweise der Überschreitungslogik verhaftet. Anstelle des Verweilens an den Grenzen der Erkenntnis (Kant) und des Überschreitens der Grenzen der Macht (Foucault und Butler) plädiere ich also für das Zersetzen und Verwirren jedweder Grenze. 29 | Barrau, 2011, S. 129ff.

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Titels des Abends nicht mehr ein Testen, sondern eben einen Zustand des ungetesteten Untried zulassen – eine distanzlose, »intraaktive«30 Kritik, die nicht mehr evaluierend austestet, sondern sich entfremdend auf die Probe stellen lässt. Diese Aktualität aber darzustellen, zu erkennen und die anderen Kant’schen Fragen, also: ›Was geschieht? Wo stehen wir heute?‹, in Differenz zu anderen Zeiten überhaupt artikulieren zu können, scheint zumindest in Untried Untested nach wie vor an eine distanzierte Bühnensituation gebunden zu sein. Oder: Es scheint, als ob wir uns Pluriversen anschauen könnten. Pluriversen wurden als eine Option eines Widerspruches angeführt, also eine Kritik als Unterbrechung, dort, wo inkommensurable Eigenlogiken und Veränderungen innerhalb des scheinbar einheitlichen Ordnungssystems auftauchen. Ich verstehe sie als wandelbare Gegenentwürfe zu den neuen Figuren der Eigentlichkeit, die wir verstärkt in dem reaktiven Antagonismus finden, den die sogenannte Neue Rechte dieser Tage gegen all das führt, was eine vermeintlich unauthentische Moderne ausmacht. Nun behandelt Untried Untested nicht die politischen Wirrungen, die sich ergeben, wenn eine Kritik am Rationalismus ersetzt wird durch eine Propagierung von entweder der Behauptung einer Rückkehr zum ›Wirklichen‹ oder einem völligen Relativismus. McIntoshs Arbeit stellt dagegen die Verfasstheit eines nie ganz auflösbaren Widerstreits aus und markiert so einen Übergang: von der kritischen Distanz (einer Theatersituation) zwischen evaluierendem Subjekt und betrachtetem Objekt zu einer kritischen Entfremdung im Sinne eines ununterscheidbaren Involviert- und Verändertseins.31 Und egal, was die Erkenntnisse ständiger Versuchsanordnungen sein mögen, kein Resultat befreit von der Frage, wie mit diesem umzugehen sei. Gegen Ende der ›dritten Kritik‹ erörtert Kant, dass es angesichts der fehlenden Letztbegründung der Natur ein allwissendes »Urwesen« geben müsse, welches »die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen« bedingt: Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen, und gründet allererst eine Theologie, da die letztere, wenn sie nicht unbemerkt aus der ersteren borgte, sondern konsequent verfahren sollte, für sich allein nichts als eine Dämonologie, welche keines bestimmten Begriffs fähig, begründen könnte. 32

Weit davon entfernt, einen neuen Empirismus und eine Allgemeingültigkeit zu propagieren, aber auch davon, Weltverhältnisse als arbiträr darzustellen, sucht Untried Untested ein neues Engagement und grundloses Verstehen als Lernprozess am Material. Wo Kant aus Angst vor den Dämonen der Empirie eine Letztbegründung der Welt auf Basis ihrer theologisch fundierten Überschaubarkeit zugunsten der Moral propagiert, zeigt McIntoshs Projekt im Lichte eines kritischen Kontingenzbewusstseins (der Abwesenheit einer moralischen, teleologischen und theo30 | Vgl. zu diesem Begriff: Barad, Karen: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken. Berlin 2012. 31 | Dies erinnert nicht von ungefähr an Donna Haraways Ansatz des ›situierten Wissens‹ und spezifischer noch mit Blick auf den Veränderungsprozess der Performerinnen an den von Haraway erläuterten Prozess eines ›tentakulären Denkens‹. Vgl. Haraway, Donna: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham/London 2016, u.a. 32 | Kant, 2009, § 86, S. 372f.

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logischen Ordnung der Welt) die Ethik der Veränderbarkeit als verfremdenden Versuch der Entunterwerfung. Denn ob in den anderen Welten Dämonen lauern oder diese nicht auch nur eine anthropomorphe Projektion darstellen, dazu lassen sich, ohne in Animismus zu verfallen, zunächst einmal Steine, Seile, Federn, Ballons oder Mücken befragen.

Postfundamentalistische Kritik – ein romantisches Projekt? Über (Un-)Möglichkeiten emanzipatorischen Theaters am Beispiel von René Pollesch Andreas Tobler

Auf der Bühne meiner Theatererinnerungen wiederholt sich seit einiger Zeit eine Szene, die mir zentral scheint, wenn es um die Frage gehen soll, welche spezifischen Möglichkeiten eine postfundamentalistische Kritik hat – bezogen auf Theater als Ort der schweren Körper, der realen Versammlung und der geteilten Zeit. Mit »postfundamentalistischer Kritik« soll dabei auf Möglichkeiten einer Kritik fokussiert werden, die von kontingenten Fundamenten ausgeht und die deshalb stabile Grundlagen wie ein kohärentes Subjekt verwirft. Mit dieser Form der Kritik, deren Bedingungen von Judith Butler entscheidend formuliert wurden, geht das Versprechen einher, es sei möglich, sich von allen Zwängen freizumachen, und dass letztlich alles anders sein könnte.1 Ob und unter welchen Bedingungen dieses Versprechen bezogen auf Theater, dessen zeitlich-räumliche Konkretheit und die Materialität der Körper eingelöst werden kann, soll im folgenden am Beispiel von René Pollesch untersucht werden, der mit seinen Stücken von dem befreien will, was reguliert oder gar nicht zu leben ist. Dazu gehören für Pollesch der Glaube an die absolute Liebe, der Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung oder der Wunsch nach dem perfekten Tag. All das wird in Polleschs Stücken als normierende ›Erfindungen‹ verworfen. »Warum gibt es für uns den perfekten Tag? Warum glauben wir an die Erfindungen? […] Warum wollen wir uns auf das alles verlassen?«, fragt der Schauspieler Fabian Hinrichs in Der perfekte Tag, einem Pollesch-Stück aus dem Jahr 2010.2 Vielleicht glauben wir ja nur an ihn, weil Lou Reed in seinem gleichnamigen Song den »Perfect Day«3 besang?

1 | Vgl. Butler, Judith: »Kontingente Grundlagen«, in: Seyla Benhabib et al. (Hg.), Der Streit um die Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1993, S. 31-58. 2 | Pollesch, René: Der perfekte Tag, in: ders., Kill Your Darlings. Stücke. Hg. v. Nils Tabert. Reinbek bei Hamburg 2014, S. 111-144, hier: S. 123. 3 | Reed, Lou: »Perfect Day«, in: ders., Pass Thru Fire. The Collected Lyrics. New York 2000, S. 121.

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Die Szene, die sich bei der Frage nach den Möglichkeiten einer postfundamentalistischen Kritik auf meiner Kopf bühne wiederholt, stammt jedoch aus einem anderen Stück als Polleschs Der perfekte Tag und kam 2011 unter dem Titel Die Liebe zum Nochniedagewesenen am Wiener Akademietheater zur Uraufführung. Darin wandte sich der Schauspieler Martin Wuttke ganz am Ende mit den Worten ans Publikum, er werde nun auf Wunsch des Autors den »Text schlechthin« vortragen, der sich fundamental von allen anderen Texten unterscheide. »Sie werden, nachdem Sie ihn gehört haben, nicht denken: ›Ja, so kann man das auch sehen.‹ Oder: ›Interessant, so hab ich das noch nie gesehen, aber der Text von Herrn Sowieso gestern hat mich auch auf andere Gedanken gebracht.‹ Nein!«, sagt Wuttke. Nach dem Text, den er nun gleich zum Vortrag bringe, gebe es »keine weiteren und keine anderen Gedanken« mehr. »Andere Gedanken sind Meinungen. Und das ist der Text, den ich auf Wunsch des Autors gleich vortragen werde, ausdrücklich nicht.« Als »Text schlechthin« werde er vielmehr dafür sorgen, dass wir nach seinem Verklingen »jede Meinungskultur« losgeworden sind. »Anschließend«, so Wuttke weiter, »werde ich meine eigenen Gedichte vortragen, die sich sehr kritisch mit der Wirtschaft auseinandersetzen.«4 Bemerkenswert an dieser Schlussszene scheint mir zunächst, dass hier in Form einer Parodie Kritik an einem bestimmten Gestus von totalisierender Gesellschaftskritik geübt wird, mit dem das Publikum so oft in gutgemeinten Formen politischen Theaters konfrontiert wird und der in Polleschs Liebe zum Nochniedagewesenen mit dem Kollektivsingular »die Wirtschaft« und dem »Text schlechthin« zur Kenntlichkeit entstellt wird. Pointiert Stellung genommen wird auch zum hohlen Versprechen einer universalistischen Kritik, dass durch sie grundlegende Veränderungen, sich gar revolutionäre Umbrüche ereignen können. Und dies, obwohl ein Blick in die Theatergeschichte offenbart, dass solche ereignishaften Momente sehr selten sind, daher als unwahrscheinlich angesehen werden müssen. Auf Martin Wuttkes Ankündigung des »Textes schlechthin« folgt bei Pollesch denn auch nichts anderes als ein langes Schweigen. Bemerkenswert ist die Schlussszene aus Die Liebe zum Nochniedagewesenen nicht zuletzt deshalb, weil in der Verwerfung einer herkömmlichen Kritik sowohl explizit wie auch ex negativo Konturen einer alternativen Kritik skizziert werden. Diese ist nicht mit einer Meinung identisch und widersetzt sich einem normativen oder totalisierenden Universalismus, wozu insbesondere das gehört, was als Konsens identifiziert wird (in der beschriebenen Szene die Kritik an »der Wirtschaft«). Diese beiden Elemente einer Alternative bestimmen auch den Grundgestus einer postfundamentalistischen Kritik, für die der Verweis auf die Kant’sche Vernunft, eine Moral, den Kapitalismus oder eine andere Letztbegründung nicht ausreicht. Mit Judith Butler ist eine postfundamentalistische Kritik als eine »Operation« zu verstehen, die mit den Fragen »Mit welchem Recht?« und »Mit welchen Mitteln?« die Fundamente hinterfragt, was in einer selbstreferentiellen Volte selbstverständlich auch die Annahmen und die Legitimität einer postfundamentalistischen Kritik miteinschließt.5 Es muss daher auch möglich sein, Pollesch gegen Pollesch zu wenden und die Frage aufzuwerfen, mit welchem Recht und welchen Mitteln sein 4 | Pollesch, René: Die Liebe zum Nochniedagewesenen. Unveröffentlichtes Manuskript, Premierenfassung v. 7. Dez. 2011, S. 33f. 5 | Butler, Judith: Kritik, Dissens, Disziplinarität. Zürich 2011, S. 9 u. 28.

Postfundamentalistische Kritik – ein romantisches Projekt?

Theater Kritik übt, wie darin Zwänge abgelegt und wie in emanzipatorischer Hinsicht Spielräume eröffnet werden, die es ohne dieses kritische Theater so nicht geben würde. Was die Frage nach den Mitteln und ihrer Verwendung anbelangt, so lässt sich diese mit Verweis auf die Tradition beantworten, die der Historiker Philipp Felsch jüngst in seinem Buch über den »langen Sommer der Theorie« herausgearbeitet hat.6 Mit der Geschichte der Gattung »Theorie« fokussiert Felsch auf eine spezifische Gebrauchsweise von abstrakten und/oder komplexen Texten, die von ihrer Leserschaft zur kritischen Deutung ihrer alltäglichen Lebensverhältnisse genutzt werden. Theorie wird demnach als Orientierungshilfe und Instrument der Kritik genutzt – in einer komplexen, oftmals verwirrenden und undurchschaubaren Wirklichkeit, die zur Interpretation und zum Widerspruch zugleich herausfordert. In dieser Tradition lässt sich René Polleschs Theater situieren: »Wo sind wir hier?«, »Was ist das hier?«, »Ich habe keine Ahnung, was das hier ist« – sind Fragen und Sätze, mit denen Pollesch-Stücke in den vergangenen beiden Jahrzehnten wiederholt eröffneten. Seine Inszenierungen können also als Orientierungswerke verstanden werden, in denen Theorien als »Sehhilfen für die Wirklichkeit« verwendet werden, wie Pollesch wiederholt mit Bezug auf Donna Haraway erklärt, die in einem ihrer Essays von »sighting devices« 7 spricht: Mit den Theorien als Sehhilfen können die unsichtbaren Befehle erkannt werden, denen wir unterliegen – wie in John Carpenters Science-Fiction-Film They Live! (1988), wo Sonnenbrillen gefunden werden, mit denen ihre Träger Botschaften wie »Gehorche!« oder »Das ist Dein Gott« erkennen können, die sonst unsichtbar hinter Plakatwänden, Produkten oder Dollarnoten sich verbergen. In Polleschs Stücken werden theoretische Texte aber nicht nur als »sighting devices«, sondern zugleich auch – und wiederum mit Donna Haraway – als Situierungswerkzeuge (»siting devices«)8 genutzt, ergo auf die konkrete Situation bezogen, in der sich Publikum und Spieler*innen während der Dauer der Aufführung befinden. Theorien werden also als Instrumente der Reflexion und Kritik der eigenen Praxis genutzt. Etwa dann, wenn in Polleschs Fahrende Frauen über die Rampe des Zürcher Schauspielhauses hinweg behauptet wird, die »da unten« – gemeint sind die Zuschauer im Parkett – seien nur deshalb ins Pfauentheater gekommen, weil sie sehen wollten, wie das »hier oben« auf der Bühne mit der Kreativität funktioniert, da sich letztere in eine kapitalistische Verwertungslogik überführen lasse. Zumindest, wenn man der Theorie von Andreas Reckwitz folgt, die in Fahrende Frauen auf die konkrete Situation des Theaters bezogen wird.9 »Da unten sitzt doch nur ein kreativer Angestellter von Nestlé, der darauf wartet, dass ich ihm ein 6 | Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. München 2015. 7 | Haraway, Donna: »Monströse Versprechen. Eine Erneuerungspolitik für un/an/geeignete Andere«, in: dies., Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays. Hamburg 2017, S. 35-123, hier: S. 36. 8 | Ebd., S. 36. 9 | Vgl. Reckwitz, Andreas: »Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse. Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativsubjekts«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus (= Kaleidogramme 67). Berlin 2010, S. 98-117.

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kreatives Selbst vortanze«, sagt in Polleschs Fahrende Frauen die Schauspielerin Lilith Stangenberg. »Und zwar ohne die Autonomie, die das mal hatte, sondern total diszipliniert.«10 In Abgrenzung zu einem Universalismus wird bei Pollesch also mit den Theorien als Sehwerkzeugen eine Verschiebung von einer globalen hin zu einer lokalen Kritik vollzogen.11 Damit einher geht ein Abschied von einer »Kritik, der sich alles unterwerfen muss«, wie es bei Kant heißt12, wie auch vom Glauben abgefallen wird, dass aufklärerische Kritik eine grundstürzende Kraft zukommt, welche Revolutionen oder den »Tod des Königs« herbeiführen kann, wie dies Reinhart Koselleck in seiner Studie zu »Kritik und Krise« annahm.13 »Theorie ist etwas, was man nicht sieht«, heißt es in Hans Blumenbergs Essay Das Lachen der Thrakerin, der gemäß Untertitel eine »Urgeschichte der Theorie« sein soll.14 Stellt man die Frage nach der Wirksamkeit und Legitimität einer Kritik, mit der bei Pollesch mit theoretischen Seh- und Situierungswerkzeugen die unsichtbaren Befehle entlarvt und entmächtigt werden sollen, spielt gerade die sinnlich wahrnehmbare Evidenz eine entscheidende Rolle: Mit Rückgriff auf Pascals Sentenz »Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben!«, die in Louis Althussers Materialismus-Konzeption eine zentrale Rolle spielt, wird in Polleschs Stücken das Körperliche in den Vordergrund gerückt. »Es gibt hier nichts zu bereden und nichts mitzuteilen als Körper, Körper, Körper«, heißt es in Schmeiss dein Ego weg!15. Aber immer werde ignoriert, »dass die Körper bei der Sache sind«, fügt der Schauspieler Jirka Zett in Macht es für euch!16 hinzu. Anders bei Pollesch: Von ihm werden theoretische Texte als etwas verstanden, das in der Lage ist, »die Schauspieler auf der Bühne zu bewegen, weil er [der Text] Dinge beinhaltet, die einen Körper in Gang setzen. Nur darum ist er wichtig für die Spieler. Er dient als Motor«, heißt es in einem Interview mit Pollesch.17 Sichtbar ist der hier formulierte Anspruch in Inszenierungen wie Polleschs Macht es für euch!, in der das Ensemble sich im Liegen und mit geschlossenen Augen die Stufen einer großen Freitreppe ganz langsam hochbewegt – sinnigerweise zu Louis Armstrongs »We Have All the Time in the World«. Eine Szene, die vom Schauspieler Jirka Zett mit den Worten

10 | Pollesch, René: Fahrende Frauen, in: ders., Kill Your Darlings. Stücke. Hg. v. Nils Tabert. Reinbek bei Hamburg 2014, S. 227-283, hier: S. 272. 11 | Vgl. dazu Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976). Aus d. Französ. v. Michaela Ott. Frankfurt a.M. 1999, S. 14. 12 | KrV A, XI. 13 | Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der Welt. Frankfurt a.M. 1973. 14 | Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt a.M. 1987, S. 9. 15 | Pollesch, René: Schmeiss dein Ego weg!, in: ders., Kill Your Darlings. Stücke. Hg. v. Nils Tabert. Reinbek bei Hamburg 2014, S. 191-225, hier: S. 195. 16 | Pollesch, René: Macht es für euch! Unveröffentlichtes Manuskript, Premierenfassung vom 18. Dez. 2012, S. 22. 17 | Pollesch, René: »Die Volksbühne als Haus des Dritten«, in: Frank Raddatz (Hg.), Republik Castorf. Die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz seit 1992. Berlin 2016, S. 277-301, hier: S. 278.

Postfundamentalistische Kritik – ein romantisches Projekt?

kommentiert wird, einer von ihnen habe »den Job«, weil er sich erfolgreich »hochgeschlafen« hat.18 Wie in dieser Treppenszene, in der die Spieler die topologische Metapher des »Hochschlafens« ins Konkrete überführen und zugleich zur Kenntlichkeit entstellen, wird auch in anderen Szenen von Pollesch-Stücken die sinnlich wahrnehmbare Evidenz zu einem Wahrheitskriterium: Sie kann nicht nur demonstrieren, wie ein Übertrag der Theorie in die Praxis möglich ist, sie kann auch eine Wirksamkeit belegen, wenn sie sichtbar wie in Macht es für euch! als »Motor« der Spieler*innen dient. Aber obwohl die Programmhefte zu Polleschs Produktionen oftmals ein Quellenverzeichnis enthalten, sind es nicht die Theorien und ihr Nachweis, welche Kritik autorisieren. In der fußnotenfreien Zone des Theaters ist es vielmehr die sinnliche Wahrnehmbarkeit, welche die aus der Theorie gewonnene Kritik autorisiert und auch legitimiert. Dabei dominiert die Theorie in Polleschs Theater nie vollständig die Situation, so wenig wie sie von den Protagonistinnen verkörpert wird. Vielmehr wird die Theorie bei Pollesch immer als etwas Inkongruentes, als etwas Fremdes oder gar Befremdliches erkennbar. Besonders deutlich wird dies, wenn das Publikum bei wörtlichen Übernahmen von komplexen Formulierungen aus theoretischen Texten lacht – oder wenn Polleschs Spieler*innen angesichts des hochgetriebenen Sprechtempos und der Komplexität der Texte wiederholt in ein »verbale[s] Stolpern«19 geraten, wie dies Gerald Siegmund so treffend formuliert hat. Dieses Stolpern und Aussetzen im Text, mit dem bei Pollesch stets gerechnet wird (die auf der Bühne anwesende Souffleuse macht dies deutlich), entspricht einer konsequenten Abwendung von einer psychologisch-realistischen Theatertradition, in der es spätestens seit Lessing darum geht, dass der Text »ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoß, in einem ungebrochenen Flusse der Worte mit einer Leichtigkeit gesprochen«20 wird. Die verbalen Stolperer bei Pollesch dürfen aber nicht als etwas Defizitäres verstanden werden. So wenig, wie die Abkehr von einer vollständigen Einverleibung und Verkörperung bloß als emanzipatorische Volte gegen die Konventionen und Zwänge des psychologisch-realistischen Theaters gewertet werden dürfen. Vielmehr wird bei Pollesch mit jedem Aussetzer die »Korporealität« (Roland Barthes) des Sprechakts in den Vordergrund gerückt und zugleich auch die Disposition eines instabilen Subjekts wahrnehmbar, das sich in der Anwendung einer Theorie auf die konkrete Situation einem Gedanken und seiner Formulierung unterwirft. Wobei diese Unterwerfung eine Bedingung ist, um als kritisches Subjekt überhaupt operativ gegenüber Disziplinierungen sein zu können, die als Zwang empfunden werden. Die scheinbare Paradoxie, die sich hier ergibt, dass sich das Subjekt einer postfundamentalistischen Theorie unterwerfen muss, um sich den Zwängen zu widersetzen, lässt sich auflösen, wenn man bedenkt, dass es nicht verordnete Gedanken, sondern frei gewählte Ideen sind, denen sich das Subjekt in der Entunterwerfung unterwirft. Und dass diese Unterwerfung

18 | Pollesch, 2012, S. 28f. 19 | Siegmund, Gerald: »Der Skandal des Körpers. Zum Verhältnis von Körper und Sprache in der Farce von Feydeau und René Pollesch«, in: Hilde Haider-Pregler u.a. (Hg.), Komik. Ästhetik – Theorien – Strategien. Wien u.a. 2006, S. 249-262, hier: S. 259. 20 | Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, in: ders., Werke und Briefe. Hg. v. Wilfried Barner. Bd. 6. Frankfurt a.M. 1985, S. 181-694, hier: S. 197.

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im Widerstand gegen die Zwänge nie vollständig vollzogen wird, wie jeder Stolperer deutlich macht. Mit dem Moment der instabilen Unterwerfung emanzipiert sich Polleschs Theater nicht zuletzt von der Idee eines heroisch-souveränen Subjekts, das sich von der Fiktion nährt, es könnte sich von aller Macht freimachen, denn damit verkäme die postfundamentalistische Kritik tatsächlich zu einem romantischen Projekt. In der Perspektive einer postfundamentalistischen Kritik kann es denn auch nicht um eine Verwerfung aller Grundlagen gehen, was als absolute Freiheit erlebt werden könnte. Wenn unter Rückgriff auf das Moment der Transgression von einer Aus-Setzung sämtlicher Normen und Regeln die Rede ist, dann ist dies – wie Nikolaus MüllerSchöll hervorgehoben hat – letztlich wohl nur als Fiktion möglich.21 Im Theater als Ort in der Realität ist der Gestus der postfundamentalistischen Kritik von der Bemühung bestimmt, normierende Instanzen von ihrem »›fundamentalisierenden‹ Gewicht« zu entlasten.22 Denn wie Judith Butler deutlich gemacht hat, verfügt niemand über die Möglichkeit, die Idee einer »ursprünglichen Freiheit«23 zu erreichen, so wenig wie es eine Position gibt, die alle Grundlagen verwirft und sich selbst »jenseits des Machtspiels« (play of power) verorten und so versuchen könnte, von einem archimedischen Punkt aus »eine Verhandlung über die Machtverhältnisse«24 zu führen. Mit Michel Foucault muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass jede Situation, jeder Vorgang, jedes Subjekt von Macht durchwirkt ist. Und dass wir nur dank Macht operativ sind. So ist es letztlich auch nicht möglich, einen Raum zu erschaffen, in dem eine totale Egalität vorherrscht, auch wenn sich diese Utopie hartnäckig hält, etwa dann, wenn mit Verweis auf die basal-elementaren Momente von Theater, beispielsweise mit Peter Brooks Vorstellung des »leeren Raums«25 oder mit Nicolas Bourriauds Skizzen zu einer relationalen Ästhetik, Nullpunktfiktionen beschworen werden, die alles möglich machen sollen (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc.), was in einer emanzipatorischer Perspektive gewünscht werden kann.26 »Der leere Raum kann nichts«, heißt es als Kommentar dazu in Polleschs Stück Der General27. »Was hat Macht über uns«, fragen die Spieler*innen von Macht es für euch!28. Polleschs Theater verleugnet also nicht, dass alles von Macht durchwirkt ist; sie kann als Bedingung verstanden werden, die der postfundamentalistischen Kritik vorangeht und sie zugleich bestimmt.29 Pollesch wendet die Macht aber in etwas Positives, wenn er im »play of power«30 den Akzent auf das Spiel legt: Auf seinen 21 | Müller-Schöll, Nikolaus: »Die Fiktion der Kritik«, in: Theater heute 57 (2016), Nr. 11, S. 28-31. 22 | Butler, 1993, S. 37. 23 | Foucault, 1992, S. 53. 24 | Ebd., S. 36. 25 | Brook, Peter: The Empty Space. London 1968. 26 | Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationnelle. Dijon 1998. 27 | Der General von René Pollesch. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Großes Haus. Premiere: 22. Mai 2013, besuchte Vorstellung: 8. Juni 2013. 28 | Pollesch, 2012, S. 9. 29 | Vgl. Butler, 1993, S. 36. 30 | Butler, Judith: »Contingent Foundations: Feminism and the Question of ›Postmodernism‹«, in: dies./Joan Wallach Scott (Hg.), Feminists Theorize the Political. New York/London 1992, S. 3-21, hier: S. 6.

Postfundamentalistische Kritik – ein romantisches Projekt?

Bühnen kommt es zu einer Erspielung oder gar Einspielung von theoretischen Positionen. Dazu gehört auch die Theorie des Spiels, die Pollesch in Macht es für euch! von Robert Pfaller übernimmt, der wiederum auf Georges Batailles Lektüre von Johan Huizingas Homo ludens auf baut.31 Diesen Lektüren zufolge wird das Spiel von starken Affekten bestimmt, zu denen sowohl die Begeisterung (bis hin zur Ekstase) wie auch die Verachtung für das Spiel gehören, denn es handelt sich ja ›nur‹ um ein Spiel. Aus dieser Engführung von gegenläufigen Intensitäten – von reflektierter Distanziertheit und affektiver Involvierung – entsteht eine Form von Souveränität im emanzipatorischen Sinne, die sich auch bei Pollesch wiederfindet und die Kraft hat, sich – wie dies Bataille in seiner Huizinga-Lektüre annahm – im körperlichen Spiel den Zwängen zu widersetzen. Aber nur, wenn im Spiel die vollständige Identität verhindert wird, gerinnt eine theoretische Position nicht zu einer starren Ideologie oder autoritären Rede – und kann auf der Bühne im Sinne einer postfundamentalistischen Kritik gegen Zwänge Widerstand geleistet und das Potential genutzt werden, das aus der Einsicht in die Kontingenz (alles könnte anders sein) resultiert. Das Ein- und Erspielen von theoretischen Positionen, mit denen gegen die identifizierten ›Befehle‹ angespielt wird, wie auch die damit verbundene Freiheit sind als etwas Ephemeres zu verstehen, das stets wieder erneuert werden muss. »Wenn man aufhört zu spielen, ist alles weg«, heißt es in Polleschs Macht es für euch!32 . Die Erspielung von Situationen mit der Theorie geht auch immer einher mit einer Verspielung von Alternativen, die von den Spielern genutzt werden könnten – aber nicht in diesem einen Moment. Es gelingt in actu also nie die totale Freiheit, aber sehr wohl die Eroberung von Spielräumen, die es ohne die postfundamentalistische Kritik und das Spiel mit den Theorien so nicht gegeben hätte. Dieses Verständnis von Spiel als Kritik widersetzt sich einer gewissen tragischen Schicksalhaftigkeit, wie sie insbesondere Christoph Menke in seinem Buch über die »Gegenwart der Tragödie« in den Vordergrund gerückt hat: Bei Menke finden wir die Ansicht, dass Theaterspiel »kein Modell für das Handeln wirklicher Personen«33 darstellt. Und dass es sich zudem auch nicht »gegen den Ernst praktischer Zweckorientierung durchzusetzen vermag«34. Begründet wird diese Auffassung von Menke mit einer Entgegensetzung von Spiel und Urteil: Während im regellosen Spiel des Theaters alles möglich scheint, urteilt ein Handelnder, »dass es so ist und er deshalb dieses, nur dieses, tun muss«35. Gegen Menkes Argumente würde ich gerne die Ansicht stark machen, dass Schauspieler*innen, die eine Kritik an Theaterpraxis üben – wie etwa in Polleschs Fahrende Frauen –, sehr wohl als »wirkliche« und real-handelnde Personen verstanden werden können: Sie beziehen sich in ihrer Kritik auf eine konkrete Praxis, nämlich ihre eigene als Schauspie31 | Pfaller, Robert: »Die Komödie und der Materialismus«, in: ders. (Hg.), Schluss mit der Komödie! Zur schleichenden Vorherrschaft des Tragischen in unserer Kultur. Wien 2005, S. 105-140; Bataille, Georges: »Spiel und Ernst«, in: ders., Die Aufhebung der Ökonomie. 3., erw. Aufl. München 2001, S. 303-338, hier: S. 305f. 32 | Pollesch, 2012, S. 10. 33 | Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a.M. 2005, S. 142. 34 | Ebd., S. 145. 35 | Ebd., S. 146.

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ler*innen. Nicht nur reflexiv wie in Fahrende Frauen, sondern immer wieder konkret, wenn aus körperlichen Bewegungen heraus Theaterwirklichkeiten entstehen, die als Entlastung von Normen und Zwängen verstanden werden können. Wenn man abschließend einige resümierende Thesen formulieren möchte, die über den Bühnenraum hinausweisen, so könnte Polleschs Theorietheater auch als ein Laboratorium beschrieben werden, in dem die Bedingungen postfundamentalistischer Kritik reflektiert werden können. Und zwar nicht in einer gedanklichen Abstraktion, sondern konkretisiert in einer Praxis – oder als »thätige Reflexion«, um hier die berühmte Theaterdefinition des Novalis zu zitieren.36 Ein Laboratorium namens Theorietheater stößt uns darauf, dass postfundamentalistische Kritik nicht nur auf ein stabiles Subjekt verzichtet, sondern in ihrer Konkretion auch einen »Zeitkern« aufweist. Als Praxis gewinnt sie nur durch Situierung und nicht durch Totalisierung ihre Kraft; sie ist stets in den gegenläufigen Tendenzen von affirmativer Einspielung und negativer Verspielung begriffen, deren errungene Freiheit zudem ephemer ist. Man könnte also sagen, dass postfundamentalistische Kritik als Theaterpraxis notwendigerweise ihre zeitliche und lokale Beschränkung qua Reflexion transparent machen müsste – und dass sie sich nur in einem konkreten Ort und in einer bestimmten Zeit legitimieren kann.37 Ohne beides – den konkreten Ort und Zeit – ist Theater nicht möglich. Das macht die Bühne zu einem ›power point‹ einer postfundamentalistischen Kritik – ausgehend von kontingenten Fundamenten, die Polleschs Theorietheater ins Spiel bringt, also der Annahme, dass alles anders sein könnte. Auch die eigenen Annahmen, die diese Theaterform in einer selbstkritischen Volte wiederholt verspielt und verspielen muss.

36 | Novalis: »Aus den Fragmenten und Studien 1799/1800«, in: ders., Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2. München/Wien 1978, S. 751-848, hier: S. 836. 37 | Darauf hat bereits Butler hingewiesen: »Sie [die postfundamentalistische Kritik] stellt das Fundament in Frage, auf dem an bestimmten Forderungen nach Legitimität festgehalten wird, und sie besteht auf einer Zeit und einem Ort, ja sogar auf einer legitimen Zeit und einem legitimen Ort für ein solches Infragestellen« (Butler, 2011, S. 34f.).

Werkgenealogie und Selbstkritik Christoph Schlingensiefs Kunst und Gemüse. A. Hipler Sarah Ralfs

E inleitung Im Folgenden möchte ich Christoph Schlingensiefs Arbeit Kunst und Gemüse. A. Hipler von 2004 als eine Form der künstlerischen Selbstkritik, also der Kritik an der eigenen Arbeit diskutieren, die sich als eine Form der Werkgenealogie lesen lässt. Umgekehrt lässt sich so die Genealogie der künstlerischen Arbeit als Form einer selbstreflexiven, künstlerisch-theatralen Kritik begreifen, an der sich zugleich eine historisch-genealogische Dimension von Kritik sowie eine kritische Dimension von Werkgenealogie und Werkentwicklung (Entstehung und Szene) zeigt.1 Und diese historisch-genealogische Dimension von Kritik in der Kunst reflektiert sich, so möchte ich zeigen, in der Verschränkung von Richard Wagner und Arnold Schönberg, wie Schlingensief sie in seiner Arbeit vollzieht. Dabei soll die Dimension der Subjektivierung bzw. die künstlerische Kritik an einer bestimmten historischen Dimension von (ästhetischer) Subjektivierung, die besonders mit Richard Wagners Kunst und Musik verbunden ist und in Schlingensiefs Bezugnahme auf Schönberg verhandelt wird, hier den Fluchtpunkt und Ausblick meiner Überlegungen bilden.

K unst und G emüse . A. H ipler – Z ur E inführung Kunst und Gemüse. A. Hipler hat am 17. November 2004 Premiere an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, nur wenige Monate nach Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen im Juli desselben Jahres. 1 | Foucault spricht unter Rekurs auf Nietzsche von einer Verschränkung von Leib und Geschichte, welche die Genealogie freilegen und analysieren müsse. Vgl. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Subversion des Wissens. Frankfurt a.M. S. 6990, S. 76. Bei Foucault hat die Genealogie zwei Konnotationen: Herkunft und Entstehung. Herkunft: Abstammung. Entstehung: Auftauchen, das einzigartige Gesetz des Aufblitzens. »Die Entstehung ist das Heraustreten der Kräfte auf die Szene, ihr Sprung aus den Kulissen auf die offene Bühne« (ebd., S. 93). Die Genealogie gilt so als Analyseverfahren der Entstehung und der Szenen.

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Die Arbeit zeigt sich als kritisches Echo auf seine Parsifal-Inszenierung und seine Bayreuther Erfahrungen. Schlingensief nennt Kunst und Gemüse. A. Hipler einen »Volks-Parsifal«2 . Auf der Bühne ist ein Rednertisch mit Mikrophonen wie für eine Pressekonferenz errichtet, auf den Namensschildern stehen »Katharina Bach«, »Wolfgang Bach« und »Catherine Davis«. Dabei sind die Darsteller der Bach- bzw. Wagner-Familie den Erscheinungen von Katharina, Gudrun und Wolfgang Wagner nachempfunden. Die im Verlauf der Aufführung erfolgende ›Pressekonferenz‹ der Bach- bzw. Wagner-Familie setzt durch einen Monolog von Gudrun Bach über die italienische Oper ein und wird rasch durch die verschiedenen dissonant einsetzenden Stimmen des ganzen Ensembles, welche Versatzstücke aus Mozarts Arie »Dies Bildnis ist bezaubernd schön« aus der Zauberflöte skandieren, gestört und aufgelöst. An anderer Stelle singt ein als Richard Wagner kostümierter Darsteller die Arie im ganzen Playback, während er vor Leinwänden, die ›abstrakte Malerei‹ zeigen, steht. Auf einem vergrößerten Familienporträt der Wagner-Familie in Festkleidung am Grünen Hügel sind die Gesichter herausgeschnitten, und die Wagner-Darsteller aus Kunst und Gemüse stecken ihre Gesichter hindurch. Der auf der Drehbühne installierte, parzellierte Auf bau schließt zu einer Seite mit der Aufschrift »Wolfgang Bach Festspielhaus«. Die Seite wird nach oben durch einen Stacheldraht eingegrenzt, der hier den Zutritt symbolisch versperrt und ›das Außen draußen‹ hält. Ein Brief von »Wolfgang Bach« wird vorgelesen, in dem er Schlingensief aufklärt, wie er sich bei den Festspielen zu verhalten habe und wie welche Töne gesungen und gespielt werden müssten. Fotos der Wagner-Familie am Grünen Hügel schmücken das Dekor. Die Referenzen sind so plastisch und drastisch, dass sie verfremdet und gebrochen erscheinen. Das Motiv des Leidens und der Wunde aus Wagners Parsifal wird hier in der Besetzung von Angela Jansen als Protagonistin verhandelt, die infolge des Nervenleidens Amyotrophe Lateralsklerose (kurz ALS) vollständig körpergelähmt ist und in der Aufführung in einem Krankenhausbett im Publikumsraum installiert ist. Hier kommuniziert sie über ein Kommunikationssystem, Eye Gaze, welches per Lasersignal ihre Augenbewegung erfasst, mit der sie eine virtuelle Tastatur bedient und so den Text produziert, den sie mitteilen möchte. Ihr Gesicht wird bei diesem Prozess gefilmt und zusammen mit dem hierbei entstehenden Text auf die Bühne projiziert. Auf diese Weise partizipiert sie und lenkt das Bühnengeschehen mit. Diesen »Volks-Parsifal« und damit seinen Parsifal, ja seine Wagner-Arbeit überhaupt überschreibt Schlingensief durch Arnold Schönbergs Oper Von heute auf morgen von 1928/29, was angesichts des von Schlingensief proklamierten ›populären‹ Unterfangens zunächst vielleicht etwas kontraintuitiv anmuten mag.3 Schönbergs Oper fungiert zunächst als musikalischer und motivischer Rahmen und wird als solcher immer wieder durch andere Musiken, Stoffe, Themen 2 | Vgl. Berka, Roman: Christoph Schlingensiefs Animatograph. Zum Raum wird hier die Zeit. Wien/New York 2011, S. 22. 3 | Schönberg hoffte, mit dieser Oper ein breiteres Publikum zu erreichen, was ihm nicht gelang. Die Oper gehört in eine Phase der 20er Jahre, in der die »Krise der Oper« viel diskutiert wurde. Breitenwirkung erzielten einige für einen relativ kurzen Zeitraum durch aktuelle Stoffe, die humoristisch verarbeitet wurden. Vgl. die Erläuterungen auf der Homepage des Arnold Schönberg Center, www.schoenberg.at/index.php/de/joomla-license-sp-1943310035/ rvon-heute-auf-morgenl-op-32-1928-1929 vom 12. Sept. 2017.

Werkgenealogie und Selbstkritik

und Formen aufgebrochen. Zu Beginn der Aufführung hält der Korrepetitor des Abends, Arno Waschk, der den Verlauf der Aufführung am Klavier, zusammen mit einigen anderen Musikern, musikalisch gestalten wird, eine kleine Ansprache und führt in das Programm ein. Er stellt sich selbst als Prof. Theodor W. Adorno vor und erläutert, inwiefern Schönbergs Oper nicht nur als musikalisches Thema in der Aufführung aufgegriffen wird, sondern auch strukturell für die Arbeit prägend ist. Die Referenz auf Schönberg erscheint dabei ebenso paradigmatisch wie ironisch gebrochen. Alle Protagonisten der Aufführung werden in dieser Eröffnungsszene als Repräsentanten eines Halbtons der Zwölftonleiter vorgestellt. Das Programm des Abends wird präsentiert als zwölf Variationen, den Geburtstag des Schauspielers Johannes Heesters zu feiern, dessen Karriere unter den Nationalsozialisten einsetzte.4 Der Abend handelt laut Ankündigung von der Suche nach dem ›modernen Menschen‹. Was hier ironisch klingen mag, ist dennoch nicht unerheblich für die Frage nach den Relationen ästhetischer Subjektivitätserfahrungen, welche die produktiv bruchvolle Achse Wagner/Schönberg/Schlingensief in ihren Materialarrangements organisiert. Inwiefern nun lässt sich diese Arbeit als werkgenealogische Selbstkritik begreifen und inwiefern fungiert die Schönberg-Referenz als eine Kritik an Schlingensiefs eigener vorangegangener Arbeit, an seiner Wagner-Arbeit, und welche Rolle spielt schließlich die (De-)Subjektivierung dabei? Drei unterschiedliche Aspekte möchte ich hier im Folgenden herausarbeiten.

D as avantgardistische K unst werk – M ontage /W erk /A utor Zunächst einmal ist es die Art und Weise der Bezugnahme auf Schönberg und Wagner selbst, die sich als kritischer Nachtrag zu Parsifal begreifen lässt, und zwar durch Verfahren der Montage. Schlingensief hat immer wieder berichtet, dass es ihm in Bayreuth unmöglich gewesen ist, eine unvorhergesehene Pause, ein stilles Moment oder gar eine andere Musik einzufügen, also die Wagner’sche Musik mit anderen Versatzstücken zu montieren.5 Dieses Verfahren trägt er nun auf dem Theater und mit den hier ganz anders gelagerten Freiheitsgraden des Werkbezugs nach. Die Musik Schönbergs erklingt allein in Fragmenten, sie wird mit geringer Orchestrierung angespielt, vereinzelte Arien und Duette werden angesungen und dann durch einen anderen Sound, eine neue Musik unterbrochen und abgebrochen. Mozartarien, Filmmusik von Peter Greenaway, unterschiedliche Noises und Soundflächen bis hin zu Sprechpassagen der Akteure auf der Bühne brechen in die live erzeugten Klänge Schönbergs hinein, ohne ›Rücksicht‹ auf jede Form von ›Stimmigkeit‹. Ähnlich verhält es sich auch mit Wagners Musik. Einzelne Choräle werden mit den anderen Sounds, Musiken, Stimmen, Bildern und Körpern montiert, ohne dass sie sich dabei wechselseitig durchdrängen, aufeinander abgestimmt oder einem gemeinsamen Leitmotiv untergeordnet wären. Sie bleiben einander äußerlich, nur durch die Montage in einem Neben- und Übereinander (unverbunden) verbunden. 4 | Trimborn, Jürgen: Der Herr im Frack – Johannes Heesters. Berlin 2005. 5 | Schlingensief, Christoph: Ich weiß, ich war’s. Hg. v. Aino Laberenz. Köln 2012, S. 145.

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Diese Verfahren der Fragmentierung und Montage beinhalten einen Angriff auf die Originalität und Integrität des Kunstwerks wie des Künstlers, der zutiefst in den Avantgarden verwurzelt ist. Peter Bürger bestimmt sie in der Theorie der Avantgarde als Strukturmerkmale avantgardistischer Kunst in Abgrenzung zu einem klassischen/organischen Kunstbegriff.6 Nach Bürger sind es die historischen Avantgarden, die wesentlich die Integrität und organische Einheit des Kunstwerks verletzen und attackieren durch Verfahren der Montage der Fragmente 7, die in sich als Readymades verstanden werden, insofern sie ihren Ursprungszusammenhang verloren haben und sich wechselseitig fremd sind. Entsprechend kommt Marcel Duchamp in Kunst und Gemüse immer wieder auf plastische Weise vor, etwa wenn sein erstes Readymade, das Roue de Bicyclette (1913), als Requisit auf der Bühne aufgestellt wird, aber er spielt eben auch auf ästhetisch-formaler, auf kunstprogrammatischer Ebene eine zentrale Rolle. Carl Hegemann und Boris Groys sprechen in diesem Zusammenhang von der Wagner’schen Musik, die von Schlingensief schon in Parsifal als Readymade begriffen und in einer Installation verwendet werde.8 In der Montage werden die Musik Schönbergs und Wagners sowie deren unterschiedliche künstlerische Positionen selbst als Versatzstücke, als Readymades behandelt. Schließlich hat diese formale Bezugnahme auf die Avantgarden (und insbesondere Marcel Duchamp) entsprechende Konsequenzen für die Subjektivität und Originalität des Künstlers, der hier in ein unüberblickbares Dickicht der Genealogien und Bezüge verwoben erscheint. Das Werk wird hier nicht mehr durch eine kohärente Künstlersubjektivität verbürgt, da sie ihre Kohärenz eingebüßt hat und als in sich fragmentiert, brüchig, palimpsestisch auf die Bühne gebracht wird. In diesem Sinne markiert für Bürger das Readymade nicht nur den Bruch mit dem organischen Kunstwerk, sondern auch mit der Organizität des Künstler-Subjekts.9

D as Z usammenwirken der K ünste und die hierin organisierte ästhe tische S ubjek tivierung Der zweite Aspekt, den ich als einen künstlerischen Kritikpunkt gegenüber Wagner sowie der vorangegangenen eigenen Wagner-Arbeit Schlingensiefs nennen möchte, ist die Organisation der Künste insgesamt. Wagner proklamiert in Das Kunstwerk der Zukunft10 für sein Gesamtkunstwerk ein durch und durch organisches Zusammenwirken der Künste, in dem die Einzelkünste als solche transzendiert in kleinere Einheiten (Dichtkunst, Tonkunst, Leibeskunst) zerlegt werden sollen. Dadurch soll den drei korrelierenden spekulativen anthropologischen Grundver6 | Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974, S. 97f. 7 | Der Fragment-Begriff bei Bürger ist abgeleitet von Walter Benjamins Allegorie-Begriff. Vgl. ebd., S. 92-98. 8 | Groys, Boris/Hegemann, Carl: »Der erweiterte Wir-Begriff«. Gespräch erschienen im Nordbayrischen Kurier, www.schlingensief.com/projekt.php?id=t044&article=groyshege​ mann vom 12. Sept. 2017. 9 | Vgl. Bürger, 1974, S. 71-77. 10 | Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft (1849), in: Dichtungen und Schriften. Bd. 6: Reformschriften 1849-1852. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M. 1983, S. 9-157.

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mögen (Leibesmensch, Gefühlsmensch und Verstandesmensch) zu ihrer in der sozialen Differenzierung der Moderne verloren gegangenen Einheit zurückverholfen werden.11 Dagegen wirkt Schlingensief diesem Synthese-Ideal der Künste wie der menschlichen Sinne in seiner Wagner-Arbeit entschieden entgegen. In seinem Bayreuther Parsifal kann er aufgrund der institutionell festgeschriebenen Bedingungen nicht auf die gleiche Weise mit Unterbrechungen, Abbrüchen und ›Fremdmaterial‹ arbeiten und reagiert mit einer programmatischen NichtDurchdringung und Nebeneinanderstellung der Einzelkünste auf die Wagner’sche (in den Formulierungen fast schon libidinöse) organische Verschlungenheit der Einzelkünste. Nun, in Kunst und Gemüse, im Theater, in der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, lässt Schlingensief die Künste und Einzelelemente noch weitaus stärker kollidieren, ohne dass sie sich in einen narrativen oder anders kohärenten ästhetischen Gesamtzusammenhang fügen würden. Und diese Organisation der Künste korreliert mit einer Diffusion und Desorientierung der Sinne, einer in sich vollkommen heteronomen Subjekt- und Kunsterfahrung. Während Wagner mit seinem Ideal des Zusammenwirkens der Künste in der späten Romantik den Subjekten zu einer verloren geglaubten Einheit mit sich und der Gemeinschaft zurückverhelfen möchte, organisiert Schlingensief im Zusammenwirken der Künste am Beginn des 21. Jahrhunderts Modi der Subjektivitätserfahrung, die tief in den Brüchen, Schocks und Delokalisierungen des 20. Jahrhunderts verwurzelt sind.

(D e -)S ubjek tivierung – W agner /S chönberg /S chlingensief Welche Rolle spielt nun die Referenz auf Arnold Schönberg in dem künstlerischkritischen Verhältnis von Schlingensief zu Wagner? Schönberg hat sich bekanntlich nicht in einem Kritikverhältnis gegenüber Wagner gesehen, sondern eher als dessen Vollender. So sieht es auch Adorno mit Blick auf die Rationalisierung des Materials, und doch trägt er in seiner Philosophie der neuen Musik auch dem epistemisch-epochalen Bruch in seinen Überlegungen Rechnung, der zwischen Wagner und Schönberg insbesondere seit dem Einzug der Kakophonie in dessen Werk (ab den Klavierstücken op. 1112) signifikant wird. In seinen musikalischen Arrangements räume Schönberg endgültig mit schlechtem Kontrapunkt, der die Simultanität der autonomen Stimmen ignoriere, sowie mit – Adornos Ansicht nach – historisch überholter harmonisch-melodischer Komposition auf.13 Ein ästhetisches Leitmotiv, eine Leitmelodie oder auch übergeordnete Narration werde zugunsten einer Autonomisierung der Einzelelemente aufgegeben, die, so Adorno, »derart auseinander produziert seien«14, dass sie als Materialeffekt konvergierten. Die Zwölftonmusik wird zur Chiffre für eine modernistisch-avantgardistische Organisation des ästhetischen Materials als Integration des Nichtverbundenen – ganz im Sinne von Bürgers Begriff des montagebasierten avantgardistischen Kunstwerks. Wenn Schlingensief in Parsifal das von Wagner proklamierte synthetische Zusammenkommen der Künste durch eine Inszenierungsordnung des Nebeneinan11 | Ebd., S. 9ff., S. 32ff. 12 | Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt a.M. 1978, S. 46. 13 | Ebd., S. 56. 14 | Ebd.

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der subvertiert, erzeugt er in Kunst und Gemüse mit der Referenz auf Schönbergs Dodekaphonie die Juxtaposition, die Ausdifferenzierung und Autonomisierung der einzelnen Teile, deren Effekte des Zusammenwirkens dabei auch nicht mehr einer Leitmotivik oder einem anderen Ordnungsprinzip unterstehen, das ihre Konvergenzen regelt. Stattdessen werden sie durch das Material selber, in Teilordnungen und in Kontingenzen strukturiert. Am Beispiel des Bruchs, den die neue Musik für Adorno markiert, indem sie die tradierten musikalischen Parameter »Werk, Zeit und Schein«15 aufkündigt und demoliert, wird exemplarisch deutlich, inwiefern bei Adorno sich die geschichtsbewusste und damit die relevante Komposition und Kunst insgesamt zum Vorangegangenen quasi immer in einer kritischen Fortschreibung verhalten.16 Sie vollzieht in ihren Operationen die Abgrenzung zwischen dem Gewesenen, auf das sie sich bezieht, und überwindet die formalen Konstruktionsvorgaben hin zu dem, was noch nicht ist, was noch jenseits der Bestimmung liegt. Das Material der Kunst hat damit einen historisch-kritischen Index, der über die einzelnen Künstlersubjekte hinausragt und sie überdauert. Adorno beschreibt das Verhältnis des Komponisten zu seinem Material als ein dienendes, nicht-subjektivistisches: »Er [der Komponist] erfüllt sich in der Vollstreckung dessen, was seine Musik von ihm verlangt. Aber zu solchem Gehorsam bedarf der Komponist allen Ungehorsams, aller Selbständigkeit und Spontaneität. So dialektisch ist die Bewegung des musikalischen Materials.«17 Und diese Äußerung Adornos zum Verhältnis von Komposition und Komponist lässt sich durchaus auf das Verhältnis von Kunst und Künstler übertragen, der sich mit Anforderungen des Materials konfrontiert sieht, die auch von einer kunsthistorischen Genealogie herrühren, von der gleichwohl nicht klar ist, wie sie weiterzugehen hat, und die nur performativ und experimentell erarbeitet werden kann und dabei aber eben doch nie willkürlich ist. Mit dieser kritisch-historischen, genealogischen Struktur von künstlerischer Materialorganisation arbeitet Schlingensief explizit, und sie wird besonders signifikant im Kontext von seiner Bezugnahme auf Wagner. Seine eigene Position wird dabei in komplexen, experimentellen Anordnungen und in den Konvergenzeffekten des Materials, der Künstler und Künste, der Oper und des Theaters, der Musiken, Sounds, Stimmen und Körper ausgelotet, die immer schon woanders eingesetzt haben und woanders aufhören werden als dort, wo Schlingensief selbst gerade einsetzt oder aufhört. Dabei trägt er nun Schönberg in seinen Wagner-Bezug nach, der hier die zentrale historische Relation zu Wagner unter den Vorzeichen der Avantgarden signifiziert. So begriffen markiert diese Referenz einen epochalen Bruch in der Komposition wie der Hörerfahrung, der in der hieran anschließenden Komposition bzw. künstlerischen Konstruktion nicht mehr zu hintergehen ist. Schlingensief trägt sich in die Genealogie von Wagner und Schönberg ein bzw. Schönberg in die Genealogie seines Wagner-Bezugs nach und markiert diesen damit als undenkbar ohne den Einsatz der Avantgarden. Adorno analysiert, inwiefern Schönberg mit der Tradition des Expressiven, des Ausdrucks eines konstruierten Subjekts und seiner Emotionen und Passionen, und 15 | Ebd., S. 43. 16 | Ebd., S. 43ff. 17 | Ebd., S. 42.

Werkgenealogie und Selbstkritik

damit mit der traditionellen symbolischen Ordnung musikalischer Repräsentation bricht.18 Schock, Trauma und Schmerz werden nun allein in den Eigendynamiken des Materials selbst verhandelt und nicht länger durch ein Leitmotiv, eine Leitmelodie oder Narration strukturiert und repräsentiert.19 Gerade im »Funktionswechsel des Ausdrucks«20 gelinge es Schönberg, sich den atonalen Logiken der Realität anzunähern und sie nicht ideologisch und formalistisch zu verstellen. Damit verschleiert Adorno zufolge die Musik nicht länger die Formtonalität des Ausdrucks, der sie unterlag, sondern gelangt zu einer neuen Relation gegenüber dem Schmerz, den sie bearbeitet.21 Die Frage des Leidens und Schmerzes, die im Zentrum von Parsifal steht, übersetzt Schlingensief bereits in seiner Parsifal-Inszenierung primär in eine Materialfrage. Er lotet aus, über welche Möglichkeiten der Film, das Bild und die installative Verräumlichung der Materialorganisation verfügen, um sie zu verhandeln und etwas darüber in Erfahrung zu bringen. In Kunst und Gemüse. A. Hipler wird diese Tendenz radikalisiert durch die autobiographische Umklammerung des Leidenstopos in der Protagonistin Jansen, die hier gleichsam nicht als ›zu Erlösende‹, sondern als alternierende Fassung von Vitalität (und Mortalität) in Szene gesetzt wird. Ihre Souveränität realisiert sich auch in ihrer quasi außen liegenden Position zur Bühne, von der aus sie anhand des installierten visuellen Konstruktionsprinzips das Bühnengeschehen mitbestimmen und lenken kann. Als einzige Akteurin führt sie zudem einen fortdauernden Kommentarmodus mit, der sich auf das Bühnengeschehen richten, wie von ihm wegführen kann. Dabei fügt sie sich mit ihrer visuellen Stimme und ihrer augenscheinlichen Versehrung formal und thematisch gleichermaßen in den wuselnden antagonistischen Materialcorpus ein, wie sie ihn mit ihrer Stille, Konzentration und Differenz irritiert und unterbricht.

S chluss In seinen fünf Wagner-Lektionen22 sucht Alain Badiou in Adornos Negativer Dialektik nach dem Platz von Wagner in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Was Adorno nach Badiou an Wagners Musik prinzipiell ablehne und wogegen er anarbeite und anschreibe, sei eine Ästhetik, die nach Vereinheitlichung, nach Formund Identitätsstiftung, nach Komplettierung und Schließung, nach Verabsolutierung strebe.23

18 | Ebd., S. 44. 19 | Ebd. 20 | Ebd. 21 | Ebd., S. 45. 22 | Badiou, Alain: Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner. Berlin/Zürich 2012. 23 | Wenn man in Adornos Schriften selbst liest, so scheinen seine Wagner-Rezeptionen doch noch weitaus differenzierter auszufallen und sich auch nicht in ethischer und ideologischer Kritik zu erschöpfen, sondern diese ist sehr eingehend entlang des Materials selbst begründet. Siehe Adorno, Theodor W.: Versuch über Wagner. Berlin/Frankfurt a.M. 1952; sowie ders., 1978, z.B. S. 31, 50, 56.

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In Kunst und Gemüse. A. Hipler unterstreicht Schlingensief gerade auch in der Bezugnahme auf Schönberg, inwiefern seine Arbeit einerseits auf der Grundlage eines Bewusstseins von den Genealogien der eigenen Arbeiten operiert, die weit über sie hinausreichen und zu der sie eben nicht in einem affirmativen Verhältnis, sondern in einem permanenten kritisch-produktiven wie destruktiven Spannungsverhältnis stehen. In diesem Sinn lässt sich die Ästhetik seiner Arbeiten, welche sich in Bezug zur Oper ausdifferenzieren und für welche hier exemplarisch Kunst und Gemüse angeführt wurde, als kritisches Echo auf seinen Parsifal lesen. So begriffen befinden sie sich permanent im kritischen Kampf mit der eigenen Genealogie, indem sie diese fortschreibend eine ständige »Entvereinheitlichungsoperation«24 vollziehen, an einer »Konstruktion, die zugleich Destruktion« ist, arbeiten. So lassen sie sich mit Badiou vor dem Hintergrund der hier skizzierten Konnexionen als »formales Schaffen, das zugleich Abschaffung der Form ist, eine Form, die zugleich Deformation […], also die Bekämpfung des Identitätszwangs«25 ist, begreifen. Schlingensief markiert, dass sein eigener Wagner-Bezug ohne die Vorstöße der verschiedenen Avantgarden von Duchamp bis Schönberg unmöglich ist. Zugleich steht er dabei schon ganz woanders, von wo aus er unter kritischer Bezugnahme diese brüchige, künstlerische Genealogie in ein offenes Ende überführt, immer in Richtung dessen, was noch jenseits ihrer Bestimmung liegt.

24 | Badiou, 2012, S. 58. 25 | Ebd.

Komik als ›kritische‹ Strategie Zur Frage der Unterscheidbarkeit von Subversion und Affirmation am Beispiel von Verrücktes Blut 1 Hans Roth Ob Jilet Ayse oder Kanak Sprak, ob Almanya – Willlkommen in Deutschland oder sogenannte Döner-Witze: In interkulturellen Zusammenhängen wie dem deutschtürkischen Migrationskontext ist Komik in Gestalt von Comedians, satirischer Literatur, Filmkomödien und alltäglichen Formen der Scherzkommunikation ein weitverbreitetes, vielschichtiges und zugleich umstrittenes Phänomen. Einerseits gilt das komische Spiel mit den Markern kultureller Differenz als Mittel, um gegen rassistische Vorurteile und Marginalisierungen anzugehen; andererseits wird ethnischem Humor vorgehalten, solche Zuschreibungen und Machtverhältnisse zu reproduzieren. Zudem widersprechen sich diese Sichtweisen mit Blick auf die jeweiligen Gegenstände kontinuierlich. So erweisen sich die Wirkungen und Zwecke des Komischen in diesem Bereich als höchst disparat und reichen von Solidarität über die Nivellierung von Differenzen bis hin zu Ausschluss und Verletzung.2 Angesichts dieser Ambivalenzen lässt sich Komik als eine soziale Technik der Unterscheidung von Eigenem und Fremden bezeichnen, die sowohl für einen affirmativen als auch für einen subversiven Umgang mit dieser Unterscheidung genutzt werden kann.3 Aufgrund der zwiespältigen Bezugnahme auf ethnische Differenzen und Grenzen erscheint interkulturelle Komik dann in einem doppelten Sinn als eine kritische Strategie – nämlich als eine Unterscheidungs- und Urteils-

1 | Dieser Artikel basiert auf Forschungsergebnissen im Rahmen des von der DFG geförderten Sonderforschungsbereichs 1171 Affective Societies. 2 | Für einen Überblick über das Feld sowie zur Forschungslage vgl. Leontiy, Halyna (Hg.): (Un)Komische Wirklichkeiten. Komik und Satire in (Post-)Migrations- und Kulturkontexten. Wiesbaden 2016, sowie in pointierter Form Göktürk, Deniz: »Die Komik der Kultur«, in: Uwe Wirth (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017, S. 160-172. Mit Blick auf die ambivalenten Wirkungspotentiale ethnocodierten Humors vgl. das Eingangsbeispiel in Kotthoff, Helga/Jasari, Shpresa/Klingenburg, Darja: Komik (in) der Migrationsgesellschaft. Konstanz 2013, S. 14-19. 3 | In diesem Sinne hat Simon Critchley den Humor als eine (zwiespältige) ethnographische Praxis bestimmt. Vgl. Critchley, Simon: On Humour. London/New York 2002, S. 65-75.

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praxis, deren kritische Qualitäten selbst beständig in Frage gestellt werden.4 Denn ein durch Komik vermittelter kritischer Bezug auf ethnocodierte Differenzmarkierungen und ›komische‹ Formen der Bestätigung und des Ressentiments stehen stets in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander, welches auch bei Selbstdarstellungen der als ›anders‹ markierten Akteure bestehen bleibt.5 Im äußersten Fall steht gar der Verdacht einer strukturellen Verwandtschaft von Subversion und Affirmation im Raum, bei der emanzipative Komik die rassistischen Vorzeichen ihres Gegenparts lediglich umdrehen oder (unwillentlich) fortschreiben würde. Am Beispiel der Inszenierung Verrücktes Blut 6, die 2010 am Ballhaus Naunynstraße in Berlin Premiere feierte, möchte ich diesem Konfligieren von Solidarisierung und Herabsetzung in komischen Praktiken nun genauer nachgehen. Nachdem die von der Theaterkritik als »Überraschungshit der […] Theatersaison« 7 gefeierte Arbeit bereits mehrfach besprochen wurde, richte ich meinen Blick dabei gezielt auf das Wechselspiel von affirmativen und subversiven Aspekten innerhalb ihrer komischen Darstellungsformen.8 Nach einer kurzen komiktheoretischen Einordnung der kritischen Konstellation von Komik und Migration wird dieses Wechselspiel entlang einer Aufführungsbeschreibung von Sasha Marianna Salzmann entfaltet.9 In einem Blogbeitrag schildert die Autorin ihren Eindruck vom Lachverhalten des Publikums in Verrücktes Blut und beschreibt, wie zwei konkurrierende Lesarten des komischen Spiels mit Identitätszuschreibungen miteinander in Konflikt geraten. Weil hieran die affirmativen und konfrontativen Strukturmomente des Komischen deutlich werden, ermöglicht das Beispiel einen ausdifferenzierten Blick auf die politischen Potentiale des Komischen: Während die mit der komischen Erfahrung verbundene normative »Selbstüberhebung«10 einer langen Tradition der Komödienskepsis als problematisch gilt, lässt sich mit und gleichsam gegen Salzmann die Frage stellen, ob diese Tendenz zur Affirmation nicht als ein notwendiger Bestandteil von Komik als kritischer Strategie zu verstehen ist. Jedoch soll der 4 | Diese – wenn man so will – metakritische Frage nach dem Unterschied von affirmativen und subversiven Bezugnahmen korrespondiert mit der Etymologie des Kritikbegriffs, der zufolge ›κριτική‹ ursprünglich ein allgemeines Unterscheidungsvermögen beschrieb und seine engere Bedeutung eines politisch-ethischen Urteils erst später verfestigte. Vgl. Von Borman, Claus: Art. »Kritik«, in: Karlfried Gründer/Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I-K. Basel 1976, S. 1249-1262, hier: S. 1249-1251. 5 | Vgl. dazu Saucedo Añez, Patricia Carolina: »Deutsche Ethno-Comedy. Zwischen AntiRassismus und dem Zusammenprall der Kulturen«, in: Leontiy, 2016, S. 81-112, hier v.a. S. 106. 6 | Verrücktes Blut. Regie: Nurkan Erpulat, Text: Jens Hillje und Nurkan Erpulat. UA: 2. Sept. 2010, Berlin, Ballhaus Naunynstraße. 7 | Höbel, Wolfgang: »Vernumft«, in: Der Spiegel Nr. 38 vom 20. Sept. 2010, S. 184. 8 | Für eingehende Aufführungsanalysen vgl. bspw. Meyer, Tania: Gegenstimmbildung. Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit. Bielefeld 2016, S. 9-11, sowie Voss, Hanna: Reflexion von ethnischer Identität(szuweisung) im deutschen Gegenwartstheater. Marburg 2014, S. 171-215. 9 | Salzmann, Sasha Marianna: »Perlenkettchen« (2011). Zugriff unter: http://sashamarian​ nasalzmann.com/perlenkettchen/. 10 | Räwel, Jörg: Humor als Kommunikationsmedium. Konstanz 2011, S. 11.

Komik als ›kritische‹ Strategie

Unterschied zwischen kritischer und affirmativer Komik keineswegs aufgegeben, sondern vielmehr in einer exemplarischen Gegenüberstellung austariert werden. Unter welchen Voraussetzungen kann der humoristische Bezug auf den Migrationsdiskurs und seine Konstrukte von Alterität als eine kritische Artikulation bestimmt werden? Gegenüber der Idee, dass Komik per se schon eine Kritik an ethnocodierter Grenzziehung sei, zeigen etwa rassistische Witze zur Genüge, dass sie aktiv an der Konstruktion des Anderen mitwirken kann. Wie kann das Komische nun in anderen Fällen als subversive Reflexionsform wirken?

D ie A mbivalenz der komischen E rfahrung Trägt man diese Frage an verschiedene Komik- und Lachtheorien heran, fällt bei allen Unterschieden zunächst eine gewisse Einigkeit über den Charakter komischer Konstellationen auf. Komik ist ihnen zufolge vom Vorhandensein eines Widerspruchs, einer sichtbaren Abweichung von einer Norm oder von einer Inkongruenz- oder Kontrastbeziehung geprägt. Sie stellt ungewohnte Bezüge her, spielt mit Erwartungshaltungen und setzt eine Vertrautheit mit dem jeweiligen Kontext voraus. Was als komisch erfahren wird, hängt stark vom sozialen und persönlichen Normbewusstsein ab und unterliegt beständiger Veränderung – in letzter Instanz konstituiert sich Komik dabei erst in der Auffassung eines Subjekts.11 Eine wiederkehrende Streitfrage ist hingegen, ob die Erfahrung des Komischen als eine Form der Kontinuität oder der Unterbrechung der entsprechenden Normen zu begreifen ist. Wer dem Komischen subversive Kraft zuspricht, betont – oftmals im Anklang an Michail Bachtins Lach- und Kulturtheorie des Karnevals12 – zumeist die Plötzlichkeit, den Überraschungseffekt und den Ausnahmecharakter komischer Situationen. Komik mache die Kontingenz sozialer Regeln und Identitäten erfahrbar und erlaube es, Machtverhältnisse vorübergehend umzukehren. Auf diesen Effekt hin scheint auch die Strategie angelegt, ethnocodierte Differenzierungen ins Komische zu wenden, wo sie »sich im Lachen mit den Machtlosen verbündet und die Verbindlichkeit sinnstiftender kultureller Normen in Frage stellt«13. Überhaupt wurden Bachtins Konzepte gerade in zahlreichen queerfeministischen und postkolonialen Lektüren aufgegriffen, die der Idee der Subversion binärer Zuschreibungspraxen weit über den Rahmen der Komiktheorie hinaus eine zentrale Rolle zusprechen.14 11 | Zum Topos der komischen Inkongruenz vgl. Iser, Wolfgang: »Das Komische: Ein KippPhänomen«, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.), Das Komische. Poetik und Hermeneutik VII. München 1976, S. 398-402. Für einen Überblick der Komiktheorien unter dem Gesichtspunkt ›subversiv/affirmativ‹ vgl. Müller-Kampel, Beatrix: »Komik und das Komische. Kriterien und Kategorien«, in: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie 7 (März 2012), S. 5-39, hier: S. 5-12. 12 | Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a.M. 1995. 13 | Göktürk, 2017, S. 160. 14 | Obgleich die Subversion von Differenz durch die Arbeiten Homi Bhabhas oder Julia Kristevas ein etabliertes kulturwissenschaftliches sujet ist, ist die Problemstellung weitaus seltener dezidiert auf Komik zurückbezogen worden. So werden zwar bei Maha El Hissy

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Ausgehend von einem solchen subversiven Potential des Komischen bliebe allerdings das Verhältnis zu einer Affirmation geltender Normen zu klären, wie sie im rassistischen Humor praktiziert wird. Unter welchen Bedingungen können komische Strategien eine kritische Wirkung entfalten – trotz oder gerade wegen ihrer Nähe zu exkludierenden Formen? Diese Frage führt zu einer Kritik an der Affirmativität des Komischen, wie sie zumeist auf bauend auf die Superioritäts- oder Überlegenheitstheorien des Komischen15 formuliert wird. Für diese ist das Komische strukturell mit einer Herabsetzung des komischen Objekts verbunden; es erzeuge auf Seiten der Rezipient*innen ein Gefühl der Überlegenheit oder Distanz und verstärke bereits vorhandene Haltungen. Im Zentrum dieser Kritik steht also, dass sich die scheinbare Ambivalenz des Komischen nicht auf die Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen des Komischen selbst auswirken würde. Gewissermaßen werden der komischen Erfahrung jene Macht- und Zwangseffekte bescheinigt, gegen die sich eine kritische Praxis – »im Anschluss an eine post-kantische, linkskritische Tradition«16 – gerade zu richten hätte. Besonders vehement hat solch eine humorskeptische Position Theodor W. Adorno vertreten, für den dieses Moment der Überlegenheit Grund genug war, ein Verdikt über den Humor »als ästhetisches Medium«17 auszusprechen. Sowohl in den betreffenden Passagen in der Dialektik der Auf klärung 18 als auch im »Versuch, das ›Endspiel‹ zu verstehen«19 wird Komik als ein starres Sanktionsregime verstanden, das nichts mit Kritik im emphatischen Sinne zu tun habe. So würden die heiteren und entlastenden Wirkungsdimensionen des Komischen eine gesicherte Position der Rezipient*innen voraussetzen, die notwendigerweise selbst Ausdruck ideologischer Verdinglichung sei. Denn ganz im Sinne von Adornos resignativer Analyse der kapitalistischen Gesellschaft erschien ihm Komik »ohne einen Ort der Versöhnung, von dem aus sich lachen ließe«20, nur mehr »veraltet […] und widerlich«21. Adornos negativer Blick auf die Position der Lachenden regt somit dazu an, Komik mindestens auch von ihrer affirmativen Tendenz her zu begreifen. Denn die normativen und selbstbehauptenden Züge der komischen Erfahrung scheinen ihrem (Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler. Bielefeld 2012, S. 12) karnevaleske Subversion und postkoloniale Realitäten aufeinander bezogen, die affirmativen Dimensionen des Komischen jedoch ausgeklammert. Für eine solche Problematisierung in Bezug auf die Parodie von GenderIdentitäten vgl. hingegen Butler, Judith: Körper von Gewicht. Frankfurt a.M. 1997, S. 171-199. 15 | Zur gängigen Unterteilung der Komiktheorien in Inkongruenz-, Entspannungs- und Überlegenheitstheorien vgl. Critchley, 2002, S. 2f., sowie Strätling, Regine: »Witz und Ästhetik. Überlegungen zur Einführung«, in: Erika Fischer-Lichte/Regine Strätling (Hg.), Witty Art. Der Witz und seine Beziehung zu den Künsten. München 2014, S. 7-20. 16 | Butler, Judith: »Was ist Kritik?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), H. 2, S. 249-265, hier: S. 259. 17 | Adorno, Theodor W.: »Versuch, das ›Endspiel‹ zu verstehen«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 11. Frankfurt a.M. 1974, S. 281-321, hier: S. 300. 18 | Vgl. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3). Frankfurt a.M. 1981, S. 162f. 19 | Vgl. Adorno, 1974. 20 | Ebd., S. 300. 21 | Ebd.

Komik als ›kritische‹ Strategie

ästhetischen Potential, Ordnungssysteme zu negieren und zu destabilisieren, von vornherein gewisse Schranken zu setzen. Der hier aufgeworfene Widerspruch innerhalb des komischen Ereignisses soll nun am Beispiel aufgesucht werden.

D er K onflik t der L achkollek tive in Verrücktes B lut Bei Verrücktes Blut handelt es sich um ein von Nurkan Erpulat und Jens Hillje entwickeltes Stück, in dem die Deutschlehrerin Sonia Kelich mit maximal desinteressierten Schüler*innen einer sogenannten Problemklasse – gemeint ist eine Schulklasse mit hohem Anteil an Kindern mit türkischem oder arabischem ›Migrationshintergrund‹ – konfrontiert ist. Nach einigen Eskalationen kommt sie in den Besitz einer Pistole und zwingt ihre Schulklasse dazu, Schillers Räuber nachzuspielen, um ihnen mit Gewalt die bürgerlichen Ideale Schillers zu vermitteln. Diese Handlung orientiert sich lose an dem französischen Film La Journée de la Jupe 22, in dem es in der Schule eines Pariser Banlieues zu einer Geiselnahme durch die überforderte Lehrerin kommt. Doch wo die Filmvorlage ein von Kriminalität und Chauvinismus geprägtes Bild von jungen Menschen zeichnet, wird dieser stigmatisierende Diskurs in Verrücktes Blut keineswegs umstandslos auf deutsche Zustände projiziert, sondern erfährt zahlreiche Korrekturen.23 Während dem Film eine inhärent ernste Auseinandersetzung mit der Integrationsthematik eigen ist, wird diese in Verrücktes Blut systematisch verweigert und ins Komische gewendet. Eine auffällige Verschiebung ist die grelle Figurenzeichnung: So wird der Habitus und Sprachduktus, der deutsch-türkischen Jugendlichen zugeschrieben wird, von den Darsteller*innen kontinuierlich übertrieben. Klischees wie der chauvinistische Gangsterjunge oder das verschüchterte Kopftuchmädchen sind genüsslich überzeichnet und münden in zahlreiche bizarre Situationen, in denen der Konflikt zwischen Lehrerin und Schüler*innen ausgetragen und zugespitzt wird. Die komischen Inszenierungsstrategien beziehen sich also auf kulturelle oder ethnocodierte Stereotype sowie die damit verknüpften Konflikte, wodurch es zu einer Erfüllung von potentiellen Erwartungshaltungen über das Verhalten von Schüler*innen mit türkischem Migrationshintergrund kommt. In Bezug auf die komische Ambivalenz von Affirmation und Subversion sind nun in den Aufführungsberichten zu Verrücktes Blut große Unterschiede in den Reaktionen des Publikums auszumachen. So wurden die komischen Inszenierungsstrategien nur zum Teil als eine kritische Parodie verbreiteter Stereotype erfahren, während ein anderer Teil des Publikums gerade eine Bestätigung dieser Klischees zu erkennen glaubte und sogar affirmierte. Wie u.a. die Autorin Sasha Salzmann berichtet, wurde der paternalistische Rassismus der Lehrerin in gleich mehreren Aufführungen vom Publikum unüberhörbar geteilt. Das Verhalten der Figur wurde dabei an Stellen mit Klatschen und Lachen begrüßt, die Salzmann hingegen eindeutig als eine kritische Parodie des Integrationsdiskurses erlebt hatte.24 22 | La journée de la jupe (2008), Regie: Jean-Paul Lilienfeld. 23 | Für einen Vergleich mit der Filmvorlage und eine ausführlichere Aufführungsbeschreibung vgl. Voss, 2014, S. 171-181 sowie S. 189f. 24 | Vgl. Salzmann, 2011. Ein ähnlich widersprüchliches Verhalten des Publikums schildern auch Nurkan Erpulat und die Schauspieler*innen im Interview. Vgl. Von Becker, Peter/

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Nun wird die Möglichkeit solch einer Reaktion in der Inszenierung von Nurkan Erpulat durch die Betonung des Spiel-im-Spiel-Momentes durchaus antizipiert und hinterfragt – etwa durch eine ironische Aufkündigung der vierten Wand am Ende der Aufführung: Die Akteure scheinen sich plötzlich beobachtet zu fühlen, adressieren das Publikum direkt und erklären den ›Unterricht‹ ein zweites Mal für beendet. Die metatheatrale Pointe kritisiert explizit ein grassierendes Blickregime auf migrantische Jugendliche und damit letztlich auch ein affirmatives Verständnis der vorgeführten ›Kanaken‹-Stereotype. Doch mit dieser inszenatorischen Zuspitzung ist die Frage der Unterscheidbarkeit von Subversion und Affirmation keineswegs geklärt. Denn wer einen essentialistischen Komikbegriff zu vermeiden suchte, der die Intention der Beteiligten zum Maßstab einer ›richtigen‹ Wirkung erhebt, müsste diese Differenz auch innerhalb der komischen Konstellationen beobachten können. In ihrem Text über Verrücktes Blut berichtet Sasha Salzmann nun tatsächlich von einer Aufführung, in der ein Kontrast zwischen einem affirmativen und einem kritischen Verstehen der komischen Situationen zutage tritt: Eine Vorstellung ist beispielhaft für die Kontroverse um ›Verrücktes Blut‹: Schulklassen und das Mittelstandspublikum im Alter der Eltern- und Großelterngeneration im Zuschauerraum. Bald teilt er [der Zuschauerraum] sich in zwei Lager auf, die gegeneinander anlachen, man verhandelt durch Zurufe und Klatschen den Kampf, den man alltäglich führt. Die Schulklassen freuen sich über die Stupidität der Lehrerin […] und unterstützen die Darsteller/innen der Schulklasse mit Grölen. Der Mittelstand lacht aus der Befreiung heraus, dass die Lehrerin all das ausspricht, was man wegen Political Correctness nicht sagen darf, doch wohl aber denkt. 25

An dieser Beschreibung der Abfolge von Lachen und Lachverzicht lassen sich zunächst exemplarisch die gemeinschaftsbildenden Tendenzen des Komischen studieren: Es bilden sich temporäre Lachkollektive, die sich entlang eines gemeinsamen Verständnisses der Darstellung koordinieren und das Publikum aufspalten. Der beschriebene Dissens zwischen den beiden Rezeptionsmodi zeigt zudem, wie Komik und Lachen sowohl vergemeinschaftend als auch dissoziativ wirken können, insofern Gesten der Schließung und Solidarisierung hier Hand in Hand zu gehen scheinen. Bezieht man dies zurück auf eine komikkritische Position à la Adorno, ist jedoch auffällig, dass in Salzmanns Bericht kein struktureller Unterschied zwischen den beiden Lagern festzustellen ist; sie wirken vielmehr von demselben komischen Mechanismus geprägt, durch den ein humoristischer Bezug auf soziale Stereotype eine Positionierung des Publikums provoziert. Dabei scheint ein kritisches Verständnis eine ähnlich klare Haltung zu den vorgeführten Klischees vorauszusetzen, wie es bei jenem affirmativen ›Mittelstandspublikum‹ der Fall ist, das laut Salzmann unmittelbar über die Klischees lacht. Zugespitzt formuliert: Auch eine subversive Wirkung der Inszenierung ist an die Affirmation eines politischen Wildermann, Patrick: »Mensch, das ist ja besser als Hollywood«, in: Der Tagesspiegel vom 12. Mai 2011. Zugriff unter: www.tagesspiegel.de/kultur/verruecktes-blut-im-ballhausnaunynstrasse-mensch-das-ist-ja-besser-als-hollywood/4157030.html. 25 | Salzmann, 2011.

Komik als ›kritische‹ Strategie

Gegenkonzeptes geknüpft, die im Lachen ihrer »ethischen und ästhetischen Komplizenschaft«26 Ausdruck verleiht. Was bedeutet diese Beobachtung nun für die Frage der Unterscheidbarkeit von Affirmation und Subversion? Eine erste Antwortmöglichkeit wäre, dass Komik eine Positionierung zu ethnocodierten Differenzierungspraktiken ermöglicht, die bereits vorhandene Konfliktlinien erfahrbar macht. Das buchstäblich ›kritische‹ Potential bestünde in dieser Lesart in der Aufspaltung des Publikums.27 Dieser Ansicht ist offenbar Salzmann, die gar von einem unversöhnlichen Konflikt zweier Parteien schreibt: »Lachen ist hier Kriegsführung.«28 Das Komische scheint sich in diesem Verständnis einem antagonistischen Begriff des Politischen in der Tradition Carl Schmitts anzunähern. Komik würde den Rezipient*innen somit ermöglichen, entlang dessen, was als lächerlich erfahren wird, affektiv grundierte Freund-FeindUnterscheidungen zu treffen.29 Über die überspitzte Metapher kriegsähnlicher Zustände hinaus könnte man komische Situationen dann mit Chantal Mouffe als ein agonistisch-demokratisches Forum begrüßen, das es erlaubt, solche Konflikte zu artikulieren.30

K omik als K onfrontation : unvermit telte oder vermit telte K ritik ? Aus einem Verständnis von »Kritik als hegemoniale Auseinandersetzung mit …«31 heraus gedacht, verschafft sich also im schieren Ringen beider Lachkollektive um Deutungshoheit ein kritisches Projekt Ausdruck. Hier steht weniger die Unter-Scheidung von Affirmation und Subversion im Fokus, sondern die Ent-Scheidung, einer der beiden Lesarten Sichtbarkeit zu verschaffen. Gegenüber der Frage, ob in oder über ethnocodierte Grenzziehungen gelacht wird, verhält sich diese Lesart nahezu indifferent und überlässt es anscheinend der Dezision der Akteure; zumindest bei Salzmann scheint das ästhetische Urteil schlichtweg der sozialen Position der Zuschauer*innen zu entsprechen. Doch gerade hinsichtlich der in der Komik angelegten Lachposition – und hier kommt die zweite Antwortmöglichkeit ins Spiel – lässt sich ein nicht-trivialer 26 | Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt 1987, S. 170. Bourdieu beschreibt an der Stelle in nuce die sozialen Distinktionsmechanismen der Komödie. 27 | Denn ein solcher Fokus auf das Trennende entspricht der eingangs angedeuteten wortwörtlichen Bedeutung von ›κριτική‹. 28 | Salzmann, 2011. 29 | Diese Nähe von Komischem und Politischem scheint kein Zufall zu sein: So ist etwa Thomas Hobbes nicht nur der erste neuzeitliche Vertreter einer antagonistisch fundierten politischen Theorie (Hobbes, Thomas: Leviathan. Or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill. New Haven 2010), sondern mit seiner Bestimmung des Lachens als Akt der Selbstaffirmation auch der Überlegenheitstheorien des Komischen (vgl. Hobbes, Thomas: Vom Menschen. Vom Bürger. Hamburg 1959, S. 33f.). 30 | Zu Mouffes kritischem Bezug auf Schmitt im Hinblick auf ein solches demokratisches Projekt siehe Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin 2014, S. 21-26. 31 | Ebd., S. 115.

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Unterschied zwischen den beiden Lagern ausmachen: Denn im Falle des unmittelbaren Auslachens durch das vorgebliche Mittelstandspublikum wird der theatrale Status der vorgeführten Stereotype verdrängt. Dieses Lachen hat den Charakter einer direkten Reaktion auf eine unfreiwillige Normabweichung in Aussehen und Verhalten. Das subversive Verstehen der Komik hingegen weist über ein solches Auslachen hinaus. Salzmann und die ›Schulklassen‹ lachen nicht direkt über die vorgeführten Klischees, sondern vielmehr über die Existenz solcher Stereotype, weshalb ein symmetrischer Blick auf die Lachkollektive hier unpassend erscheint. So ist die Möglichkeit, eine solche distanzierte Position ein- bzw. anzunehmen, dem theatralen Gefüge der Aufführung auf eigentümliche Weise implizit und weist darüber hinaus. So lässt sich das permanente Spiel mit kulturalistischen Rollenzuweisungen nicht darauf reduzieren, dass ein lächerlicher Gegenstand zur Schau gestellt wird, sondern markiert zugleich den Prozess seiner theatralen Konstitution. Damit tendiert die Inszenierung zu einer Komik zweiter Ordnung, die das aberwitzige Moment weitverbreiteter Zerrbilder hervorkehrt und ein subversives Verstehen dieser Zuschreibungen ermöglicht. Man könnte mit Blick auf die subversive Lachposition von einer immanenten Kritik der Normvorstellungen des Migrationsdiskurses sprechen, die ihre normativen Maßstäbe aus den Reaktionen der Zuschauer*innen generiert. Weil dem ästhetischen Urteil dieser komischen Erfahrung somit die theatrale Vermitteltheit ihres Anlasses inhärent ist, lässt sich dann – im Gegensatz zu der sanktionierenden Affirmation der Stereotype – mit einer gewissen Bestimmtheit von Kritik sprechen.32 Der Konflikt der Lachkollektive in Verrücktes Blut verdeutlicht, dass sich komische Darstellungsformen keineswegs kategorisch von ihren gemeinschaftsbildenden Tendenzen abgrenzen müssen, um ein kritisches Potential zu entfalten. Weder können die affirmativen und die subversiven Potentiale von Lachen und Komik also im Sinne eines Entweder-oder behandelt werden, noch aber ist es sinnvoll, diese Unterscheidung in einer Überbewertung der konfrontativen Züge des Komischen aufzugeben. Vielmehr scheint eine analytische Unterscheidung von Subversion und Affirmation bzw. ein gelingendes Verhältnis von Komik und Kritik von der Beziehung zwischen komischen Konstellationen und den von ihnen ermöglichten Lachgemeinschaften abzuhängen. Denn die Differenz in der theatralen Relationierung, die zwischen sanktionierender Lächerlichkeit und situationsüberschreitender Komik auszumachen ist, ist gerade im Kontext ethnocodierter Ausschlusspraxen ein Unterschied ums Ganze.

32 | »Kritik heißt nichts anderes als die Konfrontation des Urteils mit den Vermittlungen, die ihm selbst innewohnen«; Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: ders., Gesammelte Schriften. Band 5. Frankfurt a.M. 1971, S. 7-245, hier: S. 158.

›I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION‹ Eine Praktik des Scheins als kritische Praxis: Zur Ironisierung anti-illusionistischer Topoi in Iggy und Maike Lond Malmborgs Performance 99 Words for Void André Eiermann

Strong Messages – so lautet der Name einer Produktreihe von 2016, die der bildende Künstler David Shrigley für eine dänische Design-Kette gestaltet hat. Teil dieser Reihe sind zwei Gitarren-Plektren. »I HATE MUSIC« steht auf dem einen, »IT’S JUST NOISE« auf dem anderen, und Ausgangspunkt sowie Titelinspiration des vorliegenden Textes sind diese Plektren, weil sie die beiden Begriffe verbinden, um die es hier gehen soll: Kritik und Illusion. Zwar kommt keiner dieser Begriffe explizit in der ›strong message‹ der Plektren vor. Doch zumindest hinsichtlich des Begriffs der Kritik ist ziemlich offensichtlich, was sie mit diesem zu tun haben. Schließlich präsentieren sie einen kritischen Wortlaut, d.h. einen Satz, der, für sich genommen, Musik als bloßen Krach kritisiert. Allerdings ist gleichzeitig klar, dass damit eigentlich etwas anderes gemeint ist. Den Vorwurf, Musik sei bloß Krach, kennt man zwar. Als ernstgemeinter Vorwurf wird er allerdings für gewöhnlich nur von geräuschempfindlichen Nachbar*innen oder normativ argumentierenden Musikkritiker*innen geäußert. Auch bezieht er sich dann nicht auf Musik im Allgemeinen, sondern richtet sich in der Regel gegen bestimmte Arten von Musik, die von den entsprechenden Kritiker*innen entweder als störend oder als unzulässige Konventionsbrüche abgelehnt werden. Im Fall der Plektren-Aufschrift handelt es sich also erkennbar um eine Überspitzung dieses Vorwurfs, die darin besteht, dass sie ihn auf Musik im Allgemeinen ausdehnt. Dazu kommt noch, dass der Begriff ›Noise‹ auch auf ein Musikgenre verweist, dessen Programm gerade der Bruch mit überkommenen musikalischen Konventionen ist und das sich somit seinerseits kritisch zu einem normativen Musikverständnis verhält. Und schließlich steht das Ganze nicht umsonst auf zwei Gitarren-Plektren, die als Medien der ›strong message‹ wohl am deutlichsten darauf hinweisen, dass die formulierte Kritik nicht ernst gemeint ist – und die eigentliche Kritik nicht der Musik als solcher, sondern einem normativen Musikverständnis gilt. Die Frage, wie sich die Form bezeichnen lässt, in der sich diese Kritik artikuliert, kann in Bezug auf den römischen Rhetoriker Marcus Fabius Quintilianus, kurz Quintilian, zunächst mit dem Begriff der Allegorie beantwortet werden – insofern dieser bei Quintilian für eine Differenz von Wort und Sinn steht. Weil aber

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der Sinn der Plektren-Beschriftung sogar das Gegenteil dessen ist, was ihr Wortlaut sagt, findet sich bei Quintilian noch ein weiterer Begriff, der eine genauere Antwort auf die Frage ermöglicht, nämlich der Begriff der Ironie. Denn, so Quintilian: »Zu der Art von Allegorie aber, in der das Gegenteil ausgedrückt ist, gehört die Ironie.«1 Und damit ist auch schon gesagt, was die Plektren mit dem Begriff der Illusion zu tun haben, heißt es doch bei Quintilian weiter: »Die Römer nennen sie ›illusio‹ (Verspottung).«2 Woran man eine illusio im Fall einer Rede erkennen kann, erläutert Quintilian so: »Diese erkennt man entweder am Ton, in dem sie gesprochen wird, oder an der betreffenden Person oder am Wesen der Sache; denn wenn etwas hiervon dem gesprochenen Wortlaut widerspricht, so ist es klar, dass die Rede etwas Verschiedenes besagen will.«3 Anhand dieses Kriteriums der Erkennbarkeit unterscheidet er die illusio auch von anderen, täuschenden Formen der Verstellung.4 Und insofern auch im Fall der Plektren klar zu erkennen ist, dass der Wortlaut ihrer Aufschrift das Gegenteil dessen meint, was er sagt, handelt es sich bei der message, die sie in ihrem beschrifteten Zustand tatsächlich selbst sind, um ein Beispiel für eine Illusion in ebendiesem rhetorischen Sinne. Im Zusammenhang des vorliegenden Textes ist vor allem von Interesse, dass diese frühe Bedeutung des Illusionsbegriffs aufs engste mit dem Begriff der Kritik verbunden ist. Schließlich stellt die rhetorische illusio eine Form der spielerischkritischen Auseinandersetzung mit einer gegnerischen Position dar, die sich im Kontext der kritischen Rede und Widerrede opponierender Parteien entwickelt hat. Kurz gesagt: Die illusio ist ein Mittel der Kritik. Sie ist als Praktik des Scheins gleichzeitig eine kritische Praxis. Anders verhält es sich allerdings mit jenen Illusionsbegriffen, die heute geläufig sind. Illusion wird entweder – im Sinne ›epistemischer Illusion‹5 – als Synonym von Täuschung verstanden. Oder sie wird – als ›ästhetische Illusion‹ – gerade anhand des Kriteriums ihrer Erkennbarkeit vom Begriff der Täuschung differenziert.6 Zwar lässt sich in dieser Differenzierung durchaus eine Parallele zum rhetorischen Begriff der illusio erkennen. Doch jene kritische Dimension, welche in diesem Begriff enthalten war, findet bereits in den Illusionstheorien der Aufklärung, auf welche die Differenzierung zwischen ästhetischer Illusion und Täuschung zurückgeht, keine Entsprechung mehr, ebensowenig wie im Begriff der epistemischen Illusion. Insbesondere jenes Verständnis von Illusion, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Ablehnung durch die historischen Avantgarden erfährt, hat – zumindest aus avantgardistischer Sicht – nicht mehr das Geringste mit Kritik zu tun. 1 | Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Bd. 2, Buch VIII. Darmstadt 1975, S. 241. 2 | Ebd. 3 | Ebd. 4 | Zur Sonderstellung, die die illusio bei Quintilian unter den Formen der Verstellung (dissimulatio und simulatio) einnimmt, vgl. Hartung, Martin: Ironie in der Alltagssprache: Eine gesprächsanalytische Untersuchung. Opladen/Wiesbaden 1998, S. 22. 5 | Vgl. Koch, Gertrud/Voss, Christiane: »… kraft der Illusion«, in: dies. (Hg.), … kraft der Illusion. München 2006, S. 7-13, hier: S. 8. 6 | Vgl. zur Entwicklung des Illusionsbegriffs ausführlicher Schmenner, Roland: »Illusion«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Tübingen 1998, S. 214-223.

›I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION‹

Ganz im Gegenteil wird diese Illusion als völlig unkritisch aufgefasst – und gerade deshalb selbst zum Gegenstand der Kritik. Bertolt Brecht wird ihr dann vorwerfen, ein Instrument gerade der Unterbindung von Kritik zu sein.7 Hans-Thies Lehmann hat in diesem Zusammenhang von einem einsetzenden »Haß auf den falschen Zauber« 8 des sogenannten Illusionstheaters gesprochen – ein Hass, der einen grundlegenden Wandel der Theaterkonventionen im 20. Jahrhundert nach sich zieht. Mit der auf François Hédelins Abbé d’Aubignacs Pratique du théâtre von 1657 zurückgehenden Konvention, dass Theater Illusion zu schaffen habe, wird gebrochen. Und als neue Konvention etabliert sich eine grundlegend anti-illusionistische Haltung – zumindest dort, wo sich Theater als kritisch versteht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich nun auch die Abwandlung der PlektrenAufschrift, die den Titel des vorliegenden Textes darstellt: Wie diese Aufschrift, so ist auch der Wortlaut »I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION« als ironische Überspitzung bzw. illusio gemeint – in diesem Fall als illusio einer anti-illusionistischen Kritik an theatralen Praktiken des Scheins. Allerdings gibt es hier einen Unterschied. Denn diese Abwandlung stellt längst nicht gegenüber allen anti-illusionistischen Positionen eine illusio dar. Zwar ist das durchaus der Fall, wenn man sie auf die Positionen der historischen Avantgarden oder auf diejenige Brechts bezieht. Schließlich hassen weder die einen noch der andere das Theater im Allgemeinen, sondern nur eine bestimmte, nämlich realistisch-naturalistische Form des Theaters. Mitunter hassen sie sogar die Illusion weit weniger, als es in der Regel kolportiert wird, sondern verteidigen den Begriff vielmehr gegen sein Verständnis im aus ihrer Sicht reduktionistischen Sinn des Naturalismus.9 Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute finden sich auch andere illusionskritische Positionen – anders insofern, als sie den Wortlaut »I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION« durchaus ernst meinen könnten. Ein prominentes Beispiel ist die Position Guy Debords, in dessen Kritik der ›Gesellschaft des Spektakels‹ die Begriffe des Theaters und der Illusion aufs engste – nämlich eben im Begriff des Spektakels – miteinander verbunden sind. Ein noch prominenteres und vor allem aktuelleres Beispiel ist keine geringere als die Position der Ikone der Body Art: Marina Abramović. Tatsächlich gibt es Aussagen Abramovićs, die dem Wortlaut »I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION« ziemlich genau und ganz unironisch entsprechen – wie z.B. die folgende aus einem Interview im Vorfeld ihrer MoMA-Retrospektive The Artist is Present: »[T]o be a performance artist, you have to hate theatre. Theatre is fake […]. The knife is not real,

7 | Vgl. z.B. Brecht, Bertolt: »Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22. Frankfurt a.M. 1993, S. 641-659. 8 | Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 2005 (3., veränd. Aufl.), S. 186. 9 | Vgl. hierzu ausführlicher (in Bezug auf Adolphe Appia, Peter Behrens, Edward Gordon Craig, Antonin Artaud und Bertolt Brecht) Eiermann, André: »TO DO AS IF – Realitäten der Illusion im zeitgenössischen Theater«, in: ders. (Hg.), TO DO AS IF – Realitäten der Illusion im zeitgenössischen Theater. Frankfurt a.M. u.a. 2018, S. 7-28, hier: S. 8-9.

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the blood is not real, and the emotions are not real. Performance is just the opposite: the knife is real, the blood is real, and the emotions are real.«10 Interessant ist an dieser Aussage zum einen, dass Abramović sie äußert, obwohl sie weiß, dass sich das Theater gerade unter dem Einfluss der Performance Art maßgeblich verändert hat, wie sie im selben Interview kurz zuvor noch betont.11 Zum anderen ist interessant, dass sie mit dieser Aussage etwas wiederholt, das ihr sinngemäß selbst gesagt wurde, nämlich von ihrem Galeristen Sean Kelly, wie aus der gleichnamigen Film-Dokumentation zu The Artist Is Present zu erfahren ist.12 Den Worten Kellys geht dabei voraus, dass ihm Abramović von einem Vorschlag des Illusionisten David Blaine berichtet, der darin besteht, im Rahmen ihrer Retrospektive einen scheinbaren Axt-Mord an ihr zu verüben – eine Idee, die sie zunächst durchaus interessant findet. Kelly hingegen ist ganz und gar nicht davon angetan. Aus seiner Sicht passt die geplante Aktion überhaupt nicht zu dem, wofür Abramović als Künstlerin – bzw. die Marke Abramović – steht, und so redet er ihr die Idee mit folgendem Argument aus: Blaine sei ein Illusionist. Was er vorschlägt, sei Theater. Und das stehe in grundsätzlichem Widerspruch zu ihrer Kunst, die schließlich das genaue Gegenteil sei. Im Grunde wirken hier also die Zwänge und Konventionen eines anti-illusionistischen Dispositivs auf Abramović zurück – eines Dispositivs, das sie selbst mit eingerichtet hat. Und es wird deutlich, dass dies gleichzeitig die Zwänge eines entsprechend strukturierten Kunstmarktes sind. Ihrem Galeristen geht es offenkundig darum, eine illusionistische ›Verunreinigung‹ ihrer Kunst zu verhindern – wohl in erster Linie, um deren Marktwert nicht zu gefährden und ihre anti-illusionistische Ausrichtung als Markenzeichen Abramovićs aufrechtzuerhalten. Gerade dies ist hinsichtlich des Verhältnisses von Illusion und Kritik von besonderem Interesse. Denn es zeigt, dass der Illusion bzw. Praktiken des Scheins in der zeitgenössischen Kunst ein durchaus kritisches Potential zukommt, d.h. das Potential, den mittlerweile in Form bestimmter ästhetischer Konventionen etablierten Anti-Illusionismus sowie die darauf auf bauenden Ökonomien und Machtformen in Frage zu stellen oder zumindest in Verlegenheit zu bringen. Und mit Blick auf den Bereich der szenischen Kunst lässt sich feststellen, dass gerade eine jüngere Generation von Künstler*innen seit einigen Jahren verstärkt an der Entfaltung dieses Potentials arbeitet. Die Praktiken des Scheins, die dabei zum Einsatz kommen, sind allerdings keineswegs auf solche beschränkt, deren Wirkungen allein dem Begriff ästhetischer Illusion entsprechen, also stets als Schein erkennbar sind. Vielmehr wird häufig auch und gerade ein Zusammenspiel erkennbaren Scheins bzw. ästhetischer Illusion mit Momenten der Täuschung praktiziert. Oder Illusionen gehen sogar aus Täuschungen hervor bzw. umgekehrt – womit nicht allein mit anti-illusionistischen Konventionen gebrochen wird, sondern auch die auf die Illusionstheorien

10 | Abramović, Marina: »›The knife is real, the blood is real, and the emotions are real.‹ – Robert Ayers in conversation with Marina Abramović«, März 2010, www.askyfilledwithshoo​ tingstars.com/wordpress/?p=1197 vom 11. März 2018. 11 | Vgl. ebd. 12 | Vgl. Akers, Matthew/Dupre, Jeff (Regie): The Artist Is Present. Music Box Films 2012.

›I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION‹

der Aufklärung zurückgehende Ausgrenzung der Täuschung aus dem Bereich des Ästhetischen in Frage gestellt wird.13 Hier soll es nun aber um eine Arbeit gehen, mit der sich der Kreis zur rhetorischen illusio schließen lässt. Denn in dieser Arbeit kommt ebenjene Praktik des Scheins zur Anwendung, für die dieser Begriff bei Quintilian steht: eine Rede, die das Gegenteil dessen meint, was sie sagt. Es handelt sich um die Performance 99 Words for Void von und mit Iggy und Maike Lond Malmborg, die am 11. November 2015 im Kanuti Gildi SAAL in Tallinn uraufgeführt wurde. Performer und Performerin stehen in dieser Arbeit in Ritterrüstungen auf der Bühne, und im Laufe der Performance spielen sie in diesen Rüstungen u.a. auf einer E-Gitarre. Nun würde es natürlich nur zu gut passen, wenn sie diese Gitarre mit den Plektren von David Shrigley spielen würden. Noch besser würde es passen, wenn einer der Sätze, die sie ans Publikum richten, der Satz »I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION« wäre, würde dieser doch, im Theaterrahmen geäußert, der Logik des auf die Plektren geschriebenen Wortlauts »I HATE MUSIC – IT’S JUST NOISE« exakt entsprechen. Beides ist zwar nicht der Fall. Doch was die beiden tun, ist tatsächlich etwas ganz Ähnliches. Man könnte sogar sagen: Sie tun das Gleiche, nur auf umgekehrte Weise. Denn anstelle einer kritischen Aussage machen sie eine Reihe ganz affirmativer Aussagen zum Gegenstand ihrer illusio. Sie sprechen nämlich gerade davon, wie sehr sie das Theater schätzen, ja sogar lieben, und zwar gerade dafür, dass es die Konventionen des sogenannten Illusionstheaters überwunden hat. Passend dazu wenden sie in ihrer Rede eine Methode an, die sozusagen das Gegenmodell einer kritischen Auseinandersetzung darstellt, nämlich das sogenannte Yes-anding, das aus dem Kontext der Viewpoints-Technik und des Improvisationstheaters stammt. Beliebt ist es auch als Feedback-Methode, insbesondere in Teambuilding-Workshops oder Management-Seminaren, aber nicht zuletzt auch im künstlerischen Kontext. Zweck dieses Yes-anding ist, die Aussagen der Gesprächspartner*innen nicht kritisch zu hinterfragen oder gar zu negieren, sondern sie bejahend zu ergänzen und konstruktiv zu erweitern – stets eingeleitet von einem entweder gesagten oder auch nur gedachten »Yes, and …«. Genau dies machen Maike und Iggy Lond Malmborg in ihrer Performance. Sie wechseln sich in ihrer Rede ab, und das jeweils zuvor von dem/der anderen Gesagte wird von ihnen bejaht, ergänzt und somit konstruktiv weiterentwickelt. Sie führen einen Dialog ohne Dialektik, wie sie es selbst beschreiben, sprechen eine

13 | Vgl. hierzu ausführlich Eiermann, 2018; ders.: »Illusion. Episteme. Dispositiv«, in: Milena Cairo et al. (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit. Bielefeld 2016, S. 151-161; ders.: »Illusion, zwischen(/)durch Täuschung. Aspekte des Scheins in Erfahrungsräumen des zeitgenössischen Theaters«, in: Jörn Schafaff/ Benjamin Wihstutz (Hg.), Sowohl als auch dazwischen. Erfahrungsräume der Kunst. Paderborn 2015, S. 165-182; ders.: »Dieser Vortrag ist nicht echt – oder: Wirklichkeiten der (Ent-) Täuschung in der zeitgenössischen Kunst«, in: Tobias Brenk/Boris Nikitin/Carena Schlewitt (Hg.), Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater. Berlin 2014, S. 112-125.

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Sprache, die keinen Raum für Kritik lässt.14 Und in ihren Rüstungen, die bei jeder Bewegung lautstark scheppern, klappern sie dabei buchstäblich alle Topoi eines anti-illusionistischen Theaterverständnisses affirmativ ab. Doch je länger sie dies tun, desto deutlicher wird, dass sie nicht ernst meinen, was sie sagen. Vielmehr werden sowohl der Inhalt als auch die Form ihrer Rede immer deutlicher in ihrer Ironie erkennbar, sprich: Ihre Rede stellt sich als illusio heraus. So sagt er z.B. – nachdem beide erklärt haben, wie sehr sie den Beginn einer Aufführung mögen, weil sich da so eine besondere Verbindung zwischen Performer*innen und Publikum herstellt: »Yes, and especially here in this new contemporary theatre, where we don’t have a fourth wall, but we’re all in the same space, then it is really a relation that only exists here.«15 Daraufhin ergänzt sie: »Yes, and I’m very happy about the people who have been busy breaking that fourth wall, removing that pitch between the audience and the performers.« Etwas später sagt er dann: »Yes, and that’s also why in this tradition of theatre, the new tradition, it is important to have equal lights in the entire space, so that we all can see each other, and not have you in the dark, and us in the light.« Sie ergänzt: »Yes, and we really worked hard to really have the same amount of kilowatts falling on all of us.« Und er fährt fort: »Yes, and that is to show that in this space, right now, we are all completely equal.« Mit dieser offensichtlich ironischen Betonung einer vermeintlich kompletten Gleichheit der Anwesenden deutet sich auch schon ein weiterer Punkt an, nämlich der, dass sich die eigentliche Kritik der Rede, d.h. die spielerisch-ironische Kritik an sowohl anti-illusionistischen Theaterkonventionen als auch an der antikritischen Methode des Yes-anding, nicht allein auf diese bezieht. Sie bezieht sich auch, wie dann deutlich wird, auf deren Verhältnis zum Begriff der Demokratie. Es wird also explizit politisch, und damit steht auch die Wahl der Kostüme in Verbindung. Denn dass die beiden in Rüstungen auftreten, hat einen bestimmten Grund. Nicht nur unterscheiden sie sich in diesen Rüstungen diametral von den nackten, verletzlichen, anti-illusionistischen Körpern der Performance Art. In erster Linie sind die Rüstungen ein Verweis auf die Präsenz des Militärs in europäischen Großstädten, wie man sie seit den Terroranschlägen der jüngeren Vergangenheit kennt. Das Publikum erfährt das bereits zu Beginn der Performance, als die Bühne noch dunkel ist. Denn aus diesem Dunkel heraus bitten die beiden Performer*innen das Publikum, ihnen als menschliches Mikrophon zu dienen und folgenden Text chorisch nachzusprechen: »At the time of the attack … on Charlie Hebdo in Paris … we were in Brussels … The streets and subways there … were crowded with soldiers … Heavily armed soldiers … And we were thinking: What … are these soldiers defending? … What are these soldiers defending?«16 14 | Vgl. den Informationstext und das Video-Interview zu 99 Words for Void auf https:// vimeo.com/144092090 vom 11. März 2018. 15 | Bei allen Zitaten aus der Performance handelt es sich um Transkriptionen des entsprechenden Textes auf Grundlage einer Videodokumentation. 16 | In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass 99 Words for Void zwei Tage nach der Premiere von den erneuten Anschlägen in Paris am 13. November 2015 eingeholt wurde. Die Aufführung, deren Videodokumentation hier herangezogen wurde, fand am 14. November 2015 statt.

›I HATE THEATRE – IT’S JUST ILLUSION‹

Die gängige Antwort auf diese Frage ist bekannt: Was ihr zufolge zu verteidigen ist, sind die Werte der westlichen Demokratie wie Freiheit und Gleichheit. Gerade diese Antwort wird in 99 Words for Void durch das erneute Stellen der entsprechenden Frage nun aber in Zweifel gezogen – oder zumindest dahingehend erneut in Frage gestellt, ob mit ihr tatsächlich schon alles beantwortet ist. Fragwürdig erscheinen Maike und Iggy Lond Malmborg offenbar gerade jene Werte, die diese Antwort als unzweifelhaft voraussetzt – oder anders formuliert: die Ideologie, die dem entsprechenden Demokratieverständnis zugrunde liegt. Dieser ideologiekritische Ansatz stellt in der Tat den Ausgangspunkt des Projekts dar, wie die online verfügbaren Zusatzinformationen bestätigen.17 Darüber hinaus geht aus diesen Quellen auch hervor, dass es den beiden Künstler*innen speziell um eine kritische Auseinandersetzung mit der Art und Weise geht, wie im gängigen Demokratieverständnis Aspekte humanistischer Rhetorik einerseits und neoliberaler Politik andererseits zusammenspielen. Sowohl die Konventionen eines anti-illusionistischen Theaters als auch das anti-kritische, konsensorientierte Yes-anding kommen somit schließlich als Symptome dieses Zusammenspiels (oder auch: dieser Vereinbarkeit) von Humanismus und Neoliberalismus in den Blick – bzw. in die Kritik. Genauer gesagt werden sie mittels illusio als solche Symptome kritisiert. So sagt er – nachdem die beiden die erwähnte E-Gitarre zum Einsatz gebracht und, vor dem Hintergrund des Bezugs auf die Beziehung zwischen Performer*innen und Publikum, ein Loblied aufs gegenseitige Geben und Nehmen gesungen haben: »Yes, and to give and get at the same time, and to take part: That is really what democracy is all about. Yes, and as we have all these lamps, and as we don’t have a fourth wall: That makes this into an extremely democratic space.« Daraufhin sie: »Yes, and the democracy calculated in spaces like this one, is a very special type: Here we can truly say that all men are equal.« Und dann wieder er: »And that makes us, or this space, a role model for the entire society at large.«18 In diesem Raum, so die beiden weiter, sei man der Utopie so nahe, wie man ihr nur kommen könne. Dies sei Grund genug, diesen Raum zu verteidigen – und auch der Grund, weshalb sie ihren Job so ernst nähmen. Als Künstler*in sei man schließlich verantwortlich, diese demokratische Errungenschaft zu hegen und zu pflegen. Und deshalb hätten sie auch kein Problem damit, gegebenenfalls unbezahlt zu arbeiten. Hier wird der ironische Charakter ihrer Rede geradezu überdeutlich, d.h. die illusio ist ganz klar als solche zu erkennen. In die Kritik gerät somit auch und gerade das angesprochene Verständnis von Demokratie: Zum einen kritisiert die illusio dieses Verständnis als solches, dessen Versprechen von Freiheit und Gleichheit die Entstehung prekärer Arbeitsverhältnisse und Selbstausbeutungsmechanismen befördert. Zum anderen klingt dabei auch eine Kritik an, wie sie sich ganz ähnlich in den politischen Theorien beispielsweise Jacques Rancières oder Chantal Mouffes findet,19 eine Kritik nämlich, die der Vorstellung widerspricht, dass die westliche 17 | Vgl. auch hier insbesondere den Informationstext und das Video-Interview auf https:// vimeo.com/144092090 vom 11. März 2018. 18 | Ebenfalls zitiert auf Grundlage der Videodokumentation. 19 | Vgl. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a.M. 2002; Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a.M. 2007.

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Demokratie in ihrem aktuellen Zustand der Weisheit letzter Schluss sei – und dass es sich bei dem, wogegen das Prinzip der Demokratie verteidigt werden müsse, um eine von außen kommende, fremde Bedrohung handle. Was sich demgegenüber aufdrängt, ist vielmehr der Gedanke, dass sich diese Demokratie mittlerweile in das verwandelt hat, was politische Theorien wie die genannten als postpolitische Demokratie bzw. Postdemokratie beschreiben, also eine in ihrer technokratischen Verwaltung erstarrte und entleerte Demokratie, die sich auf den Trugschluss stützt, ihre Aufgabe bestünde in der Schaffung von Konsens – ein Trugschluss, dem die These vom vermeintlichen ›Ende der Geschichte‹ als Bestätigung dient.20 Die Gefahr, die z.B. Mouffe in dieser postpolitischen Vorstellung von Demokratie bzw. in der Auffassung sieht, dass gesellschaftliches Leben ohne Konflikte möglich sei, ist der Verlust einer ›agonistischen Sphäre‹, d.h. einer Sphäre, in der sich widerstreitende Positionen repräsentieren und symbolisch auseinandersetzen können. Denn verschwindet diese Sphäre, so Mouffes These, verschwinden deshalb keineswegs auch die gesellschaftlichen Konflikte. Vielmehr tendieren diese Konflikte in diesem Fall dazu, sich in gewaltsamer Form Bahn zu brechen – im ›antagonistischen Modus‹. Und eines ihrer Beispiele dafür ist eben gerade der Terrorismus.21 99 Words for Void scheint in Form einer illusio eine ganz ähnliche These zu entwickeln. Und wie diese These gerade in Anbetracht zeitgenössischer politischer Entwicklungen von besonderer Relevanz ist, so stellt 99 Words for Void auch ein besonderes Beispiel dafür dar, dass Praktiken des Scheins im zeitgenössischen Theater auch als kritische Praxis wirken und verstanden werden können.

20 | Das genannte Video-Interview bestätigt, dass es um genau diesen Punkt geht, wenn Iggy Lond Malmborg gegen Ende der vierten Minute sagt: »… we have for long been saying that ideology is over… like when the Berlin Wall came down, ideologies were over, capitalism won. But it seems like it’s not really the case. And we were wondering: What is the ideology that we stand behind, or that …« Und Maike Lond Malmborg ergänzt: »… that the soldiers on the streets of Brussels were defending?« Vgl. das entsprechende Video auf https://vimeo. com/144092090 vom 11. März 2018. 21 | Vgl. Mouffe, 2007.

Gewalt, Politik, Kritik Michael Wehren

Das Verhältnis vom Politischem, Politik und Gewalt wird in den aktuellen Auseinandersetzungen um Aktivismus und öffentlichen Raum wieder verstärkt diskutiert, während gleichzeitig neue Formen der Protest- und Demonstrationskultur praktisch hervortreten. Der Theaterraum als Innenraum eines Gebäudes verhält sich zu den Schauplätzen dieser Auseinandersetzungen, etwa zur Straße oder zum öffentlichen Platz, oftmals wie ein anderer Ort, der den Konflikten gegenüber tendenziell als vor- oder nachgängig erscheint. Vor diesem Hintergrund möchte ich anhand der Inszenierung Violence & Learning 1 danach fragen, inwiefern ein kritisches Potential von Theater in der Wiederholung von im Protest gemachten Erfahrungen des gesellschaftlichen Antagonismus liegen kann.

A ufforderung zum U rteil Zu Beginn der Inszenierung Violence & Learning betreten die Besucher*innen den Aufführungsraum, der lediglich am Rand von einigen durchsichtigen Plastikkisten bzw. Scheinwerfern gerahmt wird und sich ansonsten als leer erweist. Während sich das Publikum, auf einen Impuls des Einlassers hin, relativ mittig entlang von zwei auf dem Boden markierten Linien aufstellt, sind verfremdete, wie in die Ferne gerückt wirkende Sounds zu hören, die an Demonstrationen oder Straßenschlachten erinnern. Das auditive Setting ist eines der Unruhe, irritierend und latent bedrohlich, wirkt es wie ein akustisches Echo der Welt außerhalb des Theaters. Dann folgt eine Markierung: Auf einen weiteren durch den Einlasser gegebenen Impuls hin beginnen alle Anwesenden, die nun entlang der zwei Linien aufgestellt sind, gemeinsam zu klatschen und zu jubeln. Während dieses gemeinsamen, feierlichen Jubels und der ihn begleitenden jubilatorischen Gesten lösen sich vier Performer*innen aus dem applaudierenden Publikum und unterbrechen die feierliche Stimmung unter den Anwesenden:

1 | Violence & Learning, Künstlerische Leitung, Konzept, Text: Henrik Bromander, John Hanse, Sounddesign: Jonas Åkesson, Licht: Kerstin Weimers, Darsteller*innen: Oskar Sten-​ ström, Sanne Ahlqvist Boltes, Sofia Snahr, Olof Mårtensson, Uraufführung am 23. März 2016, Inkonst, Malmö. Ich habe die englische Version der Inszenierung am 26. April 2016 im LOFFT (Leipzig) gesehen.

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A, B, C, D; THE FOUR ACTIVISTS Wait! We must tell you something. We have done something awful. A, AN ACTIVIST Something awful to one of our own, a comrade. B, A SECOND ACTIVIST We must tell you so that you may judge what has happened. 2

Etwas Furchtbares sei nicht nur geschehen, sondern vielmehr von den vieren getan bzw. einem sogenannten Kameraden oder besser Genossen angetan worden.3 Die das Publikum direkt adressierenden vier jungen Aktivist*innen wirken dabei so sachlich, ruhig und konzentriert, dass es kaum vorstellbar erscheint, dass ihnen irgendein furchtbarer Fehler unterlaufen sei oder dass die Gruppe etwas Furchtbares getan haben könnte. Und doch bildet ein solches Ereignis, wie im Folgenden zu erfahren ist, den Ausgangspunkt der ganzen Szene. Die vier erklären, dass es sich bei ihnen um Mitglieder einer offenbar in der näheren Zukunft angesiedelten neuen linken (Massen-)Bewegung handelt, und berichten von jenem »Young Comrade«4, dessen Taten den eigentlichen Anlass des Geschehenen – jener furchtbaren Tat oder vielmehr jenes furchtbaren Handelns der vier – darstellen. Dieser »Junge Genosse« ist weniger ein ausgebildeter Charakter als ein »politische[s] Modell […], um mit dem Mediziner zu reden, [ein] Phantom […]«5, d.h. eine repräsentativ-demonstrative Figur: »One who stands for the compassion of the many and the bitter uncompromising of the few.«6 Als solche wird er von unterschiedlichen Aktivist*innen zwar auf je unterschiedliche Weise, doch immer als problematische Figur beschrieben. Sein affektives Potential erscheint in ihrer Darstellung als ebenso berührend wie maßlos: »The Young Comrade’s heart was larger than all of ours put together. Nonetheless there was room for much darkness and hatred.« 7 Seine Emotion und sein Verstand sind jeweils am falschen Ort präsent und interferieren mit der Logik politischer Taktik und Strategie: »The Young Comrade mixed emotion in tactical issues and strategy in sensitive ones. In the end, there was only the grave error, a heavy burden on our shoulders.«8 Dieser Fehler, als dessen Auslöser der »Junge Genosse« tendenziell erscheint, hatte offenbar schwerwiegende Folgen für alle Beteiligten: »[It] puts all our victories in a new light and that will make the proud applause from a moment ago echo empty and sorrowful.«9 2 | Bromander, Henrik/Hanse, John: Violence & Learning, http://valdochpedagogik.se/ wordpress/wp-content/uploads/2016/04/Violence-Learning-april-16.pdf vom 27. Dez. 2017, S. 1. 3 | »Comrade« kann zwar mit »Kamerad« übersetzt werden, doch ist es wahrscheinlich, dass es sich hier um eine Übernahme der Übersetzung »Young Comrade« für »Junger Genosse« aus der englischen Ausgabe von Bertolt Brechts Die Maßnahme handelt (vgl. Bertolt Brecht: »The Measures Taken«, in: ders., The Measures Taken and other Lehrstücke. New York 2001). 4 | Bromander/Hanse: Violence & Learning, S. 1. 5 | Benjamin, Walter: »Bert Brecht«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. II-2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt a.M. 1991, S. 660-667, hier: S. 663. 6 | Bromander/Hanse: Violence & Learning, S. 1. 7 | Ebd. 8 | Ebd. 9 | Ebd.

Gewalt, Politik, Kritik

Die Bewegung selbst scheint es – offenbar als Folge dieses Fehlers – nicht mehr zu geben. Diejenigen, die hier zusammenkommen, sind, auch wenn man es ihnen nicht direkt ansieht und auch wenn der gemeinsame Applaus nur wenige Minuten her ist, in gewisser Weise Besiegte und Unterlegene. Dennoch oder gerade deshalb wird durch die Aktivist*innen ein Urteil eingefordert, das in Abwesenheit einer anderen adressierbaren Instanz dem Publikum abverlangt wird. A, AN ACTIVIST We will tell you what we did to The Young Comrade so that you may understand. Only the movement can judge whether it was right or wrong. B, A SECOND ACTIVIST There is no longer a movement, but the movement will judge us. We will show you how it all happened and why, so that you may give us your verdict.10

G e walt/D emonstrieren An die Aufforderung zum Urteil schließt sich die Wiederholung fiktiver, für die Teilnehmer*innen der Aufführung zukünftiger Ereignisse an, die aus der Sicht der Aktivist*innen bereits Vergangenheit sind. Wiederholendes Reenactment und vorwegnehmendes Preenactment fallen ineinander und gehen eine irritierende Beziehung miteinander ein: Die zu wiederholenden fiktiven Ereignisse sind nicht nur noch nicht geschehen, sie sind auch bereits geschehen und damit Vergangenheit. Wiederholt und gleichzeitig vorweggenommen werden die Geschehnisse gemeinsam mit den Besucher*innen, die ebenso wie die Performer*innen unterschiedliche Rollen und Typen spielen. Zusätzlich fungieren die Performer*innen im Prozess der Aufführung als Anleiter*innen und Spielleiter*innen. Sie geben Anweisungen und verteilen Rollen, sie leiten ihre Wechsel ein oder teilen benötigte Requisiten wie beispielsweise Fahnen bei einer Demonstration an die anderen Teilnehmer*innen aus. Nacheinander stellen sie so zusammen mit den Besucher*innen mehrere Szenen nach, die das Verhalten des »Jungen Genossen« sowie ihr eigenes in verschiedenen Situationen demonstrieren sollen. Sie kommentieren die Aufführung und diskutieren immer wieder verschiedene Aspekte der gespielten Szenen. Dabei steht zunächst eine Demonstration für offene Grenzen und gegen faschistische Gewalt im Vordergrund, die unter Anleitung der Performer*innen rekonstruiert und wiederholt wird. Auf die Ansage »We will reenact the demonstration«11 folgt das gemeinsame Nachstellen der Demonstration inklusive Slogans und Gesten, in deren Kontext einer der Aktivisten den »Jungen Genossen« darstellt: »I am The Young Comrade. This reenactment is about me.«12 Im Verlauf der Szenen tritt eine zunächst von den Aktivist*innen, später dann von ausgewählten Besucher*innen gespielte Gruppe Faschisten auf, die die Demonstrierenden angreift. Im Hin und Her der teilweise kollektiv durchgespielten, teilweise berichteten Auseinandersetzung wird ein Faschist durch den »Jun10 | Ebd. 11 | Ebd., S. 2. 12 | Ebd., S. 3.

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gen Genossen« schwer verletzt, woraufhin Fragen der Gewaltanwendung sowie ihrer Konsequenzen diskutiert werden. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigen sich deutlich zentrale Themen des Stücks: Es geht um die »Politik der Straße«13, Gewalt und Gegengewalt, gerechtfertigte und ungerechtfertigte Gewalt, den Umgang mit struktureller Gewalt ebenso wie mit persönlicher, konkreter und körperlicher Gewaltausübung. Auch die folgenden Szenen vertiefen diese Thematik: bei der gemeinsamen Blockade eines Geschäfts, bei dem Auf bau eines illegalen Untergrund-Netzwerkes sowie gegen Ende, in einer autonomen Zone, einem konkret-heterotopischen14 »first taste of a social utopia«15, bei der durch den »Jungen Genossen« geleiteten Vorbereitung eines terroristischen Anschlags auf den inzwischen gegenüber der Bewegung offen feindlich agierenden Staat. Zuletzt wird es dieser von den Aktivist*innen nicht aufgehaltene Anschlag sein, der zum Ende der Bewegung sowie der von ihr errichteten Zone führt. Die nach- und durchgespielten Szenen dieser Geschichte bringen die Teilnehmenden in eine Reihe von Situationen, welche viele der Anwesenden vermutlich bereits im Kontext der Teilnahme an öffentlichen Protesten erlebt haben dürften oder auf ihren Erfahrungshorizont der »räumlichen Kopräsenz protestierender Körper«16 beziehen können.17 Immer wieder steht in diesen Szenen der gemeinsame, körperliche Nachvollzug von kollektiven Haltungen und Handlungen im Fokus. So werden während der Demonstration beispielsweise gemeinsam Parolen intoniert, eine Versammlung nachgestellt und (Gummi-)Steine auf politische Gegner*innen geworfen, während ein andermal eine Blockade körperlich von den Besucher*innen eingeübt, ausgeführt und trotz des Eingriffs von durch die Aktivist*innen gespielten Polizist*innen aufrechterhalten wird. Kontrollierte Gewaltanwendung und Szenen der Gewaltandrohung werden demonstriert und gemeinsam mit dem Publikum durchgespielt: Das Ergebnis oszilliert zwischen einem probenähnlichen Moment und einer Aufführungssituation, in welcher der Fokus auf kooperativem Handeln liegt, das durch die Performer*innen inszeniert und organisiert wird. Hierbei kommt es immer wieder zu Szenen der Konfrontation mit der »anderen« Seite, beispielsweise in Gestalt von Faschist*innen oder Polizist*innen, aber auch zum irritierenden Platzwechsel mit ihr, wenn die Rolle der Faschist*innen beispielsweise zunächst von den Performer*innen, in der Folge dann aber – auf den Impuls der auch als Spielleiter*innen agierenden Performer*innen hin – von den Besucher*innen übernommen wird.

13 | Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin 2016, S. 91. 14 | Zum Konzept der Heterotopie vgl. Foucault, Michel: »Die Heterotopien«, in: ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a.M. 2005, S. 7-22. Der Begriff der »Heterotopie« wird von mir hier weniger im starren Gegensatz zur Utopie gesehen, vielmehr sind es die Momente der Verortung, Lokalisierung und Realisierung (auch des Utopischen), auf die es mir hier ankommt und die mit ihm hervorgehoben werden. 15 | Bromander/Hanse: Violence & Learning, S. 19. 16 | Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Berlin 2013, S. 444. 17 | Die Produktion wurde auch in Veranstaltungszentren der linken, aktivistischen Szene gespielt.

Gewalt, Politik, Kritik

D ie M assnahme , wiederholt Auch wenn dies den Besucher*innen der Aufführung nicht notwendigerweise bewusst sein muss, fungiert Bertolt Brechts Lehrstück Die Maßnahme für die Dramaturgie der Wiederholung, die Praxis des Platzwechsels sowie den Plot von Violence & Learning als ein zentraler theatergeschichtlicher bzw. politischer Bezugspunkt. Es gehört zu einer Reihe von Theater- und Medienexperimenten, mit denen Brecht und seine Mitarbeiter*innen Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre kritisch in die institutionellen, ästhetischen und politischen Rahmungen und Praxen von Theater intervenierten und die insbesondere das Verhältnis von Zuschauer*innen und Spieler*innen in Frage stellten: Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden.18

Laut Brecht spielt hierbei »[d]ie Nachahmung hochqualifizierter Muster […] eine große Rolle, ebenso die Kritik, die an solchen Mustern durch ein überlegtes Andersspielen ausgeübt wird«19. Obwohl sie hier nicht umfassend dargestellt werden können, ist doch festzuhalten, dass die Lehrstücke Impulse aus der Laienmusikbewegung und der Agitprop ebenso aufnahmen wie aus der Reformpädagogik, dem kommunistischen Teil der Arbeiterbewegung, den dazugehörigen Formen politischer Praxis sowie seinerzeit neuen Medien wie Rundfunk und Film. Hinzu kam eine Politisierung der eigenen Praxis: So behandelte Brecht im Lehrstück Die Maßnahme in der Arbeit mit Arbeitersänger*innen die richtige Anwendung revolutionärer Verhaltenslehren im Klassenkampf. Die Lehrstücke wurden insbesondere seit den 1970er Jahren zu Impulsgebern vielfältiger, häufig engagiert-politischer Theaterversuche, sah man in ihnen doch Anregungen für Spielformen, die zu »Kritik und Veränderung herausfordern«20 und damit als Übungen zur »Selbstverständigung und Selbsterziehung lernender Kollektive«21 beitragen sollten. Das im Dezember 1930 uraufgeführte Lehrstück Die Maßnahme, das für Brecht die Form eines möglichen »Theater[s] der Zukunft«22 darstellte, ist eine Veranstaltung von einem Massenchor und 4 Schauspielern. Den Part der Spieler haben bei unserer heutigen Aufführung […] 4 Schauspieler übernommen, aber dieser Part kann natürlich auch […] von jungen Leuten ausgeführt werden und gerade das ist sein Haupt18 | Brecht, Bertolt: »Zur Theorie des Lehrstücks«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.1: Schriften 2, Teil 1. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1993, S. 351-352, hier: S. 351. 19 | Ebd. 20 | Steinweg, Reiner: »Zum Lehr- und Agitationswert der ›Maßnahme‹ (Nachwort für Spielund Agitpropgruppen)«, in: Bertolt Brecht, Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt a.M. 1972, S. 475-489, hier: S. 475. 21 | Brenner, Hildegard: »Zu diesem Heft«, in: alternative 14, 78/79 (Juni/Aug. 1971), S. 101. 22 | Manfred Wekwerth, hier zitiert nach Steinweg, Reiner (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt a.M. 1976, S. 201.

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zweck. Der Inhalt des Lehrstückes ist kurz folgender: 4 kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt durch den Massenchor. Sie haben in China kommunistische Propaganda getrieben und dabei ihren jüngsten Genossen erschießen müssen. […] [Sie] zeigen […], wie sich der junge Genosse in den verschiedenen politischen Situationen verhalten hat. Sie zeigen, daß der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zu wenig seinen Verstand sprechen ließ, so daß er […] zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde. Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren. 23

Obwohl diese (Selbst-)Darstellung vor dem Hintergrund einer detaillierteren Lektüre teilweise ausführlicher zu kommentieren wäre, vermittelt sie doch einen Eindruck davon, inwieweit Violence & Learning sich auf Die Maßnahme bezieht und dieses Stück als Vorlage nutzt bzw. umarbeitet. Auf der Ebene der Handlung sind einerseits die Figur des »Jungen Genossen« und das Kollektiv der vier Agitatoren zu nennen, andererseits das Problem der fehlenden Disziplin und überschüssigen Affekte des politischen Subjekts. Organisierendes Prinzip der Darstellung ist in beiden Fällen außerdem eine Praxis der Wiederholung, die auf das Zeigen und Demonstrieren von Situationen und Charakteren zielt. Eröffnen die Aktivist*innen in Violence & Learning eine Szene beispielsweise mit »We will reenact the demonstration«24, so weisen die Agitatoren immer wieder den Wiederholungs- und Demonstrationscharakter des Gesehenen aus: »Wir wiederholen den Vorgang.«25 Gleichzeitig weist Violence & Learning signifikante Unterschiede zu Die Maßnahme auf, die teilweise auch direkt angesprochen werden: Als die Aktivist*innen den »Jungen Genossen« beispielsweise gegen Ende nicht davon abhalten, das von ihm geplante Attentat auszuführen, fragt dieser: D, THE YOUNG COMRADE Why are you not stopping me? Silence. D, THE YOUNG COMRADE Back in the day, you would have shot me and thrown my body into a lime pit.

Worauf Aktivist B antwortet: »For that we lack the mandate. The measure we take is to abstain from action.«26 Erschießung und Kalkgrube verweisen hier ebenso auf Die Maßnahme, wie die Antwort des Aktivisten den Titel der englischen Übersetzung (The Measures Taken) aufgreift. Einen weiteren Unterschied markiert das Wegfallen des oben bereits erwähnten Chors, vor dem und mit dem die Agitatoren die verschiedenen Vorgänge demonstrieren – wobei in der Uraufführung der Maßnahme darüber hinaus das Publikum als eine dritte Instanz dem Zusammenspiel beider Parteien zusah. In Violence & Learning entfällt die Instanz des Chors, 23 | Brecht, Bertolt: »[Das Lehrstück ›Die Maßnahme‹]«, in: ders., Werke. Große und kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 24: Schriften 4. Berlin/Weimar/ Frankfurt a.M. 1991, S. 96. 24 | Bromander/Hanse: Violence & Learning, S. 2. 25 | Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt a.M. 1972, S. 77. 26 | Bromander/Hanse: Violence & Learning, S. 22.

Gewalt, Politik, Kritik

stattdessen überlagern sich die Positionen des Chors und des Uraufführungspublikums. Zwar arbeitet die Inszenierung ebenfalls mit Laien, doch sind dies Laien, die anders als die Arbeiterchöre der Uraufführung keinen längeren Probenprozess mit dem Material (bspw. Liedern oder Textpassagen) hinter sich haben, sondern eher spontan auf die Anweisungen und Vorschläge der Performer*innen reagieren. Alle Besucher*innen sind zugleich Urteilende und Handelnde bzw. als Zeug*innen und Ausführende eingebunden in die Aufführung.

G e walt lernen ? Wie ein gespenstisches Double begleitet Die Maßnahme die Aufführung von Violence & Learning. Sie und die mit ihr verbundene Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bilden den historisch-politischen Resonanzraum der Inszenierung, in deren Zentrum immer wieder vordergründig die Frage nach der Rolle von und dem Umgang mit Gewalt im Bereich des Politischen steht. Während die Aktivist*innen die meiste Zeit über eine strategisch-taktische Gewaltlosigkeit befürworten – »We had agreed on a non-violent course of action. To win this battle, we must be patient and passive, not impulsive and confrontational«27 –, gibt sich die Gegenseite von Faschist*innen, Polizei und Staat in der Tendenz eher gewaltbereit. Auch der »Junge Genosse« erweist sich als gewaltbereit: »My answer to fascism is violence. The state will never protect us, we must see to that ourselves.«28 Verteidigt er sich oder greift er an, tendieren seine Aktionen außerdem zu Unbeherrschtheit und zum Exzess. In der Auseinandersetzung um diesen Exzess an Gewalt ist die Position der Aktivist*innen klar: Einerseits versuchen sie, die Einwirkung von Gewalt auf die Gruppe und Einzelne zu minimieren – so demonstrieren sie beispielsweise, wie durch Zeitungspapier die Arme geschützt und das Abwehren von Knüppelschlägen ermöglicht werden kann. Andererseits unterziehen sie eigene mögliche Gewaltanwendungen dem Diktat der Effizienz – erscheint Gewalt als nicht effizient, soll sie nicht eingesetzt werden: »for tactical reasons we chose a non­v iolent course of action.«29 Wie Terry Eagleton bemerkt, sind die »revolutionary virtues […] those of efficiency and sobriety, organizational capacity, and a readiness for self-sacrifice. […] Yet those virtues are […] part of the problem as much as of the solution.«30 Und so demonstrieren die Aktivist*innen nicht nur die Minimierung von Gewaltauswirkungen, sondern auch die richtige, d.h. effiziente Anwendung von Gewalt: C, A SECOND ACTIVIST You probably hit him wrong. A, THE YOUNG COMRADE What do you mean »wrong«? A blow is a blow. Your idea of carefully measured violence isn’t realistic. D, A ACTIVIST (demonstrates on the prone fascist) 27 | Ebd., S. 14. 28 | Ebd., S. 7. 29 | Ebd., S. 12. 30 | Eagleton, Terry: »Foreword«, in: Kristin Ross, The Emergence of Social Space. Rimbaud and the Paris Commune. London/New York 2008, S. VI-XIV, hier: S. VI.

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There are different ways of hitting. If you’re using a weapon, hitting the head is potentially life­t hreatening. It’s better to aim for the arms, legs, perhaps kneecaps. Immobilize the person for a short or longer period of time, but not permanently. 31

Das politische Kollektiv reagiert auf das »Faktum der Gewalt«, also die Erfahrung, »daß die Gewalt selbst nicht zur Wahl steht« und es nur »verschiedene Weisen, mit der Gewalt umzugehen«32, gibt, also mit einer ebenso Exzess minimierenden wie Gewalt instrumentalisierenden Haltung der »carefully measured violence«33. In beiden Fällen gilt es, Techniken des Umgangs mit Gewalt bzw. ihren Folgen zu entwickeln und das Wissen über sie zu kommunizieren – die Szene der Aufführung wird dabei zum Ort einer Demonstration sowie der kollektiven (Ein-)Übung der besagten Techniken. Violence & Learning kann bis zu einem gewissen Grad als Inszenierung eines Lernens von Gewalt oder auch eines Gewalttrainings verstanden werden, welches die problematische Vorstellung einer rational-souveränen Beherrschbarkeit von Gewalt reproduziert, als deren Kritik und verkörperter Widerspruch bzw. Exzess die Figur des »Jungen Genossen« fungiert.

V erle t zbarkeit und Z it tern Das kritische Potential von Violence & Learning liegt jedoch weniger in der scholastischen Diskussion von Gewalt bzw. einem theatralen Deeskalations- oder Gewaltanwendungstraining. Vielmehr können die Handlungen und Reaktionen des »Jungen Genossen« auch als Manifestation der Frage gelesen werden, wie »ein Kollektiv letztlich mit der [individuellen wie kollektiven – Zusatz M.W.] Verwundbarkeit durch Gewalt um[geht]«34. Auf diese Verwundbarkeit aber wird der »Junge Genosse« immer wieder gestoßen – sei es durch die gewaltsamen Aktionen der »anderen Seite«, sei es durch öffentliche Akte der Demütigung durch diese. Wenn wir davon ausgehen, dass »Gewalt jener Akt ist, durch den ein Subjekt seine Herrschaft und Einheit wiederherzustellen sucht«35, dann erscheint das gewaltsame Handeln des »Jungen Genossen« als »Verleugnung der eigenen konstitutiven Verwundbarkeit«36. Doch auch die Politik der Aktivist*innen hat bzgl. kollektiver wie individueller Verwundbarkeit wenig zu sagen, zielt sie doch eher auf die Verhinderung oder Minimierung von Verletzung. Auf unterschiedliche Weisen streben alle Beteiligten eine Politik der Souveränität bzw. der Überwindung und Verdrängung von Vulnerabilität an. Doch genau diese körperliche Dimension der Verletzbarkeit spielt für den Aufführungsprozess von Violence & Learning eine zentrale Rolle. Zugang zu ihr vermitteln einerseits jene Momente der Unsicherheit, die mit dem von den Besucher*innen ungeprobten Vollzug der Aufführung einhergehen, andererseits der 31 | Bromander/Hanse: Violence & Learning, S. 7f. 32 | Waldenfels, Bernhard: Schattenrisse der Moral. Frankfurt a.M. 2006, S. 192. 33 | Bromander/Hanse: Violence & Learning, S. 7. 34 | Butler, Judith: »Gewalt, Trauer, Politik«, in: dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M. 2005, S. 36-68, hier: S. 59. 35 | Dies.: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. 2007, S. 88. 36 | Dies., 2016, S. 190-191.

Gewalt, Politik, Kritik

körperlich-performative Nachvollzug von aus Protestkontexten bekannten Handlungen, Haltungen, Gesten und Konfrontationssituationen, in denen trotz ihres Zitatcharakters reale körperliche Gewalt- und Protesterfahrungen ihren Resonanzraum finden und nachhallen. Dieser Nachhall stellt sich beispielsweise ein, wenn die von den Agitator*innen gespielten Polizist*innen versuchen, die von den Besucher*innen gebildete, kollektive Blockade aufzulösen. Schlagen die Polizist*innen mit ihren Schlagstöcken lautstark und knallend auf den Boden oder treten sie bedrohlich nah an Einzelne heran, erschrecken und zucken die Demonstrierenden. Körperlich-performative Situationen wie diese rufen die Gespenster unserer zukünftigen und vergangenen Berührungen mit dem gesellschaftlichen Antagonismus auf, indem sie »›Grenzerfahrungen‹ des Sozialen in Form von offene[m] Protest«37 aktualisieren. In ihren produktivsten Momenten setzt die Inszenierung die Anwesenden, ihre Haltungen und Handlungen in den durchgespielten Situationen jenem »Zittern« aus, das die Unruhe des »sozialen Raums« auszeichnet und das sich zugleich einstellt und uns affiziert, »sobald wir vom Antagonismus berührt werden«38 oder »dem Schrecken ausgesetzt«39 sind. Dann verweilt die Aufführung bei diesem Zittern und der mit ihm einhergehenden Vulnerabilität – entgegen einer Politik der Souveränität, die nicht darauf abzielt, »Erschütterungen und Affektionen […], die jeden Körper in seiner Singularität treffen«40, zu kollektivieren, sondern »Vulnerabilität zu überwinden«41. Violence & Learning löst die so aufgeworfenen Probleme nicht, aber es ist ein kritischer Beitrag zur Suche nach möglichen Politiken der Straße, die Verwundbarkeit und prekäre Nähe zu anderen nicht zu verbergen oder zu negieren suchen, sondern gerade im Moment der Darstellung und Produktion von kollektiver Handlungsmacht – im Zittern ihrer Umrisse – zeigen.

37 | Marchart, 2013, S. 436. 38 | Ebd., S. 442. 39 | Zizek, Slavoj: Auf verlorenem Posten. Frankfurt a.M. 2009, S. 278. 40 | Marchart, 2013, S. 443. 41 | Butler, 2016, S. 278.

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Hamamness Zur kritischen Dimension einer Hamburger Theaterversammlung von 2015 Martin Jörg Schäfer

The ater , V ersammlung , K ritik Die folgenden Überlegungen widmen sich einer Hamburger Performance-Installation von 2015 vor dem Hintergrund der Diskussion um den kritischen Gehalt des jüngeren partizipatorischen Theaters. Die von Nadine Jessen initiierte und mit God’s Entertainment sowie zahlreichen anderen realisierte Schwitzbad-Installation Hamamness auf Kampnagel zeichnet sich nicht nur durch eine diskursive Rahmung mit kultur- und gesellschaftskritischen Elementen aus. Aufgerufen wird hier auch eine traditionsreiche Theoriefigur, nach der einer partizipativen Praxis bereits als solcher ein nicht nur theater-, sondern auch kultur- und gesellschaftskritischer Gehalt zukomme. Im Zitieren findet sich der aufgerufene Modus von Kritik jedoch transformiert. Dies soll im Folgenden nach einer knappen Markierung des Status von ›Kritik‹ im Kontext des partizipativen Theaters anhand von Hamamness gekennzeichnet werden. Die Abschaffung oder zumindest Auflösung der Publikumsstruktur, der sich zahlreiche Projekte der Theateravantgarden, -neoavantgarden und -postavantgarden verschrieben haben, kommt oft genug mit einem Gestus des Kritischen daher: als Kritik an Macht-, Repräsentations- oder Ausschlussstrukturen, als Kritik an einer Gesellschaft des Spektakels und einer ihren Subjekten oktroyierten Konsumkultur, als Kritik an passiven Lebensformen, welche es zu aktivieren gelte usw.1 Wissentlich oder unwissentlich schwingt hier ein mächtiger theoretischer Diskurs mit; Pate steht die traditionsreiche Kritik am Theater als Schauraum. Spätestens seit der platonischen ›Befreiung aus der Höhle‹ stehen Spiel und Darstellung im Verdacht, das Eigentliche zu verstellen und damit die Existenz als solche einer theoretischen wie praktischen Verkümmerung zu überliefern.2 Spätestens seit Jean-Jacques Rousseaus Neuauflage von Platons theaterfeindlicher Polemik gilt die

1 | Vgl. Bishop, Claire: Artificial Hells. Particapatory Arts and the Politics of Spectatorship. London/New York 2012, S. 11-40. 2 | Vgl. Barish, Jonas: The Antitheatrical Prejudice. Berkeley/Los Angeles/London 1981, S. 1-37.

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festliche Versammlung des Gemeinwesens als Praxis dieser theoretischen Theaterkritik.3 Eine solche Praxis generiert ästhetische Entwürfe jeglicher politischen Ausrichtung.4 Parallel schlägt sie sich in theoretischen Entwürfen nieder, etwa als Idealisierung eines vergangenen Gemeinwesens wie der antiken Athener Polis5 (an die schon Rousseau mit seinem Bürgerfest erinnern will) – oder auch einer kommenden ›besseren‹ Gesellschaft. Wo etwa laut Bruno Latour das »Elend der Kritik«6 gerade darin liegen soll, dass sie (epistemologische bis politische) Maskeraden entlarvt, welche von der Künstlichkeit ihrer eigenen kritische Haltung zuvor erst produziert wurden, da soll der Ausweg in einer sich nicht mehr Kritik nennenden Kritik einer solchen Kritik liegen: im Niederreißen dieser kritischen Trennung und der gemeinsamen, experimentellen Herstellung eines zukünftigen »Parlaments der Dinge« 7 auch mit nichtmenschlichen Akteuren. In einem gänzlich anderen Zusammenhang setzen Stefano Harney und Fred Moten einem ähnlichen »false image of enclosure«, an dem akademische »critique« sich als solche abarbeite, die flüchtige Produktivität eines »new thing« entgegen, das gleichzeitig uralt sein, den von der Kritik vorgenommenen Einzäunungen immer schon vorausgehen und in deren Ritzen und Sollbruchstellen existieren soll.8 Dieses ›neue Ding‹ »already lives around and below the forts, the police stations, the patrolled highways and the prison towers«9. Nicht gegen diese Begrenzungen, sondern abseits von diesen gelte es, das ›new thing‹ in den Undercommons zu versammeln und zu vernetzen. In beiden Fällen generiert eine Kritik der Kritik – nun ihrerseits gänzlich abseits eines Theaterdiskurses – doch sehr ähnliche Bilder zu denen, welche einer traditionellen Kritik am Theater assoziiert sind: Bilder einer partizipativen Versammlung, die nicht von jenen Trennungen eingeteilt und begrenzt werden, wie sie nicht zuletzt dem Theater eigen sind. Umgekehrt mag sich die Forderung nach Partizipation so untheoretisch oder antitheoretisch gerieren, wie sie will – etwa als Forderung nach ›gelebter Praxis‹ oder nach ›rein sinnlicher‹ Versenkung. Stets rufen solche Forderungen nolens volens auch eine über Platon und Rousseau reichende, immer auch theoretische Tradition auf. In dieser insistieren Fragen nach dem Status von sich kritisch zu ihren Gegenständen verhaltender Theorie und Praxis ebenso wie nach den theatral 3 | Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: »Brief an d’Alembert über das Schauspiel«, in: ders., Schriften. Bd. 1. Hg. v. Henning Ritter. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981, S. 333-474, hier: S. 462. Vgl. Primavesi, Patrick: »Schauspiele für das ganze Volk? Rousseaus Vision öffentlicher Feste als Begründung moderner Theaterformen«, in: Clemens Risi et al. (Hg.), Theater als Fest, Fest als Theater. Bayreuth und die moderne Festspielidee. Leipzig 2010, S. 19-36. 4 | Vgl. Primavesi, 2010, S. 29-31. 5 | Vgl. in letzter Konsequenz für das 20. Jahrhundert Arendt, Hannah: The Human Condition. London/Chicago 1998, S. 192-199. 6 | Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Berlin/Zürich 2007. 7 | Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a.M. 2001. 8 | Harney, Stefano/Moten, Fred: The Undercommons. Fugitive Planning and Black Study. Wivenhoe/New York/Port Watson 2013, S. 18. 9 | Ebd.

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verstandenen Darstellungsmodi und Grenzziehungen sowie nicht zuletzt den Darstellungsmodi und Grenzziehungen des Theaters: In der Praxis des partizipativen Theaters stellt sich auch jeweils (strikt theoretisch) die Frage nach dem jeweiligen Status von Kritik.

H amamness -R ahmung Mit der Frage nach der gleichzeitig theoretischen wie praktischen Verortung der Partizipation treten die hier entwickelten Überlegungen an die genannte Performance-Installation heran: Bei der im Sommer 2015 durchgeführten, zweiwöchigen Schwitzbadinstallation Hamamness (die bei den Wiener Festwochen von 2017 eine Wiederaufnahme fand) sollen körperliche Aufweichungsprozesse im gemeinsamen Schwitzbad bei theoretischem und performativem Begleitprogramm »kulturelle Verpanzerungen«10 lösen, nämlich die in den Körper eingeschriebenen kulturellen Vorurteile. In der Kampnagel-Vorhalle gibt es ein auf blasbares PlastikHamam, das in drei Iglus eingeteilt ist. Nachdem man sich umgezogen und Geld und Papiere abgegeben hat, gibt es zum Einstieg ein Erwärmen und Entspannen mit Samowar, dann im nächsten Iglu eine wärmere Zwischenstation zum gegenseitigen Einseifen, Abspülen und Abtupfen mit Schwämmen; und schließlich den wärmsten Raum mit heißem Stein zum gemeinsam Verweilen und umliegenden Massagestationen. Wechselnde Theorieeinheiten oder performative Einlagen finden in allen drei Räumen statt; doch sind die Performer*innen häufig schwer vom zahlenden Publikum zu unterscheiden. Mit dem Hamam-Topos bezieht man sich in einer Zeit, in welcher der Diskurs über Muslimas und Muslime von der Zuschreibung von Aggression und harten Antagonismen dominiert wird, affirmativ auf ›aufweichende‹ Körperpraktiken aus einem islamischen Kontext. Schon rein konzeptionell setzt die Performance-Installation der ›ehrlichen Armut‹, die Rousseau für sein theaterkritisches Bürger*innenfest in Anspruch nimmt,11 den Überfluss einer sinnlichen Durchflutung entgegen. Es geht aber nicht in erster Linie um eine Ästhetik der Immersion, die oft über ein vorkritisches oder implizites Wissen legitimiert wird.12 Hamamness kündigt die kritische Stoßrichtung bereits per Leporello und Website an; Teilnehmende sind zur Teilhabe an Kritik auf diskursiver Ebene eingeladen. Darüber hinaus impliziert auch die gewählte Publikumssituation einer gemeinsamen Versammlung mit den Performer*innen ein kritisches Moment. Die Kritik soll bereits im partizipativen Modus angelegt sein, denn gesellschaftliche Verhärtungen, die sich dem je einzelnen Körper eingeschrieben haben, sollen im gemeinsamen Schwitzbad aufgeweicht werden. Anhand von Beobachtungen, Protokollen und Erfahrungsberichten, die im

10 | www.kampnagel.de/de/programm/archiv/?rubrik=archiv&detail=2077 vom 31. Mai 2015. 11 | Vgl. Etzold, Jörn: »Armes Theater«, in: Maud Meyzaud (Hg.), Arme Gemeinschaft: Die Moderne Rousseaus. Berlin 2015, S. 50-74. 12 | Vgl. Frieze, James: »Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance«, in: ders. (Hg.), Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance. London 2016, S. 1-24.

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Rahmen eines Seminars an der Universität Hamburg gesammelt wurden,13 versuchen die folgenden Überlegungen die zu dieser Anlage gehörende Praxis genauer zu fassen.

H amamness -A bl auf »Kein Service Center, keine Wellness Oase, keine Kleidung, keine Privilegien«: Dies steht in weißen Steinchen auf eine schwarze Tafel geklebt, die über dem Eingang zur Vorhalle der großen Kampnagel-Bühne hängt. Hier befindet sich der Empfangsraum zur »140 Quadratmeter große[n], realexistierende[n] Heterotopie« einer »osmonischen Gesellschaft«. Die Verdichtung von ›harmonisch‹ mit ›osmanisch‹ wie ›osmotisch‹ deutet auf die verschiedenen Aspekte: statt auf die brutale Grenzerrichtung oder Grenzüberschreitung eben auf die ›osmotische‹ wie ›harmonische‹ wechselseitige Grenzdurchdringung, die hier einem im zeitgenössischen Diskurs eher mit kultureller Rigidität assoziierten ›osmanischen‹ Kontext zugeschrieben ist. Dass diese Grenzaufweichung sich aber durch alles andere als politische Harmoniesucht auszeichnet, deutet der kalauernde englische Untertitel »Trouble in the Bubble«14 an. Abzulegen sind vor dem Eintritt bis auf Unter- oder Badewäsche die Garderobe ebenso wie Geld, Handy und sonstige Wertgegenstände. Alle Besucher*innen können sich in ein leichtes Tuch einwickeln. Ein Performer unterzieht die Gäste mittels Öl einem Porentest, stellt eine entsprechende Diagnose und macht Vorschläge, in welchen der Räume man sich begeben oder welchen Aktivitäten man sich hingeben solle: Die vom Porentest offenbarte ›innere Blume‹ könne sich etwa in einen der Blumentöpfe im Waschraum setzen und begießen lassen. Die hier suggerierten Regeln sind jedoch uneinheitlich: Hört man auf die Kommunikation mit den vorherigen oder nachfolgenden Gästen, so können diese schon einer ganz anderen Logik folgen; an einem anderen Besuchstag kann der Porentest eine ganz andere ›Funktion‹ haben. Eher dient er der Einstimmung auf die Räumlichkeiten und der Stimulierung von Interaktion in dieser: Drei auf blasbare Plastikzelte, welche die Kuppelform eines Hamam anzitieren, sind in angenehmen warmen Blau-, Grün- und Rotfarben ausgeleuchtet. Das erste, der Ruhebereich, ist mit Orientteppichen, Lamettapalmen und einem Samowar bestückt. Im wärmeren zweiten, der ersten Waschzone, gibt es Bottiche mit warmem Seifen- und kaltem klaren Wasser, Schwämme, Kübel und je nach Aktivitätsgrad eine Schaumüberflutung oder auch Dunstschwaden. Im wärmsten dritten Zelt nimmt ein heißer Stein in der Mitte des Raums den meisten Platz ein; darum herum gibt es Massagebänke. Das angewärmte Plastik der Zelte erzeugt zusammen mit den Düften von Ölen, verdunstendem Seifenwasser und gereinigten Körpern unter dem heißen Licht der Scheinwerfer einen merkwürdigen Geruch, der die Esoterik der Abläufe immer auch leicht ironisiert. Die Performer*innen teilen sich laut Paratext in drei Gruppen: 13 | Sommersemester 2015: »›Liveness‹, Gegenwärtigkeit und Präsenz im zeitgenössischen Theater. Aktuelle Hamburger Produktionen«. 14 | www.kampnagel.de/de/programm/archiv/?rubrik=archiv&detail=2077 vom 31. Mai 2015.

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Physiotherapeuten, Tellaks (Hamam-Bademeister) und Natirs (Hamam-Badefrauen) begleiten die körperlichen Prozesse. Künstler stellen die eine oder andere festgefahrene Gewissheit performativ auf den Kopf und die Diskursgäste lassen in diesem neuartigen kulturellen Klima ihr Wissen ausdünsten.15

Vorgaben oder einen Ablaufplan gibt es keine. Im Tagesprogramm sind Performances, theoretische Inputs und Gespräche vor allem zu Themen mit Cultural-, Postcolonial- oder Queer-Studies-Hintergrund angekündigt. Wann und in welchem Raum diese in der je vierstündigen Öffnungszeit stattfinden, bleibt unklar. Was die Gäste während ihres Aufenthaltes erleben, ist letztlich zufällig: So kann man in einen eher im Erzählton gehaltenen, autobiographisch gefärbten Vortrag über muslimische Trans-Identitäten hineinplatzen, bleiben und auf einem Teppich beim Zuhören wegdösen – oder eben auch schlicht weiterspazieren. Genauso gut kann man im Wasserbottich plötzlich von einem hybriden Mensch-Tier-Wesen in ein Ritual hineingezogen werden, dessen Regeln unbekannt bleiben, gerade erst erfunden werden oder denen man sich verweigert. Wärme und Nacktheit verunsichern nach einer Weile das Ordnungs- und Zeitgefühl. Gäste, die in Gruppen kommen, berichten (manchmal mit dem Vokabular aus Selbsterfahrungsworkshops) von einer tiefen Entspannung und dem körperlichen Kontakt zu wildfremden Menschen beim gegenseitigen Abwaschen. Gäste, die allein gekommen sind oder vom eigenen kulturellen bzw. persönlichen Hintergrund her dem halbnackten Umgang mit Unbekannten eher distanziert gegenüberstehen, berichten hingegen von einer beständigen Selbstreflexion und Suche nach der eigenen Positionierung zwischen der Rolle als Gast bei einer Theaterproduktion und als Ko-Performer*in. Die Performer*innen agieren oft als Masseur*innen oder auch als Anstifter*innen zu gemeinsamen Aktionen der Gäste, wie dem intimen gegenseitigen Abschrubben. Problemlos kann man sich den Animationen einerseits verweigern; andererseits behalten die Masseur*innen es sich vor, sich die Gäste auszusuchen, denen sie eine Massage geben wollen: »Sprecht nicht uns an, wir sprechen euch an.« Die Performer*innen sollen ebenso uneingeschränkt in Vollzug und Variation ihrer Scripts sein wie die Gäste. Das von der Komplettentspannung erhoffte gesellschaftskritische Moment wird deutlich von der diskursiven Rahmung markiert: »Mit verschiedenen kulturellen Praktiken werden die Dualismen von Körper/Geist, Mann/Frau, mit/ohne Migrationshintergrund aufgeweicht und abgeschrubbt. Streifen Sie Ihre Alltagskleidung ab und entledigen Sie sich Ihrer kulturellen Verpanzerungen.«16 Dies geschieht immer mit der künstlerischen Suggestion, hinter den kulturellen Verhärtungen liege das Weiche, Nichtharte einer positiv besetzten Präsenz. Eines der vielen Tagesmottos lautet »Rassismus einseifen« mit einem Vortrag auf dem heißen Stein – wenn man denn in der vierstündigen Öffnungszeit zufällig in der halben Stunde des Vortrags vor Ort ist. Ähnliches gilt für Sexismus und Homophobie. Ein an Judith Butler orientierter Konstruktivismus wird mit ihm zuwiderlaufenden Körperpräsenzkonzepten verdichtet, wie sie sich in den theoretischen Entwürfen von Richard Schechner bis Erika Fischer-Lichte finden.17 15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Vgl. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London/ New York 1990. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004.

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Der Bezugspunkt der Körperkonzeption von Hamamness scheint in der Happeningkultur der 1960er zu liegen, wie sie auch in vielen weiteren Arbeiten von God’s Entertainment aufgerufen wird. Eher spielerisch evoziert das Plastik-Hamam die in den 1960er höchst ernsthaft vertretene Vorstellung, im gemeinsam vollzogenen, sinnlichen Ritual könne sich ein anderes, irgendwie direkteres Gemeinwesen herstellen. Auf die von Herbert Marcuse proklamierte Entsublimierung ohne Regression setzen etwa die neuen Rituale Hermann Nitschs oder von Schechners Performance Group.18 Dieser Bezugspunkt beißt sich in Hamamness mit der hier betriebenen radikalen Infragestellung der Setzung ›natürlicher‹ Ordnungen oder binärer kultureller Muster. Trotzdem zusammengebracht finden sich die gleichzeitige Behauptung von Konstruktivismus und Körperpräsenz, indem sie aufeinander projiziert werden: Sinnliche Präsenz findet sich auch der diskursiven Konstruktion unterstellt, etwa dem Rassismus, und diese wird dann sinnlich behandelt: ›Rassismus einseifen‹. Diskurse werden hier im wörtlichen Sinne ›für wahr‹ genommen:19 Die performativen Praktiken im Hamam übersetzen den Diskurs also, indem sie ihn buchstäblich beim Wort nehmen, in eine sinnliche Wahrnehmung, welche dann wiederum am Körper durchgespielt wird. Die Initiatorin von Hamamness, Nadine Jessen, arbeitet als Dramaturgin viel mit Gintersdorfer/Klaßen zusammen: In deren Produktionen finden sich diskursive Figuren oder auch ganze Theoriekomplexe oft in Körperlichkeit und Tanz übersetzt; die Tanzfiguren generieren oder provozieren dann neue Diskurse.20 Dieses dramaturgische Prinzip findet sich bei Hamamness aufgenommen. Dabei werden die eher harten Fügungen und Kontraste, die bei Gintersdorfer/Klaßen die wechselseitigen Übersetzungen von Diskurs in Körper und Körper in Diskus prägen, ihrerseits in jene ›weiche‹ Osmose übersetzt, welche die ›osmonische Gesellschaft‹ prägen soll: Anstatt dass ein Diskurs einen Körper, sei es der einer Performer*in oder einer Zuschauer*in, zum diesem Diskurs unterworfenen oder diesem Diskurs widerstehenden Subjekt macht, soll der in den Körper übersetzte Aufweichungsdiskurs auch die entsprechenden Subjektivierungsprozesse verändern: »Öffnen Sie ihre Poren, Herzen und Gehirne.«21 Von der angestrebten Öffnung ist wie nebenher auch die grundlegende Trennung betroffen, mit der das Theater operiert: Die übergreifende Gesellschaftskritik von Hamamness, die Theorie und Praxis verbindet, greift mit ihren ritualistischen 1960er-Referenzen ganz selbstverständlich auch die grundlegendste Verhärtung an, die das Theater als einen Schauraum erst öffnet – die Trennung zwischen den passiven Schauenden auf der einen und den Akteur*innen auf der anderen Seite.22 18 | Vgl. insgesamt Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a.M. 1965. Vgl. Dreyer, Matthias: Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren. Paderborn 2014, S. 127-148. 19 | Vgl. zu dieser in die Körperlichkeit übertragenen rhetorischen Strategie des Beim-WortNehmens de Man, Paul: Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M. 1991, S. 31-51. 20 | Vgl. Deutsch-Schreiner, Evelyn: Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 325-327. 21 | www.kampnagel.de/de/programm/archiv/?rubrik=archiv&detail=2077 vom 31. Mai 2015. 22 | Die explizite Bezugnahme stellte Hamamness-Dramaturg Jens Dietrich im Gespräch mit dem Seminar »Liveness« am 15. Juni 2015 her (Seminartitel: »›Liveness‹, Gegenwärtigkeit

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Dies geschieht hier nicht mit einer Rhetorik der Aktivierung des Publikums, wie sie etwa in der ›sozialen Kunst‹ bzw. in der Rezeption der Texte Nicolas Bourriauds oder Jacques Rancières oft zu finden ist.23 Die allumfassende Entspannung betrifft letztlich auch das aktive Element und schlägt sich auf Seiten der Passivität: So wie die Gäste nicht zur aktiven Partizipation am ›Mitmachtheater‹ aufgefordert werden, so sollen sie ihrerseits eben bitte keine ›Wellness Oase‹ mit ›Service Center‹ erwarten, wie es ihnen schon am Eingang mitgeteilt wird. Alle dürfen sich frei bewegen, am manchmal mit Tee, manchmal mit Schnaps gefüllten Samowar bedienen; alle dürfen sich auf den heißen Stein legen, mit Wasser abspülen, mit Schwämmchen gegenseitig abtupfen, mit Palmblättern trockenwedeln. Interaktion ist erwünscht. Rituale und Zeremonien haben aber auch bei Hamamness Zeremonienmeisterinnen und -meister. Gegen die seit den 1960ern immer wieder gerne aufgestellte Behauptung einer strukturellen Gleichberechtigung von Performer*innen und (aufgelöstem) Publikum setzt die Produktion einen Verweis darauf, dass eine Transformation oder gar Auflösung der Schausituation noch nicht Gleichberechtigung herbeiführt, sondern eben andere Machtstrukturen produziert. Eine grundlegende Gleichheit, die als regulative Idee dem für den Partizipationsgedanken im zeitgenössischen Theater so wichtigen theoretischen Projekt Jacques Rancières als geradezu phantasmatische Idee zugrunde liegt,24 wird hier nicht behauptet. Stattdessen geht es darum, die Strukturen, in denen sich die vielen Ungleichen bewegen, möglichst offen zu gestalten. Dazu gehört, dass das konstitutive Gefälle zwischen Performer*innen und Gästen ohne Rücksicht auf das Wohlbefinden des ›aufgelösten‹ Publikums ausagiert wird. Diese Rahmung der Performance lässt sich eben von den Gästen annehmen oder auch nicht; ihnen bleibt die Entscheidung überlassen, ob es sich um mehr oder anderes handeln soll als eine traditionelle Theatersituation. Auf parallele Art in der Schwebe bleibt damit auch das mit der Aufrufung des Topos von der Auflösung des Publikums verbundene kritische Moment: Es kommt ohne den Anspruch daher, gleich die Kultur in Gänze von ihren Verhärtungen zu heilen, von denen die Trennung zwischen Bühne und Publikum dann die grundlegende sein soll. In den aufgewärmten Plastikzelten wird das zahlende Publikum zwar tatsächlich mit der Behauptung konfrontiert, in der Heterotopie der ›osmonischen Gesellschaft‹ sei eine solche Heilung zumindest temporär möglich. Erlaubt wird dem Publikum aber sowohl, dies als reine Spielerei des Kunstbetriebs abzutun, wie auch, gänzlich unbeteiligt zu bleiben und mit dieser Kritik nicht mitzugehen – oder sie vielleicht später andernorts ganz anders zu versuchen.

und Präsenz im zeitgenössischen Theater. Aktuelle Hamburger Produktionen«, Universität Hamburg im Sommersemester 2015, Seminarleitung: Martin Jörg Schäfer). 23 | Vgl. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics. Dijon 2008. Vgl. Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer. Wien 2009. 24 | Vgl. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a.M. 2002, S. 14-32.

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V ersammlung als F r age Bei Hamamness findet sich die grundlegende Phantasie des partizipatorischen Theaters aufgerufen, in der Auflösung der Zuschausituation auch eine tieferliegende Kritik an gesellschaftlichen Machtverhältnissen leisten und alternative, letztlich bessere Modelle des Zusammenlebens ausprobieren zu können. ›Besser‹ sollen diese Modelle oft auch sein, weil in einer Versammlung eine Trennung von Praxis und Theorie noch nicht stattgefunden habe: Mit der Auflösung der Publikumssituation soll eine Kritik letztlich auch an jenen Trennungen geleistet sein, mit der sich traditionelle Modi von Kritik über ihren Gegenstand erhaben glauben und angeblich die kritisierten Machtverhältnisse nur wiederholen. Bei Hamamness kommt diese Phantasie aber ihrerseits eher spielerisch als ein inzwischen seinerseits altbewährtes theatrales Mittel zum Einsatz. Die Produktion kommt vor allem ohne den Anspruch aus, mittels der Durchführung einer Versammlung den Fallstricken einer theoretischen Kritik zu entkommen: Die Versammlung ist hier nicht als Antwort, sondern als Frage konzipiert, welche sich auch immer wieder auf den Status der Versammlung selbst rückbeziehen lässt. ›Kritische‹ Theoriediskurse liefern dabei nicht nur Beiwerk, sondern sind in die ästhetische Konzeption eingearbeitet. Statt einer Verabschiedung von kritischer Theorie zugunsten der gemachten ›immersiven‹ Erfahrungen und vorkritischen bzw. postkritischen Modelle von z.B. implizitem Wissen25 gibt es Austauschbeziehungen und Übersetzungsprozesse zwischen sinnlichen und theoretischen Elementen – mit durchaus komischen Nebeneffekten wie den ›eingeseiften Rassismus‹. Gegen eine Verabschiedung der Kritik zugunsten der irgendwie direkteren und irgendwie politischeren Versammlung steht die konkrete Frage nach der jeweiligen Art der Partizipation – und das Wissen, dass die praktische Antwort jeweils konkrete theoretische Implikationen hat. Ein implizites Wissen wird dabei durchaus vorausgesetzt: dasjenige, dass sich hier Theorie und Praxis, theoretische und praktische Kritik untrennbar ineinander verschränkt finden, aber auch immer wieder neu ineinander übersetzt werden müssen. Auch und gerade die Konzentration auf sinnliche Präsenz und körperliche Nähe im Hamam operiert also immer mit den von solchen Übersetzungen hervorgerufenen Lücken, Rissen und Stolpersteinen. Die so immer möglichen neuen oder zumindest anderen Verknüpfungen und Verstrickungen haben also ähnliche Ziele wie die eingangs benannten Diskurse, welche Modellen einer als ›theatral‹ verschrienen Kritik Modelle der Versammlung entgegensetzen. Diese Theorie und Praxis ihrerseits miteinander verstrickende Versammlung behält die Möglichkeiten ›theatraler‹ Kritik aber durchaus bei – sei es als Modi der Infragestellung oder Selbstinfragestellung,26 der offenen Brüche oder der eine Erscheinung von Neuem und Anderem erst ermöglichenden Distanzierung.27 25 | Vgl. Poteat, William H.: Philosophical Daybook. Post-Critical Investigations. Missouri 1990. 26 | Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Das Problem und Potential des Singulären. Theaterforschung als kritische Wissenschaft«, in: Milena Cairo et al. (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst, Öffentlichkeit. Bielefeld 2016, S. 139-150. 27 | Vgl. Menke, Bettine: »On/Off«, in: Juliane Vogel/Christopher Wild (Hg.), Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin 2014, S. 180-188.

Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis Foucault, Butler und Le Roy Olivia Ebert, Leonie Otto Wenn Körper im Zusammenhang mit Kritik erwähnt werden, fällt nicht selten auch das Wort Widerständigkeit,1 womit ein dem Diskurs um Kritik intrinsischer Dualismus aufscheint: Ex negativo wird der Körper der Rationalität als ihr anderes entgegengestellt und sein Widerstandspotential auf seine entsetzende, sich Strukturen entgegenstellende Wirkung begrenzt. Wir möchten im Folgenden hingegen anreißen, inwiefern sich Kritik als eine gleichermaßen intelligible wie körperliche Praxis verstehen ließe: eine Kritik, die sich am Körper manifestiert und gleichzeitig diskursiv wirkt. Dazu lesen wir im ersten Teil Judith Butlers einschlägigen Aufsatz »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, den sie zuerst im Jahr 2000 an der Universität Cambridge als Raymond Williams Lecture vortrug. Diesen ziehen wir hier sowohl in seiner Auseinandersetzung mit Michel Foucaults 1978 an der Société française de philosophie gehaltenem Vortrag »Qu’est-ce que la critique?« heran als auch vor dem Hintergrund der Überlegungen zu verkörperlichten Subjekten, die Butler im Bereich der Gender Studies und im Rahmen ihres Entwurfs einer Ethik der Gewaltlosigkeit entwickelte. Im zweiten Teil verbinden wir diese Aspekte mit einer bisher nur wenig diskutierten Arbeit des französischen Choreographen Xavier Le Roy, der performativen Installation Untitled in der Ausstellung 12 rooms, die unter anderem bei der Ruhrtriennale 2012 im Museum Folkwang in Essen zu sehen war.

K örper als kritische A k teure Die Materialität von Körpern verleitet schnell dazu, diese selbst dann, wenn sie als kulturell konstruiert aufgefasst werden, noch als »stumme Faktizität[en]«2 zu begreifen. Faktizitäten, die erst durch etwas ihnen Äußerliches geprägt und bezeichnet werden. So betrachtet wird der Körper im Verhältnis zur Kritik als etwas begriffen, dessen Existenz Butler in ihrer Fortführung von Foucaults etwa 20 Jahre 1 | Exemplarisch sei hier auf den Call des Kongresses verwiesen: www.theater-wissen​ schaft.de/kongresse/theater-als-kritik/vom 31. Okt. 2016. 2 | Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991, S. 191.

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zuvor entwickelten Überlegungen zu einer postfundamentalistischen Kritik gerade in Frage stellt: als eine Art »Sockel der kritischen Haltung«3. Eine solche Annahme vom Körper als einer Art Ursprungsort des Widerstands scheint im Spiel zu sein, wenn diejenigen Körper im Tanz als widerständig beschrieben werden, die mit gesellschaftlichen und in der Tanzgeschichte vorherrschenden Körperbildern sowie Idealen körperlicher Bewegung so umzugehen versuchen, als könnten sie sich diesen verweigern, entziehen oder gar, von diesen unbedingt, den Kampf gegen sie aufnehmen. Demzufolge wäre ein kritischer Körper ein Körper, der sich einer als ihm äußerlich begriffenen Norm zu widersetzen vermag. Diese Sichtweise lässt sich zwar auf die von Foucault recht knapp vorgebrachte These von der Möglichkeit eines Ausspielens der Körper, der Lüste und der Wissen »in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht«4 zurückführen, greift aber zu kurz: Judith Butler hat mehr noch als Foucault deutlich gemacht, das Subjekt sei stets als verkörpertes wie körperliches zu verstehen und als solches normativen Strukturen ebenso unterworfen, wie es von ihnen hervorgebracht wird.5 Eine Norm manifestiert sich am Körper, wird an ihm ausagiert und kann von ihm widerständig abgelehnt werden, aber das Subjekt als verkörpertes ist auch an der unaufhörlichen Reproduktion und damit an der Verschiebung der Normen beteiligt – mit einer Formulierung Butlers aus ihrem Kritikaufsatz lässt sich diese Gleichzeitigkeit als die »Ununterscheidbarkeit der Grenze zwischen dem Geformtsein und dem Formen eines Subjekts«6 beschreiben. Gerald Siegmunds Einsatz, dass tanzwissenschaftliche Beschreibungen, die das Verhältnis des Subjekts zum choreographischen Gesetz nur als Unterwerfung oder Widerstand denken, zu kurz greifen, ließe sich hier auf das Verhältnis von verkörpertem Subjekt und der als äußerlich begriffenen Körpernorm beziehen.7 Dem Körper muss also, soll er als tatsächlich kritischer Akteur begriffen werden, mehr zugeschrieben werden als das Vermögen, sich mit körperlicher Widerstandskraft gegen Normierungen zu stellen. Das kritische Potential liegt für Butler somit auch nicht in diesem zu einfach gedachten Widerspruch zur Norm, sondern im Feld der unauf hörlichen Reproduktion von Normen. In Gender Trouble (in deutscher Übersetzung: Das Unbehagen der Geschlechter) und Bodies that Matter (in deutscher Übersetzung: Körper von Ge3 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 53. Vgl. Butler: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246, hier: S. 241f. 4 | Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a.M. 1977, S. 187. 5 | Vgl. Butler, 1991, S. 191, sowie dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a.M. 1997, S. 10f. Vgl. zu Butlers Auseinandersetzung mit Foucaults Verständnis von Körpern, auf dem Butler, es differenziert betrachtend, aufbaut: ebd., S. 61f. 6 | Butler, 2009, S. 245. 7 | Siegmund widerspricht insbesondere der Position André Lepeckis, dass Choreographie nicht allein als Unterdrückung des tanzenden Subjekts, sondern ebenso als Ermöglichung von Subjektivität zu verstehen sei. Vgl. Siegmund, Gerald: »Recht als Dis-Tanz. Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes«, in: Forum Modernes Theater 22 (2007), H. 1, S. 75-93, hier: S. 86, sowie Lepecki, André: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung. Berlin 2008, S. 27ff.

Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis

wicht) bezeichnet sie das Ausmachen von Strategien der subversiven Wiederholung als »kritische Aufgabe« 8, die anerkennt, dass das Subjekt nicht von einem Außerhalb der Normen aus agieren kann, da seine körperliche Identität nicht in einer unveränderlichen Substanz liegt, sondern stets ein »Effekt«9 seiner Verkörperung von Normen und damit nicht stabil ist. Anstatt von Körpern als Materialität ist mit Butler deshalb von körperlichen Materialisierungen in einem unaufhörlichem – und nie ganz reibungs- und restlosen – Wiederholungsprozess zu sprechen: Daß diese ständige Wiederholung notwendig ist, zeigt, daß die Materialisierung nie ganz vollendet ist, daß die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird. Es sind sogar die durch diesen Prozeß hervorgebrachten Instabilitäten, die Möglichkeiten der Re-Materialisierung, die einen Bereich kennzeichnen, in dem die Kraft des regulierenden Gesetzes gegen dieses selbst gewendet werden kann, um Neuartikulationen hervorzutreiben, die die hegemoniale Kraft eben dieses Gesetzes in Frage stellen.10

In der Lektüre von Butlers Kritik-Aufsatz begegnen uns Resonanzen dieser Prozesse im Bereich der Kritik: Entscheidend für Butlers an Foucault gebildetes Kritik-Verständnis ist die Praxis des Befragens und Infragestellens des herrschenden Regulativs (»eine gewisse Art des Fragens, die sich als zentral für den Vollzug der Kritik selbst erweisen wird«11). Ein Fragen, das sich nicht nur in Worte kleiden kann, sondern beginnt, »sobald eine Existenzweise gewagt wird, die nicht von der Herrschaft der Wahrheit […] gestützt wird«12 . Dieses Wagnis, in den Bereich der Instabilitäten fortzuschreiten, nicht nur den Mut aufzubringen, »die Grenzen der Erkenntnis zu erkennen«13, worauf nach Foucault Kants Begriff von Aufklärung zielt, sondern diese fragend herauszufordern, bewegt sich in einer Gleichzeitigkeit von subjektivierenden »Regierungskünsten«14 und der »Kunst nicht regiert zu werden«15 beziehungsweise der »Kunst, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden«16 – also einer »Entunterwerfung« (désassujettissement)17, in der für Foucault die Funktion der Kritik liegt. Lässt sich an Butlers Beschreibung der »Risse im epistemologischen Netz«18, die durch eine kritische Praxis erst zutage gebracht werden können, eine Verwandtschaft zu jenem Bereich der Instabilitäten ablesen, der sich dadurch eröffnet, dass die Materialisierungen von Körpern nie in den sie zur Materialisierung bewegenden Normen aufgehen? Kann der Begriff der Entunterwerfung, den Butler von Fou-

8 | Butler, 1991, S. 216. 9 | Ebd., S. 215. Vgl. auch ebd., S. 200. 10 | Butler, 1997, S. 21. 11 | Butler, 2009, S. 223. 12 | Ebd., S. 225. 13 | Foucault, 1992, S. 18. 14 | Ebd., S. 12. 15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Ebd., S. 15. 18 | Butler, 2009, S. 230. Vgl. auch S. 239f.

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cault aufgreift,19 nicht nur auf eine sprachlich-diskursive, sondern auch auf eine körperlich-diskursive kritische Praxis bezogen werden?20 Wir wollen für die weitere Argumentation die These voraussetzen, dass sich Butlers Beschreibungen in beiden Kontexten – Kritik und Körper – nicht zufällig ähneln. Damit sind Körper nicht nur als Austragungsort der Aneignung, Wiederholung und Abwandlung von Normen, sondern selbst als kritische Akteure zu sehen. Als das, »was die Norm auf zahllose Weisen besetzen kann, über die Norm hinausgehen kann, die Norm umarbeiten kann und was mir zeigen kann, dass die Realitäten, von denen wir glaubten, wir wären auf sie festgelegt, offen für Veränderung sind«21. Involviert sei in dieser »Szene der Verkörperung«22, schreibt Butler in ihrem 2004 erschienenen Buch Undoing Gender (in der deutschen Übersetzung betitelt mit Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen), das »kritische Versprechen der Phantasie«23, die in Frage stellen könnte, was als intelligibler Körper akzeptiert werde und was nicht. Im »Kampf darum, die Normen zu verändern, durch die Körper erfahren werden«24, wären die Stellen, an denen die Normen instabil sind, aufzuzeigen und für Umdeutungen zugänglich zu machen, indem Kontingenzen, Verschiedenheiten und Beunruhigungen Raum gegeben wird.25 Mit der Praxis, sich den je spezifischen Prinzipien und Normen, die das Subjekt zwingen, sich in ein vorgegebenes Raster zu formen, zu ent-unterwerfen, riskiert das Subjekt die »Deformation«26 dessen, was »in der Sphäre der Politik als existenzfähiges Subjekt zu gelten hat«27 (als Person, als kohärente Geschlechtszugehörigkeit, als Bürger28) – wovon auch der Körper in seiner Exponiertheit, das heißt in seiner »Exteriorität«29, »Sozialität«30 und »Verletzbarkeit«31, betroffen ist. Eine »kritische Beziehung«32 von Körpern zu den vorgegebenen Normen wäre also im doppelten Sinne als kritisch zu verstehen: ebenso als Befragung der Normen durch Körper als kritische Akteure wie als prekärer, den Bedingungen, die kritisiert werden, ausgesetzter Zustand der Körper. In diesem Sinne lässt sich mit Foucault und Butler »von der kritischen Haltung als Tugend«33 sprechen. Tugend, so Butler, sei eine vom Gehorsam zu unterscheidende Praxis oder Handlungsqua19 | Vgl. Foucault, 1992, S. 15, sowie Butler, 2009, S. 224f. 20 | Vgl. zu Butlers Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Sprache Butler, 1997, S. 104ff., sowie dies.: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M. 2011, S. 277ff. sowie S. 318f. 21 | Ebd., S. 344. 22 | Ebd., S. 53. 23 | Ebd. 24 | Ebd., S. 52. 25 | Ebd., S. 62ff. 26 | Butler, 2009, S. 246. 27 | Butler, 2011, S. 51. 28 | Vgl. Butler, 2009, S. 236. 29 | Butler, 2011, S. 11f. 30 | Ebd., S. 42. 31 | Ebd., S. 45. 32 | Butler, 2009, S. 227. 33 | Foucault, 1992, S. 9.

Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis

lität eines Subjekts, die einer Ethik angehöre, die sich nicht mit dem »bloßen Befolgen objektiv formulierter Regeln oder Gesetze«34 zufriedengebe. Butler meint mit dem Begriff der Deformation Situationen oder Fälle, in denen Normen nicht nur verschoben oder umspielt werden, sondern in denen sich das Subjekt im Zuge der Entunterwerfung zu weit von dem, was als Person oder Mensch anerkannt wird, entfernt und damit entsubjektiviert: »was passiert, wenn ich etwas zu werden beginne, für das es im vorgegebenen System der Wahrheit keinen Platz gibt?«35 Als ein derartiges (allerdings weitestgehend unkörperliches) Aufs-Spiel-Setzen der »Selbstformierung als Subjekt«36 liest Butler eine Passage der Diskussion, die Foucaults Kritik-Vortrag folgte und gemeinsam mit diesem publiziert wurde. »[S]eltsam unerschrocken«37 findet Butler Foucaults Behauptung einer »ursprüngliche[n] Freiheit«38 im Rahmen seiner Beantwortung einer Frage nach dem von ihm am Ende seines Vortrags erwähnten »entschiedenen Willen nicht regiert zu werden«39. Foucault erörtert: Wenn ich zum Schluß sagte: ›entschiedener Wille nicht regiert zu werden‹, so war das ein Versehen meinerseits. Ich wollte sagen: ›nicht so, nicht dermaßen, nicht um diesen Preis regiert zu werden‹. Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, nicht auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt. Ich habe davon nicht gesprochen – aber ich will es nicht absolut ausschließen. 40

Butler bezeichnet dies als »Fiktion«41, als strategische Setzung Foucaults, die seinem zuvor erklärten Zweifel an einer auf allgemeinen Prämissen auf bauenden Kritik zuwiderläuft und die Foucault doch benötigt, um überhaupt eine ernstzunehmende Möglichkeit der Entunterwerfung einräumen zu können. Foucault habe, so Butler, »etwas ganz anderes«42 im Auge als das, was wir gewöhnlich unter Kritik verstehen. Es gehe hier nicht um ein Urteilen anhand bestimmter Kriterien, sondern um eine Möglichkeit, die Butler – nicht weniger unerschrocken als Foucault – wie folgt entwickelt: Wenn wir also fragen, wie wir ›ursprüngliche Freiheit‹ sagen und wie wir es staunend sagen sollen, stellen wir auch das Subjekt, das in diesem Ausdruck wurzeln soll, infrage und befreien es paradoxerweise zu einem Wagnis, das dem Ausdruck wirklich neue Substanz und Möglichkeit geben könnte. 43

Diesen Gedanken (und damit auch ihren Text) beendet Butler kurz darauf vorläufig mit einer Reihe von Fragen: 34 | Butler, 2009, S. 227. Vgl. außerdem ebd., S. 231. 35 | Ebd., S. 237. 36 | Ebd., S. 243. 37 | Ebd., S. 243. 38 | Foucault, 1992, S. 53. 39 | Ebd., S. 41. Zur Frage Jean-Louis Bruchs s. S. 51f. 40 | Ebd., S. 52f. 41 | Butler, 2009, S. 240. 42 | Ebd., S. 223. 43 | Ebd., S. 244.

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[D]as Subjekt ist gezwungen, sich in Praktiken zu formen, die mehr oder weniger schon da sind. Vollzieht sich diese Selbst-Bildung jedoch im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist, wird Tugend jene Praxis, durch welche das Selbst sich in der Entunterwerfung bildet, was bedeutet, dass es seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von Neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein, und was wird als Leben zählen? Ein Moment des ethischen Fragens, welcher erfordert, dass wir mit den Gewohnheiten des Urteilens zugunsten einer riskanten Praxis brechen, die versucht, den Zwängen eine künstlerische Leistung abzubringen?44

Eine künstlerische, temporäre Einnahme einer ontologisch unsicheren Position, die mit den Gewohnheiten des Urteilens zugunsten einer riskanten Praxis zu brechen versucht, ist in Xavier Le Roys Arbeit Untitled zu sehen, an deren Analyse im Folgenden das bis hierhin Ausgeführte weiterentwickelt werden soll.

U ntitled . D ie G renzen unserer K ategorien Mit Untitled umfasst Le Roy seit einer 2005 anonym, ohne Titel und ohne Nennung seines Namens, gezeigten Theaterarbeit, mehrere Arbeiten: das in Ausstellungssituationen gezeigte Untitled (2012), die an das Stück von 2005 anknüpfende Theaterarbeit Untitled (2014) sowie das bei den Skulptur Projekten in Münster 2017 zu sehende Projekt Still Untitled. Gemein ist diesen Arbeiten, dass sie sich mit der Oszillation zwischen An- und Abwesenheit, mit der Sichtbarkeit und dem Erkennen, der Bezeichenbarkeit und Bestimmbarkeit auseinandersetzen. In Bezug auf das Spiel damit, wann Körper als menschlich oder als nichtmenschlich wahrgenommen werden, sowie auf die Arbeit an der Kommunikation von Künstler*innen und Publikum lassen sich aber auch deutliche Verwandtschaften zum europaweit vielgetourten Stück Low Pieces (2011) sowie zur gemeinsam mit der Künstlerin Scarlet Yu entwickelten Ausstellung Temporary Title (2015) erkennen. Untitled (2012), diejenige Arbeit, um die es hier insbesondere gehen soll, bildete einen von 12 (später in Sydney 13) Räumen der von Klaus Biesenbach und HansUlrich Obrist kuratierten Ausstellung 12 rooms (bzw. 13 rooms), die dort, wo meist Objekte zu betrachten sind, die Begegnung mit ›echten Menschen‹, die als lebendige Skulpturen auftraten, ermöglichen wollte. Le Roy zeichnete im August 2012 während der Ruhrtriennale für einen der zwölf in die Ausstellungshalle des Museum Folkwang eingelassenen Räume verantwortlich, die während der gesamten Museumsöffnungszeiten begehbar waren. Andere Räume rund um Untitled wurden unter anderem von Tino Sehgals drei Versionen einer Animation der MangaFigur Ann Lee bespielt, von durch Damien Hirst inszenierten Zwillingen sowie verschiedenen Performerinnen, die sich in Marina Abramovićs Luminosity nackt in ikonenhafter Pose und Position gut ausgeleuchtet zur Schau stellten. Während die meisten der Räume, wie es bei Theater- ebenso wie Ausstellungs-Dispositiven zumeist der Fall ist, dem Imperativ des Sehsinns untergeordnet waren, bestand Le Roys erster Coup darin, dass in dem von ihm konzipierten Raum auf jegliche Lichtquelle verzichtet und das Licht des White Cube durch einen Vorhang an der Tür so

44 | Ebd., S. 246.

Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis

gut es ging ausgeschlossen wurde. Das wenige, was sich in dieser schummrigen Höhle nach und nach erahnen ließ, blieb in ein nächtliches Blau-Grau getaucht. Als Besucherinnen werden wir zunächst langsam der anderen Menschen gewahr, die an die Wände des kleinen Zimmers gelehnt sitzen oder stehen, bis wir ein Wesen am Boden entdecken: ein Körperknäuel aus wohl zwei liegenden, etwa gleich großen, in der Form ihrer Körper menschlich anmutenden Gestalten. Sie kriechen verschlungen über den Boden des kleinen Raums, achtsam und zärtlich im Umgang miteinander. Dem Publikum wird nicht nur das Zuschauen durch die Dunkelheit erschwert, auch die im zeitgenössischen Kunstkontext heute vielleicht naheliegende Interaktion scheint nicht vorgesehen: Die Körper liegen, sind nicht dem Publikum, sondern nur einander zugewandt und lassen nicht erkennen, ob und wie sie die Besucher*innen überhaupt wahrnehmen können. Obwohl also keine Einladung zur Interaktion angezeigt ist, versuchen einige trotzdem dieses oder diese Wesen mittels ihres Tastsinns zu begreifen – was angesichts der ausgesetzten, vulnerablen Position übergriffig wirkt. Nach einigen Tagen wird ein Aufpasser engagiert, der sich unter die Anwesenden mischt und eingreift, wenn die Besucher*innen Anstalten machen, die Gestalten anzufassen. Wenn sich die Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnen, wird nichts deutlicher als die andauernde Ungewissheit über das, was wir vor uns haben. Die Körper stecken in lockeren Ganzkörperoveralls, die sogar Kopf und Gesicht komplett verdecken und auch die Abgrenzung zwischen ihnen nicht klar erkennbar werden lassen. Wir sehen keine Gesichter, können keine Identität, keinen Eigennamen zuordnen. Weder über Augenkontakt noch über Augenhöhe ist der Auf bau einer intersubjektiven Beziehung möglich. Dieses oder diese Wesen sind »untitled«; sie lassen sich nicht unter einen Begriff subsumieren. Mit der Zeit wird erkennbar, dass es sich um die Interaktion eines Menschen mit einem Puppenkörper handelt. Der Mensch bedient die Puppe aber nicht aus einer souveränen Position heraus, sondern verlässt, wie auch in den bekannteren Low Pieces, die aufrechte Haltung, in der die Lebewesen, die als Menschen gelten, sich normalerweise in der Welt bewegen. Der Mensch, ebenso wie die Puppe liegend, geht achtsam und zärtlich mit dieser um. Dass er wiederum auf die ja eigentlich von ihm ausgelösten Bewegungen und Regungen der Puppe reagiert, stellt deren Leblosigkeit oder, um mit Aristoteles zu sprechen, Unbeseeltheit in Frage – weniger um eine Illusion zu erzeugen, als um zu betonen, dass auch der Körper der menschlichen Performer*innen nicht autonom und abgeschlossen ist und Subjekt und Objekt, Agierender und Reagierender zugleich ist.45

45 | Vgl. Aristoteles: »Über die Seele«, in: ders., Werke in deutscher Übersetzung. Hg. v. Hellmut Flashar. Bd. 13. Berlin 1983, S. 26: »Wir sagen nun […], das Beseelte sei vom Unbeseelten durch das Leben geschieden. Wenn Leben in vielfachem Sinne gebraucht wird, so sprechen wir einem Wesen Leben zu, wenn ihm auch nur eines der folgenden Dinge zukommt: Vernunft, Wahrnehmung, Bewegung und Stillstand am Ort, ferner Bewegung in der Ernährung, weiter Hinschwinden und Wachstum.« Ebd., S. 33: »Die Sinneswahrnehmung beruht auf einem Bewegtwerden und Erleiden.« Vgl. außerdem zu Butlers Ansicht, dass der Körper einem aufgrund seiner stets durchlässigen und unabgeschlossenen Grenze »nie ganz gehört«: Butler, 2011, S. 38ff., siehe auch ebd., S. 49f.

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Mit Butler und Foucault ließe sich in dieser Arbeit eine »Haltung der Kritik« 46 oder eine »kritische Haltung« 47 ausmachen, die dadurch entsteht, dass der hier tätige kritische Akteur vor Augen führt, dass der Körper, von dem aus Kritik verübt wird, stets involviert und somit exponiert ist. Das, was Butler eine ontologisch sichere Position nennt,48 ist aufs Spiel gesetzt, etwas Unheimliches im Sinne Freuds konfrontiert die Wahrnehmung der Anwesenden im Entzug eindeutiger Bilder, Erkenntnisse und begrifflicher Kategorien mit den Bereichen des Nicht-Wissbaren und lässt uns irritiert auf unsere – angesichts dieser Arbeit zu einfach erscheinenden – Kriterien blicken. So lässt sich Le Roys Arbeit als eine Versuchsanordnung verstehen, in der die Performer*innen in den Overalls eine im Sinne Butlers ontologisch unsichere Position einnehmen und damit die Frage aufwerfen, welche Körper überhaupt als Subjekt hervorgebracht und unterworfen werden können. In der Ununterscheidbarkeit zwischen Puppe und Mensch wird allein deutlich, dass nicht eindeutig ist, was als Mensch bezeichnet werden kann. Wo verläuft die Grenze des Menschlichen? Wann sprechen wir einem Menschen vermittelt durch unsere Haltung und Handlungen – bewusst oder unbewusst – diesen Respekt ab? Die Irritation und Auflösung von vermeintlichen Gewissheiten, die Le Roy hier vornimmt, lässt sich schließlich auch als Reaktion auf die Rezeption seiner früheren Arbeiten verstehen, die offenbart, wie eine kritische künstlerische Praxis selbst in die Normen eingehen kann, die sie kritisiert. Wie Susanne Foellmer aufzeigt, haben sich gerade Arbeiten Le Roys wie Self Unfinished (1998) oder Product of Circumstances (1999), die einst dazu ansetzten, im Tanz vorherrschende Körperbilder aufzulösen und zu irritieren, inzwischen ihrerseits zu »Patterns« verfestigt und verselbständigt.49 Untitled entzieht sich dem Bereich des Sichtbaren jedoch so sehr, dass es kaum vorstellbar ist, dass sich diese Performance zu kanonischen Bildern verfestigten könnte. Und doch ist zu betonten, dass die Deformation, die Le Roy entwirft, erst in dem institutionellen und künstlerischen Kontext, in dem Untitled gezeigt wird, überhaupt als solche verstanden werden kann. Die Differenz zwischen der von Butler skizzierten kritischen Praxis und derjenigen Le Roys, dass Le Roy innerhalb eines ästhetischen Frei- und Schutzraums agiert, sollte hier nicht nivelliert werden. Beide verbindet das Anliegen, Instabilitäten aufzuzeigen und für Umdeutungen zugänglich zu machen. Das Risiko einer vulnerablen Position an der Grenze der Norm, welches das – immer schon verkörperte – Subjekt dabei über eine körperliche Praxis auf sich nimmt, verunsichert das urteilende Subjekt, das Zeuge dieser riskanten Praxis ist. Darüber hinaus scheint die kritische Praxis Le Roys besonderes Augenmerk auf die Frage zu legen, wie sich vermeiden ließe, dass sich normative Verschiebungen in einer Weise verfestigen oder stabilisieren, die sie zu leeren Bildern, ergo Alibis einer Veränderung werden lassen. Mit Le Roy ginge es also darum, die Orientierungslosigkeit und Unsicherheit in Kauf zu nehmen, die immer wieder aufs Neue einer 46 | Foucault, 1992, S. 8. 47 | Ebd. 48 | Vgl. Butler, 2009, S. 246. 49 | Foellmer, Susanne: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld 2009, S. 11-17.

Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis

Beunruhigung der Kriterien, mit denen wir Menschen als verkörperte Subjekte wahrnehmen, Raum geben könnte.50

50 | Butler, 2011, S. 62ff.

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Affective Queertique N.O. Body als Beispiel für das queering von Kritik Sophie Nikoleit

Pauline Boudry und Renate Lorenz bilden ein Performer*innen-Duo aus Berlin, welches seit Mitte der 2000er Jahre1 zusammenarbeitet. In ihren Arbeiten wieder-holen sie historische Momente, in denen (zumeist) unter-re-präsentierte oder illegible (queere) Geschichte*n erzählt werden – so auch in der Performance-Installation2 N.O. Body, welche hier im Fokus des Artikels stehen soll. Die Performance-Installation N.O. Body möchte ich als queere Kritik an hegemonialen Gedächtnis- und Archivierungsformen lesen, welche aufzeigt, was alles nicht adäquat archiviert wird und keinen Einzug ins kollektive Gedächtnis findet. Das Beispiel möchte daraufhin befragen, was für Potentiale (ver-)queerender Strategien von Kritik sich zeigen. – Was wird sichtbar gemacht? Was für eine ›Politik der Kritik‹ wird evident? Doch was bedeutet queer hier eigentlich? Ich möchte folgendes Zitat als Ausgangspunkt für meine Betrachtungen vorschlagen: Queer ist Kritik am Herrschaftssystem. Queer ist Kritik an Normierungen. Queer ist die Möglichkeit, mit vorgegebenen Rollen zu spielen oder sie ganz abzulegen. Queer ist offen und unbestimmt. Queer bedeutet zu hinterfragen und zu verändern. Es soll jedoch keine neue Norm an die Stelle einer alten gesetzt werden, sondern vielmehr eine Kritik an Kategorien überhaupt formuliert werden. 3

1 | In der Literatur findet man verschiedene Angaben – von 1998 bis 2008 reichend. Lorenz selbst schreibt, dass seit 2007 filmische Installationen produziert werden. Vgl. Lorenz, Renate: Queer Art. A Freak Theory. Berlin 2012, S. 8. 2 | Der Begriff der »Performance Installation« soll hier auf den räumlichen und hybriden Charakter der performativen Arbeiten verweisen. 3 | Latsch, Marie-Christina: _ Mind the Gap. Einblicke in die Geschichte und Gegenwart queerer (Lebens)Welten. Münster 2013, S. 1868.

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E inleitung Den Titel der Performance aus dem Jahr 2008 entliehen Boudry/Lorenz von Aus eines Mannes Mädchenjahren 4 von Nora/Norbert O. Body, dem Synonym des*der Theatermacher*in Karl M. Baer, eines intersexuellen Menschen, der von seiner Familie ›weiblich‹ erzogen wurde, der sich jedoch später entschloss, als Mann* zu leben. Das Nachwort zu dem 1907 erschienenen Buch verfasste Magnus Hirschfeld, Mitbegründer der ersten Homosexuellenbewegung sowie Gründer des ersten Institutes für Sexualwissenschaften, welches bis zu seiner Zerstörung durch die Nationalsozialisten 1933 Bestand hatte. Zwischen 1899 und 1923 verfassten Hirschfeld und seine Mitarbeitenden eine 20.000 Seiten umfassende Textsammlung: Die Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen sollten zeigen, dass es zwischen ›Vollmann‹ und ›Vollweib‹ eine unendliche Anzahl an Abstufungen und Mischungen gibt.5 Die Arbeiten von Boudry und Lorenz werden u.a. in Galerien, Kunstvereinen und Museen ausgestellt. In der Ausstellung entwirft das Künstler*-Duo dafür Räume, in die sie die dafür produzierten Videos (z.B. Loops und Sequenzen) einbetten. N.O. Body wird beispielsweise innerhalb einer kleinen museal-inszenierten Ecke, die wie ein Wunderkabinett anmutet, präsentiert, in der die Zuschauenden mit dem Videoloop sowie den ergänzenden Artefakten (wie z.B. Photos) allein sind. Der rund 16-minütige Videoloop zeigt eine vollbärtige Dame in einem holzgetäfelten Hörsaal im Stil eines theatrum anatomicum. Sie ist allein in dem Raum, trägt ein opulentes, elegantes Kleid und dazu passende Spitzenhandschuhe, hat sehr lange dunkle Haare, welche offen getragen werden. Kleid/Haar und Bart stellen dabei einen Kontrast her. Es lässt sich daraus schließen, dass Kleidung und der gewählte Raum auf das 19. Jahrhundert verweisen sollen: Das Setting des Films N.O. Body zeigt einen Hörsaal des 19. Jahrhunderts, in dem die möglichen Positionen der Wissensproduktion räumlich angeordnet sind – die zentrale Position der ›Professor*in‹, der grosse [sic!] Tisch, der das Objekt des Interesses vorführt, die Tafel, an der die Erkenntnisse festgehalten werden, und die imaginierte Zuhörer*innenschaft, die auf ansteigend angebrachten Sitzen auf diese Szene hin ausgerichtet ist. 6

Hinter der Person steht eine Leinwand bzw. Tafel. Per Knopfdruck startet der*die Protagonist*in die Diashow, welche auf die Fläche hinter ihr, aber auch auf sie selbst projiziert wird, da sie direkt vor der Leinwand steht. Wir sehen eine alte Photographie: Die Bearded Lady Annie Jones.7 Es ist zu erkennen, dass diese historische Figur, welche eine der berühmtesten Bartdamen in Amerika Ende des 19. Jahrhunderts war, hier re-inszeniert wird: Kleidung und Frisur aus der Photographie wiederholen sich in dem*der Protagonist*in der Performance. Annie Jones war schon als Kind enorm behaart und wurde später von einem Zirkus unter Vertrag genommen, um (u.a. auch in Museen) als Freak ausgestellt zu werden. Die hier ge4 | Vgl. Body, Nora/Norbert O.: Aus eines Mannes Mädchenjahren. Berlin 1993. 5 | Einen guten Überblick über Leben, Werk und Wirken von Magnus Hirschfeld bietet die Biographie von Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld. Teetz 2005. 6 | Lorenz, Renate/Boudry, Pauline: »Lachen über N.O.Body«. www.boudry-lorenz.de/sta​ tic/files/Lorenz,%20Boudry%20-%20Lachen%20ueber%20N.O.Body.pdf vom 9. Okt. 2015. 7 | Vgl. www.thehumanmarvels.com/annie-jones-the-esau-woman vom 9. Sept. 2017.

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zeigte Photographie ist jedoch nicht eine der sogenannten Wunder-Photographien aus der Zirkuszeit, in der sich Menschen gegen Geld mit den als außergewöhnlich dargestellten Menschen ablichten lassen konnten, sondern stammt aus dem Hirschfeld-Archiv. Auch die anderen gezeigten Projektionen sind dem 800-seitigen Bildteil von Magnus Hirschfelds Buch Geschlechtskunde 8 zur Recherche der sogenannten Zwischenstufentheorie entnommen: Hier werden z.B. Photographien und Zeichnungen von Menschen in Travestie bzw. Drag gezeigt nebst Abbildungen von Fetischist*innen und SM-Szenarien, von Uniformliebe, gleichgeschlechtlichen Paaren oder auch von intersexuellen Menschen. Diese Bilder zeigte Hirschfeld als medizinische Fälle während seiner Präsentationen und Vorträge ebenfalls als Diashow, um seine Theorien zu beweisen und zu verifizieren.9 Während bei der vorab produzierten Video-Aufnahme keine Zuschauer*innen bemerkbar sind, stellt sich in den Ausstellungen der Kontakt mit Menschen – zu uns, dem Publikum – ein. Die Performances finden also nicht live vor Publikum statt, sondern werden durch Videos und Photos aufgezeichnet und sind Teil der Ausstellung.10

W as heisst hier eigentlich niemand? Zusammen mit Duplikaten aus dem Bilderfundus Hirschfelds und biographischen Fragmenten re-/produzieren die beiden Künstler*innen ein museales Kabinett, das in der Ausstellungssituation eingerichtet wird. Die Performance ist dennoch offensichtlich kein Informationsfilm über Magnus Hirschfelds Forschungen, der eine Abfolge seiner Bilder zeigt. Vielmehr baut die Szene auch durch das fehlende Publikum im Film wechselnde Verhältnisse zwischen Leinwand, akademischem Kontext und Werner Hirsch, Performer*in von N.O. Body, auf: »Und das Bild eines leeren Saals weist auch dem möglichen Publikum eine Position zu: N.O.bodies.«11 – Die Betrachtenden werden zum Teil des abwesenden Publikums, das auf das Objekt blickt. In dieser Arbeit ist dies essentiell, da über das historische Bildmaterial und die zeitgenössische, performative Stellungnahme die Archivierung, Produktion und Re-Produktion von Wissen auf dem Spiel steht: An active audience uses images as entry points for connecting to its own personal archive. The audience is invited to (knowingly or unknowingly) inhabit a structural position in the processes of meaning production initiated by the artistic practice. […] In N.O. Body, the au-

8 | Hirschfeld, Magnus: Geschlechtskunde. Bd. 4: Bilderteil. Stuttgart 1930. 9 | Vgl. Eder, Barbara: »Butterfly Kisses, addressed to ›N.O. Body‹. Zur Animation von Magnus Hirschfelds Bilderatlas ›Geschlechtskunde‹«, in: Jacob Guggenheimer/Utta Isop/Doris Leibetseder/Kirstin Mertlitsch (Hg.), ›When we were gender …‹ Geschlechter erinnern und vergessen – Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer-Theorien und feministischen Politiken. Bielefeld 2013, S. 321-336, hier: S. 324f. 10 | Vgl. Schneider, Rebecca: Performing Remains. London/New York 2011, S. 89: »[…] binaried distinction between the ›live‹ and the ›recorded‹ […]. The problem of the record in relation to the live here slips away from tidy distinction.« 11 | Lorenz/Boudry, 2015.

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dience is present in its absence; a lecturer addresses an empty nineteenth-century lecture hall, exploring her chosen research topic – herself.12

N.O. Body steht dabei für alle (jemanden) und niemanden: »Uns gefällt, dass dieser die Identität von jemandem bezeichnet, der zugleich als niemand jede Identität verweigert. Es wird ein Körper – body – näher benannt, der als kein Körper – nobody – nicht adressierbar ist.«13 Bart und das Kleid wirken wie eine Maske, hinter der sich – ganz im Sinne eines Veruneindeutigens – alles und nichts verbergen könnte (im Verlauf der Performance wird noch eine richtige Maske – eine Ledermaske – aufgesetzt). Werner Hirsch liegt leicht lasziv auf dem Untersuchungstisch: Unter ihm ein paar Kissen. Er flirtet mit der Kamera, der Umgebung, den ›Zuschauenden‹. Es werden nun Untersuchungsbilder von Nahaufnahmen von Genitalien bis zu Ganzkörperbildern von nackten und fetischbekleideten Menschen aus dem Hirschfeld-Repertoire gezeigt. Aber anstatt einen sprachlich-sprechenden Kommentar zu hören, kann ein choreographiert wirkendes Kichern und Lachen vernommen werden. Die Person spielt mit den Bildern, tritt in Aktion mit ihnen, ohne die Leinwand zu berühren: Nur ihr Schatten, durch den Projektor auch auf die Leinwandoberfläche geworfen, wird zum Teil des Bildes und Spielpartner. Am Ende der Performance schaut die Figur durch das imaginäre Publikum im Hörsaal. Der Performance-Film beginnt als endlose Wiederholung des Immergleichen (Loop) wieder von vorne.

O bjek t oder S ubjek t der W issensproduk tion ? In ihren Arbeiten kombinieren Pauline Boudry und Renate Lorenz die Medien Film oder Video mit Photographie, Installation und Text, greifen Archivmaterial aus der Geschichte von Photographie und Film auf und loten durch dieses Zusammenspiel von Sexualität, sexuellen Perversionen und Photographie ihr/ein Verhältnis zur Geschichte aus. Inspiriert durch konzeptuelle Kunst- und Kulturgeschichte führen sie zeitgenössische Performer*innen und unterschiedliche Zeiten zusammen. Die Performance N.O. Body zeigt uns einerseits, was alles nicht adäquat archiviert wird und keinen Einzug ins kollektive Gedächtnis findet, und andererseits, was alles über Generationen hinweg mitgegeben und mittlerweile als natürlich (konstruiert) angesehen wird, wie z.B. Sozialisierungsprozesse, Verhalten, Gesten, körperliche Ideale. Die gezeigten Photographien bewegen sich im Laufe der Zeit weg von einem ›Freak-Diskurs‹ und hin zum medizinischen Diskurs, sodass sie die Geschichte einer historischen Veränderung in der Repräsentation und Abwertung von Differenz sowie der an sie geknüpften Praktiken sichtbar machen. Das Medium Photographie stand zu der Zeit von Hirschfelds ›Beweis-Photos‹ am Anfang seiner Karriere und war kein Massenmedium wie heute, so dass hier eines der ersten visuellen Photo-Archive entstand. Vorher war gewissermaßen ja Schrift das Medium, um Bilder zu beschreiben und zu verbreiten. So verdeutlicht 12 | Engel, Antke: »Queer Temporalities and the Chronopolitics of Transtemporal Drag«. www.e-flux.com/journal/28/68031/queer-temporalities-and-the-chronopolitics-of-trans​ temporal-drag vom 4. Nov. 2017. 13 | Ebd.

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uns das Photo eine Differenz, in welcher nach der zeitlichen und theatralen Dimension der Pose gefragt werden kann. It is as if some history reenactors position their bodies to access, consciously and deliberately, a fleshy or pulsing kind of trace they deem accessible in a pose, gesture, or set of actors. If a pose or a gesture or a move recurs across time, what pulse of multiple time might a pose or a move or a gesture contain? Can a trace take the form of a living foot […]? Can a gesture, such as a pointing index finger, itself be a remain in the form of an indexical action that haunts (or remains) via live repetition?14

Die Frage nach der Pose oder Geste, die sichtbar wird, verweist dem folgend auch immer schon auf die Umstände der Photographie: Wer hat das Photo gemacht? Sind die Posen angeordnet worden oder vom abgebildeten Menschen ausgegangen? Die Photographie ermöglicht es, nach dem Verhältnis zwischen Produzent*innen und Nutzer*innen zu fragen, ebenso wie Archive sich der folgenden Frage stellen müssen, die Boudry/Lorenz formulieren: »[W]as geschieht in der Produktion von Normalität und Devianz, so fragt der Film N.O. Body, wenn das ›Objekt des Wissens‹ sich auch die Position der Wissensproduzent*in aneignet, zu lachen beginnt und die Geschichte der Wissensproduktion noch einmal aufrollt?«15 In N.O. Body hat sich der*die Protagonist*in aus den Archiv-Bildern emanzipiert und ermächtigt sich, nicht mehr als Objekt vorgestellt zu werden (passiv), sondern stellt sich selbst dar (aktiv).16 Ich möchte an dieser Stelle die zwei Schlüsselmomente der Performance von N.O. Body herausgreifen und kurz erläutern, warum diese meiner Meinung nach besonders gut das kritische Potential des Werks aufzeigen: zum einen das Spiel des Schattens, welches Mathias Danbolt beschreibt,17 zum anderen den Aspekt des Lachens, welcher in Bezug auf N.O. Body immer wieder erwähnt wird.

S chat ten als Z eichen der E manzipation Der Schatten stellt, wie schon beschrieben, die Verbindung zwischen Performer*in und Leinwand/Tafel dar. Als Verlängerung von Werner Hirsch spielt der Schatten mit den gezeigten Bildern und verweist dabei noch einmal auf anderer Ebene auf die anderen Erinnerungen der Geschichte, auf die Beziehung zwischen Sichtbarem (Licht) und Unsichtbarem (Schatten). Danbolt fügt an der Stelle hinzu, dass dieser Schatten auch als eine Geste des Schutzes gelesen werden kann, für diejenigen Körper, die wie Zirkustiere ausgestellt wurden.18 Auch kann die Berührung (touching) des Schattens mit dem Leinwandbild nachvollzogen werden als eine Sehnsucht und ein Begehren, die nicht öffentlich sind oder vielleicht unerfüllt bleiben:

14 | Schneider, 2011, S. 37. 15 | Lorenz/Boudry, 2015. 16 | Vgl. Eder, 2013, S. 327. 17 | Vgl. Danbolt, Mathias: »Disruptive Anachronisms – Feeling Historical with N.O. Body«, in: Pauline Boudry/Renate Lorenz, Temporal Drag. Ostfildern 2012, S. 1982-1989. 18 | Ebd., S. 1988.

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While the shadow caress draws attention to the power mechanisms and potential violence in archival excavations and historical research, it also points to the fact of how we touch forms and informs how the past takes shape in the present.19

L achen als subversive S tr ategie Im Gegensatz dazu steht die Choreographie des Lachens von N.O. Body als Instrument des Verunsicherns: Worüber wird gelacht? Wer wird angelacht? Der ›Freak‹ ist eine Figur, die agiert und sich in die Praktiken des Starrens, der Wissensproduktion und die Konstellationen von Macht und Begehren einmischt. Lachen tritt dabei an die Stelle einer sprachlichen Aussage, aber anders als Sprache produziert es keine reproduzierbare Bedeutung auf der Basis sozialer Konventionen. Es ist letztlich nicht möglich, die genaue Bedeutung des Lachens zu verstehen oder festzuhalten. Mit dieser Uneindeutigkeit kann Lachen die Opposition von Ernst und Unernst unterlaufen. Denn Wissen beruht darauf, dass jemand andere überzeugt, dass jemand ›ernst genommen‹ wird. Freaks oder Queers waren und sind dagegen immer wieder in der Situation, dass sie ihre Seriosität beweisen müssen und dass ihre Autorität in der Wissensproduktion prekär ist.20 Auch stellt das Lachen die Position der Zuschauer*innen aus, indem dafür gesorgt wird, dass im Video kein Publikum sichtbar ist und nur die äußeren Zuschauenden, also die in der Hier-und-jetzt-Situation der Ausstellung, die Figur anstarren. Soll man mit der Person lachen? Das Lachen in die Kamera verweist also zurück auf ein Starren, das an den feministischen Diskurs des Blicks (gaze) anschließt: Durch eine Photographie wird dieses Starren auf die Spitze getrieben, da der Körper angeschaut werden kann, ohne dass die angeschaute Person ausgestellt wird.21 Mathias Danbolt kommt zu dem Schluss, dass [p]erhaps she laughs at how our ›serious‹ attempts to teach and transmit historical and archival work often neglect a central element of history, namely its ability to surprise us, to put us out of the place, to disturb the position and authority of the present. 22

Damit wird aber ein ›us‹, ein ›Wir‹, erzeugt, das das Publikum vergemeinschaftet. Lachen steht also hier in Bezug zum Gedanken des Kollektiven: Im Moment des Lachens entsteht auch eine kurze Form der Zugehörigkeit. Lachen ist dabei eine affektive und affizierende Tätigkeit, welche diese Form der Zugehörigkeit auch gleich wieder dekonstruiert.

Z ur B edeutung von Z eitlichkeit/- en Die performative Auseinandersetzung mit den Bildern, über deren Quellenherkunft wir im Video nichts weiter erfahren, bleibt rätselhaft: Trotz körperlicher, 19 | Ebd. 20 | Lorenz/Boudry, 2015. 21 | Vgl. ebd. 22 | Danbolt, 2012, S. 1988.

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gestischer und modischer Annäherungen an Bildmaterial des 19. Jahrhunderts bleibt die eindeutige historische, kulturelle oder sexuelle Kontextualisierung zweitrangig. Die Rolle des*der Protagonist*in changiert zwischen Betrachter*in und Betrachtete*r. Boudry und Lorenz scheinen die Perspektive des Blicks ins thematische Zentrum zu rücken: Die Wahl des Ausschnittes wird hier danach untersucht, unter welchen Umständen die Bilder verwendet wurden und werden und welche Möglichkeiten der Betrachtungen es gibt und geben kann. Schon bei der Herstellung einer Photographie handelt es sich um einen fokussierten politischen Akt, der immer im Zusammenhang steht mit einer Frage der Beurteilung sowie der Auswahl der daraus resultierenden Bilder von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gerade die Tatsache, dass die Performance als Loop immer wiederholt wird, betont den Aspekt der Zeitlichkeit in der Arbeit. In dem Film selbst finden sich viele anachronistische Gegenstände: Der Kodak-Projektor, ein Kleid im viktorianischen Stil, ein Tivoli-Radio und der Ort selbst stören/verfremden eine lineare Zeitwahrnehmung und funktionieren hier als temporale Zeit-Brüche. Danbolt schlägt die Praxis des touching history 23 vor: eine performative Historiographie, welche die Präsenz von Vergangenheit in der Gegenwart und den Wunsch, affektive/emotionale Verbindungen über Zeiten hinweg zu kreieren, behandelt.24 Das erinnert daran, dass queere historische Impulse des touchings komplexer sind als das bloße Trösten in der Jetztzeit. Stattdessen verweist diese affektive Seite des »Berührtseins« auf eine mögliche aktive Ebene zwischen den Zeiten.25 Vor allem die performative Dimension des touching soll hier betont werden, um zu zeigen, wie auf diese Art die Verhältnisse zwischen dem*der Forscher*in und dem Forschungsgegenstand sowie der Vergangenheit und der Gegenwart destabilisiert werden können. Es geht dabei weniger um eine sichere Ankunft in der Erforschung als vielmehr um das Wagnis, erfindungsreich zu recherchieren und bekannte, traditionelle Strukturen zu kritisieren.26 This entails paying attention to the touching that takes place in our physical and mental labor of doing historical and archival work – searching, digging, reading, writing, desiring, breaking, and shaking things – as well as maintaining an awareness of the experiences of how history touches us in the present. 27

23 | Zum Begriff des touching innerhalb historischer Reenactments (living history movement) schreibt auch die Performance-Theoretikerin und Theaterwissenschaftlerin Rebecca Schneider, vgl. bspw. Schneider, 2011, S. 101. Zu ›politics of touch‹ vgl. Manning, Erin: Politics of Touch. Minneapolis 2007, S. 84-101. Hier wird der Bezug zwischen Körper, Geschlecht und Berührung erläutert. Der Begriff des touching soll später noch einmal aufgegriffen werden. 24 | Vgl. Danbolt, 2012, S. 1984. 25 | Im Original: »[…] instead, the affective charge of investment, of being ›touched‹, brings the fast forward into the present« (Ann Cvetkovich: An Archive of Feelings. Durham 2003, S. 49). 26 | Vgl. Danbolt, 2012, S. 1988. 27 | Ebd., S. 1987.

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N.O. B ody als affek tiv wirkende K ritik Dem Touching ist eine affektive und erotische Wirkung eingeschrieben, die seinen Begriff mit all seinen sinnlichen und haptischen Konnotationen denkt, um die Art und Weise, in der wir Vergangenheit beeinflussen und in der Gegenwart beeinflusst werden, zu hinterfragen: Wie wirkt sich eine queer-epistemologische Kritik auf modern-aktuelle Archivierungspraktiken aus? Was sind die Beziehungen zwischen Visualität, öffentlicher Darstellung, Identität, Macht und Subjektivierung, welche durch diese subalternen Historiographien beschrieben werden? N.O. Body verdeutlicht, dass ein Engagement oder Interesse an der Vergangenheit keinesfalls auf Konservierung oder Nostalgie reduziert werden kann, sondern es auch etwas gibt, was man ›affektive Übertragung‹ nennen kann: Mit dem Begriff soll darauf verwiesen werden, dass die Performance-Installation auch affektive Wirkungen und Handlungsweisen überträgt, die nicht nur geradlinig rezipiert werden, sondern zirkulieren bzw. resonieren. Auch das, was eigentlich unsichtbar – verborgen – in der Geschichtsschreibung blieb, nämlich v.a. die negativen Gefühle, wird so sichtbar. Es handelt sich dabei nicht nur, so wie oft angenommen, um eine autonome Transformation von verkörperten Geschichten durch/in Performances, sondern diese Praxis verweist vielmehr auf die Relation von Archiv, Repertoire und Körpergedächtnis, ohne die Vergangenheit als Kitsch zu verklären. Vielmehr soll das vermeintlich andere markiert und die daran geknüpften Gefühle in der Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Diese affektiven Übertragungen legen auch eine gewisse Möglichkeit einer Anachronizität der Gefühle nahe, und so soll dieser Prozess der Übertragung auch auf aktuelle Debatten über die mannigfaltigen Beziehungen zwischen den performativen Künsten und Archiv- sowie Gedächtniskulturen fruchtbar gemacht werden. In N.O. Body erscheint Identität nicht aus den geteilten und gültigen Bedingungen des Embodiments, sondern ist vielmehr eine Ver-Räumlichung der Marginalisierung. Damit meine ich die Sichtbarmachung z.B. durch das (affektive?) Neu-Besetzen eines Ortes, in dem man, wie im Fall von N.O. Body, vorher Forschungsobjekt war. N.O. Body möchte ich hier als die verkörperte und verräumlichte Figur der Kritik lesen, welche durch die oben genannten Strategien – Lachen und Schatten – die Wirkungsmacht von Normalisierungsprozessen ausstellt und hinterfragt: Zudem besteht die Hauptaufgabe der Kritik nicht darin zu bewerten, ob ihre Gegenstände – gesellschaftliche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Macht und Diskurs – gut oder schlecht, hoch oder niedrig geschätzt sind; vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten. Welches Verhältnis besteht zwischen Wissen und Macht, sodass sich unsere epistemologischen Gewissheiten als Unterstützung einer Strukturierungsweise der Welt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens verwirft. Natürlich mögen wir annehmen, dass wir epistemologische Gewissheit brauchen, um sicher sagen zu können, dass die Welt in bestimmter Weise geordnet ist und geordnet sein sollte. Inwieweit jedoch ist diese Gewissheit von Formen des Wissens begleitet, eben um die Möglichkeit eines anderen Denkens auszuschließen?28

28 | Butler, Judith: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. http://eipcp.net/trans​ versal/0806/butler/de vom 9. Okt. 2017.

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In N.O. Body zeigt sich kritisches Engagement in der Hinterfragung von Konzepten wie Wissen, Zeit, Geschichte, Fortschritt und deren Ausstellung als eben nicht neutral, natürlich und selbstbeweisend, wie sie erscheinen. Vielmehr werden den Zuschauenden die Bedeutungen sowie Werte und Bewertungen, welche in ein System aus heteronormativ-linearen Zeitverläufen eingebettet sowie konstruiert sind, humorvoll offenbart. Es geht darum, Verbindungen weiter und umfassender zu denken, als es im Rahmen von Repräsentations- und Institutionskategorien möglich ist: Wie kann Kritik konkret werden? Wie kann man Affekte in ihrer Dynamik und Wirkungsmacht offenlegen? Wie kann Kritik also so konkret werden, dass sie eben nicht auf der Ebene der Repräsentationen bleibt, sondern es erlaubt, die Welt anders zu denken und zu leben? Neben einer kritisch-reflektierten Auseinandersetzung mit strukturellen Bedingungen sollten auch immer Akteur*innen und Handlungsweisen fokussiert werden. Das heißt, immer wieder auch auf andere Archive zu verweisen sowie widerständige Theorien, subversive Praktiken zu betonen. Eine konkrete Kritik muss also auch Veränderungen an Wissensproduktionen fordern und diese hinterfragen. Affekt und Kritik verbindet eine gewisse Direktheit der Erfahrung, sie zirkulieren dabei zwischen Subjekten und Objekten und verbinden die Gegenwart mit jeweiligen Eigenzeiten. Was so z.B. im unmittelbaren Aufführungskontext oftmals undurchsichtig, unzugänglich bleibt, das heißt nicht ästhetisch erfahrbar ist, erhält so die verloren geglaubte Möglichkeit, doch noch erfahren zu werden. Das, was N.O. Body zeigt, ist vielleicht also doch weniger das Gefühl von Zugehörigkeit und zu-gehöriger Geschichte als vielmehr der Prozess, aus der Kritik heraus eine queere Gegenöffentlichkeit zu schaffen, welche sich weigert, eine feste Form anzunehmen. Diese immer wieder im Prozess befindliche, aushandelnd-fluide ›Un-Form‹ entsteht jedoch nicht allein durch das Subjekt bzw. Objekt einer ästhetischen Erfahrung oder durch das Thema sowie seine Dokumentation und auch nicht nur durch das Publikum, sondern gerade durch die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Affekten. Die Gegenöffentlichkeit N.O. Bodys offenbart sich so durch die heimsuchenden Geister der Vergangenheit und sucht im Utopisch-Zukünftigen nach Potentialen für die Gegenwart.

G edanken am sogenannten E nde José Esteban Muñoz hat ganz entsprechend formuliert, dass queere Kritik immer auch utopisch denken sollte, um wirksam zu sein. Queer an sich war für Muñoz ein unerreichtes utopisches Ideal. Er stellt in Cruising Utopia den Begriff der queer utopian memories vor, welcher eine Kultur der sexuellen, geschlechtlichen und queeren Möglichkeiten verkörpern sollte: I have been concerned with the ways in which the politics around queer memory, fueled by utopian longing, help to reimagine the social. […] The notion of a strategic and self-knowing modality of queer utopian memory, and, more important, the work, that such a memory does, becomes all the more possible. 29 29 | Muñoz, José Esteban: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity. New York 2009, S. 47f.

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Queere Theorien und Politiken beschäftigen sich oft mit dem individuellen oder sozialen Körper, da sie diesen als Austragungsort kultureller Einschreibungen und sozialer Normen betrachten und er deren Konstruktionen und Naturalisierungsmechanismen, wie es in der Performance offensichtlich wird, ausstellt. Im Gegensatz zu dem von Judith Butler beschriebenen Subjektivierungsprozess, bei dem (re-) iterative Akte der Verkörperung eine Lücke zum Idealbild zu schließen versuchen,30 könnte man auch die unerreichte Utopie eines bodiless body stellen: eines N.O.Body. Durch die Gestaltung der Performance-Installation und die imaginierten Zuschauer*innen, welche nur außerhalb des Filmloops sind, wird eine räumliche und zeitliche Distanz deutlich, welche die Einflüsse auf Subjektivierungsprozesse ausstellt: […] these artistic works are precisely in the position to break off interpellations, producing a temporal and spatial distance – a deferral and a gap – between an experience and any possible effect on the process of subjectification. 31

30 | Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Frankfurt a.M. 1993, S. 19-49. 31 | Lorenz, 2012, S. 18.

Kritische affektive Räume im Theater der Gegenwart Frithwin Wagner-Lippok

Es ist der 29. Oktober 2015, ich suche im Schauspiel Frankfurt meinen Sitzplatz. Dunkle, bluesige Gitarrentöne versetzen mich in angenehme Erregung, silhouettenhafte, in Mantel-und-Degen-Manier verkleidete Gestalten vollführen in Zeitlupe Fechtübungen hinter einem Gazevorhang, auf dem Projektionen in grüner Schrift zu einem Preisausschreiben einladen: Die Cotta’sche Buchhandlung, heißt es da, hat am 1. Januar 1836 einen Preis auf ein Lustspiel ausgesetzt. Ich lese von 300 Gulden, die Büchner bekommen haben würde, hätte er nicht den Einsendeschluss verpasst. Wie eine Erinnerung ertönt immer wieder die aufreizende Tonspur. Hinter dem Gazeschleier glänzen Theaterscheinwerfer.1 Bei der Untersuchung kritischer theatraler Praxis geht es um die Frage, wie Theater als »Auseinandersetzung mit dem Bestehenden« in einer »Haltung der Entunterwerfung«2 postfundamentalistische Kritik zu äußern vermag – eine Kritik, welche die Transgression bestehender Grenzen nicht zum Vergnügen oder von normativen Positionen aus betreibt, sondern sich an der Krisis des Bestehenden selbst entzündet. Mit Roland Barthes wäre hinzuzufügen: eine Kritik, die »einen impliziten Diskurs über sich selbst«3 enthält. Die Frage zielt auf ein Theater, das »das Theater aufs Spiel setzt«4. Ich möchte dieses Kritikverständnis am Beispiel zweier Aufführungen diskutieren – an Jürgen Kruses Inszenierung Leonce und Lena und der Hip-Hop-Performance H2 des brasilianischen Choreographen Bruno Beltrão5. Lassen sich zu diesem Kritikbegriff in Kruses opulenten Theaterzeremonien oder in der rezenteren kühlen Ästhetik Beltrãos Entsprechungen finden? Beide stehen für Transgressionen und eine eigentümliche Attraktion, die ich mit Hilfe eines räumlichen Affektkonzepts zu charakterisieren versuche. Dabei will ich zeigen, 1 | Erinnerungsprotokoll der Aufführung vom 29. Oktober 2015 von Leonce und Lena am Schauspiel Frankfurt. 2 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 15. 3 | Müller-Schöll, Nikolaus: »Die Fiktion der Kritik«, in: Theater heute 57, 11 (Nov. 2016), S. 28-31, hier: S. 30. 4 | Ebd., S. 31. 5 | Die Tanzperformance H2 entstand 2005 und war in Deutschland, Holland, Brasilien, Belgien, Portugal, Spanien, Schottland und mehreren asiatischen Ländern zu sehen.

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mit welchen ästhetischen Mitteln sie sich quer zu bestehenden Normen stellen und wie beide versuchen, statt sich an einen sicheren »Nexus von Macht-Wissen«6 zu klammern, auf schwankendem Boden die »Akzeptabilitätsbedingungen eines Systems heraus[zu]arbeiten« 7. Fraglich ist zunächst: Wie kann aus einem Theater, das impulsiv ergreift, ein kritisches Potential erwachsen, nachdem das Ergreifende als Benebelungsstrategie einer unkritischen Haltung dekonstruiert worden ist?8 Und welche Kritik könnte Beltrãos hybride Choreographie formulieren, die mit minimalistischer Präzision sich sowohl den Erwartungen der eigenen Subkultur als auch dem interpretativen Zugriff zu entziehen sucht? Beide künstlerischen Ansätze können eine kritische Haltung nur einnehmen, wenn es ihnen gelingt, trotz – oder gerade wegen – ihrer eigenwilligen Affektökonomie Normen zu unterlaufen und als Teil eines Dispositivs kenntlich zu machen. In diesem Fall lassen sie sich als affektive Taktiken ansprechen: Für Michel de Certeau ist die Taktik9 die Strategie-Variante ohne festen Ort, die »nur den Ort des Anderen« hat und gezwungen ist, »wachsam die Lücken [zu] nutzen«10. Meine These ist, dass das Entgleitende beider Taktiken, ihre subversive Beweglichkeit, die sie den Strategien voraushaben, mit der räumlichen Qualität ihrer Affektproduktion zusammenhängt. Die Grundlage dafür liefern drei Überlegungen: das Apriori des Affektiven; Jens Roselts Ausdeutung von Bernhard Waldenfels’ Begriff der Responsivität für das Theater als dialogisches Zwischengeschehen; und ein situational-relational-korporeales Affektkonzept, für das der Literaturwissenschaftler Frederik Tygstrup den Begriff »affektiver Raum« geprägt hat.11

A priori des A ffek tiven Mit dem sogenannten affective turn ist in den Kulturwissenschaften die Erkenntnis gewachsen, dass im Prozess der Erfahrung dem Affektiven eine unhintergehbare Priorität zukommt. Es wird nicht mehr als inneres Gefühl verortet, sondern – in Rückbesinnung auf Spinoza – als ein dynamisches Geschehen charakterisiert, bei dem »präindividuelle körperliche und mit autonomen Reaktionen verbundene Kräfte«12 auftreten. Für das Gegenwartstheater fragt Jens Roselt, »wo die Gefühle

6 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin, 1992, S. 33. 7 | Ebd., S. 35. 8 | »Alles, was Hypnotisierversuche darstellen soll, unwürdige Räusche erzeugt, benebelt, muss aufgegeben werden« (Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Bd. 17: Schriften zum Theater 3. Frankfurt a.M. 1973, S. 1011, zit. in: Frank Raddatz, Der Demetriusplan. Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich. Berlin 2010, S. 66). 9 | Vgl. auch die Bemerkungen zu Clausewitz in de Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 90. 10 | De Certeau, ebd., S. 89. 11 | Vgl. Tygstrup, Frederik: »Affective Spaces«, in: Daniela Agostinho/Elisa Antz/Cátia Ferreira (Hg.), Panic and Mourning: The Cultural Work of Trauma. Berlin 2012, S. 195-211. 12 | Clough, Patricia Ticineto/Halley, Jean (Hg.): The Affective Turn: Theorizing the Social. Durham, NC, 2007, Umschlagrückseite, üs. v. F. W.-L.

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wohnen«13, und erkennt eine »Strategie der Distanznahme«14, bei der das Affektive nicht mehr im »Magazin innerer Befindlichkeit«15 wohnt, sondern im performativen Akt von Körpern, die als »Instrument des planmäßigen Ausdrucks von inneren Zuständen […] ausgedient haben«16. So verlagert sich der Blick vom Gefühl auf den Affekt: Den Beginn jeder Erfahrung prägt eine primäre Affizierung, in deren Folge (und als deren Wirkung) sich ein Ich- und ein Objektpol herauskristallisieren – woraufhin überhaupt erst von einer Wahrnehmung von etwas gesprochen werden kann.17 Diese Vorgängigkeit des Affektiven gilt insbesondere für den Beginn einer Aufführung. In dieser ersten Begegnung geht mich etwas Fremdes an, im körperlichen Sinn von Judith Butlers »coming up against«18. Angehen meint betreffen, emotional berühren, sich aggressiv an jemanden wenden. Es enthält einen Aspekt der Bedrohung: Das affektive Apriori betrifft. Deshalb fließt in die Darstellung einer Aufführungserfahrung neben konkreten Beobachtungen immer auch subjektives Erleben ein.

D ialogizität In einem Lichtfenster links an der Wand haben sich drei Schauspieler*innen zu einem hübschen Gruppenbild plaziert, die mittlere trägt ein adrettes Röckchen und hält den Kopf an den nackten Oberarm der größeren Kollegin geschmiegt – »lieblich« fällt mir ein. Die drei lächeln uns 19 an, ganz privat. Ein Quader mit gläsernen Wänden – Grill, Aquarium, Jukebox? – glüht mal rot, mal grün oder blau auf, versucht sich in Zwischentönen und versinkt dann wieder in grauschwarzem Dunkel. Plötzlich wird der Lichtspot ganz hell, die Fechtenden bewegen sich in Normalgeschwindigkeit, und zum Klacken der Theaterdegen setzt eine Live-Version von »All Right Now« der Siebziger-Band Free ein. Die drei Akteure treten nach einer Minute – einer gefühlten Ewigkeit – aus dem Lichtfenster, schreiten Hand in Hand, immer wieder zögernd, in einem Lichtspot seitwärts vors Publikum und sehen es dabei mit unverblümter Direktheit an, während sie langsam den Gazevorhang öffnen. In ihrem Lächeln liegt etwas verschämt Kokettes, Lauerndes. Zwischendurch taxieren sie neugierig einzelne Zuschauer*innen. Den bedeutungsvoll verzögerten Auftritt (das Aufziehen des Vorhangs

13 | Roselt, Jens: »Wo die Gefühle wohnen. Zur Performativität von Räumen«, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis. Berlin 2004, S. 66-76, hier: S. 66. 14 | Ebd., S. 72f. 15 | Roselt, Jens: »Heulsusen und Kraftmeier. Zur Medialität von Gefühlen«, in: Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.), Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen. Berlin 2009, S. 200-213, hier: S. 204. 16 | Roselt, 2004, S. 73. 17 | Böhme, Gernot: Aistethik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001, S. 38. 18 | Butler, Judith: Frames of War. When is Life Grievable? London 2009, S. 34, üs. v. F. W.-L. 19 | »Wir« bezeichnet hier kein Mengenphänomen, sondern eines der Erfahrung (vgl. Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters. München 2008, S. 327).

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dauert eine Minute) prägt eine dandyeske 20 Mischung aus provozierender Gelassenheit, unsicherem Tändeln und einer naiv-leichtfüßigen, ja unirdischen Heiterkeit. Nach wenigen Sekunden lassen die drei sich für eine neue Pose kurz in ein Sofa fallen. Dann gehen sie auseinander. Die Show beginnt. Oder sie hat längst begonnen.21 Der Auftritt der Schauspieler*innen stellt eine primäre affektive Betroffenheit zur Schau. Er demonstriert gleichsam Roselts und Waldenfels’ Überlegungen zur Dialogizität der Aufführung22: Im Posieren im Lichtfenster, im neugierigerwartungsvollen Auftritt wie auf einem Laufsteg und im unverblümten, taxierenden Blick ins Publikum liegt etwas Fragendes. Die Frage scheint durch etwas hervorgerufen, sie reagiert auf einen vorgängigen Anspruch. Offenbar sind es die Zuschauer*innen und die von ihnen ausgehenden Erwartungshaltungen, deren Anspruch die Schauspieler*innen trifft und betrifft und auf die hin sie die Frage unausgesprochen stellen. Die stumme Erwartung, die sich mit dem Hereinströmen der Zuschauer*innen auf baut, wird öffentlich in Frage gestellt. Im lauernden Abwarten verkehrt sich die Polarität Akteur*in-Beobachter*in und stellt eine Norm in Frage: die Rollenaufteilung in eine bestimmte Erwartung und deren Erfüllung. Das Zögerliche im Auftritt der Akteure fungiert als Erspüren dieses Anspruchs und damit als Taktik einer Schauspielerhaltung, die durch die Vernebensächlichung der Stückhandlung die Kenntlichmachung und Umkehrung des Verhältnisses von Kunstanspruch und einer als Kunstlieferung getarnten Unterwerfungshandlung betreibt. So liegt die spezifische Affektivität nicht in der Adressierung des Publikums – die ist in Komödien gang und gäbe. Es ist das Ostentative des Auftritts, das einen unerklärlichen Überschuss an Be-Deutsamkeit enthält: es ist eine Geste, sinnfälliges Verhalten in sich selbst. Flusser definiert die Geste als »eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt«23. Merleau-Ponty zufolge ist sie eine Gebärde, »die ich verstehend mir zu eigen mache« und die den gemeinsamen Sinn von Erfahrung erst gründet; dieser Sinn »fällt zusammen mit der Struktur der von der Gebärde entworfenen Welt«24. Die Eingangsszene enthält die fragende Betroffenheit nicht nur, sondern stellt sie zur Schau: Die theatrale Show, das sich zögerlich Zeigende und Öffnende, ist der Gestus der Eingangsszene, und der Auftritt der Schauspieler*innen stellt ihn aus, rückt das Stück Leonce und Lena von Georg Büchner gleichsam nach hinten und präsentiert als Eigentliches die Begegnung als solche und ihre Theatralität. Im Moment der Geste werden die Begegnung mit den Schauspieler*innen, die Requisiten, der Sound, der Bühnenraum und das Licht, das ihn durchstrahlt, als solche spürbar. Sie erscheint damit als das spezifisch Affektive dieser Theaterästhetik, das schon am Werk ist, bevor die Aufführung richtig loslegt

20 | Bohrer sieht in der Selbststilisierung des »Dandys« einen subversiven Aspekt (vgl. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Frankfurt a.M. 1977, S. 32). 21 | Fortsetzung des eingangs zitierten Erinnerungsprotokolls. 22 | Roselt, 2008, S. 171ff. 23 | Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1994, S. 8. 24 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, 6. Aufl., S. 220.

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– es sei denn, sie bestünde gerade in dieser das Besondere einer Theatersituation exponierenden Tändelei, dann nämlich hätte die Show längst begonnen.

A ffek tiver R aum Die Bühne ist vollgestellt mit heimeligen Requisiten, venezianische Kronleuchter verbreiten eine dekadente Atmosphäre. Die Akteure wandeln mit unerschütterlicher Langsamkeit umher – manchmal unter bizarren Fischmasken, um irgendwen zu küssen oder anzustarren. Eine graziöse »Frl. Büchner« 25 beschreibt an einem Schreibpult geduldig Blätter, die sie nach ein paar Worten zusammenknüllt. Als eine Stunde später in einer Slapstick-Einlage eine Witzfigur von Soldat – ein »Springteufel« – ein solches Blatt auf hebt, liest er beiläufig jenen Satz, den der Psychopath26 Jack Torrance in Stanley Kubricks Film The Shining wochenlang in die Maschine tippt: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!« Wer die Filmtragödie um den gescheiterten Schriftsteller kennt, versteht mit einem Schlag die unverständliche Schreiberei: »Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier«, sagt Leonce bei Büchner. Die Verträumtheit der Bühnenhandlung mündet in ein abstruses Hochzeits-Finale, für das Leonce und Lena sehr umständlich in Folie eingewickelt werden und am Ende wie eingelegte Fische aussehen. Scheinbar lose Elemente wie die gegen jeden Sinn betonten Silben, die Slapstickszenen und das Kasperltheater mit zwei Socken werden immerzu miteinander verwoben und von einem deux ex machina willkürlich an- und abgestellt. »Ha! Ha! said the clown«, singt es einmal ansatzlos vom Band, als machte sich eine liegengebliebene Erinnerung an den Manfred-Mann-Titel von 1967 interaktiv über die Gedanken grübelnder Besucher*innen lustig. Diese Flut vielschichtiger Assoziationen aktiviert unterschiedlichste Bereiche des kollektiven Gedächtnisses: Text aus Goethes Faust will ebenso erraten sein wie der tiefere Sinn unzähliger Kalauer. So entsteht ein komplexes Netz affektiver Bezüge, das sich mit Frederik Tygstrup als Situation definieren lässt, als »complex composition of material elements, social scripts and protocols for agency, human bodies and their different tools and prostheses, and an ensemble of individuals expressing their different volitions, imaginaries and propensities«27. Dazu gehören auch Akteure und Zuschauer*innen mit ihren »Wünschen und Neigungen«, ihren Körpern, deren Möglichkeiten und Grenzen, und ihren »Prothesen«, mit denen sie diese Grenzen überschreiten, zum Beispiel die Degen oder die übergroße Schreibfeder des zierlichen »Frl. Büchner«. In diesem »relational ensemble«28 konstituiert sich eine Logik des Affizierens und Affiziertwerdens: Wie das Affektive »entsteht, verstärkt wird und sich ausbreitet, überschreitet die individuelle und autonome Sphäre«29. Der Situationsbegriff impliziert somit »eine Abschwächung der strikten Trennlinie zwischen dem, was als

25 | Rollenname lt. Programmheft – gespielt von Ildiko Schwab. 26 | Gespielt von Jack Nicholson. 27 | Tygstrup, 2012, S. 198. 28 | Ebd. 29 | Ebd.

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dem Individuum zugehörig, und dem, was als der Umgebung zugehörig gilt«30. Das affizierte Subjekt sieht sich einer Situation überantwortet. Über die Brücke des Situationalen eröffnen die Affekte den Raum. Als »relationale, situationale und körperliche« Phänomene oszillieren sie, wie Maurice Merleau-Ponty sagt, in wechselseitiger Projektion von innerer und äußerer Wirklichkeit wie Bilder zwischen zwei Spiegeln, immer nur Reflexionen des anderen, so dass »beide zusammen ein Paar bilden, ein Paar, das wirklicher ist als jede[s] einzelne von ihnen«31. Materiell-immateriell, »unvollendet und prozesshaft« nehmen sie »funkelnde Eigenschaften« an in einem dynamischen Kräftefeld. Dieses dynamisch schillernde Gebilde wird hier als affektiver Raum angesprochen. Seiner raumzeitlichen Struktur entspricht im Falle von Leonce und Lena ein Gestus der Show, das koketten Her-Zeigens. Da eine »Show« bereits etwas »zeigt«, handelt es sich um ein Zeigen des Zeigens.32 Der fast vergessene Song »Rosetta« 33 kündigt in plumper Assoziation den Auftritt der Figur Rosetta an, verkörpert von Alexandra Finder, die sich fast eine Minute lang über den neben »Frl. Büchner« sitzenden Leonce beugt und ihn ausgiebig küsst, während ihr langes Haar das zugleich wieder verdeckt. Leonces Langeweile wird physisch spürbar, wenn er die meiste Zeit der über zweistündigen Aufführung sinnierend und kalauernd mit seinem Diener Valerio34 totschlägt. Für die Dauer des Kusses aber wird sie präsent, denn da der Kuss nicht zu sehen ist, tritt sie buchstäblich als lange Weile in Erscheinung. Sie geht als amorphe Beunruhigung, als Lücke, die den Fluss des Geschehens unterbricht, die Zuschauer*innen an. Indem der Gestus der Aufführung die Weile ausstellt, wird sie zur subjektiven Erfahrung. Die Offenlegung der strategischen Verwendung von Zeit als Theatermittel unterwandert die Fiktionsmaschinerie, testet die Akzeptabilitätsbedingungen des Theatersystems und setzt das Theater aufs Spiel. Im Anspruch, alles und jedes in Aussprechliches zu verwandeln – etwa anhand Büchners Text das Zeitgeschehen kritisch zu thematisieren –, manifestiert sich ein kulturelles Dispositiv, eine Norm, die vom Theaterapparat geschützt und immer wieder erzeugt wird, also ein »disziplinärer Raum«35. Ein Raum ist de Certeau zufolge »ein Ort, mit dem man etwas macht«36. Der Produktionsraum eines Theaterklassikers kann durch räumlich operierende Guerillataktiken einer Aufführung angegangen werden. De Certeau fragt: »Welche Umgangsweisen mit dem Raum entsprechen diesen einen disziplinären Raum erzeugenden Apparaten, wenn man (mit der) Disziplin spielt?«37 Jürgen Kruse und seine Crew scheinen darauf eine Antwort zu geben: Sie pflegen eine freche, subversiv spielende und listig-sinnkriti-

30 | Ebd., üs. v. F.W.-L. 31 | Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986, S. 183. 32 | Es ähnelt darin Brechts Begriff des »doppelten Zeigens«, vgl. ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22. Frankfurt a.M. 1993, S. 126. 33 | Von Alan Price & Georgie Fame (1971). 34 | Gespielt von Oliver Kraushaar. 35 | De Certeau, 1988, S. 187. 36 | Ebd., S. 218. 37 | Ebd., S. 187 (Hervorhebung im Original).

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sche Umgangsweise mit den Konstituenten von Theater, die ihre eigene Disziplin bedient und ausstellt – und sie dadurch in Frage stellt. Leonce und Lena unterläuft oberflächlichen Kunstgenuss durch eine List der Oberfläche: Im Gestus des Zeigens (d.h. im Zeigen des Zeigens) treten die Materialität und das Phänomenale von Sprache, Musik und Bühnenobjekten hervor, was die Geltung institutionalisierter Theaternormen (nicht zu langweilen, verstehbaren Sinn zu produzieren, politisch korrekt zu sein etc.) vorübergehend außer Kraft setzt. Im Kenntlichmachen, Wörtlichnehmen, Zerlegen und Neukombinieren tritt ihre Kontingenz und Veränderbarkeit hervor. In den Gesten des Her-Zeigens bringt die Aufführung ihre Mittel im unmittelbaren Angehen zur Erscheinung, zeigt, mit Beuys zu sprechen, ihre »Wunde«: die profane Begrenztheit von Material und Zeit. Als weitläufiges Netz andrängender Bezüge weitet sich der affektive Raum, flutet die Anwesenden mit akustischen und visuellen Reizen und wölbt sich so gleichsam zu konvexer Form auf. Die Taktik des Überbordens führt Standards und Grenzen von Erfahrung in die Krise. Sie zielt, um de Certeaus Formulierung abzuwandeln, auf »unheimliche Vertrautheit«38.

F luchtbe wegungen Die Dynamik der Affekte manifestiert sich in Bruno Beltrãos Choreographie H2 in völlig anderer Weise.39 Die sechsteilige Performance beginnt mit dem rasanten, von flirrender Musik 40 unterlegten einminütigen Hip-Hop-Solo 41 dreier Tänzer simultan auf drei abwechselnd weiß ausgeleuchteten Teilquadraten der Bühne. Der Lichtkontrast lässt sie wie schwarze Silhouetten erscheinen. Die wirbelnde Szene wirkt wie eine hingeworfene Skizze traditioneller Hip-Hop-Straßendarbietungen, die Light-Cuts wie Schnitte in einem Kurzbericht über sie. Es folgen zwei stumme Soli, fünf und sieben Minuten lang, in denen einzelne »Moves« vorgeführt werden, erst spontan, dann extrem verlangsamt: entwaffnend harmlose, banale und groteske Stellungen. Auf eine Kussszene und ein 23-minütiges komplexes Arrangement verschiedener Kombinationen der insgesamt zwölf männlichen Tänzer – in dem das Licht mehrmals die Farbe wechselt, längere Zeit ein sirrender Ton mit einer Fahrradklingel ein Ganztonintervall bildet, Tänzer rückwärts laufen und es scheint, als würde die Choreographie stückweise rekonstruiert – folgt ein fulminantes 7-minütiges Finale, das alle zuvor gezeigten Moves und Stile wie unter einer Brennlinse verschmilzt. Die Tänzer kombinieren auf der nun einheitlich weiß ausgeleuchteten rechtecki38 | De Certeau schwebt die »unheimliche Vertrautheit mit der Stadt« vor, sobald die listigen Alltagspraktiken »der Disziplin entkommen, ohne jedoch ihren Einflussbereich zu verlassen« (1988, S. 187). 39 | H2 entstand 2005 und war u.a. in Holland, Deutschland, Brasilien, Belgien, Portugal, Spanien, Schottland, Südkorea sowie mehreren anderen asiatischen Ländern zu sehen. 40 | Flight of the Bumblebee (1992) von Yo-Yo Ma und Bob McFerrin. 41 | Traditionelle Bewegungssequenzen des Breaking, einer Variante des Hip Hop, auch footwork genannt.

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gen Tanzfläche paarweise, einzeln oder zu dritt in Straßenkleidung und Turnschuhen zu einem rasanten Funkrhythmus mit Bläsereinlagen und Gitarrenriffs HipHop-Moves, Streetdance und Modern-Dance mal mehr, mal weniger synchron und immer ohne Körperkontakt, wobei sie sich drehen oder hin und her laufen und wieder wie zufällig von der Bühne abtanzen, um anderen Platz zu machen, die scheinbar ebenso regellos auftreten:42 Mein erster Eindruck ist wie ein Schlag: das blendend weiße Licht auf die Bühnenfläche. Als Nächstes folgt Musik. Als Drittes treten dunkle Körper auf die weiße Fläche und bewegen sich hektisch. Als Viertes erinnere ich mich, dass das Geschehen auf der weißen Fläche einen »Sinn« ergab, wie wenn aus einer formlosen Wolke plötzlich eine Gestalt wird: Es hatte eine Bedeutung, die ich von irgendwoher kannte … Die Erinnerung bezeugt eine diskursive Sperrigkeit, eine Ästhetik des Flüchtigen. Wortlos ist Tanz ohnehin, doch Beltrãos Choreographie lässt sich auf keine repräsentierte Handlung eindampfen, die eine Referenz zu irgendeiner Wirklichkeit außer sich selbst erkennen ließe, auf welche die Bewegungen signifikativ bezogen wären und hinter der sie, einmal entschlüsselt, verschwänden. Sie werden vielmehr als solche ausgestellt. Ihre Flüchtigkeit entspricht der Guerillataktik blitzschnellen Zuschlagens und Wiederverschwindens. Die Plötzlichkeit des Lichts, das als punktförmiger Spot beginnt und die Dynamik und Semantik eines Suchscheinwerfers entfaltet, setzt sich in der rhythmisierenden Musik und den abrupten Tanzbewegungen fort. Es affiziert mich, bevor die »dunklen Körper« Bilder von Flucht und Verfolgung evozieren. Licht, Musik, Körper sind Kristallisationskeime subjektiver Vorstellungsbilder, die auf die affektive »Betroffenheit des Wahrnehmenden durch die Wahrnehmung«43 folgen. Im Mich-Angehen be-trifft mich die Szene: Die Choreographie scheint der Taktik eines Boxers zu folgen, der zuschlägt und sich gleich wieder zurückzieht, was eine pulsierende Phantasie in Gang setzt: Als nach einer Minute ein kurzes Gitarrenriff zu hören ist, entfährt einem Zuschauer ein kleiner Lustschrei. Die zufällig wirkenden Hip-Hop-Bewegungen rappender Großstadt-Jugendlicher, schnell, krude und knäuelig, scheinen trotz ihrer narrativen Leere etwas sagen zu wollen. Ein Sog entsteht, eine Neugier, die einen hineinzieht. Wie sich aus dem Inszenierungskontext erfahren lässt, nimmt die Choreographie H2 Bezug auf den ästhetischen Diskurs der Hiphopper, auf den Verrat, den man Beltrão vorgeworfen hat: Durch die Fusion der Stile habe er die reine Lehre des Hip Hop verlassen, »die Straße verraten«, sich dem als klassisch und etabliert abgelehnten Modern Dance an den Hals geworfen – und das ausgerechnet als Grupo de Rua de Niterói, die Straßengruppe aus dem Vorort von Rio de Janeiro, die auf diese Herkunft namentlich Wert legt.44

42 | Die Musik zu dieser Szene stammt von der französischen Combo CQMD (Ceux Qui Marchent Debout). 43 | Böhme, Gernot: Aisthetik. München 2001, S. 38 (Hervorhebung im Original). 44 | Diese Informationen habe ich von Bernardo Stumpf, der 2005 in H2 mitgetanzt hat.

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H2 antwortet mit einem unterkühlten Narrativ, das als scheinbare Konzession zuerst eine Synopsis der Hip-Hop-Norm vorstellt – dann aber mit der Vorführung isolierter, stummer Hip-Hop-Moves die Puristen provoziert und in eine finale Konklusion mündet, in der die Fusion dieser Moves mit dem »Fremden« triumphiert. Um jeden Zweifel auszuräumen, wird die kryptische Tanz-Botschaft genüsslich auf die weiße Rückwand umkodiert: Im ersten Teil der Aufführung erscheint die Projektion »HIP HOP LOVES THE BEAT OF THE MUSIC«, die in den folgenden Szenen von rechts her bis auf ihren Kern »HIP HOP« sukzessive gelöscht wird – um in der fulminanten Schlussszene provozierend mehrdeutig nur noch »HIP« übrig zu lassen. Als zuerst »THE MUSIC« verschwindet, tanzt ein Tänzer ein sehr musikalisches Solo ohne Musik: in der Hip-Hop-Tradition ein Skandal – ein Bruch der untrennbaren Einheit von Rhythmus, Sound und Raumbewegung. Bei »HIP HOP LOVES« stehen alle zwölf Tänzer in einer Reihe. Dann drehen sie sich paarweise zueinander und küssen sich eine Minute lang hingebungsvoll auf den Mund. Die konzessive Anfangsszene des traditionellen Hip Hop und die verliebte Kussszene zwischen zwölf vermeintlichen Machos bilden eine affektive Taktik, die »wachsam die Lücken nutzt«45, sprich: eine Gelegenheit, um die Norm des narzisstischen Vorzeigens verkrusteter Hip-Hop-Klischees zu sprengen, die in der Hip-Hop-Community genauso konserviert werden wie die Norm heterosexueller Männlichkeit. Die Choreographie lässt sich damit als ironische De- und Rekonstruktion ihrer selbst verstehen. Auch hier wird etwas gezeigt. Doch dem affektiven Raum korrespondiert ein anderer Gestus: Hier findet kein Zeigen des Zeigens statt, sondern nur ein Zeigen: eine buchstäbliche Auseinander-Setzung (mit) der Tradition, um den Befreiungsschlag gegen das Hip-Hop-Establishment am Ende mit einem hermetischen, integralen Finale abzuschließen.

S ubversion als kritische P r a xis Beltrãos und Kruses Taktiken verstoßen im körperlich-affektiven Angehen gegen jeweils geltende Normen: Die Aufführung Leonce und Lena ergreift im Überangebot an Hinweisen und assoziativen Textbezügen die Zuschauer, legt sich gleichsam über sie, indem sie ostentativ einen unentrinnbaren Frage-Response-Dialog anschiebt und dabei die Norm untergräbt, Theater als Apparat mit begrenztem persönlichen Risiko für eine vernünftig gesetzte Sinnvermittlung dienstbar zu machen. Stattdessen tritt sie dem Publikum nahe, nimmt es psychedelisch in Beschlag, verstört unter einem affektiven Netz von Assoziationen die Grenzziehungen der Vernunft. Beltrão dagegen hält mit Bezügen so sehr hinter dem Berg, dass der Eindruck einer Flucht entsteht: Sein affektiver Raum entfaltet sich als punktgenaue und radikale Kritik des Hip Hop am eigenen Selbstverständnis, als verdeckter, gezielter Gegenschlag gegen ein Dispositiv dieser einstigen Subkultur. In H2 erscheint das Kritische als autoreferenzieller Diskurs: Es steckt in der hybriden Choreographie und erklärt sich aus dem Gesamtrahmen der Auseinandersetzung. Als These einer Transgression, die eine analoge These auf gesellschaftlicher Ebene evoziert, ver45 | De Certeau, 1988, S. 187.

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mag dieses Projekt über seine unmittelbare Erscheinung hinaus als Kritik an puristischen oder protektionistischen Reglements zu wirken. In der Gegensätzlichkeit von überbordender, übersprudelnder Überschreitung und geschickter Zurückhaltung unterlaufen beide Taktiken das Dispositiv einer als vernünftig geltenden – d.h. institutionalisierten Zwecken dienenden – Ökonomie des Affektiven: Dieser Ökonomie zufolge hätte Leonce und Lena die Erwartung einer politisch korrekt und bildungsdienlich aktualisierten Aufführung von Büchners Text, Beltrãos Tanzstück dem Wunsch nach folkloristischer Bewahrung der Identität einer Hip-Hop-Gegenkultur zu genügen. Die affektiven Räume lassen sich als unterschiedlich verformt vorstellen: in Leonce und Lena als dichte, vieldimensionale Struktur, welche die Zuschauer*innen über zahllose kulturhistorische Verbindungsfäden vielfältig einbindet, sich ihnen also bildlich gesprochen als Ausbuchtung zeigt. Der affektive Raum in H2 scheint demgegenüber zur Bühne zurückgezogen, vom Licht ins Dunkel abgetaucht, in Zeit und Raum flüchtig.

S chlussgedanke Nun kann die Anfangsfrage beantwortet werden: Im Gestus des vorsichtig-zögernden Erspürens eines Machtanspruchs in Leonce und Lena bzw. der ironisch verschlüsselten Kritik am bestehenden Diskurs und dem Beharren auf einer künstlerischen Position in H2 entwerfen beide Aufführungen vermittels der Angriffs- und Fluchttaktiken ihrer affektiven Räume einen unmittelbar verstehbaren Sinn, der institutionalisierte Ansprüche in der Geste selbst aufgreift, listig unterläuft, kenntlich macht und so an der Sichtbarmachung der Akzeptabilitätsbedingungen des Systems arbeitet. Peter Bürger legt in seinem Essay »Denken als Geste. Michel Foucault, Philosoph« Foucaults legendäre Antrittsvorlesung von 1970 in diesem Sinn aus: Die Geste »zieht […] ihr Pathos aus der Verweigerung von Begründungsansprüchen. Daher rührt die Verschlossenheit der Geste, ihre Sprödigkeit gegenüber der Forderung nach Diskussion.«46 Zum Ort dieser Geste beugen wir uns neugierig hin, angezogen von der Stille und dem Ernst dieses Setzungsakts. So finden beide Aufführungen und das phänomenologische Anpirschen an sie ihre Rechtfertigung auch in der Frage, die Bürger Foucault in den Mund legt: »Lässt sich von dem, was die Vernunft ausgrenzt, reden, ohne es nochmals der Vernunft zu unterwerfen?«47

46 | Bürger, Peter: »Denken als Geste. Michel Foucault, Philosoph«, in: ders., Das Denken des Herrn. Frankfurt a.M. 1992, S. 110-132, hier: S. 127. 47 | Ebd.

Kritik im Schlaf? Schlafen als Kritik Annika Rink

»Schlafen ist auch eine Form von Kritik, vor allem im Theater.« Dies ist als Zitat von George Bernard Shaw überliefert, der mit seinen Dramen, die zugleich sozialkritisch und unterhaltend sein sollten, das Publikum im Theater körperlich und geistig wachhalten und im besten Falle wachrütteln wollte. Davon ausgehend, dass jeder1 dieses Phänomen kennt, ist Schlafen im Theater oftmals weniger ein Weg der Kritikäußerung, sondern vielmehr Zeichen individueller Erschöpfung – geschuldet der persönlichen Kondition, der Alltagsbelastung, den äußeren Bedingungen wie Ruhe, Wärme und Dunkelheit sowie der zumeist abendlichen Uhrzeit. Auch von den Sitznachbarn wird dieser Zustand seltener als aktive Form von Kritik denn als Zeichen passiver Ignoranz oder schlichtweg Müdigkeit verstanden. Als aktiv kann in diesem Zustand meist nur der Kampf gegen den Schlaf und das überhandnehmende Augenzufallen bezeichnet werden. Auch wenn George Bernard Shaw das Einschlafen in seinem Zitat überspitzt als Literatur- oder Theaterkritik im Hinblick auf aus seiner Sicht langweilige und dadurch Müdigkeit evozierende Dramentexte oder Inszenierungen bezieht, greift es folglich etwas zu kurz, jegliche Form des Schlafens im Theater explizit als kritische Praxis zu verstehen. Damit könnte der Aufsatz bereits an dieser Stelle zu Ende sein, gäbe es nicht eine Inszenierung, bei der sich dadurch, dass nicht nur das Publikum, sondern auch die Performer auf der Bühne schlafen, wesentliche Parameter verändern, so dass diese Fragestellung in neuem Licht betrachtet werden muss. Es handelt sich um Mount Olympus. To glorify the cult of tragedy (2015) des belgischen Künstlers Jan Fabre und seines Kollektivs Troubleyn. Bereits der Zusatz zum Titel verweist darauf, dass es sich bei Mount Olympus um a 24-hour performance handelt, wodurch bereits deutlich wird, dass der übliche Tag-Nacht-Rhythmus überschritten und damit explizit Zeit, implizit aber auch Schlaf ein Thema ist. Denn in Fabres Inszenierung, die sich auf inhaltlicher, formaler und ästhetischer Ebene mit den Dramen und Themen der klassischen griechischen Antike auseinandersetzt, gibt es keine Pausen, sondern es sind über die gesamte Dauer von 24 Stunden, wenngleich in wechselnden Konstellationen, Darsteller auf der Bühne präsent. Das im Verlauf dieser langen Zeitdauer zwingend notwendige Verlassen des Theaterraums 1 | Im Folgenden sind auch bei einer Verwendung des generischen Maskulinums sämtliche Geschlechtsidentitäten gleichberechtigt miteinbezogen.

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geschieht individuell und ist, trotz ansonsten stetiger Aufrechterhaltung der konventionellen Theatersituation mit Trennung von Bühne und abgedunkeltem Zuschauerraum, entgegen der üblichen Praxis per Ansage zu Beginn legitimiert. Die Zuschauer werden folglich immer wieder mit der Frage konfrontiert, was sie aktiv verpassen möchten, wobei die Beantwortung dieser Frage mit dem Fortschreiten der Performance und dem daraus resultierenden Schlafentzug immer weniger zu einer aktiv zu treffenden als passiv zu erduldenden werden kann. Eine mögliche Orientierungshilfe bei dieser Entscheidung bietet neben der parallel im normalen Tag-Nacht-Rhythmus weiterverlaufenden Alltagszeit, verbunden mit Öffnungszeiten, Fahrplänen etc., ein Ablaufplan, welcher per Aushang im Foyer allen zugänglich ist. Die sowohl inhaltlich als auch zeitlich sehr klar strukturierte Performance ist eingeteilt in vierzehn jeweils mit Zeitangaben zur Dauer versehene und noch weiter unterteilte Kapitel. Zusätzlich gibt es drei Sequenzen, die mit dem Titel Dream Time überschrieben sind und in unterschiedlicher Dauer von 35 Minuten bis zu eineinhalb Stunden nach ca. 7, 13 ½ und 18 Stunden Zäsuren im Ablauf bilden.2 Innerhalb dieser Sequenzen betten sich die Darsteller in weiße Schlafsäcke auf den Bühnenboden und verbleiben dort in liegender Ruheposition bis zum Beginn der nächsten Szene. Ob die Performer auf der Bühne tatsächlich schlafen oder schlafen spielen, sei zunächst dahingestellt, Tatsache ist, dass in dieser Zeit keine weitere Handlung im Sinne einer Aktion auf der Bühne stattfindet. Den Zuschauern bieten sich nun mehrere Möglichkeiten: Sie können, wie es im Theater üblich ist, weiterhin das Geschehen auf der Bühne betrachten und verfolgen. Sie können aber auch versuchen, die Zeit, in der offensichtlich keine Handlung auf der Bühne ›verpasst‹ wird, anderweitig zu gestalten oder zu ›nutzen‹. Denn man kann mit Hans-Thies Lehmann in der Weiterführung von Georges Batailles Verständnis von Kunst als unproduktiver Verausgabung sagen, dass »Kunst […] essentiell Zeitverschwendung [ist]«3, weshalb es von Grund auf dem Effizienzgedanken und einem ökonomischen Umgang mit der eigenen, knapp bemessenen Zeit widerspricht, 24 Stunden im Theater zu verbringen. Verstärkt wird dies aber in besonderem Maße, wenn die Zeit durch auf der Bühne schlafende Akteure gefüllt wird und sich dadurch auf den ersten Blick jeglicher (zeit-)ökonomischen und theatralen (Alltags-)Logik widersetzt. Eine naheliegende und vielfach praktizierte Variante ist daher der Versuch, im Zuschauerraum zu bleiben und ebenfalls zu schlafen. Da es sich in dem Fall weniger wie bei Shaw um ein Entziehen oder Verschließen vor der Bühnensituation, sondern quasi um einen mimetischen Nachvollzug handelt, ist auch dieser Vorgang vordergründig weniger als kritische Praxis von Seiten der Zuschauer zu betrachten, auch wenn in den Morgenstunden vereinzelt klingelnde Wecker im Zuschauerraum die Kollision mit und das Widersetzen gegenüber dem Alltag andeuten. Gleiches gilt für das Verlassen des Saales, um beispielsweise einen der im Foyer angebotenen oder selbstimprovisierten Schlafplätze aufzusuchen, sich im Rahmenprogramm zu vergnügen oder in Präferenz des eigenen Bettes den Veranstaltungsort ganz zu verlassen.

2 | Ablaufplan Mount Olympus (2015). https://www.berlinerfestspiele.de/media/2015/ foreign_affairs_8/download_25/fa15_ablauf_mount_olympus.pdf vom 31. Jan. 2017. 3 | Lehmann, Hans-Thies: »Exzess der Zeit« (2015). http://blog.berlinerfestspiele.de/ex​ zess-der-zeit/vom 10. Sept. 2017.

Kritik im Schlaf?

Aber inwiefern birgt diese Performance über die Eigenverantwortlichkeit der Zuschauerhandlungen hinaus ein spezifisch kritisches Potential, das, so meine These, letztlich in den Dream Times kulminiert? »Die Diktatur der Sonne hat schon längst keinen Einfluss mehr auf mich«4, ist bezeichnenderweise der Titel der ersten Dream Time und beschreibt in gewisser Hinsicht Ausgangspunkt und Ziel der gesamten Inszenierung, die sowohl im Produktions- als auch Rezeptionsprozess übliche (Theater-)Konventionen überschreitet. Fabre probte mit seinem Kollektiv, bestehend aus Autor und Dramaturg sowie 27 ausgewählten Performern, über einen Zeitraum von einem Jahr an fünf Tagen die Woche jeweils mehr als 12 Stunden pro Tag, was nicht nur eine außergewöhnlich lange Probenzeit ist und jenseits geregelter Theaterstrukturen liegt, sondern vor allem vollständige Konzentration auf das Projekt verlangt. Indirekt kann man darin eine Kritik am vielfach reglementierten Theaterbetrieb sehen, dessen Strukturen keinen Raum für solche unkonventionellen Projekte bieten. Denn hier werden in mehrfacher Hinsicht Grenzen überschritten: Sehr deutlich ist dies im Rahmen der Aufführung die Tag-Nacht-Grenze, von deren Beherrschung man sich im Titel dieser ersten Dream Time freispricht und wodurch man sowohl die Darsteller als auch die Zuschauer an ihre physischen und psychischen Grenzen heranführt. Entscheidendes Mittel ist hierfür der außerhalb der Dream Times entstehende Schlafentzug und damit einhergehend in diesen Sequenzen und darüber hinaus das Spiel mit dem Wachen und Schlafen im Zwischenraum von Traum und Wirklichkeit. Dabei kommt gerade dem Übergang vom wachen Zustand hin zum sogenannten »schlafenden Bewusstsein«, wie Edmund Husserl in seiner Phänomenologie der Zeitkonstitution den Traum bezeichnete,5 auf mehreren Ebenen eine entscheidende Rolle in der Inszenierung zu. Auf inhaltlicher Ebene findet fast durchgängig nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos, sondern auch mit den Phänomenen Nacht, Schlaf und Traum statt, wie im Ablaufplan anhand zahlreicher Kapitelüberschriften zu sehen ist, in denen diese Begrifflichkeiten auftauchen.6 Als Grundkonstante menschlichen Seins wird die Notwendigkeit des Schlafes und damit verbunden des Traumes bereits in den frühesten antiken Texten thematisiert, in denen sich besonders eine Nähe zum Göttlichen und zum Tod zeigt. Als ein Bruder des Schlafes und der Träume ist der Tod, welcher vor allem in der Tragödie allgegenwärtig ist, in der genealogischen Aufstellung von Hesiods Theogonie ebenfalls ein Kind der Nacht. Dazu kommt die soziologisch bedeutsame Komponente, nach welcher der Vorsokratiker Heraklit den Schlaf als ἴδιος κόσμος, also privaten Bereich, des Menschen bezeichnet.7 Im Gegensatz zum 4 | Ablaufplan Mount Olympus. 5 | Vgl. Husserl, Edmund: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Waldenfels. Frankfurt a.M. 1993, S. 124f.; und dazu Geier, Manfred: »Der Schlaf als Zeitbrücke. Zur Phänomenologie des schlafenden Bewusstseins«, in: Deutsches Hygiene-Museum Dresden (Hg.), Schlaf und Traum. Köln/Weimar 2007, S. 27-33. 6 | Vgl. Ablaufplan Mount Olympus. 7 | Vgl. dazu Heraklit, Fragment 89; Walde, Christine: »Explorationen: Schlaf, Traum, Traumdeutung und Gender in der griechisch-römischen Antike«, in: Christine Walde/Georg Wöhrle (Hg.), Gender Studies in den Altertumswissenschaften: Schlaf und Traum. Trier 2004, S. 1-42, hier: S. 29.

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tagsüber gemeinsam geteilten Lebensbereich bildet der Schlaf und damit verbunden der Traum einen eigenen, privaten und anderen unzugänglichen Kosmos, der paradoxerweise allen gemeinsam ist und gleichzeitig individuell erlebt und nicht geteilt werden kann. Dadurch, dass Fabre in seiner Performance ganz konkret dem Schlaf Raum gibt, potenziert er die konventionelle Theatersituation, für welche die gemeinsam geteilte und zugleich individuell durchaus unterschiedliche Erfahrung phänomenologisch konstitutiv ist. Folglich entsteht im gemeinschaftlich vollzogenen Schlafen auf und vor der Bühne ein extremes Spannungsverhältnis zwischen kollektiver Vergemeinschaftung einerseits und subjektiver Vereinzelung andererseits. Dazu kommt, dass das gemeinsam geteilte Erlebnis in den Momenten des Schlafes dem eigenen Blick und der Wahrnehmung entzogen ist. Aber auch im wachen Zustand ist dem Blick eine Grenze gesetzt, da die vermutlich gleich mehrfach stattfindende Traumhandlung dem Blick des Außenstehenden entzogen ist. Zugleich sind diese Momente im Übergang von Bewusstsein zu Kontrollverlust angesiedelt, denn »Traum und Schlaf bedeuten das Ende des Wachens, den Verlust des Bewusstseins, den Ausfall der Kontrolle, den Verzicht auf Verständlichkeit. Die Anwesenheit der Träume bestätigt die Abwesenheit der Vernunft.« 8 Was hier in den Blick gerät, ist also scheinbar das Ende der Darstellung, denn gesetzt den Fall, dass die Performer auf der Bühne tatsächlich schlafen, sind Körper und Geist ihrer Kontrolle entzogen, wodurch sie nicht mehr in der Lage sind, etwas anderes als sich selbst darzustellen. Durch die gerade die hypnagoge Phase des Einschlafens kennzeichnenden und daher mit großer Sicherheit anwesenden traumähnlichen Bilder endet die Darstellung jedoch nicht, sondern verlagert sich nach und nach in den Bereich des Imaginativen. Die ansonsten streng durchgetaktete und bis ins Detail geprobte Inszenierung lässt also durch die Möglichkeit des Traumes hier Raum für Imagination, sowohl für die Performer als auch für die Zuschauer. Der Dramaturg Jeroen Olyslaegers fasst dies folgendermaßen zusammen: »Es ist ein Experiment, das intellektuell nicht greifbar ist. Wir sind in einem Land, das noch niemand bisher gesehen hat. Wir kolonialisieren unsere eigene Imagination.«9 Dabei birgt diese Möglichkeit des konkreten Träumens auch utopisches Potential, was in der Eigenschaft des Traums begründet ist, der als das Gegenbild der Vernunft und der Ratio entzogene Sphäre gleichzeitig in enger Beziehung zur Wirklichkeit und zum vorher Gesehenen und Erlebten steht. Ralf Konersmann schreibt dazu: Der Traum opponiert dem Wirklichen und Wahren, aber er ist zugleich seine Verdopplung. Vor allem die Qualität des Mimetischen, die im Motiv der Verkehrung festgehalten ist, macht den Traum zur philosophischen Herausforderung – dies und das Moment der absoluten Hingabe. Der Schlaf suspendiert die Sorge des Irrtums, er kennt die Kritik nicht und ebensowenig ihre Derivate: die Urteilskraft, das Unterscheidungsvermögen, das Staunen. Als manifestes 8 | Konersmann, Ralf: »Traumwelten der Neuzeit. Philosophische Traumkritik und Hermeneutik des Verdachts«, in: Deutsches Hygiene-Museum Dresden (Hg.), Schlaf und Traum. Köln/Weimar 2007, S. 79-89, hier: S. 81. 9 | Zitiert in Behrendt, Barbara: »Against all odds. In einem alten Theater im Zentrum von Antwerpen probt Jan Fabre mit seiner Company für ›Mount Olympus‹ – seit Juni 2014, zwölf Stunden am Tag«, in: taz-Beilage der Berliner Festspiele zu Foreign Affairs, Berlin 2015, S. 20f., hier: S. 20.

Kritik im Schlaf?

Diesseits der Kritik erlaubt der Traum alles und lässt alles zu – auch und gerade das, was wir im Wachzustand als unzulässig vermeiden würden. […] Solange wir schlafen, können wir die Traumgebilde nicht kritisieren […].10

Was den Traum folglich auszeichnet, ist gerade der Verlust der Kritikfähigkeit. Hierbei ist es wichtig, sich hinsichtlich einer Definition von Kritik bzw. kritischer Praxis auf den ursprünglichen Wortsinn des altgriechischen κρίνειν rückzubeziehen, bei dem es zunächst wertfrei um das Trennen und erst weiterführend um das Unterscheiden oder Auswählen und in Verbindung mit einer Wertung um Formen des Beurteilens geht. In einer letztlich nicht klaren Trennung zwischen Schlaf und Bewusstsein vermag man im Zustand des Traumes also nicht zu unterscheiden und damit auch nicht zu beurteilen, was die Imagination theoretisch ins Unendliche erweitert und damit Raum für Utopien eröffnet. Fabre selbst sagt, indem er genau auf dieses Verhältnis zwischen Darstellung und Traum rekurriert: »Ich möchte eine traumähnliche Landschaft erschaffen, in der die abwechselnd wachenden und schlafenden Schauspieler ihre utopischen Sehnsüchte, Ängste und Visionen darstellen und träumen.«11 Dass diese Form der Imagination nicht nur selbstreflexiv sein und auf der Traumebene verbleiben soll, beschreibt der Titel der letzten Dream Time: »J’ai le sentiment que mon dernier rêve m’incitait à m’engager sur une nouvelle voie …«12 Dass einen der letzte Traum dazu angeregt habe, einen neuen Weg einzuschlagen, verweist somit auf die möglichen Konsequenzen und eröffnet einen potentiellen Raum für Veränderungen. Hier zeigt sich also die im weiterführenden Sinne kritische Dimension des Träumens, die auf der rein subjektiven Ebene verbleibt, durch die gemeinschaftliche Situation und die zuvor gesehenen Inhalte jedoch auch politische Qualitäten erhalten kann. Denn über eine durch den Auf bau der Performance gegebene strukturelle Politizität und durch die Inhalte der antiken griechischen Dramatik prinzipiell politische Thematik hinausgehend, kann man hier mit Erika Fischer-Lichte in besonderem Maße von einer ästhetischen Politizität sprechen, der ein kritisches Potential inhärent ist.13 Schließlich geht es hier auch um die für politische Ästhetiken konstitutive ›Freiheit‹, die mit »Überschreitung, vielleicht sogar Transzendierung jeglicher Ideologie«14 einhergeht, wobei entscheidend ist, dass nicht versucht wird, »eine solche Freiheit darzustellen, vielmehr sie für jeden Beteiligten, also auch und gerade für die Zuschauer, herzustellen«15. Diese Freiheit ist gerade durch die Möglichkeit des Schlafes sowohl für Darsteller als auch Zuschauer innerhalb der Performance in mehrfacher Hinsicht konkret vorhanden. Dass die dadurch gegebene Freiheit gleichzeitig mit einem impliziten Verlust der Entscheidungsfähigkeit und Urteilskraft einhergeht und explizit im Spannungs10 | Konersmann, 2007, S. 83. 11 | Zitiert in Behrendt, Barbara: »Meine gesamte Arbeit ist eine Vorbereitung auf den Tod. Jan Fabre über die Antike, moderne Hirnforschung und den Vorteil von Konflikten«, in: tazBeilage der Berliner Festspiele zu Foreign Affairs, Berlin 2015, S. 20f., hier: S. 21. 12 | Ablaufplan Mount Olympus. 13 | Fischer-Lichte, Erika: »Politisches Theater«, in: dies./Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar 2005, S. 242-245, hier: S. 242. 14 | Ebd. 15 | Ebd. (Hervorhebungen im Original).

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feld zwischen Subjekt und Gemeinschaft steht, kann als Paradox angesehen oder gerade im Gegensatz als Strategie der Potenzierung betrachtet werden: Denn durch das konkrete Ermöglichen von Träumen in den Dream Times potenziert Fabre letztlich auf mehreren Ebenen das im Theater stets angelegte imaginative und damit auch utopische und politische und somit letztlich kritische Potential. Haben wir es in den Dream Times demnach einerseits mit der Möglichkeit des Schlafes und des Traumes zu tun, wird einem andererseits außerhalb dieser Sequenzen in der Grundanlage der Inszenierung diese Möglichkeit durch stetige Aktion auf der Bühne verwehrt. Würde die Dauer von 24 Stunden bei einem gesunden Menschen im üblichen Tagesablauf eine größere Sequenz Schlaf von ca.  sieben bis acht Stunden beinhalten, verteilt die Performance die Schlafdauer auf drei Abschnitte und reduziert sie auf zusammengerechnet 2 ¾ Stunden, was Schlafentzug und daraus resultierend Veränderungen in der Wahrnehmung zur Folge hat. Durch diese klare Restriktion handelt es sich auf der einen Seite um ein Spiel mit Macht und die subjektive Entscheidung, wie man mit der fremdbestimmten Kontrolle über den eigenen Schlaf umgeht, indem man sich darauf einlässt oder sich widersetzt. Auf der anderen Seite erhält die Performance an diesem Punkt eine weitere Ebene und verschränkt sich mit der Biographie Fabres, der, selbst seit jungen Jahren unter Schlaflosigkeit leidend, angibt, pro Nacht nur zwei bis drei Stunden zu schlafen, und seit den 1970er Jahren die Auswirkungen, die dieser andauernde Schlafentzug auf seinen Körper und seine Psyche hat, in Tagebüchern festhält.16 Die Auseinandersetzung mit den Themen Schlaf und Schlaflosigkeit zieht sich daher stetig durch Fabres Werk. Als Sinnbild für Mount Olympus könnte man eine Skulptur von 2008 betrachten, die vorwiegend aus Glasaugen besteht, welche nach der Vorlage von Fotografien Fabres eigener Augen zu unterschiedlichen Uhr­zeiten und bei unterschiedlicher Dauer der Wachphase gefertigt und Teil einer Werkserie sind, die den Titel trägt: Offering to the God of Insomnia. In »Anbetung des Gottes der Schlaflosigkeit« zeigt sich in der andauernden Wachheit, hier symbolisiert durch die Präsenz des Blickes, bildlich die Forderung und Überforderung, die mit Mount Olympus einhergeht. Zudem wird auf das Streben der modernen Leistungsgesellschaft verwiesen, den Schlaf als ineffektiven Zustand auf ein Minimum zu reduzieren, was sich als Forderung bereits bei Platon findet, der in seinen Nomoi empfiehlt, die Zeit des Schlafens möglichst gering zu halten, um die Vernunft nicht zu gefährden.17 Denn wer schläft, entzieht sich nicht nur der Vernunft, sondern die Phasen des Schlafs stellen zudem Unterbrechungen im Ablauf des Lebens dar. »Je veux une vie sans interruptions«18, heißt daher auch ein Unterkapitel der Schluss-Sequenz von Mount Olympus und plädiert damit für eine immer gegenwärtige Präsenz, die nach Aleida Assmann »für den rauschhaften Zustand einer völligen Auslieferung an die Gegenwart [steht], der zugleich ein luzides Wachsein einschließt«19. Mount Olympus bewegt sich also genau im Spannungsfeld 16 | Vogel, Sabine B.: »Jan Fabre, Offering to the God of Insomnia« (2012). http://sabineb​ vogel.at/jan-fabre-offering-to-the-god-of-insomnia/vom 15. Feb. 2017. 17 | Vgl. Platon: Nomoi, bes. 807dff.; dazu Walde, 2014, S. 11f. 18 | Ablaufplan Mount Olympus. 19 | Assmann, Aleida: »Wie lange dauert die Gegenwart? Sieben Versuche, sich einem flüchtigen Phänomen zu nähern« (2015). http://blog.berlinerfestspiele.de/wie-lange-dau​ ert-die-gegenwart/vom 14. Feb. 2017.

Kritik im Schlaf?

zwischen den Extremen von gegenwärtiger und damit wacher Präsenz und der nur noch körperlichen Präsenz eines seiner Gegenwärtigkeit entzogenen Bewusstseins, das sich zugleich für Vergangenheit und Zukunft öffnet und als kritikfreier Raum Möglichkeit für Utopien bildet. Dazu kommt, dass bei fortschreitender Aufführungsdauer und damit steigendem Schlafmangel und sinkender Konzentration das Physische immer mehr in den Blick gerät und die Wahrnehmung wegführt vom interpretierenden, deutenden Verstehen hin zu einer rein sinnlichen, im ursprünglichen Wortsinne ästhetischen Erfahrung. Dieses teils erzwungene Zurücktreten hinter eine explizite Sinnsuche in der Spannung zwischen gegenwärtiger Präsenz und utopischem Potential zeigt sich auch in den letzten Worten der Inszenierung: »Breathe, just breathe and imagine something new.«20 Zwischen körperlich-sinnlicher Erfahrung, Kontrollgewinn und Machtverlust, Imagination und Utopie entfaltet die Performance folglich in mehrfacher Potenzierung der Theatersituation ein ganzes System an Möglichkeiten des Theaters und reizt diese in körperlicher und geistiger Hinsicht in Bezug auf Darsteller und Zuschauer aus. Eines dieser Extreme sind die geschilderten Dream Times. Wer nach Hause geht, um zu schlafen, ergibt sich damit entweder seiner Müdigkeit oder übt Kritik im Sinne des zu Beginn erwähnten Zitates George Bernard Shaws. Wer bleibt und gemeinsam mit dem Ensemble die Herausforderungen beim metaphorischen Erklimmen des Mount Olympus zwischen Schlaf, Traum und Wirklichkeit annimmt, stellt sich gerade durch den kurzzeitigen Verlust seiner Kritikfähigkeit dem Potential der kritischen Praxis des Theaters, das von der Antike bis in die Gegenwart die Grenzen des Bestehenden austestet und wenn möglich überschreitet – und das kann es sogar im Schlaf.

20 | Ablaufplan Mount Olympus.

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Nicht mehr – noch nicht Überlegungen zu einem Theater des Utopischen Philipp Schulte

Ein Europa, das Krisen und Konfliktherde in unmittelbarer Nachbarschaft und im Innern immer weniger ignorieren kann, der Aufstieg von Autokratien weltweit, eine Partei mit einer radikal rechten Agenda als drittstärkste Kraft im Deutschen Bundestag: Angesichts vieler gesellschaftlicher Entwicklungen nimmt es nicht wunder, wenn eine nachwachsende Generation von Künstlerinnen und Künstlern sich in ihrer Arbeit wieder verstärkt politischen Fragestellungen zuwendet. Wie wollen wir leben, wie wollen wir arbeiten, wie soll eine Gesellschaft aussehen, in der wir das tun? – All dies wird in unterschiedlichen Projekten immer wieder implizit oder explizit verhandelt. Mit diesem Bestreben gehen meines Erachtens verstärkt künstlerische Arbeiten einher, die einen Umgang mit Ideen des Utopischen zumindest nicht scheuen. Wenn man auch nicht so weit gehen muss, einen political turn in den performativen Künsten1 auszurufen, so finden sich doch immer häufiger Performances und Projekte, die ihr Publikum einbeziehen, um aktiv Modelle temporärer Gemeinschaftsbildung und damit verbundener Aushandlungsprozesse auszutesten.2 Die Kritik durch das Utopische, die utopische Kritik zeichnet sich dabei nicht allein durch ein Trennen, Unterscheiden und Validieren aus der Distanz aus. Sie beinhaltet, z.B. in der Form des Vorschlags, immer auch ein positives Moment des Ausprobierens von Gemeinschaftskonstellationen. Doch gerade dieses Streben nach dem Utopischen gilt es – wiederum kritisch – zu beäugen. Gerade marxistisch geprägte Denker zeichnen sich im 20. Jahrhundert durch eine nachhaltige Utopieskepsis aus. Als Gewährsmann kann unter anderen Friedrich Engels dienen, der in seinem Band Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft3 alles Utopische gerade dadurch abwertet, dass er 1 | Vgl. Malzacher, Florian (Hg.): Not just a mirror. Looking for the political theatre today. Berlin 2015. 2 | Einige Beispiele wären hierzu Arbeiten des Gießener Kollektivs Scripted Reality (z.B. DIY Fatzer – Unser Arm gegen uns!, Premiere im Ringlokschuppen Mülheim/Ruhr 2014), der niederländischen Performancekünstlerin Emke Idema (z.B. RULE TM , Frascati Theater Amsterdam 2014) oder die britische Gruppe Kaleider (z.B. The Money, Exeter Guildhall 2013). 3 | Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Berlin 2016.

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es als unrealisierbar, zu abstrakt, zu traumtänzerisch bezeichnet – im Gegensatz zu einer konkreten wissenschaftlichen Herangehensweise, die aufgrund des Erkennens von Strukturen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und auf der Basis eines klassenkämpferischen Willens auch zu konkreten Schritten, zu Fortschritt führen würde: Dieser werde »ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klassen abzuschaffen, sondern durch gewisse neue ökonomische Bedingungen«4. Das Projekt von Marx und Engels besteht in einer Kritik des Bestehenden nach wissenschaftlichen Maßgaben und daraus ableitbaren Rückschlüssen für eine weitere Entwicklung, nicht aber im konkret-normativen Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft. Doch auch beispielsweise bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Theodor Adorno finden sich unterschiedlich ausgeprägte utopieskeptische Tendenzen, jeweils in Auseinandersetzung mit dem Argument, dass eine in der Gegenwart aufgestellte Utopie durch deren Prägung durch die Gegenwart jene Zukunft, die sie erhofft, geradezu verhindert.5 4 | Ebd., S. 43. 5 | So setzt sich z.B. Adorno kritisch mit einer der wenigen tiefergehenden Verwendungen des Utopiebegriffs bei Walter Benjamin, der ihn sonst eher mit »eindeutig pejorative[m] Beiklang« (vgl. Osterkamp, Ernst: »Utopie und Prophetie. Überlegungen zu den späten Schriften Walter Benjamins«, in: Gert Ueding (Hg.), Literatur ist Utopie. Frankfurt a.M. 1978, S. 103-128, hier: S. 107) einsetzt, im Passagen-Exposé auseinander (welches sich mit Charles Fouriers Utopie einer harmonischen Lebens-, Wohn- und Arbeitsgemeinschaft auseinandersetzt und mit der damit zusammenhängenden Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft, welche aus Überresten von ›Elementen der Urgeschichte‹ hervorgegangen ist und unbewusst fortlebt): »Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen im Durchdringen mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen haben« (Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. V. Hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1980, S. 1239). Jenem entdialektisierten Bild einer archaischen, klassenlosen Gesellschaft aber vermag Adorno nichts Utopisches abzugewinnen. »Utopie«, so Adornos Haltung, »ist nicht zu konkretisieren; nicht einmal negativ« (Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970, S. 56). So halten Kunstwerke nach Adornos Ansicht allein durch ihr Beharren auf ihrer eigenen Undenkbarkeit, ihrer Unaussprechlichkeit an einer Utopie fest: »Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter den gegenwärtigen Antinomien ist, daß Kunst Utopie sein muß und will und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut; daß sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trost zu verraten, nicht Utopie sein darf« (ebd., S. 55). Auf diese Weise läge das Potential der Kunstwerke in einem Erscheinen »eines Nichtseienden, als ob es doch wäre. Sein Anspruch zu sein erlischt im ästhetischen Schein, was nicht ist, wird jedoch dadurch, daß es erscheint, versprochen. Die Konstellation von Seiendem und Nichtseiendem ist die utopische Figur von Kunst« (ebd., S. 347). Auch Brecht zeigt sich vorsichtig im Umgang mit dem Utopischen, das bei ihm am ehesten im Zusammenhang mit dem Begriff der ›Großen Ordnung‹ zu setzen ist (vgl. z.B. Brecht, Bertolt: Me-ti. Buch der Wendungen. Frankfurt a.M. 1984). Man könnte sagen, Brecht umspielt ab seiner Hinwendung zum Marxismus um 1926 immer wieder utopische Momente, die sich aber weniger durch das Potential einer zu verwirklichenden Konkretisierung auszeichnen, sondern vielmehr als klassenkämpferische Motivationen im Kampf um bessere Lebens-

Nicht mehr – noch nicht

Was also, so muss hier nachgefragt werden, kann eine erneute Zuwendung zu Fragen des Utopischen motivieren? Auf welche Weise lässt sich ein Begriff des Utopischen denken, der eben weder zu traumtänzerisch noch zu ideologisierendkonkret gerät? Was könnte es bedeuten, von einem Theater des Utopischen zu sprechen? Dazu fasse ich zunächst einige allgemeine Überlegungen zum Begriff der Utopie zusammen und stelle diesen dann eine aktuelle Theaterarbeit beiseite, der ich hier probeweise utopischen Charakter zusprechen möchte, aus zu erläuternden Gründen. Dabei handelt es sich um die Inszenierung Baling des malaysischen Regisseurs Mark Teh, die im Juni 2016 auf dem Festival Theaterformen in Braunschweig ihre Europapremiere erlebte.

Z ur U topie Als sichelmondförmige Insel, in ihrer Mitte 200 Meilen breit, etwa so groß wie England, aber viel geordneter, mit viel gleichmäßiger verteilten und gleich großen Städten und viel leichter zu verteidigen, als neuentdecktes Eiland irgendwo in der Neuen Welt, so beschrieb Thomas Morus in seinem 1516 erstmals erschienen Buch6 das ferne, schöne Land Utopia und erfand damit nicht nur den bis heute gebräuchlichen Terminus des Utopischen, sondern fundierte auch eine neue Äußerungsform von Gesellschaftskritik: Diagnostizierte Missstände einer konkreten, gegebenen sozialen Situation werden nicht direkt adressiert, sondern konterkariert durch die positive Schilderung einer fiktiven Alternative. Diese wird allerdings nicht eindeutig als Fiktion markiert, sondern als reale Option, die an einem anderen Ort statthat, behauptet: »Utopos ist der ›Kein-Ort‹, von dem aus der wirkliche Ort, die gegenwärtige Gesellschaft, kritisiert werden kann. Bereits die Beschreibung dieses und Arbeitsbedingungen betrachtet werden müssen. Jost Hermand fasst Brechts Haltung so zusammen: »Er sieht genau, wie nötig es ist, dem Volk einige utopische Bilder an die Hand zu geben, betont jedoch […], daß man diese nur so lange verwenden soll, wie sie praktikabel und nützlich sind. Die Vorstellung ›fertiger Bilder‹ lehnt er stets entschieden ab. Er nähert sich damit – wenn auch wohl unbewußt – in manchen Punkten recht auffällig den prozeßhaft-konkreten Utopievorstellungen von Ernst Bloch. Wie dieser wendet er sich gegen alle naiv ausgemalten Utopien und betont eher die utopische Intention, die dialektische Funktionalität, das Vorläufige solcher Konzepte« (Hermand, Jost: »Utopisches bei Brecht«, in: John Fuegi, Reinhold Grimm, Jost Hermand [Hg.], Brecht-Jahrbuch 1974, Frankfurt a.M. 1975, S. 9-33). Auch Klaus-Detlef Müller schreibt Brechts Werk eine derartige utopische Intention zu, das prinzipiell ohne die Ausformulierung konkreter Utopien auskommt: »Brechts literarische Intention richtete sich als Teil seines politischen Programms sehr wohl auf die Veränderung der bestehenden Verhältnisse und somit auf eine bessere Zukunft, aber er war dialektisch zu geschult, um aus dem historischen Prozeß einfach auszusteigen: nichts anderes könnte ja eine Realitätsgehalt beanspruchende inhaltlich konkrete Utopie hier bedeuten. Das impliziert freilich keinen generellen Verzicht auf Utopisches, nur ist es mehr im Methodischen zu suchen, erscheint es als Prinzip der literarischen Verfahrensweise, nicht als deren Gegenstand« (Müller, Klaus-Detlef: »Utopische Intention und Kritik der Utopien bei Brecht«, in: Gert Ueding [Hg.], Literatur ist Utopie. Frankfurt a.M. 1978, S. 335-366, bes. S. 335f.). 6 | Vgl. Morus, Thomas: Utopia. Hamburg 2011.

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›Kein-Orts‹ birgt schon eine Kritik in sich« 7, so beschreibt es der Philosoph Hakan Gürses. Besonderes Augenmerk legt er dabei allerdings auf ein gewisses »Nochnicht« des Utopischen, auf seine generelle Realisierbarkeit: Dieses Richtige ist an einem Ort zu konstruieren, der noch nicht verwirklicht worden ist. Seinen [sic!] Topos hat die utopische Kritik in einer höheren Form gesellschaftlicher Entwicklung. Ohne die Vorstellung von ihr würde Kritik entweder ihre Begründung auf moralische Normen verlegen müssen oder aber [in anarchistische Beliebigkeit] münden. 8

Besonders dieser Aspekt der Potentialität oder generellen Realisierbarkeit ist auch dem 2013 verstorbenen Performancetheoretiker José Esteban Muñoz z.B. in seinem 2009 erschienenen Buch Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity 9 sehr wichtig, ich zitiere: »We must strive, in the face of the here and now’s totalizing rendering of reality, to think and feel a then and there. […] Queerness is essentially about the rejection of a here and now and an insistence on potentiality of concrete possibility for another world.«10 Doch ist für Muñoz ein ›bloßes Kritisieren‹ von gegebenen Zuständen nicht ausreichend für eine utopische Setzung. Mit Rückbezug auf Ernst Blochs Ausführungen in seinem Opus magnum Das Prinzip Hoffnung 11 trifft er eine Unterscheidung zwischen abstrakten und konkreten Utopien, die sich vor allem in ihrem Verhältnis zur Geschichte unterscheiden: »[A]bstract utopias […] pose a critique function that fuels a critical and potentially transformative political imagination. Abstract utopias falter for Bloch because they are untethered from any historical consciousness. Concrete utopias are relational to historically situated struggles, a collectivity that is actualized or potential.«12 Muñoz entwirft mit Bloch das Konzept einer utopischen Zukünftigkeit, die sich prädestiniert in den Künsten ausdrücken lässt und die einer ›totalisierenden und naturalisierenden Idee der Gegenwart‹13 entgegenwirkt: »If art’s limit were beauty – according to Bloch – it is simply not enough. The utopian function is enacted by a certain surplus in the work that promises a futurity, something that is not quite here.«14 Dabei speist sich diese gemeinsame Vorstellung eines Not-quite-here eben aus einem historischen Bewusstsein, aus gemeinsam bewahrten und gemeinsam aufgerufenen Erinnerungen an die Vergangenheit, aus einem ›No-longer-conscious‹. Später wird Muñoz’ Unterscheidung noch etwas deutlicher, wenn er abstrakte Utopien als bloßen Optimismus abtut, während konkrete Utopien auf einer »educated hope«15 basieren, einer informierten Hoffnung. Der Unterschied liegt hier7 | Gürses, Hakan: »Zur Topographie der Kritik«. eipcp.net/transversal/0806/guerses/de, 06/2006 vom 1. Dez. 2016. 8 | Ebd. 9 | Muñoz, José Esteban: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity. Harrogate 2009. 10 | Ebd., S. 1. 11 | Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1985. 12 | Muñoz, 2009, S. 3. 13 | Vgl. ebd., S. 12. 14 | Ebd., S. 7. 15 | Ebd., S. 3.

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bei wieder in der Frage der hoffenden Gemeinschaft: »Concrete utopias can also be daydreamlike, but they are the hopes of a collective, an emergent group […].« 16 ›Bloße Kritik‹ ist das abstrakt-utopische Projekt von Einzelnen; konkret-utopische Formen nimmt eine kritische Haltung erst dann an, wenn sie geteilt wird, sich kollektivieren kann, Ausdruck einer Gruppe wird. In seinem 1907 erschienenen Text Die Revolution17 beschreibt Gustav Landauer Geschichte als einen Ablauf von Topien und Utopien, und beide gesellschaftlichen Zustände sind eng verbunden mit unterschiedlichen Formen von Gemeinschaft, dem »gesamten Mitleben der Menschen«18, wie er das umfassend nennt. Die Topie, nicht identisch aber doch sehr ähnlich mit den Funktionen und Effekten eines modernen Staatswesens, sichert ein allgemeines Gleichgewicht, sorgt für relativen Wohlstand, Essen und Wohnraum, sie »ordnet alle Angelegenheiten des Miteinanderlebens der Menschen«19 auf gesetzesbasierte Weise; sie hat klare Grenzen, treibt über sie hinweg Handel oder führt Kriege nach außen, bildet innerhalb dieser Grenzen aus, versucht alles zu regeln, selbst das Privatleben des Individuums. Ihr Gegenstück ist die – von Landauer gar nicht so weit weg verortete – Utopie: »Die relative Stabilität der Topie ändert sich graduell, bis der Punkt des labilen Gleichgewichts erreicht ist. Diese Änderungen in der Bestandsicherheit der Topie werden erzeugt durch die Utopie.«20 Die Utopie nun definiert Landauer als Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organisieren: zu der Tendenz nämlich, eine tadellos funktionierende Topie zu gestalten, die keinerlei Schädlichkeiten und Ungerechtigkeiten in sich schließt. 21

Dies zeigt auch schon: Utopien, in ihrer aktiven Form revolutionäre Akte, können niemals verwirklicht werden; sie münden stattdessen immer in (von ihnen intendierten oder gar nicht intendierten) Topien. Die Topie tritt ein »zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang«22 . So beschreibt Landauer Geschichte als ewige, rhythmische Abfolge von Zuständen relativer Stabilität und Zeiten des Chaos und des Aufruhrs, die wiederum in einer neuen Ordnung aufgehen, welche übrigens keineswegs immer als Fortschritt zu werten ist. Wie nun aber schaffen es jene utopischen Vorstellungen, jene ›individuellen Bestrebungen und Willenstendenzen‹, in Zeiten der Topie zu überleben? Landauer schreibt, dass jede Utopie aus zwei Elementen besteht: »aus der Reaktion gegen die Topie, aus der sie erwächst, und aus der Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien«23. Jede Utopie, so Landauer, hat insofern ein starkes, vielleicht unbewusstes Verhältnis zur Geschichte und Vergangenheit, als sie »sehr stark das 16 | Ebd. 17 | Vgl. Landauer, Gustav: Die Revolution. Münster 2003. 18 | Ebd., S. 12. 19 | Ebd. 20 | Ebd. 21 | Ebd., S. 13. 22 | Ebd., S. 16. 23 | Ebd., S. 15.

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Moment der begeisterten Erinnerung an sämtliche bekannte frühere Utopien in sich birgt«24. Man könnte sagen, sie überwintert: Auch »in der Zeit relativ stabiler Topien [lebt sie] unterirdisch weiter und geht dazu über, aus diesem Erinnerungs-, Wollens- und Gefühlskomplex eine Einheit zu machen, die sie geneigt ist, mit dem Namen: Die Revolution zu bezeichnen«25. Damit ist die Utopie ein »Prinzip, das über Zeiträume hinweg (die Topien) immer weiter schreitet«26. Wo genau die Utopie in Zeiten der Topie ›unterirdisch weiterlebt‹, führt Landauer nicht allzu konkret aus. Es ist allerdings nicht allzu gewagt, mit Bloch hier wieder den Rückgriff auf die Kunst und vielleicht ganz besonders auf die ausgesprochen gemeinschaftsorientierte und gemeinschaftsstiftende und -reflektierende Kunst des Theaters zu wagen. Als These formuliert: Bestimmte Formen des Theaters und der Performancekunst können labile Orte und vorübergehende Zeitspannen sein, an und zu denen dafür Sorge getragen wird, bestimmte utopische, vom gegebenen Zustand abweichende Erinnerungen, Intentionen und Gefühle aufzubewahren, ihnen beim Überwintern zu helfen. Kunst und Theater sind, wieder mit Bloch, zuvörderst dazu da, das Nicht-mehr-Bewusste sichtbar zu halten und daraus schöpfend dem Noch-nicht-Bewussten zu Sichtbarkeit zu verhelfen, und im Falle des Theaters immer im Angesicht einer temporären Gemeinschaft, die sowohl Zeuge als auch Teil dieser noch individuellen Äußerungen wird, ja mit der sich das so sichtbar gehaltene oder erlebbar gemachte Individuelle gemeinsam in einem begrenzten Zeit-Raum erproben lässt im Hinblick auf seine potentielle Kollektivierbarkeit.

D ie Ä usserungen des A usgeschlossenen : M ark Tehs B aling als ›the atr aler E rinnerungsr aum mal aysischer G eschichte (n)‹ Am 28. und 29. Dezember 1955 finden in einem Klassenzimmer in Baling im nördlichen Malaysia die sogenannten Baling-Gespräche statt, ein für den Staat historisch bedeutendes Ereignis: David Marshall und Tunku Abdul Rahman, Vertreter der britischen Kolonialregierung in Singapur und Malaya, treffen sich mit Chin Peng, Generalsekretär der oppositionellen Kommunistischen Partei Malayas. Ziel der Gespräche ist eine Art Friedensabkommen zwischen den beteiligten Parteien, Voraussetzung für eine Unabhängigkeit von Großbritannien. Sie gestalten sich als zähe, ja stockende Verhandlungen, die am Ende scheitern. Chin Peng wird den Forderungen seiner Verhandlungsgegner – Ausreise der kommunistischen Aktivisten oder Internierung, Übergabe aller Waffen sowie polizeiliche Ermittlungen gegen diejenigen, die im Lande bleiben wollen – nicht zustimmen. Der malaysische Regisseur Mark Teh beschäftigt sich in unterschiedlichen performativen Formaten bereits seit Jahren mit diesen Gesprächen, so auch in seinem Stück Baling. Es handelt sich dabei um eine Art diskursives Re-Enactment: Drei Performer und eine Performerin, in jeder Szene jeweils zu dritt, re-zitieren die drei historischen Akteure, teilweise aus dem Gedächtnis, meist abgelesen aus den ori24 | Ebd., S. 17. 25 | Ebd., S. 17f. 26 | Ebd., S. 18.

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ginalen Aufzeichnungen. Es handelt sich um ein nüchternes, eher emotionsloses Zitieren der Protokolle. Die Wände des Aufführungsraums, der von den auf den Boden sitzenden Zuschauer*innen eine stete Neupositionierung erfordert, ist gepflastert mit den Seiten des historischen Textes, zahlreiche Sachbücher zum Thema sind auf dem Boden drapiert. Ergänzt werden die drei ausgedehnten Szenen des Re-Enactments durch ausgewähltes filmisches Dokumentationsmaterial, eine Erörterung des Kontextes durch zwei der Performer, sowie drei Soli der beiden anderen Performer: einer Begrüßung durch den Autor und Oppositionspolitiker Fahmi Fadzil, der später von seinem Besuch bei Chin Pengs Totenwache in Bangkok im Jahr 2013 berichtet, und der letzten Szene, in der der Filmemacher Imri Nasution zwei Ausschnitte eines Interviews von ihm mit Chin Peng wenige Jahre vor seinem Tode präsentiert. Chin Peng, geboren als Ong Boon Hua, ist die Schlüsselfigur – der BalingGespräche 1955 sowie der Arbeit von Mark Teh. Geht es in den historischen Verhandlungen jedoch um Chin Peng als Repräsentant einer kommunistischen, als gewaltbereite Bedrohung für die nationalistischen Politiker und den Frieden im Land angesehenen Minderheit, gelingt es Teh, die Figur Chin Peng als Leerstelle und Projektionsfläche zu inszenieren. Er zeigt Chin Peng als dämonisierten Terroristen, als Staatsfeind Nr. 1, von dem es nur ein Foto gibt, welches aber das meistdistribuierte Bild Malaysias ist; er zeigt ihn als Hoffnungsträger, dessen Name und Konterfei im kulturellen Gedächtnis fortbestehen, in Straßennamen, auf Wandmalereien; er zeigt Filmaufnahmen des gealterten Chin Peng, eines seit Jahrzehnten und bis zu seinem Tode Exilierten ohne Gedächtnis, unmöglich in der Lage, den vielen ihm auferlegten Rollen zu entsprechen. Auf diese Weise findet eine Abstraktion statt: Baling von Mark Teh stellt die Frage vom Umgang mit andersdenkenden Minderheiten – wie kann zusammenleben, was grundsätzlich verschieden ist und denkt; wie kann integriert werden, was sich nicht hegemonialisieren lässt? Doch wo finden sich hier Momente einer ›überwinternden Utopie‹ im Landauer’schen Sinne, wie sehen die aus? Zuerst freilich fällt auf, dass die gesamte soziohistorische Grundsituation, die in Baling verhandelt wird, als optimales Beispiel für Landauers skizzierte Abfolge von topischen und utopischen Tendenzen dienen kann. Eine werdende Topie, ein aus britischer Kolonialherrschaft, aus blutigen Bürgerkriegen (die von den Briten aus Versicherungsgründen allerdings nur als ›Notstand‹ bezeichnet wurden) im Entstehen begriffener Staat, stülpt sich mühsam über eine Zeit von Unruhe und Chaos, von Revolution und Widerstand. Sie folgt nationalistischen Tendenzen und bemüht sich um Einigkeit und Frieden innerhalb festgelegter, im Falle des Halbinselstaats Malaysia noch nicht einmal allzu strittiger Grenzen. Sie bemüht sich halbherzig um utopische – in diesem Fall: kommunistisch geprägte – Tendenzen, die sie aber nur hegemonialisiert und somit: annihiliert in sich aufnehmen kann. Denn Kennzeichen des Utopischen ist seine sowohl räumliche wie auch zeitliche Grenzenlosigkeit. Der Kommunismus, den Chin Peng vertritt, sieht sich als globale Bewegung der Arbeiter über jede nationalstaatliche Grenze hinweg. Und auch zeitlich ist seine Revolution »in diesem Sinne nicht eine Zeitspanne oder Grenze«27: Sie »erklärt unsere Aufstellungen und Gesetze trotz ihrer strengen Gesetzlichkeit für falsch; denn sie sagt, sie sei ein

27 | Landauer, 2003, S. 18.

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Prinzip, das mit einigen Riesenschritten aus fernen Zeiträumen über die Jahrhunderte hinweg sehe – in die Zukunft hinein«28. Die Baling-Gespräche stagnieren, weil sie das Unmögliche erreichen wollen; das Utopische, das Ausgeschlossene lebt unweigerlich fort, im Exil, ja, aber auch in den Köpfen der Bewohner des Topischen. In gewissem Sinne kann die Topie diese revolutionären Kräfte freilich nutzbar machen, sich durch sie – ihre Dämonisierung – gar stabilisieren: 2014 beantragte die Polizei beim Parlament 115 Millionen US-Dollar für ihre 8000 Agenten, um ›das Land durch offene oder verdeckte Operationen vor der kommunistischen Bedrohung zu schützen‹, so informiert uns Fahmi Fadzil in Baling. Andererseits stellt das imaginäre Utopische weiterhin unentwegt die Frage nach der unwahrscheinlichen Möglichkeit seiner Re-Integration und befeuert die unzufriedenen Vertreter einer malaysischen Opposition: So berichtet Fadzil von seinem riskanten Besuch bei Chin Pengs Totenwache 2013 in Bangkok, mutmaßlich beäugt von den Spitzeln der Geheimpolizei.29 Dass Mark Teh die Form des Re-Enactments für sein Stück Baling wählt, passt genau in dieses Schema. Funktion des Theaters ist es hier weniger, sich eindeutig kritisch gegenüber einer gegebenen Situation zu positionieren, als – wie ein Gefäß, ein Medium – stetig die Erinnerung an in Vergessenheit geratende, ausgeschlossene Strömungen wachzuhalten, das nach Bloch Nicht-mehr-Bewusste sichtbar zu halten. Folgt man einem Imperativ der Effektivität, ergibt genau dies keinen Sinn: Das In-Vergessenheit-Geratende, Nicht-mehr-Bewusste kann nur deshalb in Vergessenheit geraten, weil es vordergründig nicht mehr effektiv ist, keinen Nutzen mehr hat, nicht mehr funktional ist. Doch Utopisches ist da, so Bloch weiter, wo sich Nonfunktionales und Funktionales mischen, und so attestiert er utopischer Kunst immer zugleich einen Aspekt des Potentiellen. Basierend auf den labilen Erinnerungen an Vergangenes kann Zukünftiges entstehen, das hoffnungsvoll verspricht, besser als das Gegenwärtige zu werden: ein Noch-nicht-hier! Am deutlichsten wird dieser Prozess, diese Mischung aus vergehendem und zukünftigem Imaginären als Widerstand gegen die Vereinnahmung durch ein als totalisierend begriffenes Gegenwärtiges, vielleicht in der Schlusssequenz von Baling, in den Interviewausschnitten, die der Dokumentarfilmer Imri Nasution präsentiert. Nicht mehr bewusst ist der Grund für den historischen Kampf der malaiischen Kommunisten, ihren Kampf gegen Besatzung und Hegemonie – nicht mal mehr ihrem jahrzehntelangen, sein Gedächtnis allmählich verlierenden Anführer Chin Peng; im gezeigten Filmausschnitt versucht der gealterte Chin Peng, sich zu erinnern, eine Antwort auf die Frage zu finden, was sein größtes Opfer im Kampf für Kommunismus gewesen sei: Interviewer: What has been the biggest sacrifice you’ve made for Malaya?/Ong Boon Hua: [lange Pause] The biggest? [lange Pause] If, the biggest … perhaps … [lange Pause, in der Imri Nasution seine Überraschung darüber erörtert, dass Ong Boon Hua so große Schwie28 | Ebd. 29 | Dieses Muster des ausgeschlossenen Eingeschlossenen stellt eine interessante Gegenfigur zum damaligen Bestreben der Nationalisten nach Internierung der kommunistischen Minderheit in Camps dar, zu Agambens Konzept des Lagers, des eingeschlossenen Ausgeschlossenen; vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002.

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rigkeiten hat, sich zu erinnern] For me, personally … I feel … my biggest sacrifice … [lange Pause] 30

Noch-nicht-hier: Das ist die ganz persönliche, im Theater kommunalisierte Sehnsucht des Individuums Chin Peng, oder Ong Boon Hua, nach Rückkehr in die Heimat, und sei sie nach seinem Tod; nach Re-Integration und Wiederaufnahme – nichts im gesamten Interview, so Nasution, sei auch nur annähernd so klar formuliert: Interviewer: You have said you still long for a return to Malaya. Why do you want to return to Malaysia?/Ong Boon Hua: It is where I was born. I was born there, and I was brought up there. Whatever it is, I am a Malayan. No one can deny this./Interviewer: How do you feel about the government not allowing you to return?/Ong Boon Hua: This is the government’s position. I think, sooner or later this restriction will … will … how to say … break./Interviewer: In an interview a few months ago, you said you would return to Malaya, even if after you died …/ Ong Boon Hua: Whether the government will allow it or not, I don’t know. I really have this desire. If there is a chance … even if I lose my life on the way …/Even if I had to walk all the way back, I would. But I will get stopped there, at the border./Interviewer: You’ve said you want to be buried in Malaya./Ong Boon Hua: Yes. This is my wish. But the government’s attitude … I don’t know. They don’t agree with me … Returning, or dying there. I think it doesn’t make sense. I was born there. I want to return. To die, to be buried there. Why not? Why don’t I have this right? It’s a very simple issue. 31

Das Nicht-mehr-Bewusste zeigt sich, wenn Pengs Erinnerung schwindet. Wer oder was Chin Peng war, was sein Kampf, ob gerecht oder nicht, gerät in Vergessenheit bzw. wird überlagert durch die Deutungen des Topischen. Das Noch-nicht-hier aber geht mit der Darstellung dieses Verschwindens einher und zeigt sich in der Hoffnung auf eine offene, diskussionsfreudige, das Ausgegrenzte aufnehmende – und zwar zu seinen Bedingungen bzw. auf der paradoxen Basis einer echten Einigung aufnehmende – Gesellschaft: eine utopische Gemeinschaft, wenn man so will, im Hier und Jetzt jeder Aufführung erprobt durch das anwesende Publikum. Baling ist theatraler Erinnerungsraum malaysischer Geschichte(n), wie das Stück im Rahmen des Festivals beschrieben wird; aber genau dadurch ist es auch mehr, mitnichten nur ein Museumsstück: Gerade da, wo die Erinnerung versagt, ist es der Gemeinschaftsraum Theater, in dem Utopien wachgehalten und ebenso subtil wie indirekt im Hinblick auf ihre Realisierbarkeit erprobt werden. Das Utopische im Hier und Jetzt des Theaters umkreist ein Nicht-hier und Nicht-jetzt im Theater; aber es ist noch nicht hier – noch nicht.

30 | Teh, Mark: Baling (2016), Mitschnitt der Aufführung am 12. Juni 2016 am Staatstheater Braunschweig, Timecode 1:50:47-1:53:30. Meine Ausführungen stützen sich auf diesen Mitschnitt sowie auf die aufgezeichnete Aufführung selbst, deren Zuschauer ich im Rahmen des Festivals Theaterformen 2016 war. 31 | Ebd., Timecode 1:55:20-1:59:25.

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Theater als kritische Praxis des Denkens und Agierens

Rechtskritik und Klage Szene der Entscheidung in Kafkas Heizer Juliane Prade-Weiss

Das Theater ist ein Medium der Rechtskritik. Denn das Theater hat es seit der attischen Tragödie mit der Klage zu tun, mit Klagen und Anklagen. Die älteste erhaltene Tragödie verlautet die Klage des persischen Hofs über die Niederlage bei Salamis, Sophokles’ Aias und Philoktetes verlautbaren Klagen über Scham beziehungsweise Schmerz, die thebanische Trilogie verlautbart Totenklagen (etwa Antigones um sich selbst), Euripides’ Troades Klagen um die gefallene Stadt. Eine Ambivalenz des Klagens zeigt sich in Aischylos’ Orestie, wo Totenklagen nicht nur nach den Verlorenen rufen, sondern zugleich auch nach Rache für den Schmerz und Verlust, nach einer Erwiderung des erfahrenen Schlages. Darin stehen Totenklagen Anklagen im juridischen Sinn nahe, denen es gleichfalls darum geht, eine Kränkung oder Verletzung mit den Mitteln von Anklage und Urteil zu erwidern. Es geht Klagen um die Möglichkeit der Antwort, des Austauschs, der Wechselseitigkeit – gerade dort, wo sie in Frage gestellt sind wie bei Toten, die nicht antworten können, oder physischem Schmerz, den keiner verantwortet. Auf der Basis dieser grundsätzlichen Verwandtschaft aber zieht die Orestie eine strikte Unterscheidung: Die Trilogie endet als Schauspiel der Substitution von Rache durch Recht, der Ersetzung der Erwiderungsmoral einer in Parteien gegliederten Sippengesellschaft durch öffentliche Einzelentscheide unbeteiligter Dritter im Namen aller, der πόλις. Das Spektakuläre der Orestie aber ist, dass eigentlich gar keine Entscheidung gefällt wird: Denn ob Orest zu Recht seine Mutter Klytaimnestra tötete, um zu rächen, dass sie den Tod ihrer Tochter Iphigenie durch Mord an deren und Orestes’ Vater Agamemnon gerächt hatte (und ob der Mord unter Blutsverwandten schwerer wiegt als der des Gatten), dies zu entscheiden kann keinem Sterblichen gelingen, sagt Athene. Und weiter: »Steht doch mir sogar/Gericht nicht zu, wo Mord aus Rachegroll geschah.« Statt »Rachegroll« lässt sich δίκη allerdings auch als »Recht« oder »Rechtsbrauch« übersetzen.1 Niemand kann einfach gegen ihn entscheiden, darum setzt Athene nicht einen Einzelnen, sondern ein Gremium von Bürgern zum Richter ein, die künftig im Sinn der πόλις entscheiden sollen, nicht im Sinn der Familienehre, die oft Fehden und Bürgerkriege mit sich bringt.2 Das Votum ist 1 | Aischylos: Die Eumeniden. Übers. v. Emil Staiger. Stuttgart 1987, V. 471f. 2 | Ebd., V. 681f. u. 864f.

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unentschieden, damit ist Orest freigesprochen,3 weil er nicht verurteilt ist. Mit dem Schachzug der Einführung eines Gremiums wird die Unentscheidbarkeit über die Angemessenheit der Rache zur Entscheidung, die das System der Erwiderung durch Rache aussetzt. Die Orestie stellt die Unentschiedenheit dar, indem sie die antiphonischen rituellen Totenklagen verlautet, von denen zugleich gesagt wird, dass sie der öffentlichen Ordnung schaden. Platon wird sich in den Nomoi auf letzteres Urteil beschränken und öffentliche Trauerklagen untersagen,4 und Plutarch wird von der sogenannten Grabluxusgesetzgebung berichten, die in Athen und anderen πολεῖς emotionale wie finanzielle Verausgabung verhindern sollte.5 Im Anschluss an Loraux gilt die Tragödie als »Einhegung« der öffentlichen Totenklage in einen politisch und poetisch regulierten Rahmen.6 Der Diskurs, den die Orestie darstellt, erscheint als eine von vielen sozio-politischen Modernisierungen, die mit dem Stillen ritueller Klagen einhergeht: Der Ausschluss ritueller Klagen aus der griechischen πόλις, aus christlichen Kirchen 7, dem modernen Islam8 sowie aus anderen Um-Ordnungen wie Kolonialisierung9 und Nationalismus10 versteht sich je als Maßnahme der Modernisierung gegen den archaischen Ruf zur Rache. Zuschreibung, Aussage 3 | Ebd., V. 752f. 4 | Platon: Nomoi. Werke in acht Bänden, Bd. 8/2. Hg. v. Gunter Eigler. Darmstadt 21990, 960a. 5 | Plutarch: Vitae Parallelae. Hg. v. Claas Lindskog/Konrad Ziegler. Bd. II. Leipzig 1957, Solon 21. 6 | Zur Tilgung der rituellen Totenklage (γόος, θρῆνος) aus dem öffentlichen Raum der griechischen πόλις zugunsten der Ersetzung der Klage durch das Andenken im ἐπιτάφιος λόγος und der Überführung des Ritus in die Tragödie (den κόμμος) vgl. Loraux, Nicole: L’invention d’Athènes. Histoire de l’oraison funèbre dans la »cité classique«. Paris 1981; dies.: La voix endeuillée. Paris 1999; Alexiou, Margaret: The Ritual Lament in Greek Tradition. 2nd ed. Oxford 2002, S. 4-23; Seaford, Richard: Reciprocity and Ritual. Homer and Tragedy in the Developing City-State. Oxford 1994, S. 74ff.; Holst-Warhaft, Gail: Dangerous Voices. Women’s Laments and Greek Literature. London 1992, S. 98-170. 7 | Vgl. Augustinus: Confessiones. Übers. v. Wilhelm Thimme. Düsseldorf/Zürich 2004, Buch IX, Kap. 12, Abschn. 29 & 31; Dassmann, Ernst: »Die Verstummte Klage bei den Kirchenvätern«, in: Klage. Jahrbuch für Biblische Theologie 16. Hg. v. Martin Ebner et al. Neukirchen-Vluyn 2001, S. 135-151; Alexiou, S. 24-35; Amelang, James S.: »Mourning Becomes Eclectic: Ritual Lament and the Problem of Continuity«, in: Present & Past 187 (2005), S. 3-31, bes. S. 21-27; Wilce, James M.: Crying Shame. Metaculture, Modernity, and the Exaggerated Death of Lament. Chichester 2009. 8 | Vgl. Wickett, Elizabeth: For the Living and the Dead. London/New York 2010, S. 240f.; Pinault, David: »Shia Lamentation Rituals and Reinterpretations of the Doctrine of Intercession: Two Cases from Modern India«, in: History of Religions 38, 3 (Feb. 1999), S. 285-305, bes. S. 299. 9 | Vgl. Mukta, Parita: »The Civilizing Mission: The Regulation and Control of Mourning in Colonial India«, in: Feminist Review 63 (1999), S. 25-47. 10 | Vgl. Kriza, Ildikó: »The Rural Form of the Death Dirges«, in: Jahrbuch Volksliedforschung 39 (1994), S. 110-116; Ninoshvili, Lauren: »›Wailing in the Cities‹: Media, Modernity, and the Metamorphosis of Georgian Women’s Expressive Labor«, in: Music and Politics 6 (2012), 2, S. 1-15.

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und Urteil erscheinen dabei als logisch-grammatische wie juridische Mittel gegen die Ambivalenz aller Rache, Entsprechung und Restitution zu beanspruchen, aber proliferierende Destruktion zu bewirken. Andererseits erscheint mit Blick auf die Struktur der Proliferation das Narrativ der Ablösung der Rache durch Recht nicht lediglich als Systemsprung, sondern zugleich seinerseits als Rache an der rituellen Klage als einer Beachtung reklamierenden Form der Rede, die symbolische Substitution zurückweist, um auf Unbeantwortbarkeit durch politische oder metaphysische Konzepte zu bestehen. – Nicht aus schierer Unversöhnlichkeit, sondern weil etwa die πόλις den Ruf zur Rache für jeden Tod aus keinem anderen Grund aus sich ausschließt, als um Bürger in den Krieg (und den Tod) zu senden. Indes ist durchaus nicht sicher, dass Totenklagen so mit Blutrache verbunden sind, wie es in der Orestie und anderen Quellen erscheint. Der Konnex mag ebenso eine destruktive Vorgeschichte sein, in deren Entgegensetzung die Ordnung der πόλις sich legitimiert. Mangels verlässlicher Primärquellen für die griechische Legislation gegen Klagen ist die Frage nach historisch-politischer Akkuratheit eine Sackgasse für die Lektüre von Klagen in Tragödien. Um ihrer ambivalenten Darstellung gerecht zu werden, ist der Begriff der Kritik unerlässlich. Kritik (von κρινεῖν: »unterscheiden«) erscheint mit der Orestie als Szenerie politischen Entscheidens zwischen verschiedenen Auffassungen von Recht und Gemeinschaft. Da die Entscheidung erst einer Auffassung Gültigkeit verschafft, ist sie selbst nicht gerecht oder legal, sondern kann politisch heißen, sofern sie der Organisation des Gemeinwesens gilt, sowie theatralisch, was die Mittel ihrer Organisation betrifft. Kafkas Prosatext Der Heizer von 191311 analysiert das Theater als Szenerie politischen Entscheidens und untersucht dabei einen Hauptgestus der Moderne: die Anklage von Missständen und die Einklage von Gerechtigkeit, die sich in nationalistischen, kapitalistischen, sozialistischen und anderen Kontexten juridischer, ritueller wie theatraler Mittel bedient. Klagen, das wird bei Kafka deutlich, widersetzen sich – gleichsam ›unkritisch‹ – der Reduktion zum Entscheidbaren. Schon im Hafen von New York angelegt, beschwert sich der Heizer eines Auswandererschiffs in seiner »klägliche[n] Kabine«12 bei dem jungen Passagier Karl Roßmann über den Mangel an nationaler Eintracht an Bord: »Sehen Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört der Hamburg-Amerika-Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff! Glauben Sie nicht« – ihm ging die Luft aus, er fackelte mit der Hand –, »daß ich klage, um zu klagen. Ich weiß, daß Sie keinen Einfluß haben und selbst ein armes Bürschchen sind. Aber es ist zu arg!«13

Der Heizer kann umso besser als Hetzer fungieren, als Karl jedes Verständnis von Fremde und Fremdsprache fehlt.14 Was aber der Heizer als Grund gegen den 11 | Kafka, Franz: Der Heizer, in: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler et al. Frankfurt a.M. 1994, S. 65-111. 12 | Ebd., S. 67. 13 | Ebd., S. 71. 14 | Ebd., S. 103: »Als letzte traten in der wieder entstandenen Ruhe die Hafenbeamten hinzu und sagten zwei englische Worte, was einen lächerlichen Eindruck machte.«

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Vorwurf anführt, dass er lediglich »klage, um zu klagen«, das eignet sich besser als Grund dafür: Karl vermag an der Befehlskette an Bord nichts zu ändern und verfügt über keine finanziellen Mittel, um irgend »Einfluß« geltend zu machen. Die Einklammerung der Klage, die einer Klage über ihre Wirkungslosigkeit gleichkommt, findet bei Karl jedoch eines: Gehör. National voreingenommen und nautisch unbewandert, begreift Karl Ursache und Hergang der Verwicklung nicht, die Schubal und dem Heizer Grund zur Klage über den jeweils anderen gibt. Anstelle eines Verständnisses der Standpunkte entwickelt er Mitgefühl, das ihn zur Abhilfe raten lässt: »Waren Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei ihm Ihr Recht gesucht?«15 Karl versteht die Klage als Aufruf zur Rechtswahrnehmung, und Grimms Deutschem Wörterbuch zufolge hat er damit recht: »Die klage ist eig. geschrei […,] es heiszt daher klage erheben, von der lauter werdenden, steigenden stimme […,] klage vor gericht, eig. auch hier geschrei, mit dem man seinen schädiger beschuldigt, dasz es möglichst alle hören, und die hilfe des richters anruft«16. Der Heizer jedoch sieht seine Klage im Hinweis auf das Recht missverstanden: »Ach gehen Sie, gehen Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hier haben. Sie hören nicht zu, was ich sage, und geben mir Ratschläge. Wie soll ich denn zum Kapitän gehen!«17 Die Interpunktion macht den letzten Satz zum Ausruf statt zu der Frage, als die er grammatisch erscheint. Dieses Detail unterstreicht, dass die Klage des Heizers anders als Fragen und Rechtsanliegen keine Propositionen und Urteile erheischt, sondern Gehör und Aufmerksamkeit. Die Klage soll nicht Vorlage einer accusatio sein, sondern eine complainte, das heißt eine Klage, der es um Gemeinschaft statt um Ent-Scheidung geht, und zwar nicht allein um nationale Gemeinschaft, sondern ebenso um eine andere Liebe zum Gleichen, um homoerotische Gemeinschaft.18 Die complainte ist eine alte Gattung der Liebesdichtung,19 und wie ein Tagelied der Minnelyrik, das die Trennung nach einer gemeinsamen Nacht beklagt, findet die Klage des Heizers und der Disput mit Karl Roßmann im 15 | Ebd., S. 72. 16 | Art. »Klage«, in: Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 11 [= Bd. V, Leipzig 1873]. Bearb. v. Rudolf Hildebrand. München 1984, Sp. 907 u. 910. Menke, Christoph: »Privatrecht, Klagerecht, Grundrecht«, in: Marten Breuer et al. (Hg.), Der Staat im Recht. Berlin 2013, S. 439-452; ebd., S. 444: »Ohne Klageerhebung gibt es ursprünglich überhaupt keine Rechtsprechung.« 17 | Kafka, 1994, S. 72. 18 | Zum Männerbund als Institutionalisierung von Homoerotik zur Artikulation des Nationalismus vgl. Mosse, George L.: Nationalism and Sexuality. Respectability and Abnormal Sexuality in Modern Europe. New York 1997; einen Forschungsüberblick über die Ambivalenz von Homophobie und Homoerotik sowie den Kurzschluss zwischen Homosexualität und Faschismus bietet zur Nieden, Susanne: »Aufstieg und Fall des virilen Männerhelden«, in: dies. (Hg.), Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945. Frankfurt a.M. 2005, S. 147-192. 19 | Vgl. Shakespeare, William: »A Lover’s Complaint«, in: Colin Burrow (Hg.), The Oxford Shakespeare: The Complete Sonnets and Poems. Oxford 2002, S. 695-717; zur Theatralität dieser juridisch wie religiös konnotierten Liebesklage Craik, Katharine A.: »Shakespeare’s A Lover’s Complaint and Early Modern Criminal Confession«, in: Shakespeare Quarterly 53, 4 (Herbst 2002), S. 437-459, bes. S. 443-445; zur Gattung Wodsak, Monika: Die Complainte. Zur Geschichte einer französischen Populärgattung. Heidelberg 1985.

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engen Bett der »klägliche[n] Kabine« statt. Eingangs der nationalistischen Klage äußert der Heizer den zweideutigen Satz: »Dann sind sie mein Mann.« (Das heißt: Wenn Sie mir zustimmen.) Die Zweideutigkeit ist dem Heizer eingeschrieben, sofern heizen die Nebenbedeutung von »liebkosen, streicheln, küssen«20 hat. Karl aber erfasst sie nicht. Er setzt die Konsultation der Schiffsleitung durch, wo der Heizer – ganz wie sein Ausruf es antizipiert – kein Gehör findet: »›Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer!‹/Der Heizer sah nach dieser Antwort zu Karl hinunter, als sei dieser sein Herz, dem er stumm seinen Jammer klage.«21 Darauf hin stürmt Karl in das Büro und transponiert die Liebesklage in den juridischen Diskurs: Es sei »dem Herrn Heizer ein Unrecht geschehen«, es sei »ein gewisser Schubal, der ihm aufsitzt«22 . Damit wird der mögliche sexuelle Hintergrund der Auseinandersetzung zwar ausgesprochen, aber um das womöglich entscheidende nicht gekürzt – wie auch Karl dem Heizer nicht körperlich »aufsitzt«, obgleich er sogar Roßmann heißt –, so dass der mögliche libidinöse Grund für die Klage untergeht. »[S]eine besonderen Beschwerden« werde der Heizer »selbst vorbringen«, kündigt Karl an. Er »hatte sich mit dieser Rede an alle Herren gewendet, weil ja tatsächlich auch alle zuhörten und es viel wahrscheinlicher schien, daß sich unter allen zusammen ein Gerechter vorfand, als daß dieser Gerechte gerade der Oberkassier sein sollte«23. Noch nicht angelandet und des Englischen nicht mächtig, scheint Karl doch, wie Kittler bemerkt, bereits den von Kontinentaleuropa grundsätzlich verschiedenen Regeln des nordamerikanischen, öffentlichen und mündlichen (statt, wie im Prozess zu lesen, schriftlichen und geheimen) Rechtsdiskurses zu folgen.24 Obgleich so intendiert und sprachlich so organisiert, gehört aber die Vorstellung vor dem Gremium aus Schiffsleitung und Hafenbeamten dramaturgisch nicht eindeutig dem juridischen Diskurs an, der die Rolle des Fürsprechs kennt. Karl hat weder an Bord noch an Land ein Amt, und ein Schiff der zivilen Seefahrt verfügt mit dem Kapitän zwar über ein exekutives, jedoch über kein judikatives Organ. Sieben (mehrheitlich uniformierte) Männer sind zu wenige (und zu wenig heterogen) für eine Grand Jury, jedoch genügend (und einheitlich genug) für einen tragischen Chor.25 Der Vortrag der »besonderen Beschwerden« erfüllt formelle Kriterien einer tragischen Vorstellung, die in der Klage ein wesentliches Konstituens hat,26 in der jedoch grundsätzlich jede Figur für sich selbst spricht, nicht 20 | Art. »heizen«, in: Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 10 [= Bd. V, Abt. II, Leipzig 1877]. Bearb. v. Mori[t]z Heyne. München 1984, Sp. 929. 21 | Kafka, 1994, S. 79. 22 | Ebd., S. 80. 23 | Ebd., S. 81. 24 | Kittler, Wolf: »Heimlichkeit und Schriftlichkeit: Das österreichische Strafprozessrecht in Franz Kafkas Roman Der Proceß«, in: The Germanic Review 78 (2003), 3, S. 194-222, hier: S. 196. 25 | Zaminer, Frieder: »Chor«, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. II, Sp. 1141-1144; ebd., Sp. 1142: »Die Anzahl der Choreuten schwankte (bevorzugt: 7, 9, 10, 12).« 26 | Vgl. Aristoteles, Poetik. Übers. von M. Fuhrmann. Stuttgart 1982, 1452b 24f. Aristoteles sagt zur Klage in der Tragödie das, was sich in einer Proposition festhalten lässt: »der κόμμος [ist] ein vom Chor und Solosänger gemeinsam gesungenes Klagelied [θρῆνος].«

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für andere.27 Relevant ist besonders ein Moment, das Tragödie und Totenklage verbindet: Im Ritus sind die Zuhörenden ebenso wichtig wie die Klagen. Seremetakis erläutert dies aus anthropologischer Sicht: »To hear« is to play an active role in the production of a juridical discourse. […] Through the hearing of the chorus, the discourse is disseminated to the rest of society. The absence of hearing is equivalent to the »silent« death. The »silent« death is also the social death of the mourner without witness. 28

Der stille Chor fungiert in der rituellen Totenklage als Zeuge von Klagen und Schmerzen; er ist essentiell, denn das Gehört-Werden markiert die Differenz zwischen Leben und Tod. Die Verlautbarung dessen jedoch, was der Heizer mit Karl im Bett zu verhandeln sucht: nämlich seiner »besonderen Beschwerden« damit, dass seine Klagen kein Gehör finden – zumindest nicht das richtige und nicht beim Richtigen –, diese Verlautbarung stellt keinen propositionalen Gehalt heraus, über den irgend zu urteilen wäre: Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts Eigentliches, und wenn auch der Kapitän noch immer vor sich hinsah, in den Augen die Entschlossenheit, den Heizer diesmal bis zu Ende anzuhören, so wurden doch die anderen Herren ungeduldig 29.

Worüber aber und warum in der Tragödie so regelmäßig geklagt wird, dass der Klagegesang ihr zentrales Formelement ist, klärt die Poetik nicht. 27 | Als eine weitere zentrale »Konfiguration« der Tragödie beschreibt Haß die »asymmetrisch[e] Beziehung« zwischen Chor und Protagonist: »Der Chor ist schon da.« Er geht den Protagonisten zeitlich voraus und kennt ihr Verhängnis, »bevor sie überhaupt auf dem Schauplatz ihrer Tragödie erscheinen. […] Etwas hat sich zusammengebraut, etwas ist schon in den Gang der Dinge eingebrochen.« Die Protagonisten erscheinen durch eine »Raumspende«, die »dem Protagonisten im griechischen Theater vom Chor eingeräumt« wird (Haß, Ulrike: »Die zwei Körper des Theaters. Protagonist und Chor«, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie. Zürich 2014, S. 139-159, hier: S. 142f.). In dieser Weise gewährt die Schiffsleitung Karl und dem Heizer eine »Raumspende«, lässt beide vorsprechen, derweil sie jedoch längst Bilanz gezogen hat: Karl sieht eine »offene, wenigstens auf den ersten Blick leere Kassa«; bleibt nur noch, »Protokoll« zu »diktier[en]« (Kafka, 1994, S. 78). Im Bureau ist der eintretende Karl bereits als Neffe des Senators identifiziert worden (vgl. ebd., S. 103), so dass es retrospektiv scheint, als seien die Beschwerden des Heizers hier nie am Platz gewesen. 28 | Seremetakis, C. Nadia: The Last Word. Women, Death, and Divination in Inner Mani. Chicago/London 1991, S. 104. So beklagt in der Orestie Elektra es als Schande Agamemnons, dass sein Tod und Begräbnis ἀνοίμωκτος blieben, das heißt ohne jemanden, der sich im Klageruf οἴμοι, »Weh mir«, betroffen zeigt (Aischylos, Choephoren, in: Orestie. Übers. v. Oskar Werner. München 1948, V. 433). Den unbeweinten (ἄκλαυτος) Tod schildern die Erinnyen als Strafe des Schlechten (Eumeniden, in: ebd., V. 565) und Antigone als ihr klägliches Los (Sophokles, Antigone. Übers. v. Norbert Zink. Stuttgart 1981, V. 548). 29 | Kafka, 1994, S. 83f.

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Es gibt keine causa Schubal.30 Das Gehör, das Karl dem Heizer beim Kapitän verschafft, bringt diesen zum Schweigen. Mit diesem Kollaps schwindet zwar die Figur des Heizers, doch der juridische Diskurs versiegt nicht. Der Rechtsdiskurs verschiebt sich auf Karl und überführt den bislang Attributlosen in die propositionale Ordnung, schreibt ihm Herkunft und Verwandtschaft zu: Es zeigt sich, dass einer der Zuhörer Karls Onkel und Senator ist.31 Der Umschlag, mit dem der Heizer an Gestalt verliert, Karl aber gewinnt, zeigt eine diabolische Wendigkeit der Figur des Anklägers: Die Offenbarung des Johannes nennt den dereinst Überwältigten nicht Satan, sondern »Ankläger unserer Brüder«, accusator, das ist κατήγωρ, »der sie verklagte Tag und Nacht vor unserem Gott«32 . Der Ankläger ist ein Verräter. Die Offenbarung interessiert nicht, ob seine Beschuldigungen Recht haben, sondern nimmt Anstoß daran, dass der Ankläger überhaupt spricht. Karl ist in dieser Weise diabolisch: Er tritt gegen dessen Willen als Ankläger für den Heizer auf, verrät dessen »besonder[e] Beschwerden« einer Öffentlichkeit, die sie nicht zu lindern vermag, und verrät schließlich den Heizer, indem er in die Rolle des Neffen wechselt, in der ihm nurmehr »die Figur des Heizers«33 erscheint – und indem Karl trotz der Wendung des Falls Schubal vom casus

30 | Vgl. ebd., S. 85: »alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung; aber was tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf dem Fenster konnte er längst mit seinen zitternden Händen nicht mehr halten; aus allen Himmelsrichtungen strömten ihm Klagen über Schubal zu, von denen seiner Meinung nach jede einzelne genügt hätte, diesen Schubal vollständig zu begraben, aber was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein trauriges Durcheinanderstrudeln aller insgesamt.« 31 | Sowohl die juridische wie die Liebesklage erheben sich dort, wo nicht nur Notwendigkeit ist, sondern Spielraum für eine solche Verschiebung und mithin zur Entscheidung. Am 28. Dez. 1908 schreibt Kafka an Elsa Taussig: »Sie müssen bedenken, daß das Notwendige immer, das Überflüssige meistens geschieht, das fast Notwendige wenigstens bei mir nur selten, wodurch es, allen Zusammenhanges beraubt, leicht kläglich will sagen unterhaltend werden kann« (Kafka, Franz: Briefe 1900-1912. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 1999, S. 93). Weitzman zeigt, wie Kafka den kantischen Begriff der Notwendigkeit destruiert, nicht zuletzt als Fachmann im Versicherungsgewerbe: »the business of risk assessment collapses Kantian ontology […]. Kafka’s professional duty – which in this sense is effectively a satanic one – is the almost unthinkable or (in the Kantian sense) undutiful duty of taking the laws of probability to task, to alter them or, in the case that they cannot be altered, to seek an often elusive source of accountability. […] The recognition of this position adds a further valence to Kafka’s designation of the ›almost necessary‹ as ›slightly lamentable (leicht kläglich)‹: it is, also, literally the space of the Klage, the legal or professional grievance – with which, it should be recalled, in Karl’s vain advocacy for the Stoker Der Verschollene effectively begins. The grievance – which, for Dr. Kafka, was more often than not a written document – also shapes the letter to Elsa Taussig, in the form of a parody of the genre of the lover’s plaint« (Weitzman, Erica: Irony’s Antics. Walser, Kafka, Roth, and the German Comic Tradition. Chicago 2015, S. 139). 32 | Offb 12, 10. Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem. Hg. v. Robert Weber et al. Stuttgart 1969, 3. Aufl. 1983; Septuaginta (LXX). Hg. v. Alfred Rahlfs. Stuttgart 1935, 7. Aufl. 1962. 33 | Kafka, 1994, S. 96.

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zum lapsus darauf beharrt, es gehe um »ein[e] Sache der Gerechtigkeit«34. Dabei sind nicht allein Begehren und Herkunft eben keine Sachen der Gerechtigkeit – nicht einmal der öffentliche Rechtsdiskurs ist es, sofern es darin zuerst darauf ankommt, sich Gehör zu verschaffen. So verschiebt sich der Rechtsdiskurs auf die Person, die ihn als Fürsprecher verlautbart, anstatt beim Heizer als dem darin bezeichneten Geschädigten zu bleiben. Ebenso wie die Liebesklage die Darstellung dessen, was und wer fehlt, nicht als Ersatz dafür akzeptiert und damit das Prinzip der symbolischen Substitution verwirft, dem sie als sprachliche Äußerung aufruht, so spricht Karl als Fürsprecher im juridischen Diskurs nicht nur selbst, sondern allein für sich selbst und leiht seine Stimme keinem anderen. Im Unterschied zum bloßen Selbst-Sprechen, das auch der Heizer vermag, erfordert Für-sich-selbst-Sprechen, wie es Karl unternimmt, indem er im Namen des Heizers vorspricht (oder vorzusprechen vorgibt), das Überspringen eben dieser Differenz zwischen tatsächlicher Position und Fiktion. Es erfordert ein Verständnis der Person als Vereinbarung der Bedürfnisse des Körpers und mit den Möglichkeiten sozialer Rollen, die nicht anders zu erreichen ist als durch Selbstbildung – oder Selbsteinbildung. Der namenlose Heizer aber unterrichtet Karl schon in der Kabine darüber, dass die Funktionsbezeichnung, mit der er sich ihm vorgestellt hat – »Ich bin doch Schiffsheizer« –, ihn nur noch in Katachrese benennt, denn: »Meine Stelle wird frei«35. Unter Deck scheint die Entlassung dem Heizer überhaupt erst die Freiheit zu geben, mit Karl im Bett zu liegen; an Deck aber ermöglicht das Freiwerden der Stelle es Karl, den Heizer beim Scheitern seines Anliegens immer weniger zu vertreten und immer mehr an seine Stelle als Protagonist zu treten. Mit der Unterminierung des Prinzips personaler Stellvertretung zeigt sich eine weitere diabolische Wendigkeit der Anklage: Sie richtet sich auf den Ankläger Karl selbst. Der neu gefundene Onkel erklärt, »sein Verschulden ist ein solches, daß sein einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält. […] Er wurde nämlich […] von einem Dienstmädchen, Johanna Brummer, einer etwa 35jährigen Person, verführt.«36 Diabolisch ist diese Anklage, weil sie sich verlautbart, obgleich sie ihre Gegenstandlosigkeit gleich miterklärt und zudem einräumt, das Wort »verführt« könne Karl zwar »kränken«, aber es sei »doch schwer, ein anderes, gleich passendes Wort zu finden«37, während sie zugleich keinen Zweifel daran lässt, dass das Wort mitnichten passt. Das »Verschulden« Karls illustriert, dass jede Anklage diabolisch ist, weil jeder verklagt werden kann: weil eine Anklage selbst dort, wo sie eine Entscheidung über Recht und Unrecht bewirken soll, stets Wichtiges 34 | Ebd. S. 104; vgl. S. 107: »›Du mußt dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben doch die Leute keine Ahnung von der Wahrheit. Du mußt mir versprechen, daß du mir folgen wirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit vielem Grund, werde dir gar nicht mehr helfen können.‹ Und nun weinte Karl, während er die Hand des Heizers küßte und nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen, wie einen Schatz, auf den man verzichten muß. – Da war aber auch schon der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichtesten Zwange, fort.« 35 | Ebd., S. 69f. 36 | Ebd., S. 96f. 37 | Ebd., S. 97.

Rechtskritik und Klage

fortlassen muss, um einen Fall darzustellen (wie Karl den Heizer selbst erinnert), somit immer falsch darstellt, folglich die bewirkte Entscheidung keine gerechte sein kann und die Anklage kaum zur Aufdeckung der Wahrheit taugt, sondern zur Unterwerfung unter einen Richtenden. Dieser Richter aber ist der Ankläger, dessen Darstellung einer causa bereits darüber befindet, ob und welches Vergehen vor Augen gestellt wird. Im Heizer erscheint das Prinzip personaler Repräsentation sowohl im juridischen Diskurs (Karls) als auch im politischen (des Senators) nicht als eines der Übernahme von Stimmen, die Klagen der Repräsentierten Gehör schenken, um sie im Sinn eines Gemeinwesens zu beantworten, sondern als Struktur der Hervorhebung, die in Überheblichkeit mündet und sich zur Aufgabe macht, Klagen zum Schweigen zu bringen. Die sogenannte propositionale Normalform der Rede – der Aussagesatz, der in Zuschreibungen Urteile formuliert – erscheint im Heizer als unvereinbar mit Beschwerden, die wie diejenigen des Heizers darüber Klage führen, dass sich das Miteinander mit Mitmenschen den (nationalen, libidinösen oder anderen) Zuordnungen nicht fügt, die Propositionen vornehmen. Die Klage über die Begrenztheit der Macht von Anklage und Urteil ist mit diesen Mitteln nicht zu verhandeln. Darum schwindet der Heizer, bis Karl am Ende des Textes bemerkt: »Es war wirklich, als gäbe es keinen Heizer mehr.«38 Die Untersuchung des politischen Gestus in Kaf kas Text ist theatralisch, sofern von Karl nicht weniger als vom Heizer gelten kann, dass er sich aufführt. Der unterschiedliche Erfolg ihrer Inszenierung ist unschwer auf ihre verschiedene Herkunft und Bildung zurückzuführen, doch den Text interessiert, worin diese sich zeigen. Die Differenz erscheint darin, dass Karl die Rolle des Fürsprechs und Anwalts für sich behaupten kann, indem er einen entsprechenden Gestus annimmt, ohne Rücksicht zu nehmen auf eine mögliche Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, während es dem Heizer in der Sache Schubal gerade um diese Differenz geht, so dass er sich nicht über sie hinwegsetzten kann. Der Heizer hat nicht die Mittel zu fingieren, er hat stattdessen »Beschwerden«39, weil die beanspruchte bessere Behandlung durch andere, das andere Gehör und die bessere Wechselseitigkeit sich – anders als eine Position – nicht durch den Klagenden allein vorführen lassen. Kann aber die öffentliche Einklage gelingen nur durch Fingieren der schon eingetretenen Besserung, des schon erreichten Status, dann kann die Einklage besseren Miteinanders und die politische Anklage von Ungerechtigkeiten gar nicht gelingen. Denn die Rolle des anderen, bei dem die Klage Gehör und Besserung sucht, ist nicht zu fingieren. Darum »hilft« die Klage dem Heizer nichts. Die öffentliche Anklage von Ungerechtigkeit, so scheint es im Heizer, spricht nicht für den, in dessen Namen sie vorgebracht wird, sondern für den, der bereits die Mittel hat, die Klage zur Beachtung zu bringen.40 Die szeni38 | Ebd., S. 110. 39 | Ebd., S. 81. 40 | Zur Analyse dieser Position vgl. Lyotard, Jean-François: Le différend. Paris 1983, S. 22f.: »Il est d’une victime de ne pas pouvoir prouver qu’elle a subi un tort. Un plaignant est quelqu’un qui a subi un dommage et qui dispose des moyens de le prouver. […] Celui qui dit qu’il y a quelque chose est le plaignant, il doit en apporter de démonstration, au moyen de phrases bien formées et de procédures d’établissement de l’existence de leur référent.«

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sche Vorstellung dieser Einsicht über Klagen im Heizer kann ihrerseits für eine Klage gehalten werden, die zugleich alle Gründe zum Verständnis bringt, sich zu versagen.

Opfer nicht allein von Verbrechen, sondern noch des sie sanktionierenden Systems wird, wer keinen Fall zu konstruieren vermag. Lyotard spricht vor allem davon, dass nicht allein in der Jurisdiktion die Beweislast für die ihnen angetanen Verbrechen den Opfern der Konzentrations- und Vernichtungslager zugeschlagen wird. Kafka spricht – vor der Shoa – davon, dass der Heizer nicht allein Opfer Karls und der kapitalistischen Ordnung wird, sondern auch des von ihm angeheizten Nationalismus, dem Unterscheidungen Belege genug sind.

Kritik und Klage Loraux, Scholem, Billinger & Schulz Jörn Etzold

The ater als K ritik ? Ist das Theater eine kritische Form? Hilft es bei der »Entunterwerfung«1 und bei der Entwicklung einer »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«2? Das sind weitreichende und schwerwiegende Fragen. Im Folgenden werde ich mich einen kleinen Schritt von ihnen entfernen – aber vielleicht gar nicht so weit, wie es zunächst scheint. Ich möchte auf eine andere Bedeutung des Wortes »Kritik« horchen, die eher im Alltag hörbar wird als in der Theoriesprache: dann zum Beispiel, wenn jemandem der Vorwurf gemacht wird, er habe ja ständig etwas zu kritisieren; oder wenn es heißt, dass die dauernde Kritik dann irgendwann doch lästig sei. Kritik wird in solchen Wendungen weniger als Durchdringung, als Umformulierung und – vielleicht auch – bewusste Besserung eines Gegenstandes verstanden; sie erscheint vielmehr als ein kaum abstellbares, unendliches Begleitgeräusch, das alles Tun ständig aushöhlt und entwertet, dabei aber vollkommen wirkungslos bleibt. Oder anders gesagt: Sie wird zur Klage. Ist es nicht seit langem ein Vorwurf gegen die etwas in die Jahre gekommene »kritische Intelligenz«, sie klage immer nur, tue aber nichts? Kennt man nicht den Klageton einer gewissen Art der moralischen – politischen oder künstlerischen – Kritik? Aus diesem Blickwinkel erscheint Klage als die kleine und hässliche Schwester der Kritik – mit ihr verwandt, aber doch deutlich weniger respektabel. Während eine wirkliche Kritik immer behaupten kann, »konstruktiv« zu sein, Strukturgesetze aufzuspüren und eine Besserung zu ermöglichen, kann die Klage nichts dergleichen für sich in Anspruch nehmen. Alles, was sie tun kann und immer wieder tut, ist eben – klagen. Über die Kritik – in diesem Fall ist die romantische Kunstkritik gemeint –  ließ sich sagen: »Kritik ist also, ganz im Gegenteil zur heutigen Auffassung ihres Wesens, in ihrer zentralen Absicht nicht Beurteilung, sondern einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werkes, andererseits seine Auflösung im Absoluten.«3 Von der Klage kann man das nur schwerlich 1 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 15. 2 | Ebd., S. 12. 3 | Benjamin, Walter: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I. Frankfurt a.M. 1991, S. 7-122, hier: S. 78.

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behaupten. Sie schafft keine Vollendung, sondern versucht eine solche immer wieder zu verhindern; und eine Auflösung im Absoluten kann sie auch nicht erreichen, weil sie selbst diese dann noch – von welchem Standpunkt auch immer – beklagen würde.

Tr agödie als K l age (L or aux) Wenn wir das »Theater als Kritik« denken, dann denken wir – wir, die Hesperischen, um es mit Hölderlin zu sagen – oft an die griechische Tragödie. So versteht Hellmut Flashar, ohne Zweifel ein ausgezeichneter Kenner der Materie, Dionysos, den Gott des Theaters, auch als »Gott der demokratischen Polis« 4, und Anton Bierl erklärt, die Tragödie sei bedeutsam für den Zusammenhalt der Polis, da sie »mythische Themen aufnimmt, in denen Problemsituationen, geistige Strömungen und Handlungskonstellationen theoretisch vor der versammelten Bürgerschaft durchgespielt und aufgearbeitet werden können«5. Man kann vielleicht übersetzen: Sie ist wichtig für die Polis, weil sie Kritik ermöglicht. Eine ganz andere Position hingegen nimmt die Altertumshistorikerin Nicole Loraux ein. Für sie ist das Theater kein Ort des Politischen und auch nicht seiner Kritik: Es ist ein Ort der Klage. »Das Dionysos-Theater findet nicht auf der Agora statt«6, insistiert sie in ihrem Buch La voix endeuillée – Die Stimme voll Trauer. Denn das Theater des Dionysos ist nicht die Volksversammlung, in der die Polis sich ihrer selbst und ihrer Einheit versichert: zunächst, weil Fremde es besuchen dürften und vielleicht sogar Frauen und Sklaven; und dann, weil die Polis als Ganze, wie Loraux mit einem Zitat von Pierre Vidal-Naquet sagt, »strukturell eine anti-tragische Maschine« 7 sei, die auf Selbstreproduktion angelegt ist. Auf dem Theater aber wird das hörbar, was diese Maschine nicht integrieren kann; hier können, so Loraux, Stimmen sich artikulieren, die auf der Agora verstummen müssen oder gar nicht gehört werden können, weil die Sprechenden keinen Zugang zu ihr haben. Und dies sind oft klagende Stimmen. Tatsächlich wird in den Tragödien viel geklagt. Zwar findet man auch Kritik, wenn zum Beispiel der Chor der Antigone Kreon recht deutlich sagt, dass sein Handeln nicht sehr weise gewesen sei: »O mir, wie mußtest du so spät erst seh’n das Rechte.« 8 Doch ist nicht abzustreiten, dass die Chöre der Tragödie nur sehr selten aus weisen und kritikfähigen Bürgern bestehen (und auch in diesem Fall kann man mit Hegel von einem »Chore des Alters« sprechen, dem »Kraftlosigkeit« zu bescheinigen ist, da er nur den »leeren Wunsch der Beruhigung und die schwa4 | Flashar, Hellmut: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen. München 2010, S. 21. 5 | Bierl, Anton: Dionysos und die griechische Tragödie. Tübingen 1991, S. 22. 6 | »Le théâtre de Dionysos n’est pas sur l’Agora« (Loraux, Nicole: La voix endeuillée. Essai sur la tragédie grecque. Paris 1999, S. 28-44). Es handelt sich um die Überschrift eines Kapitels. Übersetzung des leider nicht ins Deutsche übertragenen Buches hier und im Folgenden von mir. Es existiert eine englische Fassung unter dem Titel The Mourning Voice. An Essay on Greek Tragedy. Ithaca, NY/London 2002. 7 | »[D]ans sa structure même, une machine anti-tragique« (Vidal-Naquet, passim, zit. in: Loraux, 1999, S. 36). 8 | Hölderlin, Friedrich: »Antigonä«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 16: Sophokles. Basel u. Frankfurt a.M. 1988, S. 259-421, hier: S. 399.

Kritik und Klage

che Rede der Besänftigung«9 hervorbringe). Öfter stellen die Chöre, obwohl immer von Männern gesprochen, Mädchen, Frauen, sogar Sklavinnen dar, Figuren also, deren Kritik im Rahmen der Polis gar nicht gehört würde, also gar nicht als Kritik politischer Umstände gelten könnte. Bereits die erste erhaltene Tragödie, die Perser des Aischylos, besteht aus wenig mehr denn aus den Wehklagen des Chores der uralten, machtlosen Berater des bereits toten Königs Darios, seiner Witwe Atossa und schließlich des ruhmlos heimkehrenden, auf brausenden Xerxes, der die riesenhafte Armee, die in der Parodos noch besungen wurde, in den Untergang geführt hat. Auch die Mädchen in Sieben gegen Theben klagen; der Chor der schutzflehenden Hiketiden klagt, droht und fordert; Ödipus klagt bereits am Ende des Ödipus Tyrannos und mehr noch auf Kolonos. Das Extrem der Klage stellen jedoch wohl die Troerinnen des Euripides dar, die erstmals im Jahr 415 v. Chr. bei den Großen Dionysien aufgeführt wurden und deren Klagen über die Geschichte hinweg von Seneca, Gryphius und Werfel erneuert wurden. Hier klagt der Chor der gefangenen trojanischen Frauen über seinen eigenen unwiderruflich bevorstehenden Verfall, denn die Frauen werden am Ende auf die griechischen Männer aufgeteilt und auf verschiedene Schiffe verbracht, während ihre Stadt in Flammen aufgeht: Dieser Chor ist keine sich präsente oder auf Dauer angelegte politische Gemeinschaft, und er repräsentiert keineswegs die mündigen männlichen Bürger Athens. Natürlich können die Troerinnen auch als eine politische Kritik an der Besetzung der Insel Milos und der Ermordung ihrer Bürger durch die Athener im Jahr vor der Aufführung verstanden werden. Für Nicole Loraux aber sind sie, indem sie Stimmen hörbar machen, die in der Polis nicht zu vernehmen sind, mehr und anderes: Sie sind »antipolitisch« – also nicht a-politisch, dem Politischen irgendwie abhold, sondern explizit gegen die Politik, gegen die Polis gerichtet. Denn als »antipolitisch« versteht Loraux »alles Verhalten, welches, ob bewusst oder nicht, die konstitutiven Voraussetzungen und Verbote der Ideologie der Stadt, die die öffentliche Ideologie begründet und nährt, entwendet, verweigert oder gefährdet«. Und als diese »öffentliche Ideologie« sei »vor allem die Idee« zu verstehen, »dass der Stadtstaat mit sich im Frieden vereinigt sein soll – und somit per Definition auch ist«10. Die Tragödie stellt primär diese Einheit in Frage: Sie artikuliert jene Klagen, die in Athen selten zu hören sind. Denn seit den Gesetzen des Solon war, wie Loraux in einem früheren Buch betont11, die ostentative Totenklage der Frauen aus der Stadt verbannt. Die Auf bahrung oder prothesis durfte, so Johannes Engels in einer minutiösen Rekonstruktion dessen, was wohl die solonischen Begräbnis- und Grabluxusgesetze waren, nur mehr in den Privaträumen oder in Innenhöfen stattfinden; die Totenklage wurde während der Prothesis von dreien auf einen Tag beschränkt; beim Leichenzug 9 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1989, S. 535. 10 | »Pour aller droit à l’essentiel, je dirai qu’est antipolitique tout comportement qui détourne, refuse ou met en danger, consciemment ou non, les réquisits et les interdits constitutifs de l’idéologie de la cité, laquelle fonde et nourrit l’idéologie civique. Par ›idéologie de la cité‹, j’entends essentiellement l’idée que la cité doit être – et donc par définition est – une et en paix avec elle-même« (Loraux, 1999, S. 46). 11 | Vgl. Loraux, Nicole: Die Trauer der Mütter. Weibliche Leidenschaft und die Gesetze der Politik. Frankfurt a.M. 1992.

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mussten die Frauen hinter den Männern und somit auch ein Stück entfernt von der Bahre laufen; auch wurde der Kreis der zugelassenen Frauen reduziert. Zudem wurde der Vortrag der Threne, der Trauergesänge, in der Öffentlichkeit untersagt.12 Die Tragödien aber sind klagenreich, und jene Klagen bewegen sich oft an der Grenze zur artikulierten Sprache: Die Tragödien bestehen aus zahllosen Klagelauten, die auch wenig mit einer bewussten Selbstvergewisserung der Polis zu tun haben, sondern eher mit dem, was sich nicht mehr in Worte fassen lässt. Einer dieser Interjektionen gilt Loraux’ besondere Aufmerksamkeit: Es ist aiaî. Loraux zeigt, wie die griechischen Dichter immer wieder mit der klanglichen Nähe von aiaî und aié spielen. Aiaî ist einzig ein Schmerzensaufruf, aié aber ein artikuliertes Wort, es bedeutet »immer« (bei Loraux: »toujours«) und ist verwandt mit aión, dem Äon: Loraux bestimmt die Zeit des aión, Émile Benveniste folgend, als ständige Erneuerung der Lebenskraft. Das Wort bezeichnet also nicht die zeitlose Ewigkeit; Aristoteles verwendet wiederum aié, als er von der geregelten Wiederkehr der Generationen spricht, von der Stabilität der Reproduktion, aus der die Polis sich stets erneuert, um doch die gleiche bleiben zu können, so wie ein Fluss.13 Die tragischen Figuren aber – und unter ihnen vor allem die Figuren des Sophokles, Ajax (Ai-ax), Antigone und Elektra – wenden das aié um: Sie sind einem anderen »Immer« verpflichtet, dem »Immer« des Wahns und der Trauer. So fühlt sich Antigone jenen im Hades näher als den Lebenden – jenen also, die nach Hölderlins unschlagbarer Übersetzung »durchgängiger Weise sind,/Und die Gespräche halten miteinander, drunten«14. Das aié der Selbstreproduktion des Gemeinwesens über den Tod der Einzelnen hinaus schlägt in den Tragödien um in ein aié der Klage und der Todesverfallenheit; und ihm sind oft eben die Frauen verfallen, welche die Reproduktion der Generationen eigentlich garantieren sollen – oft klagen sie als Schwestern oder als Mütter. Als eines der vielen Beispiele, die Loraux bringt, mögen diese Verse aus Elektra gelten: Doch mir ist die Wehklagende nach meinem Sinne, Die um Itys immer, um Itys schluchzt [à Itun, aièn Itun olophúretai], Die Vogelfrau, die geängstete, Des Zeus Botin, die Schwalbe. — Ioh! all-leidende Niobe, Dich aber achte ich als Göttin, Die du in dem Grab von Stein Immer [aiaî] Tränen weinst!15

Es lässt sich wahrscheinlich über die Form der Tragödie sagen, dass sie die grundlegende Idee der berühmten Totenrede des Perikles angreift, die Thukydides überliefert hat: dass die Polis den Tod des Einzelnen rechtfertige und überdaure – als 12 | Engels, Johannes: Funerum sepulcrorumque magnificentia. Begräbnis- und Grabluxusgesetze in der griechisch-römischen Welt; mit einigen Ausblicken auf Einschränkungen des funeralen und sepulkralen Luxus im Mittelalter und in der Neuzeit. Stuttgart 1998. 13 | Vgl. Loraux, 1999, S. 48. 14 | Hölderlin, 1988, S. 319. 15 | Sophokles: »Elektra«, in: Tragödien. Üb. v. Wolfgang Schadewaldt. Düsseldorf u. Zürich 2002, S. 261-321, hier: S. 269 (V. 148-150). Vgl. Loraux, 1999, S. 59.

Kritik und Klage

demokratisches und einiges Gemeinwesen. Nicht umsonst hat Perikles am Ende seiner Rede nur wenige Worte für die klagenden Mütter und Ehefrauen übrig, denen er im Wesentlichen empfiehlt, nach Hause zu gehen und dort möglichst wenig Aufhebens zu machen.16 Die Tragödie aber zeigt, wie der Plan des Gemeinwesens, durch die Abfolge von Generationen zu überdauern, scheitert: Sie zeigt gestörte Genealogien und Familien, die sich selbst auslöschen. In ihr wendet sich das »Immer« der Erneuerung durch die Generationen um in ein »Immer« des Unglücks, des Todes –  und der Klage. Die Einheit der Polis –  von Hegel in seiner kanonischen Lektüre der Antigone beschrieben als Einheit aus Bürgerschaft und Familie17 – wird in ihrem Zerbrechen gezeigt. Tod, Verlust und Schmerz werden als ein Exzess artikuliert, den kein Gemeinwesen in sich aufnehmen, überdauern und aufheben kann:  immer und immer und immer wieder. Wenn dann jedoch Platon in der Politeia – die etwa am Ende der Hochzeit der Tragödie erscheint – eine durch und durch gerechte und einige Polis imaginiert, dann hat auch die Klage keinen Platz mehr. Es heißt kategorisch: »Aber Klagen und Jammer, sagten wir doch, brauchten wir in Reden gar nicht. – Freilich nicht.«18 Das ideale politische Gemeinwesen ist durch einen Bezug auf sich selbst konstituiert, einig und gesund.

K l age und K l agelied (S cholem) Die »antipolitische« Funktion der Tragödie liegt also nach Loraux darin, dass sie Klagen hörbar macht. Was aber sind Klagen, was sind ihre Struktur, ihr Gegenstand, ihre Sprecherinnen und Sprecher? »Kritik«, wir wissen es, kommt vom Trennen und Entscheiden. Woher aber kommt »Klage«? Loraux spricht von lamentation, expression du deuil oder pleinte. Und wenn diese nach Loraux oft in unartikulierten Schmerzenslauten ausgedrückt werden, so ist auch im Deutschen Klage zunächst ganz einfach: Geschrei. Im Grimm’schen Wörterbuch heißt es: »klagen verhält sich zu klang, klingen ganz wie sagen zu sang, singen. klingen galt nämlich auch für singen, klagen aber bedeutet nach allen spuren ursprünglich schreien«19. Wer im Wortsinne klagt, schreit vor Schmerz – wenngleich das Wort heute auch die leiseren Register des Nörgelns und des Quengelns abdeckt. Er schreit aber auch vor Gericht, damit der Richter auf ihn aufmerksam wird. Eben deswegen bezeichnet Klage im Deutschen neben der lamentatio auch das, was im römischen Recht actio heißt – also tätig werden, Klage einreichen, die Eröffnung eines Verfahrens beantragen. Wer vor Gericht klagt, erwartet freilich eine Antwort: das Urteil. Wer einen Toten beklagt, dem wird nicht geantwortet, zumindest nicht adäquat. Wahrscheinlich kann man die Klage im Theater zwischen diesen beiden Polen schwebend verorten.

16 | »Und nun, nachdem ihr des Klagens genug getan habt und jeder um seinen Verwandten getrauert hat, gehet heim« (Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Üb. v. August Horneffer, durchges. v. Gisela Strasburger. Wiesbaden 2010, S. 180 [2, 46]). 17 | Hegel, 1989, S. 329f. 18 | Platon: Sämtliche Werke. Bd. V: Politeia. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers. Frankfurt a.M./Leipzig 2006, S. 215 (398d). 19 | Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1, Sp. 915, www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=klagen vom 09. Okt. 2017.

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Die Klage nun ist Gegenstand einiger Versuche, Tagebucheinträge und Briefe, in denen die sehr jungen Freunde Gershom Scholem und Walter Benjamin gegen Ende des Ersten Weltkriegs aufeinander Bezug nehmen. Es ist ein schwieriges Unterfangen, das viel mehr Raum benötigte, die weit voneinander entfernten Diskurse von Loraux auf der einen und Scholem auf der anderen Seite zusammenzubringen – eine sehr genaue Quellenlektüre im Umfeld der École de Paris auf der einen Seite und auf der anderen das Bemühen, die hebräische Tradition in einem angespannten geschichtlichen und politischen Moment aufzugreifen. Denn der schon zu dieser Zeit für den Zionismus entflammte Scholem versucht, die Klage aus dem hebräischen Klagelied herzuleiten, von dem er Beispiele übersetzt, und er behauptet eine Beziehung der Sprache dieser Klage zu jener der Tragödie. Walter Benjamin hingegen ordnet – um es etwas vereinfachend zu sagen – das Problem der Klage in die geschichtsphilosophische Gegenüberstellung von Tragödie und Trauerspiel ein, und er kritisiert Scholem dafür, diese Unterscheidung nicht zu berücksichtigen.20 Für Benjamin ist die Tragödie – er denkt wohl an Aischylos – die Besinnung des »heidnischen Menschen, daß er besser ist als seine Götter«21; das Trauerspiel jedoch ist Klage, und zwar genauer ist es: »Prozeß der Kreatur […], deren Klage gegen den Tod – oder gegen wen sonst sie ergehen mag – am Ende des Trauerspiels halb nur bearbeitet zu den Akten gelegt wird.«22 Scholem macht einen solchen Unterschied nicht; er versteht auch die Tragödie als Klage, denn sie interessiert ihn vor allem durch ihre Ähnlichkeit zum Klagelied. Statt einer geschichtsphilosophischen Unterscheidung versucht er eine Bestimmung der gleichsam ungeschichtlichen Sprache der Klage. In seinem Aufsatz »Über Klage und Klagelied« spricht er von »den zwei angrenzenden Ländern des Offenbarten und des Verschwiegenen«; die Klage aber sei eine Sprache, die »durchweg auf der Grenze, genau auf der Grenze dieser beiden Reiche liegt. Sie offenbart nichts, denn das Wesen, das sich in ihr offenbart, hat keinen Gehalt (und darum zugleich kann man sagen, daß sie alles offenbart) und verschweigt nichts, denn ihr ganzes Dasein beruht auf einer Revolution des Schweigens.«23 Auf dieser Grenze befindet sich auch die »Sprache der Tragödie«: Sie sei, so Scholem in einer Klammer, »aufs engste mit der Klage verwandt«. Und er fügt hinzu: »Die Sprache in der Beschaffenheit der Klage vernichtet sich selbst, und die Sprache der Klage selbst ist darum die Sprache der Vernichtung.« Daher aber ist Klage auch immer dieselbe: »Es gibt keine Nuancen in der Klage, ebenso wie es keine Nuancen gibt in der Offenbarung. […] Die Klage aber, soweit sie Klage ist, bleibt immer dieselbe: Es 20 | »Im Gegensatz zu ihrem Ausgangspunkt [von den hebräischen Klageliedern] hat der meine [in »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«] nur den einen Vorteil gehabt, mich von vorneherein auf den fundamentalen Gegensatz von Trauer und Tragik hinzuweisen, den Sie nach Ihrer Arbeit zu schließen noch nicht erkannt haben« (Benjamin, Walter: Brief v. 30. März 1918 an Gershom Scholem, zit. in: Anmerkungen zu »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, in: Gesammelte Schriften. Bd. II. Frankfurt a.M. 1991, S. 929f.). 21 | Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I. Frankfurt a.M. 1997, S. 203-430, hier: S. 288. 22 | Ebd., S. 316. 23 | Scholem, Gershom: »Über Klage und Klagelied«, in: ders., Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 2. Halbbd. Frankfurt a.M. 2000, S. 128-133, hier: S. 128.

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gibt nur eine Grenze der sprachlichen Reiche von Reden und Schweigen.«24 Eben weil die Klage immer dieselbe ist, erklärt Scholem auch in einer Tagebuchnotiz: »Alle monotonen Dinge haben Beziehungen zur Klage und umgekehrt.«25 Für Scholem scheint – anders als für Benjamin – die Monotonie und Selbstidentität der Klage so groß zu sein, dass sie alle geschichtsphilosophischen Unterscheidungen nivelliert, und seien es die von griechischer und jüdischer Welt und von Tragödie und Trauerspiel. Wenn es nur eine Klage gibt, dann ist eine Geschichtsphilosophie der Klage eben unmöglich. Klage ist immer dort und immer dort dieselbe, wo die Grenze zwischen Offenbartem und Verschwiegenem artikuliert wird. In dieser Artikulation aber ruiniert die Klage stets und immer wieder aufs Neue ihren Gegenstand. »Der klagende Ausdruck«, so Scholem, »ist metaphysisch bestimmt durch Erlöschen der Identität des Gegenstandes. Alle Klage klagt darum, daß sich ihr Gegenstand verliert, daß er seine metaphysische Konstanz einbüßt und ausdruckslos wird, und eben die Gebärde dieses Vorganges ist der klagende Ausdruck. Auch im Heulen liegt ähnliches.« Unmittelbar darauf folgt im Tagebuch der Satz: »Ich werde einmal aus der zionistischen Organisation austreten müssen.«26 Klage verträgt sich schlecht mit institutioneller Politik. Eher auf Scholem als auf Benjamin scheint sich Werner Hamacher zu beziehen, wenn er in einem kurzen Text namens »Bemerkungen zur Klage« erklärt, die Klage gehe »einer Unendlichkeit von Verlusten und Abwesenheiten nach«27, so dass jede Klage nur mit einer weiteren Klage beantwortet werden könne. Ähnlich wie Scholem spricht auch Hamacher von einer »Un-Zeit« der Klage, »die weder gegenwärtig noch zu erwarten, weder leer noch erfüllt, weder vergangen noch ewig«28 sei. In ihrem Extrem aber sei Klage »[a]usdruckslos, unartikuliert und stumm«29. Das heißt auch, dass Hamacher die Klage in den Kreis jenes nicht-prädikativen Sprechens stellt, das er an anderer Stelle mit dem von Aristoteles in der Hermeneutik verwendeten Begriff der euché bezeichnet.30 Darunter fasst er die Sprachformen der Forderung, des An-Spruchs, der Bitte, des Gebets, wohl auch, obwohl Hamacher das an dieser Stelle nicht sagt, der Drohung und des Zorns. Die Klage ist nicht bereits im Feld der institutionalisierten Politik, der Repräsentation und der Aushandlung angesiedelt; sie beklagt, unterwandert und verschiebt dieses Feld.31 Klage ist das, was eine Gemeinschaft und ihre Sprache immer schon unterläuft:

24 | Ebd., S. 129. 25 | Ders.: »[Tagebuch vom 22. Februar 1918-18. April 1918]«, in: ebd., S. 135-182, hier: S. 144. 26 | Ebd., S. 148. 27 | Hamacher, Werner: »Bemerkungen zur Klage«, in: Ilit Ferbert/Paula Schwebel (Hg.), Lament in Jewish Thought. Philosophical, Theological, and Literary Perspectives. Berlin/ Boston, MA 2014, S. 89-110 (= Hamacher 2014a), hier: S. 91. 28 | Ebd., S. 99. 29 | Ebd., S. 97. 30 | Vgl. ders.: »On the Right to Have Rights. Human Rights; Marx and Arendt«, in: The New Centennial Review 14, 2 (Herbst 2014), S. 169-214 (= Hamacher 2014b), hier: S. 200. 31 | In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen Hinweis auf Etzold, Jörn: Flucht. Stimmungsatlas in Einzelbänden. Hamburg 2017.

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Daß sie in Gesprächen und immer wieder auch in Chören verlautet, mag darauf hindeuten, daß Gemeinschaften zunächst und vor allem über ihren eigenen Zerfall klagen und sich in dieser Klage restituieren; es mag aber auch darauf deuten, daß in ihren Klagen – wie denen der Gespräche des Hiob und der Chöre der Tragödie – eine Sprache noch vor jeder Gemeinschaft, vor jedem gesellschaftlichen oder gar politischen Idiom und vor jeder begrifflichen Allgemeinheit sich anbahnt und als Anbahnung einer anderen Sprache jeder bekannten entgegentritt.« 32

D ie G egenwart der K l age Diese Beobachtungen zur anderen, der Gemeinschaft vorgängigen Sprache der Klage sollen nun im letzten Abschnitt einen Blick auf die Gegenwart eröffnen. Ist die Artikulation einer »antipolitischen« Klage immer noch nötig, so wie sie es nach Loraux der »antitragischen Maschine« der Polis gegenüber war? Und ist dies eine Aufgabe des Theaters? Braucht auch unsere Gegenwart Bühnen der Klage, abseits der »Agora«, also abseits der bewussten Verhandlung und der Repräsentation? Braucht sie andere Bühnen, auf denen jene Lamentationen hörbar werden können, welche die Politik zu umgehen versucht? Fast kann man den Eindruck bekommen, als seien heute eher das Politische und die mit ihm verbundene Vorstellung einer fundierten und sachlichen Kritik des Schutzes bedürftig –  gegen ein Übermaß (und Klage gibt es immer nur im Übermaß) an Beschwerden, Nörgeleien, Wutausbrüchen und –  vielleicht nicht mit der Klage identischen, aber doch mit ihr verwandten – Affekten des Bevormundet- und Übergangen-Werdens, des passivaggressiven Minderwertigkeitsgefühls. Vielleicht aber ist die Frage auch eine andere. Vielleicht gibt es in unserer Gegenwart noch viel weniger als in Athen einen Ort und eine Form der Klage. Die Frage wäre vielleicht: Wie kann das Antipolitische sich artikulieren, aber in einer Form, einer – um mit Scholem zu reden – »Gestalt«? Denn, so Scholem in einer scharfen Kritik an Rilkes »Klage um Jonathan«, bei der es sich genau umgekehrt verhalte: »die Klage hat Gestalt, aber sie hat keinen Gehalt.«33 Wie aber lässt sich im gegenwärtigen Theater eine Gestalt der Klage finden? Die Klage ist nicht repräsentativ und nicht repräsentierbar; aber sie kann vielleicht in eine Form gebracht, artikuliert werden, so dass ihr Affekt vor dem Sturz ins Verstummen, ins Schweigen, ins Nichts bewahrt wird. Ich möchte unter diesen Vorzeichen sehr knapp eine zeitgenössische szenische Arbeit beschreiben. Das Choreographie- und Performance-Duo Billinger & Schulz (Verena Billinger und Sebastian Schulz), Absolventen des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, stellte Ende 2013 an verschiedenen Plätzen in Frankfurt a.M. und Düsseldorf eine sogenannte »Meckerbox« auf. Sie baten Passanten, in ihr Platz zu nehmen und sich auszusprechen. Die so aufgenommenen Stunden an Material gingen dann ein in die knapp dreistündige Performance Kummerkasten Menschenstadt, die im Februar 2014 im Forum Freies Theater in Düsseldorf und am Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt aufgeführt wurde. Das Textmaterial war ein vielstimmiger, unendlicher und unstillbarer Strom des 32 | Hamacher, 2014a, S. 99. 33 | Scholem, 2000, S. 146.

Kritik und Klage

Meckerns und des Jammers, des Nörgelns, der Beschwerde und der Klage. Gesprochen wurden die Texte von drei Darstellerinnen und drei Darstellern, die sich zugleich einer sehr reduzierten, leichten Choreographie folgend über die Bühne bewegten, wobei sie die originale »Meckerbox« und das Ensemble aus einem Tisch und zwei Bänken, das auch im öffentlichen Raum vor jener stand, auseinanderbauten. Doch durch einen einfachen technischen Trick wurde die Identifikation der Zuschauerinnen und Zuschauer mit den Sprechenden durchbrochen: Wie zunächst in brasilianischen Telenovelas und im Theater wohl zuerst in Stücken des Nature Theater of Oklahoma (vor allem bei ihrem Durchbruch, dem vierstündigen No Dice von 2007) wird den Darstellerinnen und Darstellern der Text durch Headsets eingespielt, und sie sprechen ihn in dem Moment, in dem sie ihn auch hören. Der Tonfall, den diese Technik hervorbringt, ist eigenartig: hochkonzentriert, aber vollkommen frei von jeder Identifikation mit dem Gesprochenen. Die Sprecher werden gleichsam zu vollkommen durchlässigen Medien für einen anonymen und überpersönlichen Strom der Klage, der niemals –  auch nach drei Stunden nicht – enden wird. Dabei fällt auf, dass im Verlauf des langen Abends immer stärker von der Position der Ausgeschlossenen und Marginalisierten aus gesprochen wird; dass aber manchmal auch ein kleines Glück wahrgenommen werden kann, in kleinen oder größeren Fluchten, Momenten der Behauptung oder auch der Kapitulation. In Kummerkasten Menschenstadt wird eben hörbar, was der Titel ankündigt: das Leben und der Kummer in den großen Städten, vielgestaltig und mannigfaltig – in einem vielarmigen, großen Strom der Sprache, der dennoch immer wieder zu versickern droht. All jene Affekte, Ressentiments, Ärgernisse, die kleinen Betrügereien und Tricksereien gehen nicht in der bewussten Selbstrepräsentation einer Stadt auf (wie sie auf weniger überzeugende Weise Rimini Protokoll in der 100 %-Reihe versuchen); sie formulieren aber auch keine rationale Kritik. Doch die Klagen bekommen eine Gestalt, die Choreographie schafft ihnen Räume, Abstände, Atempausen. Jenes Raum-Geben, dieses Luft- und Spiel-Lassen – dieses espacement – ist vielleicht die wichtigste Geste der choreographischen Arbeit von Billinger & Schulz. Die Stimmen des Kummers verklumpen nicht zu einer großen, allen gemeinsamen Stimme; sie bleiben unterschieden, mannigfaltig, und sie werden hörbar, auch weil der Akt des Stimme-Verleihens – der Stellvertretung und Fürsprache – in seiner Artifizialität nicht verborgen wird. Eben weil wir immer wissen, dass die Stimmen auf der Bühne nur geliehen sind, können wir sie hören: die antipolitische Klage des Chores, des chorischen Hintergrundes zweier großer Städte.

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Kritisches Theater jenseits der Illusion? Jana Telscher

Die Illusion in den Künsten polarisiert. Steht sie zur Debatte, so beobachtet Karl Heinz Bohrer, »wie die Stichflammen alter, nie begrabener Überzeugungen gegen den Illusionsbegriff hochschießen: […] Platons Fälschungsvorwurf und Hegels Wahrheitskriterium stehen dann senkrecht von den Toten wieder auf.«1 Damit verweist Bohrer einerseits auf die Ausschließlichkeit der Positionen und zugleich auf den Kern der Kontroverse, nämlich eine problematische epistemische Qualität ästhetischer Illusion zwischen Lüge und Wahrheit, Täuschung und Erkenntnis. An ihrer möglichen epistemischen Schädlichkeit, kontrovers diskutiert im Begriff der Täuschung, entzünden sich zahlreiche illusionskritische Positionen, und unter dem Vorwurf der unhinterfragten Beglaubigung des Dargestellten wird sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum Kontrahenten eines ›kritischen Theaters‹2 erklärt. Doch wenn die Illusion immer des Theaters »Ko-Produkt«3 ist und dessen »notwendige Täuschung«4, wie ist Kritik am Theater dann möglich? Dieser Beitrag zielt auf das Verhältnis zwischen Illusion und kritischen Absichten von Theater und fragt, ob Illusion unter ästhetisch-kritischer Perspektive überhaupt diskutiert werden kann, ohne damit notwendigerweise in den tradierten Diskurs ihrer gewollten Negation einzutreten. Andersherum stellt sich die Frage wie folgt: Lässt sich Illusion als produktives Phänomen und operabler Begriff für die ästhetische Erfahrung ernst nehmen, ohne dabei wichtige illusionskritische Einwände zu übergehen?

1 | Bohrer, Karl Heinz: Ist Kunst Illusion? München 2015, S. 7. 2 | Die Bedingungen von Kritik und von einem Theater als kritische Praxis können im Rahmen des Beitrages nicht näher reflektiert werden. Theater als kritische Praxis wird im Sinne der Tagung als »szenische Artikulation eines Es soll anders sein« (www.theater-wissenschaft. de/kongresse/theater-als-kritik/vom 9. Okt. 2017) verstanden, eine Denkfigur, die auf idealisierte Theatervorstellung und ein verkürztes Kritik-Verständnis zu prüfen ist (vgl. www.theater-wissenschaft.de/kongresse/theater-als-kritik/vom 9. Okt. 2017). 3 | Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999, S. 190. 4 | Müller-Schöll, Nikolaus: »(Un-)Glauben. Das Spiel mit Illusion«, in: Forum Modernes Theater 22 (2007), Nr. 2, S. 141-151, hier: S. 147.

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W ege aus der I llusionskritik Ausgehend von Platon existiert ein Diskurs um ästhetische Illusion als die verblendende Wirkung der Künste, der z.B. in theaterfeindlichen Positionen aktualisiert und seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit neuer Vehemenz geführt wird. Als Fluchtpunkt vieler repräsentationskritischer Positionen wird Illusionskritik hier zum Innovationsmotor und prägt sowohl Theater als auch Theoriebildung des kommenden Jahrhunderts. Doch ist die Forderung nach dem Illusionsbruch zunächst eine wirkungsvolle Formel gegen bürgerliche Ästhetik, droht sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend zu einem »Gemeinplatz«5 zu werden, wie HansThies Lehmann bemerkt und damit »hervorheben [möchte], wie wenig im Grunde mit diesem Stichwort ausgesagt ist«6. Auch André Eiermann kritisiert einen programmatischen »Ausschluss« 7 der Illusion aus dem Theater. Mit Foucaults Begriff der Episteme analysiert er, wie die gesamte Disziplin der Theaterwissenschaft auf einer anti-illusionistischen Prämisse gründe. Sei am Theater selbst »das Spiel mit ihr nie vollständig verschwunden«8, würde seitens der Theoriebildung beständig an der Aufrechterhaltung dieser »anti-illusionistischen Episteme«9 weitergearbeitet. So unterschiedlich illusionskritische Positionen über die Jahrhunderte sind, teilen sie meist eine Skepsis gegenüber der Transparenz realistischer Repräsentation und dem Streben nach einer Totalität dieser Realitätseffekte. Außerdem problematisieren sie eine Hierarchie in der Sinnvermittlung, die das Dargestellte als ›wahr‹ beglaubigt.10 An dieser Stelle scheint der Vorwurf der Täuschung seine besondere Relevanz zu bekommen: Die Argumentationen verlassen die Diskussion von Illusion als einem präsentischen Rezeptionseffekt11 und heben auf eine nachhaltige epistemische Schädlichkeit ab, diskutiert als ›moralisch verderbliche‹ oder ›ideologische‹ Wirkung. In extremen Positionen der Illusionskritik schließlich wird Illusion reduziert auf ein Phänomen von Technik, sei es der handwerklichen, mechanischen oder der digitalen, und der Unterhaltung – und droht damit in eine grundsätzliche Opposition zu dem gestellt zu werden, was überhaupt im Feld der Künste verortet wird. Hier zeichnet sich mitunter eine Tendenz ab, sich über den

5 | Lehmann, 1999, S. 190. 6 | Ebd. 7 | Eiermann, André: »Illusion. Episteme. Dispositiv«, in: Milena Cairo/Moritz Hannemann u.a. (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (= Theater 90). Bielefeld 2016, S. 151-161, hier: S. 152. 8 | Ebd., S. 156. 9 | Ebd., S. 154. 10 | Zur näheren Darstellung illusionskritischer Positionen vgl. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. München 2013, S. 38-41 und S. 75-79. 11 | Ästhetische Illusion wird häufig diskutiert als Realitätseindruck oder besonders evidenter Eindruck des ›Soseins‹, der eine Überwertigkeit über die empirische Realität bekommt, geprägt ist durch ästhetischen Genuss und u.a. ausgelöst wird durch emotionale Involvierung, Projektionen und die Einbildungskraft des Zuschauers. (Vgl. u.a. Lazardig, Jan: »Illusion«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart 2005, S. 140-142.)

Kritisches Theater jenseits der Illusion?

Illusionsbegriff gegen etwas ›Anderes‹, als ›nieder‹ Konstruiertes abzugrenzen.12 Wie präsent ein solches Verständnis von Illusion vor allem in wissenschaftlicher Alltagsgebräuchlichkeit ist, zeigt sich etwa bei Bernd Stegemanns Lob des Realismus.13 Analysiert er zunächst eben jene Transparenz, Totalität und »Herrschaftsgeste«14 der Illusion als Anlass der Illusionskritik der Avantgarden,15 geht er in der Entwicklung seines eigenen Realismusentwurfs noch weiter. Realistische Mittel könnten eingesetzt werden, entweder um die Widersprüche in ihrer Umwelt sichtbar zu machen, oder sie können als gefällige Mittel die Betrachter in den schönen Schein einer unrealistischen Illusion hüllen. Zwischen diesen beiden Richtungen verläuft die Grenze von künstlerischem Realismus und naivem Illusionismus, der zur bevorzugten Form des kommerziellen Realismus wird.16

Im Namen eines Neuen Realismus reduziert Stegemann die Illusion auf eskapistische und verblendende Qualitäten und vererbt ihr damit jenen Diskursballast, der – so seine Kritik – den Realismus zu Unrecht »im Giftschrank der Ästhetik«17 verschloss. Freilich geht es Stegemann dabei nicht um einen systematischen Beitrag zur Theorie der Illusion, doch erneuern diese Positionen beständig einen Begriff derselben, der dem komplexen Rezeptionsphänomen kaum Rechnung trägt und ihn konzeptuell aus dem Theater verdrängt. Seit den 1990er Jahren mehren sich die Versuche, ästhetische Illusion neu zu bestimmen und aus ihrer ausschließlich negativen Perspektivierung herauszulösen.18 Auch in Hans-Thies Lehmanns Das Postdramatische Theater zeichnet sich dies ab: In dem Kapitel »Jenseits der Illusion« stellt er zunächst fest, dass Theater immer auch Illusion evoziere und sie somit immer Bestandteil des Theaters bleibe. Die widersprechende Aussage, dass »Theater auch ohne Illusionieren auskommen kann, ohne deshalb aufzuhören, Theater zu sein«19, lässt sich mit dem Hinweis auflösen, dass Lehmann zwei unterschiedliche Begriffe von Illusion zugrunde legt: einerseits ein klassisches Illusionsverständnis als »Symbol, Metapher, Gleichnis der Wahrheit«20, andererseits eine andere, veränderte Illusion: »Das moderne Theater hat nicht eine bis dahin verwirklichte und funktionierende Illusion zerstört, sondern hat sie […] auf eine andere Ebene verlagert.«21 Denn »auch ohne RealitätsTäuschung gibt es jene Empfindung, die immer schon gemeint war, wenn man von 12 | Vgl. Allen, Richard: Projecting Illusion. Film Spectatorship and the Impression of Reality. Cambridge 1997, S. 81ff. 13 | Stegemann, Bernd: Lob des Realismus. 2. Aufl., Berlin 2016. 14 | Ebd., S. 14. 15 | Vgl. ebd., S. 12-15. 16 | Ebd., S. 13. 17 | Ebd., S. 12. 18 | Fürs Theater vgl. Eiermann, 2016, oder Müller-Schöll, 2007; für den Film vgl. Voss, 2013, oder Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.): … kraft der Illusion. Paderborn 2005; für Kunst und Ästhetik vgl. Bohrer, 2015, oder Steiner, Reinhard/Weissert, Caecilie (Hg:): Lob der Illusion, München 2013. 19 | Lehmann, 1999, S. 190. 20 | Ebd., S. 189. 21 | Ebd., S. 190.

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Illusion sprach«22 . Damit legt Lehmann sowohl für Theaterformen der Moderne als auch des Postdramatischen eine spezifische Form des Illusionserlebens nahe, die von der eines naiven Realismus abweicht. Diese Beobachtungen verfolgt er allerdings nicht weiter, sondern schlussfolgert schließlich, den Begriff als nicht operabel zu verwerfen.23 Für ihre »produktive Ausdeutung«24 der Illusion setzten aus filmwissenschaftlicher Perspektive auch Gertrud Koch und Christiane Voss einen weiter gefassten Begriff an. Jenseits von Korrespondenz oder Referenz verstehen sie sie als »eine virtuelle Wirklichkeit eigenen Rechts […], die unsere sinnlichen Reaktionen weder suspendiert noch manipuliert, sondern ins eigene Recht setzt« 25. Mit diesem Verweis auf eine wirkungsästhetische Autonomie des Illusionserlebens befreien sie ästhetische Illusion aus ihrer täuschungstheoretischen Lesart. Allerdings stellt sich die Frage, ob ästhetische Illusion damit nicht vorschnell von jedem kritischen Einwand freigesprochen wird. Besonders, wenn Illusion als Realitätseindruck, als »Eindruck von Authentizität und Lebendigkeit«26 verstanden wird, scheint ein solches Illusionsverständnis den grundsätzlichen Konnex zwischen realistischer Darstellung und einer gewissen Hierarchie in der Sinnvermittlung tendenziell zu übergehen. Führt also ein Weg aus skizzierten illusionskritischen Diskursen zu einem produktiven Verständnis von Illusion, ohne dabei eine grundlegende repräsentationskritische Skepsis aufzugeben?

I llusionskritik als K ritik tr anszendentaler I llusion Einen interessanten Zugang zu dieser Frage eröffnen Nikolaus Müller-Schölls Beobachtungen zum Spiel mit der Illusion in dokumentarischen Theaterformen seit den 2000er Jahren.27 Die Realitätsgläubigkeit an das Gezeigte würde hier immer schon in den Übergang gesetzt, in Unglauben umzuschlagen. Über diese spezifische Erfahrung des »dezentrierten neuzeitlichen Subjekts«28 wird das Spiel mit der Illusion zur »Auseinandersetzung mit dem In-der-Welt-sein«29 und trägt die Signatur eines veränderten Realitätsbegriffs. In Anlehnung an Derrida und Kant führt er in diesem Zusammenhang den Begriff der transzendentalen Illusion ein, die in jeder realistischen medialen Darstellung unhintergehbar wirke. Müller-Schöll versteht sie als »gewisse Vorurteile über die Welt«30, etwa den Irrglauben, »der Welt lägen narrative, kausale Prinzipien zugrunde«31. Irritiert man die transzendentale Illusionsbildung, so irritiere man den »Glauben an die eine, mit ökonomischer, politischer […] Macht autorisierte und verbreitete Geschichte«32 . Beziehen Müller22 | Ebd., S. 191f. 23 | Vgl. ebd., S. 155ff. 24 | Koch/Voss, 2005, S. 8. 25 | Ebd., S. 9. 26 | Ebd. 27 | Vgl. Müller-Schöll, 2007. 28 | Ebd., S. 148. 29 | Ebd. 30 | Ebd., S. 147. 31 | Ebd. 32 | Ebd.

Kritisches Theater jenseits der Illusion?

Schöll und Derrida sich beide zunächst auf photographische Dokumente und mediale Berichterstattung, so aktualisiert Müller-Schöll dieses Verständnis von Illusion u.a. mit Bezug auf Marx’ frühen Ideologiebegriff später auch fürs Theater. Das Spiel mit der Illusion verrate etwas über das Verhältnis von Illusion und Realität, das man vielleicht als kantische Einsicht bezeichnen könnte: Illusion kann paradox als notwendiger oder objektiver Schein begriffen werden, als Verkennung der Wirklichkeit, der zugleich den einzig möglichen Zugang zu ihr herstellt. 33

Es scheint Müller-Schöll hier weniger um den momentanen, ambivalenten Glauben an das Sosein eines realistisch inszenierten Bühnengeschehens zu gehen, sondern v.a. um den Glauben an das Sosein bestimmter außerästhetischer Episteme. Seine Bemerkungen legen einen entscheidenden Unterschied frei, der zwischen der ästhetischen Illusion als einer präsentischen Evidenz der Bühnenwelt und der transzendentalen Illusion als vom Theatererlebnis entbundene, beglaubigte Annahmen über die Wirklichkeit verläuft. Versteht man transzendentale Illusion in diesem Sinne, so gibt sie sich von begrifflicher Seite nun als jene Wirkungsdimension der Illusion zu erkennen, gegen die sich eine lange Tradition der Illusionskritik richtet: nämlich das epistemische Verhältnis zwischen Illusion und Realität, welches in der transzendentalen Illusion zugunsten naturalisierter, unhinterfragter Wahrheiten realisiert wird. Hier liegt die »Herrschaftsgeste«34 der Illusion, die Stegemann ihr zudenkt und »die das Gezeigte als unbefragbare Wahrheit inszeniert. [… Der Vorgang der Repräsentation] wird zur Behauptung einer objektiven Gültigkeit.«35 Illusionsinszenierungen dieser Art beruhen auf einer Totalität und Transparenz der Darstellung, die mit ihrer »konzeptionellen ästhetischen Problemlosigkeit«36 im 19. Jahrhundert die Illusion in Verruf brachte, so Lehmann. Differenziert man zwischen diesen beiden Dimensionen der Illusion, so scheint sich der Theoriestrang klassischer Illusionskritik, den Voss als den »Ideologieverdacht gegenüber ästhetischer Illudierung«37 untersucht, perspektivisch vor allem gegen die transzendentale Illusion zu richten, nicht so sehr gegen die ästhetische Illusionsbildung selbst. Als Fluchtpunkt vieler illusionskritischer Positionen kann an einer begrifflichen Differenzierung möglicherweise ein verändertes Nachdenken über Illusion und Kritik38 ansetzen. Nach Müller-Schöll bleibt die transzendentale Illusion als Bedingung von Erkenntnis notwendiger Teil des Theaters, im Spiel kann sie jedoch als begrenzt gültige erfahrbar werden. Derrida selbst rückt in seinen Überlegungen zur transzendentalen Illusion nochmals das Transparenz-Argument illusionskritischer Positionen in den Fokus, indem er sein Begriffsverständnis an der optischen Illusion des filmischen Bewegtbildes erläutert. Dessen medienspezifische Transparenz – ein Effekt, der sich automatisch und unhintergehbar einstellt – scheint jene abstrakte Täuschung, die er als transzendentale Illusion diskutiert, besonders zu begünstigen. Optische, 33 | Ebd. 34 | Stegemann, 2016, S. 14. 35 | Ebd. 36 | Lehmann, 1999, S. 185. 37 | Voss, 2013, S. 38. 38 | Vgl. Anmerkungen in Fußnote 2.

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ästhetische und transzendentale Illusion werden im Folgenden als dynamisch aufeinander bezogene Wirkungsebenen der Illusionsbildung begriffen.

J enseits von Tr ansparenz und Totalität Ist die Skepsis gegenüber einer möglichen ›Täuschung‹ dann vor allem im Zusammenhang mit optischer und transzendentaler Illusion relevant? Um an Lehmanns und Koch/Voss’ offene Begriffe von ästhetischer Illusion anzuschließen, soll zunächst noch einmal ein anderer wissenschaftlicher Zugang gewählt werden, jener über anthropologische Spieltheorien. Bereits etymologisch bildet sich ein Zusammenhang zwischen den Verben ›illudieren‹ (lat. illudere) und ›spielen‹ (lat. ludere) ab, der sowohl seitens Spieltheorien als auch ästhetischer Theorien aufgegriffen wird.39 Katja Mellmanns anthropologischer Ansatz etwa erörtert ästhetische Illusion im Rekurs auf die Veranlagung des Menschen zum Spiel und seine Fähigkeit, eine kommunikative bzw. interpretative Haltung gegenüber einem Gegenstand einzunehmen. Sie bilanziert: My starting point […] was not the referential notion of aesthetic illusion (as ›illusion of something‹), but a biological grounded concept of illusion (as immersively ›illuded‹ states of mind) as a consequence of play behaviour. This notion certainly comprises more things than we would normaly subsume under aesthetic illusion. 40

Nach Mellmann schließe ästhetische Illusion, verstanden als eine lustvolle Immersion in der Teilhabe am ästhetischen Spiel, klassische ›illusionistische‹ Kunst ebenso ein wie performative Praktiken, Musik oder abstrakte Kunst. Erst im Verlauf westlicher Kulturgeschichte sei sie begrifflich auf realistische Repräsentation eingegrenzt worden.41 Mit Vehemenz wird hier die Behauptung einer Unabhängigkeit von Illusion und Realismus aufgestellt und den skizzierten illusionsfeindlichen Diskursen entgegnet. Das illudierende Potential des Theaters liegt demnach nicht in realistischer Repräsentation oder gar hauptsächlich in technisch optimierter Unterhaltung, sondern schlicht in seiner Aufforderung zur affektiven und geistigen Teilhabe am ästhetischen Spiel,42 durch die das Bühnengeschehen zu einer illudierenden Überwertigkeit gelangen kann. 39 | In entwicklungspsychologischen Spieltheorien werden im sog. Illusionsspiel wichtige Entwicklungsschritte vollzogen (vgl. etwa Piaget, Jean: Nachahmung, Spiel und Traum. Stuttgart 1969), und in ästhetischer Theorie wird sich dem Verständnis ästhetischer Illusion wiederholt über anthropologische Spieltheorien oder Spielmetaphern genähert (vgl. etwa Anderson, Joseph D.: The Reality of Illusion. An Ecological Approach to Cognitive Film Theory. Carbondale/Edwardsville 1998). 40 | Mellmann, Katja: »On the Emergence of Aesthetic Illusion. An Evolutionary Perspective«, in: Werner Wolf/Walter Bernhart/Andreas Maher (Hg.), Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media. Amsterdam/New York 2013, S. 67-88, hier: S. 82. 41 | Vgl. Mellmann, 2013, S. 81f. 42 | Zur Konzeption des Zuschauers als Spielteilnehmer vgl. Husel, Stefanie: Grenzwerte im Spiel. Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie »Forced Entertainment«. Eine Ethnografie. Bielefeld 2014, S. 191-204.

Kritisches Theater jenseits der Illusion?

Folgt man diesen dem klassischen Illusionsverständnis zunächst strikt zuwiderlaufenden Thesen, gibt sich eine »allgemeine Struktur«43 der Illusionsbildung zu erkennen, die insofern als Desiderat bestimmt werden kann, als Illusion immer wieder auch als Teil ›anti-illusionistischen‹ Theaters behauptet wird. Sowohl paidische als auch ludische Prinzipien des Spiels44 können demnach gleichermaßen in ästhetische Illusion münden, sofern sich der Zuschauer auf das Spielangebot einlässt und die Rezeption in diesem Sinne gelingt. So entzündet sich Lehmanns Illusion u.a. am Eros der Körperlichkeit, an der »ästhetischen und sinnlichen Identifizierung mit der sinnlichen Intensität der realen Schauspieler und Theaterszenen, tänzerischen Bewegungsformen und verbalen Suggestionen« 45. R. A. Foakes wiederum beobachtet, dass es der Mitvollzug der ›Spielregeln‹ sei, der selbst im epischen Theater den Zuschauer illudiert: [W]hether the play selfconsciously parades its own theatricality, as Shakespeare’s and Brecht’s do, or attempts to present a ›slice of life‹ […], nevertheless the workings of dramatic illusion are similar. In the former kind of play, breaking the illusion is a deliberate part of the structure of the play, as the audience is teasingly reminded of their own role-playing activities. 46

Mellmanns offenes Illusionsverständnis zeichnet sich also auch im theaterwissenschaftlichen Diskurs ab. Dieser ›ideale‹ Erfahrungsraum im Sinne einer besonderen Intensität der inneren Aktivierung im Bezug auf das Bühnengeschehen kann nach Koch/Voss als eine »Wirklichkeit eigenen Rechts«47 verstanden werden. Mit dem Verweis auf die kreative Weltenbildung im Spiel und dessen vielzitierte funktionslose Lust weist dieser Zustand eine gewisse Resistenz gegenüber dem ›Ideologieverdacht‹ illusionskritischer Positionen auf. Jene »Korrespondenz«48 mit der Realität allerdings, die auch nach Koch/Voss im ästhetischen Illusionserleben 43 | In Bezug auf kinematographische Illusion benennt Voss die Bestimmung dieser allgemeinen Struktur der Illusionsbildung als ein Desiderat der Forschung: »Wenn es zutrifft […], dass in einem bestimmten Sinn von ›illusionsbildend‹ das Kino als ein illusionsbildendes Medium zu verstehen ist, dann müsste sich eine entsprechende allgemeine Struktur von Kinoillusion und -erfahrung beschreiben lassen, die zunächst indifferent gegenüber der Anwendung auf bestimmte Filmgenres ist und damit auf alle oder die meisten Fälle der Wahrnehmung von Filmen zutrifft« (Voss, Christiane: »Filmerfahrung und Illusionsbildung. Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos«, in: Koch/Voss, 2005, S. 73). 44 | Roger Caillois betrachtet das Spiel als triebgesteuerte Tätigkeit, die sich zwischen den beiden seit der Antike diskutierten, komplementären Prinzipien des Spiels, Ludus und Paidia, vollzieht. Ludus versteht er als ein strukturierendes, ordnendes Prinzip des Spiels, das sich durch Disziplinierung und Regelorientierung auszeichnet, das Paidia dagegen als ein freies, anarchisches Prinzip, als »spontane Manifestation des Spieltriebs« (Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Stuttgart 1960 [1958], S. 37). 45 | Lehmann, 1999, S. 191. 46 | Foakes, Reginald A.: »Making and Breaking Dramatic Illusion«, in: Frederick Burwick/ Walter Pape (Hg.), Aesthetic Illusion: Theoretical and Historical Approaches. Berlin/New York 1989, S. 217-288, hier: S. 228. 47 | Koch/Voss, 2005, S. 9. 48 | Ebd.

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eine untergeordnete Rolle spielt, bestimmt dagegen den Umgang des Theaters mit seiner transzendental illudierenden Qualität. In dieser Perspektive richtet sich klassische Illusionskritik v.a. gegen bestimmte Formen der Illusion – solche, die auf größtmögliche Transparenz und Totalität der realistischen Darstellung zielen und damit die »Herrschaftsgeste«49 der transzendentalen Illusion mit besonderer Evidenz vorbringen –, nicht jedoch gegen ästhetische Illusion per se, beschreibt diese doch eine besonders intensive innere Interaktion mit dem Bühnengeschehen. Möchte man das Verhältnis zwischen Illusion und kritischem Theater untersuchen, so ließen sich unterschiedliche Theaterformen und ihre spezifische ästhetische Illusion in Bezug auf ihren Umgang mit transzendentaler Illusion näher betrachten. Dieser Beitrag zielt also nicht auf eine ganzheitliche Vereinnahmung der Illusion für eine performative Theaterästhetik, wie es Eiermann in jüngerer Theatertheorie beobachtet,50 sondern auf ein offenes Verständnis ästhetischer Illusion, das die gemeinsame Struktur der lustvollen Illusionserfahrung in unterschiedlichen Theaterformen beschreibt. Des Weiteren, so wäre die Hoffnung, werden Prozesse der transzendentalen Illusionsbildung transparent und öffnen sich einer kritischen Reflexion.

E pilog : I llusion als ästhe tisch - kritischer B egriff ? Abschließend sei ein erneuter Blick auf die transzendentale Illusion geworfen. Anthropologische Spieltheorien untersuchen das Spiel nicht nur als Akt, der durch eine funktionslose Lust motiviert ist,51 sondern auch – in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu stehend – durch eine »Einübungs-Funktion«52 für den Menschen. Spiele stünden demnach in einem spezifischen »Weltverhältnis«53: »Sie [Spiele] nehmen Elemente und Strukturen der sozialen Ordnung auf, machen diese sichtbar, verändern sie und wirken auf sie zurück«54, schreiben Gunter Gebauer und Christoph Wulf über den mimetischen Charakter des Spiels und machen damit auch auf ein transformatives Moment des Spiels im Verhältnis zur Realität aufmerksam. Versteht man transzendentale Illusion weniger im kantischen Sinne, sondern spieltheoretisch als spezifische Welterfahrungen, in denen soziale Ordnungen wiederholt und transformiert werden, so eröffnet sich hier möglicherweise noch eine andere Dimension transzendentaler Illusion: Einerseits werden soziale Ordnungen und Werte nachvollzogen und ›eingeübt‹, andererseits aber entfalten möglicherweise auch Angriffe auf entsprechende Ordnungssysteme eine besondere Evidenz und Wirksamkeit, wirken destabilisierend auf soziale, moralische, ästhetische Ordnungen und bringen dabei den Zuschauer in seiner aktiven und 49 | Stegemann, 2016, S. 14. 50 | Vgl. Eiermann, 2016, S. 153. 51 | Vgl. Eibl, Karl: »Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Ein evolutionsbiologischer Zugang«, in: Thomas Anz/Heinrich Kaulen (Hg.), Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin 2009, S. 11-25, hier: S. 17f. 52 | Ebd., S. 15. 53 | Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel – Ritual – Geste: Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 194. 54 | Ebd., S. 194.

Kritisches Theater jenseits der Illusion?

transformativen Rolle hervor. Zwischen diesen beiden Perspektiven, der repräsentationskritischen und der spieltheoretischen Perspektive auf transzendentale Illusion, kann Illusion für ein ›kritisches Theater‹ diskutiert werden.

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Amnesie und Komplott Zu Brechts Lustspiel Mann ist Mann Clemens-Carl Härle

1. Brecht verabscheute das abgeschlossene, vollendete Werk, das keiner Veränderung mehr bedarf, aus dem Zeitlauf herausgenommen ist und eine Art Ewigkeitswert für sich in Anspruch nimmt. Zum Begriff des Autors gehört für ihn, dass dieser autorisiert ist, auch an dem Gedruckten Korrekturen vorzunehmen. Walter Benjamin vergleicht seine Arbeitsweise mit der eines Ingenieurs, der »mit Petroleumbohrungen anfängt, in der Wüste der Gegenwart an genau berechneten Punkten seine Tätigkeit aufnimmt« und um dieser Einsatzstellen willen »sich von seinem ›Werke‹ beurlaubt«1. Brecht lanciert mit dieser Schreibart eine Idee von Kritik, die jegliche Setzung eines Selbst oder einer Selbigkeit sabotiert. Für die materialistische Dialektik »existiert alles nur, indem es sich wandelt, also in Uneinigkeit mit sich selbst ist«, heißt es im Kleinen Organon für das Theater.2 Die Kritik des Identitätsprinzips betrifft nicht nur die Form des Werks, d.h. die Variierung der Versuchsanordnung, die bei jeder Bohrung in der »Wüste der Gegenwart« vorausgesetzt ist. Sie betrifft das Darzustellende selbst, dasjenige, das durch die Versuchsanordnung allererst wahrnehmbar wird, aber gerade durch seine gesteigerte Wahrnehmbarkeit auf das Unwahrnehmbare im Wahrnehmbaren anspielt. Damit das Nicht-Identische zur Geltung kommt oder – wie Brecht im Kleinen Organon schreibt – sichtbar wird, dass einer »mit seinesgleichen nicht ganz gleich« ist und ein »aktuelles Verhalten etwas Unnatürliches bekommt, wodurch die aktuellen Triebkräfte ihrerseits ihre Natürlichkeit einbüßen«3, bedarf es einer erhöhten Empfindlichkeit für das Abweichende, Inkommensurable, aber auch für das Unvorhersehbare oder Kontingente, d.h. für das, was nicht notwendig so ist, wie es ist oder erscheint. Keine Kritik des Identischen ohne Bewusstsein der Kontingenz. Ihr Einbruch ist doppelt, er affiziert die dargestellten Ereignisse – »Es kann so kommen, aber es kann auch ganz 1 | Benjamin, Walter: »Bert Brecht«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1977, S. 660-666 (= Benjamin, 1977a), hier: S. 661. 2 | Brecht, Bertolt: »Kleines Organon für das Theater«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 23. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1993, S. 65-97, hier: S. 82. 3 | Ebd., S. 80.

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anders kommen«4 – und erzwingt gegebenenfalls die Abänderung der Experimentierbedingungen, durch die ein Text sich als Ereignis in die Welt einschreibt.

2. Brechts Lustspiel Mann ist Mann, 1926 uraufgeführt, erscheint besonders geeignet, die Fluchtlinien einer solchen Poetik zu verdeutlichen. Das Dispositiv der Handlung geht auf Entwürfe zurück, die zwischen 1918 und 1921 entstanden sind. Es visiert die Verwandlung eines Menschen durch die Intrige einer Clique von Schurken. »Ein einfacher Mann wird von einer zweifelhaften Sorte von Spaßvögeln getrieben, die Rolle eines andern zu spielen. […] Aus dem Tischler Joseph Galgei wird der Butterhändler Pick.«5 Ein Dialogfragment exponiert die Prämissen der Verwandlung, die schiere Wesenlosigkeit desjenigen, der sich wandelt: GALGEI […] Ich denke, daß ich Galgei bin, ich denke, ich weiß, ich bin nicht Pick. Aber dann weiß ich nicht mehr sicher, daß ich Galgei bin. Was meinst du? LUKAS Bilde dir nicht ein, du seist Galgei, der Tischler, noch Pick, der Butterhändler. Sondern du bist nichts. Ängstige dich nicht, denn du bist ein Wolf, überhebe dich nicht, denn ein Lamm bist du nicht: du bist nichts. Das Gras hat keinen Namen, es gibt zuviel und es verdorrt am Abend und ist nicht gewesen. 6

In Galgei spielt die Handlung auf dem Plärrer, dem Jahrmarkt von Augsburg, in einer Welt, die an die Volksstücke von Ödön von Horváth gemahnt. In Mann ist Mann wird die Verwandlung als Parabel formalisiert und in das indische Kolonialmilieu der britischen Armee verlegt, wie es Brecht aus der Lektüre Kiplings vertraut war. Der Hafenpacker Galy Gay, der Name verschärft die Tautologie im Namen seines Modells, wird durch das Komplott einer Gruppe von Soldaten veranlasst, einen Kumpan, der wegen der Schändung einer Pagode verhaftet worden ist, nicht nur zu vertreten, dessen Rolle zu ›spielen‹, sondern sich regelrecht in einen solchen – in eine »menschliche Kampfmaschine« 7, wie es am Ende des Stücks heißt – zu verwandeln. »Ein Mensch [wird] wie ein Auto ummontiert«, proklamiert der Zwischenspruch.8 Das Stück übernimmt das Motiv des Namentausches: »Nenne doch nicht so genau deinen Namen. Wozu denn?/Wo du doch immer einen andern damit nennst«9, und präzisiert dessen Prämisse: Galy Gay, ein Jasager ante litteram, lässt die Verwandlung, die von außen an ihn herangetragen wird, schier widerstandslos über sich ergehen. Er ist kein Held, dessen Handeln durch ein 4 | Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1977, S. 519-531 (= Benjamin, 1977b), hier: S. 525. 5 | Brecht, Bertolt: »Galgei«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 10. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1997, S. 16-48, hier: S. 23. 6 | Ebd., S. 27. 7 | Brecht, Bertolt: »Mann ist Mann«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 2. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1988, S. 93-168, hier: S. 157. 8 | Ebd., S. 123. 9 | Ebd., S. 210 (Fassung von 1938).

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›Triebschicksal‹ oder ein unverbrüchliches Gesetz vorgezeichnet wäre, sondern der Spontaneität des Handelns schlechterdings nicht mächtig. In Begriffen der aristotelischen Poetik: Er ermangelt des Charakters (ethos), denn er kann nicht sagen, »wozu er neigt und was er ablehnt«10. Die Abenteuerlichkeit seiner Verwandlung tritt darum umso deutlicher hervor.

3. Benjamin und Brecht haben dieses Szenario unterschiedlich interpretiert. In einer Rundfunkrede aus Anlass der Sendespielfassung von 1927 bezeichnet Brecht Galy Gay als »Vorfahren [eines] neuen Typus von Mensch«11: ihm wird übel »mitgespielt«, denn er wird »einfach gezwungen […], sein kostbares Ich aufzugeben, sozusagen das einzige, was er besitzt«12 . Mehr noch: Er »ist gar kein Schwächling, im Gegenteil, er ist der Stärkste, nachdem er aufgehört hat, eine Privatperson zu sein, er wird erst in der Masse stark«13. Benjamin, der Mann ist Mann wohl in der Version, die Brecht im Frühjahr 1930 am Staatlichen Schauspielhaus in Berlin inszeniert hat, sah und als einziges Stück in seinen Essays über das epische Theater näher kommentiert, bezeichnet Galy Gay als einen »untragischen Helden«, der das »Undramatische des höchsten Menschen, des Weisen« verkörpert.14 Er bildet den Antipoden zu Baal und Fatzer, die von ihrem Begehren, der Grenzenlosigkeit des Appetits, verschlungen werden und Brecht mit dem Dilemma konfrontieren, »den Revolutionär aus dem schlechten, selbstischen Typus ganz ohne Ethos von selber hervorgehen [zu] lassen«15. Galy Gay hingegen bekennt ein, dass er »nicht trinkt, ganz wenig raucht und fast keine Leidenschaften hat«16, geht am Morgen aus, einen Fisch zu kaufen, erkennt seine Frau nicht wieder, wenn sie sein Ausbleiben anmahnt, und lässt sich zuletzt einen Soldatenrock überstülpen. Als bloße Aufzeichnungsoberfläche oder »unbeschriebenes Blatt«17 ist er aber auch ein »Schauplatz von Widersprüchen unserer Gesellschaft […], auf dem ihre verschiedenen Elemente logisch gegeneinander sich ausspielen lassen«18. Eben darum, aufgrund seiner Passibilität, nennt Benjamin ihn einen »Weisen«. »Vielleicht ist es, im Sinne Brechts, nicht zu kühn, den Weisen als den vollkommenen Schauplatz solcher Dialektik zu definieren. […] Mann ist Mann, das ist nicht Treue zum eignen

10 | Aristoteles: Poetik. Stuttgart 1982, 1450b 11. 11 | Brecht, Bertolt: »Rede im Rundfunk«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 24. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1991, S. 40-42 (= Brecht, 1991a), hier: S. 40. 12 | Ebd., S. 42. 13 | Ebd., S. 41. 14 | Benjamin, 1977b, S. 523. 15 | Benjamin, 1977a, S. 665. 16 | Brecht, 1988, S. 91. 17 | Brecht, Bertolt: »Anmerkungen zum Lustspiel ›Mann ist Mann‹«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 24. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1991, S. 45-51 (= Brecht, 1991b), hier: S. 50. 18 | Benjamin, 1977b, S. 526.

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Wesen, sondern die Bereitschaft, ein neues in sich selbst zu empfangen«19, gleichgültig, durch welche Prozedur auch immer diese Empfängnis erfolgt.

4. Wenn Benjamin mit Rücksicht auf Platon Galy Gay nicht nur als einen untragischen Helden, sondern hyperbolisch als einen Weisen, eine »paradoxe BühnenExistenz«20, bezeichnet, reiht er ihn ein in das Ensemble der Gestalten, durch die das Trauerspiel sich von seinem Urbild abstößt, ja er erhebt ihn zu der Figur, in der bei Brecht diese Tendenz »am weitesten vorgetrieben wurde«21. Überraschenderweise jedoch erwähnt er, anders als in Ursprung des deutschen Trauerspiels, nicht den Namen dessen, der für Platon die Gestalt des Weisen wohl am ehesten verkörpert. Im Trauerspielbuch fungiert Sokrates, ähnlich wie schon bei Nietzsche, aber nunmehr mit andrem Vorzeichen, als derjenige, dessen Todesart die Tragödie widerruft. »Aus dem Sokratesdrama ist das Agonale herausgebrochen […] und mit einem Schlage hat der Tod des Heros sich in das Sterben eines Märtyrers verwandelt.«22 Die Aussetzung des Agon zeigt den Fluchtpunkt an, an dem die Gestalt des Sokrates und Galy Gay einander berühren, auch wenn der Begriff des Weisen in ihnen ganz unterschiedlich ausgeprägt ist. Bekundet im Falle des Ersteren die gleichmütige Hinnahme des Urteils der athenischen Bürgerversammlung die Affirmation der Treue zum eigenen Wesen – »Sokrates sieht dem Tode ins Auge wie ein Sterblicher, wie der beste, der tugendhafteste der Sterblichen, wenn man will«23 –, so bedeutet im Falle Galy Gays das Einverständnis mit der Intrige – »Drück ich ein Auge zu, was mich betrifft, und/Lege ab, was unbeliebt an mir, und bin/Angenehm«24 – gerade das Gegenteil, nämlich die Bereitschaft des Weisen, ein neues Wesen in sich selbst zu empfangen. Zwar legt auch Brecht mit den »Reklamationen an der Mauer vor der Erschießung«25 Galy Gay eine Verteidigungsrede in den Mund. Aber statt der gelassenen Hinnahme des Urteils lässt er den Hafenpacker seine Richter anflehen, ihn laufen zu lassen. Galy Gay ist kein Märtyrer, der mit seinem Tode Zeugnis ablegt, und an das Sokratesdrama erinnert Mann ist Mann – das »poetologische Lustspiel im Trauerspiel«26 – nur insofern, als die Intrige der Soldateska die ins Groteske übersteigerte Wiederholung des Verfahrens darstellt, in dem der Areopag einer Verleumdung folgend sich anschickt, einen der ihren – der übrigens den Titel des Weisen nur widerstrebend für sich in Anspruch nimmt 27 – der Gottes19 | Ebd. 20 | Ebd., S. 524. 21 | Benjamin, 1977a, S. 534. 22 | Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1974, S. 203-430, hier: S. 291. 23 | Ebd., S. 293. 24 | Brecht, 1988, S. 143. 25 | Brecht, 1991b, S. 47. 26 | Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt a.M. 2002, S. 211. 27 | Platon: Apologie, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 1. Hamburg 1976, 21a-23b.

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lästerung und Verführung der Jugend zu überführen. Die Intrige wird denn auch als eine Abfolge von Nummern, gleichsam von Zirkusnummern, die um einen fiktiven Elefanten kreisen, ausgeführt. Sie treibt die Logik des Scheins auf die Spitze: des Scheins der Identität, die der Name suggeriert; des Scheins des Betrugs, der Galy Gay vorgehalten wird; des Scheins des Prozesses, der Erschießung und schließlich des Todes, aus dem er als einer, der ein anderer geworden ist, erwacht.

5. Benjamin hat die Gestalt des Weisen als Schattenriss in den Anfang des Trauerspiels eingeschrieben und an dessen äußerstem Ende, im Lustspiel Mann ist Mann, dessen Wiederkehr agnosziert. Eine solche Repristination, die den Wechsel der Form überlebt, ist in der Uneindeutigkeit der Trauerspielform selbst angelegt. Trauer ist »nicht gleich der Tragik eine waltende Macht«, kein unwandelbares »Gesetz von Ordnungen«, sondern zehrt von der Kontingenz der Vorkommnisse und offenbart sie, durch das »Wort in der Verwandlung«, als mitunter grellen Umschlag im Gefühl der Handelnden.28 Insofern bildet »Komik – richtiger der reine Spaß – […] die obligate Innenseite der Trauer, die ab und zu wie das Futter eines Kleides im Saum oder Revers zur Geltung kommt«29. Allerdings hat Benjamin es in den Brecht-Studien unterlassen, nicht nur auf der Wiederkehr des Weisen zu bestehen, sondern auch den Agenten zu nennen, durch dessen Eingriff am Saum des Kleids das komische Futter hervortritt – in Mann ist Mann so sehr, dass vom Kleid nur mehr das Futter übrigbleibt. Ebendarum erscheint seine Beweisführung elliptisch. Diese Auslassung ist umso überraschender, als im Trauerspielbuch dem Intriganten und seinen Machinationen eine bedeutsame Stellung in der Zweideutigkeit der Gattung eingeräumt wird. Mit »dämonischen Narren […] wie dem Jago und Polonius […] wandert das Lustspiel ins Trauerspiel ein«30, heißt es dort. Im Dispositiv von Mann ist Mann ist die dramaturgische Funktion der Schurken noch drastischer. Die Intrige übernimmt darin gleichsam die Aufgabe, die in der aristotelischen Poetik der Fabel (mythos) zugeschrieben wird. Sie bildet das »Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie«, indem sie die »Zusammenfügung der Geschehnisse« zu einem Ganzen, das »Anfang, Mitte und Ende hat«, organisiert.31 In Mann ist Mann erledigt die Intrige dieses Geschäft und füllt so das Vakuum, das durch das Unvermögen des Protagonisten, »einheitlich und ununterbrochen innerlich zu evolvieren«32, entsteht. Die Komplotteure folgen dabei nicht länger der Strategie des Intriganten: Sie brauchen nicht erst das – abwesende – Seelenleben des Opfers zu erforschen, um dieses hinters Licht zu führen, sondern betreiben schlechtweg die Demontage der Person. Ihre Bewegung ist die einer Attrappe: »Sie erschienen – berichtet Brecht über die von ihm geleitete Aufführung – mittels 28 | Benjamin, Walter: »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1977, S. 137-140 (= Benjamin, 1977c), hier: S. 138. 29 | Benjamin, 1974, S. 304. 30 | Ebd., S. 306. 31 | Aristoteles, 1982, 1450a 33-39 u. 1451b 39. 32 | Brecht, 1991b, S. 49.

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Stelzen und Drahtbügeln als besonders große und besonders breite Ungeheuer. Sie trugen Teilmasken und Riesenhände.«33 Fast könnte man angesichts der Kluft, die zwischen dem Weisen und dem Manöver, von dem er sich verführen lässt, waltet, von einer konträren Maximierung sprechen.

6. Dass in Mann ist Mann der Begriff der Identität verhandelt wird, deutet der Titel an. Dass dieser nicht nur ein formallogisches Postulat ausdrückt oder eine Gnome zum Besten gibt, offenbart der Verlauf. Der Satz der Identität betrifft das Denken, nicht weniger aber, ob er nun anerkannt oder verworfen wird, dessen Gegenstand und den Denkenden selbst. Formeln wie: »Ein Mann ist wie der andere. Mann ist Mann«34, oder: »Einer ist keiner«35, skandieren die Repliken, gleichsam wie Jetons, die die Spieler wechseln, gehen aber in dieser Funktion nicht auf. Einerseits wird behauptet, dass die Einzelnen voneinander nicht verschieden sind, werden Zeit und Raum als Bedingungen der Individuation negiert und außer Kraft gesetzt. Andererseits jedoch muss einer einer sein, wenn er ein anderer werden soll, mithin wenigstens über eine infinitesimale Bestimmtheit verfügen, die gegebenenfalls durch eine andere ersetzt werden kann, oder anders gesagt: Einer muss einer und keiner sein, bestimmt und unbestimmt zugleich. Namen hingegen sind »starre Designatoren«, wie Saul Kripke sagen würde,36 sie täuschen eine Bestimmtheit oder Sättigung vor, und sie müssen diese Bestimmtheit vortäuschen, wenn anders der- oder dasjenige, der/das durch einen Namen ausgesondert wird, von Dritten durchgängig unterschieden und identifiziert werden können soll. Einerleiheit und Verschiedenheit, schiere Unbestimmtheit und jener Schein von Bestimmtheit, den der Name erweckt, sind in der Tat die »Elemente«, die Brecht in Mann ist Mann »dialektisch sich kritisieren« und »logisch gegeneinander sich ausspielen« lässt.37 Das Lustspiel muss das eine und das andere behaupten, um die Wandelbarkeit, die Bereitschaft des »Weisen«, ein neues Wesen in sich zu empfangen, in Worten und Sätzen darstellen zu können. Und wenn Benjamin bemerkt, dass das epische Theater »nicht auf eine szenische Abfolge in der Zeit angewiesen« ist, weil in ihm nicht »der widersprüchliche Verlauf der Äußerungen oder Verhaltensweisen […] sondern die Geste selbst« die »Mutter der Dialektik« ist, dann gibt er zu verstehen, dass es das Spiel der Gesten ist, das – indem es dem logischen Aberwitz eine irritierende und verstörende Wahrnehmbarkeit verleiht – zugleich ein Widerspiel der Worte ist, den Einstand einer materialistischen »Dialektik im Stillstand« bildet.38

33 | Ebd., S. 45. 34 | Brecht, 1988, S. 122. 35 | Ebd., S. 132. 36 | Vgl. Kripke, Saul: Name und Notwendigkeit. Frankfurt a.M. 1981. 37 | Benjamin, 1977b, S. 526. 38 | Ebd., S. 530.

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7. Im Augenblick, da seine Erschießung droht – es ist die vierte Nummer des Verwandlungsakts –, erklärt Galy Gay über sich selbst: GALY GAY […] Glaubt mir, und lacht nicht, ich bin einer, der nicht weiß, wer er ist. Aber Galy Gay bin ich nicht, das weiß ich. Der erschossen werden soll, bin ich nicht. Wer aber bin ich? Denn ich hab’s vergessen; gestern abend, als es regnete, wußt ich’s. Gestern abend regnete es doch? Ich bitte euch, wenn ihr hierher schaut oder dorthin, wo diese Stimme herkommt, das bin ich, ich bitte euch. Ruft die Stelle an, sagt Galy Gay zu ihr oder andere Wörter, erbarmt euch, gebt mir ein Stück Fleisch! Worin’s verschwindet, das ist der Galy Gay und das, woraus es kommt. Mindestens das: so ihr einen findet, der vergessen hat, wer er ist, das bin ich. 39

Die »Reklamationen« haben die paradoxale Form der Rede eines Ich über sich selbst, ohne dass derjenige, der ich sagt, wüsste, wer er ist. Galy Gay bestreitet nicht, dass er angeredet wird, aber er bestreitet, dass er derjenige ist, der mit dem Namen Galy Gay angesprochen wird. Mit anderen Worten, er bestreitet, dass die Instanzen seiner Rede: Sprecher (ich), Adressat (der Rede des Gegenüber) und Gegenstand (derjenige, über den der Gegenüber sagt, dass er »erschossen werden soll«) in einer Entität, die den Namen Galy Gay trägt, zusammenfallen. Er bestreitet, dass er in diesen drei Hinsichten derselbe ist. Sie fallen nicht in einer Einheit zusammen, die als ein Selbst, als eine mit sich selbst gleiche Subjektivität, verstanden werden könnte.40 Wenn Benjamin Galy Gay als einen Weisen bezeichnet, bedeutet dies auch, dass »weise« der genannt werden kann, der über kein Selbst verfügt, sozusagen buchstäblich selbst-los ist und gerade infolge dieser Nicht-Koinzidenz ein »Schauplatz von Widersprüchen«. Andererseits ist gerade in diesem Ausfall der Selbstheit, dieser »Losigkeit«, um ein Wort Becketts zu zitieren, die Möglichkeit seiner Verwandlung beschlossen, d.h. die Möglichkeit, dass er bald auf einen, bald auf einen anderen Namen hört. Aber die Rede liefert auch eine Erklärung dieser Losigkeit. Sie liegt in einer Amnesie, dem Ausfall der Zeitsynthesen, beschlossen. Das Ich hat sein Selbst buchstäblich »vergessen«, ähnlich wie es nicht mehr weiß, ob es gestern Abend geregnet hat oder nicht. Das Ich ist keine Person, keine Subjektivität, wenn es nicht zugleich über ein Gedächtnis, die Möglichkeit der Erinnerung oder Appräsentation des Vergangenen in einer Gegenwart, verfügt. Gleichwohl verlangt es nach einem Gegenüber und will angerufen werden, auch wenn es sich nicht in dem Namen, unter dem es angerufen wird, erkennen kann. Es kann nur auf das zeigen, was mit dem Namen Galy Gay angerufen werden kann: ein Mund, der Ort, aus dem die Stimme kommt, die nicht weiß, wessen Stimme sie ist; ein Bauch, dasjenige, worin das Fleisch, das es erbittet und das man dem Mund reicht, verschwindet; ein Anus, dasjenige, das das Fleisch, das im Bauch verschwindet, wieder ausstößt. Die Verkettung der Teile Mund, Bauch und Anus bildet den Körper desjenigen, der nicht über das verfügt, was Lukács das »reine Ereignis der Selbstheit« nennt, die »großen Augenblicke des Lebens«, in denen »das Da-Sein 39 | Brecht, 1988, S. 136. 40 | Vgl. Lyotard, Jean-François: »Emma«, in: ders., Misère de la philosophie. Paris 1998, S. 55-95, hier: S. 89.

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der Menschen der Tragödie« gründet.41 Der Körper des »Weisen« ist ein Hohlraum, in dem die Stimmen der andern widerhallen, ein bloßes materielles Residuum, oder wie es an anderer Stelle heißt, ein »Bündel von Fleisch, Nägeln und Haar«42 . Ist er mehr als das Gras, von dem im Galgei-Fragment mit biblischem Akzent gesagt wurde, »es gibt zu viel und es verdorrt am Abend und ist nicht gewesen«?

8. Ein Tod ist undarstellbar, wortlose Abwesenheit, die, anders als ein Traum in der Traumerzählung, keine Nachträglichkeit kennt. Der Tod Galy Gays indes ist ein Scheintod, bloße Synkope, aus der er nach der Erschießung wieder erwacht. Der »Identitätsmonolog auf der Sargkiste vor dem Begräbnis«43 verlautbart die Benommenheit des Erwachenden: GALY GAY Ich könnt nicht ansehen ohne sofortigen Tod In einer Kist ein entleertes Gesicht Eines gewissen, mir einst bekannt, von Wasserfläch her, In die einer sah, der, wie ich weiß, verstarb. Drum kann ich nicht aufmachen diese Kist. Weil diese Furcht da ist in mir beiden, denn vielleicht Bin ich der Beide, der eben erst entstand Auf der Erde veränderlicher Oberfläch Ein abgenabelt fledermäusig Ding, hangend Zwischen Gummibäumen und Hütt, nächtlich Ein Ding, das gern heiter wär. Einer ist keiner. Es muß ihn einer anrufen. Drum Hätt ich doch gern hineingesehn in diesen Trog […] Und ich der eine und der andere ich, Wir sehen nach Wetter und Wind, Das uns zusammen näßt und trocknet, und Stärken uns am Essen. 44

Mit und über sich selbst sprechend, gewahrt Galy Gay, dass etwas mit ihm geschehen ist oder geschieht, kann aber nicht sagen, was mit ihm geschehen ist oder geschieht oder wer der ist, mit dem oder an dem etwas geschieht. Er ist nicht mehr der, der er war, aber er ist auch nicht oder noch nicht ein anderer, der von anderen unter einem anderen Namen angerufen wird. Versetzt an diesen ›anderen Schauplatz‹, kollabiert zum ersten Mal der Gleichmut des Weisen, lässt der Affekt, die »Todes- und Lebensfurcht«45, die Rede entgleisen. Konfrontiert mit der Sargkiste, Chiffre einer anwesenden Abwesenheit, oszilliert das Sprechen des ›Ich ohne 41 | Lukács, Georg: Die Seele und die Formen. Essays. Neuwied/Berlin 1971, S. 224. 42 | Brecht, 1988, S. 141. 43 | Brecht, 1991b, S. 47. 44 | Brecht, 1988, S. 142. 45 | Brecht, 1991b, S. 50.

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ich‹ zwischen Erregung und Verleugnung, dem Schrecken des Anblicks und dem Schrecken des Angeblickt-Werdens durch das »entleerte Gesicht«. Es versucht, diesen Widerstreit durch die Verdoppelung seiner selbst zu bannen, bald dadurch, dass es als »ich der eine und der andere ich« oder »ich der Beide« spricht, bald dadurch, dass es sein virtuelles Spiegelbild, das »entleerte Gesicht«, durch das todbringende Spiegelbild »eines gewissen, mir einst bekannt, von Wasserfläch her« ersetzt – ohne Erfolg, denn in einer Art Zirkel kehrt im todbringenden Spiegelbild des Narziss die Drohung des Sichtig-Werdens des eigenen Todes wieder. Indes fällt Brecht dieser Rede, die sich in anakoluthischen Satzgefügen, Metalepsen und ostentativen Iterationen (»drum«) zu verlieren droht, ins Wort. Auch für die Verkettung der Worte gilt, was für die Verknüpfung der Geschehnisse gilt: »[M]an muß mit dem Urteil dazwischenkommen können«46. Der Satz: »Einer ist keiner. Es muß ihn einer anrufen«, ist ein solches, nachgerade apodiktisches Urteil. Die Imago mag ein jubilierendes oder angstvolles Selbstgefühl erwecken, aber nur die Anrede durch einen Gegenüber vermag, dass aus keinem einer, fast möchte man sagen: aus Abram Abraham wird. Der auf den Monolog folgende Dialog demonstriert die Macht der Adresse durch einen Anderen: GALY GAY Ihr, seht ihr mich denn überhaupt? Wo stehe ich denn? POLLY zeigt auf ihn GALY GAY Ja, das stimmt. Was mache ich denn jetzt? POLLY Du beugst den Arm. GALY GAY So, ich beuge also den Arm! Tu ich es jetzt schon wieder? POLLY Ja, zum zweitenmal. GALY GAY Jetzt habe ich also zweimal die Arme gebeugt und jetzt? POLLY Jetzt gehst du wie ein Soldat. GALY GAY Geht ihr auch so? POLLY Genau so. 47

Die Erwiderung der Fragen durch den Gegenüber rektifiziert nicht nur ein schwankendes Selbstgefühl. Sie erteilt dem Körper, seinen Bewegungen und Gebärden Form und Orientierung, unterbricht den Zirkel der onirischen Selbstaffizierung und fungiert gleichsam als Mittel einer physischen, senso-motorischen Pragmatik, indem sie ermöglicht, dass dieser sich in ein Hier und Jetzt einschreibt, in einen geteilten Raum und in eine geteilte Zeit, und einzig aufgrund dieser Einschreibung sich wiedererkennt. Das Wort des Gegenüber eröffnet, mit einem Ausdruck Hannah Arendts, einen Erscheinungsraum oder, wie Jean-Luc Nancy sagen würde, eine comparution, ein Miterscheinen oder Widerspiel von Haltungen, durch die einer für einen anderen erfahrbar wird.48 Nur dank einer solchen Wechselseitigkeit verfügt ein Ich über ein wie auch immer zerbrechliches und vorläufiges Bild seines Körpers. Der Name, wie täuschend und willkürlich auch immer, ratifiziert diesen Anruf.

46 | Brecht, 1993, S. 92. 47 | Brecht, 1988, S. 143. 48 | Vgl. Nancy, Jean-Luc: »La comparution«, in: ders./Jean-Christophe Bailly, La comparution. Paris 2007, S. 51-105, passim.

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9. Gegen Ende seines Essays von 1931 zitiert Benjamin einen Text von Brecht, der unfreiwillig die Ambiguität von Mann ist Mann evoziert: Schon daß der Mensch in einer bestimmten Weise zu erkennen ist, erzeugt ein Gefühl des Triumphes und auch, daß er nicht ganz, noch endgültig zu erkennen ist, sondern ein nicht so leicht Erschöpfliches, viele Möglichkeiten in sich Bergendes ist […], ist eine lustvolle Erkenntnis. Daß er sich durch seine Umwelt verändern lassen und selber seine Umwelt verändern [kann] […], alles das erzeugt Gefühle der Lust. Freilich nicht, wenn der Mensch als etwas Mechanisches, restlos Einsetzbares, Widerstandsloses angesehen wird, wie es bestimmter gesellschaftlicher Zustände wegen heute geschieht. 49

Die Karenz des Selbst, in der die Möglichkeit von Galy Gays Verwandlung, seine »Weisheit«, beschlossen ist, kann als eine solche lustvolle Freisetzung menschlicher Potentialität, einer »Veranderung«, wie Werner Hamacher sagen würde, verstanden werden.50 Wenn freilich die Aktivierung dieser Potentialitäten sich in der Einsetzung einer »menschlichen Kampfmaschine« vollendet, lässt sich der Eindruck nicht abweisen, dass sich unter der Hand in die Verwandlung die Reaffirmation des »Menschen als etwas Mechanisches« eingeschlichen hat. Die Veranderung hat weniger die Form einer Dissimilation, eines Werdens, wie etwa die Verwandlung Gregor Samsas, als die einer Assimilation an die Erfordernisse der Komplotteure, an das Gesetz des »Exerzierreglements«51. Der Name, dessen Unzuverlässigkeit zu betonen das Stück nicht müde wird, fungiert zuletzt als ein Name, auf den ein Ich nicht aufhört zu hören, als irreversibles Imprinting. Brecht hat dieses Dilemma geahnt, als er das Stück so oft wie kaum ein anderes umgearbeitet hat. Er hat es, wie er in der späten Bemerkung Bei Durchsicht meiner ersten Stücke (1953) erklärt, freilich eher in der Mangelhaftigkeit des im »ersten kollektivistischen Lustspiel«52 dargestellten Kollektivs erblickt: Das Problem des Stücks ist das falsche, schlechte Kollektiv (der ›Bande‹) und seine Verführungskraft, das in diesen Jahren Hitler und seine Geldgeber rekrutierten, das unbestimmte Verlangen der Kleinbürger nach dem geschichtlich reifen, echten sozialen Kollektiv der Arbeiter ausbeutend. 53

49 | Benjamin, 1977b, S. 530f. 50 | Vgl. Hamacher, Werner: »Prämissen«, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a.M. 1998, passim. 51 | Brecht, 1988, S. 142. 52 | Brecht, 1991a, S. 41. 53 | Brecht, Bertolt: »Bei Durchsicht meiner ersten Stücke«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 23. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1993, S. 239-245, hier: S. 245.

Amnesie und Komplott

10. Die Ellipse des Selbst hat in Fatzers »Mich lähmt das Morgen und/Dies unverbindliche Heut! So sitzend/Zwischen noch nicht und schon nicht mehr/Glaub ich nicht, was ich denk!«54 eine Reprise gefunden und eine äußerste, kaum zu überbietende Zuspitzung in Samuel Becketts Stück Not I. Dessen einziger Protagonist ist ein Mund, der weniger und noch ungeschützter ist als der Mund, von dem Galy Gay sagt, »wenn ihr hierher schaut oder dorthin, wo diese Stimme herkommt, das bin ich«. Denn Becketts Mund ist eine bloße Höhlung, aus der die Stimme eines unbekannten Sprechers ertönt. Sie spricht zu niemandem und wird von niemandem angerufen. Aber eben weil sie weder Adressant noch Adressat ist, spricht sie auch nicht, wie sonst in einem Monolog, von sich selbst her zu sich selbst. Ihr intransitives, katatones Sprechen, das sich in der Ataxie verstümmelter Wort- und Lautgebärden verzehrt, spricht unablässig, ›weiß‹ aber nicht, dass es über eben die spricht, die hier und jetzt spricht: […] now this … this … quicker and quicker … the words … the brain … flickering away like mad … quick grab and on … nothing there … on somewhere else … try somewhere else … all the time something begging … something in her begging … begging it all to stop … unanswered … prayer unanswered … or unheard … too faint … so on … keep on … trying … not knowing what … what she was trying … what to try … whole body like gone … just the mouth … like maddened […] 55 .

Ein Nichtidentisches affiziert das Selbst und lässt seine Rede entgleisen. Bei Galy Gay geschieht diese Entgleisung durch das Spiel, das die Welt mit der Vertauschung des Namens treibt. In Not I dagegen, könnte man sagen, ist sie der Widerhall des Spiels, das die Sprache, nur einer klaffenden Öffnung – »just the mouth« –, nicht länger eines Ich oder eines Namens bedürftig, mit sich selbst treibt.

54 | Brecht, Bertolt: »Fatzer«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 10. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1997, S. 387-529, hier: S. 440. 55 | Beckett, Samuel: »Not I«, in: ders., The Complete Dramatic Works. London 2006, S. 373-383, hier: S. 382.

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Brechts kleine Kritik Francesco Fiorentino

R ichtiges G ehen In einem dialogischen Abschnitt des Messingkauf über die »Theatralik des Faschismus« analysiert Brecht unter anderem die Ästhetik und die Logik der öffentlichen Führer-Reden: Sie sind – so der Befund – aristotelisches Theater, das mit Einfühlung operiert und auf einen affektiv erzeugten Konsens aus ist, welcher der begrifflichen Artikulation entgeht. Also: Konsens durch Einfühlung unter Ausschaltung von Kritik. Der Redner benutzt ein theatralisches Mittel, um sein Publikum dazu zu bringen, ihm ziemlich blindlings zu folgen. Er veranlaßt damit jeden, seinen Standpunkt aufzugeben, um seinen, des Agierenden, Standpunkt einzunehmen, seine Interessen zu vergessen, um seine, des Agierenden, Interessen zu verfolgen. Er vertieft seine Zuschauer in sich, verwickelt sie in seine Bewegungen, läßt sie »teilnehmen« an seinen Sorgen und Triumphen und verleidet ihnen jede Kritik, ja jeden Blick auf die Umwelt von ihrem eigenen Standpunkt aus.1

Da es so ist, besteht die Gefahr nicht nur darin, sich in jemanden einzufühlen, der »das Volk auf einen gefährlichen Weg« bringt, sondern sich überhaupt in jemanden einzufühlen, »ganz gleichgültig, ob er wie jener einen auf einen gefährlichen Weg bringt oder nicht«, weil Einfühlung »unmöglich macht, noch zu erkennen, ob der Weg gefährlich ist oder nicht«2 . Immer schaltet Einfühlung Kritik aus, und Kritik ist die Bedingung der Möglichkeit für die Artikulation der eigenen Interessen. Kritik – das ist hier die Erkenntnis von »Gesetzlichkeiten«, nach denen sich das »Auftreten« der Menschen abspielt, die durch Einfühlung das Verhalten der anderen zu beeinflussen bzw. zu steuern versuchen. Einfühlung geht also gegen die eigenen Interessen – immer, auch wenn man sich in jemanden einfühlt, der die eigenen Interessen vertritt. So behauptet Thomas, einer der Gesprächspartner. Er argumentiert:

1 | Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei u. Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1988-2000. Bd. 22.1: Schriften II, Teil 1, S. 567. 2 | Ebd., S. 568.

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THOMAS […] Du könntest sagen: Aber er führt sie ja dann den richtigen Weg, wie kann es da gefährlich sein, ihm blind zu folgen? Aber das wäre eine vollständig falsche Auffassung von einem »richtigen Weg«. Er kann niemals an einem Gängelband gegangen werden. Des Menschen Leben besteht nicht daraus, daß er »wohin« geht, sondern daraus, daß er geht. Der Begriff des richtigen Wegs ist weniger gut als der des richtigen Gehens. Die großartigste Eigenschaft des Menschen ist die Kritik, sie hat die meisten Glücksgüter geschaffen, das Leben am besten verbessert. Wer sich in einen Menschen einfühlt, und zwar restlos, der gibt ihm gegenüber die Kritik auf und auch sich gegenüber. Anstatt zu wachen, schlafwandelt er. Anstatt etwas zu tun, läßt er etwas mit sich tun. Er ist jemand, mit dem andere leben und von dem andere leben, nicht einer, der wirklich lebt. Er hat nur die Illusion, daß er lebt, in Wirklichkeit vegetiert er. Er wird sozusagen gelebt. 3

Der Mensch ist nur da ganz Mensch, könnte man Schiller umwandelnd sagen, wo er Kritik übt. Es gibt keinen anderen »richtigen Weg« als den eines richtigen Gehens, das gutes Leben produziert. Und das ist die Kritik. Zu ihr gehört auch ein volles Spielbewusstsein, das volle Bewusstsein der Rollenhaftigkeit aller sozialen Interaktionen und die Erkenntnis ihrer Gesetzlichkeiten. Diese ist die notwendige Bedingung für die Erkenntnis und Artikulation der eigenen Interessen. Solche Überlegungen anachronistisch zu nennen, hieße die Verfassung der heutigen sozialen und politischen Realität in den immer populistischer werdenden liberalen westlichen Demokratien zutiefst zu verkennen, in denen Prozesse der Meinungsbildung und überhaupt politische Teilhabe von Praktiken der Einfühlung, von mehr oder weniger latenten Prozessen der Identifizierung anstatt von der demokratisch geregelten Austragung manifester Interessenkonflikte bestimmt sind. Brechts Theatertheorie antwortete auf eine ähnliche Situation. Sie entstand aus dem Widerstand gegen sie heraus und zeigte, wie die Möglichkeit von Kritik gerade in der Abgrenzung zur Einfühlung entsteht, weil diese immer eine unkritische Unterwerfung unter die Autorität eines Vorstellungs- und Wahrnehmungshorizonts bedeutet. In diesem Sinne geht es im epischen Theater für den Schauspieler darum, nicht im eigenen Sprechen und Handeln aufzugehen, sondern dazu Stellung zu beziehen, und dies auf eine Weise, die auch eine Kritik der Bedürfnisse und des unbewussten Begehrens bewirken könnte. Mit Verfremdung ist vor allem eine Distanzierung aus der Komplizität oder Verstricktheit in die Zustände gemeint, die wir erleiden. Nicht um die Vermittlung von Urteilen geht es, sondern um die Bereitstellung und Einübung eines Modells der Distanznahme, des Widerstands und der Neubewertung. Kurz um ein Modell von Kritik, von Kritik als »Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit«, wie Foucault es wollte. »In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung«, hieß es weiter bei Foucault.4 Mindestens für die Schauspieler sollte das epische Theater der Übungsort einer solchen Entunterwerfung sein – ein Übungsort von Kritik also, wenn man darunter eine Tätigkeit versteht, die keinem Zweck unterworfen ist, der dann die Mittel heiligt, der die Geltung oder das Gewicht des Handelns in der Gegenwart mit all seinen schmerzlichen Paradoxien dialektisch herabmindern könnte. Insofern arbeitet Kritik immer schon an der Dekonstruktion der Vorstellung einer teleo3 | Ebd., S. 568-569. 4 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 15.

Brechts kleine Kritik

logischen Zweck-Mittel-Relation und der mit ihr verbundenen Legitimierung des Opfers des Konkret-Gegenwärtigen im Namen einer besseren, aber abstrakten Zukunft. Dies ist bekanntlich das moralische und politische Problem in Brechts Lehrstücken: Wer eine Welt ohne Gewalt will, soll jetzt Gewalt anwenden. In Gegensatz zu einem politischen Handeln, das unmenschlich wird, weil es ganz einem Zweck, also einem Ideal in der Zukunft unterstellt ist, stellt Kritik eine politische Praxis dar, welche das Mittel – d.h. immer auch das Gegenwärtige und Materielle – als Zweck hat. Deshalb insistiert Brecht auf dem Vergnügen, das Kritik bereiten kann. Es ist ein Genuss, der aus einem prüfenden Spielen, aus der Simulation eines Anderssein-Könnens kommt: »mich unterhalten die Vorstellungen anderer Handlungsweise, und der Vergleich der ihrigen mit der von mir vorgestellten, ebenfalls möglichen«, lässt Brecht einen Philosophen in einer kurzen Szene über Die fröhliche Kritik sagen5. Fröhlich nennt sich eine solche kritische Haltung nicht zuletzt, weil sie auf ein volles Spielbewusstsein setzt, auf das Spiel als Simulation und Erprobung anderer Möglichkeiten des Miteinanderseins und der Transzendierung der gegebenen, auf das Spiel als Modell einer zweck- und ziellosen Praxis, wie sie die Kritik sein sollte. Nicht der Zweck also zählt primär bei der Kritik, eigentlich auch nicht der Weg oder die Richtung, also der Sinn, sondern es zählt vor allem das Gehen, das richtige Gehen, die richtige Haltung in der Bewegung des Werdens. Kritik kann und soll also ziellos sein, aber sie ist keineswegs folgenlos. Im Gegenteil: Die »kritische Haltung«, schreibt Brecht 1937, ist die »einzig produktive, menschenwürdige. Sie bedeutet Mitarbeit, Weitergehen, Leben«6.

K eine U rteile , sondern eine H altung In Me-ti, seinem »Buch der Wendungen«, erzählt Brecht die Geschichte eines Lehrers und seines großen Erfolges, der aus seinen Misserfolgen erwuchs: Die Geschichte des Kung futse zeigt, wie gering der Erfolg der erfolgreichsten Lehrer der Menschheit war. Er beabsichtigte, die Staatsform seiner Zeit zu einer ewigen zu machen durch die allgemeine Hebung der Sittlichkeit. Aber die Sittlichkeit verfiel, solange die Staatsform dauerte, und es war ein Glück, daß sie nicht ewig war. Vieles versprach er sich von der Ausübung der Musik. Aber seine Ausführungen darüber behielt das Volk länger als die Musik. In Bezug auf die Religion war er in seinen Äußerungen vorsichtiger und sagte wenig, und dieses Schweigen war schuld daran, daß der Aberglauben bei seinen Anhängern mehr wucherte als sonstwo. Weit größer ist der Erfolg, den das Volk bei diesem Lehrer, oder, weniger boshaft gesagt, mit ihm hatte. Seine Urteile, längst vergangene Lebensformen betreffend, wären längst ungerecht geworden, hätte man sie wiederholt, aber seine Haltung war die der Gerechtigkeit.7

5 | Brecht, 1988-2000, Bd. 22.2, S. 750. 6 | Ebd., Bd. 22.1, S. 226. 7 | Ebd., Bd. 18, S. 369-370.

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Ein Passus voller Widersprüche, die geradezu danach verlangen, dialektisch gelesen zu werden. Kung futse war der erfolgreichste Lehrer der Menschheit, obwohl er eigentliche keinen Erfolg hatte. Oder vielleicht gerade deshalb? Weil sein Erfolg nicht der seine war, sondern der Lernenden, die von sich aus und auf ihre Weise etwas lernten, was eigentlich vom Lehrer nicht vorgesehen war. Keines seiner Ziele erreicht er, und doch erreicht er beim Volk viel, nur nicht das, was er beabsichtigt hatte. Nicht was er lehren will, lernt das Volk, sondern etwas anderes, das es selbst durch ihn lernt. Der Erfolg dieses erfolgreichsten Lehrers der Menschheit ist also ein Erfolg des Volkes, ein Erfolg, den das Volk durch ihn und mit ihm, sozusagen ihn benutzend hat. Und doch ist es auch ein Erfolg des Lehrers, des Kung futse, insofern alle seinen Bemühungen dadurch erfolgreich sind, dass sie jenseits seiner Urteile eine gerechte Haltung zeigen und vermitteln. Man kann diese Geschichte als eine narrative Formulierung von Brechts Idee von Kritik als einer Praxis lesen, die nicht primär mit der Ebene der Referentialität, sondern mit der afformativen Dimension zusammenhängt; als eine Praxis auch, bei der es jenseits der persuasiven und kommunikativen Intentionen, jenseits auch von den jeweiligen Gegenständen der kritischen Befragung, um die Vermittlung einer Haltung geht, um den Prozess des Autonom- und Dialektisch-Werdens der Urteilsbildung. »Es ist behutsamer von mir, dafür zu sorgen, daß mein Freund sich selbst glauben kann, anstatt mir«, lässt Brecht Me-ti sagen 8. Wenn es doch ein Ziel der Kritik gibt, dann die kritische Emanzipation des Publikums, die Infragestellung der Position des Kritikers. Die Kritik hat ihr Ziel erreicht, wenn der Kritiker aufhört, eine Instanz der Autorität zu sein, wenn die Position der Kritik, die das Theater innehatte, haltlos wird und auf den Zuschauer übergeht. Erst dann kann das Publikum etwas lernen. »Kein Intellektueller darf heute aufs Katheder steigen und Anspruch erheben, sondern muß arbeiten unter der Kontrolle der Oeffentlichkeit, nicht führen«, schrieb Walter Benjamin Ende der 20er Jahre.9 Die Autorität geht zu einer Öffentlichkeit über. Diese soll aber nicht als eine schon geformte gedacht werden, sondern als eine, die sich erst durch ihre Tätigkeit der Kontrolle über die Angebote der Intellektuellen oder des Theaters bildet. Die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit und die Kontrolle, d.h. die Kritik, die sie ausübt, wären also als gleichzeitig zu denken. Kritik wäre demnach eine Praxis, mit der die Subjekte sich umformen, eine neue Beziehung zu sich selbst herausbilden, indem sie kritisch die kritische Arbeit des Anderen kontrollieren. Einen solchen Prozess inszeniert Brechts Lehrstück Die Maßnahme. Dort agiert ein Kontrollchor, der zunächst als urteilende Instanz in Szene gesetzt wird, schon nach einigen Szenen aber eine lernende geworden ist.10 Der Kontrollchor hat nicht mehr die Autorität, die die vier Agitatoren ihm anfangs zuerkannt hatten, indem sie ihn nach seinem Urteil baten. Es ist aber nicht so, dass die Positionen einfach vertauscht sind, dass die vier Agitatoren als Handelnde aus der Praxis die Autorität gewinnen, die der Kontrollchor verloren hat. Denn auch sie können keine Urteile aussprechen, sondern – wie es an einer zentralen Stelle des Lehrstücks heißt – nur 8 | Ebd., Bd. 18, S. 120. 9 | Zitiert nach Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M. 2004, S. 143. 10 | Brecht, 1988-2000, Bd. 3, S. 101 und 116.

Brechts kleine Kritik

Maßnahmen treffen, die sehr konkret von der Situation abhängen. Die Negation der Möglichkeit eines verbindlichen Urteils bringt beide Positionen ins Schwanken: die des Urteilenden oder Lehrenden und die des Beurteilten oder Lernenden, d.h. aber auch die des Kritikers und die des Kritisierten. Beide Positionen finden sich zutiefst in Frage gestellt, und die Frustration, die daraus folgt, produktiv zu verarbeiten, ist die Aufgabe, die Brechts Lehrstück (sich) stellt. Der Kontrollchor muss auf seine Autorität verzichten und annehmen, dass er das Urteilsverlangen der Agitatoren nicht befriedigen kann und dass er von der Position des Wissenden zu der des Lernenden gewechselt ist oder immer wieder wechseln muss. Die Agitatoren müssen sich von der Illusion, von anderen ein abschließendes Urteil zu bekommen, verabschieden und erkennen, dass sie selbst, wenn auch nur transitorisch und ungewollt, die Autorität repräsentieren, die sie bei dem Kontrollchor suchen. Die beiden Positionen – die des Urteilenden und die des Beurteilten – greifen ineinander, sind nicht mehr klar zu unterschieden. Sie heben sich gegenseitig auf: in einer Öffentlichkeit, die selbst das Wechselspiel von Begehren und Mangel verkraften muss. Ähnlich denkt Brecht über das Verhältnis von Kritik und Kunst. »Es hat keinen Sinn, eine Kritik aufzubauen, die wie das Subjekt dem Objekt gegenübersteht, eine Legislative, zu der die Kunst dann die Exekutive abgibt.« Kunst muss einen wissenschaftlichen Charakter bekommen, »sie muss die Kontrolle (Kritik) in sich enthalten. Sie muss freie Stellen lassen, dem Widersprecher das Stichwort geben«11. Auch hier ist die Dekonstruktion eines Machtverhältnisses – jenes zwischen einer beurteilenden Kritik und einer beurteilten Kunst – anvisiert, die mit der Verinnerlichung einer kritischen Haltung einhergeht. Die Kritik, von der hier die Rede ist, ist keine, die an einen Kunstgegenstand externe, existierende normative Kriterien heranträgt, sondern eine immanente, die dem Kunstgegenstand selbst entspringt, in ihm schon präsent ist, freilich als Potentialität, die je nach dem Kontext immer anders aktualisiert werden kann. Durch den Kontext kommt doch ein externer Standpunkt ins Spiel, der aber mit einem immanenten Standpunkt vermittelt wird. Das Wechselspiel zwischen (normativem) Kontext und (kritischer) Immanenz kann dann bewirken, dass an Kunst herangetragene Kriterien verfremdet und umformuliert werden. Besteht die Arbeit der Kritik im Grunde nicht in dieser Verfremdung und Umformulierung? Und sind diese Verfremdung und Umformulierung nicht zugleich das einzig mögliche Ziel jeder Kritik? Wenn es so ist, dann ist Kritik keine Durchgangsstation zu etwas anderem, sondern eine Praxis, die kein Jenseits hat und als Ergebnis ihrer selbst zu denken wäre. Die Ausübung der Kritik – also die Verfremdung und Umformulierung von bestehenden Normen, Diskursen und Vorstellungen – könnte dann als das letztmögliche Ziel jeder Kritik angesehen werden.

11 | Ebd., Bd. 22.1, S. 434f.

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D estruk tion und M aterialwert »Nur wer vernichten kann, kann kritisieren«, schreibt Walter Benjamin in Einbahnstraße 12 . Kritik braucht Zerstörung, weil sie auf die Aktivierung der sozialen Akteure aus ist, auf die Aufhebung der politischen und kulturellen Beschränkungen, denen sie unterliegen. Wie Benjamins »destruktiver Charakter« strebt die kritische Haltung aber eigentlich nicht Zerstörung an, sondern eine Verflüssigung von Situationen, die sie so »handlich« machen will13. Was sie zerstören will, sind Fixierungen, die das Handeln blockieren. Gerade dies ist aber (nicht nur für Brecht) eine entscheidende Funktion von Kritik: die Erweiterung des Handlungsraums, die Verflüssigung von hergebrachten Handels- und Denkgewohnheiten, das Unterlaufen von Abwehrmechanismen und festgefahrenen Reaktionsweisen, die den psychischen wie den sozialen Raum besetzen und bestimmen. Zerstörung versteht Benjamin als Mittel für die Produktion neuer Wege, schließlich einer unbekannten Zukunft, als eine Tätigkeit, deren Effekte unplanbar, deren Resultate unkontrollierbar sind und die deshalb die Möglichkeit des Anderen offenhält.14 Es ist, als würde dabei die Gegenwart von einem noch nicht gewussten Wissen her betrachtet werden. Da ist eine Kraft am Werk, die kein Wissen sucht, sondern mit allem Gewussten Schluss machen will, um ein Jenseits des Erkannten und des Erkennbaren aufleuchten zu lassen. Darin liegt eine wichtige Funktion von Kritik: Sie will zunächst einmal Wissen suspendieren. Gesucht wird ein leerer Raum: nicht ein privilegierter Ort, an dem Überblick und Autorität des Urteils entstehen könnten, sondern zunächst einmal eine Lücke, ein Zögern, eine Öffnung. »Die critische Methode suspendirt das Urtheil«, kann man in Kants Handschriftlichem Nachlass lesen; diese Aussetzung geschehe aber »in Hofnung dazu [also zum Urteil] zu gelangen«15. Ein Gedanke, der auch bei Foucault als ein grundlegender wiederkehrt, da – so Judith Butler – »Kritik« für diesen »nicht nur eine Praxis ist, die das Urteil aussetzt, sondern eine neue Praxis von Werten aufgrund genau dieser Suspension«16. Kritik wäre zunächst Arbeit gegen die Reduktion von Urteilen auf Aussagen, die ein Besonderes unter eine bereits konstituierte Kategorie subsumieren und somit die Erfahrung verkürzen, an der Sache, an der Konkretheit einer Situation vorbeigehen, weil sie diese nicht in ihrer Singularität anerkennen. Dagegen gilt es, zunächst nach den Kategorien des Urteilens, nach deren Angemessenheit für Zeit und Ort zu fragen. Das ist aber ein Hauptimpuls bei Brechts kritischer Haltung. Meister Hü-jeh [d.i. Hegel] – liest man im Me-ti – meint, dass man einen Satz »zu lange sagen kann, d.h., daß man zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Lage recht 12 | Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1972-1999. Bd. IV-1, S. 108. 13 | Ebd., S. 398. 14 | Ebd., S. 396. 15 | Kant, Immanuel: Kant’s Gesammelte Schriften. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. Bd. 16, S. 459. 16 | Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246, hier: S. 222.

Brechts kleine Kritik

haben kann mit ihm, aber nach einiger Zeit, bei geänderter Lage mit ihm unrecht haben kann.«17 Und an einer anderen Stelle heißt es: Gewisse Gedanken ordnender Art, Gedanken, welche die Ordnung zwischen den Gedanken herstellen, kann man ganz gut mit Beamten vergleichen in ihrem Verhalten. Ursprünglich als Diener der Allgemeinheit aufgestellt, werden sie bald zu ihren Herren. Sie sollen die Produktion ermöglichen, aber sie verschlingen sie.18

In Grunde ist das Begehren jeder kritischen Praxis die Aufhebung der Hemmung der Produktion. Kritik entsteht, wenn die soziale Produktion zu einem geschlossenen System wird, in dem das »Unvorhergesehene«, »Nichtverlangte« keinen Platz mehr hat, in dem »nichts Unbestimmtes, Fruchtbares, Unbeherrschbares« mehr geschieht und die Empfänglichkeit für Kontingenz abstumpft.19 Kritik entsteht, wenn die Vorstellungen und Kategorien, die Denken und Fühlen organisieren und daher das Handeln bestimmen, ihre Grenze zeigen und hemmend werden. Mit Brecht gesprochen: »Die Kritik, erinnert euch, entsteht aus den Krisen und verstärkt sie.«20 Sie tut dies, indem sie versucht, gewisse Dinge vergehen zu lassen, und überhaupt die Dinge im Zeichen des Vergehens zeigt. Kritik ist ein Organ der Kontingenz. Kritisch ist jenes Denken, das nach Momenten sucht, in denen die Verhältnisse »ihre Kontingenz und Transformationsfähigkeit preisgeben«, schreibt Judith Butler, Foucault kommentierend.21 Foucault, dem es »um eine immerwährende Beweglichkeit, um eine wesenhafte Zerbrechlichkeit: um eine Verstrickung zwischen Prozeßerhaltung und Prozeßumformung«22 ging. Genau dies ist aber, was Brecht durch die »Große Methode« sucht. Diese verlangt nämlich, »daß man davon spricht, wie gewisse Dinge zum Vergehen gebracht werden können«23. So sollen Vorstellungen und Kategorien in ihrem spezifischen Geworden-Sein und in ihrer Beziehung zum herrschenden Machtsystem betrachtet werden. Zur Kritik gehört deshalb historischer Sinn: Der historische Sinn, ohne den zu haben sie hier nicht genießen kann, ist ein Sinn für Kritik, das muß einleuchten. Da muß die einstige Perfektion eines Dings gefühlt werden können, die inzwischen sich zum Schlechteren verändert hat, nirgends mehr in dieser Perfektion zu sehen, nunmehr ungenießbar im tödlichen Sinn des Wortes geworden ist. 24

Die einstige Perfektion des nicht mehr Perfekten muss gefühlt werden, damit sich Lust auf die Produktion einer neuen Perfektion entfachen kann. Dies ist aber nichts anderes als die Produktion von Kategorien, Diskursen und Vorstellungen, die den neuen Bedürfnissen adäquat sind oder – mit den Worten Brechts – »die sich durch ihre Nützlichkeit legitimieren, und der Nutzen soll bemessen werden an 17 | Brecht, 1988-2000, Bd. 18, S. 102. 18 | Ebd., S. 71. 19 | Ebd., S. 138. 20 | Ebd., Bd. 22.2, S. 751. 21 | Butler, 2009, S. 239. 22 | Foucault, 1992, S. 39. 23 | Brecht, 1988-2000, Bd. 18, S. 83. 24 | Ebd., Bd. 22.1, S. 226.

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der unsere gesellschaftliche Welt umändernden Kraft«25. Die Produktion des Neuen braucht Kritik – eine Kritik, die seine Objekte auflöst, um Elemente sammeln zu können, die für die Konstruktion weiterer Objekte nützlich sein können. Eine Kritik also, die wie die »alten Vandalen« vorgeht, welche – wie Brecht in einem Typoskript von 1929 erinnert – die Kulturgüter der Antike hauptsächlich als Material nahmen. Nicht darum geht es, neue Ansichten über etwas zu produzieren oder es mit Argumenten als Ganzes abzulehnen, schreibt Brecht; produktiver ist es, von einem kritisierbaren Gegenstand, anstatt ihn als Ganzes zu verwerfen, Teile zu entfremden und für neue Zwecke zu verwenden.26 Eine totale Kritik, die glaubt, die Voraussetzungen abstreifen zu können, die sie mit dem Kritisierten teilt, unterliegt einer fatalen Täuschung. Denn jede Kritik ist ja gezwungen, sich im Rahmen eines diskursiven und normativen Horizonts zu artikulieren, der schon da ist. Entscheidend ist aber, ob dieser Horizont als totaler Verblendungszusammenhang begriffen wird, der ganz zu verwerfen ist, oder als ein von vielfältigen Brüchen durchzogener Horizont, der die Möglichkeit offen hält, andere, in ihn selbst nicht integrierbare Erfahrungen zu machen. Kritik ist bei Brecht die Praxis, die an solchen Brüchen ansetzt, die die Grenzen des epistemologischen Horizontes selbst zutage bringt, innerhalb dessen sie sich bewegt. Dies bedeutet aber, dass sie immer eine epistemologisch wie politisch unsichere Position riskieren muss.

M assstäbe , M assnahmen , H andeln Kritik hat für Brecht aber nicht nur mit dem Erkennen der Erkenntnis oder deren Grenzen zu tun. Auch für ihn gilt, dass Kritik »keine Leidenschaft des Kopfes«, sondern »der Kopf der Leidenschaft« ist, »kein anatomisches Messer«, sondern »eine Waffe«, wie Marx in der Einleitung seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie geschrieben hatte.27 Marxs Worte lesen sich als Angriff auf die Reduktion des Kritikbegriffs auf Erkenntniskritik, die nach Kant stattfand.28 Marx und die Linkshegelianer wenden sich dagegen und verstehen Kritik als politische Praxis, ja als praktische, materielle Gewalt, die danach strebt, genau die Grenzen der jeweils historisch gegebenen Erkenntnis zu überschreiten. »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen«, schrieb Marx 1844, »allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«29 Wie ein Echo dieser Worte hört sich eine Notiz Brechts aus dem Anfang der dreißiger Jahre an: »die kritik ist so aufzufassen dass die politik ihre fortsetzung mit anderen mitteln wäre. die kritik schaelt keineswegs ewige gesetze heraus indem sie ihre hauptresultate erst jenseits von raum und zeit (historisch gesellschaftlichem geschehen) konstituiert«30. Kritik ist eine Waffe, die aber immer wieder neu umzubauen ist, die selbst immer wieder einer Kritik zu unterziehen ist. Die beste Art von Erkenntnis, lässt Brecht seinen Me-ti sagen – ist jene, »welche Schneebällen gleicht. Diese kön25 | Ebd., Bd. 21, S. 581. 26 | Vgl. ebd., Bd. 21, S. 289. 27 | Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Berlin 1976. Bd. 11, S. 380. 28 | Vgl. Foucault, 1992, S. 15-20. 29 | Marx/Engels, 1976, S. 385. 30 | Zitiert nach Wizisla, 2004, S. 128.

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nen gute Waffen sein, aber man kann sie nicht zu lange auf bewahren.«31 Wer, wie Me-ti, dialektisch denkt, der weiss, »daß es seltener gleiche Situationen gab, bei denen dasselbe Handeln richtig ist, als man angenommen oder als es früher gegeben hatte«32 . Durch Kritik – schreibt Brecht – kann man keine »ewigen Gesetze« aufspüren, auf deren Basis man sichere Urteile fällen könnte. Sie kann nur unsichere Ergebnisse mit beschränkter zeitlicher und räumlicher Gültigkeit zeitigen. Dies heißt aber nicht, dass die Behauptung eines Primats des Besonderen die obligate Schlussfolgerung ist. Wir bewegen uns hier vielmehr in dem Bereich einer kleinen Allgemeinheit, einer Allgemeinheit ohne Gewähr: Dies ist der epistemologische Status der Lehren in Brechts Lehrtheater. Was sie herbeiführen wollen, ist nicht die Befolgung einer Regel, sondern eine Destabilisierung, die normative Kriterien als autoritär und zugleich als ungesichert, als konjektural zeigt. In Brechts Maßnahme begründen die Agitatoren ihre Maßnahme »Einzig mit dem/Unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern«33. Die letzte Begründung ist ein Wille, der als solcher im Grunde nicht begründbar ist 34 und im Inneren des Diskurses eine Lücke zeigt, die ihn in seiner Unsicherheit entblößt. Für die Gewalt, die es ausübt, nennt das revolutionäre Sprechen eine Legitimation, die unbegründbar und ihm dennoch auf eine unbestimmte Weise als letztmögliche Begründung einleuchtet. So zeigt solches revolutionäre Sprechen nicht nur die Grenze des eigenen Wissens, sondern eine gewisse, mit dem eigenen Wissen unbegründbare Intelligibilität, die die Grenze des Diskurses – auch des eigenen – zumindest tendenziell überschreitet. Man könnte die Kritik, die solch ein Sprechen praktiziert, eine »kleine Kritik« in dem Sinne nennen, dass sie eine Distanz zur Autorität auch des eigenen Diskurses zeigt und zugleich nicht unverbindlich bleibt, nicht einfach in der Antithese oder in der Suspension von Sinn verharrt, was einer Hemmung des Handelns, also einer Lähmung der Möglichheit einer gesellschaftsverändernden Tätigkeit gleichkäme. Gerade der Übergang zum Handeln ist für Brecht die Grenze und der Sinn jeder Kritik. »Es ist da ein lustvoller Zweifel in mir«, sagt einmal der Philosoph in Der Messingkauf. Der Schauspieler begreift sogleich, worum es geht: »Ach, Kritik!«35 Kritik hat es wesentlich mit dem Zweifel zu tun – dem Zweifel, der bei Brecht keine Grenze kennt, außer einer. Sie wird in Me-ti genannt: »Gefragt, was denn den Zweifeln eine Grenze setze, sagte Do: Der Wunsch zu handeln.«36 Das Handeln ist zugleich die Grenze von Kritik und ihre Fortführung mit anderen Mitteln. Lustvoll ist der Zweifel, der die Kritik ist, weil er helfen kann, »in den Dingen Prozesse zu erkennen und zu benutzen«37, weil er also als Voraussetzung eines Handelns wirken kann, weil er helfen kann, Handeln zu ermöglichen, Handlungshemmungen abzubauen. Nicht nur Brecht verbindet damit die Möglichkeit der Lust und der Unlust. Diese erscheinen bei ihm – aber natürlich nicht nur bei 31 | Brecht, 1988-2000, Bd. 18, S. 90. 32 | Ebd., S. 160. 33 | Ebd., S. 124. 34 | Vg. Lehmann, Hans-Thies: »Lehrstück und Möglichkeitsraum«, in: ders., Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin 2002, S. 366-380, hier: S. 375f. 35 | Brecht, 1988-2000, Bd. 22.2, S. 781. 36 | Ebd., Bd. 18, S. 137. 37 | Ebd., S. 104.

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ihm – als letzte, unbewusste, uneinholbare Begründungs- und Beurteilungskriterien, weshalb auch das Thema und die Problematik der Kritik nicht nur der Bedürfnisse, sondern auch des Begehrens eine wichtige politische Dringlichkeit gewinnt. Begehren und Lust hängen bei Brecht insofern eng mit Kritik zusammen, weil diese letztendlich als eine Praxis aufgefasst wird, die den Spielraum subjektiv erlebter Handlungsmöglichkeiten erweitern hilft. Sie wirkt, indem sie mich erkennen lässt, dass ich etwas tun kann, das Wirkungen hat. Der Sprung von der Kritik zum Handeln ist aber ein mutiger und lustvoller Akt, weil er ohne normative Garantien geschieht und nicht zu begründen ist – außer mit einer Lust oder Unlust, die sich als blinde Quelle oder das Unbewusste jeder Kritik entpuppen und deshalb der Hauptgegenstand einer Kritik der Kritik sein sollten.

Kritisches Durchspielen Spiel und Kritik in Milo Raus Five Easy Pieces Patrick Primavesi

Das Theater Milo Raus ist unbequem, stört, produziert eher Kontroversen als Konsens. Das liegt vor allem daran, dass es die im konventionellen Theaterbetrieb gewohnte Abbildung von Wirklichkeit unterläuft und in Frage stellt. Im szenischen Umgang mit Dokumenten realer Fälle und Konflikte wird nicht eine bestimmte Interpretation vorweggenommen, die vom Publikum bloß noch zu beglaubigen wäre. Bei den von Rau und seinem International Institute for Political Murder (IIPM) gezeigten Produktionen erweisen sich theatrale Prozesse, in denen auch die Praxis des Dokumentierens verhandelt wird, als Experimente. In deren Ausgang werden die Zuschauer insofern mit einbezogen, als ihnen die Deutung des Falls weitgehend überlassen bleibt. Der Modus dieser Experimente ist – anders als beim Vorspielen dramatischer Werke – ein Durchspielen von Situationen. Damit geht es um die Erfahrung existentieller Krisen und um die krisenhafte Erfahrung der Unmöglichkeit, die Position eines überlegenen Urteils einzunehmen. Diese Erfahrung verbindet die unterschiedlichen, zwischen Dokumentation, Aktion und Spiel changierenden Inszenierungsformen, die Raus Theater prägen. Potentiale von Kritik werden dabei im Sinne einer praktischen Kritik ausgedehnt auf gesellschaftliche Konflikte und deren Bearbeitung, gleichzeitig aber als Repräsentationskritik im Spiel selbst realisiert. Hier wird am Beispiel der Five Easy Pieces (2016) untersucht, ob und inwieweit gerade die Arbeit an einem Theater mit Kindern eine kritische Praxis dazu bringen kann, sich als Spiel zu begreifen. Ausgangspunkt dafür sind Wechselverhältnisse von Kritik und Spiel sowie einige Aspekte des ›Durchspielens‹ bei Bertolt Brecht und Walter Benjamin. Damit geht es aber nicht bloß um die Bestätigung einer Genealogie (post-)moderner Theaterformen, eher um Echoräume einer Irritation: »In Five Easy Pieces habe ich das erkundet, was man früher ein Lehrstück nannte, ein didaktisches Stück. Auch wenn ich meine ganzen bisherigen Theatererfahrungen in den Wind schlagen musste, war es sehr interessant.«1

1 | Rau, Milo: Five Easy Pieces. Hg. v. Stefan Bläske. Berlin 2017, S. 96.

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S piel in der K ritik – K ritik im S piel In einem gängigen, zumal auf Theater angewandten Verständnis bedarf Spiel der Kritik im Sinne von Beurteilung und Rechtfertigung. Was dieser Auffassung noch zugrunde liegt, ist die von der Aufklärung geprägte Kontrolle, Funktionalisierung und Legitimation von Theater zu Zwecken der Bildung und Erziehung. Darüber hinaus führt aber bereits der Spielbegriff Friedrich Schillers, der ihn im Unterschied zum rationalen, auf Zwecke und Normen fixierten Urteil neu begründet hat. Vom elementaren, als Überschuss der Kräfte auch in der Natur wirksamen physischen Spiel grenzt Schiller das ästhetische Spiel ab, das seinen Zweck in sich selbst hat und das Schöne dennoch als ein über das Individuum hinausreichendes Ideal zu genießen vermag.2 Den gleichen Gedankengang verfolgt seine Apologie der Schaubühne als des gemeinschaftlichen Kanals, durch den sich Toleranz, Menschlichkeit und Sympathie auf alle Menschen ausbreiten könnten.3 Seiner Zweckfreiheit gemäß wäre das Spiel der moralisch wertenden Kritik entzogen, allenfalls nach ästhetischen Kategorien zu betrachten und zu beurteilen. Wie weit aber diese Freiheit tatsächlich reichen kann, zeigt sich erst, wenn auch das ästhetische Spielen – jenseits aller idealistischen Verklärung – als realer, körperlicher, mitunter grausamer und asozialer Prozess in den Blick kommt. Neuere Theorien des Spiels betonen ebenfalls den Aspekt eines zweckfrei probenden, von unmittelbaren Konsequenzen freien Handelns, das sich in anthropologischer Perspektive auch Strukturen wie Wettkampf, Zufall, Mimikry und Rausch zuordnen lässt und Momente von Verausgabung integriert.4 Schauspielen im engeren Sinne von Darstellung basiert auf dem Spiel mit literarischen Fiktionen und Rollen, während die Praktiken, die mit den Begriffen des Theatralen und des Performativen bezeichnet werden, darüber hinausreichen. Auch indem sie das Ästhetische immer wieder überschreiten, bleiben sie eine ständige Herausforderung von Kritik. Daraus resultiert schließlich eine Wechselwirkung von Spiel und Kritik, weshalb nach einem kritischen Potential des Spiels ebenso zu fragen ist wie nach der in Kritik enthaltenen Dimension von Spiel, auf die bereits Michel Foucaults Essay Was ist Kritik? verweist. Foucault geht davon aus, dass Kritik historisch zunächst ein Verfahren des Regierens und der Legitimierung von Macht war, erst in zweiter Linie ein Mittel, solche Legitimationen in Frage zu stellen, die Quellen selber zu befragen, eigene Interpretationen zu riskieren und sie denen entgegenzustellen, auf die sich staatliche Instanzen in ihrem Handeln beziehen. Das Projekt der Aufklärung bleibt seither auf Kritik angewiesen, und diese bedarf ihrerseits einer unablässigen Praxis der Infragestellung, die auch den Anspruch der eigenen Position betrifft. Die zentrale Frage einer dialektischen Kritik von Aufklärung, die das mögliche Um2 | Schiller, Friedrich: »Briefe über ästhetische Erziehung«, 27. Brief, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 5. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1989, S. 661-669, hier: S. 667f. 3 | Ders.: »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: ebd., S. 818831, hier: S. 828. 4 | Vgl. Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Übers. v. Sigrid von Massenbach. Frankfurt a.M. u.a. 1982; sowie Bataille, Georges: »Spiel und Ernst«, in: ders., Die Aufhebung der Ökonomie. Übers. v. Gerd Bergfleth. München 2001, S. 303-338.

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schlagen von Rationalisierung in eine »Raserei der Macht« zu erklären sucht,5 ist ja die nach einer strukturellen Beziehung von Wissen und Macht. Foucaults Analysen von Machtverhältnissen konnten dadurch produktiv werden, dass sie diese als »Spiel der vielfältigen Interaktionen und Strategien« begreifen, und nicht als etwas Starres, Fixiertes.6 Während Kritik im traditionellen Verständnis stets als sekundäre Operation erscheint, abhängig von ihrem jeweiligen Objekt sowie von einem »strengen Nützlichkeits-Anspruch« und »allgemeineren Imperativ« der Tugend,7 soll sie sich als Haltung und Kunst über die Bedingungen des Gegebenen hinwegsetzen. Dieses Moment von Überschreitung enthält auch Foucaults Formel, Kritik sei »die Kunst[,] nicht dermaßen regiert zu werden«, »nicht auf diese Weise und um diesen Preis«8. Die Tendenz, Gewissheiten in Frage zu stellen und immer noch von möglichen Alternativen auszugehen, verbindet Kritik als ein »Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte«9, mit einem Spiel, das eine weitgehende Unabhängigkeit von moralischen Prinzipien voraussetzt. Wenn also Kritik selbst als Spiel zu organisieren wäre, um das »Spiel der Macht« zu analysieren, dann bleibt Spielen auch als Medium politischen Handelns auf sein kritisches Potential hin zu befragen. Dieses liegt nicht nur in der Abbildung von Machtverhältnissen, sondern zugleich im Spiel selbst, im Ausprobieren und Verändern von Handlungs- und Verhaltensweisen. Daher ist das Spiel aber auch nicht beschränkt auf den Modus einer genau begrenzten Fiktionalität (›als ob‹), sondern wird selbst zu einem Medium der Konfrontation und Verhandlung unterschiedener Realitätsmodelle.

Z ur kritischen P r a xis des D urchspielens Das Potential einer kritischen, probenden und prüfenden Haltung zählt zu den wichtigsten Elementen, die schon in Brechts Reflexionen zum Spiel im Theater angelegt sind. Inwieweit auch die Theaterarbeit Milo Raus hieran anknüpft, soll ein kleiner Exkurs zu Brechts Idee eines kritischen Spielens zeigen. Seine Auffassung von Kritik ist darin besonders, dass er sie auf alle Aspekte von Theater ausgedehnt und zur Produktivkraft erhoben hat. Um 1940 galt sie ihm als »etwas ganz Elementares, unendlich Produktives, das Leben selber«10. So formuliert er das Ziel, eine »kritische Haltung in die Kunst einzuführen«, als eine »aktive, handelnde, positive Kritik«11. Was dem Zuschauer »eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden Vorgang […] verleihen« soll, sind die Techniken 5 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? (Vortrag v. 1978.) Übers. v. Walter Seitter. Berlin 1992, S. 24. 6 | Ebd., S. 40. 7 | Ebd., S. 9. 8 | Ebd., S. 12. 9 | Ebd., S. 15. 10 | Brecht, Bertolt: »[Vernunft und Kritik in der Kunst]«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.2. Hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin/ Frankfurt a.M. 1993, S. 676. 11 | Ders.: »Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt«, in: ebd., S. 641-659, hier: S. 657.

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der Verfremdung und Historisierung, der Gestus des Zeigens und vor allem ein Spiel, das »noch die anderen Möglichkeiten ahnen läßt«, im Sinne des Nicht – Sondern.12 Zur Vermittlung einer kritischen Haltung an den Zuschauer soll auch der Spielende eine solche Haltung einnehmen: »Er mußte Kritik üben können. Neben dem Handeln seiner Figur mußte sichtbar gemacht werden können ein anderes Handeln, so daß Handeln und eben Kritik möglich war.«13 Gegenüber einer bloßen Beurteilung des Spiels der Akteure sollte die vom epischen Theater angeregte Kritik auch der dargestellten Wirklichkeit gelten. Dazu dient vor allem Verfremdung, als Manifestation von Veränderbarkeit: »Eine solche Darstellungsweise ist kritisch und Kritik ermöglichend gegenüber den Vorgängen unter den Menschen.«14 Diese und viele weitere Überlegungen, mit denen Brecht für die Akteure ebenso wie für die Zuschauer des epischen Theaters eine kritische und zugleich künstlerische und damit eben auch spielende Haltung gefordert hat, gehen zurück auf seine Theorie der Lehrstücke. Die um 1930 im Kontext des Fatzer-Fragments skizzierte Idee der Großen Pädagogien zielte auf eine Praxis des kritischen Spiels, die Erziehung und Politik durch theatrales Handeln verknüpft: »indem die jungen leute im spiele taten vollbringen die ihrer eigenen betrachtung unterworfen sind werden sie für den staat erzogen.«15 In der Selbstbeobachtung liegt das pädagogische Interesse dieser Spielpraxis, außerhalb des konventionellen Bühnenbetriebs: »wenn einer am morgen einen verrat ausüben will, dann geht er am morgen in das pädagogium und spielt die szene durch, in der ein verrat ausgeübt wird.«16 Noch über die Lehr- und Lernstücke hinaus wäre dieses Durchspielen, in dem sich die Ausführung von Handlungen (wie Reden, Verrat, Essen etc.) mit ihrer Selbst-Beobachtung verbindet, eine Praxis der Übung. Während unter Spiel ein von äußeren Zwecken befreites, mehr oder weniger regelgeleitetes Handeln verstanden werden kann wie auch der Akt der schauspielerischen Darstellung einer Rolle, steht das Durchspielen dazwischen – als Ausprobieren einer Handlung oder eines Szenarios, das aber nicht so genau festgelegt ist wie ein dramatischer Text. Etwas durchspielen heißt einen Vorgang im Ablauf testen, ihn markieren, was zugleich bedeutet: etwas nur andeuten bzw. so tun, als ob man etwas spielt. Es handelt sich also um ein Spielen des Spiels, um die Fiktion einer Fiktion, mit einem gleichwohl erhöhten Realitätsgehalt. In diesem Sinne nähert sich der Begriff des Durchspielens auch der von Foucault beschriebenen Haltung einer praktischen Kritik, die ja ihrerseits den Aufstand nicht wirklich durchführt, sondern allenfalls probt. Was Brecht für die Pädagogien empfiehlt, ist ebenfalls ein spielerisches Ausprobieren. Dabei lässt er jedoch offen, was denn auf das Durchspielen folgen soll, ob also zum Beispiel derjenige, der im Pädagogium die Szene des Verrats durchspielt, diesen dann auch wirklich noch begeht, oder ob es beim Spielen des Ausübens bleibt, welcher Begriff ja selbst schon auf ein Üben und Proben verweist. Ebenso bleibt offen, ob einer, der die Szene des Essens durchspielt, das dann auch tut oder weiterhin hungert wie die 12 | Ebd., S. 643. 13 | Ders.: »Stanislawski [1]«, in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.1, S. 280. 14 | Ders.: »Episches Theater, Entfremdung«, in: ebd., S. 211. 15 | Ders., zit. n.: Brechts Modell der Lehrstücke. Hg. v. Reiner Steinweg. Frankfurt a.M. 1976, S. 71. 16 | Ebd., S. 72.

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im Fatzer-Fragment hinter der Front des Ersten Weltkriegs untergetauchten Deserteure. Der Hunger treibt sie in die Revolution, die Brecht nur scheitern lassen konnte. Im Durchspielen sollte dieser Versuch aber weiterhin getestet werden. Benjamin, der damals auch Brechts episches Theater genau analysierte, hat einen ähnlichen Modus des Durchspielens entworfen, in seinem »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, in dem Kinder nicht mehr nur Zuschauer, sondern selbst Akteure wären. Dabei soll, im Unterschied zu dem auf Sensation ausgerichteten bürgerlichen Theater, gerade im Modus des unablässigen Studiums ein Feuer entfacht werden, »in welchem Wirklichkeit und Spiel für Kinder sich verschmelzen, so eins werden, daß gespielte Leiden in echte, gespielte Prügel in wirkliche übergehen können«17. Bei einem derartigen Spielen, das von moralischen Einwirkungen durch Erwachsene frei bleiben soll, kommt es auf den Prozess des Übens als einer »Kollektivarbeit« an. Aufführungen wären dagegen eher ein Nebeneffekt, bei dem es jedoch »keinen möglichen Standort für überlegenes Publikum« geben soll. Der Beobachtung durch Erwachsene bleibt allenfalls, in den kindlichen Aktionen und Gesten »das geheime Signal des Kommenden«, der politischen Zukunft, zu erkennen.18 Wie aber verhält es sich mit der Praxis des kritischen Durchspielens in einer Gegenwart, die noch weniger als zu Brechts Zeiten ein »klassenloses gemeinwesen« kennt (in dessen Interesse das »neuartige institut ohne zuschauer«19 hätte liegen sollen)? Wo wäre ein Ausprobieren alltäglicher Handlungen und ihre Selbst-Beobachtung möglich? Denkbar bleibt Theater im Modus eines kritischen Durchspielens, das seine eigene Verwirklichung in Frage stellt und auch die Rahmenbedingungen der kontrollierenden Institutionen, bis hin zur umgebenden Gesellschaft, ihren Normen und Herrschaftsinstanzen.

(M it) K indern den P rozess machen Die Projekte des Schweizer Theatermachers Milo Rau reichen von Bühnenproduktionen über Performance-Installationen und Ausstellungen bis hin zu Filmen, deren Herstellung schon die Theaterarbeit begleitet, in der mit Kameras und Liveprojektionen eine mediale Rahmung und Perspektivierung vorgeführt wird.20 Dabei geht es immer wieder um das Durchspielen einer Struktur des Tribunals, der Verhandlung realer, historischer und gegenwärtiger Konflikte. Exemplarisch dafür sind The Murder of Ceaucescu und die Moskauer Prozesse, Hate Radio und das KongoTribunal, aber auch die Trilogie über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die anhaltenden Krisen Europas (The Civil Wars, The Dark Ages und Empire), worin die Arbeit mit professionellen Theaterschauspielern im Vordergrund steht. Die 2016 17 | Benjamin, Walter: »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, in: ders., Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. II-2. Frankfurt a.M. 1980, S. 763-769, hier: S. 765. 18 | Ebd., S. 769. 19 | Brecht, zit. n.: Brechts Modell der Lehrstücke. Hg. v. Reiner Steinweg. Frankfurt a.M. 1976, S. 54f. 20 | Zu Raus Theaterarbeit vgl. auch Bossart, Rolf (Hg.): Die Enthüllung des Realen. Berlin 2013.

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am Theater Campo in Gent entstandene Inszenierung Five Easy Pieces entwickelt diese Arbeitsweise weiter, steht aber zugleich im Kontext einiger früherer Produktionen, welche ebenfalls mit Kindern erarbeitet wurden, die vor Erwachsenen spielen. So entstand in Gent, anknüpfend an Inszenierungen von Alain Platel und Arne Sierens in den 1990er Jahren, eine Reihe von bisher fünf Produktionen mit Kindern: üBUNG von Josse de Pauw (2001), That Night Follows Day von Tim Etchells (2007), Before Your Very Eyes von Gob Squad (2011) sowie Next Day von Philippe Quesne (2014) und nun Five Easy Pieces von Milo Rau. Gemeinsam ist diesen fünf Arbeiten, dass hier jeweils Kinder und Jugendliche unter Leitung international bekannter Regisseure des zeitgenössischen Theaters deren spezifische und stets experimentelle Methoden und Ästhetiken ausprobiert haben.21 Man könnte auch sagen, sie haben diese – dem etablierten Kinder- und Jugendtheater zumal in Deutschland immer noch eher fremden – Methoden durchgespielt, sie einem Test unterzogen, dem jeweils auch das erwachsene Publikum ausgesetzt war. Schon in der ersten Arbeit, üBUNG von Josse de Pauw, war dieses Element greif bar in einer Versuchsanordnung, deren mediale Struktur an Brechts Lehrstück vom Lindbergh- bzw. Ozeanflug erinnerte, das in späteren Ausgaben »Radiolehrstück für Knaben und Mädchen« übertitelt war. In de Pauws üBUNG agierten Kinder vor der Projektion eines mit Schauspielern hergestellten Films über ein eskalierendes Fest, bei dem schließlich Freundschaften und Ehen zerbrechen. Die Kinder trugen die Kleider der Erwachsenen und sprachen deren Text, agierten aber frontal zum Publikum, so als ob sie die Szenen nur markieren würden. Diese Methode des Durchspielens der sozialen Konflikte, Haltungen und Redeweisen Erwachsener hat auch Milo Rau in seiner Arbeit angewandt. In Five Easy Pieces geht es wieder um das Verhalten von Erwachsenen und um kindliche Reaktionen darauf, gleichzeitig aber auch um das Theaterspielen als solches. Thema sind die an Kindern verübten Gewaltverbrechen von Marc Dutroux, dessen Fall zum Justizskandal wurde und 1996 zu einem Aufstand der belgischen Bevölkerung gegen ihre untätige und korrupte Regierung führte. Die Darstellung des Falls geschieht bei den Five Easy Pieces in jeweils exemplarischen Szenen: mit dem Vater von Marc Dutroux, mit einem Kriminalpolizisten, mit dem Bericht eines der Opfer im Kellerverlies, mit den verzweifelnden Eltern eines anderen entführten und später ermordeten Mädchens und schließlich mit einer Beerdigung. Auch hier werden einige mit Erwachsenen vorproduzierte Filmausschnitte von den Kindern nachgespielt und weitere Szenen von ihnen selbst in einem Set auf der Bühne gefilmt, die ebenfalls auf einer Leinwand oberhalb der Spielfläche zu sehen sind. Dieses von Rau auch in anderen Produktion eingesetzte Verfahren macht den Vorgang, dass Kinder Erwachsene spielen, offenkundig zum Thema. Die Szenen werden aber eher markiert, also gerade in dem Sinne durchgespielt, dass hier – von der Situation und dem Apparat der Filmaufnahme noch verstärkt – ein sich selbst reflektierendes Agieren geschieht. Dabei geht es weniger um eine Dokumentation des Falls Dutroux, vielmehr um das Verhalten von allen beteiligten Erwachsenen. Auch bei dieser Arbeit entsteht ein Tribunal, vor dem aber nicht Dutroux selbst auftritt, sondern nur die Kinder, die schon das Casting als Inbegriff der Logik des Theaters durchspielen, der sie unterworfen sind, die sie sich aber auch aneignen 21 | Vgl. dazu insgesamt Primavesi, Patrick/Deck, Jan (Hg.): Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld 2014.

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und verändern. Das können sie gerade deshalb mit einer größeren Freiheit als in den früheren Campo-Produktionen, da hier ein erwachsener Schauspieler mit ihnen gemeinsam auftritt, sie im Sinne einer professionellen Arbeitsbeziehung ernst nimmt und fordert. Peter Seynaeve spielt den Regisseur und Übungsleiter, der die Kinder aufruft und coacht, die Dreharbeiten der Szenen kontrolliert und das Interview mit Rachel führt, die er überzeugen muss, in der Rolle des eingesperrten Mädchens einen Teil ihrer Kleider auszuziehen, wodurch er selbst momentweise in die Position von Dutroux rückt. Die jedes Mal etwas anders ausfallende Verweigerung des Mädchens gilt natürlich auch dem Regisseur, den der Schauspieler hier ebenfalls vertritt, wie er schon in den Proben eine übersetzende und vermittelnde Position einnahm, die seine Integration in das Stück nahelegte. Diese Szene veranschaulicht am deutlichsten die Paradoxien und zugleich die Qualität der Inszenierung: Der offen ausgeübte Nachdruck des Schauspielers, der Rachel zuvor schon gefragt hatte, ob sie ihn auf der Bühne küssen würde, scheint die Gewalt Dutroux’ zu reproduzieren.22 Und die Reaktion, mit der sie beide Ansinnen (zunächst) zurückweist, gibt ihr scheinbar einen Handlungsspielraum, den die realen Opfer nicht hatten. Insofern läge die Aufführung ganz im Rahmen einer Strategie zeitgenössischer Theaterproduktionen mit dem Anliegen, gerade denjenigen, die sonst keine Stimme haben, Gelegenheit zu einem authentischen Protest zu geben, das sonst vorherrschende »Unvernehmen« zu durchbrechen.23 Wäre damit aber schon der Moment erreicht, in dem das Spiel auch Kritik ist, da es sich der Autorität und ihren Anweisungen entzieht? Das aus Erwachsenen bestehende Publikum hätte es so jedenfalls leichter, die schockierende Thematik durch die Mechanik des stellvertretenden Rollenspiels mit emotionalem Gerührtsein (durch das ›Opfer‹) und Abscheu (gegen den ›Täter‹) zu bewältigen und sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen. Zu diesem Zeitpunkt hat die Inszenierung ihr eigenes Vorgehen jedoch längst zur Diskussion gestellt und sowohl die Wirkungsmechanismen des Theaters offengelegt (Polly: »Ein Schauspieler spielt nicht für sich selbst. Er spielt für das Publikum«) als auch die dafür nötige Disziplinierung durch die Autorität des Erwachsenen, der die Kinder bei ihrem Spiel anleitet und kritisiert. Offenkundig ist es zum Vergnügen der Zuschauer, dass die Aufführung eben keine spieltherapeutische Talkshow veranstaltet, sondern die Kinder in die Rolle der Opfer bringt und ihnen zugleich die Mittel professionellen Schauspielens an die Hand gibt. Dass es hierbei noch um etwas anderes geht als um das Emanzipationsversprechen des etablierten und seit den 1970er Jahren sich per se für ›kritisch‹ haltenden Kinder- und Jugendtheaters, hat Rau nicht nur in seinen Kommentaren zu der Produktion unterstrichen, sondern durch die Inszenierung demonstriert. Kritisch wird die Aufführung nicht dadurch, dass sie (wie gewohnt) einem jungen Publikum durch erwachsene Schauspieler korrekte Klischees von Kindlichkeit anbietet, oder dadurch, dass sie erwachsenen Zuschauern mit Kindern ein authentisches Sprechen der sonst von der Praxis Ausgeschlossenen vorgaukelt. Erst indem das Bühnenregime sein Funktionieren offenlegt und den Kindern ermöglicht, bei diesem Regime bewusst ›mitzuspielen‹, neben ihren Rollen auch ihr Spielen als 22 | Für die Aufführungen in München durfte Rachel sich nur teilweise ausziehen. Vgl. Rau, 2017, S. 88. 23 | Vgl. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Übers. v. Richard Steurer. Frankfurt a.M. 2002.

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solches vorzuführen, erweist sich das Spiel der Inszenierung als kritische Praxis. Dass die Kinder durch den erwachsenen Schauspieler kritisiert werden, wenn sie ›Fehler‹ machen, und dass sie ihrerseits dem Schauspieler als Regisseur und Gewalttäter kritisch begegnen, ist nur die Voraussetzung dafür, dass auch in den Zuschauern eine kritische Haltung aufkommen kann, die sie auf sich selbst und ihr eigenes Verhalten als Erwachsene zurückweist. So erreicht die Aufführung den von Brecht geforderten Punkt, an welchem Kritik auf beiden Seiten des Theaters so in Gang kommen soll, dass sie auch die Wirklichkeit betrifft und nicht (als bloß ästhetische Kritik) nur das Spiel. Der von Foucault aufgezeigte Weg zu einer solchen Wirksamkeit von Kritik erfordert jedoch, wie zumal Judith Butler gezeigt hat,24 dass sich das Subjekt als solches aufs Spiel setzt. Dies gilt auch für das Spiel der Kinder mit den Rollen der Erwachsenen. Kritik an ihnen als ihren potentiell auch gewalttätigen Beschützern (Eltern, Polizist, Coach, Regisseur etc.) können sie nur üben, indem sie deren von ihnen selbst gespielte Rollen in Frage stellen, somit aber auch das eigene Spielen. Exemplarisch demonstrieren die Kinder in Raus Inszenierung den von Foucault analysierten Prozess, dass sich das Subjekt im Moment seiner Formierung bereits den daran beteiligten und zu einem Teil seiner selbst gewordenen Normen widersetzen muss, um zu einer kritischen Haltung zu gelangen. Dieser Prozess der Selbstkritik hat aber zugleich Auswirkungen auf die überwiegend erwachsenen Zuschauer. Lassen sie sich auf das Spiel ein und identifizieren sich mit den agierenden Kindern oder auch mit den von ihnen gespielten Erwachsenen, so wird diese emotional naheliegende Identifikation selbst zum Problem, das ihre moralischen Überzeugungen ebenso erschüttern kann wie die vermeintlich gewisse und überlegene Position des Urteils über den Gewaltverbrecher Dutroux, den sie schließlich als einen ihresgleichen anerkennen müssen. Das Durchspielen verschiedener, ineinandergreifender Verhaltensweisen betrifft also zugleich die im Fall Dutroux beteiligten Erwachsenen und das Theater, als Maschine der Repräsentation für mehr oder weniger pädophile Voyeure. Das Experiment besteht vor allem darin, dass auch das Skandalöse des Spiels und seiner Betrachtung verhandelt wird. Dabei geht es weniger um eine Repräsentation der Realität als um die Realität der Repräsentation.25 So können die Betrachter ihrerseits eine Spaltung ihrer Realität durchzuspielen beginnen. Vermieden wird damit der Kardinalfehler traditioneller Auffassungen von politischem Theater, Zuschauer ausgerechnet durch einen (stets verborgenen) Akt der Bevormundung aktivieren und zu einem kritischen Bewusstsein erziehen zu wollen. Demgegenüber entfalten die Five Easy Pieces Ansätze zu einer kritischen Praxis, in der die Idee von Pädagogien für ein alltägliches Theater an die Stelle einer Instrumentalisierung des Spiels treten könnte, die gerade in politisch bewusster Theaterarbeit immer noch vorherrscht. Im kritischen Durchspielen, das zugleich ein Durchspielen von Kritik ist, wird auch die pädagogische Kontrolle aufs Spiel gesetzt. Was Rau für sich selbst als Erfahrung bei dieser Produktion beschrieben hat, die »blanke Kindlichkeit des Theaters«26, könnte auch bedeuten, dass sich das Spielvermögen der Kinder der 24 | Vgl. Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/ Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246. 25 | Vgl. dazu Rau, Milo/Bossart, Rolf: Wiederholung und Ekstase. Zürich 2017, S. 107. 26 | Ebd., S. 53.

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Inszenierung womöglich entzieht. So werden die Gewalttaten des Kindermörders Dutroux als Thema des Abends zu einer Folie, deren Effekte auch die Autorität von Rau als Regisseur betreffen, der seine Kontrolle nur bedingt abzugeben bereit ist. In diesem Konflikt spiegelt sich, was den Fall Dutroux besonders erschreckend macht: der eher tabuisierte Umstand, dass die Beziehung des Gewalttäters zu seinen Opfern so wie das Verhalten der Eltern, der Polizei, der Medien und der Öffentlichkeit selbst schon von Strategien der Inszenierung und des theatralen Spiels strukturiert war. Die Aufführung macht deutlich, wie die eingesperrten Mädchen sich auf die Inszenierung von Dutroux’ einlassen mussten, der ihnen vorspielte, ihre Eltern wüssten um ihre Entführung und würden die Briefe lesen, die er sie zu schreiben ermunterte. Gezeigt wird auch, wie die Polizei trotz ihrer völligen Ahnungslosigkeit der Bevölkerung vorspielte, die Kontrolle über Recht und Ordnung aufrechterhalten zu können, und wie die Eltern versuchen mussten, ohne jedes Wissen um den Ausgang des Geschehens, ihre Rollen weiterzuspielen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Als Zeugen wohnen die Zuschauer einem Prozess bei, in dem Kinder vorgeführt werden – aber nicht etwa bloß als Opfer/Zeugen mit ihren Aussagen über Dutroux, sondern auch mit ihrem Potential, sich in dessen Vater, die Polizisten, die Eltern und noch dazu in historische Figuren einzufühlen, denen die Aufführung ihre für die Geschichte Belgiens wie für den Fall Dutroux prägende kontextuelle Bedeutung wiedergibt: den belgischen König und den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba. Dass dieser bald nach seiner Rede zur Unabhängigkeitserklärung des Kongo entführt und ermordet wurde, bildet den szenischen Ausgangspunkt des Abends, die Integration der Praxis des politischen Reenactments ins Kindertheater. Tatsächlich war der Vater von Dutroux zu jenem Zeitpunkt im Kongo und kehrte nach der Unabhängigkeitserklärung nach Belgien zurück, als Marc bereits drei Jahre alt und die Familie wegen gegenseitiger Untreue der Eltern schon zerfallen war: »Das Video-Bild [mit der nachgestellten Rede Lumumbas] geht aus. Pepijn und Polly fesseln und knebeln Ella Liza auf der Bühne. Dann tritt Winne als König vor und erschießt sie mit drei Schüssen aus einem Revolver.«27 Die als einzige Farbige unter den Akteuren zum Opfer prädestinierte Ella Liza wird später, am Ende des Stückes, darum bitten, bei der von den Kindern gewünschten Exekution des Königs das Lied Stay von Rihanna zu singen: »Es fallen drei Schüsse. Winne ›stirbt‹ und bleibt für den Rest des Abends liegen, Elle Liza hört auf zu singen.« 28 All dies ist Teil des Tribunals, das die Inszenierung in Gang setzt. Indem sie damit spielt, nicht nur mit Kindern den Prozess zu machen (die Geschichte der Gewaltverbrechen von Dutroux zu verhandeln), sondern auch den Kindern den Prozess (der Darstellung) zu machen, obwohl sie am wenigsten Schuld haben, wird das Verhältnis von Gewalt, Spiel und Kritik dem Publikum überantwortet. Nach vielen internationalen Gastspielen (und einigen Aufführungsverboten) ist festzustellen, dass sich die Kinder als Akteure weiter professionalisiert haben, die jeweiligen Länder und ihre Behörden sich aber mit der Einsicht, (wie) Belgien zu sein, schwertun. Dass Theater den Spielraum kritischer Praxis nutzen kann, Konflikte nicht nur zu interpretieren, sondern durchzuspielen, ist keineswegs selbstverständlich. 27 | Rau, 2017, S. 31. 28 | Ebd., S. 54.

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Kritisches Leben: Schlingensiefs Selbstsorge Jasmin Degeling

S chlingensiefs K rebstagebücher : A uf zeichnungstechniken des L ebendigen Christoph Schlingensiefs Tagebuch einer Krebserkrankung – so der Untertitel der 2009 in Buchform publizierten ersten autobiographischen Aufzeichnungstechniken – geht es »nicht um ein besonderes Schicksal, sondern um eines unter Millionen«1; wie zur Bestätigung haben sich in den letzten Jahren die Veröffentlichungen von autobiographischen Krankengeschichten bemerkenswert gehäuft. Sie bilden ein Archiv zeitgenössischer Bemühungen der »Sorge um sich«2 und dokumentieren die aus der Perspektive des/der Erkrankten prekäre Erfahrung der eigenen Lebendigkeit. Schlingensiefs diaristische Aufzeichnungen sind mittels eines Tonaufnahmegeräts entstanden und erst später transkribiert und redigiert worden. Es handelt sich also um eine Technik, die es ermöglicht, in konkreten Situationen – vom Krankenbett aus, in einem Restaurant, in einer Arztpraxis, am Grab des Vaters – mit sich selbst ins Gespräch zu treten und so das Gefüge von Gedanken und Affekten, Geschichten und Erinnerungen, Beziehungen und Diskursen mitteilbar zu machen. Auf diese Weise entstehen episodische, relativ lineare, da chronologisch datierte Aufzeichnungen der eigenen Gedanken. Ihr Zweck ist die Therapeutik des Denkens und eine Sorge um sich. Sie dienen, so formuliert es Schlingensief, der Angstbewältigung, der Bewältigung von Sprachlosigkeit und dem Autonomiegewinn.3 Schlingensiefs Sprachlosigkeit, so stellt sich im Verlauf heraus, hat spezifische Gründe: Sie ist zunächst eine Schockreaktion auf die Diagnose Lungenkrebs. Die Worte fehlen in Bezug auf einen Körper, der als der eigene erscheint, dessen organische Aktivität sich aber offenbar gegen sich selbst richtet. Selbsterhalt ist plötzlich keine biologische Selbstverständlichkeit mehr: »Dieses vorsichtige, langsame Gehen hat mir gezeigt, wie sehr ich auf meinen eigenen Erhalt bedacht bin. Das 1 | Schlingensief, Christoph: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. München 2010, S. 9. 2 | Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a.M. 2002; Foucault, Michel: Subjektivität und Wahrheit. Vorlesung am Collège de France 19801981. Frankfurt a.M. 2016; Balke, Friedrich: »Selbstsorge/Selbsttechnologie«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008, S. 286-291. 3 | Vgl. Schlingensief, 2010, S. 9.

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sagt mir ja diese kleine Schmerzensnummer: Christoph, kümmere dich um dich selbst!«4 Die Selbstsorgepraxis sucht umzugehen mit der eigenen Lebendigkeit, die als Fremdheit erfahren wird: So formuliert es auch das erste große künstlerische Projekt Schlingensiefs nach der Krebsdiagnose, Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), in welcher der lebende Künstler einen Trauergottesdienst für sich als »Noch-nicht-Verstorbenen« inszeniert. An Schlingensiefs Techniken des Über-sich-selbst-Schreibens sind daher therapeutische Aspekte interessant: Diese Tagebücher dokumentieren eine mediale Praxis, die sich um eine Gesundheit des Denkens bemüht, und sie stehen in enger Beziehung zu den ästhetischen Arbeiten, die Schlingensief gleichzeitig entwickelt. Ich möchte die letzten zehn Tage wirklich nicht missen. Das hört sich vielleicht komisch an, aber die haben mit ihren Höhen und Tiefen mehr geklärt als alles zuvor. Wobei interessant ist, dass die Fragen »Warum ich?« oder »Was soll das?«, diese Fragen nach dem Spirituellen sich mir bisher nicht gestellt haben. Es kommt mir eher wie ein Umdenken vor. Und diese Aufzeichnungen sollen meine Gedanken jetzt erst einmal sammeln. Wobei nicht wichtig ist, wann welcher Befund kam. Das finde ich uninteressant. […] Mir scheint es eher wichtig, in mein Diktiergerät vor allem Gedanken zu sprechen, die mir gekommen sind. Quält der Gedanke dich, dann denk ihn weg. 5 [Herv. J. D.] Das sind so Gedankenfetzen, die in meinem Kopf zurzeit rumkreisen. Ich kann das auch nicht besser beschreiben, es ändert sich jeden Tag. 6

Diese Ausschnitte aus Schlingensiefs Tagebuch einer Krebserkrankung stammen aus den ersten beiden Einträgen vom 15. und vom 16. Januar 2008. Der zweite Eintrag ist zweigeteilt: Schlingensief hat je eine Aufnahme vor der entscheidenden Untersuchung und nach dieser gemacht. Die Untersuchung ergab die wahrscheinliche Diagnose, dass sich ein Tumor in der Lunge befindet. Dabei probiert das Tagebuch einer Krebserkrankung im Medium der Selbstaufzeichnungen eine Reihe von verschiedenen Selbsttechniken: Versucht Schlingensief zu Beginn etwa, »Gedanken wegzudenken«, wird das selbst einige Wochen später als eine leere Abstraktion kritisiert: »Denk ihn weg – wie denn, was denn, wohin denn?« 7 Stattdessen geht es wieder um die Mitteilbarkeit der Konkretionen des Denkens und damit auf die sich jeweils einrichtenden Bilder, Vorstellungen und Geschichten. Über-sich-selbstSchreiben wird so zu einer Form der Selbst-Dokumentation, die eine Praxis der Subjektivierung übt. Zeitgleich zur sich entwickelnden autobiographischen Praxis entstehen künstlerische Arbeiten Schlingensiefs. Diese sind, entgegen dem, was man bei einem Tagebuch erwartet, nicht nur einfach Gegenstand der Einträge. Vielmehr wird das Tagebuch Gegenstand der ästhetischen Arbeiten: So übernimmt Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir das Diaristische als dramaturgisches Element und verbindet es mit liturgischen Elementen eines Trauergottesdienstes. Umgekehrt sind christliche Riten und (Selbst-)Techniken Teil der diaristischen Praxis, indem 4 | Ebd., S. 36. 5 | Ebd., S. 14f. 6 | Ebd., S. 20. 7 | Ebd., S. 239.

Kritisches Leben: Schlingensiefs Selbstsorge

Schlingensief die Praxis des Sprechens ins Tonbandgerät als Medium der Beichte, des Gebets oder, allgemeiner, der Reinigung ausprobiert: Gestern Nacht habe ich noch gebetet. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht. Wobei mir vor allem dieses leise Sprechen, das Flüstern mit den Händen vor dem Gesicht, gutgetan hat, so wie nach dem Empfang der Hostie, wenn man bei sich ist und den eigenen Atem hört und spürt. Ich habe mir selbst zugehört […]. 8

In diesem Sinn handelt es sich um Selbsttechniken im Foucault’schen Sinn: Es sind Techniken, die es dem Einzelnen ermöglichen, […] eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit, oder der Unsterblichkeit erlangt. 9

Schlingensiefs Selbsttechniken probieren in der Folge verschiedene mediale Formen aus. So beginnt das Tagebuchprojekt als »Protokoll einer Selbstbefragung« (Klappentext). Parallel entsteht ein Weblog.10 Eine zweite Buchveröffentlichung versammelt diverse Formen autobiographischer Schriften, Fotos, Dokumente.11 Sie arbeitet viel stärker einer Künstlerbiographie zu durch die tendenzielle Parallelisierung von Werkgenese und Lebenslauf. Die künstlerischen Arbeiten probieren zunehmend autobiographische Praktiken der Selbst-Dokumentation aus, wie die Theaterarbeit Mea Culpa – Eine ReadyMadeOper (2009), deren Titel lose übersetzt im Titel der zweiten autobiographischen Buchveröffentlichung Ich weiß, ich war’s wiederkehrt, und die letzte Arbeit Via Intolleranza II (2010), die wiederum ein ganzes Archiv autobiographischer Praktiken zusammenträgt12 und dieses verbindet mit einer Reflexion von Schlingensiefs Versuch, in »Afrika« das Theater als Heilsanstalt wiederzubegründen. Denn gerade der Wunsch, dass Kunst (wieder) heilen könne, steht in Beziehung zu Schlingensiefs Krankheit und jenen Praktiken, die eine gewisse Änderung der Existenzweise versuchen. So wird das Theater zunehmend von einer kathartischen Reinigung und Transformation her entworfen, die sich in ästhetischen und dramaturgischen Einrichtungen ebenso artikuliert wie im Projekt, das sogenannte Operndorf in Burkina Faso zu gründen, als einen Ort avantgardistischer Kunst, als »Soziale Plastik« nämlich, die das Leben selbst als Kunst sichtbar mache.13

8 | Ebd., S. 18. 9 | Foucault, Michel: »Technologien des selbst«, in: ders., Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a.M. 2002, S. 287-317, hier: S. 289. 10 | www.peter-deutschmark.de/schlingenblog/ vom 14. März 2018. 11 | Vgl. auch Schlingensief, Christoph: Ich weiß, ich war’s. Hg. v. Aino Laberenz. Köln 2012. 12 | Dieses Archiv findet man im Programmheft zur Inszenierung: http://mea-culpa.at/09_ docs/mea_culpa_programmheft.pdf vom 13. März 2018. 13 | Vgl. Schlingensief, 2012, S. 175.

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K ritischer V italismus Das letzte autobiographische Dokument ist nur zwei Wochen vor dem frühen Tod Schlingensiefs am 7. August 2010 in dessen Weblog unter dem Titel Die Bilder verschwinden automatisch und übermalen sich so oder so – Erinnern heißt: Vergessen. (Da können wir ruhig auch mal schlafen!) erschienen: Wie lange war es still… lange stiill. stoße jetzt nach ca. 3 wochen auf das letzte video hier. habe ich gleich gelöscht. wen soll das das interessieren? vielleicht sind solche vidoeblogs oder einträgen nur dann von intererrägen, wenn die angst zu gross wird. die angst, weil diese kleine illussion von — aber nun nach den knapp 4 wochen scheint es anderes zu sein. die bilder (ixen) sich aus… da ist ja kein sentimentaler schmerz. die bausupsanz ist erstaunlich gut… und nun? wieder ein neues bild? wieder infos zu neuen dingen, die ,…… ja eigentlich was ?…. alles sehr oberflächlich und rechtschreibefehler häufen sich die dinge …. das baut läufz seit tmc auf. der appetetit läßt rasant nach. – ARD- TATORTREKA7 …(warum werde ich icht nicht denn nicht wenigstes einer meiner halbwegs siution normalererenen situatuin aufgeklärt. so macht es mich nur traurig, piasch und14

Technische Eigenheiten des Digitalen – die fehlerhafte Einbettung von Videos und Bildern im Blog – reflektiert dieser Eintrag als fehlerhafte Sprache und fortschreitenden Vorgang des Vergessens: »Die Bilder (ixen) sich aus« kann gleichzeitig als Referenz darauf gelesen werden, dass die technische Beschaffenheit das Internet eben gerade vergänglich werden lässt, wie auf die Vergänglichkeit des Selbst und der Selbstbilder. Dieser letzte Eintrag aus dem Internettagebuch ist ein Dokument der Materialität nicht nur der Sprache – ihrer Buchstaben, Worte und Sätze, die sich hier nicht mehr ganz kohärent zusammensetzen und deren Zusammensetzung im Schreiben ein Vorgang ist, der nicht mehr recht gelingt –, sondern auch des Denkens, all seiner Überlagerungen, Inkonsistenzen, seiner Bildhaftigkeit, lichten und dunklen Momente. Hier wird konkret, dass Denken, Worte-Finden und Unterhalten eines Sprechens lebendige Prozesse sind, und zwar nicht im metaphorischen Sinn: Die Aufzeichnungen sind Techniken der Teilhabe an lebendigen Prozessen. An dieser Stelle dokumentiert die Aufzeichnung das Prekärwerden der Artikulationsmöglichkeiten und mithin die Prekarität der Erfahrung der eigenen Lebendigkeit. Es ist doch die Krebskrankheit, die Entdeckung des Fremden in mir als einer Krankheit, in der sich die Aktivität des Lebendigen als ein sich selbst langsam als Sterben erweisender Prozess zeigt, die die Selbsttherapeutik Schlingensiefs auslöst. Denn die Dringlichkeit, diesen Prozess zu befragen, steht am Beginn der Aufzeichnungspraktiken und durchquert sodann die Tagebücher wie die Art und Weise, wie autobiographische Materialien in szenischen Arbeiten collagiert und überblendet werden. Die ersten Aufzeichnungen, mit denen die Tagebücher beginnen, gelten einem bildgebenden Verfahren, genannt PET (Positronen-Emissions-Tomographie), das mittels der Injektion einer schwach radioaktiven Substanz Tumorzellen sichtbar machen kann. Allerdings wäre die Sichtbarkeit von Tumorzellen ein Effekt des schneller durch den Organismus verarbeiteten, mitinjizierten Traubenzuckers und 14 | SCHLINGENBLOG, siehe www.peter-deutschmark.de/schlingenblog/ vom 5. Aug. 2016.

Kritisches Leben: Schlingensiefs Selbstsorge

kann deshalb mittels der Bilder nicht unterschieden werden von einem Entzündungsherd. Der erste Eintrag galt also dieser Ambiguität der Bilder und mithin der medizinischen Diagnostik, die an ebenjenem Datum die Unsicherheit der Erkenntnis des gesundheitlichen Zustands des Patienten Schlingensief bedingte. Durch ein CT am folgenden Tag konnte, wie das Tagebuch dokumentiert, die Krebsdiagnose dann bestätigt werden. Schlingensief setzt die Ambiguität der Bilder des PET in ein direktes Verhältnis zu einem ästhetischen Problem, einem Darstellungsproblem: Ist merkwürdig, weil ich schon immer mit Bildern zu tun hatte, eigentlich in Bildern lebe. Aber es gibt eben Bilder, die haben keine Eindeutigkeit, in so einem Bild befinde ich mich zurzeit. Und ich habe das schließlich immer gemocht, dass es Bilder gibt, die nicht eindeutig sind, die aus Überblendungen bestehen […].15

Schlingensief assoziiert schon zu Beginn des Tagebuchprojektes das Problem der Diagnostik, also der Bestimmbarkeit des Zustands, mit der Frage nach dem ästhetischen Status der Bilder. Der Krise des Zustands folgt eine Krise der Subjektivierung. Medizinische Therapeutik und Selbstsorge sind fortan nicht voneinander zu lösen. Die Aufnahme autobiographischer Aufzeichnungspraxis bei Schlingensief wird also gerade durch jene Unbestimmbarkeit, Unerkennbarkeit des Lebendigen motiviert. Diese Unbestimmbarkeit ist das Resultat der Bilder, Vorstellungen und Erkenntnispraktiken. Sie erscheint hier als ein Problem zwischen dem, was man leichthin das Leben nennt, wenn man das biographische Leben des Einzelnen meint, und dem Lebendigen  als einer Aktivität der Fortsetzung oder Erhaltung, die immer schon bedroht ist durch eine mögliche Pathologie, einen Irrtum, eine Unterbrechung oder eben vom Tod. Das sogenannte Leben erweist sich eben als unhaltbarer Zustand. Es ist jene irreduzible Spannung, die Frédéric Worms daher zum Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffs des Vitalen macht im Sinne eines »Kritischen Vitalismus«: Was am Leben, an den Lebewesen und zwischen den Lebewesen irreduzibel erscheint, ist nicht etwa das Leben als allgemeiner Fixpunkt, sondern eine Reihe von Differenzen und Widerständen, von Veränderungen und Beziehungen. [Das Leben] wird uns immer als geteilt und gespalten erscheinen: Zwischen dem Vitalen und dem Mortalen, […] zwischen den Lebewesen, und ihrer Ausdifferenzierung, zwischen Macht und Sorge, Kritik der Macht und Ausweitung der Sorge. Denn es gibt keine Substanz und keinen einfachen Wert jenseits dieser Differenzen und Beziehungen.16

Das Konzept eines »Kritischen Vitalismus«, auf das sich Worms hier bezieht, ist von Georges Canguilhem im Kontext der französischen Historischen Epistemologie der Lebenswissenschaften entwickelt worden17 und hat entscheidenden Einfluss gehabt auf Michel Foucaults Schriften, insbesondere auf dessen Begriff der »Bio-

15 | Schlingensief, 2010, S. 13. 16 | Worms, Frédéric: Über Leben. Berlin 2013, S. 9f. 17 | Canguilhem, Georges: Die Erkenntnis des Lebens. Berlin 2009; Canguilhem, Georges: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt a.M. 1979.

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politik«18. Foucault hat in einer Einleitung zur englischen Ausgabe von Canguilhems Das Normale und das Pathologische 19 pointiert, was mit der Frage nach den Möglichkeiten der Erkenntnis des Lebendigen auf dem Spiel steht, denn immerhin sind diejenigen, die eine solche Erkenntnis anstrengen, immer selbst schon Lebewesen.20 Canguilhem hat in seiner Analyse der Geschichte des Lebens und der Wissenschaften vom Leben ein besonderes Augenmerk auf die Anomalien und Pathologien gelegt. Denn, so stellte dann auch Foucault fest, »[l]etztlich ist das Leben – daher sein radikaler Charakter – dasjenige, was irren kann«21. Mittels Pathologien also wie Krebserkrankungen, in denen sich die Aktivität des Lebendigen selbst als Sterben des Lebewesens erweist, äußert sich diese Radikalität. Ausgerechnet aber die Erkenntnis des Lebens stellt eine besondere Herausforderung an die Subjekte der Erkenntnis, mithin Lebewesen: Denn selbstverständlich handelt es sich um eine Geschichte voller Irrtümer, die die Versuche zu bestimmen, was der Gegenstand sei, der sich zeigt durch Krankheit, Tod, Monstrosität, Anomalie22 mitteilt. Seit dem von Foucault in Die Ordnung der Dinge diagnostizierten »epistemischen Bruch« um 1800, der »das Leben« zum Erkenntnisobjekt gemacht hat,23 kennzeichnet das Lebendige also eine »epistemologische Unzuverlässigkeit«, die, so Maria Muhle im Anschluss an Canguilhem und Foucault, die Herausbildung neuer Begriffe erfordert,24 eine lebendige Praxis der Formation von Begriffen und Verständnisweisen des Lebens also. Foucaults Formulierung: »Begriffe zu bilden ist eine Weise zu leben«25, verweist darauf, dass an der Frage nach dem Leben spezifisch ist, dass ihr Erkenntnisdiskurs selbst als ein lebendiger begriffen werden muss. Schlingensiefs ästhetische Arbeit wie autobiographische Selbstsorgepraxis wären in diesem Sinn eine Arbeit an der Mitteilbarkeit des Lebendigen, deren Voraussetzung ist, dass das eigene »Leben« vollkommen unsicher, jedenfalls die Erfahrung eines Irrtums ist. Die Inszenierung Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir ist beispielhaft für Schlingensiefs ästhetischen Umgang mit dem eigenen kritischen Zustand: Als Anordnung, die dramaturgisch die serielle Form des Tagebuchs mit der Liturgie eines katholischen Trauergottesdienstes überblendet, sucht Schlingensiefs Selbsttherapeutik sich in Beziehung zu setzen zu einer Neubefragung der Geschichte moderner Heilsvorstellungen und den Konzepten therapeutischer Kunst der Avantgarden. An einer Stelle, am Übergang zur Trauerfeier, komponiert die Inszenierung musikalische wie szenische Zitate des berühmten Erlösungs18 | Muhle, Maria: Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem. Bielefeld 2008. 19 | Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische. Berlin 2013. 20 | Vgl. Foucault, Michel: »Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft«, in: Der Tod des Menschen im Denken des Lebens. Georges Canguilhem über Michel Foucault, Michel Foucault über Georges Canguilhem. Hg. v. Marcelo Marques. Tübingen 1988, S. 52-72, hier: S. 67. 21 | Ebd., S. 69. 22 | Vgl. ebd., S. 65. 23 | Muhle, Maria: »Formen und Formierungen des Lebendigen«, in: Maria Muhle/Christiane Voss (Hg.), Black Box Leben. Berlin 2017, S. 301-312, hier: S. 301. 24 | Ebd., S. 305. 25 | Foucault, 1988, S. 68.

Kritisches Leben: Schlingensiefs Selbstsorge

motivs aus dem letzten Teil von Wagners Parsifal, der »Erlöse den Erlöser« überschrieben ist, mit filmischen Zitaten, die unentscheidbar machen, ob wir es mit einem heidnischen Ritual oder einer Fluxus-Performance zu tun haben. Dieser paradigmatische Komplex kunstreligiöser Erlösungsgeschichte wird sodann überblendet  mit Bildern eines verwesenden Hasen. Es handelt sich um einen Kurzfilm,26 der bereits für die Bayreuther Parsifal-Inszenierung (2005) entstand. Man sieht, wie aus dem verwesenden Fleisch neues Leben, nämlich Larven werden. Jener im Zeitraffer verwesende Hase verweist nicht nur auf Joseph Beuys, von welchem das Leitmotiv des Abends stammt, nämlich: »Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt«27. Vielmehr hat Alexander Kluge darauf hingewiesen, dass sich das Filmprojekt um den verwesenden Hasen als ein barockes Experiment lesen lässt. Dabei kann die kulturelle Gemengelage, mit der die Mehrdeutigkeit der Motivgeschichte des Hasen zusammenhängt, ganz hilflos machen. Denn der Hase taucht in der heidnischen wie jüdischen wie christlichen, in mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen und sodann in modernen Kontexten auf, sodass selbst »Turnvater« Jahn, so Alexander Kluge, schon bemerkt habe, dass die Dimension der Fruchtbarkeitssymbolik kollidiert mit der Bedeutung des Hasen als Opfersymbol.28 Einfach gesagt: Mittels des Hasen wird uns erklärt, dass wir nicht wissen, ob wir es mit Erlösung, Leiden und Opfer oder mit der Aktivität des Lebendigen als unendlicher Vermehrung, Fortsetzung zu tun haben. In der szenischen Anordnung gewinnt sodann aus diesen Bildern des Lebendigen eine Balletttänzerin Gestalt; sie dreht Pirouetten auf der Landschaft des lebendigen wie sterbenden Fleisches und führt überdies die Geschichte des disziplinierten Körpers, seines modernen Ästhetizismus ein. Somit haben wir es mit einem Komplex von Bildern des Lebendigen zu tun, eben einer solchen Konfiguration und Komposition von Geschichten, Darstellungsweisen, Topoi und Wissensformationen, die eine irreduzible Ambiguität in die Erkenntnismodi des Lebendigen einführen. An jenem dramaturgischen Übergang der Inszenierung zum Trauergottesdienst überlagern sich zeitlich wie räumlich unweigerlich Bilder des Lebendigen als unbestimmte. Schlingensiefs kritischer Zustand, fragil und prekär, teilt tatsächlich und nicht nur metaphorisch unablässig, und zwar als eine Pathologie des Lebendigen, als irrtümliche Aktivität eines sich selbst zersetzenden Lebens. Hier sind keine scharfen Bilder des Lebendigen, keine klaren Begriffe, keine stabilen Positionen denkbar. Schlingensiefs Selbstsorgepraktiken wie seine künstlerische Kritik ästhetischer Heilsprogramme in der Auseinandersetzung etwa mit Wagner und Beuys kann man als Dokumentationen jener Erfahrung des Lebewesens verstehen, für die das Leben »Auseinandersetzung mit einer Umwelt voller undichter Stellen, Löcher, Ausweichmanöver

26 | Hasenverwesung (2005), siehe: www.peter-deutschmark.com/works/film/hasenverwe​ sung.php vom 14. März 2018. 27 | www.kirche-der-angst.de/presse/schlingensief_programm.pdf vom 14. März 2018. 28 | Kluge, Alexander: »Die vollständige Fassung eines barocken Einfalls von Christoph Schlingensief«, in: Susanne Gaensheimer (Hg.), Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011. 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln 2011, S. 243-246.

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und unerwarteter Widerstände«29 ist, auf die es stößt, wenn es von sich selbst Rechenschaft abzulegen versucht.30

V om W unsch , das The ater (wieder) als H eilsanstalt zu begründen »Wurzelt der Wert des Lebens […] nicht im Wissen um die eigene wesenhafte Prekarität?«31, fragte Canguilhem im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des Wunsches nach Überleben und Unsterblichkeit, »der dem Menschen mancher Kulturen eigentümlich ist«32 . Schlingensiefs Wunsch zu überleben artikulierte sich zuletzt mittels des Projekts, ein sogenanntes »Operndorf« in Afrika und somit das Theater als Heilsanstalt zu gründen. In den zweieinhalb Jahren der Krebserkrankung erweisen sich die verschiedenen autobiographischen Materialien – Tagebücher, Weblog, Texte und Videos, die szenisch montiert werden, Interviews und öffentliche Kommentare – als Medien der Selbstsorge sowie als Frage nach Heilung, die sich als gleichsam ästhetisches wie vitales Problem stellt. Schlingensiefs eigenes Interesse an den modernen Programmen ästhetischer Therapeutik – von Wagners spätromantischer Kunstreligion über die (Neo-)Avantgarden des 20. Jahrhunderts – ist gerade deswegen unter der Perspektive der Begriffe und Darstellungsweisen des Lebendigen zu fassen, weil das sogenannte »Operndorf Afrika« nicht zuletzt unter der Überschrift »Kunst kann heilen«33 gegründet und mit einem avantgardistischen Programm eines Theaters verbunden wird, an dem »sich Leben und Kunst durchdringen«34. Die Kritik der hier angezeigten Verbindung von Ästhetik und Therapeutik wäre noch zu leisten und kann die Frage nach dem spezifischen Begriff des »Lebens« zum produktiven Ausgangspunkt nehmen. Schlingensiefs Sorgepraxis jedenfalls verknüpft sich seit der Aufnahme der autobiographischen Aufzeichnungen mit dem Wunsch, die Verfallsgeschichte des europäischen Theaters zu heilen: Bei aller Kritik an der Idee, »Bayreuth nach Afrika [zu] tragen«35, verbindet sich doch die problematische Erfahrung der Krankheit mit dem Problem ästhetischer Heilung. Schon der erste Eintrag verzeichnet, dass Schlingensief am Grab seines Vaters unter einem Himmel, der plötzlich »rot wie Brokatstoff« wurde, verspricht, »eine Kirche, eine Schule, ein Krankenhaus und ein Theater, ein Opernhaus, in Afrika« zu bauen, um »nicht in diesen Pessismismus«, diese »schwarze Energie« zu »rutschen«, die den Vater in der Krankheit vor dessen Tod beherrscht habe.36 Schlingensiefs Selbstsorge verknüpft sich mit den ersten Theaterprojekten nach der Krebsdiagnose bis 29 | Canguilhem, 2013, S. 208. 30 | Ebke, Thomas: »Prismatische Brechungen und epistemologische Mimesis. Philosophie und Geschichte der Wissenschaften vom Leben nach Georges Canguilhem«, in: Georges Canguilhem, Regulation und Leben. Berlin 2017, S. 7-67, hier: S. 60. 31 | Canguilhem, Georges: Regulation und Leben. Berlin 2017, S. 120. 32 | Ebd., S. 119f. 33 | Schlingensief, 2012, S. 249. 34 | Ebd., S. 179. 35 | Ebd., S. 164. 36 | Schlingensief, 2010, S. 17.

Kritisches Leben: Schlingensiefs Selbstsorge

zum frühen Tod durch die Krankheit mit einer gleichsam archäologischen Frage nach den Möglichkeiten ästhetischer Therapeutik. Das Opernhaus in Afrika solle den »vollgefressenen europäischen Kulturkämpfer[n]« wieder lernen lassen, was diese seit dem griechischen Theater, das »verbunden war mit der Genesung des Menschen«, vergessen haben:37 Das »Operndorf« wird, unversehens, zum biographischen Telos Schlingensiefs, in dessen Konzept kunstreligiöse Heilsprogramme als geschichtliche Erlösungsversprechen wiederkehren – wie es Via Intolleranza II selbst kritisch reflektiert. Gleichzeitig, und völlig unabhängig davon, wird im »Operndorf« seither stetig und konsequent eine Schule und eine Krankenstation aufgebaut, aber kein Theater.

37 | Schlingensief, 2012, S. 165.

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affekt*argument*a*tivität Überlegungen zur Verschmelzung von Argument und Affekt in theatraler Kritik Matthias Naumann Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.1

Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse bedeutet ausgehend von diesem Zitat von Karl Marx eine Öffnung oder ein Auf brechen derselben auf die Zukunft hin. Kritik kann also nicht in der Vergangenheit oder Gegenwart verhaftet bleiben, sondern braucht Zukunft als eine ihrer Perspektiven, wenn nicht gar als ihre maßgebliche Perspektive, tritt sie als ›rücksichtslose Kritik‹ auf. Dem Theater, gerade im Stadttheater- oder Repertoirebetrieb, könnte man hingegen häufig eine Vergangenheitsorientierung vorwerfen, in der Fokussierung auf das dem Publikum bereits Bekannte, ›Klassiker‹, und in der mangelnden Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stoffen, und erfolgt eine solche, dann doch oftmals in einer Weise, die sich vielleicht um eine Kritik des Vergangenen oder Gegenwärtigen bemüht, aber ein Denken von Zukunft vermissen lässt. Es fragt sich allerdings, ob »die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden« nicht zunächst daran ansetzt oder ansetzen muss, überhaupt bewusst zu machen, was denn besteht, um es anschließend oder zugleich zu kritisieren. Bewusst zu machen, was denn besteht, kann im Theater durchaus als eine Behauptung, eine Geste der Fiktion, des Erzählens funktionieren, die nicht einfach in der äußeren Wirklichkeit (auch) Bestehendes wiederholt, sondern anderes durch kritische Zuspitzung hervorholt. Die dokumentarische Ausstellung eines irgendwo Recherchierten, womöglich gar durch die Recherchierten selbst als Darstellung ihrer ›selbst‹ und die damit verbundene legitimatorische Darbietung von ›Authentizität‹, kann eine Vorführung und vielleicht gar Bewusstmachung von Bestehendem sein, ist aber nicht notwendig auch dessen Kritik. Kritik im Theater muss mehr hervorholen 1 | Karl Marx an Arnold Ruge [Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«], Kreuznach, September 1843, in: ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 1. Berlin (Ost) 1981, S. 343-346, hier: S. 344.

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als wiederholen, mehr herstellen als darstellen, und dafür braucht und verwendet sie auf unterschiedliche Weise Affektstrukturen, zumal auch ethisch-politische Affektstrukturen, und nicht ›nur‹ Argumente, wie sich vielleicht annehmen ließe, wenn von Kritik die Rede ist. Zu untersuchen wäre also, wie Affektstrukturen als Moment der Kritik im Vorgang des Kritisierens adressiert werden, also die gestische Verschmelzung von Argument und Affekt in Affektargumentativität. Im Theater mag der Anspruch an den Anteil des Affektiven in der Effektivierung eines kritischen, politischen Arguments besonders stark sein, um gerade nicht der ›sachlichen‹ Berichterstattung des Journalistischen oder Wissenschaftlichen, auch im dokumentarischen Theater nicht, zu verfallen. Im Grunde geht dieses Verständnis von Kritik, das ihre gestische Verschmelzung von Argument und Affekt in den Fokus rückt, von der Wirksamkeit politischer Emotionen 2 im soziopolitischen Diskurs bzw. in der Begehrensstruktur politischer Forderungen, ihrer Verkettungen und Hegemonialisierungen aus, wie Ernesto Laclau sie beschreibt.3 Kritik hat den Anspruch, das Gegenwärtige zu durchbrechen, die bestehenden Verhältnisse in neue Denkbarkeiten aufzubrechen – in diesem Sinne ließe sich Hans-Thies Lehmanns Definition des Politischen im postdramatischen Theater als Vorgang der Unterbrechung, des Aussetzens4 als Beschreibung eines kritischen Vorgangs verstehen. Kritik diente dann als Eröffnung eines Spalts des bisher nicht Gedachten aufgrund einer affektiven Wahrnehmung, wo zugleich erst zu finden wäre, was auf dem Nichtgrund dieses Spalts sich denken ließe. Dies anzubieten, muss aber nicht Aufgabe der Kritik sein, ihre Stärke mag vielleicht hingegen gerade dort liegen, insbesondere in der Kunst, wo sie nicht ›konstruktiv‹ ist, also ungezähmt bleibt durch den Anspruch, gleich noch Alternativen, Lösungen, Positivismen mitzuliefern, vielmehr vehement sein kann. Gerade die Eröffnung dieses Spalts ohne ein sofortiges (beruhigendes) Angebot seiner Füllung lässt sich als eine Perspektive auf Zukunft verstehen, die Zukunft nicht als lineare Fortsetzung von Vergangenheit und Gegenwart, als errechenbare Weiterbewegung des Bekannten versteht, sondern als Raum der Kontingenzen, die sich verzweigen, dass also die gesellschaftlichen Verhältnisse auch vielfältig anders sein können. Um diese allgemeinen Überlegungen einerseits konkreter zu machen, was sie andererseits begrenzter machen wird, möchte ich einen Blick auf den kritischen Einsatz von Affektstrukturen im politischen israelischen Theater werfen. Sicher ließe sich diese Untersuchung auf die eine oder andere Art auch an zahlreichen anderen Aufführungen, u.a. des deutschsprachigen Gegenwartstheaters, vornehmen, doch erscheint es mir sinnvoll, den Blick auf im deutschen theaterwissenschaftlichen Diskurs unbekannte Arbeiten zu lenken. Es ließe sich dabei argumentieren, dass die Frage der Affektargumentativität besonders im israelischen politischen Theater, das sich mit Fragen des Krieges auseinandersetzt – die in Israel aufgrund der politischen Verhältnisse immer auch Fragen der kollektiven Existenz und ihrer Gestaltung sind –, bedeutsam ist. Gerade im Kriegsdiskurs wird mithilfe kollektiver Affizierungen argumentiert, und Kriegstheater macht einen Teil des Kriegs2 | Vgl. grundlegend Nussbaum, Martha: Politische Emotionen. Aus d. Amerik. v. Ilse Utz. Berlin 2016. 3 | Laclau, Ernesto: On Populist Reason. London/New York 2005. 4 | Lehmann, Hans-Thies: »Wie politisch ist postdramatisches Theater?«, in: ders., Das Politische Schreiben. Berlin 2002, S. 11-21.

af fekt*argument*a*tivität

diskurses aus.5 Dabei verhandelt dieser in Israel allerdings nicht eine Kriegsbeteiligung in geographischer oder zeitlicher Ferne, sondern bezieht sich auf die nahe Gegenwart und ihre mögliche Öffnung im obigen Sinne auf Zukunft hin. Diese beispielhafte Untersuchung soll wiederum an drei Beispielen erfolgen, die in Israel als bedeutende Theateraufführungen rezipiert wurden, einmal Yehu von Gilad Evron (UA 1992) und zum anderen Mord (UA 1997) sowie Das Kind träumt (UA 1993) von Hanoch Levin. In allen dreien geht es um ein affektargumentatives Verhältnis zu politischer Gewalt.

V err at Die Kritik an der israelischen Politik der militärischen Besatzung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung funktioniert in dem 1992 in der Regie von Hanan Snir uraufgeführten Stück Yehu (‫ )יהוא‬durch den Affekt der Zuschreibung von Verrat. Eva Horn bezeichnet Verrat als »Signatur des Politischen im 20. Jahrhundert«6. Es gebe »einen Diskurs der Moderne, der den Verrat als omnipräsente Figur zeichnet, an der sich der Zustand des Politischen symptomatisch zeigt« 7. Dabei erweist sich ›Verrat‹ als eine Figur der Lektüre. Lesbar wird eine Handlung als ›Verrat‹ nur vor dem Hintergrund eines ›Referenztexts‹ des ›richtigen Verhaltens‹, nur vor dem Hintergrund einer Erwartungshaltung, wodurch die Zuschreibung von Verrat zumeist affektive Haltungen adressiert.8 Diesen Referenztext schreiben die hegemoniale Struktur einer politischen Gemeinschaft sowie ihr hegemoniales Wissen davon, wie die Gesellschaft sei, in der sie agiert, wie diese Gesellschaft sein solle und wie man sich deshalb zu verhalten habe, um die politischen Ziele zu erreichen. Das politische Wissen, das den Referenztext schreibt, ist – fast möchte man sagen: natürlich – ein umkämpftes, ein von der Machtstellung, der Hegemonie einzelner Positionen innerhalb der politischen Gemeinschaft geprägtes, das sich in der Zeit, mit den sich verändernden Handlungen und Ansprüchen der politischen Gemeinschaft und der ihr Zugehörigen umschreibt, neu schreibt, überschreibt. Insbesondere geht es bei der Zuschreibung von Verrat um die Zugehörigkeit von einzelnen Personen bzw. Handlungen zu einer politischen Gemeinschaft und ihrer Politik, ihrer Ethik. Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft lässt sich dabei einerseits juridisch fassen, im politischen Diskurs über Zugehörigkeit und der damit verbundenen Figur des Verrats erscheint Zugehörigkeit jedoch vor allem als emotional aufgeladene Konstruktion. Die (De-)Konstruktion von Zugehörigkeit, eines ›wir‹, erfolgt vor allem über Affektargumente.

5 | Vgl. dazu Naumann, Matthias: »›Weit vom Schuß‹. Politische und Darstellungsfragen im Verhältnis von Krieg und Theater«, in: ders./Florian Thamer (Hg.), Krieg (= Mülheimer Fatzerbücher 4). Berlin 2016, S. 65-81. 6 | Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion. Frankfurt a.M. 2007, S. 9. 7 | Ebd., S. 71. 8 | Vgl. dazu auch Naumann, Matthias: »Der Moment Fatzer. Kriegsdiskurs und Theater, Gemeinschaft und Verrat«, in: Alexander Karschnia/Michael Wehren (Hg.), Kommando Johann Fatzer (= Mülheimer Fatzerbücher 1). Berlin 2012, S. 51-61.

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Verrat an sich gibt es nicht. Verrat stellt sich nur als Lektüre einer politischen Handlung ein. Die betrachtete politische Handlung oder Artikulation wird gegen den ›Referenztext‹ gelesen, im Bewusstsein der hegemonialen Struktur der politischen Gemeinschaft, um die es geht, und ihres Wissens über ihre Handlungsnot und ihr Handlungspotential in der Gesellschaft, in der sie agiert. Gelesen wird in der Handlung eine Bedrohung. Eine Bedrohung kann nicht mit ›uns‹ sein. Wenn der oder die nun Bedrohende aber eigentlich doch zu ›uns‹ gehört, dann ist die Handlung Verrat. In dem, was affektiv als Verrat aufgeladen wird, wird zugleich konstituiert, welches Verhalten Zugehörigkeit beweist, also ›richtig‹ sei. Nur kurze Zeit nach dem Ende der Ersten Intifada griffen Gilad Evron und Hanan Snir mit Yehu9 auf eine biblische Erzählung (2 Kön 9-10) zurück, um grundlegende Fragen an die Gegenwart des israelisch-palästinensischen Konflikts und an ethisches Handeln im Krieg zu stellen. Die Erfahrung des Aufstands, insbesondere der Gewalt des israelischen Militärs gegen Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten, hatte im israelischen Diskurs die Bereitschaft zu Friedensverhandlungen wachsen lassen, wie sie dann in den 1990er Jahren folgen sollten. Interessanterweise erlebte das Stück 2015 eine Neuinszenierung durch Ilan Ronen an der Habima, was in der kleinen israelischen Theaterlandschaft nicht vielen Stücken widerfährt. Wie andere künstlerische und nichtkünstlerische Artikulationen im israelischen Kriegsdiskurs zielt Yehu auf die hegemonialen Fiktionen der Gesellschaft, genauer auf das Bild des Krieges, also darauf, wie die gesellschaftlich legitimierte Verletzung und Tötung menschlicher Körper in Bilder des Krieges gefasst wird, was wiederum entscheidend für das ›Verletzungsvermögen‹ (an den Feind*innen) und die ›Verletzungstoleranz‹ (der eigenen Verluste) einer Gesellschaft im Krieg und damit für ihre Fähigkeit zur und Art der Kriegsführung ist.10 Yehu beginnt damit, dass die gleichnamige Hauptfigur, der Offizier Yehu, beschuldigt wird, er habe zwanzig Dorf bewohner*innen in den Bergen von Gil’ad ermordet und ihre Leichen geschändet. Indem der Kriegsminister Azgad und der Oberste Minister Zif die Tat zum Gegenstand einer Anklage machen, markieren sie diese Tat als irregulär. Doch Yehu verteidigt sich damit, dass es habe getan werden müssen, um Angst unter den Dorf bewohner*innen zu erzeugen und so die Berge zu befrieden, wie es der König gewünscht habe. Er erklärt, er habe nur verwirklicht, was in der Luft lag. Während sich Azgad von dieser ›atmosphärischen‹ Begründung distanziert, verlagert Zif das Argument der Anklage umgehend von dem Vorwurf, Yehu habe Mord begangen, darauf, er habe keinen Befehl für sein Handeln gehabt. Plötzlich steht nicht mehr das Verhältnis von Mitteln und Zielen im Krieg zur Debatte, sondern das scheinbar einfache von Hierarchie und Gehorsam. Für die Beurteilung militärischen Handelns eröffnet dies allerdings einen Abgrund. Indirekt wird hier von Zif die fragwürdige Konstruktion eines ›Befehlsnotstands‹ legitimiert: Denn hätte Yehu einen Befehl für sein Massaker gehabt, wäre, so scheint es zumindest, aus Zifs Sicht alles gut.11 9 | Yehu, UA: Habima, Tel Aviv 1992, Text: Gilad Evron, Regie: Hanan Snir. 10 | Vgl. Scarry, Elaine: The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World. New York/ Oxford 1985, bes. S. 81-91. 11 | Dem Code of Ethics der Israel Defence Forces zufolge sollte es nicht möglich sein, sich auf einen Befehl zu berufen, der eindeutig Illegales zum Ziel hat; hier zeigt sich ein durch die Armee sanktioniertes Recht auf Befehlsverweigerung: »IDF soldiers will be meticulous

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Zif denkt, er könne Yehu gebrauchen, der Gewalt ohne ethische Begrenzungen ausagiert. Irrtümlicherweise meint er, er könne Yehu nicht nur erziehen, sondern auch kontrollieren. Mit seinen Händen scheint er ihn auf der Bühne in Bewegung zu setzen, seine Bewegungen anzuleiten, wie einen Roboter des Krieges, als wäre Yehu Zifs Kreatur, die entsprechend der Vorlieben ihres Meisters lernte, sich zu bewegen und zu sprechen, das Knie zu beugen und von Blumen zu reden, wie dieser es tut. Azgad hingegen versteht nicht, warum man Yehu brauche, denn er sieht ihn als Verräter der ethischen Grundlagen ›unserer‹ Gemeinschaft, da er die Dorf bewohner*innen ermordete. Und Yehu wird sowohl den König als auch die Minister verraten, sie alle ausschalten, bis die an keine Gesetzesgrenzen gebundene Gewalt das ganze Königreich ergriffen hat. Wie in vielen israelischen Kriegstheaterstücken erscheint auch in Yehu der äußere Feind nur am Rande der Handlung, doch markiert er in diesem Fall einen wesentlichen Ort, an dem sich die gewaltsame Formierung staatlicher Macht zeigt. Wie mit dem (äußeren) Feind zu verfahren sei – und damit die Frage nach den ethischen Begrenzungen des Raums möglicher politischer und militärischer Handlungen –, bildet das Zentrum des Stücks. Zif akzeptiert eine die Grenzen des Legalen überschreitende Gewalt, er akzeptiert die Existenz eines schwarzen Lochs der Legalität in den Bergen von Gil’ad als konstitutionellen Teil der Macht und Existenz des Staates. Er verrät die Idee einer modernen (demokratischen) Gesellschaft, die die Legitimität von Gewalt als Mittel zur Erreichung politischer Ziele in Frage stellen und dazu tendieren würde, ihren Einsatz zu begrenzen. In seiner Entscheidung, Yehu zu begnadigen, zu entschuld(ig)en, löst er potentiell die Begrenzungen eines (akzeptierten) Gebrauchs von Gewalt auf, hin zu einem Mittel ohne Zweck. Zugleich lässt die Verhandlung der Tat vor Zif und Azgad zu Beginn des Stücks Yehu in zwei ineinander verwobenen Rollen erscheinen: als Verräter ›unserer‹ Politik und Ethik oder als Held ›unseres‹ Krieges, den zu gewinnen er half. Die Figuren des Verräters und des Helden erscheinen als Möglichkeiten, dieselbe Geschichte zu erzählen; als mit gegensätzlichen Affekten versehene Zuschreibungen an dieselben Handlungen. Indem er ihn nicht als Verräter verurteilt und ihn nicht hinrichtet, heftet Zif Yehu die mögliche Position des Helden an, ihm so den Weg zur Krone weisend, den er mit aller Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit gehen wird, die seiner Art der Kriegführung inhärent ist. Das Stück lässt sich als Warnung vor der ungeregelten Anwendung militärischer Gewalt und ihrer Legitimierung sehen, welche im Rahmen einer Ethik politisch-militärischen Handelns, die als für die hier verhandelte israelische Gesellschaft hegemonial und gültig gesetzt wird, als Verrat an dieser Ethik zu lesen ist. Es geht nicht nur um die Argumente, warum es nicht gut sein mag, zwanzig Dorf bewohner*innen zu ermorden, sondern um die affektive Frage der Zugehörigkeit zu einer ethischen Gemeinschaft, die dies gar nicht mehr diskutieren muss, sondern auf solche Taten mit Abscheu, also Affekt reagiert. Die Warnung vor solchem militärischen Handeln funktioniert als Herstellen eines politischen Affektarguments der Kritik. in giving only lawful orders, and shall refrain from obeying blatantly illegal orders« (www. idfblog.com/about-the-idf/idf-code-of-ethics/, Zugriff am 2. Okt. 2017). Inwiefern dies praktische Auswirkungen hat, kann hier nicht untersucht werden.

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Kritik bedient sich in Yehu der Figur des Verrats und funktioniert so über das bewusstmachende Behaupten eines Wertesystems, einer politisch-militärischen Ethik, die als Bekenntnisgrund zugleich Zugehörigkeit bestimmt. Zugehörigkeit ist also selbst affektiv aufgeladen; so, wie etwas als Verrat an ›unserem‹ Verhalten zu lesen, eine affektargumentative Form der Kritik darstellt. Den Begriff der Kritik verbindet Theodor W. Adorno mit dem der Mündigkeit als Voraussetzung von Demokratie: Mit der Voraussetzung von Demokratie, Mündigkeit, gehört Kritik zusammen. Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt.12

Kritik an Yehus Handeln im Bild des Verrats ist hier also einerseits auch ein affektargumentativer Vorgang des Entscheidens über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, andererseits zielt dieses politische Theater in seiner Form der Entscheidung zur Kritik auf einen demokratisch mündigen, d.h. kritischen Umgang mit militärischer Gewalt als einer massiven ethischen Herausforderung für eine demokratische Gesellschaft. Zugleich weist die in Yehu hergestellte theatrale Kritik als eine, die Zugehörigkeit (neu) zu konstruieren vermag, darauf, dass die Formen der Konstitution von Zugehörigkeit und der sie bestimmenden Grundlagen einer politischen Gemeinschaft kontingent sind, zukunftsoffen. Welche Zukunft welcher politischen Gemeinschaft Gegenwart werden wird, liegt an den Abzweigungen, die im hier militärisch-politischen Handeln eingeschlagen werden.

W arum Kritik an einem Handeln, so könnte man meinen, muss nach den Gründen dieses Handelns fragen, mit dem Handeln die Gründe kritisieren, um über andere Haltungen zu anderen Handlungen zu gelangen. Es könnte also um das Warum gehen. Viele Stücke des vielleicht bedeutendsten israelischen Dramatikers und Regisseurs Hanoch Levin adressieren Fragen der Gewalt, dabei zeigend, dass diese Gewalt zumeist ohne einen Grund in Argumenten ist, während sich zugleich ein Grund in Lust und Affekten offenbaren mag. Oder die Stücke vollziehen ein Aussetzen von Begründungszusammenhängen von Gewalt, also dessen, was sie auf die eine oder andere Art argumentativ legitimieren könnte. Dieses Aussetzen erfolgt affektargumentativ. Es zielt mit seiner Kritik auf den affektgeleiteten Vollzug von Gewalt, der seinen Grund in sich selbst hat und damit Gewalt anders politisch, nicht als Instrument politischer Strategien zur Erreichung ihr äußerlicher Ziele denkt. 12 | Adorno, Theodor W.: »Kritik«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Frankfurt a.M. 1977, S. 785-793, hier: S. 785.

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In Mord (‫ )רצח‬aus dem Jahr 1997 heißt es zur Frage »Warum?«, welche die Braut im zweiten Teil stellt, nachdem bei der Hochzeit am Strand der vorbeikommende Vater eines jungen Arabers, der im ersten Teil ermordet wurde, erst ihren Bräutigam ermordet und dann sie vergewaltigt, Folgendes: DER VATER. Warum starrst du mich weiter an? Warum schreist du nicht? Warum stehst du nicht auf und rennst weg? (Die Braut bleibt auf dem Rücken liegen und heult stumm.) Du brichst mir das Herz, mein Mädchen. Mein Junge. Meine Kinder. (Er richtet den Revolver auf ihr Gesicht. Sie flüstert, beinahe ohnmächtig.) DIE BRAUT. Warum? … Warum? … DER VATER. »Warum«. Schon längst ließen wir die Frage »Warum« hinter uns. Die Frage »Warum« braucht schon nicht mehr gestellt zu werden. Die Frage »Warum« gehört zu anderen Zeiten. (Er schießt ihr ins Gesicht und geht ab. Das Mädchen kommt herein, sie ist auf dem Rückweg zum Ort der Feier. Sie stößt auf die beiden Leichen, schaut sie mit offenem Mund an, rennt hinaus, kehrt mit dem Vater des Bräutigams und anderen Gästen zurück.) VATER DES BRÄUTIGAMS. Was … was … was … Wie! … Wie! … Ich glaube nicht, was meine Augen sehen! Ich verdaue das nicht! Was … was … was … Was meine Augen sehen, ist nicht wahr!13

»Warum« – das Auffinden von Handlungsgründen weicht der Feststellung dessen, was geschieht oder geschehen ist – »Was« – das in seinem Geschehen auch ohne »Warum« schon unbegreiflich genug ist – »Wie«. Die Überwältigung der Gefühle angesichts der Gewalt setzt die Möglichkeit des Warum aus, verweist es in »andere Zeiten«. Das Aussetzen eines »Warum« der dennoch oder ohnehin geschehenden Gewalt wiederholt sich in Mord auf unterschiedlichen thematischen und strukturellen Ebenen. Die Wiederholungsstruktur des Stücks selbst, in dem ein Bote wie eine transzendente Macht erst den Frieden, später wieder den Krieg verkündet und in dem in jedem Teil bei einem Ausbruch der Gewalt Menschen getötet werden, aus einer Steigerung in das Tötenkönnen, aus der Lust daran, formt das Verhalten und die Wiederbegegnungen der Figuren so immer mehr ins Groteske. Diese Wiederholungsstruktur hat Wojtek Klemm in der deutschen Erstaufführung am Schau13 | Levin, Hanoch: Mord. Bühnenmanuskript. Aus d. Hebr. v. Matthias Naumann. München 2015, S. 19-20.

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spiel Stuttgart 2015 in eine szenische Form der sich immer weiter verdichtenden Wiederholung gesteigert, welche das Stück aus drei Akten und einem Epilog durchspielt und dann noch zweimal wiederholt, mit sich zwischen den Spieler*innen vertauschenden Rollen, mit immer bruchstückhafteren und verkürzten Dialogen, so dass nur der groteske Tanz der sich wiederholenden Gewalt als beschleunigte Erfahrung eines affektiven Zugriffs bleibt. Einer argumentativen Kritik, die noch abzuwägen vermöchte, wann oder warum Gewalt gerechtfertigt sein könnte und wann nicht, ist diese Struktur nicht mehr zugänglich. Sie spielt affektargumentativ auf die Notwendigkeit eines Aussetzens von Gewalt, erst dann lässt sich über den Konflikt wieder sprechen, vielleicht argumentieren. Klemm hat damit die Vehemenz der Kritik des Stücks in ihrem theatralen Potential einer Affektargumentativität gelesen und stark gemacht. Als eine wiederkehrende Grundstruktur in Levins Theater lässt sich eine Dramaturgie der Drohung beschreiben, einer immer wiederkehrenden Kommunikationsfigur gewaltsamen Handelns.14 Eine Figur erfährt durch eine andere eine Drohung, die sich durch ein so oder anders geartetes Verhalten abwenden ließe. In der Hoffnung auf eine Aufhebung der Drohung kommt es zu einer temporären Aussetzung derselben, die sich zugleich als temporäres Versprechen lesen lässt, bis schließlich die zumeist unausweichliche Erfüllung der Drohung, der Gewaltakt, aufgrund der im vorübergehenden Aussetzen generierten Hoffnung umso stärker zuschlägt, stärker auch im Sinne ihrer Affektwirkung, im Sinne dessen, wie stark sie als Kritik an Gewaltstrukturen wirkt. Im ersten Teil von Das Kind träumt (‫)הילד חולם‬, uraufgeführt 1993, lässt sich eine solche Situation gut beobachten. In das Haus, das Zimmer, in dem das Kind schläft, brechen Soldaten ein, die das Kind und seine Mutter mit anderen Flüchtenden vertreiben und seinen Vater töten werden. Doch zuvor spielen sie ihm vor, ein Zirkus sei des Nachts in die Stadt gekommen und alles wunderbar; und noch als der Vater durch den Offizier und dessen Geliebte mit dem Tod bedroht wird, erscheint der Aufschub dieser Drohung als Versprechen seiner Aufhebung. Das Kind wird glauben gemacht, es könne den Vater durch ein Lied retten. Sieh, es kommen des süßen Sommers Tage, von Freude überflutet warten wir, der Tag ist lang, die Nacht in weiter Ferne, aber schon keimt tief in uns die Sorge: Reicht uns der Sommer aus? Reicht aus das Leben?15

Der Bruch des Versprechens, die Drohung doch nicht zu verwirklichen, also dass die Gewalt sich dies eine Mal doch nicht erfülle, erscheint als Verrat. Die Struktur lässt sich als eine Erfahrung des Verratenseins in der Welt angesichts ihrer Gewalt verstehen; ein anderer Verrat als bei Yehu, aber wieder ein Lektüreproblem aus Erwartungen. Und auch dieser Verrat zeigt sich als affektargumentative Kritik an den Möglichkeiten und Wirklichkeiten der Verhältnisse. Später, nachdem es sich auch 14 | Vgl. Naumann, Matthias: Dramaturgie der Drohung. Das Theater des israelischen Dramatikers und Regisseurs Hanoch Levin. Marburg 2006. 15 | Levin, Hanoch: Das Kind träumt. Bühnenmanuskript. Aus d. Hebr. v. Matthias Naumann. München 2017, S. 11.

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von seiner Mutter verraten fühlt, fordert das Kind in seiner Verzweiflung, dass man es das Lesen der Gesichter lehre. DAS KIND. Vergessen? Was? Alles? Oder nur das? Und wie werde ich wissen, was zu vergessen ist und was nicht? Und wann du in Wahrheit meine Mutter bist, damals oder jetzt? Wer ist wer? Wer gibt Leben? Wer tötet? Wer lacht m i t m i r ? Wer ü b e r m i c h ? All die schmelzend-fließenden Gesichter wie im Traum – wo ist das Gesicht des Tageslichts? Lehrt mich die Gesichter! Ich bin ein Kind! Ihr lehrtet mich lesen und schreiben, jetzt gebt mir das Gesichter-Alphabet!16

Doch auch die Gesichter tragen nur Zeichen, ihr Signifikat ist wandelbar und trügerisch, mal versprechend, mal drohend, immer offen oder einholbar durch die Gewalt. Es bliebe dem Kind eigentlich nur, ein Ende der Zeichenhaftigkeit von Gesten und Gesichtern zu fordern, auf deren möglichen Interpretationen gerade die Macht der Drohenden und Gewaltausübenden über die Ängstlichen und Verfolgten beruht, wie die Zur Liebe Geborene Frau schon früh im Stück in einer Art Exposition ihrer Handlungsmacht erkannt hat.17 ZUR LIEBE GEBORENE FRAU. Wie stickig es hier ist! (sieht die Gruppe von Menschen, die sich gegenüber zusammendrängt) Großer Gott, das ist der Geruch der Ausdünstungen ihres Angstsafts! Wie alle Augen an mir haften! Ich hebe einen Finger – Bedeutung; ich mache einen Schritt – Interpretation. Und welch ein Zittern in der Luft, beinahe bist du versucht zu sagen, der elektrische Strom unbändiger Liebe.18

Immer kann bei Levin das Argument gegen die Gewalt nur als Affekt geltend gemacht oder überhaupt im Theaterraum zur Darstellung kommen, als Wunsch, Hoffnung, verzweifelte Forderung in einer Welt, deren gesellschaftliche Verhältnisse sich an strukturelle und gelebte Gewalt so gewöhnt zu haben scheinen, dass es innerhalb dieser Verhältnisse keine Argumente gegen Gewalt gibt, nur affektargumentatives Aussetzen – oder die scheiternde Sehnsucht danach – als vehemente, zugespitzte, ›rücksichtslose‹ Kritik des Bestehenden und Geschehenden. 16 | Ebd., S. 35. 17 | Vgl. zu dieser Stelle ausführlich Rokem, Freddie: Geschichte aufführen. Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater. Aus d. Engl. v. Matthias Naumann. Berlin 2012, S. 125-128. 18 | Levin, 2017, S. 6.

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Tanzästhetische Strategien von Rausch Körper/Szenen der Ausschreitung Sabine Huschka »Die frauen schlossen sich zum reigen, wie von selbst, als wäre die stunde abgemacht, und der tanz begann: sie schwangen sich in den hüften hin und her, schüttelten ihre stäbe dazu und stimmten monoton in den gesang ein, der dumpf zu uns herüberdrang –«. [Schrott: Bakchen. Nach Euripides]1

Ein tiefer Kehllaut bricht in die Szene und durchschneidet die gleichsam geruhsame Stille eines rhythmischen Einklangs. Ewa Dziarnowska entlässt einen gellenden Schrei, gröhlend aus der Tiefe ihres Körpers hervorsteigend. Anschwellend. Durchdringend. Anhaltend. Ein tierischer Laut. Mit seiner akustischen Figur klafft der abgedunkelte Bühnenraum in scharfen Konturen auseinander. Inmitten kauerte gerade noch ein Tänzer am Boden. Leicht schwingend und wallend schien er sich mit seinem gerundeten Oberkörper in die Innen-Räume seiner Physis gleichsam einzugraben. Sein rhythmisch sanft sich einknetendes eingeknetetes Schwingen sponn seinen Körper, eingesenkt in die Intimität seiner Bewegungen, wie in einen Kokon ein. Der Schrei zersetzt die körperlich-intime Szene und setzt eine klare Zäsur in Boom Bodies (2016), Doris Uhlichs dritter Choreographie aus ihrer Techno-Trilogie. Die akustische Zäsur öffnet einen ästhetischen Differenzraum, aus dem das Rauschhafte – hörbar – hervortritt: Verstörend und gleichsam zerstörerisch kommt eine Raserei zu Ohren, ohne das Rauschhafte des Tanzes, dem der Schrei angehört, sichtbar werden zu lassen. Der Schrei schiebt ein Unsichtbares in die Szene und ruft einen Erfahrungsbereich auf, den die Bewegungsszenen der acht Tänzer transformatorisch anbahnen.2 (Abb. 1)

1 | Schrott, Raoul: Bakchen. Nach Euripides. München/Wien 1999, S. 51 [»Erster Bericht. Ein Hirte«]. 2 | Diese Analysen basieren auf einer Aufzeichnung der Premiere von Boom Bodies von Doris Uhlich am 8. Jan. 2016 im Tanzquartier Wien.

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Abb. 1: Ewa Dziarnowska in Boom Bodies (2016). Choreographie: Doris Uhlich (Tanz in Bern 2016), Foto: Sabine Burger, © Sabine Burger

R ausch als ästhe tische K örperpr a xis Rausch zeigt sich in Tanz und Performance als eine Szene körperästhetischer Aktivierung, die auf choreographischen Figurationen von Bewegungen als Entgrenzungsstrategien beruht. Bewegungsästhetisch sucht sich eine Extension, Öffnung und Ausdehnung von (Körper-)Kräften transgressiv Raum zu schaffen. Während Rausch als kulturell geprägte Körperpraxis spezifische Bewusstseinszustände adressiert 3, suchen Tanzperformances mit Szenen des Rausches Intensitätszustände physischer Exaltation und Verausgabung an die Wahrnehmung der Zuschauer auszuspielen. Aufgerufen werden mit ihnen Erfahrungshorizonte, die sich gemäß dem etymologischen Begriffsfeld von Rausch und Ekstase Praktiken des Außersich-Seins und Außer-sich-Geratens bedienen und sie als Szene kinetisch-sinnlicher Entgrenzungen choreographieren.4 3 | Feustel, Robert: Grenzgänge: Kulturen des Rauschs seit der Renaissance. München 2013. 4 | In den performativen Künsten suchen Rauschpraktiken intensitätssteigernde Bewegungs- und Wahrnehmungsfelder zu erwirken, die allein mittelbar mit individuellen Erfahrungsbereichen übereinkommen. Vgl. ergänzend hierzu die diskursanalytischen Studien von Robert Feustel, der anmerkt, dass »Rausch als Signifikant seinen Gegenstand substanziell verfehlen« muss. »Erst die Vernunft selbst bringt einen Begriff von Rausch – und damit Rausch selbst – hervor und erschafft ihr Gegenüber, ihr Anderes, ihre Ausnahme. […] Er [der Rausch] ist historisch, wandelbar und performativ« (Feustel, Robert: »Die Zeit des Rau-

Tanzästhetische Strategien von Rausch

Gegenwärtig lässt sich ein verstärktes Interesse verschiedener Choreographinnen an einer bewegungsästhetischen Auseinandersetzung mit rauschhaften Szenarien nachzeichnen, die, grundlegend unterschieden von rituell und kulturell adaptierten Körperpraxen im Modernen Tanz, Körper und Szene als Felder mitunter chaotischer und ausufernder Bewegungsexaltationen präsentieren. Während etwa Mary Wigman ihre dem Kreisen und Drehen entlehnten Rauschfigurationen als einen drohenden Kontrollverlust im Sinne einer ekstatischen Transzendenzerfahrung dramatisierte und damit Rausch als Beschwörungsszene mystischer Kräfte ausdeutete,5 setzen zeitgenössische Choreographinnen wie Doris Uhlich (Techno-Trilogie 2014-2016), Meg Stuart/Damaged Goods (Violet, 2011), Anouk van Dijk (Rausch, 2012), Kat Válastur (lang, 2009; Ah! Oh! A contemporary ritual, 2014) oder Eszter Salamon (MONUMENT 0.4: Lores & Praxes, a ritual of transformation, 2017) den Körper rauschhaft evozierten Kräften aus, die ihn mitunter in Zuständen vegetativ-psychotischer Zerrüttung, durchflutender Energieströme oder eines Unbehausten und Außer-sich-Geratens zeigen. Die tanzenden Körper erscheinen mal durchstoßen von Bewegungen, mal werden sie rasend, mal gleichsam somnambul in sich versunken an den Grad kompletter Erschöpfung und Verausgabung gedrängt: erbebend, vibrierend, zuckend oder wallend. Anders als in der klassischen Moderne werden ihre bewegungsästhetischen Kraftmomente zu energetischen Feldern einer entgrenzenden Aufladung von Körper und Szene verstärkt und entwickeln ein transformierendes Bewegungsgeschehen, das an der Schwelle von Kontrollverlust operierend von einem Begehren nach Ekstase und der Öffnung für andere Zustände durchzogen ist.6 Gerade die österreichische Choreographin und Performerin Doris Uhlich macht mit ihrer Techno-Trilogie Universal Dancer (2014), Ravemachine (Sketch) sches« in: Michael Schetsche/Renate-Berenike Schmidt (Hg.), Rausch Trance Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld 2016, S. 33-50, hier: S. 34). »Vielleicht ist es weniger interessant, was Rausch letztlich und tatsächlich ist, was seinen vorsprachlichen Wesenskern ausmachen könnte […]. Ein historisierender Blick dagegen, der danach fragt, wie Rausch verstanden, verhandelt, verteufelt, verhaftet oder genutzt wird, liefert andere Einsichten. Damit werden Grenzfiguren und Überschreitungsmomente sichtbar, die einiges darüber erzählen, was als rational, vernünftig oder nüchtern gilt« (ebd., S. 47). Vgl. Feustels Grenzgänge (2013): Diese groß angelegte historische Untersuchung ist einer Diskursanalyse gewidmet mit der »Idee […], anhand verschiedener Materialien zu verdeutlichen, dass auch Rausch als Bereich konkreter, individueller Erfahrung das wandelbare Produkt einer prinzipiell unabgeschlossenen Suche nach Erklärungen ist« (Feustel, 2013, S. 20). 5 | Vgl. Huschka, Sabine: »Rausch und Ekstase als choreographische KörperSzene«, in: Schetsche/Schmidt (Hg.), 2016, S. 217-237. 6 | Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass weder Rausch noch Ekstase zum Kanon ästhetischer Grundbegriffe zählen, sondern im weitesten Sinne religiösen, spirituellen und kulturellen Praktiken angehören. Rituell und kulturell verwoben eignen Rausch und Ekstase markante Differenzen. Gegenüber dem Rauschhaften ist allein das Ekstatische dem Bereich einer religiös-spirituellen Erfahrung zugehörig und markiert eine Transzendenz-Erfahrung. Die Ekstase vermag aus einer rauschhaften Praxis oder einem Erleben hervorzugehen, mündet aber in ein mystisches Verschmelzungs- und Vereinigungserleben; vgl. Köpping, KlausPeter: »Ekstase«, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997, S. 548-568.

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(2015) und Boom Bodies (2016) choreographische Figurationen von Rausch thematisch, die mit dem ästhetischen Potential körperlicher Aktionen als energetisierende Entgrenzungsstrategie arbeiten. Aufgerufen werden Darstellungs- und Erfahrungskonnexe von Rausch, die durch körpermobilisierende und choreographische Verfahren des Außer-sich-Geratens erfahrungsorientierte Entgrenzungsphänomene in Szene setzen und affektiv Intensitäten erzeugen. Doris Uhlich drängt mit diesen Arbeiten darauf, »den Theaterraum mit Energie [zu] fluten« und »Energien zu übertragen« 7. Hiermit verbindet sie eine gesellschaftskritische Intervention, die an das Potential des Energetischen8 als verändernde Kraft appelliert und eine aus Ängsten sich lösende und öffnende Körperlichkeit anzuregen sucht. Das ästhetischkritische Moment ihres bewegungstechnischen Zugangs artikuliert sich jedoch jenseits jener überkommenen Geste der Kritik an gesellschaftlichen Realitäten in einer Bewegungspraxis, die den Körper – wie es im Folgenden zu verdeutlichen gilt – zur Szene der Ausschreitung wandelt. Uhlich entwirft choreographische Arrangements, die Bewegungen zwischen Widersetzung und Einräumung initiierend entfalten. Körpertechnisch über ein evoziertes Energie- und Kraftfeld angeregt, dessen Wirkung für Uhlich selbst »unerklärlich«9 ist, perpetuieren sich Transformationen des Un-/Verfügbaren von Bewegung. Aus einer Gemengelage zwischen Bewegt-Werden und Sich-Bewegen wird eine transgredierende Kraft in Gang gesetzt, die den Körper als radikal veränderbare Zwischenzone fremd-eigener Kräfte vorführt. Doch welche konkreten bewegungsästhetischen und choreographischen Verfahren der Aktivierung und Kanalisierung von Kräften, ihrer Bergung oder Entstellung, der Ordnungsstiftung, 7 | Doris Uhlich zu Universal Dancer. www.dorisuhlich.at/de/projekte/4-universal-dancer [letzter Zugriff: 22.09.2017], Pressetext zu Universal Dancer. 8 | Die hier vorgestellte Studie zu ästhetischen Figuren des Rausches als Energetisierung von Körper und Szene operiert mit dem analytisch unscharfen Begriff der Energie. Zweifelsohne gehört das Energetische wahrnehmungsästhetisch einem undurchsichtigen, nahfühligen und damit unbestimmten Bereich an, der noch ungenauer analytisch zu greifen ist als etwa Atmosphären als Modulationen von leiblichen Stimmungen. Eine erste Studie hat Dee Reynolds mit ihrer Dissertation vorgelegt, die sich dem Thema Energie – methodologisch angelehnt an Rudolf von Labans effort theory – als kinästhetischem Imaginationsraum und kulturell signifikanter Ausdrucksform nähert; vgl. Reynolds, Dee: Rhythmic Subjects. Uses of Energy in the Dances of Mary Wigman, Martha Graham and Merce Cunningham. Alton, Hampshire 2007. Zugleich verweist der Begriff Energie auf die körperliche wie performative Potentialität, Verwandlungsprozesse anzuregen. Die dem Griechischen entlehnte Wortbedeutung von energeia zeigt gerade diesen für den Tanz wichtigen Aspekt an: Energeia meint im Wortsinn ›Wirksamkeit, wirkende Kraft‹. Bewegungstechnisch und kompositorisch lassen sich Strategien der Initiierung, Einräumung und Lenkung wirkender Kräfte ausmachen, mit denen Prozesse der Verwandlung und Transformation angezettelt und Zustände der Erregung erzeugt werden. Das Energetische bringt Qualitäten von intensitätssteigernder Wirkung hervor, die erfahrbar und erkennbar Transformationsprozesse einleiten. 9 | »Ich schaue den TänzerInnen zu. Es gibt etwas Unerklärliches für mich. Ich frage mich, warum mich das Bewegungskonzept des Entgrenzens so flasht. Die Raumaufrüttelung, die entladene Boom Energie lösen etwas Existentielles in mir aus, sowohl wenn ich ihr zuschaue, als auch wenn ich sie tanze. Dem gehe ich auf die Spur« (Uhlich, Doris: www.dorisuhlich.at/ de/projekte/31-boom-bodies [letzter Zugriff: 22. Sept. 2017]).

Tanzästhetische Strategien von Rausch

Dramatisierung und affizierenden Entgrenzung werden angewandt? Mit welchen wahrnehmungsästhetischen Funktionen, Potentialen und Versprechungen kommen diese Szenen des Rausches überein? Den Referenzpunkt der folgenden Überlegungen bildet vor dem Hintergrund dieser Fragen damit weniger die theatertheoretisch umrissene Funktion des Liminalen, mit der – analog zu den kulturellen Figuren von Rausch und Ritual – eine transformatorische Wirkkraft von Theater im Sinne einer ästhetischen Erfahrung angezeigt wird.10 Vielmehr bin ich vor dem Hintergrund meiner derzeitigen Forschung dem sinnlich-reflexiven Potential des Körperlichen als kritische Intervention des Transgressiven auf der Spur.

F orschungskonte x t : R ausch als ästhe tische W ahrnehmungspolitik Den Kontext dieser Fragestellungen bildet mein aufgenommenes Forschungsprojekt Transgressionen: Energetisierung von Körper und Szene, das – einer Studie zu Choreographie gewidmet – wahrnehmungspolitische Fragen zum transgressiven Potential von Körper und Szene aufwirft. Im Fokus stehen Fragen zu den Prozessen, Verfahren und Funktionen einer angelegten Energetisierung von Körper und Szene in ihrem Spiel mit Kräften. Dabei richtet sich die Studie auf die wahrnehmungspolitischen Funktionen und ästhetische Potentialität choreographierter Körper, spezifische Überschreitungen im Spiel mit ge- und verborgenen Kräften zu schaffen. Der Forschung unterliegt die Annahme, dass choreographierten Körpern gezielte Entgrenzungs- und Überschreitungsformen eignen, die mit ästhetischen Strategien der Energetisierung von Bewegungen, Aktionen, Räumlichkeiten und Blickkonstellationen übereinkommen und – aus ihren Korrelationen zum Un-/ Sichtbaren – spezifische Wahrnehmungsdispositive ausbilden. Denn eine ästhetische Wahrnehmung choreographierter Körper verdankt sich präzis austarierten Techniken des Wahrnehmbar-Machens, deren Prozesse der Verräumlichung, Verzeitlichung, Bewegungsinitiierung, Beziehungsstiftung, sensueller Kontakte und Blickführungen ein Gemenge kinetisch-visueller Sinnesmodalitäten hervorbringen. Die Erforschung der Wahrnehmungsdispositive choreographierter Körper richtet sich damit auf ihre initiierten, gesteuerten und eingesetzten Mobilisierungsweisen, die mit somatischen wie technischen Handhabungen von Kräften einhergehen, und sie richtet sich auf die choreographisch angelegten, initiierten und gesteuerten Transformationsprozesse, die transkorporale und interaktive Beziehungen in der 10 | Die Untersuchung richtet sich somit nicht auf den spezifischen ästhetischen Erfahrungsraum von Rausch, um Grade produzierter Zustände der Erregung oder des Schocks auszutarieren. Theatertheoretisch sind jene Rausch und Ritual zugerechneten Erfahrungsanteile als liminale Erfahrungsbereiche von Theater herausgestellt worden und markieren nach Erika Fischer-Lichte im Anschluss an Victor Turner und Richard Schechner die potentielle transformatorische Wirkkraft von Theater, die sich als ästhetische Erfahrung manifestiert, vgl. u.a. Fischer-Lichte, Erika: Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. London u.a. 2005; vgl. Warstat, Matthias: »Rausch und Rahmen. Liminale Erfahrungen im Theater«, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Lust, Rausch und Ekstase: Grenzgänge der Ästhetischen Bildung. Bielefeld 2013, S. 107-125.

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Performance stiften. Analytisch tritt damit die Gabe von Körpern, sich zu bewegen, als bewegungsästhetische und choreographische Strategie energetischer Prozesse hervor, die potentiell als kritische Strategien eingesetzt werden. Konkret werden diese vor dem Hintergrund ihrer angewandten Techniken zur Energetisierung von Körper und Szene und ihren damit konzeptionalisierten Wahrnehmungspolitiken, Zuschauerblicke zu adressieren. Jene auf dem verschränkten Schauplatz von Körper und Szene statthabenden Wahrnehmungsstrategien gehen auf eine Mobilisierung von Bewegungen und Bewegungseindrücken zurück, die aisthetische Signaturen des Choreographischen bilden.

R ausch als W iderfahrnis »sie tanzten und tanzten sich in ekstase, bis einige erschöpft umfielen; auf der erde lagen sie und murmelten vor sich hin, wie abgelöst von sich, wie losgelöst – ich weiß nicht!« [Schrott: Bakchen. Nach Euripides]11

Die Modulationen von Rausch stellen das Kräftefeld tanzender Körper auf die Probe. An der Schwelle eines Außer-sich-Geratens operieren die Bewegungen mit dem Wagnis des Kontroll-Verlusts, das einer Verstörung gleichkommt. Aufgespannt zwischen einem Bewegt-Werden im Sich-Bewegen artikuliert sich ein Widerfahrnis von Kräften, das den Körper entgrenzt. Dies Widerfahrnis fremder Kräfte markiert gewissermaßen die Erfahrungsdimension von Rauschzuständen als ein spezifisches Bewegungsereignis. Zeitgenössische Choreographinnen verhandeln Rausch als ein bewegungstechnisches Kräftefeld, das den Körper einer von außen einfallenden Kraft überantwortet, mit der er sich mobilisiert. Initiiert werden nervös grassierende, pulsierend wallende, reizende, hereinbrechende und sich Raum nehmende Kräfte, die den Körper von außen durch ein Fremdes in Bewegung bringen und halten.12 Jene ästhetischen Kräftefelder finden in der mythologischen Figur von Dionysos ihr Echo, verkörpert doch gerade der Gott in seiner Alterität, wie Susanne Gödde ausgeführt

11 | Schrott, 1999, S. 51. 12 | Hiermit knüpfe ich an Gerald Siegmunds kritischen Einwurf zu Randy Martins tanzsoziologischem Entwurf der »Mobilization« an. Martin sieht die gestaltgebende Eigenheit der Mobilisierung initiiert durch eine Eigenkraft und nicht eine »alien power […] visited on the body, as something that is done to bodies behind their backs« (Martin, Randy: Critical Moves. Dance Studies in Theory and Politics. Durham/London 1998, S. 4); Siegmund hinterfragt diese letztlich subjektzentrierte Einfassung von Mobilisierung zu Recht: »If mobilization is neither identical with the movement it facilitates nor with the bodies it creates and deploys spatially, where else can it come from, I wonder, if not from behind the body’s back?« (Siegmund, Gerald: »Mobilization, Force, and the Politics of Transformation«, in: Dance Research Journal 48, 3 [Dez. 2016], S. 27-32, hier: S. 29.) Da Bewegung dem Körper stets gegeben ist, spannt sich Mobilisierung im Sich-Bewegen hinein in den Bereich von Bewegt-Werden, der mit differenten Modi von Fremd-Kräften übereinkommt.

Tanzästhetische Strategien von Rausch

hat, eine »Form der Andersheit«13: dynamisch, transformativ, kathartisch und subversiv. Als Gottheit des Rausches, die ekstatisch rast und Ekstase und Entgrenzung bei den Menschen zu induzieren versteht, ist sie zugleich jener antike Gott, der, wie Renate Schlesier hervorhebt, das Ekstatische »mit den von ihm in diesem Zustand versetzten Menschen teilt«14. Die mit Dionysos auftretende Bewegungsfiguration des Rausches birgt dabei eine Qualität des Unbändigen, Zerstörerischen und einer grundständigen Raserei, der sich der Körper vollständig überantwortet sieht. So kommt Dionysos eine »potentiell gefährliche Rauschhaftigkeit, verbunden mit faszinierender Rätselhaftigkeit«15, zu. Als Ekstasegott par excellence verkörpert Dionysos eine transgredierende Kraft, die positive wie negative Wirkungen tragen kann und grundständige Verwandlungen zu erwirken weiß. Einzelne Stücke der Berliner Choreographin Meg Stuart rufen eindrücklich jene gefährliche, weil an den Rand einer grundständigen Verwandlung reichende Qualität auf, indem sie die Körper wie in ihrer Choreographie Violet an den Rand eines rasend Zerstörerischen treibt, dessen energetische Wucht sie in desaströse Verformungen auswuchtet. Durchsetzt mit unkontrollierten Impulsen, Zuckungen, widerständigen Blockierungen und anderen ungezügelten Exaltationen zeigen die Körper in sukzessiv sich steigernden Dynamiken Szenen einer von innen herausbrechenden Raserei. Im Spannungsfeld eines geradezu einfallenden Fremdbewegt-Werdens im Sich-Bewegen entäußern sich Bewegungen, die ein ungezügeltes Kräftefeld unkontrollierter, das Organische geradezu zersetzender Impulse entlassen. Choreographisch zeigen sie Szenen der Überwältigung, in denen ein Fremd-Sein-in-Bewegung als Szene von Rausch erscheint. Ästhetisch verweisen sie auf das Fremde als Befremdung im eigenen Körper. Auch Doris Uhlich richtet ihren bewegungsästhetischen Zugang der Mobilisierung darauf, energetische Impulse durch das Einwirken von Fremdkräften zu initiieren, um sie expansiv in den Raum zu führen. Der tanzende Körper verliert als Stätte von Bewegung ästhetisch an identifizierbarem Grund und rückt entgegen der Konzeption im Modernen Tanz als eine ent-subjektivierte Zone von fremden Kräften durchwirkt ins Bewusstsein. Die Körper zeigen sich quasi im Ein- und Aus-Strömen hindurchflutender Bewegungsenergien als ambigue Gewebe, in denen gegenläufige Kräfte wirken, die an der Grenze zwischen Körper und Objekt oder Körper und dem Elementaren (Luft) als Widerstandmomente initiiert werden.16

13 | Gödde, Susanne: »›Fremde Nähe‹. Zur mythologischen Differenz des Dionysos«, in: Renate Schlesier (Hg.), A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism. Berlin u.a. 2011, S. 85-104, hier: S. 87. 14 | Schlesier, Renate: »Der bakchische Gott«, in: dies. (Hg.), A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism. Berlin u.a. 2011, S. 173-202, hier: S. 177. 15 | Ebd. 16 | So beruht Rausch als ästhetisches Performance-Ereignis auf bewegungstechnischen und choreographischen Verfahren, deren wirkungsästhetische Entgrenzungstendenz durch das Theaterdispositiv der Grenze bedingt ist. Erst die Grenze, die Barriere zwischen Akteur und Zuschauer, lässt Rausch als ästhetische Strategie der Transgression wirksam werden und gibt dessen Modalitäten des Ästhetischen zu denken. Uhlich konkretisiert die Arbeit an der Grenze in bewegungsästhetischer Auseinandersetzung.

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B ebende K örper : B e wegung als Tr ansformation »Ihre körper wiegten sich hin und her, langsam zuerst, in einem absonderlichen rhythmus, dann immer schneller, bis alle sich zu verdrehen anfingen und die eigenartigsten posen einnahmen – der hals verrenkt, der rücken durchgebogen, wild mit den haaren schüttelnd«. [Schrott: Bakchen. Nach Euripides]17

Uhlichs aktuelle Techno-Trilogie macht Rausch in Figurationen eines ästhetischen Erbebens thematisch. Ihr ästhetisches Potential einer energetisierenden Entgrenzung geht aus einer Gemengelage initiierter Eigen- und Fremdimpulse hervor. Erkundet werden gegenläufige Krafteinwirkungen, aus deren Gewebe die Mobilisierung der Körper hervorgeht. Anders als in den Arbeiten von Meg Stuart initiiert Uhlich energetische Kräfte aus evozierten Zwischenzonen, die sich an Grenzen entzünden. Die Bewegungen mobilisieren sich gleichsam aus Widerstandsmomenten, die aus Konfrontation mit fremdbewegten Objekten (einem Rütteltisch in dem Solo Universal Dancer) oder durch spezifische Wahrnehmungstechniken einer taktil kinästhetischen Begegnung mit dem Außen hervorgehen. Ins Spiel gebracht werden widerständige, sich dem Körper entgegensetzende Kräfte. So wird etwa der luftige Umraum als bewegt-bewegende Masse wahrgenommen, aus dessen Widerstandsmomenten sich die Bewegungen des eigenen Körpers entwickeln. Hierbei entfaltet die Gruppenchoreographie Boom Bodies 18 ein wallendes, bebendes Bewegungsmuster zwischen den Tänzern. Jene physischen und imaginativen Modalitäten der aus Gegenkräften initiierten Mobilisierung wirken in repetitiven Bewegungsmustern nach: Bouncen, Schwingen, ein leichtes Vibrieren und Pendeln bewohnen den ganzen Körper und dessen Szene. Aus den Zonen zwischen Gegenund Eigenkräften weiten sich Zeit und Raum in ein wallend-bebendes Floaten, das keiner nervösen Überreizung des Körpers wie bei Stuart zugehört oder wie in der klassischen Tanzmoderne Bewegungsformationen von Kreisen oder Drehen gerahmt von pathischen Gesten vorführt. Die Tänzer breiten ihre Körper vielmehr zu einem changierend-ambiguen Wahrnehmungs-/Bewegungsgeflecht aus – versunken sich öffnend; singulär im Gemeinsamen. Das energetische Hinabsinken und Ausschreiten bringt eine pulsierende Organhaftigkeit von Körper-Räumen hervor: materialisierte kinästhetische Körperkräfte, die das Potential von Rausch, transgredierende Kräfte körperlicher Überschreitung freizulegen, als ästhetische Szene auszuschreitender Kraftfelder des Körpers befragen. (Abb. 2)

17 | Schrott, 1999, S. 51. 18 | Mit ihrer Techno-Trilogie situiert Uhlich ihre Choreographien in die Rave- und TechnoKultur aus hochfrequenten Beats und Soundcollagen, die vom Elektronik- und MedienKünstler Boris Kopeinig live eingespielt werden. Zur stilistischen Variabilität und zum kulturellen Kontext von Techno vgl. Mathei, Dennis: »Oh my god – it’s techno music!« Definition und Abgrenzung des Technostils unter Berücksichtigung historischer, stilistischer und soziologischer Aspekte. Osnabrück 2012.

Tanzästhetische Strategien von Rausch

Abb. 2: Tänzer in Boom Bodies (2016). Choreographie: Doris Uhlich (Tanz in Bern 2016), Foto: Sabine Burger, © Sabine Burger

In dem Solo Universal Dancer, die erste Choreographie aus Uhlichs Techno-Trilogie, materialisiert eine Rüttelmaschine das Kräftefeld eines Bewegt-Werdens im SichBewegen in langanhaltenden Szenen eines körperlichen Ausgesetzt-Seins. Die Mitte der Bühne wird dominiert durch eine hölzerne Plattform. Ein auf der Unterseite montierter Motor lässt das niedere Holzpodest rütteln. Diese Rüttelplattform fungiert als Instanz einer Kraft, der sich der Körper von Uhlich aussetzt. Im körperlichen Nachhall und Widerstreit mit ihrem (körper-)fremden Kraftfeld perpetuieren sich ihre Bewegungen. Uhlich steht, sitzt oder liegt auf der Plattform und lässt die Vibrationen passiv-aktiv durch ihren Körper fließen. Ihr Fleisch19 erbebt und flattert mit gelöstem Muskeltonus und lässt sich von der Maschine in kinetisch-kinästhetische Vibrationsfelder forttragen. Die Stätte der Bewegungen amalgiert zu einem medialisierend-materialisierten Anlass einer Übertragung energetischer Bewegungsfelder. Universal Dancer verhandelt damit Rausch als Szene eines unwillkürlich-willkürlichen Kräftespiels zwischen radikal an den Körper herangetragenen Außenbewegungen und im eigenen Körper nachhallenden und initiierenden Eigenbewegungen. So bringt die Performerin ihren Körper und den Tisch mehrmals in neue Positionen und lässt veränderliche Bewegungsszenen entstehen. Die mechanische Kraft der Vibrationsmaschine zeigt sich im Bewegungsfeld der Performerin, weitergeleitet durch vibrierende Impulse, verharrende Posen oder eingreifenden Aktionen. Vorgeführt wird eine Übereignung an Gegenkräfte, denen sich der Körper, dessen Organe von den äußeren Kräften durchzogen werden, hinabsinkend überlässt.

19 | Doris Uhlich versteht sich in ihrer künstlerischen Arbeit als Philosophin des Fleisches, vgl. etwa: www.dorisuhlich.at/en/projects/4-universal-dancer.

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Körperszenisch findet eine Aushandlung von Kräften statt, die einem EntWerden des Körpers-in-Bewegung überstellt sind und darin ihr kritisches Potential finden. Die Körperszenen verdichten kein transzendierendes Erfahrungsmoment, wie es dem Ausdruckstanz eignete, noch folgen sie durch sequenzierte Phrasen einer rauschhaften Überwältigungsästhetik. Erzeugt wird vielmehr ein irritierender Widerhall, dessen körperästhetische Kraft sich choreographisch an die Zuschauer ausspielt.

R ausch als körperszenische A usschreitung von K r äf ten »sie jaulten und winselten, daß es mir vorkam, als wollten sie tiere darstellen, oder so, als würden Silene, Satyre oder Pan aus ihnen.« [Schrott: Bakchen. Nach Euripides] 20

Während Stuart das Rauschhafte als ein gespaltenes Bewegungsereignis des Körperlichen vor Augen führt, das den Körper als Szene der Entfremdung hervortreten lässt, spielt Uhlich das Wissen um die ästhetische Disposition von Rausch als notwendige Spaltung choreographisch aus. Ihre szenische Grundstruktur rauschhafter Wiederholungen von Bewegungsphrasen, in die sich Körper und Szene einspinnen, gibt atmosphärisch den Blick auf sich verselbstständigende Bewegungstransformationen frei. Wahrnehmungsästhetisch reichen sie an die Schwelle rauschhafter Zustände heran, und doch setzt Uhlich scharfe choreographische Schnitte, regelrecht skandierende Einbrüche, die eine klare zeitliche Rahmung schaffen. Boom Bodies verweigert sich mit seiner choreographischen Struktur eines szenischen Motivwandels dem wahrnehmungsästhetischen Sog des Rauschhaften und setzt der benebelnden Wirkungskraft einförmiger Bewegungskaskaden changierende Wahrnehmungsräume entgegen. So bricht zur Mitte von Boom Bodies die pulsierend-floatende Bewegungsenergie auf, in der die Körper einer radikal veränderbaren Zwischenzone fremd-eigener Kräfte überantwortet sind. Die gleichfrequenten Phrasen ihrer Gruppenszenen treiben den rhythmisierenden Gleichklang der Körper auseinander, indem ihre Bewegungsszene in sich verlangsamende Aktionen singulärer Bewegungsphrasen aufgespalten wird. Das vereinzelnde rhythmische Abflauen legt gleichsam eine gewebliche Falte in den Bühnenraum. Markiert ist eine erste Zäsur, kurz danach gefolgt von einer weiteren. Kurz nachdem die meisten Tänzer abgegangen sind, senkt sich eine abgedunkelte Atmosphäre über die Bewegungen eines einzelnen zurückgebliebenen Tänzers, der am Boden hockend sich in die Innenräume seines Körpers einknetet. Hinein bricht der tiefe Kehllaut von Ewa Dziarnowska. Verstörend und gleichsam zerstörerisch kommt eine Raserei zu Ohren, ohne das Rauschhafte des Tanzes, dem der Schrei angehört, sichtbar werden zu lassen. Der Schrei schiebt ein Unsichtbares in die Szene. Aufgerufen erscheint Rausch in seiner Monstrosität und

20 | Schrott, 1999, S. 51.

Tanzästhetische Strategien von Rausch

eröffnet einen Raum des Ästhetischen, der sich nur über die Zäsur zeigen kann.21 Der Schrei gibt den transformatischen Bewegungskaskaden der Tänzerinnen einen Widerhall, der sich zu den Zuschauern hin öffnet.

21 | Renate Schlesier stellt zur Tragödie Backchen von Euripides heraus, dass die Ekstase der Thebanerinnen keineswegs als körperliche Aktionsszene auftritt, sondern als ein Bericht der Backchen und Mänaden vor Augen geführt wird. »Sie [die Frauen] nehmen zwar für sich in Anspruch, daß sie über einen privilegierten, und zwar auf Freiwilligkeit beruhenden Zugang dazu verfügen, aber ihr Auftreten auf der Bühne kann nicht als praktizierte Ekstase bezeichnet werden. […] Der Bühnenraum […] ist offenbar nicht der angemessene Ort privilegierter und verherrlichter dionysischer Ekstase« (Schlesier, 2011, S. 190).

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Schreiben als/in Performance new work von Christina Ciupke, Mart Kangro und Nik Haffner Daniela Hahn, Isa Wortelkamp

S chreibszenen Wenn von Schreiben in Bezug auf Performance die Rede ist, so sind damit zumeist die Verfahren der Aufzeichnung und Dokumentation gemeint – und damit verbunden die Frage, inwiefern diese Verfahren Aufschluss über vergangene Tanzoder Theaterereignisse geben können. Entgegen der von Peggy Phelan behaupteten Undokumentierbarkeit von Performance1 sind in den letzten Jahren dokumentarische Praktiken mehr und mehr als Strategien sichtbar geworden, die sowohl die Medienaffinität als auch die Diskursfähigkeit und das Potential von Theater und Tanz betonen, Fragen aufzuwerfen und Wissen zu produzieren. Im Kontext der Debatten um dokumentarische Praktiken bezieht sich Schreiben jedoch selten auf den körperlichen Akt des Linienziehens und dessen Instrumentalitäten, also jenes Setting, das der Literaturwissenschaftler Rüdiger Campe – ausgehend von Roland Barthes’ Konzept der ›écriture‹ – als »Schreibszene« bezeichnet hat. Für Campe ist die Schreibszene ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste«2 . Sie markiert den Rahmen einer veränderten Aufmerksamkeit, in dem für die Rezipient*innen eben die Körperlichkeit des Schreibenden, die Materialität der Schreibwerkzeuge und der Vollzugscharakter des Schreibens selbst bemerkbar werden. Für die Leser*innen – oder in unserem Fall: für die Zuschauer*innen – lenkt die Schreibszene den Fokus gleichsam auf das Schreiben als »sprachlichgestische Beziehung« und die »Imperative ihrer Inszenierung«, die Campe als Anweisungen versteht, wie zu schreiben ist, und auf die Bedingungen, unter denen Schreiben stattfindet.3 In diesem Sinne kann die »Schreibszene« als ein theatraler Beobachtungsraum verstanden werden, insofern Schreiben hier als »performatives Zusammenspiel von

1 | Vgl. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance. New York 1996 [1993]. 2 | Campe, Rüdiger: »Die Schreibszene, Schreiben«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a.M. 1991, S. 759-772, hier: S. 760. 3 | Ebd., S. 764.

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Daniela Hahn, Isa Wor telkamp

Wahrnehmung, Bewegung und Sprache«4, erweitert durch den Aspekt der Instrumentalität, hervortritt – ein Beobachtungsraum, in dem zugleich die (materiellen) Bedingungen eines schreibenden Produzierens sichtbar gemacht werden können. Die Performance new work, die als Kollaboration der Performer*innen und Choreograph*innen Christina Ciupke, Mart Kangro und Nik Haffner entstand und um die es im Folgenden gehen wird, kann als eine solche Schreibszene im Sinne Campes verstanden werden. In der Performance, die am 6. November 2015 in der Tanzfabrik Berlin Premiere hatte, wird Schreiben nicht als fixierende Aufzeichnung oder Inskription, sondern als Weise des Produzierens in ihren Vollzügen und Regelhaftigkeiten untersucht.5 Welchen Regeln folgt Performance? Welchen Einfluss nehmen diese Regeln auf das Schreiben als/in Performance? Mit welchen Unwägbarkeiten wollen oder müssen wir rechnen? Wer sind ›wir‹ im Moment des Performens? Nach Pirkko Husemann wird das kritische Potential im zeitgenössischen Tanz, etwa als Kritik an den Konventionen und Regulierungen marktförmig organisierter tänzerischer Produktions- und Präsentationsprozesse, in und durch die choreographische Praxis selbst wirksam.6 Dabei ist die Verlautbarung bzw. Aufführung dieser kritischen Praxis stets selbst den ›Gesetzen des Marktes‹ unterworfen, die sie kritisiert.7 Eine Kritik, die von dort aus formuliert wird, muss sich zu den Bedingungen ihrer eigenen Erscheinungsform verhalten. In diesem Zeichen ist seit Mitte der 1990er Jahre in Westeuropa eine Tendenz innerhalb des zeitgenössischen 4 | Zum Theatralitätsbegriff vgl. Schramm, Helmar: »Theatralität«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 6. Stuttgart/Weimar 2005, S. 48-73. 5 | In diesem Sinne bildet new work einen wichtigen Bezugspunkt in unserer Forschungsarbeit, in deren Kontext der vorliegende Beitrag entstanden ist. In dem von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojekt Writing Movement. Inbetween Practice and Theory Concerning Art and Science of Dance untersuchten wir von 2016-2018 gemeinsam mit den Tänzerinnen und Choreographinnen Christina Ciupke und Elizabeth Waterhouse, der Performancekünstlerin Sophia New und der bildenden Künstlerin Juliane Laitzsch künstlerische und wissenschaftliche Verfahren des Schreibens – als Produktion von Texten, aber auch als Skizze und Notiz. Ein Potential, das aus der Förderungsstruktur der Initiative Arts and Science in Motion der VolkswagenStiftung, in der das Projekt verankert ist, hervorgeht, besteht dabei in der Zusammenarbeit von Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, die es ermöglicht, die jeweiligen Verfahren des Schreibens, wie sie in den verschiedenen Disziplinen zum Einsatz kommen, auszutauschen und in Beziehung zueinander zu setzen. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit werden in einer Publikation zusammengetragen, die 2019 im Revolver Verlag, Berlin, erscheinen wird. 6 | Vgl. Husemann, Pirkko: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen. Bielefeld 2009, S. 28f. 7 | Diese Problematik einer kritischen Position des Tanzes in einer Gesellschaft des ›reinen Tauschwertes‹ wurde von Gerald Siegmund entlang einer Theorie der Absenz, die er in Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes (2006) entwickelt, dargestellt. Abwesenheit wird dabei als kritisches und selbstreflexives Potential des Tanzes innerhalb einer auf Präsenz gerichteten »Gesellschaft des Spektakels«, auf die sich Siegmund mit Guy Debord beruft, denkbar. Dieses Potential liegt dabei nicht im Insistieren auf die Präsenz, sondern in einer von Absenzen durchzogenen Präsenz des theatralen Ereignisses, die durch die Inszenierung thematisiert und reflektiert wird.

Schreiben als/in Per formance

Tanzes auszumachen, die – an institutionskritische Bewegungs- und Kompositionskonzepte des ›postmodernen Tanzes‹ und an ideologiekritische Verfahren des Tanztheaters anschließend – eine Repräsentationskritik vollzieht. Sie positioniert sich nicht mehr außerhalb des zu Kritisierenden, sondern fungiert – wie Husemann betont – als eine relationale Kritik, »d.h. als Positionierung, die sich nur im Verhältnis zu dem zu Kritisierenden entfalten kann und als Erfahrung, die sich durch die Benutzung des zu Kritisierenden einstellt«8. Husemann weist zudem darauf hin, dass es kein generalisierbares Konzept von Kritik gebe. Ihr geht es vielmehr darum, das in der Praxis implizite, oft unausgesprochene Potential von Kritik sichtbar zu machen. Dergestalt entwickelt Husemann einen erweiterten Begriff von Kritik, der an die künstlerische Praxis gebunden, also praxisimmanent ist und sich im Modus des Ästhetischen bewegt. In den analytischen Fokus treten damit vor allem choreographische und kollaborative Arbeitsweisen, die auch in new work im Medium der Performance reflektiert und verhandelt werden. Als Schreibszene entfaltet new work in diesem Sinne ein kritisches Potential, das im Folgenden in Hinsicht auf die Performance (auf Basis von Aufführungsbesuchen und der Sichtung des Dokumentationsmaterials), aber auch hinsichtlich des künstlerischen Produktionsprozesses untersucht werden wird, der durch zwei Interviews mit Christina Ciupke9 und mit Mart Kangro10 rekonstruiert wurde.

R egeln des A ustauschs Der lakonische Titel der Performance new work ist anders als Betitelungen wie »ohne Titel« oder »Untitled«, die vor allem im Kontext der zeitgenössischen bildenden Kunst behaupten, kein Titel zu sein, nicht als künstlerische Strategie des Suspendierens semantischer Bezüge zwischen Titel und Werk oder sogar als Verweigern eindeutiger Benennungen und Beschreibungen zu verstehen. Er macht zwar die kunstökonomische Erwartung bewusst, dass hier etwas Neues, eine neue Form der Kollaboration, eine neue Arbeitsform präsentiert wird; jedoch wäre es zu kurz gegriffen, in new work vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit dem modernen Imperativ künstlerischer Innovation zu sehen. Dies würde bedeuten, den Fokus der Analyse auf das Produkt der Kollaboration zu lenken, das gemessen an der Geschichte von Tanz und Performance und im Kontext anderer choreographischer Arbeiten in den Augen des Kritikers als neu oder eben nicht neu erscheint. Die nüchterne Ankündigung einer »neuen Arbeit« thematisiert vielmehr die Geschichte und den Prozess des Arbeitens, der Kollaboration und Kommunikation zwischen den drei beteiligten Künstler*innen. Sie tut dies zunächst in Form der Abgrenzung zu etwas Vorgängigem, Gewesenem – etwas, das älter ist als ebenjene Arbeit, die hier angekündigt wird. Schaut man sich das Werkverzeichnis der Tänzerin und Choreographin Christina Ciupke an, so wird deutlich, dass dieser Arbeit eine weitere 8 | Husemann, 2009, S. 74. 9 | Das Interview zwischen Christina Ciupke, Daniela Hahn und Isa Wortelkamp fand am 30. Juni 2016 in Berlin statt. 10 | Das Gespräch zwischen Mart Kangro, Daniela Hahn und Isa Wortelkamp fand am 11. Okt. 2016 über Skype statt.

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Zusammenarbeit mit Mart Kangro und Nik Haffner vorausgegangen ist. In der am 8. November 2012 in den Uferstudios Berlin uraufgeführten Performance wait and see bringt Ciupke erstmals den Performer und Choreographen Kangro und Haffner, auch Tänzer und künstlerischer Direktor des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz (HZT) in Berlin, zusammen. Wait and see entstand aus der Motivation Ciupkes heraus, mit zwei Künstlern, mit denen sie bislang getrennt voneinander gearbeitet hatte und die sich nur vermittelt durch Erzählungen kannten, ein Stück zu machen. Die Bedingungen dieser Begegnung, dieser spezifischen ›ménage à trois‹, in welcher der jeweils Dritte im Bund nur durch Narrationen anwesend ist, werden Teil der choreographischen Konzeption von wait and see, das die Formen der Kommunikation befragt, indem die Positionen zueinander und die Perspektiven aufeinander in der gemeinsamen Bewegung durch den Raum verhandelt werden. Choreographie wird zu einer Beziehungs- und Kommunikationsfrage – Ciupke thematisiert auf der Bühne, was sie auch in den künstlerischen Produktionsprozessen interessiert, in denen sie in verschiedenen Konstellationen arbeitet. Wie bewegen wir uns zusammen? Wie beziehen wir uns aufeinander, ohne uns selbst in dieser Beziehung zu verlieren oder in einer ›Gemeinschaft‹ aufzugehen?11 Wie vermittle ich dem oder den anderen, wer ich in dieser Beziehung bin und wohin ich gehe? (Abb. 1) Abb. 1: wait and see, © Andreas Stirnberg

11 | Unter Bezug auf Jean-Luc Nancy und anhand von Fallbeispielen zeitgenössischer Performances diskutiert Martina Ruhsam die Möglichkeit »fragile[r], temporäre[r] und flexible[r] Kollaborationen, in denen es zu vermeiden gilt, dass die konstitutive Heterogenität der Partizipierenden verleugnet oder ignoriert wird. Welche Möglichkeiten tun sich auf, wo ein (ideologischer) Zusammenhalt nicht mehr als Voraussetzung für eine Zusammenarbeit betrachtet wird? Und welcher performative Spielraum wird eröffnet, wenn eine Gruppe über eine Repräsentation von Gemeinsamkeiten hinausgeht?« (Ruhsam, Martina: Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung. Wien/Berlin 2011, S. 17).

Schreiben als/in Per formance

Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Erfahrung der Performer*innen in wait and see setzt new work die performativen Verhandlungen über Formen und Möglichkeiten von Austausch und Narration fort, fokussiert jedoch auf eine buchstäbliche Arbeit am Austausch, dessen Verfahren und expliziten wie impliziten Regeln. Dabei liegt die Bedeutung von new work weniger in einem neuen – nie dagewesenen – Ergebnis als in der Form und Gestaltung dieser Arbeit unter den Prämissen der bereits erfolgten Kollaboration: Wie ist es möglich, unter den gegebenen Bedingungen einer wiederholten Begegnung zusammenzuarbeiten? Wie können wir anschließen an die Erfahrung des Gewesenen, und was wollen wir verändern? Wie soll, wie kann diese Beziehung gestaltet werden, welche Formen des Austauschs wählen wir? Wer sind, wer werden ›wir‹ in diesen Prozessen des Sich-Austauschens? (Abb. 2) Abb. 2: Fotocollage zu new work, fotografiert und collagiert von Christina Ciupke, Nik Haffner und Mart Kangro.

In den Interviews, die wir sowohl mit Ciupke als auch mit Kangro geführt haben, berichteten beide, dass der Performance ein sich über Monate erstreckender Prozess des wechselseitigen Geschichtenerzählens, des Teilens von Erinnerungen und

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des Diskutierens von Begriffen und Assoziationen, die die Performer*innen mit den Themen »Austausch« und »Austauschbarkeit« verbinden, vorausgegangen war. Aus diesem Netz von Gesprächen, Assoziationen und Bildern entstand eine Art Zettelkasten mit Begriffen und Zeichnungen als Archiv geteilter Erinnerungen, dessen Themen Ausgangspunkt für die Performance und eine Übertragung in Bewegung darstellten. Ein Experimentieren mit handschriftlichem Schreiben bot sich dabei als eine Form der Bewegung an, da es nicht nur einen körperlichen Akt vollzieht, sondern zugleich auch eine Weise des gleichberechtigen, im Sinne eines »gleich gültigen«12 Austauschs ermöglicht, insofern durch diese Entscheidung auch die körperliche Eingeschränktheit eines Performers aufgrund eines Bandscheibenvorfalls ausgeglichen werden konnte. Wie der Titel, so erscheint auch das Setting von new work bewusst reduziert: ein schwarzer Tisch, auf dem zu Beginn der Performance Zettel und Bleistifte liegen und unter dem sich große und kleine Kartons befinden. Die Performer stellen sich um den Tisch auf. An ihm kommen sie zusammen und bleiben, verteilt auf die unterschiedlichen Seiten des Tisches, dennoch voneinander getrennt. Auch die Alltagskleidung verweist zunächst darauf, dass es hier um eine Versammlung, ein Treffen geht, wie es tagtäglich zwischen Menschen stattfindet. Doch die Performer setzen sich nicht – die im Raum verteilten Hocker sind vielmehr den Zuschauern vorbehalten –, was eine Spannung erzeugt, die kein entspanntes Gespräch erwarten lässt. Im Fall von new work handelt es sich vielmehr um einen Dialog unter erschwerten Bedingungen, um eben diese Bedingungen zu erkunden. Ciupke selbst versteht das Stück, wie sie im Interview ausführt, als »Studie über Kommunikation«, in der sich die Performer*innen bewusst »ein Bein gestellt und es so kompliziert gemacht haben, dass Kommunikation manchmal einfach nicht zustande kommt«13. Die Performance beginnt, indem sich die Performer um den Tisch aufstellen und Haffner »erste Runde« ruft und dabei in die Hände klatscht. Dieses Signal startet einen ebenso ernsthaften wie spielerischen Schreibwettkampf, in dem die Performer um die schnellste Frage konkurrieren. Sie greifen zu ihren Bleistiften, beugen sich über den Tisch und beginnen, Fragen auf die kleinen Zettel zu schreiben. In der Performance wird Schreiben sicht- und lesbar als physischer wie mentaler Akt der Kommunikation, der sich unmittelbar vor uns ereignet. Der Tisch wird in new work zur »Schreib-Szene«, deren Materialität auch dadurch hervorgehoben wird, dass die Schreibgeräusche, das Kratzen der Bleistifte auf der Oberfläche, akustisch verstärkt werden.14 Dabei geht es um Schnelligkeit. Wer immer als Erste*r seine Frage aufgeschrieben hat und den Bleistift absetzt, darf einem der beiden anderen seine Frage übergeben, der diese dann beantwortet. Aber auch für die Antwort gelten Regeln: Sie ist begrenzt auf drei Statements bzw. drei Sätze, symbolisiert durch einen Messstab, einen Nussknacker und einen Stift, die der/die Gesprächspartner*in mit dem Fragezettel als Instrumente erhält und die den Austausch regulieren. Nach der Antwort beginnt das Schreib- und Antwortspiel von 12 | Kruschkova, Krassimira: »Mit-Sein, Kollaboration, Respons. Zur Ethik der Performance« [Vorwort], in: ebd., S. 10. 13 | Das Zitat ist dem Interview der Autorinnen mit Christina Ciupke entnommen (s.o.). 14 | Das zum Schreiben verwendete Material, Papier und Bleistifte, wurden dabei auch hinsichtlich ihrer akustischen Qualitäten ausgewählt.

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Neuem. Im Verlauf der Performance sammeln sich so mehr und mehr Zettel mit verworfenen und beantworteten Fragen auf dem Boden. Wie mit den Zetteln umgegangen wird, ist ebenfalls festgelegt: Knüllen bedeutet, dass die Frage verworfen, Falten bedeutet, dass die Frage übergeben oder für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben wird. Das Schreiben ist dabei Mittel des geteilten Dialogs, das Fragen produziert und Antworten provoziert. New work markiert auf diese Weise die machtvolle Position des Schreibenden, die immer dann sichtbar wird, wenn die schnellste Frage andere Fragen verdrängt. Das Ungefragte, das Ungesagte, die Lücken des Dialogs werden auf diese Weise ausgestellt und verweisen auf die Asymmetrien und die Operationen des Ausschlusses, die jedem Dialog, jedem Diskurs zugrunde liegen. Die Schnelligkeit des Schreibens, das Weitergeben von Fragen und die Limitierung der Antworten erzeugen dabei eine choreographische Struktur, in der Restriktionen und (Selbst-)Limitierungen von Bewegung zum Prinzip erhoben werden. Während sich die Zuschauer im Raum bewegen können, wirken die Performer in ihren Bewegungen angespannt und unter Zeitdruck. Zugleich stellt sich für die Zuschauer*innen eine Erfahrung des Ausgeschlossenseins ein, da er/sie – wie der Dritte unter den Performer*innen auch – nur die Antwort auf eine Frage hört, die er/sie nicht kennt. Die Fragen, soweit sie sich aus den Antworten erraten lassen, drehen sich dabei um Alltägliches und Persönliches, um Themen wie Körper, Liebe, Geld, Beziehungen zu anderen Menschen und zu Objekten, mit denen wir uns umgeben, um Kleidung, Geschenke, Erinnerungen, Begierden usw. Auf diese Weise bringt new work einen »Algorithmus des Austausches«15 auf die Bühne, der durch die Verkomplizierung der Bedingungen der Kommunikation ebendiese in den Blickpunkt rückt: Gibt es einen Unterschied in der Verfertigung von Gedanken im Schreiben und im Sprechen?16 Wie formuliere ich eine Frage unter Zeitdruck? Wie viele Fragen kann ich innerhalb einer Performance generieren und aufschreiben? Welche Rolle spielt Antizipation beim Fragen und Antworten? Wie viel Zeit brauche ich, um eine Antwort zu formulieren? Kann jemand durch den Akt des Schreibens aus der Kommunikation ausgeschlossen sein und gleichzeitig an ihr partizipieren? Schreiben ist in new work nicht nur Bewegungsmaterial, sondern auch choreographisches Prinzip. Choreographie wird damit in ihren beiden Bedeutungsfacetten erfasst: als Schreiben und Komposition von Bewegung. Im gleichen Zug wird das Schreiben damit zum Gegenstand der Performance und Choreographie zu einer Praxis des Dialogischen, durch die Erinnerungen, Assoziationen, Gedanken geteilt werden können. Das Schreiben ermöglicht, dass die Kommunikation zwischen den Performer*innen auf der Bühne, die im Tanz üblicherweise vor allem durch Bewegungen ausagiert wird, sich auch sprachlich manifestiert. 15 | So der Text der Tanzfabrik Berlin zur Ankündigung der Performance: »The performance proposes an algorithm of exchange between the performers in order to access and make visible one’s personal archive of memories, thoughts and all that has accumulated to shape what and who we are.« Online-Standort: www.tanzfabrik-berlin.de/en/events/299 (letzter Zugriff: 11. Sept. 2017). 16 | Vgl. Kleist, Heinrich von: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« [1805/06], in: ders., Sämtliche Werke und Briefe (Münchner Ausgabe). Bd. 2: Erzählungen, Kleine Prosa, Gedichte, Briefe. Hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Darmstadt 2010, S. 284-289.

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Während Thomas Lehmen und andere zeitgenössische Choreograph*innen ihre Arbeit in erster Linie als Kritik an bestehenden Produktions-, Distributionsund Präsentationsformen verstehen,17 die in der Aufführung und im Arbeitsprozess deutlich wird, bezieht sich das kritische Potential von new work auf eine Praxis des sozialen Austauschs und der Interaktion, die auf Teilen und Mit-Teilen basiert. (Abb. 3) Miteinander und mit den Zuschauern teilen die Performer zunächst persönliche Erinnerungen und private Einblicke, am Ende der Performance auch Obst und Gemüse, das einem Stillleben gleich auf dem Tisch arrangiert wird. Als Motiv der bildenden Kunst steht das Stillleben für Vergänglichkeit, aber auch für Wollust: Die Kargheit des Dialogs am Tisch wird hier überführt in ein soziales Ritual bei Tisch, das Performer*innen und Zuschauer*innen miteinander teilen und damit trotz der Ausgeschlossenheit des Dritten im Dialog die Performance als etwas ausstellen, an dem alle im Raum Anwesenden teilhaben. Abb. 3: Foto aus dem Probenprozess von new work, © Andreas Stirnberg

W eisen des P roduzierens In new work wird nicht getanzt, jedenfalls nicht, wenn man von einem Begriff von Tanz als virtuose Körperbewegung ausgeht. Bewegung bezieht sich hier auf Aktionen wie eben das Schreiben, das Herumgehen im Raum, das Tragen des Tischs in eine andere Position. Dynamik entsteht vor allem durch die permanente Neuaushandlung der Sprecherpositionen unter den Performer*innen und durch die Bewegung der Zuschauer*innen, die frei im Raum herumgehen und sich auf diese Weise immer wieder neu zum Geschehen auf dem Tisch ins Verhältnis setzen können. Der Tisch dient als Schreibunterlage, aber er stellt auch eine Materialisierung 17 | Vgl. Husemann, 2009.

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sozialer und kommunikativer Verhältnisse dar: Er wird zum Ort eines schreibendspielerischen Ringens um eine Kunst des Fragens und eine Kunst des Miteinander-Teilens, des Sich-einander-Mitteilens. Mit der Geste des Übergebens der Frage und der drei Instrumente rückt new work eine Struktur des Gebens und Erwiderns in den Mittelpunkt. Eine persönliche Frage, in der der Fragende in seiner persönlichen Handschrift präsent ist, bedarf einer persönlichen Antwort. Der Gebende gibt etwas von sich und fordert den anderen mit der Übergabe seiner Frage zu einer Gegengabe auf. In bestimmten Momenten der Performance ergibt sich aus dem Schreiben ein regelrechter Schlagabtausch, in dem eine Antwort schon die nächste Frage provoziert, Frage auf Frage folgt und sich so eine Narration entfaltet, die durch das Wechselspiel von Sprechen und Schreiben vorangetrieben wird. Dieses Ereignis des Beziehung-Stiftens beruht auf einer wechselseitigen Anerkennung jenseits ökonomischer Nutzenkalkulation und lässt eine Arbeitsform aufscheinen, die das Teilen in den Mittelpunkt stellt, aber zugleich auch Momente des Wettstreits, Risikos, des Scheiterns und der Langweile zulässt. Die auf das Schreiben und Sprechen bezogene Produktion des Regelapparats, der die Performance new work strukturiert und choreographiert, bringt demnach keine starren Festlegungen hervor, sondern multipliziert vielmehr die Entscheidungsräume und -zwänge im Zwischen von Struktur/Planung und Suche/Improvisation. Die Offenheit des Dialogs ebenso wie die Gleich-Gültigkeit des/der singulären Performer*in ermöglicht mit jedem Schreibvorgang aber auch immer wieder künstlerische wie persönliche Entscheidungsprozesse und fordert diese geradezu heraus. So berichtet Ciupke, reflektierend auf ihre Situation als Performerin: Klar bin ich mir bewusst, wenn ich da schreibe, dass ich performe, aber ich hab’ gleichzeitig auch einen ganz privaten Moment wie das Konzipieren von der Frage. Es gibt viele Aufgaben, die ich in dem Moment zu erfüllen hab’, während ich schreibe, obwohl ich eigentlich mit meiner körperlichen Präsenz performe. Das ist wie so’n Split: Ich brauche diesen inneren Rückzug, […] also ich muss daran denken, wie ich den Handlungsfaden weiterstricke, der gerade existiert. Wie verhält sich das? Ich muss aber auch den großen Spannungsbogen im Blick behalten und das, was mich jetzt interessiert, in eine Frage packen, die nicht zu lang sein darf und irgendwie verständlich. Ich muss noch irgendwie so schreiben, dass es der andere lesen kann.18

Hier wird das Schreiben und Produzieren von Fragen an den Vorgang des Performens und an das Produzieren der Performance selbst geknüpft. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben, wie man Heinrich von Kleists Aufsatz paraphrasierend sagen könnte,19 hält die Arbeit an der Performance am Laufen. Ihre Produktion, ihre Produziertheit wird im Vorgang des Schreibens als gedanklicher wie körperlicher Vollzug offenkundig. Dieser Eindruck verstärkt sich, zumal die Performer*innen über die Zettel auch miteinander kommunizieren, indem sie sich Anweisungen geben oder Themenwechsel einleiten und die Dynamik der Performance auf diese Weise steuern. So wurde an einer Stelle der Performance minutenlang nur geschrieben und keine Frage übergeben.

18 | Das Zitat ist dem Interview entnommen (s.o.). 19 | Vgl. Kleist, 2010, S. 284.

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Die Verständigung auf Regeln verweist zum einen auf die kollaborativen Produktionsprozesse während der Performance, zum anderen aber auch auf die Verfahren des Zusammenarbeitens, die den Probenprozess kennzeichnen. Wie Martina Ruhsam gezeigt hat, lassen sich kollaborative Arbeitsprozesse dadurch charakterisieren, dass in ihnen der Akt des Choreographierens nicht mehr ohne Weiteres einem/einer einzelnen Autor*in zugeschrieben werden kann und dass sich die am Prozess Beteiligten nicht unter einer »gemeinsame[n] Identität eines Kollektivs« versammeln.20 Vielmehr basiert das Konzept der Kollaboration auf der Idee einer geteilten Autorschaft, die von der Zusammenarbeit aller am Projekt Beteiligten gestaltet werden soll. Dabei geht es weder darum, im Namen eines anderen, noch darum, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen, sondern darum, den Einzelnen im Vielen zu Wort kommen zu lassen. Oder, wie Ruhsam im Rekurs auf Jean-Luc Nancy hervorhebt: Es geht um eine unentwegte Kommunikation zwischen Singularität und Pluralität – oder die Kunst, singulär plural zu sein: Die politische Dimension kollaborativen Arbeitens besteht nicht in einer ideologischen (= gemeinsamen) Botschaft, sondern in der exzessiven Produktion von Differenzen und in der kompromisslosen Verhandlungspraxis der singulär pluralen Autoren. 21

Dies verläuft nicht ohne Schwierigkeiten: Partizipative und paritätische Prozesse sind sensibel in der Kommunikation, die nicht selten von den Kompetenzen Einzelner bestimmt wird. Dies führt zu einer wiederkehrenden Infragestellung der Zusammenarbeit, die diese auch zum Scheitern bringen kann. Nicht zuletzt unterliegen Kollaborationen selbst Strategien der Repräsentation und des Marktes, zumal wenn ein entsprechendes Produkt – nämlich die Präsentation des Prozesses – das Ziel einer gemeinsamen Zusammenarbeit darstellt oder wenn das Phänomen der Kollaboration selbst, wie zu beobachten, zum Trend eines kulturellen Diskurses avanciert. Bojana Cvejić beschreibt diese Entwicklung wie folgt: »Collectivity and collaboration, thus, no longer appear as viable models for experimentation and critique as they are already subsumed under the institutional order and a cultural policy trend.«22 Eine andere Theoretikerin, die sich mit dieser Frage auseinandergesetzt hat, ist Bojana Kunst, für die sich das kritische Potential zeitgenössischer Kollaborationen nur dann entfalten kann, wenn der Grund für die Zusammenarbeit die Zusammenarbeit selbst ist. Erst die Loslösung von einem Ziel lenke den Blick auf die spezifische Art und Weise der Zusammenarbeit, die wiederum Einfluss auf ein mögliches Ergebnis nehmen kann.23 Die in new work aufgeführte Form des Dialogs, in dem alle drei Performer*innen als Autor*innen agieren, exponiert das Schreiben als Prozess eines kollaborativen Produzierens. Auch in anderen zeitgenössischen Produktionen, die sich mit kollaborativen Praktiken auseinandersetzen, kommt das Schreiben zum Einsatz. Zu nennen wäre etwa Reportable Portraits (2007) von deufert & plischke (200120 | Ruhsam, 2011, S. 18. 21 | Ebd., S. 72. 22 | Cvejić, Bojana: »Collectivity? You mean Collaboration«. Online-Standort: http:// republicart.net/disc/aap/cvejic01_en.htm (letzter Zugriff: 11. Sept. 2017). 23 | Vgl. Ruhsam, 2011, S. 195: »Deshalb wird das Interesse an spezifischen kollaborativen Methoden das sinnentleerte Gerede über Kollaborationen ablösen müssen.«

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2007), in dem eine Form des kollektiven Schreibens und Choreographierens praktiziert wird, das auf dem Weitergeben und Reformulieren von Texten und Bewegungen basiert. Zu verweisen ist ferner auf die performative Installation Human Writes von William Forsythe und Kendall Thomas (2005), in der die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zur Grundlage der Choreographie wird. Die Produktion von Bedeutungen, im Grunde ein Überschuss an Bedeutung (denn die meisten aufgeschriebenen Fragen werden in Verlauf der Performance unbeantwortet bleiben), die in new work in Szene gesetzt wird, macht Bewegung als Diskurselement sichtbar. Durch die Fokussierung auf Schreiben und Sprechen schlägt new work ein Verständnis von Performance als Aushandlungsraum vor. Tanz operiert hier nicht außerhalb des Diskurses, sondern stellt sich als Teil des Diskurses aus und fordert damit auch eine neue Bezugnahme von Seiten der Zuschauer*innen und eben auch der Tanz- und Theaterwissenschaft heraus, um künstlerische Praktiken nicht primär als das Nicht-Diskursive und zu Kritisierende zu begreifen. Als dialogische und kritische Praxis stellt new work Fragen und stellt in Frage, auf welche Art und Weise und unter welchen Bedingungen eine ›neue Arbeit‹ entsteht, indem sie die Arbeit des Produzierens im Schreiben selbst sichtbar macht. Die Erfahrung der Performance und die Auseinandersetzung mit ihrer Entstehung ermöglicht zudem verschiedene Zugänge zur Reflexion der Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft, wie sie für uns im Forschungsprojekt »Writing Movement«, in welchem Künstlerinnen wie Wissenschaftlerinnen beteiligt sind, eben auch eine ›neue Arbeit‹ ist. In ihr geht es unter anderem darum, implizite wie explizite hierarchische Differenzen der Disziplinen zu überwinden, paritätische Diskussionsformen zu etablieren und Denk- und Arbeitsräume ausfindig zu machen, die nicht von vornherein Verhaltensweisen vorgeben oder verhindern. Dabei erweist es sich als fruchtbar, künstlerische Praxis im Tanz – als performative Kunst, Fragen zu stellen – in ihren Konsequenzen für eine wissenschaftliche Praxis zu bedenken und dabei eine Reflexion von Praxis anzustreben, die sich nicht nur auf die Kunst des Tanzes oder des Theaters, sondern auch auf ihre Wissenschaft bezieht. Im Blick auf new work kann Performance als eine Kunst, Fragen zu stellen, verstanden werden, die sich unmittelbar auf unser Tun im akademischen Kontext beziehen ließe. Denn, folgt man Jacques Derrida, ist Die unbedingte Universität, so der deutsche Titel des Buches, ein prädestinierter Ort der Hervorbringung von Wissen und der Befragung dieser Hervorbringung: Die Universität müßte also auch der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht: Die gegenwärtige und determinierte Gestalt der Demokratie sowenig wie selbst die überlieferte Idee der Kritik als theoretischer Kritik, ja noch die Autorität der Form ›Frage‹, des Denkens als Befragung. 24

24 | Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität. Frankfurt a.M. 2001, S. 14.

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Politics of Touch Körper, Berührung, Kritik Fanti Baum Es gibt nicht »den« Körper, es gibt nicht »das« Berühren, es gibt nicht »die« res extensa (Jean-Luc Nancy)1

Berührung: eine Geste, abwesend und zugleich doch da, spürbar hinterlässt sie kaum Spuren, ist sie im selben Maße eine bewusste Entscheidung, gerade nicht zu fassen, zu greifen, zu packen (oder gar zu verstehen), sondern zu berühren. Die Berührung steht gewöhnlich auf der Seite des Sinnlichen, und zwischen res cogitans und res extensa würde sie klar den Phänomenen der körperlichen Erscheinungen zugeschlagen. Kurz gesagt: Berührung, das ist diesseits von Denken und Kritik. Der Text lanciert eine gegenteilige These und unternimmt den Versuch, Körper, Berührung, Affekt und Kritik zusammen zu denken. Zugleich möchte er den Begriff der Berührung in seiner Bedeutung verschieben, ihm Anderes abringen, eine Öffnung anzeigen. Dabei scheint klar: Es gibt nicht das Berühren. Denn schon in der naheliegenden Vorstellung von einer Hand, die etwas berührt, liegen »Welten zwischen einer greifenden Hand, die sich verbrennt, einer zeigenden Hand, einer Hand, die den Abstand zwischen Menschen misst und einer Hand, die jemanden berührt und tastet«2 . Was aber genau ist das Verhältnis zwischen Körper, Berührung und Kritik? Berührung soll in einer weiten Bandbreite ausgelotet und nicht zuletzt mit folgenden Fragen konfrontiert werden: Auf welche Weise verschafft sich Berührung jenseits von Zärtlichkeit Geltung? Inwiefern lässt sie sich als Geste der Kritik erkennen? Wann wird die Berührung oder ihre Entsetzung zu einer politischen Geste? Und vor allem: Was ist Kritik – wenn sie mit dem Körper denkt? In den folgenden Überlegungen zeigt sich Berührung in ihrer ganzen Ambivalenz und steht nicht mehr im einfachen Gegensatz zu Denken und Kritik, Politik und Gewalt.

1 | Nancy, Jean-Luc: Corpus. Zürich 2014, S. 116. 2 | Philipp Gehmacher, zitiert nach: Jeroen Peeters, Wie sich begegnen? Der Choreograph Philipp Gehmacher über Incubator und good enough, 2005. www.sarma.be/docs/926 vom 22. Sept. 2017.

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KÖRPERTREFFER: (S chrei oder S chreiben) Und noch dazu kann uns der Himmel auf den Kopf fallen. (Antonin Artaud) 3

Körpertreffer – ist der Versuch, gleich zu Beginn eine andere Dringlichkeit, gewissermaßen eine Drastik ins Feld der Berührung einzuführen. Und für die Ungeduldigen etwas an der Hand zu haben, gegen das man sich zugleich verwehren könnte: getroffen zu werden. Der Körpertreffer zeigt an, dass sich Kritik nicht einfach ohne den Körper denken lässt. Denn sinnbildlich gesprochen ist es so: Würde der Körper getroffen, hätte er sich aufs Spiel gesetzt, sich einer Situation ausgesetzt, die eben jene Möglichkeit – getroffen zu werden – vor Augen hat; oder es ist ein Körper, der eine ungesicherte Position bezieht, Deckung aufgibt, eine offene Flanke zeigt, ohne Schutz erscheint, oder gar: aus dem Hinterhalt – getroffen wird. Im kämpferischen Sinn sind es die schwersten Treffer. Sie verletzen am meisten und üben Gewalt und Macht über einen anderen Körper aus, bringen den Tod über ihn. Anders gewendet ist der Körper dann radikal offen und lässt es zu, getroffen, berührt, konfrontiert oder gar attackiert zu werden – in einem emotionalen wie ästhetischen Sinn. Im Tanz und Theater wäre das ein eher ungewöhnliches Wort: Körpertreffer. Berührung aber – quasi die weniger aggressive oder vielleicht auch zärtliche Variante – ist längst zu einer zentralen Kategorie in Tanz- und Theater avanciert. Beinahe unabhängig davon, ob dieser Begriff aus praktischer oder theoretischer Sicht gefasst wird, verbindet er doch gleichermaßen somatische Praxis und theoretische Überlegungen. Wie Jean-Luc Nancy es in der sprechenden Essayüberschrift »Rühren, Berühren, Aufruhr«4 eindrucksvoll umfasst, spannen Berührungen eine Weite, eine semantische Vielheit auf, die neben Bewegung, Bewegtheit, Emotion und Affekt auch Begriffe wie Rühren, Agitieren und Aufruhr in den Blick kommen lässt und so auf eine kritische Praxis verweist. Der Berührung, schreibt Nancy, wohnen nicht nur eine, sondern eigentlich immer schon mehrere Bewegungen inne: Touching acts and reacts at the same time. Touching attracts and rejects. Touching propels and repels – impulsion and repulsion, rhythm of the outside and the inside, of ingestion and rejection, of the clean and the unclean. 5

Was heißt es nun aber, Berührung aus einer kritischen Perspektive zu betrachten? Meine sich vorsichtig vorantastende wie kritische Frage lautet, ob die Perspektive auf das positiv Gefasste der Berührung nicht zu leicht die Gefährdung des Körpers vergisst, die die Berührung gleichermaßen bereithält. Die Gefährdung oder die Verletzbarkeit des Körpers lässt sich nur unzureichend mit dem Begriff des Körpertreffers umschreiben, aber gerade deshalb erscheint es wichtig, darüber zu denken: was Berührung vermag – fernab von annähern, heben, streifen, halten, stoßen? – Berührungsweisen, die sich wohl ohne weiteres mit Tanz in Verbindung bringen 3 | Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. Frankfurt a.M. 1996, S. 84. 4 | Nancy, Jean-Luc: »RÜHREN BERÜHREN AUFRUHR [STIRRING STIRRING UP UPRISING]«, in: Walter Heun/Krassimira Kruschkova/Sandra Noeth (Hg.), Scores 1 (2011), S. 6-13. 5 | Ebd., S. 7.

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ließen. In Corpus zählt Nancy eine Vielzahl von Begriffen auf, die zeigen, dass sich jene Berührungen als das eine Berühren6 weder fassen noch greifen lassen: streicheln, streifen, pressen, hineinschlagen, drücken, glattstreichen, kratzen, reiben, liebkosen, betasten, anfassen, kneten, massieren, umschlingen, umklammern, schlagen, kneifen, beißen, lutschen, nassmachen, halten, loslassen, lecken, wichsen, betrachten, anhören, riechen, schmecken, vermeiden, ficken, wiegen, schaukeln, tragen, wägen …7

Jene Worte changieren zwischen Nähe und Distanz, Zärtlichkeit und Gewalt, gründen und verabgründen Bewegung. Das Feld der Berührung verweist auf eine Begegnung zwischen Körpern, die ein Gemeinsames eröffnen – »Touching begins when two bodies distance themselves and set themselves apart« 8 – als ein gegenseitiges Aufmerksamsein in einem geteilten Raum. Krassimira Kruschkova gibt einen Hinweis für ein Denken der Berührung, das fernab von annähern, heben, streifen, halten, stoßen um die Verletzbarkeit der Körper weiß, wenn sie in ihrem Aufsatz »Zwischen Intention und Intension« über Phillip Gehmachers, Vladimir Millers und Meg Stuarts Arbeit The Fault Lines zunächst eindrücklich von »entrückten Berührungen« schreibt, von ihren Seherlebnissen berichtet, von Körpern, die »so intensiv einander zu verfehlen scheinen, indem sie real aufeinander stoßen«, von Bewegungen »an den Rändern der Gewalt«9 (was etwas anderes ist als deren Grenze) – und auf Nancy verweist, der in Corpus »das Gesetz des Berührens als Trennung begreift«, als »Kraft eines Körpers […], einen anderen Körper zu berühren«, was nichts anderes sei »als die De-Finition als Körper«10 – und es wie folgt auf den Punkt bringt: Fault lines. Körper, die die Grenze zueinander berühren, ohne sie zu durchqueren, die diese Grenze sind. Ausgesetzte Körper, der Berührung ausgesetzt, in all ihrer Unermesslichkeit, Unberechenbarkeit – und Verletzbarkeit.11

Es soll nun darum gehen, wie sich in den harmonischen Diskurs der Berührung die soeben angedeuteten Diskontinuitäten und Zäsuren einschreiben, Brüche und Verwerfungslinien auffinden lassen, wie sich »die Unmittelbarkeit und Ununterbrochenheit der Berührung […] unterbrechen«12 ließe. Denn wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der Begriff des Körpertreffers zu Beginn eine Form von Drastik und Dringlichkeit in den Diskurs der Berührung einführen sollte, kommen mit ihm nun folgende Fragen in den Blick: Was heißt es, durch Berührung getroffen zu werden? Wie auf jene Verwundungen reagieren, die auf Berührung gründen, von 6 | Vgl. Eingangszitat. 7 | Nancy, 2014, S. 92. 8 | Nancy, 2011, S. 7. 9 | Kruschkova, Krassimira: »Zwischen Intention und Intension. Über die installative Performance ›the fault lines‹ von Philipp Gehmacher, Vladimir Miller und Meg Stuart«, in: Andrea Ellmeier/Doris Ingrisch/Claudia Walkenstein-Peschel (Hg.), Ratio und Intuition. Wissen/s/kulturen in Musik, Tanz, Film. Wien 2013, S. 159-166, hier: S. 163. 10 | Nancy, 2014, S. 25. 11 | Kruschkova, 2013, S. 163. 12 | Derrida, Jacques: Le toucher, Jean Luc Nancy. Paris 2002, S. 137.

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Berührungen herrühren. Wie zeigen, was kaum Spuren hinterlässt? Nicht zuletzt: Was ist das Verhältnis von Getroffen-Werden und Kritik? Daran anschließend lautet die entscheidende Frage: Wie müsste Kritik überhaupt konzeptionalisiert sein, damit sie mit dem Körper denkt?

ge troffen werden : cri oder écriture Jean-Luc Nancy öffnet in seinen Überlegungen »Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik. Critique, Crise, Cri« den Begriff der Kritik hin zu einem Verständnis der Krise: Zunächst verweist Nancy auf Adorno, der als Hauptvertreter der Kritischen Theorie Kritik nicht von einem Kriterium ableite, sondern »von der Krise und durch die Krise«13; auf Antonin Artauds und Heiner Müllers Verständnis eines Theaters als Krise; und nicht zuletzt auf Jacques Derrida, der von einem »Riss der Schrift« spreche, »der sich nicht mehr vernähen lässt«14. Der entscheidende Unterschied zwischen Kritik und Krise sei, dass die »erkennende Kritik« sich auf einem Grund denke, »auf den sie sich stützt, um – nachdem sie getrennt hat – reparieren zu können«15. Anders die Krise: Sie setze gerade kein Kriterium und keinen Grund voraus und wisse somit auch nicht um ihre Lösung: »Die Krise […] ist ohne Kriterium, denn sie ist ohne Grund«16. Kritik als Krise ist in diesem Sinne eine tiefgreifende Verstörung, in der sich die »Selbstformierung des Subjekts aufs Spiel«17 setzt und in der das Zuletzt abhanden gekommen ist. Diese Krise betrifft den Körper, denn »Leid, das unsäglich ist, erfasst die Körper« 18. Und mehr noch ist in der Krise der Riss der Schrift auch ein Riss der Darstellung; in der Krise, im Getroffen-Sein, bleibt der Riss eine Wunde: »offen wie ein Bergwerk«19. – Dass der Riss über die Schrift hinausreicht, sich von der Sprache auf den Körper überträgt, verdeutlicht Nancy, wenn er schreibt: »Der offene Riss heißt entweder cri oder écriture – Schrei oder Schreiben.«20 Dieser Relation ließe sich vielleicht hinzufügen: Körper oder Darstellung. Und damit verbunden erneut die Frage: Wie auf Verwundungen reagieren? – Klage oder die Unmöglichkeit, Krise in Schrift 13 | Nancy, Jean-Luc: »Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik. Critique, Crise, Cri.« Vortragsmanuskript, übers. v. Esther van der Osten, Nov. 2015, S. 7. – Vorgetragen im Rahmen der Ringvorlesung Kritisieren! Distanz und Engagement des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am 25. April 2016. Französische Veröffentlichung: https://diacritik.com/2016/05/13/jean-luc-nancycritique-crise-cri-unser-zeitalter-ist-nicht-mehr-das-eigentliche-zeitalter-der-kritik. 14 | Derrida, Jacques: La Dissémination, zitiert nach: Nancy, 2015, S. 9. 15 | Nancy, 2015, S. 9. 16 | Ebd. 17 | Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246, hier: S. 244. 18 | Haß, Ulrike: »Die Perser sprechen«, in: Nikolaus Müller-Schöll/Heiner Goebbels (Hg.), Heiner Müller sprechen. Berlin 2009, S. 229-239, hier: S. 231. 19 | Müller, Heiner: Die Wunde Woyzeck. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/heinermueller/dankrede vom 1. Sept. 2017. 20 | Nancy, 2015, S. 10.

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zu übertragen. Der Schrei als Grenzfall der Sprache und das Schreiben gegen das Nicht-Sagen-Können. – In diesem Sinne denkt Nancy wohl cri wie écriture, wenn er formuliert: »von der Kritik zur Krise zum Schrei oder Schreiben, zwei mögliche Haltungen der Unterbrechung der Sprache oder des Bruchs mit ihr. Eines Bruchs mit dem Diskurs«21. Jenen beiden Haltungen sei hier noch einmal kurz Aufmerksamkeit geschenkt, nicht zuletzt um sie an die aufgeworfenen Themen Körper, Berührung und Kritik rückzubinden.

C ri Dem Körpertreffer als Drastik und Dringlichkeit der Berührung steht der Schrei als Reaktion und Haltung zur Seite. Als Laut unterbricht er die Sprache, ist mehr Körper als Rede, mehr Klage als vernunftgeleitete Kritik, ist als Wunde Sprachverlust. »Der Schrei als Grenzfall der Stimme«, schreibt Ulrike Haß in ihren denkwürdigen Überlegungen »Die Perser sprechen«, »steht im engen Zusammenhang mit dem Körper, der nicht spricht, mit der Ausgesetztheit in einem Körper und der Ausgesetztheit des Körpers.«22 Den Schrei als kritische Haltung ohne Grund ernst nehmen, hieße dann den Körper in der Berührung in seiner Verletzbarkeit denken, denken, dass sich kein Treffer vernähen lässt, hören, dass die offene Wunde sich dem Verstehen entzieht, dass die Sprache, die Kritik unterbrochen ist. Und zugleich, auf dem Gebiet der Darstellung: »wach zu sein, für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich«23. Denn die Drastik der Berührung liegt nicht in dem Wunsch zu verwunden, sondern vielmehr im Wissen Antonin Artauds, dass »noch dazu […] uns der Himmel auf den Kopf fallen«24 könne. Dass das Theater dazu da sei, »uns zunächst einmal dies beizubringen«25, – lässt sich erst in dieses Wissen hinein sprechen, schreiben: –

S chreiben écriture – gehört nun für Nancy nicht nur zur Kritik und Krise, sondern verbindet sich über den Begriff des Rührens und der Wortfolge Rühren, Berühren, Aufruhr mit der Berührung. Was Zusammendenken von Körper, Berührung und Kritik hier eröffnet, ist ein Treffen, ohne zu erfassen. Körpertreffer verweist auf ein Schreiben als »Geste, um an den Sinn zu rühren«26, und dieses Schreiben betrifft jede Art der Darstellung: Ein Berühren, ein Tasten, das wie ein Anschreiben ist: wer schreibt, der berührt nicht, indem er anfasst, in die Hand nimmt, *begreift, sondern er berührt, indem er sich richtet, sich 21 | Ebd. 22 | Haß, 2009, S. 232. 23 | Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Frankfurt a.M. 2005, S. 160. 24 | Artaud, 1996, S. 84. 25 | Ebd. 26 | Nancy, 2014, S. 22.

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sendet an die Berührung eines Draußen, Entwendeten, Auseinandergerückten, Aufgespannten. Selbst seine Berührung, die wirklich seine Berührung ist, ist ihm im Ursprung entzogen, aufgespannt, auseinandergerückt. Sie ist: daß der fremde Kontakt sich ereigne, wobei der Fremde im Kontakt fremd bleibt (im Kontakt dem Kontakt fremd bleiben: das macht das Tasten aus, die Berührung der Körper). 27

Wie also lässt sich das Verhältnis von Körper und Kritik anhand dieser Überlegungen näher bestimmen? Ist die Frage: Wie auf Verwundungen reagieren?, vielleicht eine entscheidende Frage der Kritik (als Berührung)? Im Verständnis der Kritik als Krise – als offene Wunde, als Riss, der sich nicht mehr vernähen lässt – trägt die Wunde der Berührung etwas auf: »im Kontakt dem Kontakt fremd bleiben«28.

Z wischenspiel : CONTACT WITHOUT CONTACT Zwei Beispiele. Der Schrei begegnet uns dabei anders, als zu erwarten wäre. Die Berührung bleibt ohne Kontakt. Wie lässt sich nun aber szenisch davon handeln? Mir scheinen zwei künstlerische Arbeiten bemerkenswert, die Berührung auf besondere Weise thematisieren, sie selbst oder vielmehr ihre Abwesenheit als kritische Haltung formulieren. Ich möchte nicht mehr als ein kurzes Schlaglicht auf die Videoarbeit Gesang der Jünglinge 29 des Künstlerduos Korpys/Löffler und die körperliche Praxis des Wrong Contact Manifesto der beiden Tänzer und Choreographen Fred Holland und Ismael Houston-Jones werfen.

S chrei (G esang der J ünglinge ) AHH. OOHH. EEY. AAARRGH. OHGOTT. AAAAAAHHH. UURGG. Während die Kamera langsam durch ein Gebäude aus den 1980ern fährt, wiederholt sich der immer gleiche Vorgang – der jedoch nur als Ton zu einem dringt: Ein Schuss. Ein Schrei. Schmerzendes Stöhnen, das doch nie länger als fünf Sekunden anhält. Zwischen den Schreien lassen sich Stimmen vernehmen. Anweisungen: »Ablegen, ablegen und Kopf halten. Liegen bleiben«. Klagelaute und dann wieder Stimmen: »dass man gar nicht mehr atmen kann« – »Ich hab Dich, ganz ruhig«. Dann trifft die Kamera die Szene: »Alle bereit?« – Schuss. OOHH. »Nach vorne ablegen«. Korpys/Löffler zeigen eine Gruppe von Polizisten, die 2008 die (damalige) Zukunft der polizeilichen Berührung an sich selbst probt. Den Körper außer Kraft setzen, ohne Hand anzulegen. Geübt wird: Schuss. Stromschlag. Schrei. Fallen – der Taser im Polizeieinsatz. Die Kamera entzieht dem Blick zunächst das Geschehen, fährt heran, dem Ton entgegen, durch aus der Zeit gefallene Flure, trifft die Szene, schaut einige Augenblicke lang den mitunter bizarr anmutenden Macht- und Männlich27 | Ebd. 28 | Ebd. 29 | Korpys/Löffler: Gesang der Jünglinge (2009). Video, Länge 14' 22''.

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keitsgesten zu, bis plötzlich Stockhausens Gesang der Jünglinge einsetzt, die Stimmen langsam in den Hintergrund treten, ein letzter Schrei lauter, schmerzhafter, raumgreifender ertönt, der Originalton erlischt und die Kamera fortan in Zeitlupe und zum Klang Stockhausens schmerzverzerrte Gesichter, Köpfe, die nach oben schnellen, weitaufgerissene Münder, verkrampfte Körper, die langsam zu Boden fallen oder in sich zusammensacken, in Wiederholung zeigt. Jenseits konkreter Polizeigewalt – und auch jenseits einer Berührung zeigt die Kamera Körper in all ihrer Verletzbarkeit. Und das letzte Bild ist doch eins der Berührung: ein Körper am Boden, in jenem Moment, in dem alle Spannung, der ganze Schock von ihm weicht, und vier Hände, die um die kaum sichtbare Wunde auf dem Rücken greifen, die Haut, das Fleisch dort zusammenhalten und das Elektrogeschoss mit Wucht herausziehen.

B erührung (W rong C ontact M anifesto) Nicht mehr als ein Schlaglicht: Fred Hollands und Ismael Houston-Jones’ Wrong Contact Manifesto30. Als Material liegt mir nur eine Videoaufzeichnung vor, die genauso abrupt beginnt wie nach vier Minuten abbricht, dazu ein siebenzeiliges Manifest, beides aus dem Jahr 1983. Das Video ist eine Aufzeichnung einer körperlichen Praxis. Der erste Satz des Manifests lautet: »We are Black«, ein anderer: »we will fuck with flow«, und der letzte: »we will stay out of physical contact much of the time«. Allein der erste Satz offenbart, dass die beiden einem weißen Verständnis von Berührung ihre eigene Praxis entgegensetzten. Zu beobachten sind Gesten des Haltens oder vielmehr des Festhaltens, Körper, die sich ineinander verkanten, Arme und Beine, die sich verknoten, Positionen, die Bewegungen verunmöglichen, ja mit aller Kraft zu unterbinden suchen, Körper, die im Gemeinsamsein keine Rücksicht im Aufeinanderstoßen nehmen, die sich vereinzeln, zu Boden fallen, den Bewegungen des je anderen ausweichen, auch wenn es aufgrund der Distanz nicht nötig ist, um dann doch wieder aneinander oder aufeinander zu prallen. Es sind Gesten des Übergriffs, ein Arm, der sich um die Stirn des anderen legt, den Hals, die Kehle umschließt, die Stirn nach hinten zieht. Sich langsam hebende Hände. Es sind Körper, die mehr aneinander hängen als gemeinsam ihr Gewicht auszutarieren suchen, die gerade nicht eine harmonische Kommunikation suchen, sondern vielmehr Ungleichheiten, A-Symmetrie und A-Synchronizität. Es sind Sprünge, die vielleicht doch keine Angriffe sind, aber auch keine Annäherung, vielmehr ein Auseinanderfallen – ein Auseinanderfallen der bis dato geltenden Bedingungen des Tanzes. Allein der erste und der letzte Satz des Manifests verkehren und entsetzen die Tanzpraxis der Berührung. Denn – und das ist eine bloße Behauptung – die regellosen Regeln der als demokratisch gefeierten Kontakt-Improvisation waren wohl kaum in der Lage, die gesellschaftlich existierenden Ungleichheiten, Spannungen, Machtverhältnisse, Manipulationen, Gewalt, Verletzbarkeit, ganz zu schweigen von Rassismus nur irgendwie widerzuspiegeln. Beobachten lässt sich in jenen Berührungen und Nicht-Berührungen des Wrong Contact auch eine Dringlichkeit, die das Wohlgefallen der Contact Improvi30 | Videoaufzeichnung sowie Manifest Wrong Contact Manifesto finden sich unter: https:// vimeo.com/114657723.

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sation ab- und auflöst. Dabei ist den Berührungen auch ein Wissen um die gesellschaftlichen Zustände eingeschrieben, ein körperliches Wissen, das sich vielleicht mit dem US-amerikanischen Autor Ta-Nehisi Coates auf den Punkt bringen lässt: »Denn unsere ganze Begrifflichkeit«, schreibt er, »dient nur dazu, zu verschleiern, dass Rassismus eine zutiefst körperliche Erfahrung ist, dass er das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreißt, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt.«31 Dieses Wissen informiert die Praxis des Wrong Contact. Der Schrei als Klage ist hier vielleicht weniger laut vorgetragen, zeigt sich vielmehr in den wenigen Zeilen des Manifests und ringt dort wie in der körperlichen Praxis mit der Frage einer möglichen Darstellung jener zum Himmel schreienden Verwundungen. Und auch wenn es im Gestenmaterial der Videoaufzeichnung nur Fingerzeige auf eine staatliche Macht gibt, möchte ich dieser Aufzeichnung vor dem Hintergrund der nicht enden wollenden Polizeigewalt in den USA und des offen befeuerten Rassismus weitere Überlegungen zur Seite stellen, nicht zuletzt um die Dimensionen der Politik der Berührung klar aufscheinen zu lassen. Der US-amerikanische Kulturkritiker Mark Greif verbindet in seinem Essay »Seeing Through Police«32 Berührung konsequent mit dem Handeln der Polizei. Das Überraschende »of being around police«, schreibt er, »is how much they touch you«33. Berührung, die im Zusammentreffen zwischen Polizei und Subjekt so verstörend wie uneindeutig, gleichermaßen freundlich wie unfreundlich sein könne. Aber das Ziel der Berührung, so die eindringliche These, die der Berührung eine entscheidende Dimension hinzufügt, sei nicht per se Gewaltausübung, sondern lässt sich in einem viel umfassenderen Sinn begreifen: »The purpose of touching by police is to make persons touchable.«34 Für Ta-Nehisi Coates zeugen jene Berührungen von der zutiefst körperlichen Erfahrung, als Schwarzer im Chicago der 1980er aufzuwachsen, und bedeuten nichts anderes, als »damit betraut [zu sein], meinen Körper zu schützen«35; die polizeiliche Androhung: »Ich könnte Sie verhaften lassen!«, bedeute nichts anderes als: »Ich könnte Ihnen Ihren Körper wegnehmen«36, in einem Land, wo der Staat die »Befugnis [hat], deinen Körper zu zerstören«37. Was bedeutet es, in der Berührung die Verwundbarkeit des eigenen Körpers zu bezeugen? Und was heißt es, touchable zu werden? Hände herzugeben, Spannung zu lösen, Widerstand aufzugeben? – Touch readies more touch – wenn jede Berührung vorbereitet für noch mehr Verwundbarkeit? Was gibt der Körper zu denken auf, wenn Kontakt und Zugriff Krise sind? Wenn sich Berührung als Machtinstrument offenbart? – Ohne dass die Körper sich diesem entziehen könnten? Letztlich geht es immer noch um die gleiche Frage: Wie auf Verwundungen reagieren? Was hieße es, in der Berührung »die politischen Möglichkeiten der Körper zu Gehör 31 | Coates, Ta-Nehisi: Zwischen mir und der Welt. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. Berlin 2015, S. 17. 32 | Greif, Mark: »Seeing Trough Police«, 2016. https://nplusonemag.com/issue-22/police/seeing-through-police/vom 13. April 2017. 33 | Ebd. 34 | Ebd. 35 | Coates, 2015, S. 29. 36 | Ebd., S. 97. 37 | Ebd., S. 17.

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bringen? (das, was ein Körper ertragen kann, aber auch an Widerstand entfalten kann […])«38. Wie nur lassen sich die »Vielfältigkeit und die Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht ausspielen«39? Und wie kann hier »der Stützpunkt des Gegenangriffs«40 der Körper sein? – Mit welchem Recht und mit welcher Kraft können die Körper diesen Aufstand wagen?

S chrei oder Z orn . U nd immer noch » leben zu machen oder in den Tod zu stossen « 41 Mir soll nicht wohl sein, sonst würde ich mich/ausruhen/ und hätte Linderung im Schlechten/Mir soll schlecht sein im/Schlechten/und schlecht, solange es Schlechtes gibt/ Mir soll nicht wohl sein/Solange es/ein Atom/einen Hauch Schlechtes gibt/will ich leiden/immer (Antonin Artaud) 42

Zorn ist nun nicht einfach nur die Antwort auf die Frage, wie auf Verwundungen reagieren oder wo die politischen Möglichkeiten der Körper suchen. Zorn ist deshalb so interessant, weil Werner Hamacher ihn als »Affekt der Kritik« vorschlägt, der als solcher »das Leiden in Handeln konvertieren«43 könne. Gerade als »Affekt der Kritik« lässt sich der Zorn mit Nancys Verständnis der Kritik als Krise zusammen denken. Im Schrei oder Schreiben oder Zorn erscheint der Körper als Kritik – die sich radikal von der erkennenden Kritik unterscheidet, nicht zuletzt weil Schrei oder Zorn als Affekt die Sprache unterbrechen und mehr noch weil der Körper um die eigene Verletzbarkeit und jene offene Wunde weiß. Zorn, das ist vielleicht nur das, was bleibt am Getroffen-Sein. Aber darin tritt der Zorn, jedes Kriterium aussetzend, in Erscheinung und hält die Möglichkeit bereit, Kritik und Affekt in der Krise zusammen zu denken. Denn auch die Krise, so schreibt ja Nancy, ist ohne Kriterium, weil ohne Grund. Zorn wiederum, so bringt es Hamacher auf den Punkt, »ist das Kriterium noch vor und für alle Kriterien«44.

38 | Sforzini, Arianna: »Widerstehende und kämpfende Körper auf den Bühnen Michel Foucaults«, in: Ann-Cathrin Drews/Katharina D. Martin (Hg.), Innen. Außen. Anders. Körper im Werk von Gilles Deleuze und Michel Foucault. Bielefeld 2017, S. 321-344, hier: S. 341. 39 | Foucault, Michel: »Recht über den Tod und Macht zum Leben« (= Foucault, 2014a), in: Andreas Folkers/Thomas Lemke (Hg.), Biopolitik. Ein Reader. Berlin 2014, S. 65-87, hier: S. 85. 40 | Ebd. 41 | Ebd., S. 68. 42 | Artaud, zitiert nach: Mehdi Belhaj Kacem, Artaud und die Theorie des Komplotts. Berlin 2017, S. 72. 43 | Hamacher, Werner: »Das eine Kriterium für das, was geschieht. Aristoteles: Poetik. Brecht: Kleines Organon«, in: Olivia Ebert/Eva Holling/Nikolaus Müller-Schöll/Philipp Schulte/Bernhard Siebert/Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Kritik. Bielefeld 2018, S. 19-35, hier: S. 30. 44 | Ebd.

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Kritik als Affekt wäre eine riskante Praxis, eine Praxis, die das Urteil aussetzt, diesseits von diesem agiert. Doch was kann uns das für das Theater sagen? Wie tritt Zorn in Erscheinung? Wie überhaupt mit ihm beginnen, ihn auslösen? – Nun könne es »dem Dramaturgen – dem Stückeschreiber, dem Theatermacher, dem Schauspieler – nicht um die Betrachtung des Zorns zu tun sein«, so Hamacher, es müsse ihm stattdessen »auf die Entfesselung des Zorns ankommen«45. Dies könne nur gelingen, wenn die Theatermacher jede Sicherheit aufgäben – und stattdessen den Zorn entfesselten, »indem gezeigt wird, dass er angezeigt ist«46, das »Zeigen immer auch ein Zeigen des Nicht-Zeigen-Könnens ist – und […] das Angezeigte, der Zorn, keiner Regel untersteht, sondern jede Regel freistellt«47. Schreibend zeigen, dass er angezeigt ist, der Zorn – als Unterbrechung der Sprache zugunsten einer »Praxis der Freundlichkeit«48, so ließe sich vielleicht die Arbeit des kamerunischen Politikwissenschaftlers Achille Mbembe und seine Erwiderung Nekropolitik auf Foucaults Biopolitik begreifen. – »Um nämlich Zorn zu sein«, so noch einmal Hamacher, »muß er sich gegen die Verletzung des Respekts vor dem Menschlichen richten […] und zu einer eingreifenden Regung der Menschenfreundlichkeit werden«49. Nicht einverstanden zeigt sich Mbembe mit folgender Annahme Foucaults in dessen Vorlesung »In Verteidigung der Gesellschaft«: »Das Recht der Souveränität besteht […] darin, sterben zu machen oder leben zu lassen. Danach installiert sich dieses neue Recht: das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen.«50 Mbembe entgegnet diesem zentralen Gedanken der Biopolitik mit Blick auf den europäischen Kolonialismus und den gegenwärtigen Postkolonialismus, dass sich die »Souveränität letztlich vor allem durch die Macht und die Fähigkeit ausdrückt, zu bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss«51. Er fragt in diesem Sinne erneut mit Foucault: Wie kann eine solche Macht töten, wenn es stimmt, daß es im wesentlichen darum geht, das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen?52

Dies lässt sich schon bei Foucault nur mit Rassismus erklären; Mbembe erweitert den Blick auf den Nationalsozialismus um den europäischen Umgang mit den Kolonien und um die gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen. Hinzufügen ließe sich wohl ohne weiteres die Polizeigewalt in den USA. Und so hält Mbembe an der Formulierung Foucaults in »Recht über den Tod und Macht zum Leben« fest. Denn die Souveränität zeichne sich vor allem »durch die Macht und Fähigkeit

45 | Ebd. 46 | Ebd., S. 31. 47 | Ebd. 48 | Ebd., S. 30. 49 | Ebd. 50 | Foucault, Michel: »In Verteidigung der Gesellschaft« (= Foucault, 2014b), in: Folkers/ Lemke, 2014, S. 88-114, hier: S. 90. 51 | Mbembe, Achille: »Nekropolitik«, in: Folkers/Lemke, 2014, S. 228-273, hier: S. 228. 52 | Foucault, 2014b, S. 104.

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aus, zu bestimmen, wer leben wird und wer sterben muss«53; in Foucaults Worten handelt es sich um die Macht, »leben zu machen oder in den Tod zu stoßen«54. Zorn wäre dann vielleicht jene Haltung, mit der Mehdi Belhaj Kacem seinen Vortrag Artaud und die Theorie des Komplotts schließt. Auch dieser Zorn wäre zu verstehen als eine »Praxis der Freundlichkeit, die es noch nicht gibt, ein praktischer Affekt für eine ausstehende Praxis«55. So lange wir unaufhörlich absolut nutzloses und abscheuliches Leiden erzeugen; so lange wir wissen, dass jede Sekunde irgendwer, Mensch oder Tier, gequält, gemordet, geschlagen, verstümmelt, vergewaltigt, seines Seins beraubt wird; so lange wird auch jegliche Prätention, zu schreiben, zu denken, schöpferisch tätig zu sein, ohne von diesem überzähligen Leiden ein Aufhebens zu machen, null und nichtig sein. 56

53 | Mbembe, 2014, S. 228. 54 | Foucault, 2014a, S. 68. 55 | Hamacher, 2018, hier: S. 30. 56 | Kacem, Mehdi Belhaj: Artaud und die Theorie des Komplotts. Berlin 2017, S. 73.

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Kritik und Kreativität im devised theatre Markus Wessendorf Während der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich im anglo-amerikanischen Theater, und zwar sowohl im Kulturbetrieb als auch im Ausbildungsbereich, die Produktionsweise des devised theatre etabliert, die zuerst 1994 von der britischen Theaterwissenschaftlerin und -praktikerin Allison Oddey in ihrer Publikation Devising Theatre: A Practical and Theoretical Handbook vorgestellt wurde.1 Seitdem sind viele weitere Bücher, Aufsätze und Zeitschriftensonderausgaben zu diesem Thema erschienen.2 Viele Theaterinstitute haben in den letzten Jahren Lehrveranstaltungen zum devised theatre zusätzlich zu bereits bestehenden Regie-, Schauspiel- und Bühnendesignkursen in ihre Studienpläne aufgenommen, und selbst der größte amerikanische Verband in diesem Bereich – das Kennedy Center American College Theatre Festival (KCACTF) – hat für die alljährlich regional stattfindenden Wettbewerbe zwischen Instituten eine neue Kategorie für devised theatre geschaffen. Eine große Zahl der britischen und amerikanischen devised theatre-Gruppen sind mittlerweile auch von der Kritik anerkannt: Forced Entertainment, Frantic Assembly und Complicité in Großbritannien; Elevator Repair Service, The Nature Theatre of Oklahoma sowie die aus Goat Island hervorgegangene Gruppe Every house has a door in den Vereinigten Staaten – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Oddey definiert devised theatre als »a process of making theatre that enables a group of performers to be physically creative in the sharing and shaping of an original product that directly emanates from assembling, editing, and re-shaping individuals’ contradictory experiences of the world«3. Der britische Theaterwissenschaftler David Williams charakterisiert diese Theaterform vor allem als ein »self-reflexive theatre«, das sich durch »micro social models of interactivity«, die Vorstellung des Performers als eines »multi-functional ›artist maker‹ [who is] thinking through performance«, die Verwendung einer breiten Palette an »generative 1 | Oddey, Alison: Devising Theatre: A Practical and Theoretical Handbook. London/New York 1994. 2 | Z.B. Heddon, Deirdre/Milling, Jane: Devising Performance: A Critical History. Basingstoke/ New York 2006; O’Gorman, Siobhán/McIvor, Charlotte (Hg.): Devised Performance in Irish Theatre: History and Contemporary Practice. Dublin 2015; Syssoyeva, Kathryn Mederos/ Proudfit, Scott (Hg.): Women, Collective Creation, and Devised Performance: The Rise of Women Theatre Artists in the Twentieth and Twenty-First Centuries. Basingstoke/New York 2016; Theatre Topics 15, 1 (März 2005); The Dramatist, März/April 2015. 3 | Oddey, 1994, S. 1.

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techniques«, das kontinuierliche Nachdenken über die »processes/practices/representations/assumptions« der eigenen Theaterarbeit sowie die Vielfalt möglicher »end points«, auf die diese Arbeit hinzielen mag, auszeichnet.4 Die kollektive Ausrichtung des devised theatre schließt dabei aber weder eine flexible Arbeitsteilung innerhalb der Gruppe im Hinblick auf künstlerische, technische und organisatorische Verantwortlichkeiten noch die Zusammenarbeit mit Regisseuren oder Dramatikern aus, nur dass eben die Privilegierung eines singulären Gestalters bzw. geistigen Urhebers der Theaterproduktion zugunsten der Teilhabe aller Gruppenmitglieder am kreativen Prozess vermieden wird und dieser selbst im Vordergrund steht. (Aufgrund ihrer Offenheit sowohl für die Kontingenz des kreativen Prozesses als auch für die künstlerische Mitwirkung des Ensembles werden Regisseure wie Mary Zimmerman, Anne Bogart und Robert Lepage häufig dem devised theatre zugerechnet, Regie-auteurs wie Robert Wilson oder Richard Foreman hingegen nicht.) Die Praxis des devised theatre ist natürlich älter als der von Oddey 1994 eingeführte Begriff und hat durchaus in den verschiedenen Theater- und PerformanceAvantgarden der 1910er und 1920er Jahre (Futuristen, Dadaisten, Surrealisten) sowie dem experimentellen Theater der 1960er und 1970er Jahre (Open Theatre, The Living Theatre, Jerzy Grotowski) wichtige Vorläufer.5 Auch wenn Bertolt Brecht in diesem Kontext selten erwähnt wird, nimmt doch das »auf eine kollektive Kunstübung hinzielen[de], […] zur Selbstverständigung der Autoren und derjenigen, die sich daran tätig beteiligen, gemacht[e]«6 Lehrstück mit seiner engen Rückbindung von Tat und Betrachtung, der Betonung des Produzierens und des erst durch den Umgang mit anderen zur Bestimmung seiner selbst kommenden Individuums wesentliche Merkmale des devised theatre um mehrere Jahrzehnte vorweg.7 Ähnliches gilt für Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« von 1929, dem zufolge das »Kollektivum der Kinder« während des Probenprozesses selbst – d.h. ohne externe Anleitung – die »unvermeidlichen moralischen Ausgleichungen und Korrekturen […] an sich vor[nimmt]«8. Brechts Lehrstücken und dem devised theatre vergleichbar, kommen die Aufführungen des proletarischen Kindertheaters dabei eher »nebenbei, man könnte sagen: aus Versehen, zustande, beinahe als ein Schabernack der Kinder, die auf diese Weise einmal das grundsätzlich niemals abgeschlossene Studium unterbrechen«9. Ein wichtiger Unterschied zwischen Lehrstück und proletarischem Kindertheater einerseits und dem devised theatre andererseits besteht allerdings darin, dass Brechts und Benjamins Pädago-

4 | Zit. in Horwitz, Andy: »The Politics of Cultural Production in Theater (Or, Devise This), Part I«, in: Culturebot vom 30. November 2012 (www.culturebot.org/2012/11/15219/ the-politics-of-cultural-production-in-theater-or-devise-this-part-i/). 5 | Vgl. Heddon/Milling, 2006, S. 29-45. 6 | Zit. in Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. 2., verb. Aufl. Stuttgart 1976, S. 11f. 7 | Vgl. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch: Theater. Stuttgart 1980, S. 420f. 8 | Benjamin, Walter: »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, in: Gesammelte Schriften. Bd. II-2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 763-769, hier: S. 765. 9 | Ebd.

Kritik und Kreativität im devised theatre

giken jeweils bereits der »Nachahmung [dienende] hochqualifizierte […] Muster«10 bzw. durch einen Leiter vorgegebene »Stoffe, Aufgaben, Veranstaltungen«11 voraussetzen, wohingegen selbst diese im devised theatre zumeist von Grund auf erarbeitet werden müssen. Als weitere theoretische Referenzpunkte für das devised theatre können die Theorien Jacques Rancières und Gilles Deleuzes gelten. Rancières Grundannahme einer »Gleichheit der Intelligenzen«12, die auf der Einsicht beruht, »dass jedes Werk der menschlichen Kunstfertigkeit ein Praktizieren derselben intellektuellen Virtualitäten«13 ist, sowie der auf dieser Annahme beruhenden Vision »einer Gesellschaft von Emanzipierten […], die eine Gesellschaft von Künstlern wäre«14, entspricht im devised theatre die Gleichwertigkeit aller in den kreativen Prozess einfließenden, künstlerisch-praktischen und intellektuell-theoretischen Vermögen der Beteiligten. Das devised theatre verweigert die ungleiche traditionelle Beziehung, innerhalb derer ein »Lehrmeister« (in diesem Falle ein Dramatiker, Regisseur oder Dramaturg) seinen »Schülern« (z.B. Schauspielern oder Bühnentechnikern) sein überlegenes Wissen vermittelt. Stattdessen geht es um einen kreativen Lernprozess, in dem alle Beteiligten zunächst gleichermaßen »unwissend« sind und im Verlaufe dessen sie nie die »Richtigkeit« des jeweils von den anderen Generierten, sondern lediglich ihre gegenseitigen Bemühungen, etwas Neues herzustellen, verifizieren können. Was Deleuze betrifft, sind vor allem seine (zumeist mit Félix Guattari entwickelten) Begriffe des Rhizoms, der Assemblage und des Plateaus für das Verständnis des devised theatre von großer Bedeutung. Die britische Performance-Theoretikerin Laura Cull hat in ihrer Monographie Theatre of Immanence: Deleuze and the Ethics of Performance (2013) insbesondere Deleuzes Vorstellung von »immanent modes of organization and creativity«15, die auch ohne »leader, director, author or transcendent idea«16 auskommen, auf die kollektiven Theaterschöpfungen der 1960er und 1970er Jahre sowie auf die Arbeiten der devised theatre-Gruppe Goat Island bezogen. Es geht hier nicht darum, den vor allem im deutschsprachigen Raum etablierten, von Hans-Thies Lehmann eingeführten Begriff des postdramatischen Theaters durch das Konzept des devised theatre zu ersetzen bzw. dieses als Gegenkonzept zu behaupten.17 Obwohl ein 2012 in England erschienenes Gutachten mit dem Titel Teaching Post-Dramatic Devised Theatre in Higher Education18 die relative Austauschbarkeit beider Begriffe suggeriert, unterscheiden sie sich doch in ihren 10 | Brecht zit. in Steinweg, 1976, S. 51. 11 | Benjamin, 1977, S. 765. 12 | Rancière, Jacques: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien 2007, S. 90. 13 | Ebd., S. 50. 14 | Ebd., S. 88. 15 | Cull, Laura: Theatre of Immanence: Deleuze and the Ethics of Performance. Basingstoke/ New York 2012, S. 25. 16 | Ebd., S. 25. 17 | Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999. 18 | Wilson, Julia/Manchester, Helen: Teaching Post-Dramatic Devised Theatre in Higher Education. Manchester 2012 (https://www.heacademy.ac.uk/system/files/palatine_deva​ ward_wilson_manchester_2012.pdf).

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Ausrichtungen. Obwohl das devised theatre, wie das postdramatische Theater, die Vorrangstellung des dramatischen Textes in der theatralen Produktion verweigert, befasst es sich eher mit Fragen des künstlerischen Prozesses und der diesen befördernden Verfahrensweisen, weniger mit zu realisierenden ästhetischen Vorstellungen (auch wenn die gemeinschaftliche Kreation dabei formal in der Regel eher zu episodischen und entflochtenen als zentral kontrollierten und durchgestalteten Arbeiten führt). Im postdramatischen Theater hingegen (zumindest in Lehmanns Darstellung) geht es eher um die zur Herstellung eines Performance-Textes führenden kreativen Strategien als um dessen Ästhetik, Struktur und Rezeption. Trotz dieser unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen weisen aber viele Produktionen des devised theatre einen Umgang mit Theaterzeichen auf, den Lehmann als typisch für das postdramatische Theater charakterisiert: »Parataxis, Simultaneität, Spiel mit der Dichte der Zeichen, Musikalisierung, Visuelle Dramaturgie, Körperlichkeit, Einbruch des Realen, Situation/Ereignis«19. Ein Großteil der von Lehmann angeführten Beispiele postdramatischen Theaters lässt sich umgekehrt auch dem devised theatre zurechnen (mit Ausnahme allerdings der als primäre Autoren ihrer Inszenierungen geltenden Regisseure Robert Wilson, Einar Schleef u.a.). Das im Kontrast zum postdramatischen Theater schwächer theoretisierte devised theatre hat im anglo-amerikanischen Raum sowohl als künstlerische Praxis als auch in der Theaterpädagogik weite Verbreitung gefunden, wohingegen der Begriff des Postdramatischen weitgehend auf den theaterwissenschaftlichen Diskurs beschränkt geblieben ist. Obwohl in Deutschland durchaus eine starke Tradition des devised theatre besteht – siehe vor allem die aus dem Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft hervorgegangenen Gruppen Showcase Beat Le Mot, Gob Squad, She She Pop und Rimini Protokoll –, gibt es für diese Theaterform nach wie vor keinen entsprechenden deutschen Begriff, der sich durchgesetzt hätte. (Wolfgang Stings Eintrag im Wörterbuch der Theaterpädagogik übersetzt »Devising Theatre« einfach als »Theater herstellen, Theater erfinden«20.) Im Folgenden soll das Verhältnis des devised theatre zu zwei Formen der Kritik untersucht werden: Zum einen spielt »Kunstkritik« als Beurteilung des jeweils kreierten theatralen Materials eine wichtige Rolle im sich durch konstante Selbstreflexion entfaltenden kreativen Prozess des devised theatre, zum anderen wird dessen Produktionsweise bereits auf einer formalen Ebene häufig als implizite sowie performative Kritik an bestehenden sozioökonomischen Verhältnissen wahrgenommen. Wie bei anderen theatralen Arbeitsweisen ist auch im devised theatre der projektinhärente kritische Diskurs von großer Bedeutung, weil er das zu entwickelnde Material produktionsdramaturgisch zu strukturieren hilft. Die meisten devised theatre-Praktiker gehen aber zunächst nicht von einem Kräftegleichgewicht zwischen Kreativität und kritischem Feedback aus, sondern vielmehr von einem Machtgefälle zugunsten der Kritik: Eine beiläufig hingeworfene negative Bemerkung kann bereits den kreativen Impuls ersticken. Kreativität braucht zunächst einmal, so die Grundannahme vieler anglophoner devised theatre-Ensembles, einen experimentellen und urteilsfreien Raum, in dem Wertsetzungen suspendiert 19 | Lehmann, 1999, S. 146. 20 | Koch, Gerd/Streisand, Marianne (Hg.): Wörterbuch der Theaterpädagogik. Berlin/ Milow 2003, S. 73.

Kritik und Kreativität im devised theatre

und alle Ausdrucksformen zugelassen sind. Dies ist gerade auch im Hinblick auf eine Praxis relevant, in der nicht von einer virtuosen Beherrschung künstlerischer Techniken ausgegangen werden kann bzw. diese keine Voraussetzung für devising darstellen. Aus dem Missverhältnis zwischen Kritik und Kreativität folgt für viele Praktiker, dass in einem experimentellen künstlerischen Prozess, in dem alles möglich und zulässig sein soll, nur die kritische Reflektion bestimmten Einschränkungen unterliegt. Viele devised theatre-Gruppen haben den critical response process ­der amerikanischen Choreographin Liz Lerman übernommen, der sich dadurch auszeichnet, dass die auf das von anderen Beteiligten generierte Material reagierenden Beobachter bzw. »Respondenten« sich zunächst durch gezielte Fragen an die Produzenten mit deren Intentionen, Arbeitsweisen usw. vertraut machen müssen, bevor sie ihre eigene Meinung zu diesem Material äußern können.21 Die Kontrolle über diesen Prozess liegt dabei durchgängig bei den Produzenten, nicht den Beobachtern. Deren Fragen sollen die Produzenten dazu bewegen, sich über die Motivierungen und Strukturierungen der eigenen Arbeit klarer zu werden (um diese dann entsprechend umzuarbeiten). Kritik ist nur als Frage an die Arbeit, nicht als deren wertende Evaluation zulässig. Es geht letztendlich darum, dem kreativen Impuls selbst auf die Spur zu kommen, das Hervorgebrachte von innen heraus zu verstehen und in der kritischen Erwiderung Fluchtlinien für das Vorantreiben dieses Impulses zu eröffnen. Das dem devised theatre zugrunde liegende Modell der produktionsinternen Kritik als Feedbackschleife zwischen der Hervorbringung szenischen Materials und dessen reflektierender Befragung soll dabei Negativität gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern und ihrer Arbeit ausschließen, und zwar auf verschiedenen Ebenen: als Geschmacksurteil, als persönlicher Angriff, als aufgrund unhinterfragt übernommener Kriterien erfolgende Ablehnung, als wie auch immer vermittelter Überlegenheitsanspruch der Kritik über den kreativen Prozess. Eine der wenigen Publikationen, die sich ausführlicher mit dem Verhältnis von Kritik und Kreativität im devised theatre auseinandersetzen, ist das 2007 von Stephen Bottoms und Matthew Goulish herausgegebene Buch Small Acts of Repair: Performance, Ecology, and Goat Island, das die Philosophie, Produktionsästhetik und Workshop-Pädagogik der ehemaligen Chicagoer Gruppe Goat Island dokumentiert. Kritik ist für Goat Island die Fähigkeit, das jeweils Produzierte in seiner Besonderheit und Singularität wahrzunehmen, ohne es auf einer übergeordneten konzeptionellen Ebene wiederum zum Objekt eines Diskurses zu machen, der sich dann als unabdingbares Korrektiv zu den von der künstlerischen Arbeit aufgeworfenen Problemen in Szene setzen kann. Often we think we can engage the critical mind separately from the creative mind. We think that to be critical means to be negative. In fact, critical simply means discerning, or able to separate the observed object into parts. The critical mind turns out to be another version of the creative mind. If we think of critical as negative, however, if we think our critical task is

21 | Vgl. Lerman, Liz/Borstel, John: Liz Lerman’s Critical Response Process. Takoma Park 2002.

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to observe and make a collection of problems to be corrected, then problems become the object of our creative mind masquerading as a critical mind. 22

Goat Island werfen die Frage auf, wie eine kritische Praxis denkbar wäre, die sich genauso experimentell und zukunftsoffen vortasten würde wie der devising-Prozess selbst, mit dem sie sich zeitgleich entwickeln soll, als sich in konstanter Rückkopplung mit der künstlerischen Produktion hervorbringende und dieser inhärente Kritik. Das Entscheidende für Goat Island ist es, einen Prozess zu finden, in dem künstlerisches Experimentieren und das Reflektieren darüber sich so zueinander verhalten, dass die kritische Evaluation des generierten Materials sich aus dem künstlerischen Impuls als dessen direkte, in derselben Ausdrucksform verbleibende Verlängerung ergibt: »Rather than making a critical response to the work you are observing, make a creative response to it.«23 Die kritisch-kreative Resonanz soll dabei nicht nur anerkennen, in der Schuld der beobachteten Arbeit zu stehen, sondern dieser zugleich mit einer bewusst affirmativen Haltung des Staunens und Wunderns begegnen. Think of the creative response as your own work that would not have existed without the work you are responding to. Start with the most obvious miraculous (exceptional, inspiring, unusual, transcendent, or otherwise engaging) moment that you see in the work. […] You may have an association with that moment that makes the moment miraculous for you. 24

Bei der Reaktion auf besondere, in der Arbeit der anderen Ensemblemitglieder nachklingende Momente geht es jedoch nicht um die Herstellung einer Ähnlichkeitsrelation, sondern um die Weiterentwicklung, Metonymisierung oder Amplifikation dieser Momente in potentiell diskontinuierliche Richtungen: »You may echo the moment in your creative response, multiply it, work out from it in some other way. […] Instead of a moment, maybe you respond to a structural element, a visual element, a spatial element, or some other quality in the work observed.«25 Die konzeptionelle Ansiedlung von Kreativität und Kritik auf einer »Immanenzebene« (Deleuze) soll dabei zugleich die Herstellung einer gemeinschaftlichen Praxis begünstigen, in der sich künstlerische und kritische Intelligenzen ebenfalls immanent und egalitär zueinander verhalten: »If we can destabilize the boundaries between the critical and the creative, we may enrich them both, and discover a communal practice – one that relies on one another for inspiration and energy«26. Im Anfangsstadium jeglichen devising-Prozesses geht es zunächst einmal darum, Intentionalität möglichst zu vermeiden und spielerisch handelnd und experimentierend szenisches Material zu produzieren.

22 | Bottoms, Stephen/Goulish, Matthew: Small Acts of Repair: Performance, Ecology, and Goat Island. London/New York 2007, S. 210. 23 | Ebd., S. 211. 24 | Ebd. 25 | Ebd. 26 | Ebd.

Kritik und Kreativität im devised theatre

You need less to be someone who has something to say, and more to be someone who finds a process. Finding a process will bring up things that you would not have thought of if you had not started to do them. 27 Don’t be too full with intention. […] Remember, it has never been done before. You are not going to be communicating any already discovered »truths.« You are engaging in a job of experiment. It’s like any discovery job: you don’t know what’s going to happen until you try it. 28

Viele devised theatre-Gruppen (u.a. Goat Island) arbeiten bewusst mit engen zeitlichen Vorgaben – oder, wie die Leiterin der SITI Company und Miterfinderin der Viewpoints-Methode Anne Bogart es genannt hat, »exquisite pressure«29 –, um den Beteiligten gar keine Möglichkeit zu geben, ihre Reaktionen zu kontrollieren und im Voraus zu konzipieren, sondern sie dazu zu zwingen, Unbewusstes und Ungeplantes, Fehlleistungen und Fehltritte an die Oberfläche treten zu lassen. Viele Künstler entwickeln ihr Material aber auch durch auf Handlungsanleitungen oder gezielten Fragestellungen basierenden Improvisationen (z.B. Frantic Assembly und, als historische Vorläuferin, Pina Bausch).30 Die Relevanz der in diesem Prozess gemachten Entdeckungen kann dabei zum Zeitpunkt der Hervorbringung noch gar nicht eingeschätzt werden, sondern folgt dieser nach, als Ergebnis einer sich stets erst in der Zukunft ereignenden Rezeption, was die Ensemblemitglieder von dem Druck befreit, auf ein wie auch immer definiertes »theatralisches Meisterwerk« hinzuarbeiten. The work exists in the moment, perhaps not yet even assimilated or understood by the artists who made it. 31 Don’t bother with high standards. Get into action and don’t let anything stop you. […] It is not up to you to determine or value what you’ve done. Others will decide the significance. 32

Im Hinblick auf historische Vorläufer kommt das Kritikverständnis des devised theatre dem am nächsten, was Walter Benjamin in seiner 1920 veröffentlichten Studie über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik – vor allem in Bezug auf Friedrich Schlegel und Novalis – als »Kardinalgrundsatz der kritischen Betätigung seit der Romantik«33 herausgearbeitet hat, nämlich der »Beurteilung der

27 | Ebd., S. 217. 28 | Ebd., S. 218. 29 | Bogart, Anne/Landau, Tina: The Viewpoints Book: A Practical Guide to Viewpoints and Composition. New York 2005, S. 138f. 30 | Vgl. Graham, Scott/Hoggett, Steven: The Frantic Assembly Book of Devising Theatre. London/New York 2009, S. 175-184; Climenhaga, Royd: Pina Bausch (= Routledge Performance Practitioners). London/New York 2009, S. 51-58. 31 | Bottoms/Goulish, 2007, S. 215. 32 | Ebd., S. 218. 33 | Benjamin, Walter: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, in: Gesammelte Schriften. Bd. I-1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, S. 7-122, hier: S. 72.

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Werke an ihren immanenten Kriterien«34. Davon abgesehen, dass die Kunstkritik der Romantik vor allem Werken der Poesie gilt und an der personellen Trennung zwischen dichterischer und kritischer Tätigkeit festzuhalten scheint, könnte man das Kritikverständnis des devised theatre als eine auf theatrale Zeichensysteme und Performance-Texte ausgeweitete und auf der Aufhebung jener Trennung basierende Version der romantischen Kunstkritik verstehen (allerdings ohne dabei den romantischen Geniebegriff zu übernehmen). Wie bei Goat Island lässt sich auch bei Schlegel und Novalis die Tendenz ausmachen, die negativen Aspekte der »Selbstbeurteilung in der Reflexion«35 zu vernachlässigen: »Es ist nämlich in ihr ein notwendiges Moment aller Beurteilung, das negative, durchaus verkümmert.«36 Ist für »die Romantiker […] Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung«37, so gilt dies auch für das devised theatre, wobei Kritik hier nicht auf ein bereits vorliegendes Werk angewandt wird, sondern integral zu dessen Entstehungsprozess gehört. Benjamin zufolge haben die Romantiker »den Unterschied zwischen Kritik und Poesie aufgehoben und behauptet: ›Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, … als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, … hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst‹.«38 Während die Immanenz von Kunst und Kritik für die Romantiker dabei nicht die Personalunion von Künstler und Kritiker impliziert, lässt sich im Hinblick auf das devised theatre sagen, dass es die von den Romantikern geforderte »poetische Kritik«39 in den kollektiven kreativen Prozess selbst hineinverlegt und alle Ensemblemitglieder zugleich zu Kunstproduzenten und Kritikern dieser Produktion macht. Die für die Romantiker – aber auch das devised theatre – charakteristische Ablehnung des »Moment[s] der Selbstvernichtung«40, der möglichen »Negation in der Reflexion«41, unterscheidet sich dabei gravierend von Benjamins 1928 in seiner Einbahnstraße artikuliertem Kritikverständnis. Dort heißt es in dem Text zur »Technik des Kritikers in dreizehn Thesen«42: »IX. […] Nur wer vernichten kann, kann kritisieren«43 und »XI. Kunstbegeisterung ist dem Kritiker fremd«44. Auch wenn Negativität innerhalb des für das devised theatre typischen, durch konstante Selbstreflexion charakterisierten künstlerischen Prozesses eine möglichst geringe Rolle spielt, gilt das devised theatre nach außen hin zugleich als Negation bestehender Produktionsverhältnisse, im Theaterbetrieb und über diesen hinaus. Durch die Erprobung alternativer Produktionsweisen und gemeinschaftlicher Kommunikationsprozesse, das Insistieren auf der Immanenz von kritischem 34 | Ebd. 35 | Ebd., S. 66. 36 | Ebd. 37 | Ebd., S. 69. 38 | Ebd. (Auslassungen im Original.) 39 | Ebd. 40 | Ebd., S. 67. 41 | Ebd. 42 | Benjamin, Walter: »Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen«, in: Gesammelte Schriften. Bd. IV-1. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt a.M. 1972, S. 108f. 43 | Ebd., S. 108. 44 | Ebd., S. 109.

Kritik und Kreativität im devised theatre

und kreativem Impuls, die Grundannahme der Gleichheit aller am devising-Prozess beteiligten Intelligenzen, die Vermeidung präfigurierter Formen und präskriptiver Regeln und die Erfahrungsoffenheit für den kreativen Prozess selbst soll das devised theatre metonymisch und performativ die Vorahnung einer besseren, d.h. gerechteren, solidarischeren und lebenswerteren zukünftigen Welt vermitteln – wenngleich nicht als durchkonzipierte Gesellschaftsutopie, so doch zumindest im Sinne eines Adorno’schen Es soll anders sein. So schreiben Goat Island über ihre Arbeit: »But what if we prepare ourselves not for the world as it is, but for the world as it might become?«45 Auch wenn sich die amerikanische Theaterwissenschaftlerin Jill Dolan nicht ausdrücklich mit dem devised theatre auseinandersetzt, artikuliert ihr Begriff der utopian performatives den Beweggrund vieler in diesem Bereich arbeitender Gruppen, wenn sie schreibt: »Utopian performatives persuade us that beyond this ›now‹ of material oppression and unequal power relations lives a future that might be different, one whose potential we can feel as we’re seared by the promise of a present that gestures toward a better later.«46 Dolans Begriff bezieht sich dabei nicht nur auf das Aufscheinen und die momenthafte Vorwegnahme einer besseren Welt in Theateraufführungen, sondern schließt auch die materiellen Bedingungen der Theaterproduktion und -rezeption ein, welche die Hervorbringung einer solchen Wahrnehmung überhaupt erst ermöglichen. In einem ähnlichen Zusammenhang schreibt die amerikanische Theaterkünstlerin und -pädagogin Joan Shirle über die große Beliebtheit des devised theatre bei jungen Theatermachern: Young people feel controlled and manipulated by the consumerism that impacts every aspect of American life. Devising gives them a way to engage in independent cultural production, as opposed to consuming or purveying corporate cultural products. […] In the absence of a courageous and compelling theatre that speaks to their concerns, devising has been a way for young artists to engage with each other in the wondrous territory where art and ideas comingle to generate excitement, provocation, even hope. 47

Für die amerikanische Regisseurin und Dramaturgin Rachel Chavkin erklärt sich die Popularität des devised theatre durch dessen größere Affinität zu Teamarbeit und digitaler Kultur: »Devised theatre, perhaps because of its non-hierarchical tendencies, does often speak more viscerally to the Internet generation than a streamlined and tighter play. It’s simply more parallel to their experience of the world.« 48 Es bleibt allerdings zu fragen, ob das devised theatre, trotz des utopischen Impulses, die Welt, wie sie sein könnte, performativ vorwegzunehmen, nicht letztlich doch wieder nur auf einer formalen Ebene die Anpassung an die Bedingungen eines neoliberalen Marktes reflektiert, der die Finanzierung nicht-kommerzieller Theaterprojekte zunehmend erschwert und Künstler dazu zwingt, sämtliche Parameter ihrer Arbeit zu flexibilisieren, um auch weiterhin produzieren zu können. So 45 | Bottoms/Goulish, 2007, S. 220. 46 | Dolan, Jill: Utopia in Performance: Finding Hope at the Theater. Ann Arbor 2005, S. 7. 47 | Shirle, Joan: »Potholes on the Road to Devising«, in: Theatre Topics 15, 1 (März 2005), S. 91-102, hier: S. 99. 48 | Chavkin, Rachel: »What If … Devised Theatre Moved to the Mainstream of Theatre Making?«, in: TCG Circle vom 8. Aug. 2011 (www.tcgcircle.org/2011/08/what-if-devised-theatremoved-to-the-mainstream-of-theatre-making/).

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argumentiert der Soziologe Andreas Reckwitz in seiner 2012 erschienenen Studie Die Erfindung der Kreativität: Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, dass sich seit den 1980er Jahren in den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen ein u.a. durch »die Sensibilisierung der Aufmerksamkeit für das Neue«49 und »den Enthusiasmus für die kreative Teamarbeit«50 charakterisiertes »Kreativitätsdispositiv«51 durchgesetzt und dieses die künstlerische Produktion zum allgemein verbindlichen »soziale[n] Modell für Kreativität«52 gemacht habe. (Man denke nur an das von Silicon-Valley-Firmen wie Google oder Apple propagierte Arbeitsethos oder die in den Vereinigten Staaten weitverbreitete maker culture.) Die »ehemalige antikapitalistische ›Künstlerkritik‹ […] im Namen von Selbstverwirklichung, Kooperation und Authentizität«53, die auch von vielen Vorläufern des devised theatre mitartikuliert wurde, ist in das heutige »projektorientierte Arbeiten und in die Organisationen mit ihren flachen Hierarchien bereits eingebaut«54. Sollte Reckwitz’ Diagnose zutreffen, dass sich diese »alten, ja auch emanzipatorischen Hoffnungen in einen Kreativitätsimperativ«55 verwandelt haben, der lediglich »neuartige Zwänge eines Aktivismus permanenter ästhetischer Innovationen«56 mit sich gebracht habe, ist die Frage zulässig, inwieweit das devised theatre sich in seinen Grundzügen deutlich genug von dem gegenwärtigen, gesamtgesellschaftlich implementierten Kreativitätsdispositiv unterscheidet, um als performative Vorwegnahme einer utopischen, von Marktmechanismen und -zwängen emanzipierten Produktionsweise gelten zu können.

49 | Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität: Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012, S. 51. 50 | Ebd., S. 52. 51 | Ebd., S. 51. 52 | Ebd., S. 17. 53 | Ebd., S. 15. 54 | Ebd. 55 | Ebd., S. 18. 56 | Ebd.

Zwischen kritischem und mythischem Denken in Stifters Dinge von Heiner Goebbels Eliane Beaufils

Ein Problem von Kritik ist ihr Bezug zu anderen Diskursen, so dass sie heteronom bleibt und im Feld bestimmter Diskurse und Praktiken gefangen ist: in »einer Machtkonstellation«, »einer Kollektion gleichsam ausgestellter Ideen«, schreibt Adorno.1 Vielleicht kann das Medium Theater als Praxis aus dieser Gefangenschaft heraushelfen: Theater bemüht ja nicht nur herkömmliche Ausdrucksmittel, sondern stellt selbst materielle und körperliche Realitäten her, die sich nicht eindeutig Diskursen zuordnen lassen. Theater mag sich auf diese Weise Adornos Forderung einer anderen Sprache nähern, so dass Kritik nicht in bekannten Sprachen verfangen bleibt.2 Zahlreiche zeitgenössische Arbeiten binden außerdem ihre Reflexionen an mehr oder minder subjektive Erfahrungen, sei es durch Partizipation oder durch andere Appelle an den Zuschauer. In den Arbeiten von Heiner Goebbels werden Elemente möglichst nicht allegorisch oder symbolisch verbunden, so dass sie sich durch diese offensichtlich ›trennende‹ Vorgehensweise nicht in bekannte Diskurse einfügen. Dem Zuschauer gegenüber möchte Goebbels antiautoritär sein, wobei er allerdings eine andere Art der Ansprache entwickelt. Der Künstler betont, dass es letztendlich auf die Erfahrung und Resonanz beim Zuschauer ankomme,3 die vielleicht über das Analytische hinausgehen. Aufgrund der Komplexität des Zusammenspiels von Rationalität und Subjektivität, aufgrund der Singularität jeder künstlerischen Arbeit und der daraus erfolgenden Erfahrung, konzentriere ich mich auf das Stück Stifters Dinge. Ausgehend von Jean-Luc Nancys Mythosbegriff untersuche ich, inwiefern der Appell der Stimmen subjektiv ist und vielleicht eine andere Subjektivierung initiieren kann. Dann komme ich auf die kritischen Dimensionen des Stückes zurück, wobei

1 | Adorno, Theodor Wiesengrund: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Prismen. München 1963, S. 13; 23. 2 | »Der Gedanke [soll] sich nicht auf ›operational terms‹ bringen [lassen], sondern [versuchen], rein die Sache selbst zu jener Sprache zu verhelfen, welche ihr die herrschende sonst abschneidet« (ebd., S. 23). 3 | Goebbels, Heiner: Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater (Recherchen 96). Berlin 2012, S. 157.

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ich mich auf Judith Butlers Text »Was ist Kritik?« stütze.4 Da Heiner Goebbels’ Arbeiten nie bestimmten Themen zugeordnet werden können, sondern mit einer Kritik der Wahrnehmung einhergehen, bilden sie eine »allgemeine Kritik«, wie Butler sie untersucht. Sie sind jedoch sehr ästhetisch, so dass man den Verdacht schöpfen könnte, das Schöne hebe versöhnend das Kritische auf. Ich möchte jedoch der Hypothese nachgehen, dass gerade die entfernte Anverwandlung an das Mythisch-Poetische in der Auffassung von Jean-Luc Nancy nicht von der kritischen Dimension des Stückes wegzudenken ist und zum Nachdenken anregt.

M y thisches D enken ? S ich sagen ohne E igentümer In Proprement dit. Entretien sur le mythe kommt Jean-Luc Nancy auf eine dichotomische und mitunter verwirrende Weise auf den Mythos-Begriff zurück. Er unterscheidet das einfachste [und] traditionellste Bild des Mythos [als] Fabel, oder vielmehr als freie Erfindung und Lüge. […] Das Wort Mythos stand für den inszenierten Betrug durch historisch-politische Rationalitäten, die [aus Machtgründen erfunden wurden]. Aber mit ihrer Idee ›einer neuen Mythologie‹ suggerierte die Romantik etwas anderes. Heute würde ich es so ausdrücken: Etwas muss von sich aus für sich sprechen. [… D]as Wort Mythos erhebt den Anspruch eines Sich-Sagens, oder eines eigenen Sagens. […] Der Mythos ist ein Zeichen zu einem Sprechen ohne Eigentümer, ohne mögliche Inbesitznahme. Sagen ohne Eigentümer, denn es lässt im Gegenteil das Eigene kommen, wovon es spricht, […] oder vielmehr, das es spricht.5

Der Lügenmythos wird einem Sprechen entgegengesetzt, das Nancy mythisch nennt, weil es sein Eigenes entwickelt. Insofern lässt es sich nicht zurückbinden an Figuren oder Fabeln, er meint, es sei ein »aufkommendes Sagen«. Es scheint überdies, als würde der Weg zum aufkommenden Sagen über den ersten Mythos laufen, oder an ihm vorbei, in der Erahnung der »falschen Mythen«: An dieser Weggabelung zwischen dem mythifizierenden Mythos und dem aufkommenden Sagen hatte ich es riskiert, eine Formel zu prägen: die von der »Unterbrechung des Mythos«. [Es] schien, als wäre jeder froh, eine neue Formel zu haben, um genauso wenig den Mythos zu behaupten, wie ihn zu verdammen. Jetzt verstehe ich, dass diese Unterbrechung die Außerkraftsetzung der Lüge war und die Möglichkeit eines neuen Zugangs zum aufkommenden Sagen. 6

4 | Vor allem kann in diesem Rahmen die äußerst genaue und prägende Studie von André Eiermann nur am Rande erwähnt werden. Vgl. Eiermann, André: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste. Bielefeld 2009, Kapitel III.4.: »Wenn die Dinge stiften gehen«, S. 238-268. 5 | Vgl. Nancy, Jean-Luc/Girard, Mathilde: Proprement dit. Entretien sur le mythe. Paris 2015, S. 30-31. Übersetzung: E.B. Hervorhebung im Original. Die »Unterbrechung des Mythos« wird erstmals von Nancy in Die undarstellbare Gemeinschaft erwähnt. 6 | Vgl. Nancy/Girard, 2015, S. 32-33.

Zwischen kritischem und my thischem Denken in Stifters Dinge von Heiner Goebbels

Dieses neue Sagen setzt sich über Diskurse hinweg, »die von uns sprechen« und fremd bleiben: »Wissen, Philosophie, Religion« 7. Der Exteriorität und Festgelegtheit jener ›Sprachen‹ wird das unerschöpflich Neue dieses Sagens entgegengesetzt, »es wird ständig geboren, man kann es nie erreichen« 8: Es ist Anfang, es ist durchdrungen von der Utopie einer unmittelbaren, unfixierbaren Sprache der Dinge und Wesen selbst. Dabei ist die Angabe »Dinge und Wesen« selbst bereits determinierter als das »Sich-Sagen« Nancys, das das Eigene an keine Identität bindet, ist dieses Sagen doch gerade »ein Bezug zum selbst (auto) wie zu einem anderen (allo) [:] der andere als Nichtrückkehr zu sich und in sich«9. In Stifters Dinge 10 zischt und braust es leise, der Arm einer Maschine fräst gedämpft, es ertönen Röhren und kaum hörbare Radiowörter, dann werden die Geräusche nachdrücklicher und zahlreicher, bis der Motor einer Maschine kurz auf braust, später ein Ticken im Metronom-Stil den Rhythmus angibt, im Dunkel gehaltene Männer helles Pulver streuen, das über drei äußerst flache Becken hagelt; geometrische Licht-Linien strecken sich über die Becken, und nachdem Wasser sich langsam über sie ergossen hat, nach neuneinhalb Minuten Ton- und Objekt-Show, gleitet die Bühne in vollkommene Dunkelheit. Als indigene Gesänge sich im Dunkel und dann über Wasserschattierungen erheben, kommen inmitten der Maschinenlandschaft eindringende Schreie auf, die einander in einem lang ausgedehnten Ritual antworten. Dann werden abermals Objekt-Maschinen-Instrumente-Tableaus in Gang gesetzt, bis eine andere Stimme – diesmal ist sie einzeln und erzählerisch – sich unerwartet meldet und von einer erstarrten Schneelandschaft berichtet. Jedes Mal kommen die Stimmen ohne strikten Zusammenhang unvermutet, unverortet und einzigartig auf. Der Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Lautsprecher unregelmäßig in den Tiefen und Höhen der Bühne angesiedelt sind und dass die akusmatischen Stimmen einer entfernten, ungreifbaren Zeit angehören – einige kann man kaum verstehen. Sie klingen in diesem post-industriellen BühnenZeitalter auch wie Anrufungen früherer Zeiten, sie sind in der Tat Stimmen von Toten, Geisterstimmen.11 Durch sie taucht Menschliches auf. Mit Claude Lévi-Strauss, William S. Burroughs und Malcolm X treten jedoch nicht nur Menschen, sondern Subjekte auf den Plan, in Anbetracht der Kämpfe, die von ihnen ausgetragen wurden. Die Stimmen sind zugleich nicht-verortbar – ungenau und undatiert12 – und verort7 | Vgl. ebd., S. 31. 8 | Vgl. ebd., S. 120. 9 | Vgl. ebd., S. 58. Hervorhebung im Original. 10 | Ich stütze mich auf den 55-minütigen Mitschnitt, der von Marc Perroud im Auftrag von Heiner Goebbels angefertigt wurde. 11 | Claude Lévi-Strauss war 2007 zwar noch nicht gestorben, äußerte sich aber nur noch sehr selten in den Medien und wird gemeinhin durch seine Hauptwerke zu den Strukturalisten gezählt, somit zu einer Bewegung, die eher für die sechziger Jahre bezeichnend ist. Finter bemerkt zudem, dass aufgezeichnete Stimmen bereits zu etwas Totem werden, da sie nie wieder eingeholt werden können. Deswegen haftet das Geisterhafte allen aufgezeichneten Stimmen an. Vgl. Finter, Helga: »Akusmatische Stimmen in Heiner Goebbels’ Stifters Dinge«, in: dies. (Hg.), Medien der Auferstehung. Frankfurt 2012, S. 157-165, hier: S. 158. 12 | Finter bemerkt außerdem, dass die Stimmen nicht auf einen Ursprung wie das Väterliche, Mütterliche zurückgeführt werden können. Vgl. ebd., S. 162.

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bar, als Aufzeichnungen auf alten knisternden Tonbändern, als kämpfende Stimmen für das menschliche Geschlecht der sechziger Jahre oder als rituelle Gesänge vergangener Kulturen. Außerdem verweisen diese Kampf- und Glaubensstimmen in den rituellen Gesängen, in Stifters Erzählung und bei Lévi-Strauss auf ein inniges Verhältnis zur Natur, die als lebendige wie die Menschen von der Bühne verschwunden und nur über Wasser, Gestein, leblose Pflanzen anwesend ist. Was das Echo der Stimmen weiter entfernt, ist das Rauschen der Aufnahmen von Malcolm X und William S. Burroughs: Wie kaum anderswo ist das Rauschen der Sprache, das sich mit dem Rauschen der Apparate vermengt, hier zu hören.13 Paradoxerweise kann man das Nichtverstehenkönnen mit einem Ausgerichtetsein auf den Sinn verbinden. Denn die Stimmen kämpfen gleichsam gegen die Apparate und die Zeit an. Diese Widerständigkeit, die keinen Willen ausdrückt, lässt trotz allem ein Erklingenlassenwollen des Wortes zum Ausdruck kommen, zumal von Definitionen die Rede ist, die nicht gehalten werden können, von der Zeit, die sich geändert, von der Macht, die die Seiten gewechselt hat. In der Mitte der Aufführung spricht sich Lévi-Strauss als Einziger in seinem Namen aus und tut seine Desillusion vor dem Menschengeschlecht kund. Gerade er ist äußerst skeptisch, »antimythisch«, was die Menschlichkeit, die menschliche Welt, das Zusammensein angeht, so dass jene im selben Zug als mythische Ideen erscheinen und widerlegt werden. Jene Ideen mögen auch mit Melancholie verbunden sein, da wir Zuschauer sie als idealistisch zurückweisen mussten bzw. in dieser Reste-Werkstatt der Dinge und untoten Tonbänder nichts anderes mehr übrig zu bleiben scheint, als sie zurückzulassen. Durch die Unmöglichkeit, die Stimmen richtig zu verorten und zu verstehen, werden die Zuschauer zu Zuhörern, die ganz »dem Hören [hingegeben sind]« und »gespannt hin zu einem möglichen Sinn, der folglich nicht unmittelbar zugänglich ist«14: So unterscheidet Nancy das Zuhören vom Vernehmen als Verstehen. Durch das Zuhören also bekommen diese Stimmen eine außerordentliche Präsenz. Vor allem sind sie nicht an die Zuschauer gerichtet, sie entstammen einem anderen Kontext. Durch diese Unintentionalität und Uneinholbarkeit, durch ihre materiellen und ideellen Eigenschaften befinden sie sich umso mehr in einem Sprechen, das ihnen allein angehört. Das Eigene der Stimme ist die Stimme, die sich weder in einer Botschaft noch einer Musikalität erschöpft – ganz ungeachtet der Tatsache, dass Goebbels eine Vorliebe für eigentümliche, unnachahmliche Stimmen hat. So »sagen sich« diese akusmatischen Aussagen, ein »Sich-Sagen«, das »ein Gesagtwerden von weiter her«, von »vor [ihnen]« her15 mit einschließt: nicht nur der Text, nicht nur der große Andere, sondern ein anderes Leben, eine andere Erfahrung und die Tatsache, dass die Sprache sich nicht mit dem Gesagten deckt, scheinen durch, sie können nicht vollkommen erfasst werden. Die Stimmen drücken gleichsam etwas über das Symbolische, über die Subjekte hinaus aus, sie sagen sich gerade, weil sie nicht nur ein ›sich‹ sagen. Sie werden von der historischen Person abstrahiert, ohne ihr ganz entfremdet zu werden, nur hat man sie so 13 | Finter verweist somit auf Roland Barthes’ Konzept des »Rauschens der Sprache« in: Finter, Helga: »Stimmkörperbilder. Ursprungsmythen der Stimme und ihre Dramatisierung auf der Bühne«, in: dies., Die soufflierte Stimme: Text, Theater, Medien. Aufsätze 19792012. Frankfurt 2014, S. 403-413, hier: S. 407. 14 | Nancy, Jean-Luc: Zum Gehör. Zürich 2010, S. 13. 15 | Vgl. Nancy/Girard, 2015, S. 102-103.

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noch nie gehört. Vor allem bei den Indigenen und bei Lévi-Strauss merkt man, dass man eine Stimme nicht ›an sich‹ hören kann: Just in dem Moment, in dem er sagt, dass es kein Gebiet mehr zu erobern gibt, sehen wir eine Landschaft, wie sie so an diesem Abend noch nie zu sehen war – beim Klang einer Sonate und in braunem Licht regnet es in die Becken. Man merkt, dass man keinen ›Sinn an sich‹ hören kann, das Hören ist immer einmalig an einen historischen Kontext gebunden und zum Teil selbstbezogen.16 Aber gerade dann hört man die Stimme in ihrer Fülle und Einmaligkeit, fast »ohne Eigentümer«, und man könnte meinen, sie spricht uns umso mehr an, als wir nicht direkt gemeint sein konnten, wir weit entfernt sind und in keinen Dialog mit einem Subjekt engagiert, in dem es um Intelligibilität und Anerkennung geht. Dieses Sagen bekommt also eine unerwartete Aktualität und ist in vielerlei Hinsicht »aufkommend«, da es nicht eingeholt werden kann. Es bietet »einen Zugang zu [etwas, in dem man nicht wohnen kann]«17, es gibt etwas Neues, Symbolisches preis, ohne auf einen Sinn reduziert werden zu können. Seine Präsenzwirkung geht mit seiner Eröffnungswirkung einher. Insofern ist es mythisch im zweiten Sinne: Es ist ein auf kommendes Sagen, das sich zugleich antimythisch über die geisterhaften Emanzipations-Lügenmythen hinwegsetzt und anderes aufkommen lässt; es ist zugleich kritisch selbstentfremdet und utopisch. Die Aufführung mag in der Tat als Ruf verstanden werden, wie jede Theateraufführung, hier aber als Appell des Sagens »von vor mir her«, »über mich hinaus«, eines Sagens, das sich nicht in Besitz haben will. Da, wo man meinen könnte, der Mensch hat uns in dieser posthumanen Bühnenwelt nichts mehr zu sagen, hat er uns auf jeden Fall etwas zu fragen. Es geht hier nicht so sehr um eine Infragestellung unserer Intelligibilitätsmuster als um eine Befragung des Menschlichen, eine Konfrontation mit der Melancholie und die Frage, ob eine Subjektivierung jenseits von Anerkennung oder Ratio über ein aufkommendes Sagen oder Hören möglich sei.

K ritische W ahrnehmungsprozesse . D as S agen der D inge Das unerwartete Aufkommen von Stimmen scheint stets mit einem Bruch im Wahrnehmungsprozess einhergehen zu müssen, so dass der »kritische Geist nicht bei sich bleiben kann  in selbstgenügsamer Kontemplation«, um mit Adorno zu sprechen.18 Jedoch sind die Objekte-Maschinen-Tableaus selbst zugleich kritisch und utopisch. In Stifters Dinge geht es in der Tat um gestiftete Dinge, die bekannte Dinge und Gedanken exzedieren. Als Beispiel sei das Tableau der kahlen Bäume herangezogen, deren Äste sich mit Klaviergerüsten verzweigen, die man als solche vielleicht gar nicht sofort erkennt, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes verkehrt werden, auf den Kopf gestellt, und ihr Gerüst uns befremdet. Holzresonanzen kommen auf, 16 | In einem Gespräch meint Goebbels, dies sei der Moment, wo sehr viele Zuschauer weinen. Es ist also ein Moment äußerster Melancholie. Vgl. Goebbels, Heiner: »Ensemble, Team & Polyphony … But in Strong Artistic Experience One Is Always Alone«, in: Eliane Beaufils/Eva Holling (Hg.), Being-With in Contemporary Performing Arts. Berlin 2018. 17 | Vgl. ebd., S. 99. 18 | Adorno, 1963, S. 31.

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ebenso wie Konterresonanzen von Natur und Kultur, umso mehr, als Maschinen vorhanden sind und alles wie ein Gemälde oder eine technische Anordnung umrahmt wird; Assoziationen von Vergänglichkeit und Über-Leben mögen entstehen, vor allem breitet sich ein Raum für ein Sehen aus, das sich nicht ›absehen‹ kann, für ein Hören von Lauten oder von Bach, das sich nicht auf Symbole oder Funktionen zurückführen lässt. Töne erklingen unbekannt und mysteriös, obwohl sie offensichtlich von Röhren oder Klavieren erzeugt werden. Würde man ein Sagen von Objekten imaginieren, so würden jene auch ›ohne Eigentümer‹ sprechen. Die geometrischen Linien auf etwas wie Sand deuten auf eine rationale Kultur, sie werden technisch herbeigeführt und widersetzen sich dem Sandschreiben der Aborigines, die man später hört, doch sind sie ein Schreiben. Am Ende scheint das Wasser zu rauchen, und dieser schönen ›Hochzeit der Elemente‹ mag zugleich etwas Apokalyptisches anhaften. Urbilder werden aufgerufen, widerlegt, gleichsam neu erfunden, bzw. es wird über sie hinaus erfunden. Sie sind also irgendwie noch tätig: Es sind wieder mythische Motive, die, wie Nancy sagt, »unterbrochen« werden.19 Der Zuschauer mag an seinen eigenen klischeehaften Vorstellungen anecken, Grundkategorien stehen auf dem Spiel und treiben die Reflexion an. Selbst wenn diese Beschreibungen viel zu skizzenhaft sind und überdies die akustische und kombinatorische Dimension mit Vor- und Nachbildern, Vor- und Nachlauten sowie die Rhythmik außer Acht lassen, sieht man, dass die Dimension der Komposition für jeden einsichtig gemacht wird und somit rational erscheint: was umso mehr überrascht und betört. André Eiermann hat eingehend untersucht, wie diese Gebilde immer wieder bestehende Kategorien überschreiten, was er einen Exzess nennt.20 Dabei lassen sie erkennen, dass die symbolischen Grenzen überschreitbar sind: Sie zeigen die Inkonsistenz des Symbolischen auf. Dies kommt Butlers Auffassung von Kritik sehr nahe: Kritisch wird man, wenn die Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist, eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor[bringen]. Und […] vom Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes her entsteht die Praxis der Kritik mit dem Bewusstsein, dass hier kein Diskurs angemessen ist. 21

Jedoch legt Butler nahe, dass der Exzess sich auf ein Unintelligibles reduzieren ließe, das vorläge oder das man aufspürte. Die Dinge dennoch wurden gestiftet (waren weder intelligibel noch unintelligibel), und der Zuschauer kann größten-

19 | Nancy weist auf die Kraft der Literatur hin, dem Mythos oder Mythemen ihre Wahrheit zu nehmen: »Die Unterbrechung des Mythos […] entzieht ihn sich selbst […]. Die Unterbrechung hat nichts mit dem Mythos zu tun, insofern der Mythos eine Vollendung, eine Erfüllung ist. Aber die Unterbrechung bedeutet auch nicht das Schweigen […]. In der Unterbrechung des Mythos wird etwas vernommen, was vom Mythos übrig bleibt, wenn er unterbrochen wird – nichts anderes als die Stimme der Unterbrechung selbst, wenn man so sagen darf« (Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart 1988, S. 95). 20 | Vgl. Eiermann, 2009, S. 206. 21 | Vgl. Butler, Judith: »Was ist Kritik?«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt 2009, S. 221-246, hier: S. 226-227.

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teils nachvollziehen, wie sie gebildet wurden (und insofern intelligibel sind).22 Weil die Protagonisten Maschinen, materielle Elemente, oder Töne und akusmatische Stimmen sind, mag es um ein Feld gehen, um das Feld der Dinge, die allerdings zu Instrumenten werden, welche mehr oder weniger von selbst spielen und die man in ihrer Präsenz als Darsteller wahrnimmt. Ein ganzer Knoten von Bestimmungen und Umkehrungen von Bestimmungen bildet sich hier um die Dinge. Und weil sie stets in Verbindung mit Inszenierung, Bewegung und (menschlicher) Handlung gebracht werden, werden sie in Relation mit dem Subjekt gesehen, und als Objekte reflektiert.23 Anders als Judith Butler es erwägt, hinterfragt Stifters Dinge nicht Unintelligibles, sondern die Bühne stellt sozusagen unintelligible oder unaussprechliche Objekte her zur Befragung von bekannten und insofern intelligiblen Kategorien. Die Dinge-Darsteller sind überdies in einem »ontologischen Horizont, der selbst durch eine Reihe von Praktiken instituiert wurde«24, an- oder eingeordnet: Erst scheint man auf die Industrialisierung zurückzukommen, nur dass die Unterwerfung unter Maschinen, Lärm, Schmutz hier quasi in ihr Gegenteil verkehrt wird, in einer leisen, musizierend mysteriösen Welt; die Kritik der Alienation mutiert zur Emanzipation der Objekte, die zugleich auf einer Emanzipation unserer Wahrnehmung von Dingen beruht; unsere durch Technik bestimmte Kultur scheint gleichsam in einer posthumanen Welt, wenn nicht gar in einer Postwelt aufgehoben zu werden. Es ist hier unmöglich, einfach auf einen Emanzipations- oder Machtdiskurs zurückzugreifen und ihn fortzuführen, was ferner bedeutet, dass die Fragen der Emanzipation und der Macht offen bleiben. Diese Kritik geht unmittelbar mit der Infragestellung anderer Kategorien einher: Was gilt als Maschine, zumal jedes Objekt hier zum Teil einer Maschinerie wird? Inwiefern werden jene wiederum zu Elementen (von Landschaften)? Lässt sich noch Natur von Technik trennen bzw. neben Technik denken? Ähnlich wie bei Tom Mitchell, der fragt, was ein Bild von uns will,25 wird hier gefragt, was die Maschinen mit uns anstellen. Die Aufführung geht über diese Kategorien sowie über eindeutige anthropologische und ökologische Fragen hinaus. Dies charakterisiert aber gerade die kritische Beziehung für Butler, die »keiner gegebenen Kategorie folgt, sondern vielmehr eine fragende Beziehung zum Feld der Kategorisierung selbst konstituiert«26. So kommt das Stück 22 | Was intelligibel ist, ist auch bei Butler nicht unbedingt auf einfache Prozesse zurückzuführen. Meißner erörtert, dass bei ihr die Intelligibilität des Subjekts auf der »Benennung dessen [beruht], was denkbar und konkret möglich ist«; in der Benennung werden aber »zugleich nicht lebbare und nicht-benennbare Wesen« hervorgebracht, d.h. das Feld des NichtIntelligiblen ist selbst abgesteckt. S. Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx. Bielefeld 2010, S. 47; 49. Was nachvollzogen werden kann, wie die Objekte auf der Bühne von Stifters Dinge, kann somit zum Teil als ›denkbar‹, ›konkret möglich‹ und intelligibel verstanden werden. 23 | Für Eiermann ist somit die Unterscheidung zwischen Ding und Objekt von entscheidender Bedeutung. Vgl. v.a. Eiermann, 2009, S. 207-227. 24 | Butler, 2009, S. 229. 25 | Vgl. vor allem den Aufsatz »Was wollen Bilder wirklich?«, in: Tom Mitchell, Bildtheorie. Frankfurt 2008, S. 347-371. 26 | Butler, 2009, S. 230.

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zurück auf die »Bedingungen […], unter welchen Existenz möglich oder nicht möglich ist«27. Indem jedoch neue Objekte und Relationen geschaffen werden, ist die Kritik eine ebenso rationale und relationale Praxis wie eine kreative, affirmative. Die Sprengung der Kategorien birgt hier in der Tat eine Art Versprechen: das Versprechen, dass der Mensch etwas Neues gestalten kann. Dieser Funken Utopie jedoch wird dadurch, dass er vor dem Hintergrund der Inkonsistenz des Symbolischen und der Infragestellung konstitutiver Handlungs- und Subjektkategorien aufkommt, gleichsam selbstreflektiert und in Frage gestellt. Die Aufführung zeigt sich ›ästhetisch‹, ist ›Experiment‹. Dadurch gewinnt die Komposition auch an Spielqualität, an einer gewissen Leichtigkeit und zugleich an affirmativer Kraft, die mindestens genauso stark ist wie die symbolische Bodenlosigkeit.28 Beides wird sozusagen an den Zuschauer weitergegeben: zum einen die symbolischen Trennungen, Krise der Identifizierungen und des Sinns, Anknüpfung an den psychologischen Rest, die Melancholie – worunter Butler all das versteht, was wir aufgeben mussten, um unsere Subjektivierung zu vollziehen, und was auch mythische Begehren von Menschlichkeit bzw. von einer menschlichen Welt beinhalten mag29 – und zum anderen eine Einladung, selbst Beziehungen zu stiften, Resonanzen zu lesen und neues Sagen zu hören. Da diese symbolische Arbeit vom Zuschauer kaum abgeschlossen werden kann und ständig durch neue Tableaus und Stimmen angeregt wird, wird man sich der Intensität der Wahrnehmungsarbeit bewusst und reflektiert sie. So knüpft die kritische Funktion der Kunst wieder an eine utopische an, wie Butler es auch in Erwägung zieht. Nämlich die Utopie der Poiesis und Autopoiesis, der (Selbst-)Transformation, der Schaffenslust. Die intensive ästhetische Wahrnehmung geht ihrerseits mit starker ästhetischer Emotion einher, was die Enaktivisten – Kant, Brecht oder Adorno unter vielen anderen zufolge – experimentell belegt haben.30 Die Unmöglichkeit, die symbolische Arbeit zu einem Abschluss zu bringen, mag zudem zum Geheimnisgefühl beitragen, mit dem man die Aufführung verlässt.31 In diesem Fall stellt sich die Frage nach dem Grund der postfundamentalistischen Kritik nur bedingt. Zwar gibt es keine Normen, aber aufgebrochene Wertungen, ein Raum wird geschaffen für ein gemeinsames Tendieren hin zu einem 27 | Ebd., S. 235. 28 | Finter spricht von »Heiterkeit«, so dass der Trauergesang über die Schönheit aufgehoben werde. Eiermann beteuert auch, dass es nichts Unheimliches gebe. Vgl. Finter, 2012, S. 162, und Eiermann, 2009, S. 255. 29 | Da wir Potentialitäten von uns selbst zurückweisen müssen, um uns besser mit Kategorien zu identifizieren und uns als intelligible Subjekte zu konstituieren, gehen diese Rückweisungen mit einem Verlust, einer Melancholie einher (Butler entlehnt diesen Ausdruck von Freud). Zur Vorstellung und Diskussion dieser Konzepte, vgl. Mecheril, Paul/Plößer, Melanie: »Iteration und Melancholie. Identität als Mangel(ver)waltung«, in: Norbert Ricken (Hg.), Judith Butler: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden 2012, S. 125-148. 30 | »Enaction theorists recognise that timing and intensity are often crucial factors in shaping the emotional experiences and consequently the emergence of meaning for spectators« (MacConachie, Bruce: »Spectating as Sandbox Play«, in: Nicola Shaughnessy (Hg.), Affective Performance and Cognitive Science. London 2013, S. 183-197, hier: S. 195). 31 | Eiermann erwähnt auch, dass für ihn bis zum Schluss ein Geheimnis vorliegt. Vgl. Eiermann, 2009, S. 257 und 263.

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Sinn, zu Bildern, Worten; ein Raum für ein Nachklingenlassen der Fragen, also ein wirkliches Teilen von Fragen, v.a. dieser grundsätzlichen Fragen, die mit unserem Mensch- und Subjekt-Sein zu tun haben. Indem diese zu teilenden Fragen auf mythisch-poetische Weise ihre Unabschließbarkeit aufzeigen, ist Kritik hier weniger eine negative Infragestellung als eine Ansammlung von Dingen, die zu »matters of concern« werden.32 Zwar werden sie zu dergleichen nicht, wie Latour zu meinen scheint, indem man sich »realistischer« Realitäten annimmt 33 und seine Empathie oder sein Begehren einfach, d.h. geradlinig entwickelt, sondern weil in dieser unabschließbaren Reflexion die Begehren des Menschlichen, des Erfassens von Stimmen, des Gerührtwerdens von Dingen des eigenen Sagens bewusst werden und man »sich als Begehren« reflektiert.34 Für Helga Finter gilt es, »das Begehren der Zuschauer so anzusprechen«, dass es nicht unterworfen wird, sondern dass »die Analyse des eigenen Begehrens ermöglicht« wird.35 Dies wäre jedoch, meint Eva Holling, »eine Unterwerfung des Begehrens und der ästhetischen Erfahrung unter einen analytischen Zweck«36. Wie ließe sich jedoch bestimmen, ob hier die ästhetische Erfahrung unterworfen oder die analytische Kritik angekurbelt wird durch das Angesprochen-Werden bzw. das Anrufen der Zuschauer? Inwiefern wird die Bewusstwerdung der utopischen Dimensionen und Begehren einer analytischen Kritik unterzogen oder eröffnet sie neue Wege der Subjektivierung? In Stifters Dinge wird an den Zuschauer appelliert, indem ihm der Boden unter den Füßen weggezogen und er nicht eindeutig interpelliert wird, während doch fundamentale Wertungen auf dem Spiel stehen. Es wird kein Begehren aufgesetzt, keine Projektion ermöglicht, und doch erklingt ein Sich-Sagen, scheint eine Utopie der Sprache und der Anordnung von Welt auf. Man wohnt zugleich einer »antimythischen« Dekonstruktion bei, und einer »mythischen«, wenn nicht Konstruktion (die Zusammenhänge stiften würde), so doch Komposition. Es mag eine Art paradoxe Subjektivierung stattfinden, eine öffnende, nicht unterwerfende Subjektivierung. Kann es nicht sein, dass die Krise des Subjekts umso stärker ist, als man »antimythisch« mythisch hört? So dass man von einem ›aufkommenden Hören‹ und der Erfahrung der »anziehenden Fremdheit«37 oder der glücklichen Alterität sprechen dürfte?

32 | Bruno Latour: »Why Has Critic Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern«, www.bruno-latour.fr/sites/default/files/89-CRITICAL-INQUIRY-GB.pdf vom 7. April 2003. 33 | Ebd. 34 | Vgl. Nancy/Girard, 2015, S. 59. 35 | Finter, Helga: »Nach dem Diskurs. Zur Ansprache im aktuellen Theater«, in: dies., 2014, S. 559-573, hier: S. 569. 36 | Holling, Eva: Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung. Berlin 2016, S. 291. 37 | Bouko, Catherine: Théâtre et réception. Le spectateur postdramatique. Brüssel 2010, S. 73 u.a. Übersetzung: E.B.

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Kritische (Ent-?)Subjektivierung im Theater? Eva Holling

In Was ist Kritik? formuliert Michel Foucault bekanntlich Kritik und (Ent-)Subjektivierung in der vielzitierten Wendung zusammen, dass »Kritik die Funktion der Entunterwerfung«1 habe. Der Begriff der »Entunterwerfung des Subjekts«2 kann durch ›Entsubjektivierung‹ im Sinne des désassujettissement3 ersetzt werden, worin sich das Subjekt bzw. seine De-Subjektivierung finden. Denn assujettir, französisch für unterwerfen, enthält immer auch die Bedeutung des Zum-Subjekt-Machens. Louis Althusser beschreibt Subjektivierung als Vorgang, in dem ein Individuum sich hinwendend, durch »Kategorisierung« und »Funktionsweise«4 erst in die Position des Sub-jekts kommt, es also nicht einfach ist – es sind also auch Vorgänge denkbar, die diesen Prozess umkehren oder verändern. Der Moment der (Ent-?)Subjektivierung ist vor allem auch im Theater zu suchen, da Subjektivierung ein zentraler Bestandteil der Wirkung von Theater ist und sich im Prozess »theatraler Interpellation« bildet,5 wie es etwa Gerald Siegmund formuliert: »Das Subjekt des Theaters entsteht wie das gesellschaftliche Subjekt durch sprachliche Anrufung und Unterwerfung.«6 Wenn also Theater eine subjektivierende Struktur von Bühne und Publikum ist, richtet es funktionalisierende Plätze ein, auf denen sich Subjekte wiederfinden bzw. auf denen sie sich konstituieren. Theater wirkt also nicht nur auf Subjekte, so die These theatraler Wirkung, 1 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 15. 2 | Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/Thilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246, hier: S. 236. 3 | »La critique aurait essentiellement pour fonction le désassujettissement dans le jeu de ce qu’on pourrait appeler, d’un mot, la politique de la vérité« (Foucault, Michel: »Qu’est-ce que la critique«, in: Bulletin de la Société Française de Philosophie 84, 2 [Apr.-Jun. 1990], S. 35-63, hier: S. 39). 4 | Althusser, Louis: »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin 1977, S. 108-153, hier: S. 138. 5 | Vgl. Holling, Eva: Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung. Berlin 2016. 6 | Siegmund, Gerald: »Cédric Andrieux von Jérôme Bel. Choreographische Strategien der Subjektwerdung«, in: Michael Bachmann/Friedemann Kreuder/Julia Pfahl/Dorothea Volz (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld 2012, S. 41-54, hier: S. 52.

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sondern die Subjektivierung selbst ist die Wirkung des Theaters. Damit ruft Theater Subjekte in Funktion – und zeichnet so eine Parallele zwischen ästhetischer und politischer Subjektivierung. Doch was wäre demzufolge über eine kritische Entsubjektivierung im Theater zu sagen? Die Frage lenkt den Blick zunächst auf Foucaults zweite vielzitierte Definition der Kritik, nämlich die Haltung des »nicht so, nicht dermaßen, nicht um diesen Preis regiert zu werden«,7 die eine elementare Verbindung zwischen Nicht-derartregiert-werden-Wollen und Entsubjektivierung herstellt. Im Umkehrschluss hieße dies zunächst, dass Regieren eine Anrufung darstellt, also eine Subjektivierung, gegen die sich dann – kritisch – gerichtet wird. Foucaults nicht-radikale Formulierung (»nicht so, nicht dermaßen, nicht um diesen Preis«) deutet jedoch darauf hin, dass auf Subjektivierungserfahrung offenbar nicht vollständig zu verzichten ist, dass das Dispositiv der Subjektivierung sich erhält, aber eben unter geänderten Bedingungen. Ein désassujettissement ist also nur dort möglich und sinnvoll, wo es Subjektivierung gibt. Daraus ergibt sich auch die Prämisse von Kritik, dass sie immer in Bezug auf etwas erfolgt, also keine komplette Loslösung von allem bedeuten kann. Für Judith Butler hat daher Entsubjektivierung im »Spiel der Politik der Wahrheit« viel mit einer Wahrheit über das Subjekt selbst zu tun, die nicht mehr klar und vorgegeben sein soll, sondern an ihre Grenzen geführt wird. So entsteht Freiheit nach Butler an den Grenzen des möglichen Wissens in ebendem Augenblick, in dem sich die Entunterwerfung des Subjekts innerhalb einer Politik der Wahrheit vollzieht, in jenem Moment, in dem eine gewisse Fragepraxis folgender Form beginnt: […] ›Was kann ich angesichts der gegenwärtigen Ordnung des Seins sein?‹ 8

Butler referiert auf Foucaults »Selbst-Bildung im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist«9, und so versteht es auch Jan Masschelein, wenn er formuliert: »[E]s geht darum, sich dem Anruf [zu entziehen], sich auf eine bestimmte Weise zu sich selbst und zu anderen zu verhalten.«10 Philipp Schulte schlägt nun als Metapher zur künstlerischen Entsubjektivierung ein Postpaket vor, das den Gedanken des verweigerten ›Rangehens‹ bei einem Anruf versinnbildlicht: […] man bekommt ein Paket mit der Post und muss es entweder widerspruchslos annehmen (Althusser) oder man öffnet es und eignet es sich an, aber zweckentfremdet (Foucault, Butler). Oder aber […] man nimmt es gar nicht erst an, sorgt dafür, dass es ungeöffnet zurück zum Absender geschickt wird, bzw. lässt die polizeibeamtliche Anrufung [»Hey, Sie da«, E.H.] […] ungehört verhallen.11 7 | Foucault, 1992, S. 52. 8 | Butler, 2009, S. 237. 9 | Ebd., S. 246. 10 | Masschelein, Jan: »›Je viens de voir, je viens d’entendre‹. Erfahrungen im Niemandsland«, in: Norbert Ricken/Markus Rieger-Ladich (Hg.), Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden 2004, S. 95-118, hier: S. 95. 11 | Schulte, Philipp: »Address unknown – Return to Sender. Zurückweisende Sprechakte und alternative Körperbilder in zeitgenössischen Performances«, in: Ellen Koban/Friede-

Kritische (Ent-?)Subjektivierung im Theater?

Essentiell für diese entsubjektivierende Taktik ist nun, dass es Postsystem und Zustellversuch geben muss, um überhaupt ein Paket zu erhalten; symbolische und mediale Ordnung bilden die Basis. Zudem muss das Zurückschicken aktiv erfolgen und nicht automatisch: Der An-Ruf muss nicht un-ge-hört, sondern un-er-hört verhallen, um einen Ungehorsam (also Ungehörsam) und mit ihm das Thema der Ent-Subjektivierung ins Spiel zu bringen. Die »Möglichkeit einer radikalen Ablehnung aller Erwartungshaltungen und Zuschreibungen«12, wie sie Schulte fordert, muss doch zumindest um diese Haltungen und Zuschreibungen wissen – oder sie imaginieren –, um sie ablehnen zu können. Subjektivierung ist also nicht nur Praxis der Kritik, sondern auch grundlegender Anlass zur Kritik, vielleicht sogar Begehren der Kritik nach Subjektivierung (nämlich einer anderen, um einen anderen Preis erfolgende). Mit der subjektivierenden Anrufung befinden wir uns im Lacanschen Register der Symbolischen Ordnung. Folglich erhält Sprache und ihr pouvoir symbolique 13, d.h. ihre performative Kraft, vor dem Hintergrund kritischer Entsubjektivierung einen hohen Stellenwert. Wenn subjektivierende Sprache oder Zeichen, also eine wirksame Anrufung, Teil der foucaultschen Menschenregierungskunst14 sind – was bedeutet dies für Anrufung in der Kunst? Judith Butler lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wie der kritischen Praxis, indem sie vom Begriff der Kunst ausgeht und Foucaults »Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit«15 in den Blick nimmt. Ihr zufolge ist Kunst »kein einfacher Akt«, sie »gehört […] auch nicht ausschließlich einem subjektiven Bereich an«, da sie als »stilisierte Beziehung auf die an sie gerichtete Forderung«16 begriffen wird. Für Butler ist elementar an einem kritischen Stil, dass er »als Stil nicht im Voraus gänzlich festgelegt ist, soweit er über den Zeitverlauf eine Kontingenz beinhaltet, die die Grenze der Ordnungsfähigkeit des fraglichen Feldes markiert«17. Dem Willen zur Entunterwerfung muss also eine gewisse bewegliche Form gegeben werden, die dafür sorgt, dass sich ein Subjekt gestaltet, das sich der herrschenden Ein-Ordnung und Kategorisierung entzieht, »von dem sich unter den bestehenden Einordnungen der Wahrheit nicht ohne Weiteres etwas wissen lässt«18. Um zurück aufs Theater zu kommen, ist also anzunehmen, dass Ent-Subjektivierung einen Ausdruck braucht. Sie muss sich äußern, denn für Subjektivierung braucht es ein Äußeres: Wer sich entsubjektivieren will, braucht Anwesende (Publikum?), die den Vorgang bezeugen. Dies ist vor allem auch im Hinblick auf die Prämisse Butlers interessant, dass »das Subjekt gezwungen [ist], sich in Praktiken zu formen, die mehr oder weniger schon da sind«19.

mann Kreuder/Hanna Voss (Hg.), Re/produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten. Bielefeld 2017, S. 205-216, hier: S. 210. 12 | Ebd. 13 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Langage et pouvoir symbolique. Paris 2001. 14 | Foucault, 1992, S. 10. 15 | Butler, 2009, S. 236. 16 | Ebd. 17 | Ebd. 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 246

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Es findet sich hier eine strukturelle Verwandtschaft zu einer Aussage Erika Fischer-Lichtes, in der sie betont, dass Theater immer auf Zeichen zurückgreift, »die in der Kultur sowieso schon vorhanden sind«20. Zwar soll hier nicht das Zeichenverständnis Fischer-Lichtes mit dem Verständnis von Praktiken bei Butler gleichgesetzt werden, jedoch ist es für ein (kritisches) Blicken auf Theater interessant, dass ihm nachgesagt wird, sich in seinen Praktiken auf etwas Vorhandenes zu beziehen, das in ihm neu und anders erscheinen kann: etwa als Kunst, nicht angerufen zu werden oder anders ›ranzugehen‹, Pakete umzuleiten oder umzupacken, d.h. bekannte Zeichen so einzusetzen, dass sie herrschendes Wissen unterbrechen. Drei Beispiele aus der Theaterpraxis geben nun unterschiedliche Antworten auf solche Fragen kritischer (Ent-)Subjektivierung.

Talking S tr aight F estival 21 Das TALKING STRAIGHT Festival ist ein Theaterfestival in »Fremdsprache«, einer erfundenen Sprache. Es präsentiert die Theaterkunst weißer Menschen in Mitteleuropa als faszinierende exotische Neuentdeckung. Für einen Tag entsteht die Parallelwelt eines Theaterfestivals mit Gastspielen, Artist Talks, Konzerten, Festivallounge, Sponsoren und »Schirmherm« – von der Akkreditierung bis zur Twitterwall in »Fremdsprache«. 22

Alles ist wie gewohnt auf einem Theaterfestival, nur dass sämtliche Texte in einer von Talking Straight erfundenen Sprache gesprochen werden, die aus Versatzstücken verschiedener europäischer Sprachgrundlagen besteht und daher immer wieder ganz bekannt vorkommen kann. Der Dank an die Sponsoren im Rahmen der feierlichen Festival-Eröffnung klingt in etwa so: Voethoedest grosossen, erspannen en mifthonorablen gritten hermen Grobfoss, Obender, Langhoff, Poise en vodsodest herm Vrabašewiscz kols mixen mast a herm Studio Koomst, velkom […]. En soden gif a hon subsern finanzhobben salis a Bertelsman Lodsohr, Most Stift, Hussel mixt draat et ogger mirsfoten a herm Initait Hitfoer ni en sozialfaak. Aar voeten naar plaant. En deersossenban Gorkitheat, Loriksentr Berlin, or ig meggasponsor totalis. Salis!23

Die Programmpunkte des Festivals sind die üblichen: Begrüßungsrede, kleine Zwischenperformance, Rede des Kurators, Workshop, abendfüllende Performance, Publikumsgespräch etc. Funktionalisierungen beteiligter Subjekte des Festivals werden verstärkt, indem die Figuren, die auf dem Festival auftreten, wie eine Parade von Stereotypen aus dem Festivalzirkus wirken. Wenn sie ihre Anrufungen vornehmen, bleiben diese trotz »Fremdsprache« klar kontextualisierbar. Diese Form der ›Übersetzung‹ kommunikativer Formate in eine eigene Sprache übt die Gruppe innerhalb verschiedener symbolischer Rahmungen aus: Seit 2010 werden Managementseminare, Stadt- und Museumsführungen, religiöse Rituale 20 | Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd.1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983, S. 20. 21 | Talking Straight Festival, Stückemarkt des Theatertreffens 2015. 22 | http://talkingstraight.de/?section=talking-straight-festival vom 2. Nov. 2016. 23 | Dieser Text entstammt einem Videomitschnitt des Festivals.

Kritische (Ent-?)Subjektivierung im Theater?

und andere institutionalisierte Formen des sozialen Austauschs in einer nordeuropäisch klingenden »Fremdsprache« simuliert. Zu fragen wäre, ob sich diese Arbeitsweise eigentlich als kritisch versteht – »Talking Straight führen Alltagssprache vor wie ›des Kaisers neue Kleider‹ und nötigen so ihr Publikum, genauer hinzuschauen und hinzuhören«, urteilt Deutschlandradio Kultur; »Talking Straight offenbart die Muster menschlichen Verhaltens und bewirkt zugleich durch deren Verunsicherung einen spielerischen Aufbruch ins Unbekannte«, formuliert die Jury der Frankfurter Autorenstiftung.24 Nachtkritik sieht darin vor allem einen großen Spaß, der »hochpolitische Themen wie Critical Whiteness, Gender und Race, internationale Codes und globale Sprachlosigkeit« nicht ausschließt, dabei aber Kunst-, Hipster- und Fashionszene sowie den Theaterbetrieb als solchen auf die Schippe nimmt.25 Das funktioniert vor allem über das Offenlegen von Mechanismen der Subjektivierung, indem Talking Straight nur ein (freilich bedeutendes) Detail verändern: die Landessprache. So treten deutlich wiedererkennbare symbolische Rahmungen auf, die nicht über den Inhalt des Gesagten wirken, sondern über ihr Wie, über das Aussagen statt über die Aussage. Mit dem Entzug des Sprachinhalt-Verstehens treten die ›anderen‹ Formen der Anrufung deutlich hervor: räumliche und zeitliche AnOrdnungen der Beteiligten, Sprachmelodien etc., und eine freiwillige und kollektive Subjektivierung des Publikums als solches, das seine Funktionen im Festival bereits kennt und annimmt, zuhört, mitmacht beim Workshop und nach den Aufführungen klatscht, auch wenn die gesprochenen Worte nicht genau verstanden wurden. Es ent-subjektiviert sich hier also niemand, sondern es wird exponiert, wie eine Subjektivierung über Sprache und symbolische Rahmung, über Interpellation funktioniert. Wenn Althussers beispielhafter Polizist auf der Straße »He, Sie da!« ruft26 und sich das angerufene Individuum der Stimme hinwendet, ist dies für Althusser der Moment der Subjektivierung, in dem sich das Subjekt seinem Platz in der für es vorgesehenen Ideologie fügt und durch sein freiwilliges, »materielles Verhalten […] seine Ideologie zum Ausdruck bringt«27. Das Talking Straight Festival zeigt, wie sogar eine ganze Versammlung von Individuen ihre Akzeptanz dem Platz gegenüber ausagiert, auf dem sie angerufen werden. Ist eine solche Sichtbarmachung aber schon kritisch?

S trip N aked , Talk N aked 28 Diese Produktion von Rose Beerman und Iva Sveshtarova versteht sich als Antwort auf eine ganz konkrete Anrufung, nämlich die der dänischen Talkshow Blachman (2013): In einem dunklen Studio sitzen zwei bekleidete Männer auf einem Sofa. Eine Frau tritt vor, streift ihren Bademantel ab und steht nackt im Licht vor ihnen. Die Männer betrachten ihren 24 | Die zitierten Stimmen entstammen der Talking-Straight-Website, ebd. 25 | www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10947:theater treffen-2015-stueckemarkt&catid=1515&Itemid=100406 vom 2. Nov. 2016. 26 | Althusser, 1977, S. 142. 27 | Ebd., S. 137. 28 | Beermann, Rose/Sveshtarova, Iva: Strip Naked, Talk Naked, Freischwimmer Festival 2014.

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Körper und sprechen über weibliche Schönheit, Männlichkeit und verwandte Themen. Die Frau schweigt. 29

Beermann/Sveshtarova antworten, indem sie den bei Blachman entblößten und schweigenden Frauenkörper in einer Körperpraxis und Geste der Selbstbestimmung sich widersetzen lassen. Dafür reenacten sie die Talkshow im Theater und damit auch die dort vollzogene Subjektivierungssituation, um dann Schritt für Schritt ihre Körper davon zu lösen und Verschiebungen einzusetzen, vor allem in Form von Tanzeinlagen. Besonders eindringlich bleibt dabei eine Choreographie in Erinnerung, die sich an Praktiken des Burlesque orientiert und lustvoll-ausgelassen schwingende Hüften und Brüste (mit den dazugehörigen Pasties) einsetzt. Helmut Ploebst fragt nun, »ob das bloße Nachstellen als Dokuperformance im Rahmen eines zeitgenössischen Theaterfestivals noch selbsterklärend genug ist – oder ob es wieder explizit geäußerte Kritik braucht«30, jedoch führt diese Frage zu keiner Antwort darauf, was denn eigentlich »explizit geäußerte Kritik« in einer solchen Performance sein sollte. Tatsächlich initiieren die Künstlerinnen durchaus explizite Momente, indem nämlich der Körper als Feld realer, imaginärer und symbolischer Zugriffe auf einen nur allzu bekannten Anruf antwortet: einen sexualisierenden, objektifizierenden, heteronormativierenden, misogynen Blick, der in der Reaktion reenactet, also auch wieder-erschaffen wird und so eine verbreitete Kritik an Kritik thematisiert, das zu Kritisierende in der Kritik immer wieder neu zu erschaffen.31 Dieser Blick wird offensichtlich zwischen den zwei männlichen und zwei weiblichen Darstellenden auf der Bühne zitiert. Dabei wird einerseits ein Gleichstand der beteiligten Geschlechter erzeugt, der Blick wird aber durch die konsequente Adressierung der tanzenden Frauenkörper vor allem auch in eine Beziehung Bühne-Publikum umgeleitet. Das metaphorische Paket geht vermeintlich zurück an Blachman; der Blick und die Körper adressieren jedoch das Publikum und fiktionalisieren es so als Empfänger der Nachricht, also eben als Blachman und seine Position des Blickens. Das Publikum wird so spielerisch subjektiviert, es bekommt Blachmans Begehren unterstellt. Mit dieser Anrufung sieht sich das Publikum konfrontiert und mit der Frage, wie es sich ihr gegenüber verhalten, sie bezeugen, also das Paket in Abwesenheit Blachmans annehmen kann? Auf der körperlichen Ebene spielt sich dabei eine weitere Entsubjektivierung ab: Durch Übertreibung einer erotischen Artistik wird ein anderer Wille zur Subjektivierung erkennbar, bis hin zur spielerischen Aneignung, die nicht mehr für Blicke von außen stattfindet, sondern für die eigene Lust des sich bewegenden Körpers. Das »Obszöne« bei Jean-Paul Sartre kann dabei einen Hinweis geben: Es »er29 | https://www.facebook.com/events/722179604485403 vom 2. Nov. 2016. Den Namen erhält die Talkshow von ihrem Moderator und Initiator, Thomas Blachman. Es wurden sechs Folgen produziert. 30 | Helmut Ploebst, in: Der Standard, 7. Nov. 2014, zit. n. http://rosebeermann.de/stripnaked-talk-naked-2014 vom 2. Nov. 2016. 31 | Vgl. etwa Butlers Gedanken zur Möglichkeit der »Resignifizierung« von hate speech, in der nach der Möglichkeit zur »Wiederholung der ursprünglichen Unterordnung zu anderen Zwecken« gesucht wird (Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M. 2006, S. 66f.).

Kritische (Ent-?)Subjektivierung im Theater?

scheint, wenn der Körper Stellungen einnimmt, die ihn seiner Akte völlig entkleiden und die Inertheit seines Fleisches enthüllen«32 . Subjektivität und Wille als die Fähigkeit zum zielgerichteten und kontrollierten Akt fallen auf dieser Ebene reiner Faktizität, nicht zu rechtfertigender Kontingenz und Unangemessenheit weg. Während Anmut für Sartre Bewegung ›in Situation‹ als »laterale Überdetermination der Utensilien-Objekte meines Universums«33 anzeigt, erscheint das Obszöne, wenn »eins der Elemente der Anmut in seiner Realisierung behindert wird. Die Bewegung kann mechanisch werden. In diesem Fall ist der Körper immer Teil einer Gesamtheit, die ihn rechtfertigt, aber als bloßes Instrument.«34 Die Körper Beermanns/Sveshtarovas agieren die Faktizität ihres Fleisches aus. Zwar ist diese durch ihren Willen initiiert – sie machen entsprechende Bewegungen, die das Fleisch in Bewegung bringen –, doch kehren sie sich deutlich ab von der konventionell-virtuosen Form der burlesken Pasties-Wirbelei. Schon die unvirtuose Gebasteltheit der Pasties weist darauf hin, dass es hier mehr um eine lustvoll-spielerische Aneignung geht als um eine Nachahmung der Technik, die dem kritisierten Blick mehr entspräche als ihn unterbräche. Das Subjekt setzt hier also die eigene materielle Faktizität ein und erweitert die Symbolische Ordnung um die Register des Imaginären und Realen.35 Ist das schon ent-subjektivierend? Zumindest ist es eine starke Setzung, nämlich eine, die postuliert: So, derart, um diesen Preis!

O sterfestivalboykot t 2013 waren Gießener Studierende der Angewandten Theaterwissenschaft mit einem Beitrag zum Osterfestival des Maxim-Gorki-Theaters nach Berlin eingeladen, der als 60-minütige Performance angesetzt war und den langen Titel trug: Leaving the 21st century – Sozialistische Schauspieler waren schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen (Ist jetzt aber nicht mehr so!) Boycotts are now much easier! Ihre Aufführung ließen die Studierenden unvermittelt in eine Besetzung der Hinterbühne, wo sie spielten, übergehen und überraschten damit alle Anwesenden: das Publikum, die anderen Festivalteilnehmenden und die Theaterleitung. Die Studierenden formulieren auf der Website der Aktion über den Anlass dazu:

32 | Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek 2007, S. 701. 33 | Ebd., S. 700. Die Situation fungiert also als Maßstab für die Angemessenheit und Rechtfertigung von Bewegung. 34 | Ebd. 35 | Die drei Lacan’schen Register des Symbolischen, Imaginären und Realen werden besonders auch dann interessant, wenn es um die Möglichkeiten des Scheiterns der Anrufung geht. Sprachliche Strukturen, Bildebenen und für das Subjekt Unverfügbares bieten jeweilige Angriffs-, Funktions- und Reibungspunkte mit der Interpellation. Vgl. die verschiedenen Arten des »Scheiterns der Anrufung« in: Schütt, Mariana: Anrufung und Unterwerfung. Althusser, Lacan, Butler und Žižek. Wien/Berlin 2015.

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Damit protestierten sie [die Studierenden] gegen die Ausschreibungsbedingungen des Osterfestivals, die exemplarisch sind für die Tendenz in der deutschen Kulturlandschaft, die Arbeit von Künstler/innen unter Wert oder gar nicht zu entlohnen. Zugleich verstand sich die Aktion auch als Kritik gegen das Festivalmotto ›Aufstand proben‹ und den damit implizierten Kunstbegriff, der Aufstand und politische Aktion lediglich zur Etikettierung ihrer Institutionen zulässt, das Problem, dabei selber ausbeuterische Verhältnisse zu reproduzieren, aber nicht reflektieren will. 36

Hier wird also eine Entsubjektivierung nicht auf der Bühne als »Forum«37 und in einer Form ästhetischer Ausdrucksweise geäußert. Die Gruppe wendet sich, das Theater unterbrechend, direkt an den Absender des Pakets, sie bringen es persönlich und mit Kommentar versehen zurück. Damit personifizieren sie eine Kunst, die sich selbst als ungehorsames Subjekt widersetzt und die sie rahmende Institution herausfordert. Sie antworten auf diese Weise auf die Frage, wie und wo sich Subjekte der Kunst entunterwerfen können – jedoch wählen sie dabei den Weg, es gerade nicht im Rahmen der Kunst zu tun, die die Institution für diesen Fall vorsieht (nämlich als Bestandteil eines Festival-Programms, das es zu verfolgen und nicht zu unterbrechen gilt). Sie erscheinen stattdessen als überraschende Subjekte, »von denen sich unter den bestehenden Einordnungen der Wahrheit nicht ohne Weiteres etwas wissen lässt«, und fordern gleichzeitig eine Debatte über Solidarität ein, vergemeinsamen Bühne und Publikum zu einer anderen Gegenüberstellung etwa von Befürwortern und Gegnern des Boykotts oder von Künstler*innen und Institution. Das Theater wird so zwar auch zum Ort für entsubjektivierende Praxen, es wird aber selbst als subjektiviertes angegriffen, indem seine vorgesehene Form verneint und es gehindert wird, sich durchzusetzen und sein Machtwissen auszuüben. Vielmehr soll es zu seinen gouvernementalen Formen Stellung beziehen, und aufgerufen sind die dafür ihrerseits funktionalisierten Subjekte (wie Intendanz, Dramaturg*innen etc.). Diese Aktion öffnet ein Feld der Subjektivierung, das in der Kant’schen Unterscheidung von öffentlichen und privaten Subjekten aufscheint.38 Für Kants Öffentlichkeit subjektivieren sich die, die raisonnieren, als »Gelehrte«, bringen schreibend ihre Vernunft in die Diskurse ein, und dies soll auch allen ermöglicht sein (falls sie die Fähigkeit dazu haben). Die Subjekte im Privaten stehen demgegenüber in Funktionen von Institutionen (Offiziere, Priester, sind also gerade nicht die Subjekte zu Hause nach Feierabend, wie sie heute unter dem Begriff des Privaten verstanden werden) – und in diesen Funktionen dürfen sie nicht raisonnieren und in der Folge auch nicht boykottieren. Im Auftrag eines Anderen stehend sollen sie diesen Auftrag erfüllen – und nur außerhalb dieser Funktion, als Gelehrte, kritisieren. Der Osterfestivalboykott subjektiviert sich nun also gerade nicht in der dafür vorgesehenen Form, sondern verweigert sich dem Auftrag, entsubjektiviert 36 | www.boykott2013.blogsport.de vom 2. Nov. 2016. 37 | Vgl. Finter, Helga: »Ästhetische Erfahrung als Kritische Praxis. Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen 1991-2008«, in: Annemarie Matzke/Christel Weiler/Isa Wortelkamp (Hg.), Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft. Berlin/Köln 2012, S. 22-52. 38 | Vgl. Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Ehrhard Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart 1974, S. 8-17.

Kritische (Ent-?)Subjektivierung im Theater?

sich dort, wo es nach Kant unvernünftig ist, und verlangt Antwort von den Subjekten der Institution. Es lassen sich also unterschiedliche Ebenen unterscheiden, auf denen Ent-Subjektivierung stattfinden kann, und damit auch Unterschiede darin, wer diese eigentlich bezeugen und anerkennen soll, wo sie wirken soll. Das ist kritisch, aber ist es Theater?

Z um S chluss Solche Subjektivierungsfragen lassen sich unter der psychoanalytischen »Übertragungsperspektive« fassen: Begehrende Subjekte sind bereit zur Subjektivierung aufgrund von Übertragung. Eine solche Perspektive visiert vor allem eine Sensibilisierung für Strukturen intersubjektiver Anrufungen an, denkt über Fiktionalisierungen und Funktionalisierungen nach und damit über die Wirksamkeit von Theater, letztlich also über Machteffekte in theatralen Anordnungen. Talking Straight etwa wollen wirken, indem ihr Publikum sich gerade folgsam dem Rahmen fügt, den sie vorgeben; Beermann/Sveshtarova subjektivieren es fiktional und konfrontieren es so mit einem Blick, den es eigentlich nur ablehnen kann; der Gießener Boykott wechselt die Ebenen der Verhandlung ganz. Allen geht es in gewisser Weise um Wirkung, doch offenbar nicht immer um eine ästhetische. Die hier besprochenen Ent-Subjektivierungstechniken entspringen jedoch alle einem zeitgenössischen Verständnis von Kritik, das diese als »entangled«39, d.h. ihren ›Bezug auf etwas‹ nicht als von außen verurteilend im Sinne von Bruno Latours »kritischer Barbarei«40 begreift, sondern die Entsubjektivierungen aus einem Inneren der Praxis heraus entwickelt. Jacques Rancière erinnert im Nachdenken über theatrale Wirkung an das »pädagogische Modell der Wirksamkeit von Kunst«, das eine »gerade Linie zwischen der Performance der Theaterkörper, ihrem Sinn und ihrer Wirkung« voraussetzt.41 Gerade diese Wirkung ist für ihn aber nicht ästhetisch, denn »ästhetische Wirksamkeit bedeutet eigentlich die Wirksamkeit der Aufhebung jedes direkten Verhältnisses zwischen der Erschaffung von Kunstformen und der Erzeugung einer bestimmten Wirkung auf ein bestimmtes Publikum«42 . Das bedeutet aber eigentlich auch die Aufhebung einer direkten, funktionierenden Subjektivierung in Kontexten der Kunst: Eine direkte Anrufung, Zustellung eines Pakets ist dort 39 | Der Begriff des entanglement sowie der des diffractive reading wird etwa bei Karen Barad zum Hauptkriterium von Kritik und Diskurs. Vgl. z.B. »Matter feels, converses, suffers, desires, yearns and remembers. Interview with Karen Barad«, in: Rick Dolphijn/Iris van der Tuin (Hg.), New Materialism: Interviews & Cartographies. Michigan 2012, o.S. http://quod. lib.umich.edu/o/ohp/11515701.0001.001/1:4.3/--new-materialism-interviews-cartogra phies?rgn=div2;view=fulltext vom 19. Juni 2017. 40 | Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich/Berlin 2007, S. 38. Bei Latours kritischer Barbarei hat der Kritiker immer recht und eine äußere, besserwisserischere Position dem »naiven Gläubigen« gegenüber, dem er die Welt erklärend demontieren kann. 41 | Rancière, Jacques: »Die Paradoxa der politischen Kunst«, in: ders., Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 63-99, hier: S. 66. 42 | Ebd., S. 71.

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unmöglich. Theater kann als Ort verstanden werden, wo das Dispositiv der Subjektivierung als offenes aktiv und Subjektivierung aller Art erst einmal möglich ist, da es als Rahmen für eine Leere in Erscheinung tritt, in die/in der sich alle (ent-)werfen können.43 Subjektivität als Experiment44 lautet hier die Devise, als Abweichung, als Raum, in dem Möglichkeiten noch nicht fix determiniert sind. In dieser grundsätzlichen Leere überwiegt das Potential zum Bruch in der Anrufung, der immer implizit ist – denn keine Subjektivierung kann stets vollends gelingen, denn »es gibt immer einen Teil des Individuums, der nicht in das Subjekt übergehen kann«45. Die symbolische Anrufung prallt z.B. am »Rest, das kleine Stück des Realen, das nicht in die symbolische Ordnung übergehen kann«46, ab oder es muss über die Intention der Anrufung spekuliert werden – wie es bei Lacan in der Figur des Che vuoi?,47 was willst du?, heißt: Was will die anrufende Stimme denn eigentlich von mir!? Das Subjekt muss also immer als gespaltenes gedacht werden, das sich nie restlos subjektivieren lässt, und dieser Gedanke bietet dem Theater Angriffsmöglichkeiten. Die ästhetische Leere des Theaters, die potentiell alles erlaubt, steht aber ihrerseits mitunter der politischen und gesellschaftlichen Funktion des Theaters (als eines Ideologischen Staatsapparats?48) gegenüber, die darüber bestimmen will, wie diese Leere zu füllen sei. Kritische Kunst kann also unter Umständen unästhetisch im Sinne Rancières werden; sie antwortet entsubjektivierend immer auf mindestens zwei Anrufe: auf eventuell zu kritisierende, gesellschaftliche Forderungen und auf die Forderungen der Kunstform, in der sie sich äußert. Kann man also kritisches Theater machen, ohne die Institution Theater selbst zu kritisieren?

43 | Vgl. die Lesart des Fort-da-Spiels (Sigmund Freud) bei Gerald Siegmund, der auf die Bedeutung des leeren Raums und die Abwesenheit der Mutter für das spielende, tanzende Kind hinweist. Ohne leeren Raum bilden sich keine Notwendigkeit und auch kein Platz für den Selbst-Entwurf mit der Spule. Siegmund, Gerald: »Experiences in a space where I am not«, in: Discourses in Dance 4, 1 (2007), S. 77-95. 44 | Vgl. Schulte, Philipp: Identität als Experiment. Ich-Performanzen auf der Gegenwartsbühne. Frankfurt a.M. 2011. 45 | Dolar, Mladen: »Jenseits der Anrufung«, in: Slavoj Žižek (Hg.), Gestalten der Autorität. Seminar der Laibacher Lacan-Schule. Wien 1991, S. 9-25, hier: S. 11f. 46 | Ebd., S. 25. 47 | Vgl. Lacan, Jacques: »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten«, in: ders., Schriften. Bd. II. Ausgew. u. hg. v. Norbert Haas. Freiburg/ Olten 1986, S. 165-204, hier: S. 191. 48 | Bei Althusser wird »die herrschende Ideologie in den Ideologischen Staatsapparaten realisiert«. Allerdings sind diese auch »vielfältig, unterschieden, ›relativ autonom‹ und in der Lage, ein objektives Feld für Widersprüche zu liefern« (Althusser, 1977, S. 122f.).

Kritik und Öffentlichkeit im Theater

Das kritische Theater Friedrich Schlegels Maud Meyzaud

Eine Einordnung des frühromantischen Kreises um die Zeitschrift Athenaeum (1798-1800) in die Genealogie der Kritik nach Kant fällt nicht schwer: Wie Walter Benjamin in seiner Abhandlung zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920) zeigt, nennt der Begriff der Kritik um 1800 im Wesentlichen die philologische Verfahrensweise, anhand derer ein Kunstwerk weniger zu beurteilen als vielmehr zu vollenden sei. Schwieriger ist hingegen zu ermitteln, welcher Begriff von Theater den Romantikern dazu verhilft, Verfahren und Tragweite der Kritik neu zu verhandeln – oder umgekehrt: wie auf der Grundlage einer neuen Kritik Theater anders denkbar wird. Denn auf den ersten Blick scheint der Bereich des Theaters, ob innerhalb der kunsttheoretischen Reflexion oder unter den mit ihr korrelierenden Textformen, im Jenaer Kreis weit unterrepräsentiert. Lediglich Tieck schreibt Theatertexte im engeren Sinne;1 Friedrich Schlegel gibt sich nicht damit zufrieden, Lessings Emilia Galotti im Gegensatz zu Shakespeares Dramen für bloß ›modern‹, also: trivial zu erklären.2 Nicht nur feiert er Diderots Jacques le 1 | Gemeint sind Der gestiefelte Kater (1797), Die verkehrte Welt (1798), Leben und Tod der heiligen Genoveva (1799). Benjamin wird sich in »Was ist das epische Theater?« von Tiecks Verfahren der romantischen Reflexion im Namen eines (Brecht’schen) epischen Theaters deutlich distanzieren. Dem sei Benjamin zufolge gelungen, wozu »die Bühne der Romantik niemals imstande gewesen [sei], dem dialektischen Urverhältnis, dem Verhältnis von Theorie und Praxis gerecht zu werden« (vgl. Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater?« [erste Fassung], in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. II-2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 519-531, hier: S. 539. Was jedoch Benjamins eigene Ausführungen zum epischen Theater Friedrich Schlegels Begriff der Kritik, ja dessen erneuertem Literaturverständnis insgesamt schulden, bleibt implizit. Die folgenden Überlegungen speisen sich aus der Annahme, dass zwischen Benjamins Beschäftigung mit dem Denken Schlegels und späteren Arbeiten, wie etwa zum epischen Theater, eine diskrete Kontinuität besteht, die sich etwa an der Funktion der Unterbrechung konkret nachvollziehen lässt. 2 | So steht im »Brief über den Roman«, dem vierten Teil von Friedrich Schlegels »Gespräch über die Poesie«: »Wollen Sie sich den Unterschied völlig klarmachen, so lesen Sie gefälligst etwa die ›Emilia Galotti‹ die so unaussprechlich modern und doch im geringsten nicht romantisch ist, und erinnern sich dann an Shakespeare, in den ich das eigentliche Zentrum, den Kern der romantischen Fantasie setzen möchte« (Schlegel, Friedrich: »Gespräch über die Poesie«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken I. 1796-1801 [= Kritische Friedrich-

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fataliste, während dessen (durch Lessings Hamburgische Dramaturgie in Deutschland berühmt gewordenes) drame bourgeois hingegen mit keinem Wort gewürdigt wird. Er geht so weit, das einzige von ihm beachtete moderne Theater, kurz: Shakespeares Dramen, der ›romantischen Poesie‹, explizit dem Roman zuzuordnen.3 Und wenn Novalis sich zur selben Zeit anschickt, die Teilbereiche der ›Poesie‹ der Moderne in Abgrenzung zu herkömmlichen Formen zu definieren, dann wird das Drama, genauso wie das Epos und die Lyrik, von einer anderen Form abgelöst: Das moderne Pendant zum »dramatischen Rhythmus«, schreibt Novalis in einem Brief an August Wilhelm Schlegel, sei der »dialogische Rhythmus«4. Warum interessieren sich Friedrich Schlegel und Novalis, die sich doch programmatisch in allen möglichen Gattungen und Genres versuchen (als Schriftsteller wie auch als Kritiker), ganz und gar nicht für die normgebende Gattung ihrer Zeit, die Gattung, an der sich der Anspruch der Klassizität primär messen lässt: das Drama (sei es im Sinne Lessings, Goethes oder Schillers)? Heißt das, dass im Denken der Jenaer Romantik das Theater keine relevante Position innehat? Dies zu behaupten, würde heißen, dass man stillschweigend Theater und Drama gleichsetzt. Mir scheint jedoch gerade interessant, dass sich aus dem Kunstverständnis der Jenaer Romantik heraus die Möglichkeit ableiten lässt, auch schon 1800 Theater und Drama von einander abzulösen: Diese Möglichkeit möchte ich kurz anhand eines zentralen Texts der Jenaer Romantik, nämlich des »Gesprächs Schlegel-Ausgabe – im Folgenden KFSA –, I. Abt., Bd. 2]. Hg. v. Ernst Behler. München u.a. 1967, S. 284-351, hier: S. 335). 3 | In Schlegels Literarischen Notizen vom Winter 1797 bis zum Winter oder Frühling 1801 werden die Dramen Shakespeares, von Schlegel »Trauerspiele« genannt, mit »psychologische[n] Romane[n]« gleichgestellt (vgl. Schlegel, Friedrich: Literarische Notizen 1797-1801. Literary Notebooks. Hg. u. eingel. v. Hans Eichner. Frankfurt a.M. u.a. 1980, S. 55, Eintrag Nr. 357) und als »gemischt aus der classischen Tragödie und dem Roman« charakterisiert (ebd., S. 27, Nr. 86). Im Eintrag »Sh[akespeare] ist R[omantisch] R[omantisch]« (ebd., S. 116, Nr. 1042) stellt die Verdopplung angesichts der frühromantischen Gleichsetzung von »romantisch« mit »romanhaft« die Sonder- und Schlüsselstellung der Dramenproduktion Shakespeares in der Schlegel’schen Auffassung moderner Kunst heraus: Sie ist das charakteristische Exponat des romantischen (also nicht-antiken) Zeitalters dahingehend, dass sie romanhaft ist. Auch angesichts einer künftigen Literatur bezieht die kritische Durchdringung der Werke Shakespeares in Schlegels Konzeption die Stellung eines Anfangs und absoluten Bezugspunkts: Nicht durch die Rückkehr zur »Kinderstube des ehemaligen französischen Geschmacks«, sondern mit dem Verständnis Shakespeares »kann die allmähliche Ausbildung eines solchen höheren Sinnes für Poesie am besten beginnen […]. Nicht schlechthin rückwärts, sondern, obwohl durch Rückkehr und Vergangenheit bereichert, vorwärts geht der Weg«, wird Schlegel einige Jahre später schreiben (Schlegel, Friedrich: »Nachtrag über Shakespeare«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken II. 1802-1829 [= KFSA, 1. Abt, Bd. 3]. Hg. v. Ernst Behler. München u.a. 1975, S. 249-258, hier: S. 258). 4 | »Es scheint mir auch, als ließe sich ein epistolarischer und dialogischer Rhythmus, in dem Verhältnis zu dem lyrischen und dramatischen, wie der romantische Rhythmus zu dem Epischen – recht gut denken« (»Novalis an August Wilhelm Schlegel in Jena. Freyberg: Den 12. Jänner 1798. [Freitag]«, in: Novalis, Tagebücher, Briefwechsel, zeitgenössische Zeugnisse [= Schriften, Bd. 4]. Hg. v. Richard Samuel in Zus. mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1975, S. 244-247, hier: S. 247).

Das kritische Theater Friedrich Schlegels

über die Poesie« (1800), aufzeigen, das heißt anhand eines Textes, der, um ihn allgemein zu charakterisieren, eine Suchbewegung in dialogischer Form inszeniert, die einem kommenden Literaturbegriff gilt, für den nicht das Drama, sondern der Roman einsteht. Ich werde zunächst klein anfangen: mit der Theaterkritik (Teil 1). Dann werde ich das große ›Theater der Kritik‹, das die Romantiker veranstalten, ansprechen: die Techniken der Dramatisierung, derer sich hier eine neue, umfassendere Form der Kritik bedient (Teil 2), aber auch und vor allem den Begriff der Kritik selbst, den Friedrich Schlegel unmittelbar nach dem Abenteuer der Zeitschrift Athenaeum in seiner Studie Lessings Gedanken und Meinungen (1804) einführt (Teil 3). Ich möchte in einem letzten Schritt auf die theoretischen Setzungen des »Gesprächs über die Poesie« zu sprechen kommen: Wenn es Unternehmen und Ziel der Jenaer Romantik ist, eine neue ›Klassizität‹ zu erreichen, das heißt eine Literatur der Modernen zu stiften, die sich am Roman und gerade nicht am Drama orientiert, dann ist die Frage, ob sich die Bestimmungsmomente des Romans, so wie Schlegel ihn versteht, mutatis mutandis auf ein moderneres Theaterverständnis übertragen lassen (Teil 4).

R omantische The aterkritik Die Zeit der Frühromantik ist jene, grob gesagt, in der das Paradigma der Repräsentation zusammenbricht. Die Frühromantik selbst steht hier als historischer Akteur an erster Stelle: als ein Kollektiv von Intellektuellen, das versucht zu verstehen, was ihm geschichtlich geschieht, wo es langgeht, wie weitermachen. Dass das Theater nicht mehr die Funktion eines höfischen Rituals haben kann, das den fürstlichen Souverän adressiert, ist für die ›Gelehrten‹ um das Athenaeum klar, und die Jenaer Jahre kann man mit Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy als Versuch verstehen, einer vielfachen Krise zu begegnen5 – einer politischen, einer erkenntniskritischen Krise, einer Krise der Ökonomie,6 nicht zuletzt einer Krise des sozialen Bandes, die ein neues Verständnis von Theater zur Folge haben wird oder zumindest dafür den Weg ebnet. Die Romantiker lassen sich aber auch nicht als Verfechter der Bühne als moralischer Anstalt im Sinne von Schiller oder Lessing verstehen. In veränderter Form wird ein ›dramatisches‹ Theater im 19. Jahrhundert weiterhin für das Verständnis von Theater führend sein: Wenn mit den Produzenten der Zeitschrift Athenaeum ein Bruch erfolgt, der auch hinsichtlich des Verhältnisses von Theater und Kritik von Belang ist, dann macht sich dieser Bruch zunächst in der nachfolgenden Theaterästhetik nicht unbedingt bemerkbar, wovon

5 | Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: L’absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand. Paris 1978. (Das Literarisch-Absolute. Texte und Theorien der Jenaer Frühromantik. Aus dem Franz. v. Johannes Kleinbeck. Berlin/Wien 2016.) 6 | Mit Joseph Vogl ist darauf hinzuweisen, dass Ende des 18. Jahrhunderts eine neue, sich auf alle Lebensbereiche übertragende Form von Ökonomie westliche Gesellschaften vor eine ungeheure Herausforderung stellt (vgl. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich/Berlin 2008).

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gerade das einzige von Friedrich Schlegel überlieferte Drama Alarcos (1802) zeugt.7 Aber mit Blick auf Walter Benjamin, der sowohl über den »Begriff der Kunstkritik« der Jenaer Romantik als auch über Bertolt Brechts episches Theater schreiben wird, kann man zumindest vermuten, dass sich hier mehr abspielt als schlichtes Desinteresse dem Drama gegenüber. Dieser heuristischen Annahme, die keinesfalls den Anspruch einer historischen Diagnose erhebt, muss man das Eingeständnis an die Seite stellen, dass Friedrich Schlegel und seine Verbündeten deutlich mehr mit dem Begriff der Kritik anfangen können als mit dem Theater im Allgemeinen. Sie sind vom Medium der Schrift besessen – Friedrich Schlegel ist eine Art Ritter des Buchstabens –, für Bühnenräume, Theaterästhetik, Aufführungstechnik, ja selbst Schauspieltechnik interessieren sie sich hingegen kaum. So lässt sich die Frage, wie sich Theaterkritik in das Projekt der Jenaer Romantik fügt, schnell beantworten. Wenn man das Projekt der Romantiker mit einem Begriff charakterisieren möchte, kann man sehr wohl sagen, dass es sich um ein kritisches Unternehmen handelt, und zwar dies im weitesten wie auch im engsten Sinne: Denn Rezensionen und Kritiken aller Art haben innerhalb der und um die Zeitschrift Athenaeum Konjunktur. Auffällig am Athenaeum ist jedoch, dass Theaterkritik im engeren Sinne dort kaum zu finden ist. Zumindest Friedrich Schlegel wird später einige Aufführungen für die Zeitschrift Europa und für den Österreichischen Beobachter rezensieren. Ein flüchtiger Blick lässt allerdings bereits erahnen, dass der eigentliche Antrieb dort primär das Ringen um den ersten Platz im Wettbewerb unter den Nationen sein wird. So tauchen der Theaterbesuch und die Theaterkritik bei Schlegel dann auf, wenn er selbst unterwegs ist: in Paris und in Wien. Das Problem mimetischer Rivalität unter den Nationen im europäischen nation-building ist jedoch keines, das uns bei der Bestimmung des Verhältnisses von Theater und Kritik weiterhilft. Die Bezeichnung »Kunstkritiker«, bemerkt Benjamin, habe sich erst mit den Romantikern gegenüber »Kunstrichter« erfolgreich durchsetzt.8 Hier bleibt Friedrich Schlegel somit hinter der eigenen historischen Leistung zurück: Er ist mehr Kunstrichter (im Sinne eines normativen Zugriffs à la Gottsched) als Kunstkritiker.

D as D r ama der K ritik Interessanter scheint mir an dieser Stelle die fiktionale Form der Theaterkritik, die Schlegel in sein »Gespräch über die Poesie« einspeist. Es kann kein Zufall sein, wenn nach einer Präambel über, grob zusammengefasst, die Bestimmung der Poesie als philia, Band der Liebe (»Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie mit unauflöslichen Banden«9), das eigentliche ›Drama der Kritik‹ mit 7 | Vgl. hierzu Hans Eichners Bericht über Schlegels Versuch einer »Synthese des Klassischen und des Romantischen« und die kontroverse Aufnahme sowohl des in Weimar am 29. Mai 1802 aufgeführten Stückes als auch des gedruckten Dramentextes in: Schlegel, Friedrich: Dichtungen [= KFSA, 1. Abt, Bd. 5]. Hg. v. Hans Eichner. München/Paderborn 1962, S. LXXILXXXI der Einleitung, hier: S. LXXX. 8 | Vgl. Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Hg. v. Uwe Steiner. Frankfurt a.M. 2008, S. 57. 9 | Vgl. Schlegel, 1967, S. 285.

Das kritische Theater Friedrich Schlegels

dem Kommentar eines Theaterbesuchs einsetzt: »Amalia und Camilla [geraten] soeben über ein neues Schauspiel in ein Gespräch, das immer lebhafter wurde.«10 Es sind in der fiktionalen Anlage des literarischen Dialogs Schlegels die Frauen, die eine strengere, strukturiertere Form des Kritikgesprächs verlangen. So laden sie ihre männlichen Genossen dazu ein, mit schriftlich fixierten Vorträgen sukzessive aufzutreten, um gemeinsam zu einer näheren Bestimmung des Wesens der Poesie zu kommen. Der Theaterbesuch ist im »Gespräch über die Poesie« also nach dem referierten Kritikgespräch im theaterwissenschaftlichen Sinne der Anlass zu einer Dramatisierung der Kritik in dialogischer Form, die in vier Teile gegliedert ist: »Epochen der Dichtkunst«, »Rede über die Mythologie«, »Brief über den Roman«, »Versuch über den verschiedenen Styl in Goethe’s früheren und späteren Werken«, an die jeweils eine lebhafte Diskussion der Figuren anschließt. Mit dieser dialogischen Anlage wird Kritik im Schriftstück des »Gesprächs über die Poesie« zu einem dramatischen Geschehen, das deshalb auf Personal und Verzeitlichung angewiesen ist, weil der verhandelte Gegenstand – die Poesie – zugleich der eigentliche Protagonist ist, – und zwar einer, der nicht erscheinen kann.

K ritik und »Pathe tik« Aber warum muss eine Reflexion über die Poesie zur Kritik geraten und was ist in diesem Zusammenhang unter Kritik zu verstehen? Kritik ist der Begriff, der unser heutiges, aus Distanz und Nähe bestehendes Verhältnis zur Lage um 1800 markiert. Nähe, weil hier zum ersten Mal Literatur als Ganzes (stellvertretend für Kunst insgesamt) neu gedacht und neu produziert werden soll. Distanz, weil sich dieses Anliegen im Geist der Romantiker gar nicht als modernes im engeren Sinne, sondern unter dem Begriff ›klassisch‹ denkt, nämlich als der Versuch, Klassizität mit modernen Mitteln und in Abgrenzung zur Weimarer Klassik zu erreichen. Der romantische Begriff der Kritik ist nämlich – das kann man dem Abschnitt »Vom Wesen der Kritik« in Schlegels Lessings Gedanken und Meinungen entnehmen – ein zweifacher. Wenn Friedrich Schlegel, der sich bereits vor der Phase des Athenaeums mit Lessing eingehend befasst hat, in seiner Studie von 1804 dessen »Geist« als Geist der »Kritik« auffasst, dann hat er damit zunächst etwas im Sinne, das er als »alte Kritik«11 versteht und das seither unter der Arbeit des Philologen subsumiert wird: das gründliche, methodische Studium eines Kanons, damit eine »Wissenschaft«, die einerseits die sukzessive »Auswahl« und »Anordnung« der »klassischen Werke« impliziert, andererseits den Vorgang des Lesens selbst in den Blick nimmt: die Verhandlung und Diskussion »verschiedene[r] Lesarten«12 . Die Kritik im ›alten‹ Sinne der Griechen, so Schlegel, bedeute zwar nichts Weiteres als das Studium bereits vorliegender Werke, sie sei aber nur in dem Maße relevant, wie sie zur Herstellung einer neuen ›Klassizität‹ (einer neuen Literatur) führe. Denn es kennzeichne die Lage der Modernen (der Nicht-Griechen), dass sie über Gelehrsamkeit verfügten, ihnen aber das lebendige Verhältnis zwischen 10 | Ebd., S. 287. 11 | Vgl. Schlegel, Friedrich: »Lessings Gedanken und Meinungen«, in: KFSA, Abt. 1, Bd. 3, S. 46-102, hier: S. 53. 12 | Ebd.

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»Poesie« (hier: Kunst; vor allem aber: Literatur) und »Kritik« im Verlauf des Hochmittelalters und der frühen Neuzeit abhanden gekommen sei, weil auf die Poesie dieser Zeiten kein »Zeitalter der Kritik« gefolgt sei.13 Das Fehlen eines »Zeitalter[s] der Kritik« in dieser ersten Phase der sogenannten »romantischen Zeit« bedeutet konkret für die Modernen, dass hier der »Kunstsinn«, das »Kunstgefühl«14, das, so Schlegel, den Griechen »natürlich« gewesen sein soll,15 gänzlich fehlt, und das heißt: auf neuer Basis »gebildet« werden muss. Durch Kants Ästhetik, so Schlegel, habe sich die Lage der Modernen zwar geändert, es sei jedoch jetzt an der Zeit, eine »ähnliche Wissenschaft für die Poesie« zu entwickeln, in der es darum ginge, nicht so sehr den Kunstsinn zu erläutern – dies habe bereits Kant geleistet –, sondern »allseitig [zu] üben, an[zu]wenden und [zu] bilden«16. Für diese zu erfindende »Wissenschaft« oder Praxis schlägt Schlegel den Namen »Pathetik« vor: »eine richtige Einsicht in das Wesen des Zorns, der Wollust, u.s.w.«17 Die Anlage dazu hätten unter den Modernen, wenig überraschend, die Deutschen, und zwar aus dem bestimmten Grund, dass bei den Deutschen »Kritik und Literatur zugleich entstanden« seien, ja sogar die einmalige Situation gegeben sei, dass mit ihnen eine Kultur eher über eine Kritik denn über eine Literatur verfüge.18

I st der R oman das bessere D r ama? So bedarf es einerseits einer Bestandaufnahme bereits vorliegender Werke, die als kritische Konstruktion konzipiert ist. Diese Kritik im herkömmlichen Sinne muss und wird auch im »Gespräch über die Poesie« geleistet: Mit den Teilen über die »Epochen der Dichtkunst« und über die Epochen im ›Schaffen‹ des Meisters, also Goethes, (be-)gründet Schlegel, was wir heute Literaturgeschichte nennen. Aber diese Teile sind nur dazu da, mit Rüdiger Campe gesprochen, um mit den zwei weiteren Teilen des »Gesprächs über die Poesie« über eine »neue Mythologie« und »über den Roman« eine Kulturwissenschaft und -theorie avant la lettre möglich zu machen.19 Ein kurzer Einblick in den »Brief über den Roman« soll verdeutlichen, welcher Affekt gegen das Drama hier vorliegt und warum dieser Affekt heute – gerade aus theaterwissenschaftlicher Perspektive – noch immer von Interesse sein kann. In diesem fiktiven Brief, der als eigenständiger Teil in das »Gespräch über die Poesie« eingeschoben wird und der das Spiel mit Fiktion und Referentialität poten-

13 | Ebd., S. 55. 14 | Ebd., S. 56. 15 | Ebd., S. 53. »[D]as Kunstgefühl war bei den Griechen sehr allgemein« (ebd.). 16 | Ebd., S. 57. 17 | Ebd. 18 | Ebd., S. 82 (= 7. Abschnitt: »Vom kombinatorischen Geist«). »Und noch jetzt weiß ich nicht, ob wir uns nicht mit mehrerm Rechte einer Kritik rühmen dürften, als eine Literatur zu haben« (ebd.). 19 | Vgl. Campe, Rüdiger: »Das Argument der Form«, in: Merkur 68, 777 (Feb. 2014), S. 110-121.

Das kritische Theater Friedrich Schlegels

ziert,20 wird eine begriffliche Bestimmung des Romantischen gegenüber dem ›bloß‹ Modernen mit einer Definition des Romans verbunden. Das heißt: Die Frage, warum Shakespeares Theater »romantisch«, Lessings Emilia Galotti dagegen einfach nur »modern« sei, wird über einen Umweg beantwortet, nämlich über den Weg, der darin besteht, einen Roman als ein »romantisches Buch«21 aufzufassen, freilich unter der Voraussetzung, dass alle Romane, die bloß Romane sind, von dieser Definition ausgenommen sind. Es kann also nicht darum gehen, den Roman gegen das Drama oder »Schauspiel« an sich auszuspielen, sondern es geht darum, sich von den reinen, geschlossenen Formen zu distanzieren, von den Formen, in denen der »dramatische Zusammenhang der Geschichte« nicht in eine »höhere Einheit«22 übergeht. Deswegen bestimmt Schlegel den Roman nicht über das Kriterium des Erzählens (als »erzählende […] Gattung«23). Spätestens seit dem »epischen Theater« eines Bertolt Brecht würde man umgekehrt sagen, dass auf dem Theater durchaus erzählt werden darf – dass also der rein mimetische Modus keinesfalls dazu geeignet ist, Theater zu definieren. Auch schon Schlegel scheint es zu wissen. Im besagten »Brief über den Roman« räumt er zwar den Unterschied zwischen Schauspiel und Roman ein, dass »das Schauspiel […] bestimmt ist angeschaut zu werden: der Roman hingegen war es von den ältesten Zeiten für die Lektüre.«24 Aber, so behauptet er weiterhin, es »finde sonst so wenig ein Gegensatz zwischen dem Drama und dem Roman statt, daß vielmehr das Drama so gründlich und historisch wie es Shakespeare z.B. nimmt und behandelt, die wahre Grundlage des Romans ist«25. Darum ist nicht, wie dies bei den Vorgängern, allen voran den Weimarern der Fall war, das Drama, sondern der Roman die Form, der sich die Jenaer Romantiker zuwenden. Denn diese Form ist gemischt und ihr charakteristisches Verfahren deshalb weniger das Erzählen an sich als vielmehr die Unterbrechung, zu der das Erzählen veranlasst (weshalb nicht der Diderot des bürgerlichen Dramas hier aufgerufen wird, sondern der Verfasser von Jacques le fataliste et son maître). Die Form des Romans ermöglicht somit »durch die Beziehung der ganzen Komposition auf eine höhere Einheit, als jene Einheit des Buchstabens, über die er sich oft wegsetzt und wegsetzen darf, durch das Band der Ideen, durch einen geistigen

20 | Innerhalb eines Gesprächszusammenhangs, das als halb transkribiertes, halb fiktives Gespräch ausgegeben wird, wird der »Brief über den Roman« als Nachtrag zu einem ihm angeblich vorausgegangenen Gespräch zwischen Antonia und Amalia vorgestellt und anschließend von seinem Verfasser Antonio vorgelesen. 21 | Schlegel, 1967, S. 335. 22 | Ebd., S. 336. 23 | Ebd. 24 | Ebd. 25 | Ebd.

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Zentralpunkt«26 jenes »geistige […] Gefühl«27 und jenen »heiligen Hauch«28, von denen wir hier erfahren, dass sie das Romantische ausmachen. Der Roman steht hier für die kommende Kunst, die sich von einer neuen kritischen Produktivität ableiten lässt: nicht so sehr, weil er als Produkt der Schrift zu einem Spiel vor dem geistigen Auge einlädt, sondern vielmehr, weil er Produkt einer kritischen Tätigkeit ist, die ästhetische Formen studiert und anordnet, um das Prozessieren neuer, gemischter Formen anzuleiten. Insofern lässt sich einiges von all dem, was hier dem Roman zugeschrieben wird, auf das Theater des 20. und 21. Jahrhunderts übertragen: Wenn hier Theaterformen auftauchen, die man im romantischen Sinne kritisch nennen kann, dann deshalb, weil aus der Bühne ein Raum für verschiedene Verfahren, Medien, Künste geworden ist. Und man könnte eine andere Dimension dieses kritischen Theaters im romantischen Sinne im Rückgriff auf den Schlegel’schen Begriff der Kritik nennen. Frei nach Schlegel ginge es ja auf dem Theater heute um ästhetisch geformte ›Gefühle‹, d.h. um Affekte. Wenn Kants Urteilskraft mit der Vorstellung von einer »Pathetik« als einer Art Affektenlehre in die Praxis (auf die Seite der Produktion) überführt wird, heißt das mit anderen Worten, dass ein Raum für Affekte entsteht – Affekte, die vorrangig, aber nicht nur, über den menschlichen Körper als Medium gebildet werden: über Körper, über Musik, Licht und weitere sensorische Mittel. Für unseren Vorgänger, den Kritiker Friedrich Schlegel, mag der Roman das bessere Drama gewesen sein. Aber vielleicht ist das Theater heute, frei nach dem romantischen Begriff der Kunstkritik: der bessere Roman.

26 | Ebd.: »Der dramatische Zusammenhang der Geschichte macht den Roman im Gegenteil noch keineswegs zum Ganzen, zum Werk, wenn er es nicht durch die Beziehung der ganzen Komposition auf eine höhere Einheit, als jene Einheit des Buchstabens, über die er sich oft wegsetzt und wegsetzen darf, durch das Band der Ideen, durch einen zentralen geistigen Punkt wird.« 27 | Ebd., S. 333. 28 | Ebd., S. 334.

Institutionskritik und Regie Produktion und Rezeption der künstlerischen Freiheit am Bremer Theater 1969 Sabine Päsler Die Theaterarbeiten am Bremer Theater unter Kurt Hübners Intendanz von 1962 bis 1973 gingen als sogenannter Bremer Stil oder als Bremer Schule in die Theatergeschichte ein, da hier ungewohnte Inszenierungsweisen probiert und eine neue Generation von Regisseuren1 gefördert wurden. Sie befreiten mit ihren Experimenten, ihrer Neugierde und dem Spaß an der künstlerischen Freiheit das Theater von den Konventionen der fünfziger Jahre.2 Den politisch-moralischen Fragen der Zeit zudem bewusst gegenüberstehend, musste und wollte sich das Bremer Theater mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit befassen.3 Denn von einer Sekunde auf die andere, mit einem Schuß hatte eingesetzt, was heute auf die Formel ›68‹ gebracht wird: Mit dem Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 war der Riß, der durch die Gesellschaft ging, offen zu Tage getreten. Auch und gerade die Künstler waren von der allgemeinen Politisierung erfaßt und sahen sich vor die Frage gestellt, wie die Kunst insgesamt, wie das Theater sich der Aktualität gegenüber angemessen erweisen könne oder ob sie nicht, den Ereignissen hoffnungslos hinterherhinkend, längst obsolet sei. 4

Wie die Institution Stadttheater auf der Suche nach der eigenen Relevanz formale und inhaltliche Selbstkritik übt, um ihre Stellung als gesellschaftlich bedeutende Institution zu behaupten, wird in zwei Inszenierungen 1969 beispielhaft deutlich. 1 | Es führten laut der Publikation zur Bremer Theaterarbeit von 1962-73 ausschließlich Männer Regie. Vgl. Mauer, Burkhard/Krauss, Barbara (Hg.): Spielräume – Arbeitsergebnisse Theater Bremen 1962-73. Bremen 1973, S. 11f. 2 | Vgl. Rühle, Günther: »Der Wille, der Spaß, die Phantasie und die Kunst. Bericht über elf Jahre Theaterarbeit in Bremen«, in: Burkhard Mauer/Barbara Krauss (Hg.), Spielräume – Arbeitsergebnisse Theater Bremen 1962-73. Bremen 1973, S. 232-243, hier: S. 232-236. Siehe auch Rühle, Günther: Theater in Deutschland 1945-1966. Seine Ereignisse – seine Menschen. Frankfurt a.M. 2014, S. 1151 u. 1163. 3 | Vgl. Mast, Rudolf: »Hübner, Minks, Zadek oder der ›ästhetische Realismus‹ in Ulm und Bremen 1959-1973«, in: Henning Rischbieter (Hg.), Durch den Eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990. Berlin 1999, S. 117-130, hier: S. 122. 4 | Ebd., S. 126.

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Am 29. März wird Aristophanes’ Frauenvolksversammlung in Claus Bremers Fassung gegeben. Die Aufführung der Arbeitsgruppe, die nach gemeinsamer Abstimmung auf die Regie verzichtet, findet einmalig um 23 Uhr statt, da sie am Folgetag vom Intendanten abgesetzt wird. Am 30. März feiert Peter Steins Torquato Tasso Premiere. Die Inszenierung ist eine der am nachhaltigsten beeindruckenden der Spielzeit, wie in den zeitgenössischen Rezensionen zu lesen ist, und etabliert Stein als erfolgreichen Regisseur.5 In den zwei Produktionen werde ich die Rolle der Regie betrachten und sie in Bezug zu Fragen der Institutionskritik der Zeit setzen. Von Belang sind für mich die Versuche der Mitbestimmung am Bremer Theater, insbesondere mit Blick auf die Beibehaltung oder Abschaffung der Regie in den Produktionen. In jenem Spannungsverhältnis werde ich die Praxis des Regieführens zum einen auf der Ebene der Produktionsprozesse untersuchen und zum anderen auf der der Rezeption. Dabei interessieren mich die Aushandlungsmomente, die die kritische Selbstbefragung und Suche nach Relevanz im Jahr 1969 verdeutlichen. Zunächst werde ich die Begriffe Institution, Kritik und Regie näher bestimmen und in ein konzeptionelles Verhältnis setzen, um dieses daraufhin in den beiden Bremer Inszenierungen anhand von Produktionsberichten, Regiebüchern, Begleitprogrammen und Theaterrezensionen der Zeit zu analysieren.

I nstitution , K ritik und R egie In der Theaterwissenschaft wurde Institutionskritik, anders als z.B. in der Kunstwissenschaft6, bisher nicht systematisch erforscht. Um eine Definition für diese Studie zu entwickeln, gehe ich zunächst auf die Begriffe ein. Der Theaterwissenschaftler Christopher Balme charakterisiert eine Institution anhand dreier zusammenhängender Merkmale: »[D]uration, legal status and supraindividual functionality« 7. Diese Merkmale erfordern, dass eine Institution verwaltet und geführt, also regiert wird. Aus der Betrachtung von Regierungsweisen entwickelt Michel 5 | Vgl. Friedrich, Erhard/Melchinger, Siegfried/Rischbieter, Henning (Hg.): Theater 1969. Sonderheft der Zeitschrift Theater heute, 1969. Siehe insbesondere die Artikel zu: »Umstrittene Aufführungen des Jahres«, S. 20-31. 6 | An der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde unter der Leitung von Christopher Balme 2016 das Forschungszentrum Institutionelle Ästhetik (inaes) gegründet, welches sich mit Fragen und Dynamiken der Ästhetik, Institution und Organisation auseinandersetzt (www.inaes.kunstwissenschaften.uni-muenchen.de/forschungszentum/index.html vom 20. Feb. 2018). Am 4. Dez. 2016 veranstaltete inaes bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft zum Thema Theater als Kritik ein Panel mit dem Titel »Perspektiven einer institutionellen Kritik des Theaters« (www.inaes.kunstwissenschaften.uni-muenchen. de/news-events/frankfurt/index.html vom 20. Feb. 2018). Vgl. zur kunstwissenschaftlichen Erforschung von Institutionskritik Gau, Sønke: Institutionskritik als Methode. Hegemonie und Kritik im künstlerischen Feld. Wien 2017; Graw, Isabelle: »Jenseits der Institutionskritik«, in: Texte zur Kunst 59 (Sept. 2005), S. 41-53; Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik. Wien 2008. 7 | Balme, Christopher: The Theatrical Public Sphere. Cambridge 2014, S. 42; vgl. ebd. S. 41-46 ausführlich zur Institution Theater und der diesbezüglichen Forschung.

Institutionskritik und Regie

Foucault in dem Vortrag »Qu’est-ce que la critique?« seine Konzeptionierung von Kritik.8 Diese definiert er als eine Form der Reflexion, die nie außerhalb des Kritisierten, also immer in Relation zu den Regierungsweisen zu verstehen ist. Kritik ist nach Foucault also »die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden«9. Diese Charakterisierung bringt eine »so genannte kritische Haltung«10 mit sich, die sich gegenüber einer Regierungsweise ausbilden kann, und zwar als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste.11

Hier wird der ambivalente Charakter von Kritik bzw. ihre zwiespältige Beziehung zur Macht deutlich: Sie agiert gleichzeitig mit den und gegen die (Regierungs-) Künste. Der Kunstwissenschaftler Sønke Gau formuliert diese Verstrickung treffend: »Kritik kann dabei keine Außenposition für sich beanspruchen, sondern muss ihre eigene Involviertheit in die Produktion der jeweils hegemonialen Werthorizonte anerkennen.«12 Auf diesem Verständnis beruhend wird die Kritik an der Institution Theater über die Rolle der Regie in den Fallstudien herausgearbeitet. Regieführen fasse ich im Folgenden als eine Organisationstätigkeit von Produktionsabläufen auf. Im Fokus stehen nicht das Regieführen als intentionales künstlerisches Handeln oder die Regisseur*innen als moderne Künstler*innen, an deren genialer Subjektivität die jeweiligen Regieeinfälle gemessen werden.13 Vielmehr schließe ich mich der Auffassung von Maria Delgado und Dan Rebellato an, die die Idee des Künstler*innenindividuums in ihrer Studie Contemporary European Theatre Directors verabschieden: This volume does not seek to see the director as a homogenous individual but rather as a construct that itself articulates wider debates around the intersections between theatre, nation, state and the broader structures through which geographical, political and cultural spaces intersect or collide.14

Als dynamisches Konstrukt verweist der*die Regisseur*in somit über sich als Person und den zu inszenierenden Text hinaus, sodass in der Praxis des directing 8 | Vgl. Foucault, Michel: Was ist Kritik? Übers. v. Walter Seitter. Berlin 1992, S. 9-12. 9 | Ebd., S. 12. 10 | Ebd. 11 | Ebd. 12 | Gau, 2017, S. 14. 13 | Vgl. Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1998; Bradby, David/Williams, David (Hg.): Director’s Theatre. Hampshire/ London 1988; Carlson, Marvin: Theatre Is More Beautiful Than War: German Stage Directing in the Late Twentieth Century. Iowa City 2009. 14 | Delgado, Maria M./Rebellato, Dan: »Introduction«, in: dies. (Hg.), Contemporary European Theatre Directors. Abingdon/New York 2010, S. 1-27, hier: S. 21.

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sowohl soziale, politische oder kulturelle Strukturen zum Ausdruck kommen als auch deren Rahmenbedingungen impliziert sind. Regie als Praxis zu verstehen ermöglicht, die Strukturen der Regierungsweisen und die Dynamiken der Machtverhandlungen näher zu betrachten. Wie wird über die Rolle der Regie Kritik geäußert, im Sinne der »Kunst nicht dermaßen [in der Institution Theater, S.P.] regiert zu werden«15?

A rbeitsgruppe F rauenvolksversammlung Opern-Oberspielleiter Rolf Becker wurde die Regie für die Inszenierung der Frauenvolksversammlung von Aristophanes übertragen. Er bot dem Ensemble jedoch an, im Kollektiv zu arbeiten, woraufhin eine Arbeitsgruppe gegründet wurde.16 Mitwirkende waren neben Becker und dem Autor Bremer 16 Schauspieler*innen.17 Über einen Zeitraum von sieben Wochen wurde in verschiedenen Probenphasen diskutiert, probiert und jede Entscheidung demokratisch abgestimmt, jedoch konnte keine Einigung auf eine konkrete Inszenierungsform und Spielweise erzielt werden. In den Probennotizen, die stellvertretend für die Gruppe von Bremer formuliert wurden, wird dies deutlich: In der vierten Arbeitsphase erarbeiten die Einzelnen ihre Rollenauffassung in kleinen Gruppen. Es wird ein Termin für einen Durchlauf vereinbart […]. Der Durchlauf kommt nicht zustande, weil eine Teilgruppe nach einer Spielweise verlangt, die die Rollenfixierung aufhebt und eine gesonderte Kritikebene überflüssig macht. Nachdem die Teilgruppe ihren Vorschlag vorgeführt hat, fordert eine andere Teilgruppe, einen Regisseur einzusetzen oder den Premierentermin auf unbestimmte Zeit zu verschieben. […] In der fünften Arbeitsphase wird das Verlangen nach Regie mit dem Vorschlag beantwortet, die Gesamtgruppe in eine Darstellungsgruppe und eine Konzeptionsgruppe aufzuteilen, an der teilnehmen kann, wer will. […] Phase sechs: Einzelne begreifen unabhängig voneinander, daß die Zusammenarbeit als Gruppe gescheitert ist. Aus dem Scheitern der Gruppenarbeit entwickelt sich die Lösung: das Stück wird gelesen. Dargestellt wird, was wir am Stück und an der Gesellschaft kritisieren.18 [Hervorhebung S.P.]

Die Darbietung bestand darin, dass die Arbeitsgruppe in Form von Kommentaren entlang des dramatischen Textes die Strukturen der Theaterinstitution als einen Teil der Politik und Gesellschaft von 1969 problematisierte.19 Die Thematiken des Stücks wie etwa Machtverhältnisse, Teilhabe und Selbstbestimmung bezogen die Schauspieler*innen auf ihre aktuelle Situation am Theater, indem sie eigene kritische Kommentare in den gelesenen Text einfügten. Den Ausgangspunkt ihrer Kri15 | Foucault, 1992, S. 12. 16 | Vgl. Bremer, Claus/Becker, Rolf/Benje, Peter/Plaumann, Hans-Jürgen: »Materialien zur Kollektivarbeit im Theater. 2. Probennotizen zur Bremer Arbeit an Aristophanes/Bremer ›Frauenvolksversammlung‹«, in: Theater heute 10, 4 (Apr. 1969), S. 22-25, hier: S. 24. 17 | Vgl. S[trauß], B[otho]: »Versammlungsverbot. Marginalie zu ›Frauenvolksversammlung‹ von Aristophanes/Bremer«, in: Theater heute 10, 4 (Apr. 1969), S. 17. 18 | Bremer et al. 1969, S. 24. 19 | Vgl. ebd., S. 23f.

Institutionskritik und Regie

tik formuliert Bremer treffend: »Die Kritik an jeder Institution ist für uns zunächst die Kritik an den Abhängigkeitsverhältnissen.«20 In der Lesung wurden losgelöst vom Rollenspiel die Arbeitsbedingungen, künstlerische Mitbestimmung und die Macht von Intendanz und Regie beleuchtet, Schauspieler*innen als Ware thematisiert, der Wert und Nutzen von Kunst für die Gesellschaft diskutiert.21 Dargestellt wurde die Institutionskritik in Form einer Lesung, d.h. Strukturen, Mittel und Ästhetik des Theaters wurden dabei wenig bemüht. Die Arbeit im Ensemble mit gewohnter, hierarchisch angelegter Aufgabenteilung in Regie, Schauspiel, Dramaturgie, Bühnen- und Kostümbild wurde zugunsten der Arbeit im basisdemokratisch organisierten Kollektiv aufgelöst.22 Die Raumgestaltung spiegelte die Idee dieser Arbeitsweise wider, denn Publikum und Ensemble saßen gemeinsam im Viereck auf Holzbänken auf der leeren Bühne. In den vordersten Reihen, zur Mitte schauend, saßen die Mitglieder der Arbeitsgruppe, auf den Bänken dahinter konnte das Publikum Platz nehmen. Der eiserne Vorhang war geschlossen, wobei trotz der räumlichen Nähe eine Distanz zwischen den Gruppen bestehen blieb: Man konnte Cola und Würstchen kaufen, aber es kam keine ›gelockerte Atmosphäre‹ zustande, kein Dialog mit dem Publikum. Dunkel. Eine Riesen-Glühbirne (Kunst-Objekt) kommt aus dem Schnürboden, Beatmusik, eine Frauenstimme sagt über ein übersteuertes Mikrofon den Eröffnungsmonolog der Praxagora auf, jenes Weibsbild, das ihren Geschlechtsgenossinnen rät, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen und das Privateigentum aufzulösen. Dann wieder Probenlicht, und Rolf Becker stellt fest, soeben sei Kunst konsumiert, Realität weggeschafft, suggestiv erlebt worden. 23

Der Wechsel zwischen Bühnenlicht und Probenlicht sowie der Metakommentar von Becker zur aufgeführten Szene sind Formen der Kritik an einem Theater, das in der Regel zwischen Kunst und Lebensalltag unterscheidet, wodurch implizit nach der Wirkung und Relevanz von Theater gefragt wird. Das Ensemble versucht hier beide Ebenen in Austausch zu bringen, ein geschlossenes Inszenierungskonzept zugunsten einer kritischen Reflexion zu öffnen und dadurch dem Publikum die Erfahrung zu ermöglichen, mit ihrer auf Mitbestimmung beruhenden Arbeitsweise in Kontakt zu kommen. Dass die gewählte Form wenig künstlerischen Eindruck und politische Wirkung hinterließ, wurde in verschiedenen Rezensionen angemerkt: Um wirklich gegen die Institution anzustehen, hätten sie beweisen müssen, daß man mit demokratischen Arbeitsmethoden, aus dem Kollektiv heraus ein prinzipiell anderes, offeneres, besseres Theater machen kann als unter den normalen Bedingungen. […] Es ist ihr nicht gelungen, ihr Thema, die Abhängigkeitsstrukturen innerhalb der Institution verständlich zu machen. 24

20 | Ebd., S. 23. 21 | Vgl. ebd. 22 | Vgl. ebd., S. 24. 23 | S[trauß], 1969, S. 17. 24 | Ebd.

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Die Urteile der Rezensionen bleiben auf ästhetischer Ebene und verkennen die strukturelle.25 Die inhaltlichen Absichten wurden kaum erwähnt, stattdessen wurden das Misslingen der Arbeitsweise und die Form der Veranstaltung kritisiert: ›Die Frauenvolksversammlung‹ in dieser Form war nicht von einem einzelnen inszeniert, sondern von einer Veranstaltungsgruppe erarbeitet worden. Beifall gab es für sie nur ganz vereinzelt. Man sollte es doch mal mit einem Regisseur versuchen. 26

Dabei kommt dem Regieführen durch den wiederholten Verweis in verschiedenen Rezensionen besondere Aufmerksamkeit zu; laut der Kritik trägt demnach die Funktion der Regie zum Gelingen einer Inszenierung bei.27 Sie wird sowohl bei der Produktion im Kollektiv als auch bei der Rezeption in den Theaterrezensionen thematisiert, wenn es jeweils problematisch wird. So halte ich fest, dass der Regie eine Vermittlungs- und Kommunikationsfunktion innerhalb der hierarchisch gegliederten Institution und zwischen dem Theater, der Rezension und der Gesellschaft zukommt. Meines Erachtens bestätigen der stetige Verweis auf das Fehlen der Regie von Seiten der Rezension im Diskurs um die Frauenvolksversammlung und die Kritik der Arbeitsgruppe an den institutionellen Abhängigkeitsverhältnissen auf ironische Weise ebenjene kritisierten Strukturen am Theater. Hier wird die von Gau thematisierte Involviertheit der (Theater-)Kritik »in die Produktion der jeweils hegemonialen Werthorizonte«28 deutlich. Bemerkenswerterweise wurde der Ablauf der Premiere nicht durch Kommentare aus dem Publikum unterbrochen, sondern von der Theaterleitung: Ein Zwischenruf »Das ist vollkommener Quatsch«29 des Intendanten auf der Beleuchtungsbrücke demonstriert die institutionellen Machtstrukturen und pervertiert die Wirkungskraft der Darbietung und der basisdemokratisch organisierten Arbeitsweise. Jost Nolte schreibt in Die Welt:

25 | Vgl. Nolte, Jost: »Verhunzter Aristophanes, übertrumpfter Goethe. Zwiefache Bremer Revolution: Kollektivregie statt Regietheater?«, in: Die Welt Nr. 77 vom 1. April 1969, S. 21; Jenny, Urs: »Fachidioten und ihre Kunststücke«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1. April 1969, S. 26. Eine Studie der Frauenvolksversammlung mit Fokus auf der Ästhetik und der Performativität der Aufführung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, erscheint aber interessant und vielversprechend, da hier postdramatisches Theater gemacht wurde bzw. das Stück als Performance aufgefasst werden könnte. Mit dieser Perspektive ist eine Neubewertung des Bremer Theaters der 1960er Jahre möglich, da es in der Theatergeschichte vor allem als Schule der Regie beschrieben worden ist und die Form der Arbeitsgruppe wegen der Absetzung ihrer Aufführung vorschnell als gescheitert verurteilt wurde. 26 | H.J.B.: »Aristophanes mit Würstchen. Frauenvolksversammlung – Jeder durfte mitmachen – Theater-Kritik«, in: Pforzheimer Zeitung vom 1. April 1969. 27 | Vgl. Iden, Peter: »Theater – verloren und gewonnen. Eine ›Veranstaltung‹ und Peter Steins ›Tasso‹-Inszenierung in Bremen«, in: Frankfurter Rundschau vom 1. April 1969, S. 9; H.J.B., 1969. 28 | Gau, 2017, S. 14. 29 | Althoff, Jürgen: »An Bremens Bühnen ist alles anders. ›Frauenvolksversammlung‹ des Aristophanes in Claus Bremers Neufassung«, in: Heidelberger Tageblatt vom 11. April 1969.

Institutionskritik und Regie

Endlich schien die Kollision mit den Herrschenden erzwungen, denn Kurt Hübner, der Amtswalter des Establishments, der zuvor hoch oben im Bühnenhaus eine Beleuchterbrücke bezogen und seinem Unmut mit ein, zwei gutgezielten Zwischenrufen Luft gemacht hatte, rauschte im Fahrstuhl auf das Bühnenparkett. Doch der Streit blieb aus, denn Hübner lächelte – nicht gerade glücklich, aber er lächelte. 30

Peter Iden bemerkt mit Bezug auf den – symbolischen – Akt des Intendanten auf der Brücke hoch oben über den Köpfen der Arbeitsgruppe: »Eine Wechselrede von unten nach oben – das war am Ende vielleicht kein schlechtes Bild für das, wovon an diesem Abend gehandelt wurde. Aber war es auch ein richtiges Bild?«31 Stellt Iden die Richtigkeit des evozierten Bildes zur Debatte, so spielt er damit wohl auf die Freiheit im künstlerischen Schaffen am Bremer Theater an, für deren Rahmenbedingungen Hübner sich stetig eingesetzt hat.32 Dass erstens an diesem Abend jedoch Schilder im Namen der Theaterleitung im Foyer hingen, die bekanntgaben, dass der Eintritt im Anschluss nicht zurückerstattet werden könne,33 dass zweitens der Intendant noch während der Veranstaltung das Wort ergriff und dass er drittens die Frauenvolksversammlung nach diesem Abend absetzte, verdeutlicht die Relevanz der Befragung der Hierarchien und Regierungsweisen im Theater. Die Fallstudie zeigt somit, dass im Produktionsprozess durch den Verzicht auf Regie Institutionskritik direkt ausgehandelt wurde und so neue Formen der Mitbestimmung am Theater getestet wurden. Diese Versuche fanden jedoch in der Rezeption kaum Anerkennung, da der Fokus auf dem Verzicht auf Regie zum Maßstab des Ge- bzw. Misslingens sowohl der Aufführung als auch der geäußerten Institutionskritik gemacht wurde.

S teins I nszenierung von Torquato Tasso Am folgenden Abend feiert Steins Torquato Tasso Premiere. In dem Drama verhandelt Johann Wolfgang von Goethe die Stellung des Künstlers in der höfischen Gesellschaft.34 Das Ensemble besteht aus Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz, Wolfgang Schwarz und Werner Rehm. Die Bühne gestaltete Wilfried Minks, und die Kostüme entwarf er mit Susanne Raschig.35 Der Regisseur und sein Assistent Hans Jürgen Rapprich legten in den Proben Wert auf kollektive Arbeit, die Diskussion von Bezügen zwischen Stück und Gegenwart sowie eine intensive Abarbeitung am Inhalt und an der Sprache.36 30 | Nolte, 1969, S. 21. 31 | Iden, 1969, S. 9. 32 | Vgl. Mast, 1999, S. 117-130; Rühle, 1973. 33 | Vgl. Althoff, 1969. 34 | Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: »Torquato Tasso« [1790], in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band V: Dramatische Dichtungen III. Hg. v. Erich Trunz. 9. Aufl. München 1981, S. 73-168. 35 | Vgl. Canaris, Volker (Hg.): Goethe u.a. Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung. Frankfurt a.M. 1970. 36 | Nagel, Ivan: »Epitaph und Apologie auf Peter Steins ›Torquato Tasso‹. Zwei Überlegungen«, in: Programmheft 19. Torquato Tasso. Dokumentation. Theater Bremen. 1968/69, o.S.

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Stückimmanent, also auf der Handlungsebene, wurden in der Inszenierung dieselben Themen wie in der Frauenvolksversammlung am Abend zuvor kritisiert. Die Arbeitsbedingungen in der Kunst wurden thematisiert, wobei Hierarchien, Machtverteilungen und Möglichkeiten der Mitbestimmung zur Sprache kamen. Diese Kritik wurde allerdings nicht wie bei der Frauenvolksversammlung direkt umgesetzt, indem nicht nur inhaltlich, sondern auch formal durch Abschaffung der Regie und der Aufgabenteilungen konsequent kollektiv gearbeitet wurde. Stattdessen wurden bei Tasso das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft und spezieller noch das Potential von Theater in der Gesellschaft intensiv in den Proben mit allen Beteiligten diskutiert, dann auf der Bühne anhand des Stücks und mit den Mitteln des Theaters gezeigt und in einer vorprogrammierten Pausenveranstaltung im Foyer mit Blick auf die eigene, aktuelle Situation reflektiert. Iden resümiert: Diese Inszenierung, ohne Zweifel die wichtigste und die schönste, die man im Augenblick in einem unserer Theater sehen kann, ist eine Antwort auf alle Fragen an das Theater, weil sie in jeder Phase ihre Funktion in der Gesellschaft mit reflektiert. Das ist ihre Leistung: daß sie selbst sich als gesellschaftlicher Akt überprüft, während sie sich herstellt. 37

Dies bringt jedoch auch Widersprüche hervor: Das Produktionssystem Theater mit seinen Abhängigkeitsstrukturen wird in den Proben mit Bezug auf das Stück kritisiert, wobei es gleichzeitig in der konventionellen Arbeitsweise mit Regie und Schauspieler*innen fortgeführt wird. Allerdings wurde in den Proben auch großer Wert auf kollektives Arbeiten gelegt, sodass die Macht der Regie in der betonten Ensemblearbeit eingeschränkt wurde. Das publizierte Regiebuch gibt einen Eindruck davon, wie in der gemeinsamen Auseinandersetzung von Regie und Ensemble anhand des Dramentextes Torquato Tasso das kritische Potential gegenüber der Institution – dem Hof, der Kunst, dem Theater – herausgearbeitet wurde. Aus der intensiven Probenarbeit bildet sich das Ensemble mit Clever, Ganz und Lampe heraus, mit dem Stein an die Schaubühne am Halleschen Ufer gehen wird. Zudem etabliert sich Stein mit (oder trotz) dieser betont kollektiven Arbeitsweise als Regisseur. Das Lob der Inszenierung und der Regieleistung in den Rezensionen bekräftigt diese Arbeitsweise, die stärker den klassischen Produktionsvorgaben der Theaterinstitution entspricht, wodurch diese indirekt Bestätigung findet.38 Dagegen bleiben im Ensemble Zweifel an der Wirkkraft und Relevanz der eigenen Arbeit – trotz des Erfolges und der verständlich vermittelten Kritik an der Kunstinstitution: Die Arbeit an der Inszenierung stellte, anders als die Arbeit an der ›Frauenvolksversammlung‹ die Arbeitsbedingungen des gegenwärtigen Theaters nicht in Frage. Ein schwerwiegender Fehler. Die Reflexion des Selbstverständnisses blieb so abstrakt und oberflächlich. 39 37 | Iden, 1969, S. 9. 38 | Vgl. ebd.; Nagel, 1968/69. 39 | Emigholz, Erich: »30 Fragen zum Bremer ›Tasso‹«, in: Programmheft, Goethe (Bremer Bühnenfassung), Torquato Tasso. Bremer Theater. 1969/70, o.S.; Als Anmerkung ist ebd. zu lesen: »Die Fragen zum ›Tasso‹ wurden beantwortet von Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz, Hans Jürgen Rapprich, Werner Rehm, Wolfgang Schwarz und Peter Stein. Sie entschieden sich dafür, die einzelnen Artikel nicht zu zeichnen.«

Institutionskritik und Regie

Die Aussage zeigt deutlich, wie intensiv Institutionskritik am Bremer Theater reflektiert und wie gegensätzlich in der Wahrnehmung von Publikum, Rezension und Theaterschaffenden die Wirkkraft der beiden Produktionen eingeschätzt wird. Bestätigen Kritiker den Erfolg der Inszenierung und die Anerkennung der institutionskritischen Botschaft, so stellt das Ensemble selbst den Erfolg der Arbeitsweise und damit die Relevanz der Inszenierung in Frage. Im Programmheft wird deutlich, wie sie die Qualität und Wirkung von Torquato Tasso im Gegensatz zur Frauenvolksversammlung bewerten. Auf die Frage, welche Produktionsart vielversprechender für das gegenwärtige Theater sei, kommt folgende Antwort aus dem Ensemble: Die Beschäftigung mit der Problematik der Beziehung von Gesellschaft und Theater bis zur Verweigerung von Theater scheint mir wichtiger als das Produzieren – wenn auch kritisch – von ›Qualität‹. Noch gilt die Veröffentlichung des damaligen Arbeitsergebnisses der Gruppe Frauenvolksversammlung auf dem Kulturmarkt als ›gescheitertes Experiment‹. Die Leute arbeiten weiter, in anderen Gruppierungen, ihr eigener Lernprozeß und der anderer wird fortschreiten und neue Ergebnisse werden veröffentlicht werden. Frauenvolksversammlung hat Konsequenzen, Tasso nicht. 40

Um die Kritik innerhalb des Kunstrahmens in eigene Worte fassen und ganz konkret auf die eigene Situation beziehen zu können, gab es bei den ersten Aufführungen von Torquato Tasso einen konzipierten Pauseneinschub, der vom Regisseur Stein, seinem Assistenten und den Schauspieler*innen vorbereitet wurde.41 Damit die implizite Institutionskritik explizit wurde, setzten sich die Darsteller*innen vor der Pause an die Rampe und stellten dem Publikum Fragen: Abend für Abend verkaufen wir Ihnen Kunst./Brauchen Sie Kunst?/Wenn ja: wozu? Wenn nein: warum kaufen Sie Kunst?/Sie sind unsere Auftraggeber: womit beauftragen Sie uns?/ Für Ihr gutes Geld wollen Sie eine gute Ware./Was ist eine gute Aufführung?/Was ist eine schlechte Aufführung?/Wir wollen wissen: gut für wen? Schlecht für wen?/Würden Sie auf Proben kommen wollen? Hätten Sie Spaß daran?/Langweilen Sie sich?/Haben Sie Interesse am Theater?/Vertritt das Theater Ihre Interessen?42

Die direkte Ansprache des Publikums zu den aufgeworfenen Themen und der Absetzung der Frauenvolksversammlung durch Hübner wurde während der Pause im Foyer fortgesetzt. Die Schauspieler*innen wollten deutlich mit dem Publikum ins Gespräch über ihre Theaterarbeit kommen. Die kritischen Äußerungen im später publizierten Regiebuch, im Programmheft und in der Pausenveranstaltung spiegeln das Engagement des Ensembles wider, die Tasso-Problematik auf ihre gegen-

40 | Ebd. Die Fragen wurden von Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz, Hans Jürgen Rappricht, Werner Rehm, Wolfgang Schwarz und Peter Stein beantwortet, ohne die einzelnen Antworten individuell zu kennzeichnen. 41 | Vgl. ebd. Insbesondere die Antworten auf Frage 18 und 19 zum Verhältnis von stückimmanenter Kritik und Publikumsdiskussionen gehen auf den Pauseneinschub ein. 42 | Canaris, 1970, S. 126.

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wärtige Situation und die Kunstproduktion zu beziehen und die Kritik damit über den Kunstrahmen hinauszutragen.43 Es ist auffällig, dass in den Rezensionen vor allem Steins Regieleistung im Umgang mit dem Inhalt und der Sprache des Klassikers hervorgehoben wird, sodass eine Diskrepanz bezüglich der Wahrnehmung der Verdienste zwischen Regie und Ensemble entsteht.44 Dass kaum auf die institutionskritische Probenarbeit und Pausenveranstaltung des Ensembles eingegangen wird, welche in ähnlich kritischem Geist stand wie die Arbeit an der Frauenvolksversammlung, zeigt den Einfluss und die Involviertheit der Theaterrezension in die hegemonialen Werte. Die zweite Fallstudie macht somit deutlich, dass das historische Spannungsverhältnis von Institutionskritik und der Rolle der Regie präziser zu bestimmen ist, wenn neben Rezensionen Quellenmaterial zu Proben, Aufführung und Pausenveranstaltung miteinbezogen und vor dem institutionellen Wertehorizont reflektiert wird.

P roduk tion und R ezep tion künstlerischer F reiheit Die zwei Studien zum Verhältnis von Institutionskritik und Regie am Bremer Theater 1969 haben gezeigt, inwieweit die Aushandlungsprozesse in der Produktion und Rezeption von der Involviertheit der Beteiligten, ob Schauspieler*innen, Regie, Intendanz oder Rezensent*innen, in die vorherrschenden Wert- und Handlungsmaßstäbe der Institution Theater geprägt sind. Am Bremer Theater gab es unter Hübners Intendanz Produktionsbedingungen, die die Freiheit ließen, innovative, institutionskritische künstlerische Formate zu entwickeln und inhaltlich kontroverse Themen zu verhandeln. Hübner schaffte institutionelle Rahmenbedingungen sowohl für das Regieführen als auch für Kollektivarbeitsweisen, die eine kritische Selbstbefragung und die Suche nach gesellschaftlicher Relevanz förderten. Es wird aufschlussreich sein, dieses Bild der künstlerischen Freiheit durch nachfolgende Studien zu ergänzen, indem Aufführungen von basisdemokratisch organisierten Gruppen wiederentdeckt und aus institutionskritischer Perspektive erforscht werden.

43 | Vgl. ebd., S. 121-126; siehe auch Strauß, Botho: »Das Schöne umsonst. Peter Stein inszeniert ›Tasso‹ in Bremen«, in: Theater heute 10, 4 (Apr. 1969), S. 12-16. 44 | Vgl. Strauß, Botho: »Klärende Übertreibung. Peter Stein inszeniert ›Tasso‹«, in: Stuttgarter Zeitung vom 5. April 1969; Kaiser, Joachim: »Stein vergnügt sich an fünf dümmeren Menschen«, in: Erhard Friedrich/Siegfried Melchinger/Henning Rischbieter (Hg.), Theater 1969. Sonderheft der Zeitschrift Theater heute, 1969, S. 22f.; Karasek, Hellmuth: »Über Tasso darf gelacht werden«, in: ebd., S. 23; Melchinger, Siegfried: »Stein produziert Steins ›Tasso‹«, in: ebd., S. 25-27; G.R.: »Der arme Hund Tasso im goldenen Käfig. Die ›Tasso‹-Inszenierung von Peter Stein in Bremen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April 1969.

Weiße Haut und schwarze Schminke Verflechtungen von Geschlecht und »Rasse« im deutschsprachigen Theater Miriam Dreysse

E inleitung Die existierende genderkritische Forschung im Bereich der Theaterwissenschaft zeigt, wie grundlegend die Genderperspektive für theaterwissenschaftliche Gegenstände ist und wie notwendig es ist, sie sowohl in aufführungsanalytische Ansätze als auch in theoretische Überlegungen miteinzubeziehen.  Notwendig erscheint es aber auch, die Kategorie Gender zu erweitern und Konzepte von »Rasse« bzw. Ethnizität in eine kritische Perspektive mit aufzunehmen.1 Bekanntlich wurden die Gender Studies in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft vergleichsweise spät rezipiert, und dies gilt ebenso für die Postcolonial Studies. In der neueren Forschung gibt es einzelne Studien,2 allerdings fällt noch heute auf, dass Ungleichheitsmarkierungen wie race, gender und class, die in der angloamerikanischen Forschung schon lange zusammengedacht werden, häufig disparat behandelt oder auch ganz außer Acht gelassen werden. Gender ist kein monolithisches Gebilde, sondern konstituiert sich aus einer Vielzahl verschiedener Diskurse und in Wechselbeziehung mit anderen identitätsstiftenden Differenzierungen. Eske Wollrand zufolge gibt es Gender in »Reinform« nicht, deshalb sei auch ein additives Verständnis von »Rasse«, Klasse und Gender, wie es in den deutschen Gender Studies teilweise vertreten werde, obsolet.3 Auch das Konzept der Intersektionalität, das sich seit den 1990er Jahren v.a. in der 1 | Der Begriff der »Rasse« wird in Anführungszeichen gesetzt, um zu verdeutlichen, dass es sich um eine Konstruktion handelt, die auf keinen konkreten Referenten verweist. Schwarz und weiß bezeichnen kein natürliches Attribut, sondern ebenfalls eine Konstruktion, weshalb weiß kursiv gesetzt wird; Schwarz wird großgeschrieben, um es als politische Selbstbezeichnung kenntlich zu machen. 2 | Z.B. in dem kürzlich erschienen Band von Kreuder, Friedemann/Koban, Ellen/Voss, Hanna (Hg.): Re/produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten. Bielefeld 2017. 3 | Wollrad, Eske: »Weißsein und bundesdeutsche Gender Studies«, in: Maureen M. Eggers et al., Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2005, S. 416-426, hier: S. 417.

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Soziologie etabliert hat, geht davon aus, dass die Wirkungen verschiedener Formen sozialer Ungleichheit sich nicht einfach addieren, sondern wechselseitig beeinflussen.4 Gerade Geschlecht, Sexualität und »Rasse« sind, historisch und gegenwärtig, aber auch strukturell, aufs Engste miteinander verwoben. Weder »Rasse« noch Geschlecht sind natürliche Eigenheiten, auch wenn sie seit dem 18. Jahrhundert als körperliche Natur ontologisiert werden. Es sind Kategorien, die kulturell hervorgebracht und »in je spezifischer Weise mit körperlichen Aspekten gekoppelt und an Körpern gelesen« werden.5 Beide sind unlösbar miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig. In der Theoriebildung war dies nicht immer selbstverständlich. Die frühen postkolonialen Theorien etwa von Edward Said oder Homi K. Bhabha blenden die Geschlechterfrage regelrecht aus. Umgekehrt negiert die feministische Theorie bis in die achtziger Jahre weitgehend rassistische Diskriminierung sowie die eigene, weiße Perspektive. Erst in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickeln sich Ansätze einer feministischen postkolonialen Theorie, die die komplexen Überschneidungen von Gender, Sexualität, Klasse und Ethnizität ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt.6 In einer der ersten Studien zu den Verflechtungen von »Race, Gender and Sexuality« stellt Anne McClintock in der Einleitung fest: [R]ace, gender and class are not distinct realms of experience, existing in splendid isolation from each other; nor can they be simply yoked together retrospectively like armatures of Lego. Rather, they come into existence in and through relation to each other – if in contradictory and conflictual ways.7

Folglich ist es notwendig, gerade das Zusammenwirken dieser Kategorien zu untersuchen, und dies nicht allein bezogen auf die ästhetische Dimension, sondern auch auf konkrete identitäre und machtpolitische Wirkungen, denn Theater ist kein herrschaftsfreier Raum, sondern von Machtverhältnissen durchwoben. Die Konstruktion von Geschlecht und »Rasse« geht mithin Hand in Hand. Eindrückliche Beispiele dafür sind etwa die Analogisierung von Frauen und »Wilden« im 18. Jahrhundert oder von Weiblichkeit und Exotik um 1900. Aber auch hundert Jahre später lassen sich solche Stereotypisierungen finden, wenn etwa im Bereich der kommerziellen Werbung in einer Printanzeige der Marke Häagen-Dazs eine Schwarze Frau in einem Dress mit Leopardenmuster und tiefem Dekolleté und mit einem Bogen in der Hand unmittelbar einer afrikanischen Landschaft zu ent4 | Vgl. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2010. 5 | Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld 2017, S. 15. 6 | Z.B. McClintock, Anne: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest. London/New York 1995; Suleri, Sara: »Woman Skin Deep. Feminism and the Postcolonial Condition«, in: Bill Ashcroft et al. (Hg.), The Post-Colonial Studies Reader. London/New York 1995, S. 273-280; Gandhi, Leela: Postcolonial Theory. A Critical Introduction. Edinburgh 1998. 7 | McClintock, 1995, S. 5.

Weiße Haut und schwarze Schminke

steigen scheint und ihr Unterleib sich in einem Strudel aus Schokoladencreme verflüssigt.8 »Get into the Mystery of West Africa«, ist die Anzeige untertitelt und reproduziert damit ungebrochen Stereotype exotischer Weiblichkeit, wie sie mit der Entwicklung des modernen Rassismus und der Naturalisierung des binären Geschlechtermodells im 18. und 19. Jahrhundert entstanden. Aber nicht nur in der kommerziellen Werbung, auch in anderen Bereichen der zeitgenössischen Kultur kommt es zur Verschränkung von sexistischen und rassistischen Motiven. Besonders augenfällig ist dies in der Berichterstattung nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2016 in Köln, bei der in mehreren Medien die Opfer der sexuellen Gewalt auf ihren Körper reduziert wurden, während die Gewalt der Täter biologistisch mit ihrer Hautfarbe verbunden wurde. Die Sexualisierung und Ausgrenzung des Anderen, die Konstituierung eines rassistisch begründeten »Wir« sowie die Beherrschung der »eigenen« Frauen gehen dabei Hand in Hand.9 Lassen sich im zeitgenössischen Theater ähnlich stereotype Verflechtungen von »Rasse« und Gender finden? Oder setzt es sich im Gegenteil kritisch mit solchen Praktiken der Ausgrenzung und Machtausübung auseinander? Die Frage nach Möglichkeiten der Repräsentation des Anderen, die Hinterfragung der Repräsentation des Anderen als solcher sowie institutionelle Formen der Diskriminierung sind seit der Blackface-Debatte von 2012 ein vieldiskutiertes Thema im deutschsprachigen Theaterbetrieb; man denke etwa an die Debatten anlässlich der Inszenierung von Jelineks »Die Schutzbefohlenen« von Nicolas Stemann auf dem Theatertreffen 2016. So grundlegend diese Diskussionen sind, fällt doch auch hier auf, dass Verbindungen von »Rasse« und Gender häufig außen vor bleiben, obwohl sie in vielen Fällen eine wesentliche Rolle spielen. So kann man beispielsweise in Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers Unschuld am Deutschen Theater Berlin, die die Blackfacing-Debatte von 2012 mit auslöste, beobachten, dass People of Color nicht nur durch das Blackface in Szene gesetzt werden, sondern auch durch die spezifische Inszenierung des weißen, weiblichen Körpers. Auch in anderen Inszenierungen der letzten Jahre, z.B. in Sebastian Baumgartens Inszenierung der Heiligen Johanna von Bertolt Brecht (Schauspielhaus Zürich 2013), wird mit stereotypen Geschlechter- und »Rasse«Bildern gearbeitet.

W eiblichkeitsklischees und r assistische D arstellungsmit tel Baumgarten verwendet in dieser Inszenierung eine comichafte Ästhetik, sowohl die Dekoration als auch Kostüme und Darstellungsweise betreffend. In drei Frauenfiguren verbinden sich dabei Geschlechter- und »Rasse«-Klischees auf besonders plakative Weise. Da ist einerseits die ungeschminkte, prüde Johanna in hochgeschlossenem, schwarzem Anzug, schwarzen Schnürstiefeln und mit Brille, die 8 | https://www.pinterest.de/pin/290130400967248295/vom 29. Okt. 2016. 9 | Vgl. Mecheril, Paul/van der Haagen-Wulff, Monica: »Bedroht, angstvoll, wütend. Affektlogik der Migrationsgesellschaft«, in: María do Mar Castro Varela/Paul Mecheril (Hg.), Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld 2016, S. 107-117.

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mit großen Augen in die Welt schaut und deren weiße Haut den Eindruck kränklicher Blässe vermittelt (Yvon Jansen). Andererseits »Mrs. Slift« als weiblicher Makler Slift mit rotem Lippenstift, rotem Rock und tiefem Dekolleté, die auf Highheels über die Bühne stöckelt und deren weiße Haut durch ein appliziertes Muttermal an barocke Aristokratie erinnert (Carolin Conrad). Diesen opponierenden Weiblichkeitsentwürfen wird ein dritter hinzugefügt, derjenige einer Schwarzen Frau. Es ist die Figur der Frau Luckerniddle, gespielt von der weißen Schauspielerin Isabell Menke. Sie ist am ganzen Körper schwarz geschminkt, trägt große Holzperlenketten um den Hals und eine Afro-Perücke. Ihre Lippen sind rot, ihre Nase künstlich vergrößert und ihr Gesäß aufgepolstert. Bei ihrem ersten Auftritt hockt sie auf dem Boden, singt eine repetitive Melodie und macht Gesten mit der Hand, die an ein Beschwörungsritual erinnern. Wenn sie steht, tut sie das nicht aufrecht, sondern breitbeinig mit gebeugten Knien, das aufgepolsterte Gesäß nach hinten gestreckt. Ihre Augen sind dabei meist weit geöffnet, sodass das Weiße deutlich sichtbar ist. Sie spricht mit französischem Akzent, was sie als ›fremd‹ markiert und auf ehemalige französische Kolonien in Afrika verweist. Die ganze Figur entspricht mithin der erniedrigenden Darstellung Schwarzer Menschen in unterschiedlichen Unterhaltungsgenres seit dem 19. Jahrhundert, namentlich den US-amerikanischen Minstrel Shows und ihren Nachfolgern. Auch ihr Kostüm erinnert an die Lumpenkostüme der »coon«-Charaktere in den Minstrel Shows.10 Frau Luckerniddle, im Stücktext die Witwe eines Arbeiters, dessen Tod vertuscht werden soll, wird als Karikatur einer Sklavin inszeniert. Im Zusammenspiel mit den beiden großgewachsenen weißen Schauspielerinnen der Johanna und der Mrs. Slift wirkt die Figur der kleinen, gebeugten Frau mit unförmigem Hintern, großer Nase und aufgerissenen Augen unattraktiv; ein stereotypes Merkmal der Darstellung Schwarzer Frauen beispielsweise im frühen Hollywoodfilm.11 »Rasse« wird so zu einem Merkmal, das auch die Kategorie der Weiblichkeit bestimmt, so wie umgekehrt bestimmte rassistische Stereotype, wie etwa das dicke Gesäß, zugleich genderspezifisch sind. Darüber hinaus wird die Kategorie der Hautfarbe bis zur Unkenntlichkeit mit derjenigen der Klasse, der die Figur angehört, vermischt. Frau Luckerniddle scheint aufgrund ihrer Hautfarbe anders, unattraktiv und arm zu sein. Auch wenn die Mittel bei Baumgarten ostentativ künstlich verwendet werden, so suggerieren sie doch die Existenz verschiedener »Rassen«, die biologisch verankert sind und als sozial determinierte, geschlechtsspezifische Charaktertypen zum Tragen kommen. An diesem Beispiel wird auch sichtbar, dass die Inszenierung von »Rasse« nicht nur mittels der Konstruktion des Schwarz- sondern auch des Weißseins funktioniert. Dies lässt sich auch in Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers Unschuld am Deutschen Theater Berlin beobachten.

10 | Vgl. Toll, Robert C.: Blacking Up. The Minstrel Show in Nineteenth-Century America. New York 1974. 11 | Vgl. Kaplan, Mary Ann: »The ›Look‹ returned. Knowledge Production and Constructions of ›Whiteness‹ in Humanities Scholarship and Independent Film«, in: Mike Hill (Hg.), Whiteness. A Critical Reader. New York 1997, S. 316-328, hier: S. 320.

Weiße Haut und schwarze Schminke

B l ackfacing und die weisse F r au Im Zentrum des Stücks stehen die Figuren Elisio und Fadoul, zwei »illegale schwarze Immigranten«,12 die bei Thalheimer mit dem Blackface, also mit schwarz geschminktem Gesicht, roten Lippen und ebenfalls schwarz geschminkten Händen auftreten. Dea Loher schreibt im Personenverzeichnis: »Wenn Elisio und Fadoul mit schwarzen Schauspielern besetzt werden, dann bitte, weil es ausgezeichnete Schauspieler sind, nicht, um eine Authentizität zu erzwingen, die unangebracht wäre. Ansonsten keine ›Schwarz-Malerei‹, lieber die Künstlichkeit der Theatermittel durch Masken o.ä. hervorheben.«13 Tatsächlich hebt Thalheimer grundsätzlich die Künstlichkeit der Theatermittel hervor, so auch in diesem Fall. Die schwarze Maske ist klar als solche zu erkennen, Ohren und Hals sind ungeschminkt. Und dennoch ist das Blackface nicht mit anderen Theatermitteln gleichzusetzen, da es als ein solches Mittel eine spezifische Historie hat, die eng verbunden ist sowohl mit konkreten Herrschaftsformen als auch mit der Verankerung rassistischer Stereotype in der modernen Gesellschaft. Auch eine verfremdende Verwendung des Blackface zitiert nicht lediglich, sondern reproduziert immer auch die Vorstellung der ›Abnehmbarkeit‹ schwarzer Haut und des Status der weißen Haut als Original. Zudem negiert sie die realen Diskriminierungen, die mit Hautfarbe einhergehen. In der Blackface-Debatte von 2012 wurde diese Spezifik des Blackface aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, wobei allerdings Gender-Aspekte weitgehend außer Acht gelassen wurden. Und doch spielen diese im Kontext der Inszenierung eine nicht zu unterschätzende Rolle. So stehen in der ersten Szene der Aufführung Elisio und Fadoul, beide mit Blackface und in dunklen Anzügen, vorne an der Rampe in der Mitte der Bühne und sprechen in den Zuschauerraum. Währenddessen tritt vorne rechts eine zierliche, weiße Frau auf und geht langsam die ansteigende Bühnenfläche hinauf. Sie trägt ein helles, kurzes Negligé mit dünnen Trägern, das Arme, Schultern und Beine frei lässt, außerdem eine Perücke in einem hellen Rosaton. Im Stücktext wird sie als »eine Frau mit roten Haaren« beschrieben, die nicht näher benannte Kleidungsstücke auszieht und »einzeln nacheinander sorgfältig« auf einen Stapel legt.14 Loher suggeriert mithin eine vollständig angezogene Frau, aus der Thalheimer eine von Beginn an fast nackte Frau macht. Sie bleibt ungefähr auf einer Höhe mit Elisio und Fadoul stehen, zieht ihre Schuhe sowie das Hemd aus und geht dann, nurmehr mit einem weißen Slip bekleidet, nach hinten ab. Kostüm und Beleuchtung lassen Olivia Gräser in der Rolle der Frau ausgesprochen hell erscheinen, sie steht in deutlichem Kontrast zu den dunklen Gestalten von Elisio (Andreas Döhler) und Fadoul (Peter Moltzen). Während bei diesen die Kleidung fast den gesamten Körper bedeckt, ist bei Gräser von Anfang an viel Haut zu sehen, nach dem Ausziehen ist sie so gut wie nackt. Das helle Hemd aus dün12 | Loher, Dea: Unschuld. Das Leben auf der Praça Roosevelt. Zwei Stücke. Frankfurt a.M. 2004, S. 8. 13 | Ebd. Diese Bemerkung zeigt auch, dass Loher von einem weißen Cast ausgeht als »Normalfall«; bei weißen Schauspieler*innen scheint es auch nicht nötig zu sein, ihre schauspielerischen Qualitäten anzumahnen. 14 | Loher, 2004, S. 12.

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nem Stoff und der weiße Slip betonen ihre mädchenhafte Nacktheit und erzeugen den Eindruck eines zarten, verletzbaren Körpers. Durch das Licht wirkt ihre Haut fast durchscheinend. Die Idee weißer Haut wird so mit der Vorstellung weiblicher Nacktheit, Keuschheit und Verletzbarkeit verwoben. Es sind dies Motive, die die Inszenierung weißer Frauen bereits zur Zeit des Kolonialismus prägen und dort meist »für weiße Frauen zur Subordination und für kolonisierte Männer zur gewaltvollen Exklusion […] führen«15. Im Fall der Unschuld-Szene wird zwar keine Bedrohung der weißen Frau durch die Schwarzen Männer inszeniert, sondern die Verletzbarkeit der Frau durch die Sorge Elisios um sie betont. Und dennoch evoziert die Gegenüberstellung der weißen, nackten Frau und der schwarz gekleideten und geschminkten Männer stereotype Vorstellungen von weißer Weiblichkeit und Schwarzer Männlichkeit. Ein weiterer Aspekt der Szene ist aufschlussreich: Nachdem Gräser sich ausgezogen hat, schaut Fadoul/Moltzen ihr verwundert/bewundernd nach. Dieser verwunderte/bewundernde Blick des Schwarzen Mannes auf die weiße Frau erinnert an die Funktion des »Mohrenpagen« in der Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts, der die Schönheit und Makellosigkeit der weißen Haut der Porträtierten hervorhebt. Mehr noch, durch den Kontrast der weißen mit der Schwarzen Haut wird Weißsein dabei zuallererst als normatives Ideal konstruiert: »Die Kontrastierung der hellen Haut der Aristokraten mit der dunklen der Pagen soll die weiße Haut als sichtbaren Wert herausstellen.«16 In ähnlicher Weise kontrastiert die weiße Haut der Frau mit den dunklen Figuren der beiden Männer. Der Körper Gräsers scheint dabei fast zu leuchten, während die Gestalten von Döhler und Moltzen durch die dunkle Haut und Kleidung das auf sie geworfene Licht zu schlucken scheinen. Laut Richard Dyer privilegiert die Technologie der visuellen Medien seit ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert mittels der Beleuchtung das Weißsein nicht nur, sondern konstruiert es geradezu.17 Ihm zufolge wird der weiße Körper als transzendenter inszeniert und speziell der weibliche, weiße, heterosexuelle Körper als ein solch durchscheinender, heiliger idealisiert: »Idealised white women are bathed in and permeated by light. It streams through them and falls onto them from above. In short, they glow.«18 Der weiße weibliche Körper steht Dyer zufolge für Vorstellungen von Reinheit, sexueller Unschuld und göttlicher Erleuchtung und damit auch für die vermeintliche Vorherrschaft der weißen »Rasse«.19 Auch wenn Dyer sich auf Photographie und Film bezieht, so lassen sich in den Inszenierungs- und Beleuchtungsstrategien des Theaters doch ähnliche Idealisierungen erkennen. Im Falle der beschriebenen Unschuld-Szene macht Thalheimer die Mittel einer solchen Idealisierung des weißen, weiblichen Körpers nicht kenntlich, sondern sie entfalten ihre Wirkung eher unterschwellig, da während der gesamten Szene Elisio und Fadoul im Mittelpunkt stehen und die »Frau mit roten 15 | Mecheril/Haagen-Wulff, 2016, S. 125. 16 | Wolf, Katja: »›Und ihre siegreichen Reize steigert im Kontrast ein Mohr.‹ Weiße Damen und schwarze Pagen in der Bildnismalerei«, in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff/Karl Hölz/ Herbert Uerlings (Hg.), Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus. Marburg 2005, S. 19-36, hier: S. 27. 17 | Dyer, Richard: White. Essays on Race and Culture. New York 1997, S. 122. 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 124.

Weiße Haut und schwarze Schminke

Haaren« nur am Rande im Bild ist. Und dennoch oder gerade durch diese unterschwellige Wirkung wird das Bild der weißen Frau als transzendente Erscheinung erzeugt, das auch auf die Darstellung der beiden »schwarzen Immigranten« Auswirkungen hat. Sie bildet einen deutlichen Kontrast, sowohl bezogen auf Farb- und Lichtgestaltung als auch auf Kostüm, Bewegungsmodi und Körperbild. Während die beiden Männer über den Steg rennen und springen, geht sie wie schwebend. Während die Männer ins Publikum blicken, bleibt sie gesichtslos, da wir sie nur von hinten sehen. Stumm und gesichts- wie blicklos verharrt sie in der Objektposition. Und während die schwarze Schminke unsere Aufmerksamkeit auf die Hautfarbe der Figuren und auf den Unterschied zwischen Schauspieler und Rolle lenkt, erscheint die weibliche Figur als »natürlich« weiß. Die Kritische Weißseinsforschung hat herausgearbeitet, dass Weißsein kein natürlicher Zustand ist, sondern ebenso wie Schwarzsein »eine historisch und kulturell geprägte symbolische und soziale Position«20. Es ist eine Konstruktion, die ihre eigene Konstruiertheit verleugnet und damit auch soziale Privilegien und Hegemonien, die mit ihr verbunden sind. Die Naturalisierung des Weißseins macht es zu einer »unsichtbar herrschenden« Normalität.21 Um Prozesse der Inszenierung von »Rasse« zu analysieren und zu kritisieren, ist es deshalb notwendig, die Norm des Weißseins zu benennen. Gerade dies geschieht bei Thalheimer nicht, da hier nur die Fremden durch die Maske offensichtlich konstruiert sind, die sie umgebenden weißen Figuren aber die unausgesprochene Norm bilden, die die Fremden als Fremde erst hervorbringt. Im weiteren Verlauf der Aufführung begegnet Fadoul Absolut, einer »jungen blinden Frau«.22 Auch Absolut (Katrin Wichmann) ist weiß, ihr Haar lang und weißblond. Sie trägt ein schulterfreies, hellgraues Kleid, zeigt ebenfalls viel Haut und wirkt insgesamt ausgesprochen hell im Gegensatz zu Fadoul. Ihre Blindheit hat szenisch eine gewisse Objekthaftigkeit zur Folge und verstärkt den Eindruck der Fragilität, den die Betonung ihrer nackten, weißen Haut hervorruft.23 Auch hier wird mithin Hautfarbe über Kontrast hergestellt, wobei die weiße Haut als natürliche Eigenschaft der Schauspielerin wie der Figur in Erscheinung tritt, während die Schwarze Haut durch die Maske repräsentiert wird. Dies verweist zwar einerseits auf die diskursive Konstruktion der Schwarzen Haut als Kennzeichen des Anderen, beharrt aber zugleich auf der Norm des Weißseins in unserer Gesellschaft. Denn die weiße Haut unter der schwarzen Maske bleibt als natürliches Attribut der Schauspieler unmarkiert, ebenso wie die weiße Haut sämtlicher anderen Schauspielerinnen und Schauspieler, bei denen kein Unterschied zwischen ihrer eigenen Hautfarbe und derjenigen der Figur gemacht wird. Dea Lohers Figuren sind alle auf die eine oder andere Weise versehrt. Sie alle gehören gesellschaftlichen Randgruppen an oder repräsentieren aus der Perspekti20 | Arndt, Susan: »›Rassen‹ gibt es nicht, wohl aber die symbolische Ordnung von Rasse. Der ›Racial Turn‹ als Gegennarrativ zur Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus«, in: Eggers et al., 2005, S. 340-362, hier: S. 343. 21 | Ebd., S. 348. 22 | Loher, 2004, S. 5. 23 | Im weiteren Verlauf der Aufführung kontrastiert Wichmann diese Fragilität teilweise durch ihre Spielweise. Interessant wäre es, die Blindheit als weitere Ungleichheitsmarkierung in die Analyse miteinzubeziehen.

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ve der Leistungsgesellschaft gescheiterte Existenzen. Und dennoch nehmen Elisio und Fadoul in der Aufführung durch das Blackface eine gesonderte Stellung ein, die sie deutlich von allen weißen Figuren differenziert, ohne jedoch die Spezifik realer Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe kenntlich zu machen. Durch das Kontrastverfahren, das die beiden den zwei weißen Frauen gegenüberstellt, wird »Rasse« dabei zudem unausgesprochen mit Genderklischees kurzgeschlossen. Die beiden angeführten Beispiele inszenieren Hautfarbe, Gender und soziale Klasse auf sehr unterschiedliche Weise. Während Baumgarten Stereotype plakativ zuspitzt und dabei auch vor rassistischen Stereotypen nicht Halt macht, inszeniert Thalheimer soziale Markierungen wie »Rasse«, Klasse und Geschlecht auf subtilere Art und mit verfremdenden Mitteln. Dennoch wird in beiden Fällen Weißsein als Norm gefestigt, da nur das Schwarzsein einer künstlichen Maske bedarf. Reale Machtverhältnisse werden durch die Reduktion des Schwarzseins auf schwarze Schminke außen vor gelassen, und die Schwarzen Figuren werden ihrerseits auf ihre Hautfarbe reduziert. Zudem arbeiten beide mit geschlechtsspezifischen Stereotypen, deren Verbindung mit der Konstruktion von Hautfarbe nicht hinterfragt wird. Auch im Theater des 21. Jahrhunderts werden mithin Verflechtungen von Geschlecht, »Rasse« und Klasse häufig wenig reflektiert oder aber naturalisiert. Es erscheint deshalb umso notwendiger, solche Verflechtungen analytisch und theoretisch aufzuarbeiten.

A bschliessende Ü berlegungen Sowohl postkoloniale als auch Gender-Theorien der 1990er Jahre gehen von konstruktivistischen Grundannahmen aus. Sie betrachten Geschlechtsidentität und »Rasse« als kulturelle Konstruktionen, die dazu dienen, Identitäten über den Ausschluss des Anderen zu konstituieren sowie Machtstrukturen zu sichern. Ihre Wirkmächtigkeit beruht auf ihrer Naturalisierung, ihrer vermeintlichen Fundierung in natürlichen, biologischen Tatsachen. Es gilt mithin, bezogen auf beide Kategorien, diese Naturalisierungen aufzudecken, den Konstruktionscharakter von Identität offenzulegen, die binäre Logik des Eigenen und Fremden zu dekonstruieren sowie Wechselwirkungen, Überschneidungen und performative Aushandlungsprozesse zwischen ethnischen und geschlechtlichen Positionen zu untersuchen. Sowohl die postkoloniale als auch die Gender-Theorie zielen auf Differenz und auf eine grundsätzliche Kritik der Repräsentation, die auch für eine kritische Theaterwissenschaft unabdingbar ist. Dies bedeutet immer auch eine kritische Reflexion des eigenen Tuns. Eine kritische Theaterwissenschaft ist angehalten, nicht nur ihren Gegenstand auf die Inszenierung von Gender, Sexualität und »Rasse« hin zu untersuchen, sondern auch sich selbst nach Inszenierungen des Eigenen und Anderen sowie nach spezifischen Ausschlüssen zu befragen. Denn eurozentrische Fokussierung und Ausblendung des eigenen, privilegierten Standortes lassen sich auch in theaterwissenschaftlichen Schriften des 21. Jahrhunderts feststellen. Dem gilt es mittels einer selbstkritischen Wissenschaft entgegenzuwirken, die ihre eigene, eben meist weiße Perspektive bewusst reflektiert und andere Perspektiven fordert und fördert.

Occupy Art Zwischen Aktivismus und Kunst Dorothea Volz

Der Artivist, so der Künstler Peter Weibel, sei »[d]er neue Künstlertypus des 21. Jahrhunderts«1. Der Neologismus Artivismus, zusammengesetzt aus art und Aktivismus, beschreibt ein Auflehnen gegen den Ist-Zustand mit den Mitteln der Künste, eine politische Kunst der Gegenwart, die sich ihren – politischen wie künstlerischen – Auftrag in konkreter Aktion und direkter Interaktion selbst erteilt und sich zum Engagement verpflichtet sieht. Artivismus ist, folgt man Lilo Schmitz, »eine neue Art, kämpferisch und ästhetisch zugleich gegen Krieg, Ökonomisierung des Alltagslebens, Vertreibung aus dem öffentlichen Raum aktiv zu werden, kurz: mit politischen und künstlerischen Mitteln einen Kampf für das gute Leben zu führen«2 . Gemeinsam scheint den Artivist*innen der Glaube an eine mögliche bessere Welt und der Wille zur Veränderung der Gegebenheiten, für deren Transformation gekämpft wird. Anfang des 21. Jahrhunderts rückt dafür als Aus-Handlungsfeld vor allem der öffentliche Raum in den Fokus, der als ein schwindender begriffen und zum zentralen Austragungsort der Auseinandersetzungen wird. Auf den Allgemein-Plätzen, den für alle gemeinten Plätzen, werden Sichtbarkeit und Öffentlichkeit generiert, werden niederschwellige Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, nicht ohne Gegenreaktionen zu provozieren. So formuliert Schmitz zugespitzt: »Der Kampf um die Städte tobt – große Plätze in Metropolen werden besetzt, Menschenmassen bleiben, trotzen Tränengas und Wasserwerfern. Die Occupy-Bewegung geht in die Zentren der Macht.«3

S tellung beziehen , P l at z (ein -) nehmen : O ccupy M useums Als im September 2011 erste Aktivist*innen ihre Zelte im Zuccotti Park in Manhattan aufschlagen und damit die Protestbewegung Occupy mit Occupy Wall Street begründen, ist ihnen das Ziel gemein, auf eine Abhängigkeit der Politik von der 1 | Weibel, Peter: »Artivismus im 21. Jahrhundert«, in: Gerald Bast/Peter Weibel/Herwig Steiner (Hg.), Performing Public Art. Berlin 2015, S. 37-70, hier: S. 61. 2 | Schmitz, Lilo: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Artivismus. Kunst und Aktion im Alltag der Stadt. Bielefeld 2015, S. 9-16, hier: S. 9. 3 | Ebd.

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Kapital- und Finanzwirtschaft und auf eine auf einem kapitalistisch-ausbeutenden System beruhende Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Zentrales Mittel dieses Kampfes ist die Besetzung öffentlicher Plätze, die Einnahme von Stadtraum, die Umwandlung der public sphere in ein Campingareal und die damit einhergehende Generierung von Sichtbarkeit sowie einer, wie auch immer definierten, Gemeinschaft. Es entstehen teils geradezu ikonisch gewordene Bilder, die sich medial weltweit verbreiten und aus einer lokalen Agitation eine globale Bewegung werden lassen. Im Oktober 2011 gründet sich, federführend initiiert durch den Künstler Noah Fischer, aus der Arbeitsgruppe »Arts and Culture« von Occupy Wall Street der Ableger Occupy Museums.4 Das Gründungsmanifest gibt einen Einblick in das Selbstverständnis dieser Aktivist*innen, indem es ihre Kritik an Museen und Galerien wie folgt artikuliert: »We occupy museums to reclaim space for meaningful culture by and for the 99 %. Art and culture are the soul of the commons. Art is not a luxury!«5, heißt es hier. Occupy Museums klagt die Museen an, ihrem Auftrag nicht gerecht zu werden. Kultur werde nicht zugänglich gemacht, sondern vielmehr aufgewertet, und dies nicht ideell, sondern monetär. Es werde ein geldwerter Vorteil für das reichste Prozent der Bevölkerung generiert, denn dieses könne mit Hilfe der Museen und Galerien den Wert der eigenen Kunstsammlungen und Kunstbesitztümer steigern. Occupy Museums versteht den Auftrag dieser Institutionen hingegen als Arbeit für die anderen, für die 99 Prozent, denen das Museum als Hilfsmittel dienen soll, Diskussionen zu führen, für die es ein Fundus und Ort der Etablierung historischer Narrative und kollektiver Symbole sein soll. So führt das Manifest weiter aus: »We occupy museums because museums have failed us. Like our government, which no longer represents the people, museums have sold out to the highest bidder.«6 Auch der eingangs zitierte Künstler Peter Weibel kritisiert das Kunstsystem der Gegenwart für seine Abhängigkeit vom Markt, für die Aufgabe einer Autonomie der Kunst – wenngleich hier zu fragen bleibt, ob diese Autonomie nicht vielmehr ein illusionärer Wunschgedanke ist –, die gleichzeitig als Voraussetzung markiert wird, um Systemkritik zu üben. Weibel schreibt: »Uns fehlen […] Begriffe wie ›defekte Kunstsysteme‹, und das Kunstsystem kennt keine NGOs, die sich um die Rechte der Kunstschaffenden kümmern. Die meisten Kunstmagazine, Kunsttheoretiker und Museen erweisen sich im Rahmen der Quote als Mägde der Märkte.« 7 Diese Lücke einer kritischen Instanz wollen Aktivist*innen wie Occupy Museums schließen. Die erste Aktion von Occupy Museums bestand aus einer Demonstration vor den Toren des Museum of Modern Art in New York, wo auch das eben zitierte Gründungsmanifest verlesen wurde. Über die stattfindende Interaktion am Ende der Aktion schreibt Noah Fisher:

4 | Die Website nennt als wichtigste Mitglieder Tal Beery, Imani Brown, Noah Fischer, Kenneth Pietrobono und Arthur Polendo. http://occupymuseums.org/index.php/about vom 31. Okt. 2016. 5 | Ebd. 6 | Vgl. ebd. 7 | Weibel, 2015, S. 38.

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At the end of the action, directors of MoMA came down and asked what we wanted. We replied that we had no demands, but would continue to Occupy [sic!] each week in order to open up a meaningful conversation about economic injustice and abuse of the public for the gain of the 1 % in cultural institutions. They were invited to join our General Assembly. 8

H istorisch verorte t Dieser erste Protest wirkt wie das Reenactment eines fast 50 Jahre alten Happenings unter veränderten Vorzeichen. Denn am 10. Oktober 1966 organisierte das anarchistische Künstlerkollektiv Black Mask ein vergleichbares Event, »eine Happening-artige Demonstration gegen das MoMA in New York«, und richtete sich damit »gegen eine Institution […], die als Teil des Establishments angesehen wurde«9. Erklärtes und im Vorfeld propagiertes Ziel von Black Mask war es, das MoMA für einen Tag zu schließen. Der damals beteiligte Künstler Ben Morea beschreibt dies als Ankündigung einer symbolischen Aktion – auf die eine ganz reale Konsequenz folgte: Denn als Morea und seine fünf Mitstreiter das Museum erreichten, war es bereits geschlossen; Polizisten schützen den Eingang. »Six people, and the museum’s paranoia closed it«, hält Morea in einem Interview mit der New York Times rückblickend fest und fügt geradezu triumphierend hinzu: »It felt great.«10 Den Erfolg bemisst der Künstler nicht nur an der hier stattfindenden Umkehrung der Machtverhältnisse, sondern auch an der durch die Schließung gebotenen Möglichkeit, einen öffentlichen Vor-Platz einzunehmen und ihn in einen Ort der Diskussion mit Schaulustigen und Interessierten zu verwandeln.11 Statt der Kunst rückt so die Institution in den Fokus einer kritischen Befragung. Die Idee ganz konkreter, teils geradezu dilettantisch wirkender und oft in ihrer Ausführung minimalistischer Aktionen, bei denen, vergleichbar den Sit-ins und Die-ins der 60er Jahre, eine physische Einnahme von Raum stattfindet, stellt weniger die Aktion selbst denn die damit provozierte Reaktion und vor allem den besetzten bzw. hergestellten Raum ins Zentrum. Occupy Museums greift auf performative Protestformen der 60er Jahre zurück und zielt ab auf eine meist physische Rückeroberung öffentlicher Räume, vor und im Museum. Dabei wird die Singularität der Umgebung aufgegriffen, werden Verhaltensweisen und Veranstaltungsformen adaptiert und mit anderen, eigenen Inhalten gefüllt.

E xponierter P rotest Im November 2011 fand im American Museum of Natural History eine Aktion statt, die ihr Umfeld kopierte, indem die Form der Museumsführung imitiert wurde. 8 | www.occupymuseums.org/index.php/actions/18-first-action-at-museum-of-modernart vom 31. Okt. 2016. 9 | Weibel, 2015, S. 41. 10 | www.nytimes.com/2016/09/16/arts/design/the-artist-ben-morea-returns-to-the-site-of-the-revolution.html?_r=0 vom 31. Okt. 2016. 11 | https://libcom.org/history/against-wall-motherfucker-interview-ben-morea vom 31. Okt. 2016.

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Die happening-artige Tour stellte dabei nicht die Exponate oder die Museumsarchitektur, sondern die Hintergründe von Neuerwerbungen und baulichen Veränderungen durch den Blick auf das Mäzenatentum des Museums in den Fokus. Ganz konkret wurde hierfür der Milliardär David H. Koch, präsent als Geld- und Namensgeber für Teilbereiche des Museums, zum zentralen Objekt der geführten Museumstour. Während das Naturkundemuseum gegenüber seinem Gönner, einem Industriellen, der mit seinen Unternehmen und für sie konkrete wirtschaftliche und politische Interessen verfolgt, eine scheinbar unkritische Haltung an den Tag legte und den Ursprung der Spenden – zumindest öffentlich – nicht hinterfragte, wurde diese Wissenslücke durch Vortrag und Performance der Aktivist*innen gefüllt. Der museale Raum wurde dafür, temporär, genutzt und belegt; Höhepunkt war ein Die-in, durch das der normale Museumsbetrieb gestört und kurzfristig der Weg versperrt wurde. So wurden die Besucher*innen dazu gezwungen, sich zu der Aktion zu verhalten. Koch, dessen Unternehmen u.a. in den Bereichen Erdöl, Erdgas, Chemie und Energie aktiv sind, stand auch im Zentrum einer zweiten Aktion vom September 2014, für die zu einer symbolischen Umbenennung des nach ihm benannten Platzes vor dem Metropolitan Museum of Art durch Occupy Museums aufgerufen wurde. Diesmal nutzen die Artivisten die Fassade des Museums für eine Lichtinstallation. Auf den Mauern waren die Lichtschriftzüge zu lesen: »The Met: Brought to you by the Tea Party« und »Koch = Climate Chaos«12 . Kyle Depew, Grayson Earle und Yates McKee wurden für diese Lichtbotschaften von der Polizei in Gewahrsam genommen und mehrere Stunden lang festgehalten. Die Straftat, die ihnen zur Last gelegt wurde, war die des »illegalen Plakatierens von Werbung«13. Die Künstler wehrten sich gegen diese, wie sie argumentierten, Unterdrückung ihrer Meinungsfreiheit. In einem Zeitungsinterview wiesen sie auf die Absurdität des Vorwurfs hin, ein Vorwurf, der sich auch gegen den Umgang mit ebenjenem Vorplatz anwenden lässt, der hier im Zentrum der künstlerischen Kritik stand. Durch die offizielle Umbenennung des Platzes und die Sichtbarkeit des Namens wurde dem Milliardär Koch ermöglicht, einen öffentlichen Platz als Werbefläche für sein gleichnamiges Unternehmen zu nutzen und sich damit zugleich mit seinem Mäzenatentum einen philanthropischen Anstrich zu verleihen.14 Während sich die Namensgebung des Platzes erst durch das Wissen um Kochs Geschäfte im fossilen Brennstoff bereich und seine politische Einflussnahme durch Spendengelder und damit auf den zweiten Blick als problematisch erweist, war die Projektion im Stile eines temporären Graffitis in Anlehnung an Guerilla-Taktiken im Stadtraum eine direkte Kampfansage gegen diesen Ist-Zustand, eine Art subjektiv gefärbte Erklärungstafel zum Exponat »Platz«. Für Occupy Museums ist das Museum als Institution ein öffentlicher Ort, der im Dienst der Bürger*innen steht. Dabei sind auch Museen Orte einer begrenzten Öffentlichkeit, einerseits reglementiert durch die meist anfallenden Kosten für die Eintrittstickets, andererseits aber auch durch das in ihnen angelegte Regime des 12 | https://news.artnet.com/opinion/nypd-detains-activists-for-anti-koch-light-graffitiat-the-met-100321 vom 31. Okt. 2016. 13 | Ebd. 14 | http://hyperallergic.com/209080/members-of-the-illuminator-sue-nypd-for-falsearrest-first-amendment-retaliation/vom 31. Okt. 2016.

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Blicks. Mit den Museumsgründungen des 18. und 19. Jahrhunderts verbindet sich zudem ein von oben oktroyierter Bildungsanspruch; nicht selten gingen diese ersten Gründungen einher mit der Idee einer Bildung der Arbeiter*innen, die hier Geschmack und zivilisiertes Verhalten erlernen sollten. Und auch gegenwärtige staatliche Subventionen lassen sich mit einem Bildungsauftrag der Institutionen begründen, der sich nicht nur in der inhaltlichen Ausrichtung der Ausstellungen widerspiegelt. So prägt bereits die Architektur der Häuser die Blickrichtung der Besucher*innen, werden diese durch Leitlinien und Führungsinstrumente in ihrer Rezeption beeinflusst. Ebenso vermittelt die Auswahl und Anordnung der Objekte, die erst im Museumsrahmen zu Exponaten werden, beispielsweise eine bestimmte Interpretation von Geschichte. Die Aktivist*innen von Occupy Museums betrachten den künstlichen Raum des Museums als einen öffentlichen, der zurückerobert werden muss – jedoch weniger durch die Implementierung alternativer Inhalte denn durch die Aufdeckung der Einbettung der Museen in den Kapitalmarkt. So geht es vor allem um die Offenlegung von Strukturen, für die eine problematische Entsprechung dies- und jenseits der Museumsmauern angenommen wird, und um die Rückeroberung eines Museumsraumes, der als geschützter, öffentlicher Raum imaginiert wird, der aus dem kapitalistischen System ausgekoppelt werden kann. 2016 zog sich David H. Koch aus dem Natural History Museum Board zurück, nachdem bereits im März des Vorjahres Klimaforscher*innen und Umweltschützer*innen die Verantwortlichen des Museums in einem offenen Brief dazu aufgefordert hatten, sich von dem Industriellen aufgrund seiner wirtschaftlichen Interessen im Bereich fossiler Energieträger zu trennen. Eine Sprecherin des Museums betonte, dass Protest und Rückzug in keinem Zusammenhang stünden.15

P rotest als E xponat Auf der Website von Occupy Museums ist seit 2014 keine neue Aktion mehr aufgelistet16 – und doch haben es die Aktivist*innen wieder ins Museum geschafft, nicht mit Protestaktionen, sondern als Exponat. Das Brooklyn Museum widmete sich Anfang 2016 dem Thema Agitprop und stellte hier auch die Skulptur »Eroding Plazas and Accumulating Resistance« aus. Sie entstand im Rahmen einer Aktion von Occupy Museums im November 2015, die sich explizit gegen ebenjenes Brooklyn Museum richtete. Die ausgestellte Reliefkarte soll die nach Meinung der Aktivist*innen u.a. durch das Museum beförderte Gentrifizierung des Viertels sichtbar machen. Auslöser des vorangegangenen Protests war der Brooklyn Real Estate Summit, der im Brooklyn Museum abgehalten wurde. Dass nun gerade dieser Protest wieder als ästhetische Form einen Platz im Museum fand, kann als geschickter Schachzug des Museums ausgelegt werden, die Kritik in einer zärtlichen Umarmung im Keim zu ersticken, ihr eine Plattform zu bieten und damit den Konsens herzustellen, der sie unschädlich macht. Geht man aber weniger davon aus, dass Kunst nur als Antagonismus wirken kann, sondern in Anlehnung an Shannon Jackson von einem Potential, das auch in der Betrachtung und Bearbei15 | https://artsbeat.blogs.nytimes.com/2016/01/20/david-h-koch-leaves-natural-his​ tory-museum-board/ vom 20. Jan. 2016. 16 | Vgl. http://occupymuseums.org vom 1. Nov. 2016.

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tung von Abhängigkeiten steckt,17 so wird hier nicht nur die Kritik durch eine Rahmenverschiebung zur Kunst erhoben, sondern auch die Aufgabe des Museums zur Disposition gestellt, das sich damit selbst in Frage stellt. Im Ausstellungskontext wird das Exponat als Plastik und Kunstwerk rezipiert, als Symbol, das einer Interpretation bedarf. Im Rahmen der musealen Möglichkeiten, durch die Öffnung von Bedeutungsräumen im Arrangement von Kunst und Kontext, wird ein Diskussionsraum geschaffen. Im Brooklyn Museum wurden ganz unterschiedliche Momente verbunden, in denen Kunst und Protest zusammenfielen, und es wurde ein weiter historischer Bogen gespannt. Der einzelne Protest wurde in einen globalen Kontext und zugleich das Exponat innerhalb einer Auswahl verschiedener Exponate verortet; das Museum historisierte und ästhetisierte die ausgestellten Objekte gleichermaßen. Es machte aus temporären Hilfsmitteln der Propaganda wie Plakaten Artefakte und Exponate, es lenkte die Aufmerksamkeit auf Kunsthandwerk und Materialität und stellte dabei Beziehungen auf inhaltlicher, aber auch auf ästhetischer Ebene her, einerseits zwischen einem konkreten Protest und seinem Erscheinungsbild, andererseits zwischen verschiedenen Agitationsmomenten und ihren Ausformungen.

S ystem und K ritik Auf die Frage, ob es sich bei Occupy Museums um eine Künstler- oder Aktivistengruppe handelt, antwortete Noah Fischer dem Kunstmagazin art wie folgt: Die Arbeit von Occupy Museums begann mit der Aufhebung der Trennung von künstlerischer und staatsbürgerlicher Praxis. Wir haben damals begriffen, dass die Kunstwelt – ihre Werke, Orte, Diskussionen, Stile – beherrscht wird von der Logik der Finanzwelt […]. Diese Logik zeigt sich vor allem in der Figur des Künstlers als jemand, der mit anderen Künstlern in Konkurrenz steht und möglichst großen Erfolg auf dem Kunstmarkt anstrebt. Und dieser Kunstmarkt wird beherrscht von eben den Menschen, die u.a. auch für die Finanzkrise 2008 verantwortlich sind. Zeitgleich ereignet sich eine Hyper-Professionalisierung des Künstlers, die einher geht mit einer extremen Standardisierung. Das Resultat dieses Prozesses: Langeweile pur.18

Diese Nicht-Antwort auf die gestellte Frage wird durch die Nachfrage (»Also seid ihr eher eine Aktivistengruppe?«19) wenig konkreter, wenn Fischer in seiner Antwort davon spricht, »eine Form künstlerischer Praxis zu entwickeln«20, im Dienste einer Rückeroberung öffentlichen Raumes. Folgt man Fischer, so muss es sich hier um eine Praxis handeln, die sich den Kräften des Finanzsektors entzieht. Das Brooklyn Museum hat eine eigene Antwort gefunden und mit seiner Agitprop-Ausstellung den Ball an die Künstler zurückgespielt, indem es die Arti17 | Vgl. Jackson, Shannon: Social Works. Performig Art, Supporting Publics. New York/London 2011, S. 74. 18 | www.art-magazin.de/szene/15300-rtkl-die-artivisten-2-occupy-museums vom 31. Okt. 2016. 19 | Ebd. 20 | Ebd.

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vist*innen zu Kurator*innen ernannte. Die ausgewählten und ausgestellten Künstler*innen nominierten andere Kunstschaffende und ihre Werke, die dann in einem zweiten Durchgang ergänzend präsentiert wurden. Diese wiederum bestimmten eine dritte Generation, so dass sich die Ausstellung in drei Wellen veränderte. Weniger zentral ist hier, wie sich Artivismus jenseits einer Befragung der Aktionen als Kunst oder Nicht-Kunst fruchtbar machen lässt – womit implizit eine Trennung von Kunst und Leben, von Kunst und kritischer Aktion behauptet wird –, denn eine Befragung der Strukturen. Damit steht das Potential der Bewusstwerdung und Bewusstmachung von Abhängigkeiten im Fokus und nicht der Verweis auf einen zur Gelingensbedingung stilisierten notwendigen Antagonismus der Kunst.21 Insofern ist die angeführte Feststellung von Noah Fischer, dass Kunst, die im kapitalistischen System funktioniert, »langweilig« sei, auch eine Diagnose der Abhängigkeiten, die Occupy Museums aufzeigen will.

A gitation und P rovok ation : D as Z entrum für politische S chönheit Neben Fisher interviewte das Kunstmagazin art auch Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit (ZpS, im Folgenden zudem mit Zentrum abgekürzt) im Rahmen einer Auseinandersetzung unter dem Hashtag Artivismus. Auf die Frage, warum das Zentrum im Kunstbetrieb so wenig Anerkennung und Aufmerksamkeit finde, antwortete Ruch wie folgt: Wir werden da schnell in Ästhetik- und Rezeptionsdebatten reingezogen und vereinnahmt. Wenn unsere Vertreter auf Podiumsdiskussionen dann erklären: »Es geht uns um Inhalte!«, herrscht ein betretenes Schweigen. Dieses Schweigen bereitet mir persönlich große Sorgen. Wo hat sich der Kunstbetrieb hin manövriert, dass er solche Erklärungen nötig hat? Wohin sind die Künstler verschwunden, die nicht selbstreferenziell oder »postmodern« arbeiten? Da gibt es lauter Sackgassen. Wir fahren da gar nicht erst rein. Wir bleiben in der wichtigsten und schönsten aller Kunstsparten: dem Theater. 22

Theater kann auf unterschiedlichste Arten gesellschaftlich engagiert, involviert, politisch sein, ob man nun die sich überlagernden Kriterien von struktureller, thematischer oder ästhetischer Politizität von Theater anwendet oder Theater als Kunstform betrachtet, die politisch wirken und beispielsweise dem Schiller’schen Ideal folgend durch Ästhetik dem in sich zerrissenen Bürger wieder zu einer Ganzheit verhelfen kann.23 Deutlich wird in Ruchs Äußerung, wie wichtig ihm die Zuschreibung zur Kunstsparte Theater für die engagierten Aktionen des Zentrums ist und dass dieser Aussage eine Definition von Theater zugrunde liegt, die Theater als genuin politisch versteht, als eine sich-einmischende und inhaltsbasierte 21 | Vgl. Jackson, 2011, S. 74. 22 | www.ar t-magazin.de/szene/14176-r tkl-die-ar tivisten-1-zentrum-fuer-politischeschoenheit vom 1. Nov. 2016. 23 | Vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Politisches Theater«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar 2014, S. 258262, hier: S. 260-261.

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Kunstform. Die Form scheint hier Mittel zum Zweck – und der Zweck heiligt, so scheint es, für die Artivist*innen die Mittel, wofür sich das ZpS oft starker Kritik ausgesetzt sieht. Gerade das Zentrum wirft mit seinen Arbeiten immer wieder die Frage auf, wie und ob sich die künstlerische von der politischen Aktion unterscheiden lässt.

A mbul ante Z eichentr äger Zwar nicht im Museum, aber im öffentlichen Gedenk-Raum und in Auseinandersetzung mit der Frage nach Erinnerungsorten und ihrer Symbolik kann eine Aktion von 2014 verortet werden, die mit einem provokanten Umgang mit einem öffentlichen Denkmal begann – und sich damit auch mit der Frage des Gedenkens beschäftigte. Zum 25. Jahrestag des Berliner Mauerfalls fand die Aktion »Erster Europäischer Mauerfall« des ZpS statt. An diesem geschichtsträchtigen Januartag »flüchteten«, so der Sprachgebrauch des Zentrums, die Gedenkkreuze der Gedenkstätte »Weiße Kreuze«, die im Berliner Regierungsviertel an die Mauertoten erinnern. Die Kreuze, so suggeriert es das medial weitverbreitete Bildmaterial zumindest, fanden sich in den Armen derjenigen wieder, die das Schicksal eines Todes an einer europäischen Mauer noch vor sich haben könnten.24 Das Zentrum verband ein historisches Ereignis mit einer tagesaktuellen Situation und rief dazu auf, diese europäische Mauer mit einem Bolzenschneider zu zerstören. Dafür konnte man über eine Crowdfunding-Kampagne einen finanziellen Beitrag leisten, mit dem Busse bezahlt wurden, die Freiwillige an die europäische Grenze bringen sollten. Zudem konnte man sich auch als Freiwilliger melden und sich für die Mitfahrt an diese Außengrenze registrieren. Die symbolische Fahrt und der symbolische Akt der Grenzdurchbrechung wurden in der Durchführung von einem massiven Polizeiaufgebot unterbunden, so dass die »friedlichen Revolutionäre«25 nach langer Reise und vielen Kontrollen kaum in Sichtweite der Außengrenze gelassen wurden. Blickt man auf die Reaktionen zur Aktion, so wurde hier mit der Entfernung der Kreuze und der eigenmächtigen Umdeutung ihrer Verortung im kulturellen Gedächtnis wie auch mit ihrer vorgeblich realen Umbettung für viele bereits in der Anlage der Aktion eine Grenze überschritten. Dabei kann ebenso konstatiert werden, dass das Denkmal »Weiße Kreuze« als Erinnerungsort durch seine temporäre Auflösung wieder sichtbar gemacht und seine Bedeutung durch die Aneignung der Kreuze als Bedeutungsträger durch das Zentrum zur Diskussion gestellt wurde. Der Eingriff in den öffentlichen Raum, der hierfür stattfand, hat ein Bewusstsein für die Existenz des Denkmals geschaffen und ein neues Nachdenken über seine Bedeutung in Gang gesetzt. Die direkte Aktion, so Florian Malzacher, sei das Herzstück des Aktivismus. Sie steht mit ihrer Unmittelbarkeit für eine direkte Lesbarkeit der produzierten Bilder.26 Die hier vom ZpS vorgenommene Provokation polarisiert und setzt ein 24 | Vgl. dazu https://politicalbeauty.de/mauerfall.html vom 31. Okt. 2016. 25 | Ebd. 26 | Vgl. Malzacher, Florian: »No Organum to Follow. Possibilities of Political Theatre Today«, in: ders. (Hg.), Not just a Mirror. Looking for the Political Theatre of Today. Berlin/London 2015, S. 16-30, hier: S. 31.

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Thema erfolgreich auf die Tagesordnung. Zugleich werden aber auch Strukturen und Muster, die die Aktion bedient, genutzt und nicht unterwandert: Wenn Cesy Leonard, Chefin des Planungsstabs des Zentrums, es als gesellschaftlich entlarvend beschreibt, dass es dieser »Mauerfall« auf die Titelseiten der Tageszeitungen geschafft hat, während das gleichzeitig stattfindende Sterben der Flüchtenden auf dem Mittelmeer den Medien nur noch eine kleine Notiz wert gewesen sei,27 so ist dies auch eine Folge der Mechanismen, denen sich das ZpS bedient, wenn es eben ganz bewusst qua Provokation Schlagzeilen schafft. Damit entgeht das Zentrum der Harmlosigkeit, die Jan Deck – mit Blick auf die gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen der Gegenwart – als Schwierigkeit benennt, mit der Künstler*innen als engagierte Intellektuelle zu kämpfen haben. Der engagierte Intellektuelle hat sein diskursives Feld verloren. Und seine wichtigsten Waffen – Radikalität und Moralisierung – sind ihm entwendet worden. Gegen die Radikalität neoliberaler Modernisierer wirkt der kritische Intellektuelle wie ein konservativer Besitzstandswahrer. Und die Moralisierung von Politik ist das Metier der Boulevardpresse geworden […]. 28

Wenn Radikalität und Moralisierung der Kunst tatsächlich in dieser Konkurrenz stehen, so ist es zwar mit Blick auf die Aktion des Zentrums bemerkenswert, dass überhaupt noch provoziert werden kann. Ebenso konsequent ist es aber auch, dass dann die zur Provokation eingesetzten Mittel in den Fokus der Diskussion rücken. Trotz der direkten Lesbarkeit des »Mauerfalls« ist es eben jene von Philip Ruch benannte Zuschreibung zur Sparte Theater, die die Rezeption erschwert, wenn vom ZpS Realitäten geschaffen oder zumindest glaubwürdig behauptet werden. Die Provokation funktioniert unter anderem, weil kein abgesteckter Kunstraum, kein Theaterraum gewählt wird, sondern aktiv öffentlicher Raum verändert wird, weil die Unterscheidung der Beteiligten in Performer*innen, Geflüchtete oder Zuschauer*innen uneindeutig bleibt. Die Grenzen einer theatralen Rahmung werden ausgelotet, mit Unsicherheiten wird gespielt. Der Aktion des Zentrums in ihrer bewusst gewählten, provozierenden Direktheit fehlt die Notwendigkeit einer Übersetzung und Interpretation ihrer Inhalte, nicht aber ihrer Form. So wird die Provokation nicht nur zum Mittel der Wahl, sondern selbst zum Inhalt, zum Gegenstand der Diskussionen und Betrachtungen.

A k tivismus und/oder K unst Die Künstler*innen der hier benannten Beispiele bekämpfen die von ihnen ausgemachten Missstände durch eine Zuspitzung der Methoden, teils der Methoden des angeprangerten Systems – bei Occupy Museums durch die Überschreibungen musealer Praktiken, beim Zentrum durch die gezielte Provokation. Beide Ansätze gehen einher mit einer Rückeroberung öffentlicher Räume, mit performativen, konkreten, temporären Eingriffen in den öffentlichen Raum, durch die er zur Dis27 | https://politicalbeauty.de/mauerfall.html vom 31. Okt. 2016. 28 | Deck, Jan: »Politisch Theater machen – Eine Einleitung«, in: Jan Deck/Angelika Sieburg (Hg.), Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den Künsten. Bielefeld 2011, S. 11-28, hier: S. 12.

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kussion gestellt wird. Erst durch die Neubelegung, die Veränderung, die Störung der gewohnten Wahrnehmung wird die bestehende Bedeutung und Nutzung auf den Prüfstand gestellt. Artivismus als Selbstzuschreibung der engagierten Künstler*innen erweist sich als flexible Zuschreibung, die, unter dem Schutz der Kunstfreiheit, Eingriffe in den Alltag ermöglicht. Wurde eingangs Artivismus in seinem Willen zur Veränderung auch durch den Einsatz ästhetischer Mittel definiert, so bleibt hier die Frage, wie sinnvoll eine Unterscheidung der ästhetischen Mittel und ihres Einsatzes ist – ob Kunstwerk und Aktion sich gegenseitig überschreiten, scheint zumindest für die Artivist*innen irrelevant, steht doch im Zentrum vor allem die Wirkung von Aktionen, deren erklärtes Ziel nicht mehr und nicht weniger als die Veränderung der Umstände ist, durch die Belegung öffentlicher Plätze, die Sichtbarmachung von Abhängigkeiten, die Einübung neuer künstlerischer Praktiken oder die gezielte Grenzüberschreitung. So lebt Artivismus auch von der Durchlässigkeit zwischen Aktion und Kunst, von der Betrachtung der Aktion als Kunst und von Kunst als Aktion.

Theater – Kritik – Agon Die ›erweiterte Denkungsart der medialen Öffentlichkeit‹ Meike Wagner

Wolfgang Menzel urteilte im Jahr 1836 über den Journalisten und Theaterkritiker Moritz Gottlieb Saphir: Seine Phantasie ist sehr reich, seine gute Laune unerschöpflich. An Wortwitz hat ihn wohl Keiner übertroffen. Wenn er nur niemals Wien verlassen hätte, wenn er nur nicht in die Theater-Polemik von Berlin und München verwickelt worden wäre. Dieß hat ihn in Lagen gebracht, in denen er seine schwächere Seite blosgeben und Inconsequenzen begehen mußte, die zum Hasse Derer, die sein Witz beleidigt hatte, noch eine Geringschätzung hinzufügte, die nicht immer unverdient war.1

Zu Saphirs Gunsten führt Menzel zunächst dessen Sprachgefühl und mitreißende Ausdrucksformen an, dann verurteilt er ihn allerdings, weil er sich polemisch mit den Theatern in Berlin und München auseinandergesetzt habe. Für einen Theaterkritiker scheint das aus heutiger Sicht doch geradezu ein Qualitätsausweis zu sein, während Menzel 1836 Hass und Geringschätzung als Konsequenzen der Theaterpolemik rechtfertigt. Entscheidend für Menzels Beurteilung ist die fehlende gesellschaftliche Einbettung, die Saphir in eine »ungesicherte Existenz« gebracht habe2: Saphir war 1825 bis 1829 als zugewanderter böhmischer Jude in Berlin in einer Außenseiterrolle. Die seltene Wahrnehmung der Person und des Werkes von Saphir ist, wenn sie denn erfolgt, bis heute überwiegend auf die persönliche Biographie des Journalisten ausgerichtet. Dass Saphir von der Literaturgeschichte bisher nicht umfassend gewürdigt wurde, geht weitgehend auf eine antisemitische Rezeption zurück, die insbesondere während des Nationalsozialismus zu einer völligen Negierung der Leistungen Saphirs geführt hat.3 1 | Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 4. Stuttgart 1836, S. 73. 2 | Vgl. ebd., S. 74. 3 | Vgl. hierzu etwa die stark antisemitische Studie von Irmgard Müller: Saphir in München. Eine Untersuchung über das Eindringen und den Einfluß jüdischer Journalisten in das Münchener Pressewesen 1825-1835. Düsseldorf 1940. Zur neuen literaturwissenschaftlichen Rezeption Saphirs vgl. Sprengel, Peter: »Moritz Gottlieb Saphir in Berlin. Journalismus und Biedermeierkultur«, in: Günter Blamberger/Manfred Engel/Monika Ritzer (Hg.), Studien zur

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Im Kern der historischen Kontroverse um Saphirs Journalismus und seine Theaterkritiken stand jedoch weniger seine biographische Disposition als vielmehr seine Abweichung von den Diskurs-Modi der ›Geselligkeit‹, die in Weiterentwicklung von Kants Konzeption der Urteilskraft ein harmonisierendes Kommunikationsmodell der bürgerlichen Gesellschaft formten. Saphirs agonale Medienkonzeption  – er sah seine publizistischen Beiträge als Teil von öffentlich geführten Auseinandersetzungen  – stand dazu in starker Opposition. Saphir positionierte sich an der Frontlinie zwischen einer hierarchisch organisierten Gelehrtenöffentlichkeit, die Publikationen von Gelehrten für Gelehrte vorsah, und einer breiten Meinungsöffentlichkeit, die für jedermann zugänglich und von jedem operationalisiert werden konnte. Letztere galt vor dem Hintergrund einer starken Presse-Expansion nach 1800 für die spätabsolutistischen Staatsautoritäten als unmittelbare Gefahr für den inneren Frieden, für die progressiven, liberalen Kräfte dagegen als Ziel einer modernen, demokratisierenden und heißersehnten Medienentwicklung.4 Die Theaterkritik von Moritz Saphir setzte wichtige Impulse für eine moderne Entwicklung der Theaterrezension im heutigen Sinne: subjektiver Schreibstil, orientierende Meinungsäußerung und aktuelle Bezugnahme waren Bestandteil seiner kritischen Texte. Mit der Einführung der ›Nachtkritik‹ – also der Veröffentlichung der Theaterkritik am Morgen nach der Aufführung  – erfand Saphir die kritische tagesaktuelle Diskussion der Theateraufführungen.

›E rweiterte D enkungsart‹ vs . A gon der Ö ffentlichkeit Neue Medienentwicklungen und die Bereitstellung weniger hierarchisierter Kommunikationsformen ermöglichten nach 1800 eine größere Teilnahme der Bürger an öffentlichen Diskursen. Die ökonomische und technische Expansion des Pressewesens, die in Deutschland erst in den Napoleonischen Kriegen an Dynamik gewann und sich deutlich an Frankreich und England orientierte, erzeugte großen Druck auf die Regulierungssysteme der Öffentlichkeit. Journalisten, Literaten und quasi aus der zweiten Reihe auch Theatermacher traten mit dem Anspruch auf Teilhabe in die politische Öffentlichkeit. Immanuel Kant prägte maßgeblich den Diskurs seiner Zeit um Kommunikation, Gesellschaft und politische Gemeinschaft und legte damit auch eine Basis für die Einschätzung ›neuer‹ Medienentwicklungen – und auch des ›neuen‹ Theaterjournalismus. Um die Konflikte in einer solchen Medien- und ÖffentlichkeitskonLiteratur des Frührealismus, Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 243-275, insbes. S. 244-246. Sprengel weist darauf hin, wie stark der Einfluss der antisemitischen Lesart auch noch auf die Saphir-Rezeption der Nach­k riegszeit ist. Er führt etwa an, dass noch 1954 in Berlin eine explizit dahin wirkende Dissertation bei dem bis 1945 durchweg nationalsozialistisch fundierten Hans Knudsen verfasst wurde. Es handelt sich um die Doktorarbeit von Annelore Lippe mit dem bezeichnenden Titel Verfallserscheinungen der Theaterkritik. Dargestellt an Moritz Gottlieb Saphir. 4 | Für eine ausführliche Diskussion der historischen Öffentlichkeitssituation um 1800 und deren Effekte auf das Theater der Zeit siehe Wagner, Meike: Theater und Öffentlichkeit im Vormärz. Berlin, München und Wien als Schauplätze bürgerlicher Medienpraxis. Berlin 2013, insbes. Kap. 2: »Gesellschaft und Öffentlichkeit«, S. 35-95.

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figuration zu durchdringen, erscheint es daher notwendig, zu seiner Idee von Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Konzeption der ästhetischen Urteilskraft und des sensus communis zurückzugehen. Kant positionierte die Urteilskraft als Mittlerin zwischen dem erkennenden Verstand und der reflektorisch-spekulativen Vernunft. Die ästhetische Urteilskraft drückt sich im Geschmacksurteil aus. Seine Formel des ›interesselosen Wohlgefallens‹ und die Bestimmung des Schönen als harmonische Form des Zweckfreien war auch leitend für die Konzeption der idealistischen Kunstautonomie der Zeit.5 Das Geschmacksurteil zielt in diesem Sinne nicht auf einen Begriff, sondern bleibt bei der Möglichkeit der Erkenntnis und eröffnet ein freies Spiel der Erkenntniskräfte.6 Im Abwägen des ästhetischen Urteils beginnt eine Vermittlung zwischen dem unmittelbaren ›subjektiven‹ Gefühlseindruck und allgemein herrschenden, ›objektiven Werten‹. Geschmacksurteile »müssen […] ein subjektives Prinzip haben, welches nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle« 7. Die Voraussetzung für das ästhetische Urteil als reflektorische Vermittlung zwischen subjektivem und objektivem Prinzip ist der gemeinschaftliche Sinn (sensus communis): Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. 8

Das auf dem sensus communis ruhende Urteil verfolgt die Maxime der erweiterten Denkungsart, d.h. man versetzt sich in der Reflexion »an die Stelle jedes anderen« und gleicht das eigene Urteil mit möglichen anderen Urteilen ab. Der Gemeinsinn integriert die Wahrnehmung anderer in das eigene Wahrgenommene. Einen Menschen von erweiterter Denkungsart zeichnet die Fähigkeit aus, sich über die subjektiven Privatbedingungen des eigenen Urteils hinwegzusetzen und von einem allgemeinen Standpunkt aus über das eigene Urteil zu reflektieren.9 Die Geselligkeit des Menschen ist die Grundbedingung für die Entwicklung des sensus communis, gleichzeitig wirkt das ästhetische Urteil zurück in die Gemeinschaft und schreibt den sensus communis gleichsam fort. Mit seinem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« von 1799 steht Friedrich Schleiermacher in der Tradition Kants, wenn er den sensus communis quasi als historische Realität in den bürgerlichen Gesellschaften und Salons näher zu bestimmen sucht. In einer Doppelperspektive bestimmt Schleiermacher die Gesellschaft als »seiend und wer-

5 | Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Karl Vorländer. Hamburg 1993, S. 77: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes an ihm wahrgenommen wird.« 6 | Vgl. ebd., S. 80. 7 | Ebd., S. 79. 8 | Ebd., S. 144. 9 | Vgl. ebd., S. 145f.

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dend, als Bedingung der geselligen Vollkommenheit und als durch sie bedingt«10. Die Gesellschaft rege das freie Gedankenspiel an und erhebe die Bürger solchermaßen aus ihrer zweckgerichteten Existenz in Beruf und häuslicher Sphäre.11 Nicht nur die Wortwahl lässt Kant anklingen, auch die Idee einer als Grundbedingung bestehenden und gleichzeitig zu entwickelnden gemeinsamen Sphäre der Gesellschaft verbindet sich mit der Vorstellung des sensus communis. Beiden, Kant und Schleiermacher, ist gemeinsam, dass sie von einer Gesprächssituation ausgehen und dieser Diskurs eine harmonisierende, in ein Urteil überführende Dynamik hat. Die Harmonie der Geschmacksbildung ist bei Schleiermacher prävalierend. Die Sphäre der Gesellschaft darf durch Individualität nicht strapaziert werden; der Einzelne muss über ›Elastizität‹ und ›Gewandtheit‹ verfügen, um einerseits der Gesellschaft neue Impulse geben zu können, andererseits sich in die Grenzen der Gesellschaft einzufügen.12 Mit dieser historischen Einordnung der ›erweiterten Denkungsart‹ wird es möglich, eine Konfiguration von ästhetischem Urteil/›erweiterter Denkungsart‹, gesellschaftlicher Harmonisierung und medialem Agon zu entwerfen, in welcher der journalistischen Tätigkeit Moritz Saphirs eine spezifische und kontroverse Position zugewiesen wird.

D ie B erliner The ater -P olemik In einer stark expandierenden Kultur- und Medienlandschaft im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts war Saphirs Grundhaltung agonal. Er nutzte seine journalistische Tätigkeit, um sich in der Öffentlichkeit zu exponieren und auch einer öffentlichen Kritik auszusetzen. Seine Verwicklung in zahlreiche publizistische Auseinandersetzungen zeugt von einem großen Selbstbewusstsein als publizistischer ›Kriegsherr‹ und auch von einer Lust an der Schärfung seiner Feder an journalistischen und literarischen Gegnern.13 Seine Zeitschriften Berliner Schnellpost (1826-1829)14 und Berliner Courier (18271830)15 druckten Rezensionen der Theaterstücke mit bisher ungeahnter Aktuali-

10 | Schleiermacher, Friedrich: »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, in: ders., Schriften. Hg. v. Andreas Arndt. Ort 1990, S. 69f. 11 | Ebd., S. 65f. Hier lässt sich durchaus an Kants ›interesseloses Wohlgefallen‹ anknüpfen. 12 | Ebd., S. 79f. 13 | In seiner Entgegnung zur Polemik der ›Dreizehn Bühnendichter gegen Saphir‹ macht er den agonalen Charakter der journalistischen Auseinandersetzung deutlich, vgl. Berliner Courier vom 2. April 1828: »Der ruhige Leser sieht, daß ich nicht sogleich zu einem Kriege bereit bin, selbst wenn ich zuerst angegriffen werde, und daß ich nur nothgedrungen eine öffentliche Fehde ›gegen Dreizehn!‹ beginne.« 14 | Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit, 1826-1829. Das Blatt erschien 1826 und 1829 dreimal und 1827 bis 1828 viermal pro Woche. Vgl. Koch, Ursula: Der Teufel in Berlin. Von der Märzrevolution bis zu Bismarcks Entlassung. Illustrierte politische Witzblätter einer Metropole 1848-1890. Köln 1991, S. 674, Anm. 24. 15 | Der Berliner Courier. Ein Morgenblatt für Theater, Mode, Eleganz, Stadtleben, u. Localität, 1827-1830. Das Blatt erschien täglich außer sonntags. Vgl. Koch, 1991, S. 33.

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tät  – bereits am Tag nach der Aufführung16  – und erhielten dadurch den Status der meistgelesenen Blätter der Stadt. Hier und auch außerhalb Berlins erfreute sich Saphir einer in Tausenden gerechneten Abonnenten-Schar17. Saphirs Hinwendung zu einer breiteren Öffentlichkeitsschicht, die seiner Medienkonzeption entsprach, war ein Politikum – so wurde es von seinen Zeitgenossen gesehen und auch von den Staatsautoritäten, die ihn immer wieder mit Sanktionen von Arrest bis Ausweisung belegten. Auch von seinen Gegnern wurde sein ungekannter wirtschaftlicher Erfolg im Zeitungswesen und auch die Popularität seiner in Buchform veröffentlichten Aufsatzsammlungen, Aphorismen und satirischen Gedichte betont.18 Zeitgenössische Stimmen kritisierten diesen Erfolg als kommerzielles Zugeständnis an ein skandal- und sensationswütiges Massenpublikum, das sich aus ›halbgebildeten‹ Ständen und Schichten zusammensetzte und von daher suspekt erschien. In einer 1828 im Berliner Conversationsblatt erschienenen Streitschrift von dem Königstädtischen Theater nahestehenden Berliner Dramatikern wurde genau diese Popularität seiner Publizistik aufs Korn genommen: Berlin ist groß und enthält eine große Anzahl Halbgebildete, viel Müßige, plötzlich wohlhabend Gewordene, die, ohne Beschäftigung nach einer Art geistigen Unterhaltung verlangen. Ihnen war eine solche Kühnheit des Ausdrucks in gedruckten Blättern eben so unerhört als unterhaltend. Sie fanden sich selbst in dem neuen Blatte wieder. ›So etwas geradherauszusprechen, wie Saphir, hatte Niemand bis dahin den Muth gehabt. Und dazu war Alles so verständlich.‹ Der Autor hatte sein Publikum gewonnen.19

Saphir schrieb für ein breites Publikum, verständlich, aktuell, orientierend und durchaus ›meinungsmachend‹. Und genau dies wurde ihm vorgeworfen: Es ist eine neue Kunst erfunden, das Hohe herabzuziehen, das, was bisher nur für die Kenner da war, im schlimmsten Sinne des Wortes populär zu machen, und ohne etwas zu verstehen über Alles abzusprechen. Die Kunstkritik wird in die Bierkeller versetzt und die Obsthändlerinnen sind in den Stand gesetzt, darüber abzusprechen, worüber die Kenner sonst zweifel16 | Saphir führte die sogenannte Nachtkritik ein, d.h. bereits am nächsten Tag erschienen die Theaterkritiken der Aufführungen des Vorabends. Dies war ein organisatorisches Kunststück, wenn man bedenkt, dass alle Druck­fahnen dem Zensor vorgelegt werden und anschließend die Änderungswünsche in die Druckvorlage eingearbeitet werden mussten. Vgl. hierzu Koch, 1991, S. 33. Vgl. auch Sprengel, 1991, S. 257. 17 | Ursula Koch gibt in ihrer einschlägigen Studie zu den Berliner Witzblättern an, die Berliner Schnellpost habe bereits im ersten Quartal ihres Erscheinens 1500 Abonnenten gehabt. Für den Berliner Courier gibt sie an, er habe binnen weniger Monate eine Abonnentenzahl von 2500 erreicht. Vgl. Koch, 1991, S. 33. 18 | Etwa auch Wolfgang Menzel, der trotz seiner moralischen Kritik Saphir den Erfolg seines Sprachwitzes zugibt, vgl. Menzel, 1836, S. 73: »Scheidet man aus seinen vielen Schriften, größtentheils Journalaufsätze, das Triviale, Polemische und Momentane, so bleibt immer ein Kern von köstlichem Witz und ein Buch zurück, das auch die Nachwelt noch mit fröhlichem Lachen lesen wird.« 19 | Baron de la Motte Fouqué, Friedrich/Gubitz, Friedrich Wilhelm/Häring, W (W. Alexis): »M. G. Saphir in Berlin und der Journalismus«, in: Berliner Conversations-Blatt für Poesie, Literatur und Kritik, vom 21. April 1828, S. 308-310, hier: S. 309.

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haft blieben. Es ist ein ungeheurer Staub aufgewühlt, von dem nicht vorauszusehen, wann er sich wieder setzen wird, indem das eine Beispiel des glücklichen Erfolgs die Mittelmäßigkeit allerwärts zum Schreiben angefeuert hat. 20

Nicht nur Saphirs Wirkung bei einem nicht-gebildeten Publikum als unredliche Abwertung der ›Kunstkritik‹ wird angegriffen, sondern es wurden auch die Folgen seines publizistischen Vorbildes als ungeheure Provokation an die Berliner Bildungsschicht verdammt. Saphir war sich dessen bewusst und verteidigte in seiner Entgegnung auf die Streitschrift der ›Dreizehn Berliner Dramatiker gegen Saphir‹ pointiert sein publizistisches Programm: Wenn ich es dahin gebracht habe, daß die ›Obsthändlerinnen in den Stand gesetzt sind, darüber abzusprechen, worüber sonst die Kenner zweifelhaft blieben‹, so hab’ ich, beim Himmel! in drei Jahren mehr für die intellektuelle Bildung Berlins gethan, als die vorhergegangenen Jahrhunderte! Gewiß ist es auch besser, wenn die Kritik in den Bierkeller versetzt wird, als wenn der Bierkeller in die Kritik versetzt wird. 21

Saphir brachte den literarischen Diskurs auf die Ebene des einfachen Volkes, und er löste die Rolle des Journalisten als berufliches Format von der Gestalt des Gelehrten ab.22 Seine Kritiken widersprachen vollkommen dem Modell des gelehrten Urteils, sie waren nicht das Ergebnis einer abgewogenen Reflexion über die eigene Erfahrung und die mögliche Wahrnehmung der anderen. Saphir formulierte subjektiv, zuspitzend, provokativ und bediente sich satirischer Mittel und Ironie.23 Beispielhaft dafür ist etwa der ironische Seitenhieb auf das Geltungsbedürfnis des Tänzers Michel François Hoguet, den er am 12. November 1827 einem grausamen 20 | Ebd., S. 310. 21 | Saphir, Moritz Gottlieb: Der getödtete und dennoch lebende M. G. Saphir, oder Dreizehn Bühnendichter und ein Taschenspieler gegen einen einzelnen Redakteur. Berlin 1828, S. 15f. 22 | Jefferson S. Chase weist darauf hin, dass trotz aller bildungsbürgerlichen Angriffe die Gegner Saphirs seine eigensten Mittel als schlagkräftige Instrumente erkannten und ebenfalls versuchten, damit zu operieren. Vgl. Chase, Jefferson S.: Inciting Laughter. The Development of ›Jewish Humor‹ in 19th Century German Culture. Berlin/New York 2000, S. 39: »Just as obvious was the fact that, despite their professional contempt for Saphir’s metier, his adversaries were clearly adopting his means (personal attack) and his medium (the daily press) for their own ends. Although the initial anti-Saphir polemics from Fouqué, Gubitz and Alexis [Künstlername Härings] maintained the pretence of sober, factual refutation, it wasn’t long before the attacks took on more imaginative forms – poems, plays and fictional parodies – some of the very satiric devices the humorist himself had pioneered.« 23 | Interessanterweise weist Schleiermacher der Ironie eine wichtige Rolle bei der ›elastischen‹ Ausdehnung der gesellschaftlichen Sphäre zu, da sie auf doppelbödige und unterhaltende Weise quasi einen Anker zu neuen Inhalten und Stoffen auswerfen kann, ohne sich ernsthaft aus der gemeinsamen Sphäre zu entfernen. Griffen andere Gesellschaftsmitglieder diese ›Anspielungen‹ auf, so sei ein neues Thema gewonnen. Vollständig abzulehnen seien allerdings Ironie und Persiflage, die sich auf Personen beziehen. Vgl. Schleiermacher, 1990, S. 88. Saphir macht natürlich keine derartige Unterscheidung. Seine Ironie trifft zielgenau – Dinge, Themen und Personen.

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Verriss des Stückes Robinson Crusoe im Königlichen Opernhaus folgen ließ: »Die Gallerie rief die Herren Schneider und Mayer, das Parterre pochte gewaltig, indeß sie erschienen und mit letzterem Herr Hoguet; wir wissen nicht, was Herr Hoguet damit sagen möchte.«24 Legendär war auch seine satirische Verballhornung des exaltierten »Sontag-Fiebers«25, welches Berlin 1825 ergriffen hatte angesichts der ›Engelhaftigkeit‹ der Opernsängerin Henriette Sontag.26 Dies alles ließ ihn als kontroverse Persönlichkeit erscheinen, als störenden Stachel im Fleisch des gesellschaftlichen Diskurses. Seine Texte entfalteten eine unmittelbare Wirkung, waren höchst unterhaltend und polarisierten stark. Die erwähnte Streitschrift der Berliner Dramatiker entfachte gar einen regelrechten Broschürenkrieg; Saphir nahm die öffentliche Herausforderung an und konterte publizistisch. Er sah in der publizistischen Öffentlichkeit grundsätzlich das einzig legitimierte Forum für eine Auseinandersetzung und forderte seine Gegner auf, diese ›Waffe‹ weiterhin zu benutzen: »Wenn meine literarischen Gegner auf meine Brochüre etwas erwiedern wollen, so bitte ich sie, es wieder in einer Brochüre, oder in einem gelesenen Blatte zu thun. Die Antwort soll dann gewiß nicht ausbleiben.«27 Wochenlang folgten die Gegenpublikationen aufeinander, die Auseinandersetzung wurde mit Spannung bundesweit verfolgt.28 Die publizistischen Gegner Saphirs traten in den öffentlichen Agon ein, wie er es von ihnen forderte. Zu seiner agonalen Grundhaltung gesellte sich bei Saphir auch eine Bejahung der neu entstehenden Medienformate. Kant und auch Schleiermacher fundierten ihre Konzeptionen auf der Grundsituation des Gesprächs, des direkten Diskurses. Kant macht seine Konzeption der Öffentlichkeit am diskursiven Austausch der Vernunft fest. Das Publikum lasse sich dadurch leicht bilden und aufklären.29 Das zentrale Medium der Öffentlichkeit, das Kant vor Augen hatte, war die gelehrte und gedruckte Schrift. Der Gelehrte spreche »durch seine Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt«30, und nur in diesem öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft müsse er absolut frei sein. Kants Öffentlichkeit war an die Figur des ›Gelehrten‹ gebunden, das öffentliche Agieren erhielt seine Freiheit durch die 24 | Berliner Courier vom 12. Nov. 1827. 25 | Vgl. Stümcke, Heinrich: Henriette Sontag. Ein Lebens- und Zeitbild. Berlin 1913, S. 48. 26 | Zur Auseinandersetzung zwischen Henriette Sontag und Moritz Saphir, die von der Sängerin bis vor den König gebracht wurde, vgl. ebd., S. 52-57. Stümcke nimmt in seiner Darstellung deutlich Partei für Sontag. 27 | Saphir, Moritz Gottlieb: »Erklärung«, in: Berliner Courier vom 2. Mai 1828. 28 | Die Auseinandersetzung zwischen Saphir und den dem Königstädtischen Theater nahestehenden Dramatikern zog bis über Berlin hinaus weite Kreise. Chase zitiert einen Korrespondenten der Dresdener Abendzeitung, dass ganz Deutschland dem Pamphlet-Krieg folgte. Vgl. Chase, 2000, S. 38. 29 | Vgl. Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784, S. 481-494, S. 483: »[D]enn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden.« 30 | Ebd., S. 487.

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Einbindung in den Rahmen der Wissenschaft. Die öffentliche Stimme wird im Medium der wissenschaftlichen Rede und Schrift kanalisiert. Das Medium tritt hier hinter das Urteilen und die ›erweiterte Denkungsart‹ zurück. Erst nach einem abwägenden Reflexionsprozess geht die gelehrte ›Erkenntnis‹ in die mediale Öffentlichkeit ein, sozusagen als Ergebnis des Urteilens. Die Publikation steht am Ende der Urteilsfindung, sie verkörpert damit Allgemeingültigkeit und Legitimität des Urteils. Saphirs Medienformate – die Theaterkritik, die kommentierende Berichterstattung, das satirische Gedicht, die Glosse – sprachen eine subjektive Sprache. Dennoch verfasste er seine Texte nicht in Gesprächsform, wie so viele andere Autoren der Zeit. Er löste sich von diesen Übergangsformaten zwischen Gesprächsform und Druckform und präsentierte sich als Einzelstimme, deren Äußerung erst im öffentlichen Raum auf eine ›Vielstimmigkeit‹ treffen sollte, nicht schon in der Einzelpublikation. Die Aushandlung der Meinungsfindung war so in der Öffentlichkeit zu lokalisieren. Daher wurde der mediale Raum zur eigentlichen Sphäre des Diskurses und nicht die der Öffentlichkeit vorgelagerte Diskursform der ›erweiterten Denkungsart‹. Der niederschwellige Zugang zu diesem Diskursraum – Saphir hatte Leser aus allen Schichten und forderte sie immer wieder auf, Zuschriften einzusenden –, die Offenlegung des Prozesses der Meinungsmache und die deutliche Markierung der subjektiven Autorschaft  – Saphir positionierte sich immer deutlich als Person und ließ andere subjektive Stimmen gelten – sind Spuren einer deutlichen Demokratisierung der Medienpraxis, die weit über Kants Konzept der Öffentlichkeit hinausgeht. Saphirs Publizistik provozierte die Vielstimmigkeit, aktivierte die gegnerischen Stimmen. Auch das Theater antwortete. Nachdem Saphir 1825 Henriette Sontag – Gaststar am Königstädtischen Theater, aber auch dessen kostspieligste und riskanteste Investition in einer prekären Finanzlage  – satirisch aufs Korn genommen hatte, konterte das Theater: Bis Ende 1827 brachte das Königstädtische Theater vier Stücke auf die Bühne,31 die jeweils Anspielungen oder direkte Karikaturen des Journalisten verkörperten. Das Theater scheute auch drastische Mittel nicht: Saphir wurde etwa in dem Stück Jocko 1826 mit dem Hauptdarsteller, einem dressierten Menschenaffen, in Verbindung gebracht. Dieses Bild haftete Saphir noch lange an.32 Anhand des Stückes Zeitungstrompeten von Carl Lebrun, in dem der korrupte und eitle Journalist Dorn 1827 durch Kostüm und Maske mit Saphir identifiziert wurde, wird klar, wie sich das Theater in der Diskussion über die Macht der Öffentlichkeit positionierte. Im Stück begehrt der reiche, aber kulturlose und provinzielle Bürger Trommling öffentliche Anerkennung und publizistische Adelung. Er will seine Tochter nur mit einem Mann verheiraten, der sich in der Residenzstadt öffentlichen Ruhm und Ehre geschaffen hat, Geld spielt dagegen keine Rolle. Daher benutzt der Dramatiker Linden den Theaterjournalisten Dorn, um seinem Freund, 31 | 1826: Jocko und Die Überbildeten von Ludwig Robert; 1827: Lebende Wachsfiguren in Krähwinkel von Ludwig Robert und Die Zeitungstrompeten aus d. Franz. von Karl A. Lebrun. 32 | Daher rührte auch die in Berlin verbreitete Sentenz über Saphir und Henriette Sontag: »Der Affe hat den Engel geseh’n, nun kann man die ganze Geschichte versteh’n.« Vgl. Stümcke, 1913, S. 55. Diese Beleidigung Saphirs lässt sich einreihen in die Geschichte der antisemitischen Rezeption Saphirs, vgl. Anm. 3.

Theater – Kritik – Agon

dem medial völlig unbedarften Arzt Dr. Willing, ohne dessen Wissen genau eine solche Reputation und eben die Hand der Trommling-Tochter innerhalb eines Tages zu verschaffen. Der öffentliche Ruf einer Person, einer Institution, wird hier als scheinhaft entlarvt und die publizistische Meinungsmache satirisch aufs Korn genommen. Der Theaterjournalist Dorn als personelle Verkörperung einer neuen Art von substanzloser öffentlicher Schaumschlägerei und von absoluter Dekadenz öffentlicher Kritik steht hier am Pranger und ist der Verlierer des Stückes. Sein Berufsstand und seine Person wurden aufs Äußerste herabgewürdigt und mit ihm durch die kennzeichnende Kostümierung auch der Journalist Moritz Saphir. Das Königstädtische Theater trat so mit seinen ›Theaterantworten‹ in den gebotenen Agon ein. Es kritisierte zwar den neuen Theaterjournalismus in der Figur des Dorn/Saphir, gleichzeitig bediente es sich aber auch seiner publizistischen und polemischen Modi. Die karikierenden Aufführungen waren öffentliche Ausfälle in der publizistischen Schlacht gegen Saphir und ergänzten flankierend die Streitschriften der ›13 Berliner Dramatiker‹ im Broschürenkrieg. Zum einen agierte das Theater hier aus einer spezifischen Gegnerschaft zu Saphir heraus, da es sich von dem Journalisten angegriffen und durch dessen Wirksamkeit auch bedroht sah – in Hinsicht der Reputation und folglich auch der Ökonomie. Zum anderen fügte es sich ein in eine mediale Entwicklung, die auch das Medium Theater betraf: Die neu entstehenden Öffentlichkeitsstrukturen und öffentlichen Handlungsräume erforderten mediale Resonanzen aktueller Geschehnisse und mediale Positionierungen, durchaus auch in Form polemischer Performanz.

D ie › erweiterte D enkungsart der medialen S phäre ‹ Saphir praktizierte in Berlin erstmals das, was ich als eine Art ›neuen Theaterjournalismus‹ bezeichnen möchte. Basierend auf einer polarisierenden Konzeption von Kritik wird diese Art der Publizistik zu einer Provokation des aufklärerischen Konzepts der Urteilskraft, wie es Kant formulierte und wie es sich aber vor allen Dingen im politischen und literarischen Diskurs zu einer Vorstellung von ›gelehrtem Kunsturteil‹ verdichtete. Die neue publizistische Theaterkritik, wie Saphir sie praktizierte, stützte sich einerseits noch auf die Idee des ›gelehrten Kunsturteils‹ und genoss dadurch die vom Preußischen Allgemeinen Landrecht dafür garantierte Freiheit der Veröffentlichung.33 Andererseits bediente sie sich polemischer Formen, um eine Emanzipation vom ›gelehrten Urteil‹ voranzutreiben. Die publizistische Polemik stellte den Widerpart dar, der sich gegen die institutionellen, sozialen und medialen Grundbedingungen des ›gelehrten Kunsturteils‹ stellte. Dabei ging es um mehr als das Gegensatzpaar »persönliche Meinung« vs. »allgemeingültiges Urteil«, nämlich – wie ich meine – um die Aushandlung einer öffentlichen Sphäre der Kritik. Mit Jürgen Fohrmann, der sich auf die politische Öffentlichkeit im Vormärz bezieht,34 lässt sich hier von medialer Zirkulation sprechen, welche für Kommunikationsformen steht, die ein demokratisches Verständnis von Verständigung und kommunikativem Austausch mit sich bringen. Öffentlichkeit stelle sich 33 | Vgl. PrAL, Teil II, Tit. 20, § 562. 34 | Vgl. Fohrmann, Jürgen: »Die Erfindung des Intellektuellen«, in: ders./Helmut J. Schneider, 1848 und das Versprechen der Moderne. Würzburg 2003, S. 113-127.

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nach Fohrmann durch den Kreislauf der Informationen und Meinungen her, und in diesem Austausch lasse sich eine politische Meinung herauskristallisieren, die politische Veränderung bewirken soll und kann. Am Beispiel von Saphir lässt sich darstellen, wie die ›erweiterte Denkungsart‹, welche die Grundvoraussetzung der Urteilskraft nach Kant bildet, in die öffentliche Sphäre des Mediums ausgelagert wird und zu einem agonalen Diskursverhalten führt. Dabei versteht Saphir seine Kritiken und Urteile keineswegs als allgemeingültig, sondern als Beitrag zu einer Aushandlung des kritischen Urteils. Einzel-Meinung folgt auf Einzel-Meinung, und es ergibt sich erst im Wettstreit dieser Äußerungen ein allgemeines Urteil, eine öffentliche Meinung. Somit tritt mit Saphir die Theaterkritik in die öffentliche Sphäre eines politisch-kritischen Medienverständnisses ein. Er kann mit gutem Recht als wichtiger Wegbereiter einer modernen Theaterkritik betrachtet werden, die uns heute so selbstverständlich ist. Die historische Kontextualisierung hat gezeigt, dass der Begriff von öffentlicher Kritik wesentlich an Bedingungen der Öffentlichkeitsstruktur und -situation geknüpft ist. Die Rede über zeitgenössische Theaterkritik und deren Analyse muss daher die Entwicklungen und Realitäten von Öffentlichkeitspraxis mitreflektieren. Besonders signifikant sind hier natürlich Umbruchssituationen, Implementierungsphasen von neuen Medien, die neue und alte Öffentlichkeitsmodelle scharf gegeneinander verhandeln. Theaterkritik in Zeiten der medialen Shit- und Candystorms35 agiert unter spezifischen Bedingungen mit neuen Parametern. Die Frage nach der Partizipation, nach der Verbreitung und Funktion von ›Meinungsmache‹ im Zusammenhang mit der kritischen Begleitung von Theater muss sich hier völlig neu stellen. Man könnte konstatieren, mediale Akteure wie Saphir haben den Weg geebnet zur Akzeptanz einer medialen Vielstimmigkeit im Meinungswettstreit. Heute befinden wir uns quasi am radikalen Ende dieser Entwicklung, an der Schwelle zu einer neuen Öffentlichkeits-Konstellation, welche durch Debatten um ›Fake News‹ und manipulative Algorithmen die demokratische Auf bruchsstimmung in ihr Gegenteil kippen lässt. Die Aushandlung der kritischen Öffentlichkeit bleibt eine immer neue Herausforderung – in der historischen Perspektive wie heute.

35 | Der Grünen-Politiker Volker Beck prägte diesen Begriff 2012. Er forderte über Twitter seine Parteimitglieder auf, Claudia Roth mit einem Candystorm – als Gegensatz zum Shitstorm – moralisch zu stärken und zur Kandidatur für den Parteivorsitz zu ermutigen. Siehe auch www.sueddeutsche.de/digital/gruenen-parteichefin-candystorm-fuer-claudia-1.1520685, letzter Zugang 28. Feb. 2018.

Wenn die Flöte Hamlets kritisieren könnte Kritik als Theater in der Sowjetunion der 1930er Jahre Swetlana Lukanitschewa In Moskau wurde jede Maschine, jedes nützliche Gerät vermenschlicht, so auch […] Trolleybusse. »Wer kann sich bei uns ohne Risiko jederzeit eine rechte oder linke Abweichung von der Linie erlauben?« erzählte jemand: »Nur Genosse Trolleybus.« (Oskar Maria Graf)1

D ie S ternstunde der D ut zendmenschen Der Konflikt, der im Spätherbst 1926 hinter den Kulissen des Moskauer Künstlertheaters-2 (MChAT-2)2 aufflammte, markiert den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des sowjetischen Theaters, deren erste sechs Jahre durch die steigende Homogenisierung der Theaterlandschaft oder, in der offiziellen Sprache der Zeit formuliert, durch deren »Sowjetisierung« geprägt waren. Zum Auslöser des Konflikts wurde ein anonymes Feuilleton in der hauseigenen Wandzeitung vom 23. November 1926. Der erste von insgesamt vier kurzen Absätzen des mit »Überlegungen über Vergängliches«3 überschriebenen Textes enthielt eine implizite Anspielung auf den jüngsten Sommerurlaub Michail Čechovs, den der künstlerische Leiter der Bühne und ihr gefeierter Mime in Begleitung seiner Frau sowie eines weiteren Direktionsmitglieds und dessen Gattin in Italien verbracht haben sollte. Im zweiten und im dritten Abschnitt ging es um die finanziellen Berichte der Theaterbuchhaltung, deren Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wurde. Und im 1 | Graf, Oskar Maria: Reise in die Sowjetunion. Darmstadt/Neuwied 1974, S. 34f. 2 | MChAT-2 ist die gebräuchliche Abkürzung für Moskovskij Chudožestvennyj Akademičeskij Teatr Vtoroj [Moskauer Akademisches Künstlertheater Zwei]. Die Truppe des Moskauer Künstlertheaters-2 rekrutierte sich aus dem 1913 gegründeten Ersten Studio des Moskauer Künstlertheaters von Stanislavskij. Als das Studio 1924 den Status eines Staatstheaters erhielt, entschied sich das Ensemble, um seiner Wurzeln zu gedenken, den Namen Moskauer Künstlertheater-2 anzunehmen. 3 | Vgl. »Razmyšlenija o brennom«, in: MChAT-2. Svidetel’stva i dokumenty. 1926-1936. Hg. v. S. P. Udal’cova. Moskau 2011, S. 18f. Russische Titel und Namen erscheinen im Folgenden in der slawistischen Transliteration.

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Blickpunkt des abschließenden Passus standen die ungerecht hohen Gagen einiger ungenannt gebliebener Darsteller. Da die Wandzeitung für die Lektüre im engen Kreise der Mitglieder des Hauses bestimmt war, lässt es sich denken, dass der Motivationshintergrund der Schmähschrift in der Befindlichkeit ihres Verfassers, eines ambitionierten und sich unterbewertet fühlenden Schauspielers, lag oder, genauer gesagt, in seinem Neid auf die erfolgreicheren Kollegen, seiner schöpferischen Unzufriedenheit und den scheinbar oder tatsächlich von ihm erlittenen Kränkungen. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die rapide Steigerung der Spannungen in der Truppe eines der führenden hauptstädtischen Theater zeitlich mit der letzten Phase des Kampfes um die politische Macht in der Sowjetunion zusammenfiel. Wie zielgerichtet und intensiv Stalin im ausgehenden Jahr 1926 und in der ersten Hälfte des Jahres 1927 den Sieg über seine politischen Gegner und seinen »Gegenspieler«, Lev Trockij, vorbereitet hatte, bezeugt die damalige sowjetische Tagespresse. Die zentralen Presseorgane der Kommunistischen Partei – Pravda und Izvestija – offenbaren ein wesentliches Merkmal des politischen Lebens der Zeit – eine Welle von lokalen und regionalen Parteikonferenzen, die durch das ganze Land rollte. Die in den Referaten der Delegierten geübte zündende Kritik an den Unzulänglichkeiten in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen – in der Staatsverwaltung, in den kleinen und großen Betrieben, in der Landwirtschaft, in der Armee, im Bildungswesen – macht ersichtlich, wie am Ausgang dieses verhältnismäßig liberalen Zeitabschnittes der sowjetischen Geschichte – der Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP, 1921-1927) – die Notwendigkeit der vollständigen Kontrolle über die Gesellschaft durch den Parteiapparat legitimiert und ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt wurde. Unter den Slogans und Schlagworten, mit denen die Zeitungsleser fast täglich überhäuft wurden, verdient eine besondere Aufmerksamkeit das Oppositionspaar sowjetisch-antisowjetisch, was, in die Alltagssprache übersetzt, bedeutete: kompromisslose Linientreue auf der einen und die Abweichung von dieser Linie auf der anderen Seite. Die Chronik des Konfliktes im MChAT-2, die sich anhand von Protokollen der Vollversammlungen der Truppe und der Sitzungen des Künstlerischen Beirates des Theaters detailliert rekonstruieren lässt, kann als ein aussagekräftiger Beleg für die Treffsicherheit der von Shakespeares Hamlet formulierten Sentenz angeführt werden, dass die Schauspieler »der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters«4 seien. Bei der Lektüre dieser Texte konstatiert man, wie sensibel und prompt eine Schauspielergemeinschaft auf die politischen Entwicklungen im Land und insbesondere auf die knapp zehn Jahre vor Beginn der stalinistischen »Säuberungen« sich durchzusetzen beginnende radikale Spaltung der Gesellschaft und der Welt in »Freunde« und »soziale Feinde« reagiert. Ausgehend von diesem Befund soll ein Blick auf die öffentliche Polemik um den Konflikt im MChAT-2 geworfen werden, der die Annäherung an den in der Sowjetunion der ausgehenden 1920er und der 1930er Jahre gängigen Kritikbegriff zulässt. Bei der anschließenden Auseinandersetzung mit der Interpretation der Rollen in der legendären Inszenierung des MChAT-2 – in Hamlet –, in der Čechovs notorische Abneigung gegen die nachrevolutionäre Wirklichkeit und seine Auffassung vom Theater ihren

4 | Shakespeare, William: »Hamlet«, in: ders. Sämtliche Werke. Bd. 3: Tragödien. Übers. v. A. W. v. Schlegel. Heidelberg o.J., S. 475-583, hier: S. 517.

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Ausdruck gefunden haben, wird sich zeigen, in welcher Form Kritik auf der sowjetischen Bühne des diskutierten Zeitabschnittes möglich war.

I n der Z ange der kritisierenden Ö ffentlichkeit In der unter elf führenden sowjetischen Theatermachern und Bühnenleitern durchgeführten Befragung hinsichtlich der Spielplangestaltung in ihren Theatern, die am 30. November 1926 in der ultralinken Wochenzeitschrift Novyj zritel’ [Neuer Zuschauer]5 erschien, hebt sich die Stellungname Michail Čechovs merklich hervor. Während seine Kollegen wie Aleksandr Tairov6, Ruben Simonov 7 oder Ilja Sudakov8 als Kriterien für Theaterstücke, die sie in näherer Zukunft inszenieren möchten, den großen gesellschaftlichen Wert dieser Texte und ihren Einklang mit der Gegenwart nennen, spricht Čechov von seiner Abneigung gegen »den Naturalismus und den Alltag«9. »Uns fehlen Stücke«, verkündet er, »die aus der Zeit wachsen. Und solange Dramatiker nicht die inneren, heroischen Seiten unserer Gegenwart reflektieren, sondern sich, wie heute, mit dem Alltag beschäftigen, wird es keine Zeitstücke geben.«10 Die Befragung, bei der alle Teilnehmer, Čechov ausgenommen, sich verpflichtet fühlen, ihre Linientreue zu beschwören, belegt exemplarisch, wie Ende 1926 die Abschaffung des Pluralismus im sowjetischen Theater vorbereitet wird. Beeindruckend ist, dass Čechov auch nach dem erwähnten Eklat, trotz starker Niedergeschlagenheit11, souverän handelt und auf einem Dialog mit den mächtigen Funktionären auf Augenhöhe zu insistieren sucht. Sein Brief12, in dem er über die »Hetzkampagne gegen einzelne Mitarbeiter des Theaters und deren Diskreditierung«13 berichtet und anschließend mitteilt, sein Direktoramt niederzulegen, falls die Gruppe von Mitarbeitern, auf welche die Streitigkeiten in der Truppe zurückzuführen sind, nicht aus dem Theater entfernt wird, ging an drei Adressen. Der Erste auf der Liste der Empfänger war der Volkskommissar für das Bildungswesen Lunačarskij, gefolgt von Koloskov, dem stellvertretenden Leiter der Abteilung für akademische Theater des Narkompros (Volkskommissariat für Bildungswesen). Eine weitere Kopie erhielt das Präsidium der Gewerkschaft der Kunstschaffenden. Lunačarskij bemühte sich, die Spannungen innerhalb der Truppe durch Gespräche und Briefe zu lösen, der Konflikt geriet ihm aber außer Kontrolle und rückte binnen wenigen Wochen in den Fokus der sowjetischen Öffentlichkeit. Dabei verwandelte sich die Diskussion über theaterinterne Intrigen in eine politische Debatte über die schöpferische Methode des Theaters und die fragwürdige künstlerische 5 | »Čto ja choču postavit’«, in: Novyj zritel’ Nr. 48 (151) vom 30. Nov. 1926, S. 14-15. 6 | A. Ja. Tairov (1885-1950) war künstlerischer Leiter des Moskauer Kammertheaters. 7 | R. N. Simonov (1899-1968) war Schauspieler und Regisseur am Moskauer Vachtangov-Theater. 8 | I. Ja. Sudakov (1890-1969) war Regisseur am Moskauer Künstlertheater von Stanislavskij. 9 | »Čto ja choču postavit’«, a.a.O., S. 14. 10 | Ebd. 11 | Vgl. MChAT-2. Svidetel’stva i dokumenty, a.a.O., S. 20. 12 | Vgl. ebd., S. 18-20. 13 | Ebd., S. 18. Alle Übersetzungen aus dem Russischen stammen von der Verfasserin.

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Linie seines Leiters, in die sich nach und nach neben den Kulturfunktionären, Reportern aus der ultralinken Presse und bekannten Theatermachern auch künstlerisches Personal der anderen Bühnen sowie Studentengruppen, Kollektive der Arbeitertheater und Vertreter der Gewerkschaften einschalteten.14 Der Konflikt erhielt einen deutlichen ideologischen Einschlag bereits am 6. Dezember 1926, in der Sitzung des Hauptkomitees zur Kontrolle des Schauspiels und des Repertoires (Glavrepertkom), zu der Čechov mit zwei weiteren Mitgliedern der Theaterdirektion und drei Schauspielern aus dem oppositionellen Lager bestellt wurde. Das Zusammentreffen der Zensoren und Theaterschaffenden zum Zweck der Besprechung des Spielplans des Theaters gewann schnell den Charakter einer Gerichtsverhandlung mit dem oppositionellen Trio als Klägern und Čechov als dem Angeklagten, dem das Desinteresse an der Gegenwartsdramatik sowie »die Mystik«, die er in alle Inszenierungen einbringe und mit der er das Theater »vergiftet und zugrunde gerichtet«15 habe, angelastet wurden. Am 11. Dezember schaltete sich in den Konflikt um MChAT-2 die Presse ein. In der Kulturchronik der Zeitung Naša gazeta [Unsere Zeitung] erschien eine kurze, »Konflikte in den akademischen Theatern« betitelte Mitteilung der Redaktion, in der die Namen von zwei die Theaterpolitik Čechovs kritisierenden Schauspielern und deren Forderungen an die Theaterleitung – »die Änderung der künstlerischen Linie des Theaters, im Besonderen die Abwendung von seiner mystischen Ausrichtung sowie der Übergang zum zeitgenössischen Realismus«16 – bekannt gemacht wurden. Und zehn Tage später goss ein weiteres Presseorgan – die Zeitschrift Neuer Zuschauer – Öl in das sich ausbreitende Feuer, indem es den Inhalt eines Gesprächs mit zwei Vertretern der beiden Konfliktparteien veröffentlichte. Dem Leser des Interviews wird ebenfalls schnell ersichtlich, dass einer der Befragten sich in die Rolle des Angeklagten und der andere in die des Klägers hineingedrängt sieht. Dem einführenden Kommentar der Redaktion zur aktuellen internen Situation im MChAT-2 folgt eine kurze Stellungnahme von Čechovs Mitstreiter Ivan Bersen’ev, dem führenden Schauspieler des Theaters und Mitglied der Direktion, der betont, dass der Konflikt durch die Ablehnung der Aufnahme eines Theaterstücks in den Spielplan entstanden sei, welches einige Schauspieler aufgeführt wissen wollten. Leonid Volkov, der Vertreter der sogenannten »Opposition«, behauptet dagegen, dass der Konflikt sich »nicht allein auf die privaten zwischenmenschlichen Beziehungen«17 zurückführen lasse, und begründet die Kontroversen im Theater mit dem Wunsch der Schauspieler, »nicht nur Künstler zu sein, sondern auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im wahrsten Sinn des Wortes«18. Sie seien aber verhindert, diesen Wunsch zu realisieren, da der Spielplan des Theaters »dem Gegenwartspublikum fremd ist und wahrscheinlich nur 14 | Es sei erwähnt, dass sowohl Anatolij Lunačarskij als auch drei Maîtres der russischen Regie, Konstantin Stanislavskij, Vsevolod Mejerchol’d und Aleksandr Tairov, in diesem Konflikt Čechovs Partei ergriffen haben. Der Erste schätzte Čechov als genialen Schauspieler, und die Theatermacher spürten, dass auch sie in der gegebenen kulturpolitischen Situation jederzeit an den Pranger gestellt werden könnten. 15 | MChAT-2. Svidetel’stva i dokumenty, a.a.O., S. 22. 16 | Ebd., S. 23. 17 | Ebd., S. 25. 18 | Ebd.

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einen vorrevolutionären Intelligenzler zufriedenstellen könnte«19. »Unsere Gruppe«, kündigt Volkov an, macht sich zur Aufgabe, dem wirklichkeitsfremden Repertoire ein Repertoire entgegenzusetzen, das mit den Stimmungen des zeitgenössischen Massenzuschauers im Einklang steht und das dem gut verständlichen künstlerischen Realismus verpflichtet ist. Vor allem aber soll es eine klare szenische Interpretation bieten, welche die Zuschauer mit Lebensfreude aufladen wird. 20

Da die Redaktion sich des abschließenden Kommentars zum Interview enthielt, ist anzunehmen, dass sie sich der Stellungnahme Volkovs, genauer gesagt seiner in den zwei letzten Sätzen artikulierten Kampfansage, angeschlossen hat. »Die interne Lösung des Konfliktes mit eigenen Kräften«, resümiert Volkov, »ist ausgeschlossen. Er muss unter Einbeziehung der Öffentlichkeit diskutiert und gelöst werden.«21 Der Neue Zuschauer avancierte in den folgenden Wochen und Monaten zum zentralen Forum, in dem wöchentlich über die neuen Schritte und Äußerungen der Konfliktparteien im MChAT-2 berichtet wurde und der mit einer Reihe von Kommentaren und Stellungnahmen zur Eskalation des Konfliktes beitrug. Im Pressespiegel zum Konflikt in der Truppe des MChAT-2 sticht die Übereinstimmung zwischen dem Grundtenor der Publikationen und den Zirkularschreiben der Zensurbehörden sowie den Beschlüssen des ZK der RKP(b) (Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei [Bolschewiki]) ins Auge. Bei einzelnen Texten wird man die Vermutung nicht los, dass sie aus der Feder der Parteiideologen stammen könnten. Besonders hervorzuheben sind im Hinblick auf die Entwicklung der Ereignisse im MChAT-2 zwei zukunftsweisende Dokumente jener Zeit: Zum einen ist es der Bericht über die Konferenz der Sektion für Presseangelegenheiten bei dem ZK der RKP(b) am 14. Februar 1927, in deren Fokus die Arbeit der für die Kunst und Theaterkritik zuständigen Abteilungen in den Zeitungsredaktionen gerückt wurde. Die Teilnehmer sprachen über die notwendige Ausweitung der Funktion dieser Abteilungen, die bislang hauptsächlich auf die »qualifizierte Schicht der Leser und Zuschauer ausgerichtet«22 gewesen sei. Laut dem Beschluss der Konferenz sollte die Hauptaufgabe »der Printmedien bei der Auseinandersetzung mit den Fragen aus dem Leben der Kunst«23 darin bestehen, den Arbeitern zu helfen, die richtige Auffassung von dem gesellschaftlichen und künstlerischen Wert des einen oder des anderen Kunstwerkes und der einen oder der anderen Kunstströmung zu entwickeln. Die Presse soll kraft der Kritik zur Entstehung einer Kunst beitragen, deren Inhalt mit der Ideologie der Arbeitermassen übereinstimmt. Insbesondere muss sie die Verbesserung des Repertoires der Bühnen und Kinohäuser bewirken, und sie muss gegen

19 | Ebd., S. 26. 20 | Ebd. 21 | Ebd. 22 | Russkij Sovetskij teatr. 1926-1932, Dokumenty i materialy. 1 čast’. Hg. v. A. Jufit u.a. Leningrad 1982, S. 13. 23 | Ebd.

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Inszenierungen zu Felde ziehen, in denen Dekadenzstimmungen, Mystizismus, Pornografie etc. kultiviert werden. 24

Das zweite Dokument ist der Beschluss der Parteikonferenz zu Fragen des Theaters, die in der Propagandaabteilung des ZK der RKP(b) vom 9. bis 13. Mai 1927 stattfand. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Text, der mit der Überschrift Zentrale Ausrichtung der Theaterpolitik versehen ist, ein Verweis auf die Aufgaben der Theaterpolitik hinsichtlich »des Erbes« des vorrevolutionären Theaters. »Die Annäherung dieses Theaters, das eine lange Tradition hat und in der Vergangenheit verwurzelt ist, an die Gegenwart«, heißt es, »verläuft langsam und oft auch im Zickzackkurs.«25 Deshalb solle ein besonderes Augenmerk auf die Lenkung der Arbeit solcher Theater und auf die Kritik an dieser Arbeit gelegt werden, zum Zweck »ihrer vorsichtigen und aufmerksamen Vorbereitung auf den Dienst der Diktatur des Proletariats sowie ihrer Befreiung von den Einflüssen der Gesellschaftsgruppen, die dem Proletariat feindlich gesinnt sind«26. Der Beschluss bringt die Strategie ans Licht, die von den Parteiideologen am Ausgang der liberalen NÖPZeit ergriffen wurde: Sie bestand im »Kokettieren« mit Künstlern und Intellektuellen, die für die Mitarbeit gewonnen werden sollten. Die Polemik um das Moskauer Künstlertheater-2 führt zwei wichtige gesellschaftliche Funktionen von Kritik in der Sowjetunion der ausgehenden 1920er Jahre vor Augen. Die erste Funktion ist eine lenkende. Die Kritik avanciert in der Entstehungsphase »eine[r] total verwaltete[n] Gesellschaft«27, die auf die Mitte der 1920er Jahre zu datieren ist, zu einem effektiven Mechanismus der Steuerung. Versucht man anhand der Archivmaterialien den Verlauf der Hetzkampagne gegen das MChAT-2 und seinen Leiter, Michail Čechov, zu verfolgen, so wird man auf ein wesentliches Spezifikum dieses Konfliktes – auf seinen dezidierten Schaucharakter – aufmerksam. Nicht zu übersehen ist, dass es den Partei- und Kulturideologen, die in diesem Konflikt die Hände der Pasquillanten geführt haben, von Beginn an nicht um die Schließung des Theaters28 gegangen war. Die in den geschlossenen oder öffentlichen Versammlungen und Publikationen geübte Kritik an dem Spielplan des MChAT-2 sowie das Urteil, dass die Leitung des Theaters »mit dem hochbegabten M. Čechov an der Spitze sich von dem Steiner’schen Mystizismus verzaubern ließ und das Theater in eine Repertoire-Sackgasse führte«29, sollten das Kollektiv des MChAT-2 und die Truppen anderer tonangebender Bühnen wie etwa 24 | Ebd. 25 | Ebd., S. 14. 26 | Ebd. 27 | Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a.M. 2014, S. 556. 28 | MChAT-2 wird noch knapp zehn Jahre bestehen. Nach der Emigration Michail Čechovs 1928 wird die neue Leitung versuchen, den Spielplan des Theaters an die totalitäre Wirklichkeit anzupassen. Trotzdem wird das MChAT-2 während der ersten großen Welle der Theaterschließungen im Frühling 1936 als durchschnittliche Bühne, deren weiteres Bestehen überflüssig ist, etikettiert und per Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU geschlossen. Vgl. »O vtorom Moskovskom Chudožestvennom teatre«, in: Pravda Nr. 58 vom 28. Feb. 1936, S. 2. 29 | Vgl. MChAT-2. Svidetel’stva i dokumenty, a.a.O., S. 195.

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des Moskauer Künstlertheaters von Stanislavskij, des Mejerchol’d-Theaters oder des Kammertheaters von Aleksandr Tairov einschüchtern. Den Theatern wurde durch die exemplarische öffentliche Züchtigung eines vielgerühmten Schauspielers und des von ihm geleiteten Theaters der Weg zu der in der Presse der Zeit propagierten Unterordnung unter die »unmittelbare und wirksame Kontrolle«30 des Staates und zu seiner Verwandlung in ein Medium, das seine Rezipienten »richtig« denken lässt, gezeigt. Die Kritik am MChAT-2 schien ihre Funktion erfüllt zu haben, nachdem Čechov in einem Brief, der in der Zeitung Pravda Anfang Juni veröffentlicht wurde, ein Zeichen der Kooperationsbereitschaft setzte, indem er es für nötig erklärte, den künstlerischen Beirat des Theaters zu reformieren und »besondere Aufmerksamkeit dem Spielplan des Theaters zu schenken, der in sich […] ideologisch wertvolle Werke einschließen soll, in denen gesunde und im Hinblick auf den Aufschwung unseres Landes wichtige Zeiterscheinungen eine Reflexion finden werden«31. Und der in diesen Zeilen in Szene gesetzte Gehorsam wurde als lehrreiches Beispiel für andere Theatermacher belohnt. Am Ende der Spielzeit, im Juni, erfolgte die Entlassung der aus sieben Schauspielern bestehenden Gruppe von Opponenten Čechovs, womit der Konflikt offiziell für beendet erklärt wurde.32 Auch die zweite Funktion der Kritik kommt anhand der Beschäftigung mit den schriftlichen Zeugnissen von der inneren Situation im MChAT-2 zum Tragen. Die Kritik sowie die Selbstkritik 33 erwiesen sich als wirksame Mittel in einem Konkurrenzkampf, der nur nach bestandener Prüfung in »Linientreue« zu gewinnen war. Dafür musste man in die Rolle des Kritikers schlüpfen, der seine Opponenten denunziert und sie der Abweichungen von der »Linie« beschuldigt.34 Die Diskussion um den Konflikt im MChAT-2 bringt zwei grundlegende Aspekte der Theaterpolitik jener Zeit zum Ausdruck. Der erste betraf die Spielplangestaltung. Theaterleiter und Theatermacher wurden per Beschluss des ZK der RKP(b) zur Inszenierung ideologischer Gegenwartsdramatik verpflichtet, deren Inhalte den Massenzuschauer kulturpolitisch erziehen sollten.35 Der zweite Aspekt zielte auf die Bühnenrezeption dieser Werke, die dem unerfahrenen proletarischen Rezipienten leicht verständlich und gut bekömmlich sein sollten. Es versteht sich von selbst, dass die Umsetzung dieser Politik eines weitverzweigten Zensurapparats bedurfte. Die Kontrolle über jede Art von öffentlicher Veranstaltung einschließlich Theateraufführungen lag im Aufgabenbereich des Glawrepertkom – des Hauptkomitees zur Kontrolle des Schauspiels und des Repertoires –, einer Behörde, die am 9. Februar 1923 ins Leben gerufen und in die Struktur der Hauptverwaltung für Literatur und Verlagswesen (Glawlit) eingegliedert wurde. Einen aussagekräftigen Eindruck von der Funktion dieses Kontroll30 | Markov, Pavel: Dnevnik teatral’nogo kritika. Bd. 3. Moskau 1976, S. 421. 31 | Pravda Nr. 123 vom 2. Juni 1927, S. 6. 32 | Vgl. MChAT-2. Svidetel’stva i dokumenty, a.a.O., S. 195. 33 | Der Begriff »Selbstkritik« wurde zum ersten Mal von Stalin in seiner Rede auf dem XV. Parteitag im Dezember 1927 angewendet und daraufhin in den Sprachgebrauch übernommen. Vgl. Erren, Lorenz: »Selbstkritik« und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953). München 2008, S. 100. 34 | Vgl. dazu Gide, André: »Zurück aus Sowjetrußland«, in: ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 6: Reisen und Politik, Bd. 2. Stuttgart 1996, S. 41-116, hier: S. 69. 35 | Gorjaeva, Tat’jana: Političeskaja cenzura v SSSR. 1917-1991. Moskau 2002, S. 187.

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organs vermittelt ein Beschluss des Rates der Volkskommissare aus dem Jahr 1923: »Kein einziges Werk«, heißt es hier, »darf ohne Genehmigung des Glavrepertkoms […] oder seiner lokalen Organe öffentlich aufgeführt werden. […] Öffentliche Vorführungen von Werken ohne entsprechende Genehmigung […] werden bestraft.«36 Dieses Schriftstück lässt die Frage, ob Regisseure eine nicht reglementierte Kritik in ihren Produktionen äußern konnten, sofort überflüssig erscheinen. Gleichzeitig darf man aber eine ganz besondere, nur den Rezipienten in einem totalitären Staat eigene Fähigkeit, sich unter den strengen Blicken der Zensoren zurechtzufinden und die »äsopische Sprache« zu verstehen,37 nicht außer Acht lassen. Und der Einsatz der »äsopischen Sprache« in den Inszenierungen machte seinerseits in der gegebenen kulturpolitischen Situation eine punktuelle kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart möglich. Ein bemerkenswertes Exempel für diese Art der verschlüsselten Kommunikation zwischen dem Bühnenraum und dem Publikum im sowjetischen Theater in den Jahren der Etablierung des Stalinismus war die berühmte Hamlet-Inszenierung am MChAT-2 mit Michail Čechov in der Titelrolle.

A ls »D änemark« zum G efängnis wurde »Wozu diese Anspielungen auf die Gegenwart, diese Lederjacke«38, soll Stanislavskij betrübt über Čechovs Hamlet nach der ersten öffentlichen Vorführung der Inszenierung am 17. November 1924 gesagt haben. Ein Verweis39 auf den Gegenwartsbezug der Čechov’schen Interpretation Hamlets fand sich auch in der Premierenkritik von Pavel Markov in der Pravda. Aus einer anderen Perspektive sah die Inszenierung von Shakespeares Tragödie am MChAT-2 der Apologet Michail Čechovs Anatolij Lunačarskij. Als hoher Kulturfunktionär, der die für sowjetische Theaterproduktionen geltende Richtlinie unterstützen musste, versuchte er in seinem Artikel das Stück und die Titelrolle, die weder realistisch und für das Massenpublikum leicht verständlich war noch die Zuschauer mit positiver Lebensenergie aufladen konnte, durch seine Interpretation zu legitimieren. »Das ist ein von Natur sehr nervöser Mensch«, schrieb Lunačarskij über Čechovs Hamlet. Er steht kurz vor einem Zusammenbruch, und deshalb können uns weder das Erscheinen des Geistes noch die Wörter wundern, die Hamlet vor sich hin rezitiert, als ob sie vom Geist gesprochen würden. Das Gespenst ist die Verkörperung seiner Vorahnungen. Er hat Halluzinationen, weil er nicht recht bei Sinnen ist. Er vergeht vor Kummer, weil sein Milieu seinen Anforderungen nicht gerecht wird, weil dieses Milieu ihn hinausstößt. 40

36 | Bljum, Arlen: Za kulisami ministerstva pravdy. St. Petersburg 1994, S. 162. 37 | Gorjaeva, 2002, S. 9. 38 | Čechov, Michail: Literaturnoje nasledie v dvuch tomach. Ob iskusstve aktëra. Bd. 2. Moskau 1986, S. 462. 39 | Markov, Pavel: »Hamlet. MChAT-2«, in: ders., Dnevnik teatral’nogo kritika, a.a.O., S. 194-196, hier: S. 195. 40 | Lunačarskij, Anatolij: Sobranije sočinenij. Bd. 3. Moskau 1964, S. 213.

Wenn die Flöte Hamlets kritisieren könnte

Lunačarskij brachte in seiner Rezension die Idee, die Čechovs Inszenierung zugrunde lag, treffend zum Ausdruck.41 Zum Ausgangspunkt des Regiekonzeptes wurde Hamlets Sentenz: »Die Zeit ist aus den Fugen«. Dieser Aphorismus traf das Lebensgefühl einer großen Zahl russischer Künstler und Intellektueller, die sich mit der nachrevolutionären Wirklichkeit nicht abfinden konnten oder wollten. Čechov-Hamlet war einer von ihnen, ein Mensch, »der eine Katastrophe erlebt hatte«42 . Čechov dachte Hamlet als eine programmatische Inszenierung in vielerlei Hinsicht. Mit dieser Arbeit wollte er mit Gordon Craig, bei dessen Hamlet-Inszenierung an Stanislavskijs Moskauer Künstlertheater er 1912 als Statist 43 verpflichtet war, in Dialog treten. Hatte Craig die Tragödie von Shakespeare als Monodrama des Titelhelden konzipiert, in dessen Verlauf die Zuschauer den Eindruck bekommen konnten, das Geschehen mit Hamlets Augen gesehen zu haben, so wurde Čechovs Hamlet zum Monodrama des Hauptdarstellers. Mit der Vorstellung von Shakespeares Tragödie, die am 20. November 1924 als Eröffnungspremiere des MChAT-2 gezeigt wurde, weihte Čechov die Zuschauer in sein Konzept eines neuen Theaters ein, in dem unter Einsatz der Ideen Rudolf Steiners44, vor allem dessen Eurythmie, eine neue Spieltechnik erprobt und weiterentwickelt werden sollte. »Die durchgehende Handlung«45 der Titelrolle wurde bereits zu Beginn der Proben in einem lapidaren Satz formuliert: Das ist »das Streben der Seele Hamlets nach dem Licht«46. Die Auffassung von Wirklichkeit, die Čechov und seine Mitstreiter in der Inszenierung zu reflektieren suchten, fand eine aussagekräftige visuelle Umsetzung im Bühnenbild und in den Kostümen der handelnden Personen. Der mit schwarzem Samt beschlagene Bühnenraum, in den die Strahlen der Scheinwerfer fielen, um aus der Dunkelheit die Körper der Agierenden und die knappen Requisiten, wie etwa einen Thron oder einen Stuhl, scharf umrissen hervortreten zu lassen, erinnerte an die düsteren Radierungen Goyas. Čechov teilte alle handelnden Personen der Tragödie »in Hamlets Freunde und seine Feinde«47. Zu seinen Freunden zählten Horatio, die höfischen Wachleute und die Schauspieler. Das Lager der Feinde bildeten der König, Polonius und die Hofleute. Ophelia spielte eine Doppelrolle. Sie gehörte zu Hamlets Freunden und 41 | Auch wenn im Programmheft zur Hamlet-Aufführung am MChAT-2 die Zugehörigkeit Michail Čechovs zum Regieteam, das aus Valentin Smyšljaev, Vladimr Tatarinov und Aleksandr Čeban bestand, keine Erwähnung fand, arbeitete er im Probenprozess sowohl am Gesamtkonzept der Inszenierung als auch an der Auslegung einzelner Rollen als Regisseur mit. 42 | Čechov, Michail: Literaturnoje nasledie v dvuch tomach. Ob iskusstve aktëra. Bd. 2. Moskau 1995, S. 378. 43 | Vgl. dazu Solov’ëva, Inna: Pervaja studija. Vtoroj MChAT. Iz praktiki teatral’nych idej XX veka. Moskau 2016, S. 370. 44 | Unter dem Einfluss der anthroposophischen Ideen Steiners führte Čechov während des Probenprozesses Meditationsübungen durch, um den Willen der Darsteller zu lenken und den Zugang zum Überbewusstsein zu finden. Vgl. Kesler, E. A. (Hg.): Hamlet na scene MChAT Vtorogo. Moskau 2017, S. 167. 45 | Vgl. dazu Stanislawski, Konstantin: Ausgewählte Schriften. Bd. 2: 1924 bis 1938. Berlin 1988, S. 399f. 46 | Čechov: Literaturnoje nasledie. Bd. 2, a.a.O., S. 381. 47 | Ebd., S. 380.

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stand ihm zugleich im Wege, weil sie die irdische Liebe verkörperte. Sie fesselte Hamlet an die Erde, deswegen musste er auf sie verzichten.48 Die Teilung der Personen in zwei Lager wurde effektvoll durch die Kostümzeichen und die Maske unterstützt. Alle Hofleute – rattenähnliche Menschen mit kahlen Köpfen in grauen, identischen Kostümen – wirkten auf das Auge wie eine widerliche graue Masse. Der Premierenrezensent, Anatolij Lunačarskij, erblickte auf der Bühne »Speichellecker und Schmarotzer«49, es war »die Welt der Niederträchtigkeit […], in welcher der eine den anderen belauscht […] und in welcher alle handelnden Personen einander bekämpfen«50. Interessant ist, wie Lunačarskij mit der Kritik, die in der Inszenierung deutlich zu spüren war, umgegangen ist. Ihm war bewusst, dass Čechovs Konzeption der Tragödie in einer Zeit, in der Individualität das Existenzrecht verloren hatte, für sowjetische Kritiker, die über »die Linie« wachen mussten, sehr problematisch sein würde. Deswegen bot er in seinem Artikel eine Deutung, die sich mit der für die Kritik geltenden Richtlinie vereinbaren ließ. »Er ist vollkommen einsam«, so Lunačarskij über Čechovs Hamlet. »Und deshalb wird sein Tod zum Tod eines wundervollen Einzelgängers […]. Ob wir heute diesen Tod eines […] überflüssigen Menschen […], ob wir diese Tragödie brauchen können? […] Ich denke mir, nicht. […] Bei uns gibt es keine solchen Menschen. […] Aber heute denkt man an fortschrittliche Intellektuelle wie etwa Barbusse oder den kürzlich verstorbenen A. France, welche sich in ihrer Heimat wie Hamlet fühlen sollen.«51 Hamlet gilt als eine der genialsten schauspielerischen Leistungen Michail Čechovs. Er spielte diese Rolle insgesamt 72-mal. Die letzte Vorstellung fand am 20. Juni 1928 statt, wenige Wochen vor seiner Emigration nach Deutschland.

48 | Ebd., S. 385. 49 | Lunačarskij: Sobranie sočinenij. Bd. 3, a.a.O., S. 212. 50 | Ebd. 51 | Ebd., S. 213.

Das Schauspiel der Kritik Wolf-Dieter Ernst

Der bekannte Schauspieler Thomas Thieme wird von der Kritik gefeiert und ist gut im Geschäft. Dennoch äußert er sich kritisch über die öffentliche Berichterstattung. Signifikant ist eine Szene aus dem Dokumentarfilm Molière. Eine Passion1. Sie spielt im Hörfunkstudio des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Die Moderatorin fragt ihn: »Mögen Sie das Theatertreffen?« Thieme schüttelt den Kopf. »Nö«, brummt er, »das interessiert mich eigentlich gar nicht.«2 Es sei eine Veranstaltung, in der Talente entdeckt werden, da müsse er als etablierter Schauspieler nicht mehr teilnehmen. Die Pointe ist natürlich, dass er gerade anlässlich des Theatertreffens ins Hörfunkstudio eingeladen wurde und seine Auffassung medial verbreiten kann. Ein Jenseits der medialen Berichterstattung gibt es also nicht, und daher ist sein Desinteresse am Theatertreffen, der medialen Plattform für das Sprechtheater schlechthin, natürlich mehr als zweideutig. Bei ausgeschaltetem Sendemikrofon hakt die Moderatorin bei Thieme noch einmal nach. Thieme, mit beiden Händen ein Brötchen zum Munde führend, erläutert: Wie gesagt, diese ganzen Treffen, Galas und Preise und so – das ist mir alles ein bisschen zu viel. Die Realität sieht schon ein bisschen anders aus. […] Als wären wir bei einer Olympiade, als wäre Kunst ein olympischer Wettbewerb. [Er legt das Brötchen auf den Tisch, reibt sich die Hände und steht auf, sich ereifernd, W.D.E.] Wer ist der Beste? Wer ist der … Wer ist denn der Beste? Marlon Brando ist wahrscheinlich der Beste, ja? So. Der kriegt alle Preise und dann haben wir den Zirkus nicht. Oder wie? Ist doch Quatsch – wer ist der Beste. 3

Es gibt also eine Berufsrealität, so könnte man daraus schließen, die mit der medialen Berichterstattung wenig zu tun hat, und es gibt eine Tendenz, virtuosen Leistungen mediale Aufmerksamkeit zu widmen, die man mit dem proletarischen 1 | Molière. Eine Passion von Luk Perceval nach einer Textvorlage von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel wurde 2007 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. 2 | Thieme in: Liebe ist! Der Schauspieler Thomas Thieme ist Molière. BRD 2008, R: Nikolai Eberth, Parrhesia Film und Hansen Film/ZDF Theaterkanal, 45’, TC 00:11:12-00:11:31. 3 | Ebd., TC 00:11:11-00:13:07.

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Gestus, zur Unzeit ein Brötchen zu essen, kontern kann. Während der mediale ›Zirkus‹ ›ein bisschen viel‹ sei, ist der Berufsalltag, so kann man dem Dokumentarfilm entnehmen, ein teilweise mühseliger und kräftezehrender sozialer Vorgang, in dem der Schauspieler gerade nicht jene bella figura macht, die in Interviews, Galas und Preisverleihungen verlangt wird. Er bleibt nicht diszipliniert vor dem Mikrofon sitzen, sondern nimmt sich den ganzen Raum. In der Schauspielerkritik kommen solche Momente allenfalls als Anekdote vor. Wenn die Theaterkritik sich einem einzelnen Schauspieler widmet, so rückt sie häufig, einer Marketingmaßnahme nicht unähnlich, die Privatperson ins Zentrum. Die Feier einzelner Namen folgt dabei immer auch klaren Verwertungsinteressen der jeweiligen Redaktionen und Herausgeber. Diese Kritik, egal ob sie sich affirmativ oder kritisch gibt, ist Teil eines journalistischen Aufmerksamkeitskalküls. Sie ist nicht wirklich kritisch in dem Sinne, dass sie die Bedingungen ihrer Möglichkeit reflektiert und daraus eine unbedingte Notwendigkeit ableitet, sich der genauen Beschreibung des künstlerischen Berufsalltags von Schauspielern in Reflexion äußerer Zwänge und an anderer Stelle getroffener Entscheidungen zu widmen. Die folgenden Ausführungen sind einer wissenschaftlichen Kritik dessen gewidmet, was man die journalistische Schauspielerkritik nennen kann. Sie gehen von der Annahme aus, dass zu wenig über den Vorgang des Schauspielens in der Berichterstattung ankommt, weil diese Berichterstattung selbst Züge einer Aufführung annimmt. Die hier zu entwickelnde Kritik erschöpft sich allerdings weder darin, eine Verstellung aufdecken zu wollen, wie es die Metapher vom ›Schauspiel der Kritik‹ nahelegt, noch darin, ein Jenseits der Inszenierungs- und Marketingmechanismen der Presselandschaft aufsuchen zu wollen, welches es nicht gibt. Leitend ist vielmehr die Überlegung, dass Schauspieler über implizites Wissen verfügen und dass Theaterkritikern dieses Wissen im Interview und im Angesicht der Aufführung auch phänomenologisch zuteilwird. Journalisten setzen sich der Arbeit des Schauspielers ja häufiger aus als andere Zuschauer. Es ist also davon auszugehen, dass sie mehr und kritischer zu berichten haben, als dies ihre Texte für gewöhnlich vermitteln. Allerdings verschreibt sich die Kritik häufig einer normativen Vorstellung von Theater, Rolle und Selbst. Statt einer Kritik des Schauspielers haben wir dann ein ›Schauspiel der Kritik‹, in der empfindsame Künstler, objektiv urteilende Journalisten und die anonyme Kollektivfigur ›Öffentlichkeit‹ auftreten. So allerdings übergeht die Kritik dabei komplett die Erfahrung und das Wissen, welche sich in der Aufführung vermitteln. Eine Kritik der Schauspielerkritik – sie ist wohl immer geboten, wird allerdings in jüngster Zeit drängend. 2008 eröffnet das Onlineportal nachtkritik, das sich dezidiert den Theaterdiskursen und den Leserkommentaren öffnet und so eine verlorene Debattenkultur zurückgewinnen möchte. Ein Jahr später erscheint Vasco Boenischs empirische Bestandsaufnahme der Theaterkritik.4 Ihr Tenor: Das Format der klassischen Theaterkritik hat gleichermaßen an Bedeutung und an Lesern verloren. Die wenigen Leser, die noch Theaterkritiken lesen, verwenden gemittelt

4 | Boenisch, Vasco: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten. Berlin 2008.

Das Schauspiel der Kritik

nur Minuten darauf – ein Weckruf für Theaterkritiker, ihre Formate und Vorstellungen über den Berufsstand ›Schauspieler‹ zu überdenken.5 Wenn allerdings Theaterkritiker nicht über die Begegnung mit Menschen auf der Bühne schreiben, weil ihnen möglicherweise Kategorien dafür fehlen, zu reflektieren, was Schauspieler tun – dann wird journalistische Kommunikation schwierig. Hier fehlt Wissen und Reflektion, und in diesem Sinne ist die Theaterwissenschaft aufgerufen, neue Perspektiven und Fragen in die Debatte zu werfen.

D er K ritiker im R ollenspiel Einer eingehenden und dialogischen Schauspielerkritik fehlt also eine kritische Reflexion der Bedingungen ihrer Möglichkeit. Historisch ist das diagnostizierte ›Schauspiel der Kritik‹ wohl zurückführen auf den Diskurs der Aufrichtigkeit, der das literarische Theater und die Idee des psychologisch-realistischen Verwandlungsschauspielers prägt. Günter Heeg spricht in diesem Zusammenhang von einem »Privattheater der Scham«6. In seiner psychoanalytischen Lesart von Rousseaus »Brief an d’Alembert über das Schauspiel« 7 zeigt er, wie der öffentliche Auftritt von Schauspielern zu dieser Zeit polarisierte, da er ein zügelloses Begehren zu wecken imstande war, welches vom männlichen Subjekt als bedrohlich empfunden wurde. Ein besonderes Skandalon stellte dabei die öffentlich sich präsentierende Schauspielerin dar, die in die Nähe zur Prostitution gerückt wurde, insofern sie echte Regungen von käuflichen ununterscheidbar machte. Heeg deutet nun Rousseaus Argumentation als Versuch des männlichen Subjekts, eine Sublimation jener zügellosen Begierden zu formulieren und – über den Akt des Schreibens – auch zu erreichen. Dazu muss das öffentlich erregte Begehren aber gleichsam kultiviert werden, und dies leistet seine Einhegung in die neu entstehende Sphäre einer bürgerlichen Privatheit. Erst im Privattheater der Scham kanalisiere sich das Begehren und könne ohne das Risiko öffentlichen Gesichtsverlusts des männlichen Subjekts wieder gelebt werden. Umkehrt müsste dem Theater und den Festen »unter freien Himmel« das Begehren ausgetrieben werden, damit das Vergnügen daran »weder verweiblicht noch kommerziell« 8 sei. Für unser Interesse an der Schauspielkritik ist das Privattheater immer dort wichtig, wo die Interviewsituation ein Jenseits, eine Art Homestory oder Echtheit andeutet und zugleich das Gegenüber naturalisiert und als unschuldig und sich seiner Wirkung nicht bewusst darstellt.

5 | Als Berufsstand wird über Schauspieler in der Kritik eigentlich gar nicht berichtet. Die Presse berichtet über, portraitiert oder lobt einzelne Vertreter dieses Berufsstandes und folgt dabei dem Arbeitsrecht, welches Schauspieler dem Normalvertrag solo zuordnet. Jeder Chor und jedes Orchester ist in der medialen Öffentlichkeit eher als Gruppe präsent als der Berufsstand der Schauspieler. 6 | Heeg, Günter: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./Basel 2000, S. 27ff. 7 | Rousseau, Jean-Jacques: »Brief an d’Alembert über das Schauspiel«, in: ders., Schriften. Bd. 1. München 1978, S. 333-474. Vgl. hierzu Heeg, 2000, S. 13-31. 8 | Ebd., S. 462.

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Essen gehen mit Steven Scharf – und ›Theater heute‹ zahlt? Da lässt man sich nicht zwei Mal bitten. Et voilà, da sitzen wir auch schon an einem heißen Juliabend im Oskar Maria, der zum Münchner Literaturhaus gehörenden Brasserie, deren Teller, wenn sie geleert sind, auf ihrem Boden Ausrufe und Sinnsprüche des bayerischen Schriftsteller-Urviechs Oskar Maria Graf zum Vorschein bringen. Zum Beispiel den hier, gleich nach der Vorspeise: ›Mehr Erotik, bitte!‹ Na bravo. 9

Solche Schilderungen einer Begegnung mit der ›Privatperson‹ sind keine Seltenheit, es wird Kaffee getrunken, gebummelt und der Alltag auf der Straße observiert. Immer weht ein Hauch von Privatheit, wird die Kritik, die ja eigentlich eine öffentliche Angelegenheit sein soll, zur ›persönlichen Begegnung‹ stilisiert und arbeitet sich dann daran ab, das öffentlich erregte Begehren irgendwie zu kultivieren. Die Besonderheit der Interviewkonstellation, hier ein sprachmächtiges Subjekt mit leitenden Fragen, dort ein scheinbar körperlich agierendes Subjekt mit geliehener Sprache, tut ihr Übriges, um eine eigenartige Privatheit, einen geradezu jovialen Ton zu evozieren. Wie Heeg herausstellt, wurde bürgerliche Zurückhaltung in der Affektdarstellung – im Unterschied zur der als spektakulär verurteilten Selbstdarstellung des Adels – immer dann eingefordert, wenn es galt, Schamgrenzen aufrechtzuerhalten. Dem bürgerlichen Theater kam dabei mithin die Rolle zu, krisenhaft erlebte Brüche in der Fassade, die Tragik eines Gesichtsverlusts durchzuspielen. Am Schauspieler bürgerlicher Prägung wurden diese Krisen sichtbar und geschlechtsspezifisch ausagiert. Die weibliche Unschuld, die öffentliche Frau, der männliche Charakterdarsteller – dies waren feste Rollenskripte des bürgerlichen Theaters und Kategorien seiner feuilletonistischen Kritik. Die theoretischen Reflexionen des Berufsstandes der Schauspieler von Ekhof über Lessing bis hin zu Schiller und Goethe10 machen deutlich, dass der Schauspieler immer auch in seiner bürgerlichen Rollenintegrität betrachtet wurde. Es sind dies Frühformen des Authentizitäts- und 9 | Dössel, Christine: »In diesem Körper wohnt ein gefühliges Herz. Am Ende seiner persönlichen Top-Saison wird der Münchner Kammerspieler Steven Scharf Schauspieler des Jahres«, in: Theater heute, Jahrbuch 2013, S. 108-112, hier: S. 109. 10 | Zu denken wäre etwa an Conrad Ekhofs Erziehungsmaxime, der Schauspieler möge Vorbild des rechtschaffenen Mannes sein, die sich in den von ihm formulierten Regularien der von ihm ins Leben gerufenen Schauspielakademie abbildet. So verpflichtet Artikel 11 die Mitglieder der Akademie unter Androhung von »scharfer Strafe« darauf, den »PrivatHaß, Sticheleyen oder wohl gar Heftigkeiten und pöbelhafte Ausdrücke« (Ekhof zitiert nach Kindermann, Heinz: Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie. Wien 1956, S. 12) zu vermeiden. Lessings Hamburgische Dramaturgie entfaltet die Anthropologie des Schauspielers ausgehend von der Überlegung, dass der Schauspieler der moralischen Aussage des Stücks verpflichtet sei und dass das »Theater die Schule der moralischen Welt sein soll« (Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie [= Lessings Werke, Bd. 5]. Hg. v. Julius Petersen. Berlin 1925, S. 31). Damit ist eine ähnliche Markierung einer bürgerlichen Privatsphäre vorgenommen, hinter deren Fassade das Virtuose, Feurige, Maßlose versteckt werden muss, wie im Dilettantismus-Projekt von Goethe und Schiller, in welchem eine Grenzziehung zwischen Kunst und populärem Kunsthandwerk vorgenommen wird und nicht umsonst dem Laienspiel der größte Schaden attestiert wird, denn dies sei »Nahrung aller gehässigen Passionen, von den schlimmsten Folgen für die bürgerliche und häusliche Existenz« (Goethe,

Das Schauspiel der Kritik

Aufrichtigkeitsgebots heutiger Prägung, die in den Theater-Journalen des 18. Jahrhunderts die Abhandlungen um den bürgerlichen Schauspieler und seine Vorbildfunktion prägten. Auf diese Vorformen einer der Moral der Menschendarstellung verpflichteten Theaterkritik baut auch die feuilletonistische Theaterrezension auf, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt und freilich ungleich aktueller und pointierter verfasst sein musste als etwa noch die literarische Kritik eines Theodor Fontane, die auf gründliche Stücklektüre, Sichtung der Aufführung und Reflexion beruhte.

S chauspielerkritik als E ntl arvung ? Inwieweit der bürgerliche Theaterbegriff der aktuellen Theaterkritik inhärent ist, wäre Aufgabe einer umfassenden Analyse. Auffallend ist jedoch, dass dort, wo vom Schauspieler die Rede ist, also vor allem in den Schauspielportraits11 der Zeitschriften Theater Heute und Theater der Zeit, immer noch unreflektiert von der Entlarvung des Selbst, des Privaten im Sinne eines bürgerlichen Protagonisten- und Literaturtheaters gesprochen wird. Diese Medieninszenierung funktioniert kurz gesagt so: Während Schauspieler als private Persona auftreten, erscheint die Theaterkritik in diesem Spiel als objektiver Kunstrichter und Berichterstatter. Das Rollenspiel suggeriert, dass Kritiker im Dialog mit dem Schauspieler kein spezifisches Gesicht haben; sie bleiben im Dunkeln des Auditoriums und können – einem Detektiv gleich – das Private des Schauspielers entlarven. Ihnen ist es etwa versagt, sich bei der Probe oder in der Kantine umzusehen oder gar eigene Spielerfahrungen und deren leibliche Dimension in die journalistische Arbeit einfließen zu lassen. Dabei entspricht diese Persona gar nicht mehr der Lesererwartung. So berichtet etwa Boenisch, dass seitens der Leser in der Theaterkritik mehr »informative Elemente« gewünscht seien, »sogar zum Probenprozess (was die Rezensenten nach jetzigem Berufsverständnis gar nicht leisten können)«12 . Jochen Behle fragt in einem Kommentar auf Nachtkritik:

Johann Wolfgang: »Über den sogenannten Dilettantismus«, in: ders., Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 44. Stuttgart/Tübingen 1833, S. 284). 11 | In lockerer Reihe wird dieses Format gepflegt. Es sind sämtlich positive Kritiken, nicht selten Würdigungen, versehen mit einem biographischen Abriss und einer Schilderung der Interviewsituation als wiederkehrende Textpassagen. Für diesen Artikel wurden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der in beiden Zeitschriften erschienenen Portraits des Jahres 2013 ausgewertet. Neben den zitierten Passagen waren dies: Boenisch, Vasco: »Doppelgeschöpf, weiblich. Mit Sandra Hüller, der Schauspielerin des Jahres, unterwegs auf der Münchner Maximilianstraße«, in: Theater heute, Jahrbuch 2013, S. 100-106; Decker, Gunnar: »Popstar zerbrochen. Der Schauspieler Christian Friedel zeigt Hamlet in der jugendlichen Orientierungslosigkeit seiner Generation«, in: Theater der Zeit, März 2013, S. 12-16; Leibold, Christoph: »Nüchterner Rausch. Warum tiefstapeln? Dem Münchner Schauspieler Steven Scharf geht es um alles«, in: Theater der Zeit, April 2013, S. 11-15; ders.: »Wölfin im Schafspelz. Nichts ist ungeheurer als der Mensch: die Schauspielerin Constanze Becker«, in: Theater der Zeit, Mai 2013, S. 4-6. 12 | Boenisch, 2008, S. 211.

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Liebe Nachtkritik-Kritiker, welches ernsthafte Argument gibt es eigentlich dafür, dass Theaterkritiker nie praktisch am Theater gearbeitet haben müssen? Haben nicht sogar die ›Kicker‹-Redakteure irgendwann in ihrem Leben selber auf dem Platz gestanden, und wenn es für die Kneipenmannschaft war? Nach welchen Kriterien werden junge Kritiker ausgewählt?13

Das Verdikt der »Selbstinszenierung« ereilt einen Theaterkritiker, wenn eigene Vorlieben oder eigenes Wissen die objektive Berichterstattung einfärben. Gar von »Denunziation«14 spricht Wieland Freund von Die Welt, die seine Kritiken mitunter bewirkten, und begibt sich damit in die Rolle des unerkannt operierenden Spitzels. Denunziation und Selbstinszenierung, das Aufdecken und Vortäuschen, dies sind Wortbilder, die deutlich auf das Privattheater der Scham verweisen. Man erkennt, dass die Persona des Theaterkritikers und des damit verknüpften Objektivitätsanspruchs aufwändig hergestellt werden muss. Aus dieser pseudo-objektiven Position heraus kann schwerlich das Spiel der Schauspieler als lustvolle Tätigkeit erscheinen, und sei es das Bedürfnis, ostentativ in ein Brötchen zu beißen. Lustvoll ist vielmehr, sich dem eigenen Begehren und dem Begehren des anderen zu versagen, bis endlich ein Moment der Schwäche zugelassen werden kann. Ein Erröten auf Grund eines anzüglichen Sinnspruchs etwa. Oder wenn etwa Simone Meier ihrer lustvollen Entdeckung Ausdruck verleiht, als die portraitierte Carolin Conrad darauf zu sprechen kommt, dass sich im Probenprozess eine Nähe zu einem Spielpartner entwickelte: »Endlich gesteht’s mal einer! Was man sich schon immer gedacht hat! Dass Theater eine zutiefst libidinöse Angelegenheit ist!«15 Es gibt bei nicht wenigen Theaterkritikern offensichtlich eine sehr enge Vorstellung davon, was einen Schauspieler ausmacht. Dass sich das Selbstverständnis der Profession wandelt und immer einem Wandel unterlag, tritt dabei häufig hinter eine normative Vorstellung vom Schauspieler als Verwandlungskünstler zurück.

J enseits des P rivat the aters Abschließend möchte ich daher der Schauspielerkritik zwei neue, wenn schon nicht Grundlagen (ihre Krise hat auch theaterferne Gründe), so doch Perspektiven weisen: die des impliziten Wissens des Schauspielers und die der Phänomenologie der Schauspielerkritik. In diesem Zusammenhang sind jene Stellen interessant, wo es um die Zusammenarbeit geht, denn implizites Wissen zeigt sich ja im Gegensatz zum expliziten 13 | »Betrachtungen eines Quereinsteigers: vor allem verräterisch.« Nachtkritik, Berlin, 8. Sept. 2016. http://testbereich25.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=ar​ ticle&id=12865&catid=53&Itemid=83 vom 27. Feb. 2018. 14 | »Aus eigener Erfahrung weiß ich […], dass Regisseure und Dramaturgen Theaterkritiken lesen, aber offensichtlich nicht bereit sind, oder zumindest nicht alle, dialogisch mit ihnen umzugehen. Es endet oft in der Denunziation. Man erreicht entweder, dass sich ein Theatermacher freut oder ärgert. Das er sich ändert, halte ich für Quatsch« (Freund zitiert in: Boenisch, 2008, S. 120). 15 | Meier, Simone: »›Wie kann ich noch nasser werden?‹ Ein riesengroßes, neugieriges ›Ich will‹ treibt Carolin Conrad – zur Zeit vor allem am Zürcher Schauspielhaus«, in: Theater heute, April 2013, S. 46-49, hier: S. 49.

Das Schauspiel der Kritik

Wissen nur in der Interaktion, im konkreten Vollzug einer Handlung. Peter Michalzik etwa berichtet zu Bettina Hoppes Arbeit mit Oliver Reese von Problemen in der Zusammenarbeit: »Er sagt, sie habe nicht akzeptieren können, dass das Publikum für Hamlet Horatio sein sollte. Sie sagt, er habe nicht von einer schwarzen Perücke für sie lassen können.«16 Hier bekommt man als Leser eine Ahnung, dass um bestimmte Positionen in der Arbeit gerungen wird und dass Regisseur und Schauspielerin offensichtlich sehr verschiedene Grenzen ihrer Interpretation der Szene setzten: Perücke versus Textsendung. Silvia Stammen berichtet, was Thomas Schmauser über das Ende der Zusammenarbeit mit einem Regisseur erzählt: »›Ich bin ausgestiegen, bestimmt schon viermal‹, gibt er zu, ›aber da bilde ich mir nichts drauf ein. Ich wäre sonst krank geworden. Manche Themen sind mir einfach unmöglich zu bearbeiten, wenn man sich nicht total vertraut.‹«17 Eine schöne Passage, in der die soziale Atmosphäre und die psycho-somatische Disposition der täglichen Arbeit anklingen. Wie sich allerdings Vertrauen verbraucht und welches Wissen in die Entscheidung Schmausers einging – darüber erfährt man nichts. Auch Meiers Passage über die libidinöse Angelegenheit Theater entbehrt nicht einer Referenz auf die Qualität der Zusammenarbeit, wenn es dort weiter heißt: Es geht ja halt irgendwie nicht anders, es gibt ja auch Halt, diese kleinen, temporären Lieben, nur einmal, sagt Carolin Conrad, hätte sie niemanden gefunden, in den sie sich hätte verlieben können, aber da wäre noch eine sehr süße Freud-Puppe mit im Spiel gewesen, und dann hätte sie ihre nötige Portion Verliebtheit eben auf die Puppe gelenkt.18

Wir erfahren also, dass es in der Theaterarbeit darum geht, mit als privat gerahmten Emotionen (Verliebtheit) umzugehen und diese zu lenken – auf Mitspieler oder Puppen. Schön wäre allerdings zu wissen, in welchen Prozessen diese affektive Arbeit eingebettet war und wie die affektive Arbeit die Qualität des Begehrens im Proben- und Aufführungsverlauf wandelte. Das plötzliche Ausbleiben des Affekts ist ja immer die Kehrseite jener wunderbaren Aufwallung der Emotionen, die als Verliebtheit beschrieben wird.19 Konkret gefragt: Wo stand etwa die Puppe, wie sah sie aus und wie hat sich die Schauspielerin schließlich dafür entschieden, in dieser Arbeit eine libidinöse Bindung eher mit einer Puppe als einem Kollegen einzugehen? Wie lange dauerte die Beziehung an? Was wurde aus der Puppe im Verlauf der Produktion? Es bedarf also eines spezifischeren Interesses an der affektiven und praktischen Natur kreativer Prozesse und einer genaueren Beschreibung dessen, was Schauspieler tun und in welchen Situationen sie künstlerische Entscheidungen treffen, um von dort zu einem möglichen impliziten Wissen zu gelangen. Für diesen Zu16 | Michalzik, Peter: »Die Eigendenkerin. Bettina Hoppe lässt am Schauspiel Frankfurt ihre Figuren intensiv über sich und die Welt reflektieren – ob als solistischer Chor in ›Medea‹, als Elisabeth Fritzl oder als ›Die Frau, die gegen Türen rannte‹«, in: Theater heute, Mai 2013, S. 18-21, hier: S. 19. 17 | Stammen, Silvia: »Absolute Gegenwart. Im Theater sucht Thomas Schmauser den Moment statt einer Figur – ein Portrait«, in: Theater Heute, Januar 2013, S. 36-41, hier: S. 39. 18 | Meier, 2013, S. 49. 19 | Vgl. zur affektiven Arbeit der Über- und Unterbietung einer Rollenfigur Ernst, Wolf-Dieter: Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters. Berlin 2012.

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gang zur Tätigkeit des Schauspielers ist es notwendig, sich über die Verabredung hinwegzusetzen, der Kritiker müsse aus dem Dunkeln des Premierenabends gleichsam von der Verführung und Überraschung durch den Schauspieler Zeugnis ablegen. Hier wird eine Objektivität der Journalistenrolle behauptet, die weder im Alltag aufrechtzuerhalten sein wird noch von dem spezifischen Lesepublikum auch erwartet wird. Erwartet wird eher, sich für die Arbeit und die Arbeitsbedingungen des Schauspielers wie für die jeder anderen portraitierten Berufsgruppe zu interessieren und wenn nötig dazu auch einmal länger auf Proben anwesend zu sein. Eine ausführliche Beschreibung dessen, was Schauspieler tatsächlich auf der Bühne tun, findet sich denn auch in einem Artikel, der deutlich davon geprägt ist, dass die Autorin auf den Proben anwesend war: Am Ende von ›Three Kingdoms‹ zwängt sich Risto Kübar durch einen extrem schmalen Schlitz, durch den außer ihm niemand hindurchzupassen scheint, auf die Bühne. Er kniet sich vor einen Tisch und macht seinem Gegenüber, dem am Ende seiner Reise durch Europa all seiner Gewissheiten beraubten, britischen Detective Stone, einen Vorschlag: ›I learned Origami since I was three. So I’m trying to do a swan with you. I go first and then you do.‹ Er teilt sich und ihm jeweils ein leeres, weißes Papier zu, nimmt das Papier in eine Hand, zerknüllt es, legt es zurück auf den Tisch, als sei es ein großes Kunstwerk. Als sein Gegenüber es genauso macht, sagt er nur: ›No, that’s not it.‹ […] Zwei Tage vor der Uraufführung [von Three Kingdoms, Regie: Sebastian Nübling, W.D.E.] waren alle verzweifelt auf der Suche nach einem Schluss, es wurde ausprobiert, diskutiert, verhandelt und verworfen. Risto Kübar redet nicht gern auf Proben. Und so hat er seinen Vorschlag einfach getan, unangekündigt und ebenso überraschend wie in seiner Schlichtheit zwingend. 20

Man sieht die Szene gleichsam vor Augen, so anschaulich wird hier der Vorgang beschrieben. Man erfährt von der Ko-Autorschaft des Schauspielers, der den entscheidenden Schluss, die Origami-Szene, erfindet, und man erfährt als Pointe dieser Probenanekdote von der Zufälligkeit und Performanz, mit der szenische Findungen erfolgen. Die Beschreibung stammt von Julia Lochte, der Dramaturgin dieser Produktion. Leichterdings könnte man Lochte mangelnde Objektivität vorhalten, schließlich verantwortet sie das Kritisierte mit. Böse Zungen würden gar Unzulänglichkeiten des Regiekonzeptes und der Dramaturgie vermuten; sie und Nübling seien wohl unfähig, den Schauspielern einen anständigen Schluss zu bauen. Lochtes Text aber erzählt davon, dass das Produktionsteam, sie eingeschlossen, kurz vor der Premiere der Verzweiflung nahe war. Denn sie geht davon aus, dass die Krise und das Nicht-Wissen impliziter Teil einer Theaterproduktion sind und dass nicht erst der begehrende Blick von außen eine Kritik trägt. Vielmehr hat jeder Beteiligte eine mehr oder weniger kritische Haltung zu dem, was geprobt wird. Sonst würde ja nicht diskutiert, verworfen und gezweifelt. Anders denn implizit kritisch wäre gar nicht erklärlich, dass Kübars Angebot in der Weise unterbreitet und dann auch in das Stück übernommen wurde. Denn Kübar ist als Schauspieler nicht der 20 | Lochte, Julia: »Some kind of a different world. Der estnische Schauspieler Risto Kübar schweigt gerne und faltet Papier. Aber er kann auch anders«, in: Theater heute, Jahrbuch 2013, S. 114-117, hier: S. 115.

Das Schauspiel der Kritik

Diener des Textes, er ist Performer mit einer eigenen Haltung zum Dargestellten. Lochtes Text reflektiert phänomenologisch, warum die Distanz zur Bühne ein aufs andere Mal, etwa durch ein Schweigen, eine plötzliche Intervention Kübars, sehr produktiv gestört wird. Es gilt also, und dies ist der zweite Punkt, die phänomenologische Dimension der eigenen Profession selbst zu durchdringen. Auch hier lässt sich in einigen Kritiken ein Umdenken konstatieren. Etwa in der Passage von Dorte Lena Eilers über Philipp Hochmair: Philipp Hochmair als Werther mit so glühendem Ernst, wie nur die erste Liebe ernst glühen kann. Nackter Oberkörper vor Mikro, Lou Reeds ›Perfect Day‹ aus den Boxen. Ich sitze im Thalia Theater, umzingelt von Abiturientinnen, und habe das seltsame Gefühl, wie ich so zuschaue und Notizen mache, es könnte aussehen, als schriebe ich in mein Tagebuch. ›Liebes Tagebuch, heute habe ich Philipp Hochmair als Werther gesehen. Kreisch!‹ 21

Was passiert hier? Die Kritikerin tritt temporär aus ihrer professionellen Rolle heraus, wird in den Augen der Abiturientinnen selbst zu einer tagebuchschreibenden Pennälerin, die damit kämpft, kreischen zu müssen ob der Schwärmerei angesichts des cool drapierten Schauspieler-Körpers. Diese Rückführung einer Theatererfahrung auf eine erste Schwärmerei für jemand Unerreichbaren, zudem diese Erfahrung, ein unsägliches Tableau abgeben zu müssen, würde tatsächlich das gesamte Portrait Hochmairs tragen können. Wir könnten viel über das Phänomen ›Star‹ und die Arten des Schwärmens als eine Aktivität der Rezipienten erfahren. Diese Rückbesinnung auf eine ältere Erfahrung könnte zudem den häufig in Schauspielerportraits gemachten Hinweis auf die immer bereits medial verfasste Persona des Stars durchkreuzen. Dazu allerdings müsste die Autorin das Risiko eingehen, nicht mehr zum distanzierenden und berichtenden Format der Kritik zurückkehren zu wollen, sondern tatsächlich so lange über die Störung dieser Distanz berichten, bis für den Leser etwas allgemein Verbindliches und Berichtenswertes daraus entsteht. Das wäre eine notwendige Kritik, die sich aus einem Widerstand ihres Materials speist und die geeignet wäre, das Rollenkorsett des Theaterkritikers zu sprengen. Möglicherweise wäre das Interview mit Hochmair, der Fall Hochmair mit seiner Biographie und seinen Rollen, dann der Anlass zu einem ganz anderen und sehr spezifischen Text über einen bestimmten Moment der Schauspielerwahrnehmung.

F a zit Sicherlich war das Verhältnis von Schauspielerstar und Großkritiker niemals unkompliziert oder frei von macht- und geschlechtsspezifischen Antrieben. Die krisenhafte Zunahme von Verteilungskämpfen und der Wandel des Berufsbildes ›Schauspieler‹ bietet allerdings auch Chancen für die Theaterkritik. Die hier skizzierten Wege aus dem Verabredungstheater der Schauspielerkritik sind zugegeben riskant. Der Verwertungsdruck in den Redaktionen ist hoch. Gesellschafts- und 21 | Eilers, Dorte Lena: »Late-Night-Solo. Ein Mann, alle Rollen – Der Schauspieler Philipp Hochmair«, in: Theater der Zeit, November 2013, S. 14-17, hier: S. 15.

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kulturkritische Debatten, wie etwa die Netzkritik, die Überwachung, die Menschenrechte, drängen aus dem gesellschaftspolitischen Teil ins überregionale Feuilleton. Das Verschwinden etablierter journalistischer Formate und des Qualitätsjournalismus folgt ganz anderen Parametern als jenen des impliziten Wissens und der Phänomenologie der Theaterkritik. Theaterwissenschaftlich allerdings haben diese beiden Paradigmenwechsel hin zur Wissensgeschichte und Phänomenologie des Schauspielers zu einer Fülle gut zugänglicher Fachliteratur geführt, die zu ignorieren auch keine Lösung sein kann. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, wenn Journalisten, jene treuen Chronisten des laufenden Theaterbetriebs, neue Formen der Kritik ersännen.

Kritik des Dispositivs des Theaters in Vergangenheit und Gegenwart

Übersetzung und Kritik Shakespeare, Voltaire, Lessing Martina Groß

In seinen Lettres philosophiques bezeichnet Voltaire Shakespeare als Genie, als den Corneille der Engländer, dem allerdings jeder Funke guten Geschmacks, jegliche Kenntnis von Regeln fehle.1 Dieses Urteil bekräftigt der Theaterautor mit einem Verweis auf die Unmöglichkeit, Shakespeares Dichtung angemessen ins Französische zu übertragen. Seinen Versuch, den Othello, wie Shakespeares Theater überhaupt, zu übersetzen, beschreibt er als notwendiges Scheitern, aus dem er jedoch die Tragödie Zaïre entwickelt.2 Während sich bei Voltaire hier also die Aufgabe des Übersetzers im Sinne einer Kapitulation vor der Übersetzung zeigt,3 steht Lessings Beschäftigung mit den beiden genannten Stücken von Beginn an im Zeichen der Theaterkritik. Davon zeugt nicht nur sein Eintrag in der Hamburgischen Dramaturgie, sondern vor allem die Entwicklung des Nathan. Lessings Auseinandersetzung mit Shakespeare und Voltaire ist gleichermaßen eine kritische Betrachtung des englischen und französischen Theaters.4 Lässt sich also Shakespeares Othello (entstanden 1603/1604) als stoffliche Grundlage von Voltaires 1732 aufgeführter Zaïre fassen, gilt dies gleichermaßen für die Übertragung der Vorfabel von Zaïre in Lessings Nathan der Weise von

1 | Voltaire, François-Marie Arouet de: Lettres philosophiques. Hg. v. Félix Guirand u. komm. v. Jean-Pol Caput. Paris 1972, S. 100. Zuerst erschienen 1733 in London unter dem Titel Letters Concerning the English Nation; für die deutsche Übersetzung siehe Voltaire: Briefe aus England. Übers. u. m. e. Nachw. versehen v. Rudolf Bitter. Zürich 1994, S. 116. 2 | Ebd., S. 116-122, sowie Arndt, Richard: Zur Entstehung von Voltaire’s »Zaïre«. Marburg (Diss.) 1906. 3 | Vgl. hierzu Benjamin, Walter: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. IV-1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 9-21, sowie de Man, Paul: »Schlußfolgerungen: Walter Benjamins ›Die Aufgabe des Übersetzers‹«, in: Alfred Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a.M. 1997, S. 182-228. 4 | Vgl. hierzu Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Hg. u. komm. v. Klaus L. Berghahn. Stuttgart 1981, und ders.: Werke und Briefe. Hg. v. Wilfried Barner et al. Bd. 4: Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759-1765/66). Berlin 2014.

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1779.5 Eine vergleichende Betrachtung der Stücke bzw. ihrer Genese kann jedoch nicht allein die implizite Kritik an den jeweiligen Theatermodellen verdeutlichen, sondern in der Verbindung von Stoff, Übersetzung und Kritik die europäische Theaterentwicklung an diesem Beispiel konkretisieren helfen.

V oltaire und S hakespe are – O thello und Z aïre Voltaire galt nicht nur in seiner eigenen Einschätzung als der Autor, der Shakespeare auf dem europäischen Festland bekannt machte. Selbst die größten Kritiker des streitbaren Aufklärers gestehen ihm dieses Verdienst zu.6 Obgleich er selbst dem Erfolg des englischen Dramatikers in Europa Vorschub leistete, wandelte sich Voltaires Einstellung zu Shakespeare im Verlauf seines Lebens zunehmend in Ablehnung.7 Die Begegnung mit Shakespeares Theater stellte die Grundlagen Voltaires eigenen dramatischen Schaffens in Frage. Im Ton der Erschütterung berichtet er über die »monstres brillants de Shakespeare« 8 und anerkennt zugleich dessen schöpferischen Geist: »Il crea le théâtre«9, heißt es im 18. Brief seiner Lettres philosophiques, den er der Tragödie widmet und in dem er sich erstmals eingehend mit Shakespeares Theater auseinandersetzt. Die hierin getroffenen Äußerungen über Shakespeare lassen insgesamt eine Bewunderung erkennen, die für Voltaire (und für viele seiner Zeitgenossen) keinesfalls selbstverständlich war, hielt er doch an den regelpoetischen Vorgaben der französischen Klassik und ebenso an Racine und Corneille in ihrer Vorbildfunktion fest.10 In Anlehnung an die bis dato vorhandenen Kenntnisse über Shakespeare und die vorherrschende Kritik am englischen Theater wendet sich Voltaire an die Leser seiner Philosophischen Briefe: Sicherlich beklagen Sie es, daß jene, die Ihnen bisher vom englischen Theater erzählt haben und vor allem vom berühmten Shakespeare, Ihnen bislang nur die Fehler gezeigt haben und 5 | Vgl. Marseille, Gustav: »Die Urbilder der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen« [1904], in: Carsten Gansel/Birka Sywczyk (Hg.), Gotthold Ephraim Lessings ›Emilia Galotti‹ im Kulturraum Schule (1830-1914). Göttingen 2015, S. 293-316. 6 | Vgl. etwa Greiner, Norbert/Sprang, Felix C. H.: »Europäische Shakespeare-Übersetzungen im 18. Jahrhundert: Von der Apologie zum ästhetischen Programm«, in: Harald Kittel et al. (Hg.), Übersetzung, Translation, Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Berlin/Boston 2011, S. 2454. 7 | Voltaires Äußerungen über Shakespeare und die Dichotomie seiner Bewertung finden sich umfassend dokumentiert in Besterman, Theodore (Hg.): Voltaire on Shakespeare (= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 54). Genf 1967. 8 | Voltaire, 1972, S. 104 (für die deutsche Übersetzung siehe Voltaire, 1994, S. 121: »Die brillanten Ungetüme Shakespeares«). 9 | Ebd., S. 100 (für die deutsche Übersetzung siehe Voltaire, 1994, S. 116: »Er schuf das Theater.«). 10 | Vgl. zu diesem Aspekt Finke, Susanne: Voltaire – ein Klassizist? Die tragödientheoretische Position des Aufklärers. Hamburg 2002, S. 227f., und Groß, Martina: Querelle, Begräbnis, Wiederkehr. Alain-René Lesage, der Markt und das Theater. Heidelberg 2016, S. 196-198.

Überset zung und Kritik

daß niemand auch nur eine dieser schlagenden Stellen übersetzt hat, die Nachsicht für alle seine Fehler fordern. Ich antworte Ihnen, daß es wohl einfacher ist, über die Fehler eines Dichters zu berichten, aber sehr schwierig seine schönen Verse zu übersetzen.11

Voltaire versucht sich an einer Übersetzung des Hamlet-Monologs. Die alleinige Übersetzung eines Ausschnitts gründet in seiner Theaterauffassung, die in formaler Hinsicht eine epigonale Fortführung des Theaters der französischen Klassik war. So hält er lediglich »losgelöste […] Abschnitte«12 für übersetzbar, da diese »erstaunliche Lichtblicke inmitten der Dunkelheit« teilweise »barbarischer Stücke […] ohne jede Schicklichkeit, Ordnung und Wahrscheinlichkeit«13 darstellen. Dieser Versuch bot Anlass für eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen mit Shakespeare-Übersetzungen ins Französische wie im Übrigen auch ins Deutsche. Zunächst von Wieland durchaus honoriert, wurden in der Folge vor allem aber durch Schlegel und die romantische Übersetzungstradition Voltaires ShakespeareKommentare und Übersetzungen kritisch diskutiert.14 Hervorheben möchte ich an dieser Stelle allerdings Voltaires eigene Stellungnahme zu seiner ShakespeareÜbersetzung, die zugleich Einblick in seine Auffassung von Übersetzung gibt und im Folgenden die Entwicklung der Zaïre zu konkretisieren hilft. Voltaire führt am Ende seiner sehr freien Übersetzung des Hamlet-Monologs an: »Glauben Sie nicht, ich hätte hier das Englische wortwörtlich übertragen; Schande den Verfertigern wortwörtlicher Übersetzungen, die dabei nur den Sinn abtöten! Da kann man wohl sagen, daß der Buchstabe tötet und der Sinn belebt.«15 Jürgen von Stackelberg hat gezeigt, wie frei Voltaire Shakespeares Hamlet-Monolog tatsächlich übersetzt hat. Die Unterschiede der beiden Fassungen sind augenfällig: 33 englischen Blankversen stehen 24 französische paarweise gereimte Alexandriner gegenüber, und Shakespeares bildhafte, zuweilen von umgangssprachlichen Äußerungen durchzogene Sprache wird von Voltaire zugunsten des französischen Stils angepasst.16 11 | Voltaire, 1994, S. 117f. 12 | Ebd., S. 120. 13 | Ebd. 14 | Vgl. hierzu Wielands Briefwechsel, hg. von Hans-Werner Seiffert im Auftrag der Berliner Akademie der Wissenschaften, Bd. 1: Briefe der Bildungsjahre (1. Juni 1750 – 2. Juni 1760). Berlin 1963, S. 336ff., sowie zu Schlegels Einschätzung der Voltaire’schen ShakespeareÜbersetzungen Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (= Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, 17). Hg. v. Jakob Minor. Zweiter Teil (1802-1803): Geschichte der klassischen Literatur. Heilbronn 1884, S. 229 u. 389. 15 | Voltaire, 1994, S. 119. Hinzuzufügen bleibt, dass Voltaire später und in einem anderen Zusammenhang sehr wohl eine sog. Interlinearübersetzung des Hamlet-Monologs anfertigt. Vgl. Voltaire, François-Marie Arouet de: »Appel à toutes les nations de l’Europe«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. 24. Hg. v. Louis Moland. Paris 1879 (Nachdr. Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 191-221. 16 | Vgl. Stackelberg, Jürgen von: »Voltaire traducteur. Les ›belles infidèles‹ dans les ›Lettres Philosophiques‹«, in: Christiane Mervaud/Sylvain Menant (Hg.), Le Siècle de Voltaire. Hommage à René Pomeau. Oxford 1987, S. 881-892, und darüber hinaus Golawski-Braungart, Jutta: »Shakespeare via Voltaire. Voltaires Brief Sur la tragédie in den Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750)«, in: Helmut Berthold (Hg.), ›ihrem Originale

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Nach Voltaire zeigt eine Übersetzung angesichts des Originals nur »den schwachen Abdruck eines schönen Bildes«17, wobei er hierfür die Begriffe Kopie und Vorlage wählt, die im allgemeinen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts für Original und Übersetzung durchaus geläufig waren. Insgesamt sind zu dieser Zeit die Grenzen zwischen dem, was wir heute als Übersetzung im engeren Sinne verstehen, und einer Übertragung im weiteren Sinne fließend. Dies gilt insbesondere für das sogenannte zielsprachenorientierte Übersetzen, welches in erster Linie die eigene Sprache und Literatur durch die Übertragung fremdsprachlicher Texte und Stoffe bereichern sollte.18 Auch Voltaire reiht sich mit seiner Auffassung in diese Tendenz ein. Eine Besonderheit stellt bei ihm der erwähnte Formal-Klassizismus dar, der ihn an den Vorgaben der französischen Klassik festhalten ließ, während er inhaltlich durchaus den Wunsch nach Erneuerung des französischen Theaters im Sinne aufklärerischer Bestrebungen teilte.19 Dieser Widerspruch zwischen formalem und inhaltlichem Bestreben findet sich auch in Voltaires Urteil über Shakespeares Othello. Diesen findet er ergreifend, obwohl das Werk den Geboten der vraisemblance und der bienséance, also der Wahrscheinlichkeit und der Wohlanständigkeit, zuwiderläuft: »Sie wissen, daß in der Tragödie vom Mohr von Venedig, ein sehr ergreifendes Stück, ein Mann seine Frau auf der Bühne erwürgt, und während die arme Frau erwürgt wird, schreit sie, daß sie ganz zu Unrecht stirbt.«20 Stellt Voltaire angesichts der sprachlichen Verfasstheit Shakespeares Othello, seiner Stil- und Regellosigkeit, mit Blick auf das französische Theater die Unmöglichkeit einer Übersetzung fest, gibt es für ihn jedoch gute Gründe, den Stoff zu übertragen. Zum einen wollte er den Mangel an Lebhaftigkeit, der dem regelmäßigen französischen Theater wegen der Forderung nach Schicklichkeit und Affektdämpfung anhaftete,21 durch Shakespeares lebhafte Bühnenhandlung ausgleichen.22 Zum anderen fasziniert Voltaire das ergreifende Liebesmotiv, welches er in Othello findet. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde seitens des Publikums der Ruf nach einer Thematisierung bzw. Darstellung

nachzudenken‹. Zu Lessings Übersetzungen (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 31). Tübingen 2008, S. 115-127. 17 | Voltaire, 1994, S. 118. 18 | Einen theoretisch fundierten Überblick zu den zwei sich seit der Frühen Neuzeit scheinbar konträr gegenüberstehenden Auffassungen von Übersetzung findet sich in Zima, Peter V.: »Der unfaßbare Rest. Die Theorie der Übersetzung zwischen Dekonstruktion und Semiotik«, in: J. Strutz/ders. (Hg.), Polyphonie der Literatur. Mehrsprachigkeit und Übersetzung in der Literatur. Tübingen 1996, S. 19-34. 19 | Vgl. hierzu etwa Stackelberg, Jürgen von: Das Theater der Aufklärung in Frankreich. München 1992, bes. S. 19-31, sowie Carlson, Marvin A.: Voltaire and the Theatre of the Eighteenth Century (= Contributions in Drama and Theatre Studies, 84). Westport/London 1998. 20 | Voltaire, 1994, S. 117. 21 | Vgl. Voltaire, François-Marie Arouet de: »Discours sur la tragédie«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. 2. Hg. v. Louis Moland. Paris 1877 (Nachdr. Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 311-325, hier: S. 318-322. 22 | Vgl. Voltaire, François-Marie Arouet de: »Essai sur la poésie épique«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. 8. Hg. v. Louis Moland. Paris 1877 (Nachdr. Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 305-363, hier: S. 317f.

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von Liebe und Leidenschaft im Theater lauter.23 Wie Henri Lagrave herausgestellt hat, ist diese Entwicklung seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert auf die Orientierung an einem weiblichen Publikum zurückzuführen. Daher warf der entstehende »public efféminé«24 Voltaire nicht nur das Ausklammern jeglicher Leidenschaft und Rührseligkeit in seinen Stücken zugunsten von Themen vor, die dem aufklärerischen Vernunftdenken folgten, sondern ebenso die Tatsache, dass in seinen Tragödien fast ausschließlich männliche Protagonisten zu finden waren.25 In Gestalt der Zaïre machte er nun eine Frau und dazu auch noch eine Sklavin zur tragischen Heldin. Zugleich stellte er sie in die Tendenz seines antiklerikalen aufklärerischen Appells für Toleranz und gegen religiösen Fanatismus, indem er das Motiv der Eifersucht mit einem Liebeskonflikt im Spannungsfeld zwischen Islam und Christentum verband.26 Von Beginn an sahen Kritiker in der Zaïre eine Kopie des Othello, auch wenn Voltaire in seinem Vorwort zu dieser Tragödie Shakespeare nicht einmal erwähnt. Émile Faguet schreibt, Zaïre sei Othello mit viel Racine,27 Albert Lacroix pflichtet ihm bei, wenn er feststellt: »La copie est manifeste!«28 Desdemona sei zur Zaïre geworden, Othello zu Orosmane und das vermeintlich verräterische Schnupftuch zum Brief. Zugleich macht er Voltaire aber auch zum Vorwurf, dass er zu sehr vom Original abgewichen sei: Er hätte sich besser an seine Vorlage halten müssen.29 Die Gegenüberstellung zweier kurzer Auszüge aus Othello und Zaïre können einen Eindruck geben und die oben angeführte Kritik verdeutlichen helfen:

23 | Vgl. Meyer-Sickendiek, Burkhard: Zärtlichkeit: Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit. Paderborn 2016, S. 154-160. 24 | Lagrave, Henri: Le théâtre et le public à Paris de 1715 à 1750. Paris 1972, S. 663. 25 | Voltaire reagiert auf diese Vorwürfe in einem Brief an M. de la Roque und führt an, sich nun auch den »Sitten seiner Zeit« zu verpflichten: »Le public qui fréquente les spectacles est aujourd’hui plus que jamais dans le goût du Corrège. Il faut de la tendresse et du sentiment […]. Il a donc fallu me plier aux mœurs du temps, et commencer tard à parler d’amour« (Voltaire, François-Marie Arouet de: Zaïre. Hg. v. Félix Guirand u. komm. v. Claude Blum. Paris 1972, S. 161). 26 | Dieser Aspekt der Zaïre wurde vielfach diskutiert. Vgl. hierzu Chateaubriand, François René de: Génie du christianisme. 2 Bde. Paris 1966; Schoell, Konrad: »Voltaire, Zaïre«, in: Dietmar Rieger (Hg.), 18. Jahrhundert – Theater, Conte Philosophique und Philosophisches Schrifttum. Tübingen 2001, S. 95-122; Ridgway, Ronald S.: Voltaire and Sensibility. London/ Montreal 1973. 27 | Faguet, Émile: Dix-huitième siècle, études littéraires: Pierre Bayle, Fontenelle, Le Sage, Marivaux, Montesquieu, Voltaire, Diderot, J.J. Rousseau, Buffon, Mirabeau, André Chénier. Paris 1910, S. 253. 28 | Lacroix, Albert: Histoire de l’influence de Shakespeare sur le théâtre français jusqu’à nos jours. Brüssel 1856, S. 66. 29 | Vgl. ebd., S. 53-71.

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Shakespeare, Othello

Voltaire, Zaïre

Othello I,3: Zaïre I,3: Come, Desdemona, I have but an hour Je vais donner une heure aux soins de mon empire Of love, of worldly matter and direction Et le reste du jour sera tout à Zaïre To spend with thee. We must obey the time. Othello III, 3: Zaïre I,5: No, Iago, I’ll see before I doubt, Moi jaloux! When I doubt, prove, Que j’éprouve l’horreur de ce honteux supplice! And on the proof there is no more but this: Quiconque est soupçonneux invite à le trahir. […] Away at once with love or jealousy! Je ne suis point jaloux …

Die Kritik an Voltaires Zaïre, der Vorwurf, er habe Shakespeare abgeschrieben, ohne es zuzugeben, oder aber auch, er habe ihn miserabel übersetzt, zeigt die Problematik von Übersetzung und Stoffgeschichte im Zuge der Herausbildung nationalstaatlicher Theaterkulturen. Zur eigenen Bereicherung wurden Themen und Stoffe anderer Kulturen aufgenommen, diese jedoch, wie hier im Falle Voltaires Zaïre, in die je eigene Theaterkultur übertragen. Auch mag hier die im 18. Jahrhundert durchaus noch übliche Übersetzungspraxis der sogenannten »belles infidèles«30 zum Tragen kommen, mit der die Frage aufgeworfen wurde, ob eine Übersetzung »treu« oder »schön« sein soll, wie sie bis heute mit Blick auf Übersetzungen kontrovers diskutiert wird.31 Richard Arndt, der 1906, zu einem Zeitpunkt, als Voltaires Zaïre auf den europäischen Bühnen noch zu den Theaterklassikern zählt,32 ihre Entstehung untersucht, kommt zu dem Schluss, dass selten ein Dichter und sein Werk so unterschiedlich beurteilt worden seien wie Voltaire und seine Zaïre.33

S hakespe are via V oltaire – L essing , N athan der W eise Nach seiner Rückkehr aus England und mit der Verbreitung der Lettres philosophiques gewann Voltaire in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts »in Sachen

30 | Als Blütezeit der »belles infidèles«, also der adaptierenden Übersetzungspraxis in die sog. Zielkultur zur Stärkung der Nationalsprache, gilt das 17. Jahrhundert. Beispielhaft sind hier die zahlreichen Übertragungen von Nicolas Perrot d’Ablancourt. Vgl. hierzu Zuber, Roger: Les »belles infidèles« et la formation du goût classique. Paris 1995. 31 | Vgl. hierzu etwa Zima, 1996, S. 19-34, sowie Ballard, Michael: De Cicéron à Benjamin. Traducteurs, traductions, réflexions. Villeneuve d’Ascq 2007, sowie Creutziger, Werner: Schöne neue Sprache. Essays. Berlin 2011, S. 77-110. 32 | Vgl. Pomeau, René/Ehrard, Jean: Littérature française. Bd. 5: De Fénelon à Voltaire (1680-1750). Paris 1989, S. 163. 33 | Arndt, 1906, S. 8. Siehe darüber hinaus Mahrenholtz, Richard: Voltaire im Urteile seiner Zeitgenossen. Oppeln 1883.

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Shakespeare die entscheidende Autorität«34. Auch Lessing und Mylius verweisen im ersten Stück ihrer Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters auf die eminente Bedeutung Voltaires, wenn sie hervorheben, dass er »beynahe der einzige [ist], der unter seinen Landsleuten unparteyisch und vortheilhaft von der Schaubühne der Engländer geurtheilet hat«35. Lessings Entdeckung des Shakespeare-Theaters vollzieht sich über und durch die Kontroverse mit Voltaire und dem französischen Theater.36 Dass dieser (bis heute nur wenig untersuchte) Einfluss Voltaires auf Lessing auch für seine Stückentwicklungen maßgeblich war, wurde jüngst von Burkhard Meyer-Sickendiek betont.37 Lessing äußert sich im 15. und 16. Stück der Hamburgischen Dramaturgie umfassend zu Voltaires Zaïre. Sein Vergleich mit Shakespeares Othello mündet in einem Verriss. Lessing bezeichnet die Zaïre spöttisch als das »Lieblingsstück der Damen«38 und erklärt damit den großen Erfolg dieser Tragödie. Zur Nähe zum Othello bemerkt er im 15. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: Von der Eifersucht läßt sich ohngefähr eben das sagen. Der eifersüchtige Orosman spielt gegen den eifersüchtigen Othello des Shakespeare eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosman gewesen. Wir hören in dem Orosman einen Eifersüchtigen reden, wir sehen ihn die rasche Tat eines Eifersüchtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir vorher wußten. Othello hingegen ist das vollständigste Lehrbuch über diese traurige Raserei; da können wir alles lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden. 39

Lessings Interesse richtet sich dabei durchaus auf die Bildung eines deutschen Publikums, und wenn er das französische und das englische Theater miteinander vergleicht, geht es ihm auch darum, das jeweils Spezifische für die eigene Nationalliteratur nutzbar zu machen. Obgleich seine eigene Bedeutung als Übersetzer nur selten in den Fokus rückt, ist zu bemerken, dass mit Lessings Literatur-Briefen in der Mitte des 18. Jahrhunderts das Problem der Übersetzung in Deutschland erstmals Gegenstand der öffentlichen Literaturkritik wird.40 Begünstigend wirkt, dass Lessing als eine Art Leitfigur an der Schwelle jener Epoche steht, in der die deutsche Literatur zu den europäischen Nachbarliteraturen aufzuschließen sucht. In dieser Hinsicht ist die Vormachtstellung Frankreichs und der französischen Sprache Lessing ein Dorn im Auge, umso mehr als die Entdeckung Shakespeares

34 | Kagarlizki, Julij: Shakespeare und Voltaire. Dresden 1989, S. 23ff. 35 | Lessing, Gotthold Ephraim/Mylius, Christlob: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Leipzig 1976 (Digitalisierung der Originalausgabe Stuttgart 1750), S. 96. 36 | Vgl. zur weiterführenden Lektüre De Wild, Henk: Tradition und Neubeginn. Lessings Orientierung an der europäischen Tradition. Amsterdam 1986, S. 33-41. 37 | Vgl. Meyer-Sickendiek, 2016, S. 275-325. 38 | Lessing, 1981, S. 82. 39 | Ebd., S. 83f. 40 | Vgl. Lessing, 2014, Bd. 4, sowie zur Forschung Baumgarten, Marcus: »Lessing und Johann Nicolaus Meinhard: Übersetzungskonzept, Übersetzungspraxis«, in: Berthold, 2008, S. 47-58, hier: S. 50.

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maßgeblich über französische Übersetzungen läuft.41 Auch dagegen schreibt Lessing betreffend der Zaïre an, wenn er sich an seine Leser wendet: Aber ist es denn immer Shakespeare, werden einige meiner Leser fragen, immer Shakespeare, der alles besser verstanden hat als die Franzosen? Das ärgert uns; wir können ihn ja nicht lesen. – Ich ergreife diese Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsätzlich vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine Übersetzung von Shakespeare. 42

Hier erinnert Lessing an die zu diesem Zeitpunkt gerade erschienene Shakespeare-Übersetzung von Christoph Martin Wieland, der er gegenüber Voltaires Übersetzungen den Vorzug einräumt.43 Insgesamt ist jedoch die negative Besprechung der Zaïre umso erstaunlicher, wie schon Richard Mahrenholtz Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt hat, betrachtet man die Struktur des Nathan, der ein Jahr nach dem Tode Voltaires entstanden ist und mit dem Lessing wie kaum durch ein anderes seiner Werke in die Nähe Voltaires rückt.44 Eine kurze Skizze der Zaïre vermag zu verdeutlichen, wie sie sich quasi als ein Relais zwischen Othello und Nathan positioniert: Die Vorfabel der Zaïre hat große Ähnlichkeit mit der Fabel des Nathan.45 Der Schauplatz der Handlung ist wie in Nathan Jerusalem. Ebenfalls stellt die Epoche der Kreuzzüge im 12./13. Jahrhundert den historischen Rahmen, der in beiden Stücken die Voraussetzung für das Schicksal eines Geschwisterpaares ist, das durch die Kriegswirren getrennt wurde und sich später wieder ahnungslos – aber in Zuneigung – zusammenfindet. Bei Voltaire setzt nun die Haupthandlung ein mit der Liebe zwischen Zaïre, die als Kleinkind gefangen in den Serail gekommen ist, und dem Sultan Orosmane, der Jerusalem von den Kreuzrittern zurückerobert hat. Dieser will sie zur einzigen Frau an seiner Seite machen. Anders als Shakespeares Entwurf der Figur des Othello macht Voltaire aus seinem orientalischen Herrscher jedoch einen »roi philosophique«46 und lässt ihn mehr als einen aufgeklärten Herrscher denn einen mittelalterlichen Sultan erscheinen. Inmitten der Hochzeitsvorbereitungen kehrt der mit Zaïre in Gefangenschaft aufgewachsene und auf Ehrenwort freigelassene christliche Ritter Nérestan aus der französischen Heimat mit Lösegeld für zehn der gefangenen Christen zurück. Orosmane lässt sogar hundert christliche Ritter einschließlich Nérestan frei. Allerdings müssen der ehemalige König von Jerusalem, Lusignan, und Zaïre bleiben. Es folgt eine Anagnorisis-Sze41 | Zu Forschung und Kritik siehe Golawski-Braungart, 2008, S. 115-127. 42 | Lessing, 1981, S. 84. 43 | Christoph Martin Wieland übersetzte zwischen 1762 und 1766 22 Dramen Shakespeares, die in acht Bänden (1762-1767) erschienen. Vgl. Shakespear [sic!] Theatralische Werke. Aus dem Englischen übersetzt von Herrn Wieland. 8 Bde. Zürich 1762-66. 44 | Vgl. Grimm, Reinhold R.: »Orientalische Umwege auf der Bühne. Überlegungen zu Voltaires und Lessings Religionskritik«, in: Jan-Heiner Tück/Rudolf Langthaler (Hg.), »Es strebe von euch jeder um die Wette«. Lessings Ringparabel – ein Paradigma für die Verständigung der Religionen heute? Freiburg 2016, S. 111-150, sowie Mahrenholtz, Richard: Voltaire’s Leben und Werke. 2 Bde. Band 1, S. 11ff. 45 | Vgl. Marseille, 2015, S. 293-316. 46 | Klemperer, Victor: Geschichte der französischen Literatur – Das Jahrhundert Voltaires. Bd. 1. Berlin 1954, S. 59.

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ne, die sich in ähnlicher Form auch in Lessings Nathan wiederfindet und in der sich herausstellt, dass Lusignan der Vater von Zaïre und Nérestan ist. Da Zaïre als Muslimin aufgewachsen ist, ringen ihr Vater und Bruder das Versprechen ab, sich taufen zu lassen. In ihrem Konflikt zwischen der Liebe zu Orosmane und familiärer (religiöser) Pflicht sieht sie sich veranlasst, die geplante Hochzeit mit Orosmane zu verschieben. Dieser bekommt Zweifel an der Treue Zaïres, da sie über die Gründe des Aufschubs schweigt. Ein abgefangener Brief Nérestans, in dem dieser Zaïre zu einem nächtlichen Treffen einlädt, schürt Orosmanes Verdacht. Er begibt sich daher auch zur nächtlichen Zusammenkunft und tötet in rasender Eifersucht Zaïre. Zu spät erfährt er, dass sie Nérestans Schwester war. Bestürzt über sein Handeln bereut Orosmane, lässt alle Christen frei und bringt sich selbst um, während Nérestan in religiösem Eifer seine Schwester für schuldig gegenüber Gott erklärt. Die Tragödie Orosmanes und Zaïres, geschürt durch Missverständnis und Eifersucht, rückt Zaïre einerseits in die Nähe des Othello und begründet, wie oben dargelegt, zugleich die Faszination wie die Kritik an Voltaires Tragödie, die immerhin als das erfolgreichste Exemplar des tragischen Genres im französischen Theater des 18. Jahrhunderts gilt.47 Voltaire überträgt von Shakespeare den Stoff, nicht aber die Form; er greift das Liebesmotiv auf und erweitert es um seine Kritik an religiösem Fanatismus.48 In ebendieser Verbindung von leidenschaftlicher Liebe und religiösem Konflikt sieht Voltaire die Wirkung und den Erfolg seines Stücks: »Tous ceux qui vont aux spectacle m’ont assuré que, si elle n’avait que convertie, elle aurait peu intéressé; mais elle est amoureuse de la meilleure foi du monde, et voilà ce qui a fait sa fortune.«49 Der in Zaïre dargestellte Konflikt zwischen Liebe, Religion und Verwandtschaft des Blutes erscheint auch in Nathan. Während er aber in Voltaires Tragödie in unlösbarem Widerstreit die Katastrophe herbeiführt, verliert er in Nathan mit der schrittweisen Entschlüsselung der familiären Verhältnisse seine Bedeutung. Obgleich die Tendenz beider Dichtungen übereinstimmen und die Zeichnungen der Figuren, der Recha, der Daja, des Saladin sowie des Tempelherrn an Zaïre, Fatime, Orosmane und Nérestan erinnern und Nathan eine ähnliche Vaterfigur wie Lusignan darstellt, bleibt der Konflikt, der sich in Zaïre findet, in Nathan aus.50 Lessing hält von Voltaire als Tragödienautor weitaus weniger denn als Philosoph und Aufklärer. Dass es Voltaire nicht allein um die Abfassung einer tragédie tendre, die, wie Ronald Ridgway betont hat, sowohl die Nähe zur zeitgenössischen comédie larmoyante zeigt als auch eine Vorläuferin für das mélodrame des 19. Jahrhunderts darstellt, sondern mehr noch um den Kampf gegen religiösen Fanatismus, um Humanität und Toleranz geht, mag Lessings Beschäftigung mit der Zaïre erklären.51 Er gestaltet »in Spannung zur Religionsthematik eine Liebesthematik, die aufgrund des Inzesttabus mit dem Verzicht der leidenschaftlichen

47 | Victor Klemperer spricht von Zaïre als »Voltaires innigstes und bestes Trauerspiel, die beste französische Tragödie des Jahrhunderts überhaupt«. Vgl. Klemperer, 1954, S. 57. 48 | Siehe zum Vergleich des Schicksals der Paare Desdemona/Othello und Zaïre/Orosmane ebd., S. 59f. 49 | Voltaire: »Epître dédicatoire à M. Falkener«, in: ders., 1972, S. 49. 50 | Grimm, 2016, S. 123-131. 51 | Vgl. u.a. Meyer-Sickendiek, 2016, S. 154-165.

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Liebe belegt ist«52 . Während Voltaire, beeindruckt durch Shakespeares »monstres brillants«, mit dem tragischen Ausgang der Zaïre die Utopie religiöser Toleranz ex negativo aufzeigt, wandelt Lessing zur Verwirklichung des Toleranzgedankens leidenschaftliche zur geschwisterlichen Liebe und verzichtet so auf den (tragischen) Liebeskonflikt. Möchte man Ortrud Gutjahr folgen, dann stellt Lessing in der finalen Umarmung »eine neue familiäre Öffentlichkeit, in der sich Beziehungsmuster über Standes- und Religionsgrenzen hinweg neu formieren«53, dar. Zugleich – und wesentlich – trägt Lessing mit der inhaltlichen wie formalen Konzeption des Nathan einem zum bürgerlichen gewandelten Theater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Rechnung, das er ebenso leidenschaftlich in Stellung brachte, wie Voltaire die (formalen) Vorgaben der französischen Klassik verteidigte.

S toff, Ü berse t zung und K ritik Insgesamt zeigt sich also eine stoffliche Linie zwischen England, Frankreich, Deutschland, Shakespeare, Voltaire, Lessing, Othello, Zaïre und Nathan. Dabei handelt es sich weniger um Übersetzungen im klassischen Sinne als vielmehr um Nicht-Übersetzungen – oder wenn von Übersetzungen gesprochen werden kann, dann mehr von einer je stofflichen. Diese situiert sich allerdings im Spannungsfeld von Übersetzung und Kritik, wobei jeder literarischen Übersetzung eine metaliterarische Komponente inhäriert, die diese in die Nähe eines Kommentars, einer kritischen Praxis zu rücken vermag. So betrachtet erweisen sich die hier besprochenen Stücke selbst in ihrer jeweiligen Form als kritische Übersetzungen im weiteren Sinne. Obgleich Voltaire und Lessing als Vertreter eines sogenannten rationalistischen Übersetzungsdiskurses des 18. Jahrhunderts gelten können, lassen ihre Kommentare und Positionen zur Theaterübersetzung sowie die Entstehung von Zaïre und Nathan die von Walter Benjamin in Anlehnung an das frühromantische Sprachdenken formulierte Nähe von Übersetzung und Kritik erkennen.54 Dass es sich lohnt, insbesondere für ein komparatistisch orientiertes Theaterverständnis, die konträren Positionen von aufklärerischem und romantischem Übersetzungsdenken mit Blick auf das Verhältnis von Übersetzung und Kritik dialektisch zu verknüpfen, möchte ich abschließend zeigen.55 Wie dargelegt, folgen Voltaire und Lessing in ihren Grundtendenzen einer auf den Rezipienten ausgerichteten Übersetzungspraxis, die, kurz gesagt, davon ausgeht, dass ein Text ohne tiefgreifende Verluste in die Zielsprache übertragen

52 | Gutjahr, Ortrud: »Rhetorik des Tabus in Lessings Nathan der Weise«, in: Wolfram Mauser/Günter Saße (Hg.), Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Tübingen 1993, S. 269-278, hier: S. 271. 53 | Ebd., S. 278. 54 | Vgl. Benjamin, 1991, S. 9-21. 55 | Hierin folge ich dem Plädoyer von Peter V. Zima, der das »sterile Gegeneinander von Rationalismus und Romantik, Inhalt und Ausdruck, Begrifflichkeit und Begriffslosigkeit« eher als »zwei Seiten einer Münze« auffasst, »die man zwar nie gleichzeitig zu Gesicht bekommt, die aber stets zusammengedacht werden sollten« (Zima, 1996, S. 19).

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werden kann, da es in jeder Sprache Bedeutungen mit Universalcharakter gibt.56 Doch zeigen ihre ›Nicht-Übersetzungen‹ und insbesondere Voltaires Beschreibung der Unmöglichkeit, Shakespeare ›angemessen‹ ins Französische zu übertragen, die Grenzen dieses Konzepts, wie es in der Folge die Vertreter der romantischen Übersetzungstradition – in Auseinandersetzung mit Voltaires Shakespeare-Übersetzungen – verdeutlicht haben. Vor allem Friedrich Schlegel und Novalis verwerfen die Idee »einer erreichbaren Identität von Original und Übersetzung«57 und sprechen sich in Abkehr von »aufklärerischen Identitätsvorstellungen«58 für eine »Grundfigur der Ähnlichkeit in der Differenz«59 aus. Sie heben die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Ausdrucks hervor und sehen jede Übersetzung als ein neues Gebilde an.60 Walter Benjamin folgt dem frühromantischen Übersetzungsdenken in seiner Entfernung von einer »äquivalenztheoretischen Position«61. Diese Ferne wird umso deutlicher, betrachtet man seine von den Frühromantikern übernommene »Gleichstellung von Kritik und Übersetzung«62, mit der er der »unendlich rätselhaften Natur der Übersetzung«63 begegnet. In seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik denkt Benjamin Kritik und Übersetzung als reproduktive Textkonzeptionen, »die allerdings die klassische Gegenüberstellung und Trennung von Produktion und Reproduktion […] hinter sich lassen«64. Wenn Alfred Hirsch zur Verdeutlichung dieser Auffassung im Ausgang von Benjamins frühromantischem Sprachdenken die »strukturale[n] Homologien«65 von Übersetzung und Kritik als Reproduktionsverfahren skizziert, erinnern diese allerdings an Verfahrensformen, die auch Lessings und Voltaires Umgang mit den jeweiligen Ausgangstexten kennzeichnen. Betont Hirsch im Anschluss an Benjamin, dass weder Übersetzung noch Kritik einfach Wiederholungen eines Ausgangstextes sind und immer schon ein gewisses Text- und Werkverständnis voraussetzen, wären Voltaires Auseinandersetzungen mit Othello und Lessings Kritik an Zaïre auch in 56 | Zima, 1996, S. 19-21. 57 | Huyssen, Andreas: Die frühromantische Konzeption von Übersetzung und Aneignung. Studien zur frühromantischen Utopie einer deutschen Weltliteratur. Zürich/Freiburg 1969, S. 76. 58 | Siever, Holger: Übersetzungswissenschaft. Tübingen 2015, S. 25. 59 | Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 2003, S. 3. 60 | Vgl. Hirsch, Alfred: Der Dialog der Sprachen: Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas. München 1995, S. 111ff. 61 | Siever, Holger: Übersetzen und Interpretation – Die Herausbildung der Übersetzungswissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin im deutschen Sprachraum im Zeitraum von 1960 bis 2000. Frankfurt a.M. 2010, S. 133. 62 | Hirsch, 1995, S. 113. 63 | Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I-1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 7-122, hier S. 70: »Vielleicht denkt Novalis, indem er Kritik und Übersetzung einander nahe rückt, an eine mediale stetige Überführung des Werkes aus einer Sprache in die andere, eine Auffassung, die bei der unendlich rätselhaften Natur der Übersetzung von vornherein ebenso statthaft ist, wie eine andere.« 64 | Hirsch, 1995, S. 112. 65 | Ebd., S. 113.

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diesem Verständnis zu begreifen. Zaïre und Nathan zeigen sich auch dahingehend in einem neuen Licht, nimmt man die Zweigeteiltheit an, nach der Übersetzung und Kritik »zwar einerseits eine gewisse Sekundarität auf[weisen]«, andererseits aber zugleich auch den Status eines Ausgangstextes bekommen. Schließlich – und dies ist von besonderem Interesse, führt man sich die sprachlichen und zeitlichen Deviationen der hier relevanten Theatertexte vor Augen – erweisen sich Kritik und Übersetzung »gleichermaßen als textpraktische Verfahren, die an die Rezeptionsweise der jeweiligen Sprache und Epoche gebunden sind«66. Eine solche Betrachtungsweise ermöglicht es, anders als national oder epochal begrenzte Untersuchungen zur Übersetzung, am hier vorgestellten Beispiel einer Verbindungslinie von Shakespeares Othello, über Voltaires Zaïre hin zu Lessings Nathan der Weise aufzuzeigen, dass im Spannungsfeld von Stoff und Übersetzung ein Theater aus und als Kritik entsteht, das in der jeweiligen Auseinandersetzung mit dem Original ein je »neuartiges Bild (auch des Ausgangstextes)«67 hervorbringen kann.

66 | Ebd. 67 | Ebd.

Kritik des Parterres Zur Agonistik des Geschmacks um 1800 Benjamin Wihstutz

1. In Ludwig Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater kommt es im dritten Akt zu einem Tumult im »Parterre«. Der Kunstkenner Bötticher, der bereits mehrfach zuvor den anderen Zuschauern mit seinen belehrenden Kommentaren über das dargebotene Schauspiel auf die Nerven gegangen ist, wird aus dem Saal vertrieben: BÖT TICHER. Bemerken Sie doch die unendliche Feinheit, wie der Kater immer seinen Stock hält. FISCHER. Sie sind uns schon längst zur Last, Sie sind noch langweiliger als das Stück. SCHLOSSER. Sie machen uns den Kopf erst noch recht konfuse. MÜLLER. Sie sprechen immer und wissen nicht was Sie wollen. VIELE STIMMEN. Hinaus! Hinaus! Er ist uns zur Last. (Ein Gedränge, Bötticher sieht sich genötigt, das Theater zu verlassen.) FISCHER. Mit seinen Feinheiten! SCHLOSSER. Er ärgerte mich immer, da er sich für solchen Kenner hielt.1

Wie der Name unzweifelhaft verrät, handelt es sich um eine Karikatur des Weimarer Literaten und Theaterkritikers Karl August Böttiger, dessen wiederkehrendes Loblied auf den Schauspieler August Wilhelm Iffland hier von Tieck aufs Korn genommen wird. Tatsächlich vergleicht Böttiger in seinem Buch Die Entwicklung des Iffländischen Spiels die vom Schauspieler dargestellte Figur des Czar Peter aus Joseph Babos Die Strelitzen mit der »Rolle eines bald murrenden bald schmeichelnden Katers«2, was Tieck offenbar eine wichtige Anregung zu seiner Posse gegeben hat.3 1 | Tieck, Ludwig: Der gestiefelte Kater (erste Fassung, 1797). Stuttgart 2001, III. Akt, 1. Szene, S. 46. 2 | Böttiger, Karl August: Entwicklung des Iffländischen Spiels in vierzehn Darstellungen aus dem Weimarischen Hoftheater. Leipzig 1796, S. 39. 3 | Vgl. Tieck, Ludwig: »Vorbericht (zur ersten Lieferung)« (1828), in: Uwe Schweikert (Hg.), Ludwig Tieck (Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 9). Teil I. München 1971, S. 138-145, hier: S. 142.

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Bemerkenswert an dieser Szene ist jedoch weniger die satirische Abrechnung mit der noch in den Kinderschuhen steckenden Theaterkritik am Beispiel Böttiger als vielmehr, dass das Hinauswerfen des Kritikers zugleich eine andere Vertreibung widerspiegelt, die sich sechzig Jahre zuvor in einer Komödienbude vor den Stadttoren Leipzigs zugetragen haben soll: die symbolische Verbannung des Hanswursts von der Bühne der Neuberin. Die Reinigung des Theaters im Zeichen des guten Geschmacks – Gottsched forderte diese angesichts der »großen Verwirrung«, in der sich die Schaubühne mit ihren Stegreifspielen und der Unreinheit der Gattungen befinde4 – wird ein halbes Jahrhundert später im Gestiefelten Kater vom Kopf auf die Füße gestellt: Die Herren des Parterres ermächtigen sich selbst, über Stück und Kritiker zu urteilen, und werfen Letzteren kurzerhand aus dem Theater, als sich dieser anmaßt, ihnen etwas über Geschmack beibringen zu wollen. Anstatt die Bühne von »schwülstige[n] […] Lustbarkeiten«5 zu befreien, wird das Parterre hier von unliebsamen Bildungsbürgern gereinigt, die selbst bei einem absurden Märchenspiel noch dem Illusionstheater das Wort reden, indem sie die Anmut des Darstellers und dessen schauspielerische Feinheiten hervorheben. Nicht zufällig tritt im Binnenspiel des Gestiefelten Katers daher auch eine Figur namens Hanswurst auf, die sich selbst als »verbannter Flüchtling« vorstellt6 und im königlichen Speisesaal die Anwesenden in eine Konversation über Geschmack verwickelt.7 Als anschließend der Hanswurst aus dem Binnendrama aus- und vor das Publikum tritt, um zu fragen, ob sonst noch jemand seinen Geschmack teile, antwortet das Parterre: »Wir alle, wir alle.« 8 Tiecks Komödie kann damit in ähnlicher Weise wie Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater als Kritik einer zeitgenössischen Ästhetik gelesen werden, welche ästhetische Bildung in Abgrenzung zum lasterhaften Vergnügen des Pöbels definiert. Wie Kleist hebt auch Tieck die Oppositionen zwischen hoher und niederer Kunst, zwischen Bildungsbürger und Pöbel, zwischen dem Genie des Künstlers und dem Dilettanten als ästhetisch-moralische Grundordnung aus den Angeln.9 So steht Bötticher einerseits für einen gereinigten Geschmack, dem das Parterre nach der Logik der Theaterreformer in seinen Urteilen Folge zu leisten hat, führt diesen jedoch mit seiner Lobhudelei des absurden Märchenspiels auf der Bühne zugleich ad absurdum, da die Irrelevanz seiner Ausführungen – »Bemerken Sie doch, […] 4 | Gottsched, Johann Christoph: Vorrede zu Der sterbende Cato (1732). Stuttgart 1964, S. 7. 5 | Ebd. 6 | Tieck, 2001, S. 34. 7 | Jan Lazardzig weist darauf hin, dass in dieser Szene Geschmack von Tieck bewusst wörtlich genommen wird: »Die Willkürgeste des Geschmacksurteils unterstreicht Tieck im semantischen Feld des Essens. Der massenhaft Kaninchen verspeisende König (des Binnenspiels) erscheint in Analogie zur Geschmacksbildung der Masse (im Rahmenspiel), die sich selbst wiederum am höfischen Rezeptionsverhalten zu orientieren sucht« (Lazardzig, Jan: »Ruhe oder Stille: Anmerkungen zu einer Polizey für das Geräusch«, in: Meike Wagner [Hg.], Agenten der Öffentlichkeit. Theater und Medien im frühen 19. Jahrhundert. Bielefeld 2014, S. 97116, hier: S. 115). 8 | Tieck, 2001, S. 44. 9 | Vgl. Wild, Christopher: Keuschheit des Theaters – Theater der Keuschheit. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. Freiburg i.Br. 2003, S. 13-55.

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wie der Kater seinen Stock hält« – selbst für die Kunstbanausen des Parterres – die Mitglieder tragen alle Handwerkernamen (griech. βάναυσος) – nicht zu übersehen ist. Die Figur des Kritikers gibt sich damit sowohl dem fiktiven als auch dem realen Publikum gegenüber als Schwätzer zu erkennen, dessen ästhetische Bildung aus nichts als Worthülsen besteht. Tiecks Demaskierung des Kritikers würde jedoch unterschätzt, würde man sie allein als Parteiergreifung für den Geschmack des Pöbels lesen. So wie die Iffland-Satire10 Kleists bemüht ist, jegliche Gewissheit über eine eindeutige Positionierung hinsichtlich des Geschmacks durch Widersprüche und Unglaubwürdigkeiten sogleich wieder in Frage zu stellen,11 verwischt auch Tieck mit seinem verschachtelten Drama permanent die Grenzen zwischen Schein und Sein, zwischen Figur, Schauspieler und Zuschauer. Dies geschieht einerseits, indem er mittels der Szenen im Parterre die Handlung des Binnenspiels kommentiert und konterkariert, andererseits, indem das im 18. Jahrhundert so oft kritisierte Verhalten des klatschenden und pochenden Parterres ebenso persifliert wird. Tiecks Komödie vollzieht mithin eine Kritik des Geschmacks, die das Parterre selbst ins Zentrum dieser Kritik stellt und die zeitgenössischen Debatten über den Geschmack und das Zuschauerverhalten ironisch wendet. Dies wird nirgendwo deutlicher als im Prolog des Stückes, in dem die Mitglieder des Parterres bereits ihre Ablehnung durch lautes Pochen kundtun, bevor sie auch nur eine einzige Szene des Kindermärchens gesehen haben: FISCHER. Aber wollen wir uns denn wirklich solch Zeug vorspielen lassen? Wir sind zwar aus Neugier gekommen, aber wir haben doch Geschmack. MÜLLER. Ich habe große Lust zu pochen. LEUTNER. Es ist überdies etwas kalt – Ich mache den Anfang. (Er trommelt, die übrigen akkompagnieren.) WIESNER (auf der anderen Seite). Weswegen wird denn gepocht? LEUTNER. Den guten Geschmack zu retten. WIESENER. Nun, da will ich auch nicht der Letzte sein. (Er trommelt.)

Tiecks Komödie ist damit weniger das historische Zeugnis einer Ablehnung bürgerlicher Kunstkennerschaft als vielmehr die Reflexion einer kritischen Funktion des Parterres mit den Mitteln der Satire. Das Stück führt exemplarisch vor, wie das Theater über das Medium des Geschmacks ein agonistisches Terrain einrichtet, auf dem ästhetisches Urteilen nicht als etwas Gegebenes erfahren wird, sondern als Praxis des Urteilens erst erprobt, ausgehandelt und ausgefochten werden muss.12 Als ein solch agonistischer Aushandlungsort impliziert Tiecks Figur des Parterres unterschiedliche politische Fragen, etwa, inwiefern »Geschmack« an eine hegemoniale Konzeption von hoher Kunst und Ästhetik, an die Zugehörigkeit 10 | Vgl. Peters, Sybille: »Populäre Grazie: Die Theaterfehde der Berliner Abendblätter«, in: Klaus Gerlach (Hg.), Der gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater. Berlin 2009, S. 359-372. 11 | Am prominentesten hat diese Widersprüche Paul de Man herausgearbeitet, vgl. de Man, Paul: »Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater«, in: ders., Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M. 1988, S. 205-233. 12 | Zum Verhältnis von Ästhetik und einem agonistischen Politikverständnis siehe Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin 2014, S. 133-159.

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zu einem bestimmten Stand oder einer bestimmten Klasse, an das Einnehmen einer bestimmten (ästhetischen) Haltung oder an bestimmte (soziale) Konventionen des Zuschauerverhaltens gebunden ist.

2. In den Theaterperiodika der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich Zeugnisse einer solchen Agonistik des Geschmacks, zumal zahlreiche Kritiken und Artikel sich sowohl über das Verhalten des Parterres als auch über eine notwendige Erziehung des Publikumsgeschmacks auslassen. So wird beispielsweise die im Gothaer Theater-Kalender diskutierte Frage »Ehrt das Applaudiren?« direkt auf die mangelhafte ästhetische Bildung des Parterres bezogen, denn nicht immer komme der Applaus von solchen, »deren Beyfall ehren kann, […] denen Gefühl, Mitempfinden, Kenntniß des Schönen, es ablockte«13. Dass die Macht des Parterres um 1800 kein neues Phänomen ist, sondern bis zu den Anfängen des Nationaltheaters an der Comédie Française zurückreicht, zeigt sich an französischen Wörterbucheinträgen und Stücken der Comédie Italienne des späten 17. Jahrhunderts. So erwähnt Jeffrey Ravel in seinem Buch The Contested Parterre die Komödie Les Chinois, die hundert Jahre vor Tiecks Veröffentlichung des Gestiefelten Katers aufgeführt wurde und ebenso das Parterre in die Dramenhandlung integriert.14 Allein handelt es sich hier nicht um eine Handvoll Kunstkenner und -banausen, sondern um eine, vom Mezzetino dargestellte, furchterregende allegorische Figur, die, einer Hydra gleich, viele Köpfe und viele Pfeifen besitzt. Das Parterre-Ungeheuer platzt dabei unangekündigt in die Szene und wirft den Protagonisten Roquillard nach dem Eintreten sofort zu Boden, um ihn als zentrale Figur auf der Bühne abzulösen: UN PORTIER, à Roquillard. Monsieur, il y a là-bas un gros homme qui fait le diable à quatre pour entrer; il dit qu’il s’appelle le Parterre. LE COMÉDIEN FRANÇAIS. Malepeste! Il faut lui ouvrir la porte à deux battants; c’est notre père nourricier. Qu’il entre, en payant, s’entend. LE PARTERRE, habillé de diverses façons, ayant plusieurs têtes, un grand sifflet à son côté et d’autres à sa ceinture, prend Roquillard par le bras et le jette par terre. À bas, coquin. ROQUILLARD. Le Parterre a le ton impératif. LE PARTERRE, à Roquillard. Qui vous fait si téméraire, mon ami, d’usurper ma juridiction? Ne savez-vous pas que je suis seul juge, et en dernier ressort, des comédiens et des comédies?15

13 | Reichard, Heinrich August Ottokar: »Ehrt das Applaudiren?«, in: ders. (Hg.), TheaterKalender, Gotha 1778, S. 8-10, hier: S. 9f. 14 | Vgl. Ravel, Jeffrey: The Contested Parterre. Public Theater and French Political Culture 1680-1791. Ithaka 1999, S. 104f. 15 | Regnard, Jean-François: Les Chinois, digital wiederveröffentlicht und hg. von Ernest Gwénola/Paul Fièvre, Paris 2015, www.theatre-classique.fr/pages/pdf/DUFRESNY​ REGNARD_CHINOIS.pdf, S. 42.

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Ravel vergleicht den Autoritätsanspruch des Parterres mit der Rolle des jungen Louis XIV bei seinen Aufführungen in Versailles, wo er sich als »all-knowing, allseeing, divine-right monarch«16 in Szene setzte und sich ebenfalls nicht scheute, spontan die Hauptrolle in einem am Hof aufgeführten Stück zu übernehmen. Darüber hinaus kann dieser komödiantische Stoff als ein früher Hinweis für die Rolle des tatsächlichen Parterres dienen, insofern dieses im 18. Jahrhundert die Rolle des Kunstrichters übernimmt. Das Parterre gilt damit einerseits, wie der Comédien Français anmerkt, als »nährender Vater« des Schauspiels, da die im Parterre plazierte Bourgeoisie im zunehmenden Maße die Schauspielhäuser finanziert. Andererseits wird das Parterre zum erbarmungslosen Richter – »Je ne suis pas un juge à l’ordinaire«17 –, der allein über die Schauspieler und Stücke urteilen darf. So endet dann auch Les Chinois mit dem vergeblichen Versuch des Comédien Français, das Urteil des Parterres, welches sich für die italienischen und gegen die französischen Komödianten ausgesprochen hat, doch noch anzufechten, indem er verzweifelt an das Urteil der Logen appelliert: »O tempora! O mores! J’appelle de ce jugement-là aux loges.«18 Doch das Parterre antwortet nur trocken: »Mes jugements sont sans appel«19 – die Urteile des Parterres lassen keine Berufung zu.

3. 1775 entwirft Heinrich August Otto Reichard im neu herausgegebenen Gothaer Theater-Kalender mit seinem »Versuch über das Parterre« einen »Codex der Rechte des Parterre«20, welcher sich auf die öffentliche Beurteilung von Stück und Schauspiel bezieht und die aus dem französischen Theater herrührende Analogie zwischen Parterre und Richter konsequent anwendet. Zu den Rechten des Parterres gehören etwa das Herausrufen zum Verbeugen, aber auch das Unterbrechen oder sogar Erzwingen eines Abbruchs der Vorstellung.21 Ausdrücklich unterbinden möchte Reichard hingegen das übliche Pfeifen und Pochen, lieber solle man doch »sein Missfallen an dem Spiele durch tiefes Stillschweigen zu verstehen geben«22 . Denn, so Reichard weiter, 16 | Ravel, 1999, S. 106. Versailles ist zugleich gewissermaßen der Herkunftsort des Parterres, denn das Parterre bezeichnet traditionell jenen Teil des französischen Gartens, der direkt vor dem Hauptgebäude des Schlosses plaziert ist und auch für Aufführungen von Louis XIV im Garten genutzt wurde (ebd., S. 69). 17 | Regnard, 2015, S. 43. 18 | Ebd., S. 48. 19 | Ebd. 20 | Reichard, Heinrich August Ottokar: »Versuch über das Parterre«, in: ders. (Hg.), TheaterKalender, Gotha 1775, S. 47-63, hier: S. 63. 21 | Gerade in Bezug auf das sogenannte Hervorrufen sind Fälle von Machtmissbrauch des Parterres überliefert, etwa wenn »die Parterremitglieder [dieses] dadurch zu einem Vergnügen gestalten, daß sie sich Neulinge und Schüchterne aussuchen, um sich an ihrer Verlegenheit zu weiden oder um sie regelrecht zu verspotten« (Paul, Arno: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums. Eine strukturell-funktionale Untersuchung über den sog. Theaterskandal anhand der Sozialverhältnisse der Goethezeit. München 1969, S. 66). 22 | Reichard, 1775, S. 56.

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wie kann man […] von dem Schauspieler urtheilen, wenn durch das Geräusch der Geist des Stücks verscheucht, […] wenn das Auge nur sieht, was das Ohr nicht gehöret und der innere Sinn nicht empfunden hat? In der That, wir würden sehr mißtrauisch auf das Urtheil eines Richters seyn, der mitten unter der Menge des zudringenden lermenden Volcks, die Anklage, Schutzreden und Beweise der streitenden Partheyen angehöret hätte. 23

Die notwendige Disziplinierung der Zuschauer wird hier, konträr zu Tiecks Darstellung eines begründungslos pochenden Parterres, unmittelbar auf seine Richterfunktion bezogen. Dabei kommt es nach Reichard insbesondere darauf an, jegliche Art der affektiven Ansteckung zu vermeiden. Wie am Gericht sollen die Zuschauer sich als Richter davor verwahren, sich von übermäßigem Mitleid oder falschen Gefühlen zu einem Fehlurteil verleiten zu lassen: Ein Richter muß ein fester entschlossener Mann seyn, offenen Kopf muß er haben und durchdringenden [57] Geist. Es kommen ihm so viel schöne Gestalten vor, die mit süssem Lächeln und Thränen ihre Augen waffnen. Er kann sie immerhin empfinden, aber er muß dieser Empfindung mit Eisen und Stahl den Weg nach dem Gehirn versperren. Gestalt, Thränen, Lächeln, sind ja keine Kennzeichen der Unschuld und des Rechts. Er kann dem Mädchen sagen: Deine Stimme, Deine Thränen, Dein Lächeln, Dein Wuchs, alles ist süß, alles rührt mich; — aber Du hast doch gesündiget!24

Statt um eine Gerichtsbarkeit der Bühne, von der Schiller nur wenige Jahre später in Mannheim sprechen wird,25 geht es in Reichards Aufsatz explizit um eine Gerichtsbarkeit des Parterres. Diese wird nun aber nicht wie bei Les Chinois als monströse Autorität gedacht, sondern ist unmittelbar mit einem Bildungsprogramm verknüpft, welches nur die angemessenen Gefühle, den »inneren Sinn«26 beim Zuschauer ausbilden soll. Aus diesem Grund sollen die im Parterre anwesenden Experten des guten Geschmacks, »Personen, die in der öffentlichen Beurtheilung den Ton angeben«27, den übrigen Zuschauern beim angemessenen Urteilen auf die Sprünge helfen. Ein Kunstkenner wie Böttiger gehört demnach qua profession ins Parterre, wo er dem Volk als Richter Nachhilfe in ästhetischer Bildung geben kann. Denn »[w]er über die Aktion des Schauspielers urtheilen will, muß Geschmack und Kenntniß in dieser Gattung der Dichtkunst, und in der Kunst des Schauspielers besitzen«28. Ludger Schwarte hat darauf hingewiesen, dass die Entstehung der Kunstkritik in Frankreich mit einem Anspruch von Gleichheit und Öffentlichkeit des ästhetischen Urteils einhergeht.29 So tritt der Kunstkritiker Étienne La Font de SaintYenne Mitte des 18. Jahrhunderts im Namen des Publikums auf und vergleicht das Beurteilen der Kunstwerke im Louvre mit dem Urteilen des Parterres über ein 23 | Ebd., S. 55. 24 | Ebd., S. 56f. 25 | Vgl. Schiller, Friedrich: »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 5. München 1962, S. 818-832, hier: S. 822. 26 | Reichard, 1775, S. 55. 27 | Ebd., S. 48. 28 | Ebd., S. 47. 29 | Schwarte, Ludger: Vom Urteilen. Berlin 2012, S. 117.

Kritik des Par terres

Theaterstück: »Un Tableau exposé est un Livre mis au jour de l’impression. C’est une pièce représentée sur le théâtre: chacun a le droit d’en porter son jugement.«30 Während die Konzeption ästhetischen Urteilens somit im Laufe des 18. Jahrhunderts die Vorstellung einer Gleich-Gültigkeit des ästhetischen Regimes31 etabliert, zielen die Debattenbeiträge zahlreicher Kunstkritiker und Theaterreformer zugleich darauf, derart egalitäre Ansätze von Ästhetik durch moralische und disziplinarische Maßnahmen im Keim zu ersticken. Ästhetische Bildung bleibt damit an das Einüben des ›richtigen‹ Geschmacks gebunden, wobei das Parterre als Schule eines solchen Geschmacks fungieren soll, indem dort besonders gebildete, oft mit der Theaterpraxis eng verbandelte Personen als Oberrichter den Ton angeben. In Johann Friedrich Schützes Satirisch-Ästhetische[m] Hand- und Taschenwörterbuch aus dem Jahr 1800 findet sich unter dem Stichwort »Publikum« entsprechend folgender Eintrag: Publikum, le public, ist eine große Masse von (Hohl- und Woll-)Köpfen, unter welchen Leiber sitzen und stehen, in Logen, Parterren, Gallerien, versehen mit Stimmen zum Bravorufen und Pfeifen, Füßen zum Stampfen, Augen und Ohren zum Sehn und Hören. Diesem Menschenklumpen schreibt man etwas zu, das man Geschmack, goût, nennt; diesen muß der Schauspieler kennen und darnach spielen, der Directeur sondiren und danach dirigieren, sich schmiegen und fügen. Jeder und jede aber müssen sich im Publikum ein Publikum formiren, ein Häufchen Kenner, das nur ihnen und ihren Spielen klatscht und andern pfeift. In dies kleine Publikum suche man auch die vorlauten Sprecher, Dramaturgen mit hineinzuziehn, die ihre Meinung als Meinung des Publikums für das Publikum im [sic!] Druck geben. 32

Das Parterre ist somit der Ort, an dem der Konflikt zwischen dem Geschmacksurteil der Masse und den Experten, einem »Häufchen Kenner«, ausgetragen wird. Die Debatte um den Geschmack ist damit in hohem Maße politisch, bildet sie doch den Streit zwischen elitärer und egalitärer Ästhetik, zwischen Expertokratie und Demokratie ab.33 Dabei fungiert das Theater in dieser Debatte als öffentlicher Raum, der über den Raum der Aufführung hinausreicht.34 Denn die Debatten um den bon goût werden in den Theaterperiodika und Tageszeitungen ebenso fortgeführt wie in den Salons oder auf Straßen und Plätzen. Da die Kritiker und Dramaturgen, Dichter und Theaterdirektoren selbst im Parterre sitzen, kommt es häufiger vor, dass diese als Tonangeber versuchen, auf die Geschmacksurteile des Publikums Einfluss zu nehmen. So ist etwa von Heinrich von Kleist bekannt, dass er 1802 bei einer Aufführung des Singspiels Die Schweizerfamilie im Berliner Nationaltheater mit einigen Verbündeten durch heftiges Klatschen, Zischen und Rufen einen Abbruch der Vorstellung herbeiführte, nur um zwei Tage darauf in der von 30 | Zit. n. ebd. 31 | Vgl. Rancière, Jacques: »Was bringt die Klassik auf die Bühne?«, in: Felix Ensslin, Spieltrieb. Berlin 2006, S. 23-38, hier: S. 25f. 32 | Schütze, Friedrich Johann: »Publikum«, in: ders., Satirisch-ästhetisches Hand- und Taschenwörterbuch. Hamburg 1800, S. 141f. 33 | Vgl. Schwarte, 2012, S. 67 sowie S. 130. 34 | Vgl. Christopher Balmes Begriff der Theatrical Public Sphere (Cambridge 2014), der sich allerdings gegen Mouffe positioniert und dagegen den Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriff favorisiert.

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ihm verfassten Rezension der Berliner Abendblätter vom Missfallen des Parterres über das Stück zu berichten.35

4. Das Verhältnis zwischen Kunstkennern und Kunstbanausen spiegelt sich insofern im Verständnis ästhetischer Bildung des 18. Jahrhunderts wider, als die Kunst zwar prinzipiell jedem zugänglich sein sollte,36 deren Rezeption jedoch zugleich auf das Einüben in die richtigen ästhetischen Urteile angewiesen ist. Dies wird insbesondere bei Friedrich Schiller deutlich, der in der Vorrede zur Braut von Messina anmerkt, dass die »wahre Kunst« den Menschen nur frei machen könne, wenn sie »eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet«37. Dass dies nicht allein die Einbildungskraft, sondern gerade auch die Urteilskraft betrifft, zeigt sich in den KalliasBriefen. Denn mit ihren zahlreichen Beispielen aus der Tier- und Pflanzenwelt bis hin zur Mode, zur Garten- und Töpferkunst, die dem Autor zur Explikation seiner Konzeption des Schönen als »Freiheit in der Erscheinung« dienen, lesen sich diese Passagen weniger wie das Fragment einer ästhetischen Theorie als vielmehr wie ein Lehrbuch angemessenen ästhetischen Urteilens.38 Diese Regelhaftigkeit der Weimarer Ästhetik, die sich ebenso deutlich in Goethes Schriften über das Theater wiederfindet, bildet das Bindeglied von der Theorie zur Praxis Ästhetischer Erziehung. Folgt Kunst den ästhetischen Regeln der Natur und idealisiert diese, kann auch der Mensch durch die Begegnung mit Kunst ästhetisch erzogen werden und seinen guten Geschmack ausbilden. Die Politisierung der Ästhetik, die Schiller schließlich mit den Briefen Über die Ästhetische Erziehung des Menschen vornimmt, verweist damit zugleich auf eine Ambivalenz des ästhetischen Regimes, dessen Freiheit und Gleichheit mit dem regulatorischen Prinzip des ästhetischen Staates teuer erkauft sind, sieht dieser doch keineswegs vor, dass das einfache Volk bei der ästhetischen Revolution voranschreitet. »Dem Bedürfnis nach«, so Schiller am Ende des 27. Briefes, existiere die Utopie des ästhetischen Staates bereits in jeder »fein gestimmten Seele«, obschon man diese – so der entscheidende Nachsatz – wohl nur »in einigen auserlesenen Zirkeln« finde.39 Dass die ästhetische Erziehung auch in der Weimarer Theaterpraxis weniger egalitär als vielmehr elitär angelegt ist, zeigt sich schon allein an der Sitzordnung im Hoftheater, wo Goethe nach dem Umbau (1798) während der Vorstellungen auf 35 | Vgl. Peters, 2009, S. 365f., sowie Lazardzig, Jan: »Die Stadt als Ereignisraum in Kleists Abendblättern«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013), H. 4, S. 566-587, hier: S. 585f. 36 | Schwarte, 2012, S. 117f. 37 | Schiller, Friedrich: »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 2. München 1962, S. 815-823, hier: S. 815. 38 | So erklärt Schiller etwa, dass eine Ente trotz ihrer geringeren Masse weniger schön sei als ein Pferd, da dieses sich mit Leichtigkeit der Schwerkraft widersetze (Schiller, Friedrich: »Kallias oder Über die Schönheit«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 5. München 1962, S. 394434, hier: S. 420). 39 | Schiller, Friedrich: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart 2000, S. 123.

Kritik des Par terres

dem erhöhten Lehnstuhl einer Parterreloge Platz nimmt, wobei er offenbar nicht selten versucht, durch Kommentare oder Gesten Einfluss auf die Reaktionen und den Geschmack des Publikums zu nehmen. Denn mit ihrer experimentellen Bühnenästhetik, welche u.a. die Wiedereinführung der Verstragödie sowie den Einsatz von Masken und des Chores betrifft, stoßen Goethe und Schiller bisweilen auf Unverständnis der Zuschauer. So handelt eine der zweifellos berühmtesten Anekdoten davon, dass der Intendant Goethe während der Aufführung der SchlegelTragödie Alarkos das Publikum mit dem Ausruf »Man lache nicht!« zur Ruhe und Ordnung im Schauspielhaus ermahnt. Dieser Appell Goethes ist insofern bemerkenswert, als er nicht nur zeigt, wie ästhetischer Anspruch und Disziplinierung des Publikums in Weimar einander bedingen, sondern auch eine Ahnung davon vermittelt, auf welche Weise das Parterre als ein Ort der Aushandlung von Normen und Konventionen ästhetischen Urteilens sowie des Verhältnisses von Urteil und Affekt fungierte. Das, was Goethe mit dem Lachverbot einfordert, zielt im Grunde auf eine polizeiliche Variante ästhetischen Urteilens im kantischen Sinne, mithin ein interesseloses Wohlgefallen, das sich von den unmittelbaren Affekten und der Ansteckung im Publikum durch Affektkontrolle distanziert. In einem Schreiben der Generalintendanz aus dem Jahr 1801 widmet sich Goethe mit den folgenden Worten an die Abonnenten: Verschiedene unangenehme Ereignisse des vorigen Jahres veranlassen die Direction gegenwärtig zu erklären: daß niemand, weder durchs Abonnement, noch durch Zahlung an der Thüre, das Recht erhält, sich nach Willkühr im Schauspielhauße zu betragen; vielmehr muß sich derjenige der es betritt überzeugen daß er in gute Gesellschaft aufgenommen wird […]. Man verbittet sich daher, ausdrücklich, alles Unanständige, z.B. das Auslachen des Acteurs, unmäßiges Klatschen, das durch Pochen bezeigte Missfallen, das Zischen indes andere applaudieren, das lärmende Gespräch in den Zwischenacten und überhaupt alles was die gute Sitte einem jeden untersagt der mit höhern, oder mit seines gleichen, sich irgend wo zusammen befindet. 40

Genau auf diese Art Verhaltens- und Geschmackspolizei reagiert Tiecks zeitgenössische Posse, welche mit ihrer Kritik des Parterres sowohl die Kunstkennerschaft als Farce vorführt als auch den Geschmack einfacher Bürger der Lächerlichkeit preisgibt. Angesichts dieses Rundumschlags ist es kaum verwunderlich, dass der Gestiefelte Kater zu Tiecks Lebzeiten auf wenig Gegenliebe stößt41 und überhaupt erst ein halbes Jahrhundert später, 1844, auf Veranlassung des Königs von Preußen auf der Berliner Hof bühne uraufgeführt wird. Selbst dann nehmen Tieck »manche Freunde des Theaters« das Stück übel und verstehen seine »gut gemeinte[n] Späße« nicht.42 Als die Figur des »Dichters« am Ende des Stückes selbst vor das Par40 | Goethe, Johann Wolfgang: Einladung zum Abonnement der Generalintendanz, 18. Sept. 1801. GI des Deutschen Nationaltheaters. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, A 10268, Bl. 12. 41 | »Ein gemeinschaftlicher Freund, der Maler Darbes, hatte, seltsam genug, in unbefangensten Späßen bittre politische Anzüglichkeiten auf hohe Ämter gefunden. Mein Protestieren half nichts« (Tieck, 1971, S. 144f.). 42 | Tieck, Ludwig: »Selbstrezension« (1851), in: Uwe Schweikert (Hg.), Ludwig Tieck (Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 9). Teil I. München 1971, S. 147.

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terre tritt und explizit um ein Urteil bittet, geht es ihm nicht besser als Kleist selbst. Wie der Theaterkritiker zuvor wird auch er vom schlechten Geschmack vertrieben, und das buchstäblich, indem die Zuschauer ihn mit verdorbenem Obst bewerfen: (Man trommelt von neuem.) SOUFFLEUR. Versuchen Sie ein paar Verse zu machen, Herr Dichter, vielleicht bekommen sie dann mehr Respekt vor Ihnen. DICHTER. Vielleicht fällt mir eine Xenie ein. SOUFFLEUR. Was ist das? DICHTER. Eine neuerfundene Dichtungsart, die sich besser fühlen als beschreiben lässt. (Gegen das Parterre.) Publikum, soll mich Dein Urteil nur einigermaßen belehren, Zeige, dass Du mich nur einigermaßen verstehst. (Es wird aus dem Parterre mit verdorbenen Birnen und Äpfeln und zusammengerollten Papier nach ihm geworfen.) DICHTER. Nein, die Herren da unten sind mir in dieser Dichtungsart zu stark; ich ziehe mich zurück. (Er geht ab, die übrigen gehen nach Hause. Völliger Schluss.) 43

43 | Tieck, 2001, S. 62.

Kritische Physis Schillers Szenen der Kritik Sophie Witt

E rhaben , oder : K ants K ritik the atertauglich ? »Es gibt in Europa eine Schule von Geistern«, so zitiert Lothar Pikulik Thomas Mann, »in welcher man sich gewöhnt hat, den Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden zusammenfließen zu lassen. In dieser Schule ist die Grenze zwischen Kunst und Kritik viel unbestimmter, als sie ehemals war.«1 Während Mann diese Schule mit dem »Erkenntnis-Lyriker«2 Friedrich Nietzsche beginnen lässt, zählt Pikulik bereits Friedrich Schiller dazu und bestimmt dessen »psychologische[s] Interesse«, die Faszination für »Seelenerkundung«, als prominenten Schauplatz dieses Zusammenfließens von Dichtung und Kritik – und zwar besonders innerhalb der Dramatik bzw. Tragödientheorie.3 Diese Frage nach dem Zusammenhang von Theater und Kritik bei Schiller nimmt der folgende Beitrag auf. Immanuel Kants Einfluss, besonders der Kritik der Urteilskraft (1790), auf Schillers ästhetische Schriften der 1790er Jahre ist bekannt: Für Schiller sei dabei »die Frage der Anwendbarkeit kantischer Termini und Definitionen im Bereich der Ästhetik entscheidend gewesen«, weswegen Schillers Auseinandersetzung mit Kant vor allem »auf eine theaterbezogene Definition der Tragödie« hinauslaufe, so fasst Helmut Koopmann zusammen. Im Kern stehe dabei Kants Theorie des Erhabenen, die Schiller tragödientheoretisch ausformuliere.4 In Vom Erhabenen (1793), Über das Pathetische (1793) und Über das Erhabene (ersch. 1801, vermutlich in der ersten Hälfte der 1790er Jahre verfasst) fragt Schiller insgesamt nach der Erfahrung des Widerspruchs von Sinnlichem und Geistigem, bzw. Physischem und Moralischem. Diese Grundlegung führt Schiller zu zwei »Fundamentalgesetze[n] aller tragischen Kunst«: »[E]rstlich: Darstellung der lei-

1 | Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. X. Frankfurt a.M. 1974, S. 18f.; zitiert nach Pikulik, Lothar: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie. Paderborn 2004, S. 10. 2 | Ebd. 3 | Pikulik, 2004, S. 9f. 4 | Koopmann, Helmut: »Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant«, in: ders. (Hg.), Schiller-Handbuch. 2., aktual. Aufl. Stuttgart 2011, S. 611-624, hier: S. 611f.

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denden Natur; zweitens: Darstellung der moralischen Selbständigkeit im Leiden«5, wodurch insgesamt die »Gegenwart eines übersinnlichen Prinzips im Menschen« bezeugt werden soll.6 Dem Theater scheint vermittels des Pathetischen eine Art Einübung in jenen anthropologischen Zustand des Leidens zuzukommen – »Inokulation des unvermeidlichen Schicksals«, wie Schiller schreibt 7 –, eine künstliche Probe für den anzunehmenden Ernstfall. In dieser Lesart würde Theater letztlich die »Beherrschbarkeit des Schicksals« bzw. die »Befreiungsmöglichkeiten des Menschen aus der Welt des Sinnlichen« behaupten und verteidigen.8 Diese Befreiung konkretisiert Schiller in der Idee eines ›sich Entleibens‹: Ist auch »[d]as höchste Ideal, […] mit der physischen Welt, als der Bewahrerin unserer Glückseligkeit, in gutem Vernehmen zu bleiben«, können doch »Fälle […] eintreten, wo das Schicksal alle Außenwerke ersteigt, auf die er [der Mensch] seine Sicherheit gründete«9: wo es kein anderes Mittel gibt, den Lebenstrieb zu beruhigen, als es zu wollen, und kein anderes Mittel, der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse, ehe noch eine physische Macht es tut, sich moralisch zu entleiben.10

Schillers offizielle – idealistische – Stoßrichtung läuft damit »auf eine einzigartige Verteidigung des ›Vernunftwesens‹ gegen das ›Sinnenwesen‹ hinaus«11, wird doch noch der Moment des Verlustes aller rationalen und moralischen Sicherheit kurzerhand zum Triumph über das Physisch-Sinnliche umgewendet. Gegen den Strich dieser Ideologeme möchte ich im Folgenden fragen, welche Rolle es spielt, dass der Ausgangspunkt der Überlegungen das Interesse für die und die Anerkennung der Tatsache ist, dass der Mensch zuallererst ein solches – offenbar ›bedrohliches‹ – physisch-sinnliches Wesen ist.12 Nur vor diesem Hintergrund nämlich macht Sinn, dass zu dessen Überwindung so allerhand angestellt werden muss – und selbst dieser Anstrengung noch Grenzen gesetzt sind: Durch seinen Verstand zwar steigert er [der Mensch] künstlicherweise seine natürlichen Kräfte, und bis auf einen gewissen Punkt gelingt es ihm wirklich, physisch über alles Physische Herr zu werden. Gegen alles, sagt das Sprüchwort, gibt es Mittel, nur nicht gegen den 5 | Schiller, Friedrich: »Vom Erhabenen«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. V. Hg. v. Herbert Göpfert u.a. München 2004, S. 489-512 (= Schiller, 2004a), hier: S. 512. 6 | Schiller, Friedrich: »Über das Pathetische«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. V. München 2004, S. 512-537 (= Schiller, 2004b), hier: S. 520. 7 | Schiller, Friedrich: »Über das Erhabene«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. V. München 2004, S. 792-808 (= Schiller, 2004c), hier: S. 805f.; zur »Inokulation« vgl. Zumbusch, Cornelia: Die Immunität der Klassik. Berlin 2014, bes. S. 110-229. 8 | Koopmann, 2011, S. 619. 9 | Schiller, 2004c, S. 804f. 10 | Ebd. (Herv.: S.W.). 11 | Koopmann, 2011, S. 616. 12 | Vgl. dazu Heeg, Günther: »Schillers Tragik aufgeführt«, in: Felix Ensslin (Hg.), Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute. Berlin 2006, S. 240-251, hier: S. 242.

Kritische Physis

Tod. […] Dieses einzige Schreckliche, was er nur muß und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn begleiten […].13

Diesem »Gespenst« werde ich im Folgenden nachgehen: der Physis und ihrer Bedeutung für Schillers Tragödien- bzw. Theaterbegriff. Ich werde zeigen, inwiefern dadurch Schillers Auseinandersetzung mit Kant nicht allein auf dessen Ästhetik und deren Anwendung reduzierbar ist; inwiefern vielmehr die Frage der Dritten Kritik, nämlich: »Wie kann ich urteilen?«, auf Schillers Bühne ›gehievt‹ wird, d.h. wörtlich: um deren – nicht Theatertauglichkeit, aber – Theaterhaftigkeit zu befragen.

M arias ›E ntleibung ‹ Als besonders gutes Beispiel für jene schillersche ›Entleibung‹ gilt der Forschung Marias Tod – so dass Maria Stuart (1800) als Musterbeispiel für die Theorie des Erhabenen gehandelt wurde:14 Marias »Märtyrtum«15 als moralisch befreite Annahme des physischen Todes. Doch schaut man sich den Tragödienschluss hinsichtlich seiner semantischen Felder an, fällt auf, so möchte ich im Folgenden argumentieren, dass der Text an der Krise von Physischem und Geistigem festhält, statt sie eindeutig zu lösen.16 Das (Todes-)Urteil, um dessen Begründ- und Vollstreckbarkeit die gesamte Tragödie kreist, wird damit auf wackelige Füße gestellt – Schiller übt hier wörtlich ›Kritik der Kritik‹. Der fünfte Akt steigt mit der Behauptung der Amme ein, Maria habe beim Erfahren des Todesurteils »[m]it einem Mal, schnell, augenblicklich«17 vom Leben gelassen, und wiederholt damit fast wörtlich Schillers Parallelstelle in Über das Erhabene: »Nicht allmählig […], sondern plötzlich und durch eine Erschütterung, reißt es den selbständigen Geist aus dem Netze los, womit die verfeinerte Sinnlichkeit ihn umstrickte.«18 Maria bekräftigt diesen Vorgang in ihrer Ansprache im sechsten Auftritt als begrüßenswerte ›Entleibung‹, als »Triumph« und »Glück«: Die Rede ist ferner von der »frohe[n] Seele«, die sich »[a]uf Engelsflügeln schwingt zur ewgen Freiheit«19 – Schillers »freie Aufhebung alles sinnlichen Interesse« (s.o.) scheint weiterzuklingen. Sonderbarerweise aber folgt auf diese Behauptungen eines bereits – plötzlich – ›entleibten‹ Zustands die lange Abendmahlsszene, die sich nicht nur aus dem Glaubenskonflikt zwischen Katholizismus und Protestantismus erklären lässt, der Maria Stuart vermittels seiner Königinnen durchzieht. In dem langen 7. Auftritt zwischen Priester Melvil und Maria steht der »sichtbar[e] Leib« erneut zur Debat13 | Schiller, 2004c, S. 793. 14 | Vgl. Forschungsüberblick und Bibliographie in Guthke, Karl S.: »Maria Stuart«, in: Helmut Koopmann (Hg.), Schiller-Handbuch. Stuttgart 2011, S. 451-466. 15 | Schiller, Friedrich: Maria Stuart. Ein Trauerspiel, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. II. München 2004, S. 549-686 (= Schiller, 2004d), hier: S. 567. 16 | Ich schließe mich der jüngeren Schiller-Forschung an, in der die Tragödien als kritische Befragung der theoretischen Texte gelesen wurden, vgl. Guthke, 2011, S. 464. 17 | Schiller, 2004d, S. 663. 18 | Schiller, 2004c, S. 799. 19 | Schiller, 2004d, S. 666f.

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te, als »irdisch Pfand« des Himmlisch-Geistigen.20 Der Leib (Christi) wird aber nicht nur aufgerufen, um Marias ›himmlische Wandlung‹ zu unterstreichen bzw. im Ritual zu bekräftigen, sondern legt sich als eine Art physischer Subtext unter die offiziellen Ideologeme des Tragödienschlusses. Denn in der folgenden Beichte nimmt Maria nicht etwa an, wofür sie zum Tode verurteilt ist – Hochverrat an Englands Königin Elisabeth –, sondern ordnet das Urteil der »frühe[n] Blutschuld« zu: Verwiesen ist damit nicht nur auf den damals verordneten Mord am Ehegatten, sondern auch auf Marias eigene, hier: sexuelle Physis – »Und dem Verführer schenkt’ ich Herz und Hand!«.21 Aber mehr noch: Die Blutschuld ›inkarniert‹ das »Gespenst«, das abzuschütteln ist, eine Art untilgbare Resistenz der verdrängten Physis – »Streng büßt’ ich’s ab mit allen Kirchenstrafen,/Doch in der Seele will der Wurm nicht schlafen.«22 Auffällig ist der Text hier nach einem Prinzip der Stellvertretung gebaut – eine Schuld für die andere, Leib für Gott, Seele für Physis usw. Dies ist ein Hinweis auf den insgesamt metatheatralen Subtext des Stücks.23 Diese Theatralität kulminiert – als ›durchgestrichene‹ oder sublimierte – im 5. Akt: wenn Maria – wörtlich, physisch – ›von der Bühne gestellt wird‹. Zuvor wird noch berichtet von dem »Mordgerüst«, »blankgeschliffne[n] Beil«, bereitgestellt in einem theaterhaften Saal: »Voll Menschen war/Der Saal, die um das Mordgerüst sich drängten/Und, heiße Blutgier in dem Blick, das Opfer/Erwarteten.«24 Der ›Entleibung‹ und deren theatral beglaubigter Zurschaustellung entsprechend ordnet Elisabeth in IV/5 an, Maria solle mit ihrer Physis, »mit ihrem Blut [bezahlen]!«; dem Verräter Leicester, der libidinös zwischen beiden Frauen steht, soll diese Physis quasi-theatral ein letztes Mal vorgeführt werden: Er soll der Hinrichtung zuschauen, »sie fallen sehn, und nach ihr fallen«.25 Wenn dann allerdings das Urteil vollstreckt wird, ist Marias Physis auffällig abwesend, und was stattfindet, ist eine Stellvertreterszene, in der Leicester berichtet, was er von der Hinrichtung hört bzw. welche Bilder der abwesenden Szene sich dadurch bei ihm einstellen: »Horch! – […] Sie kniet aufs Kissen – legt das Haupt –.«26 Hier handelt es sich aber nicht einfach um eine abgewandelte Form der Mauerschau, sondern um physische Stellvertretung – oder um eine unheimliche Wiederkehr der sublimierten Szene: Statt für den Zuschauer sichtbar Marias verurteilte Physis, sinkt Leicester »ohnmächtig nieder«; seine »zuckende Bewegung« ersetzt auf der ›entleibten‹ Bühne Marias fallende Physis.27 Nicht nur 20 | Ebd., S. 670. 21 | Ebd., S. 673. 22 | Ebd. Schon im alten Testament meint »Blutschuld« nicht nur den gewaltsamen Tod eines Menschen, sondern auch eine spezielle Wirkmächtigkeit dieses vergossenen Blutes; vgl. Erbele-Küster, Dorothea: »Blutschuld«, unter: https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/15537/. 23 | Zu Maria Stuart als »zutiefst metadramatische[m] Schauspiel« vgl. Benthien, Claudia: »Friedrich Schillers großes Welttheater. Affektrhetorik und Dramaturgie um 1800«, in: Martin von Koppenfels/Cornelia Zumbusch (Hg.), Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin/Boston 2016, S. 445-460, hier: S. 450. 24 | Schiller, 2004d, S. 666. 25 | Ebd., S. 643. 26 | Ebd., S. 679. 27 | Ebd.

Kritische Physis

qualvoller (»Muß ich anhören, was mir anzuschauen graut?«28), sondern physischer wirkt so der Tod der einstigen Geliebten auf den Zuhörer Leicester – Marias Physis, seine eigene Physis kehren auf die Bühne zurück, als »Gespenst« jener Geste der ›Entleibung‹. Damit aber ist das Urteil gar nicht eindeutig mit der Realisierung finaler ›Entleibung‹ assoziiert; vielmehr erweisen sich Maria Stuarts mäandernde Szenen im Zeichen des Urteils im 5. Akt als selbst theatrales Durchspielen einer letztlich explizit nicht finalisierbaren ›Entleibung‹. Dergestalt kommt es zu einer Instabilisierung des Urteils: Nicht nur stellt sich heraus, dass die tote Maria die Autorität Elisabeths eher schwächt als stärkt; die letzten Szenen des Stücks sind durchzogen von metatheatralen Anspielungen auf fehlende Zeugen und dementierte Urheberschaft – keiner will mehr gesehen noch gesagt haben. Damit wird die Szene der Urteilsvollstreckung zugleich zur Szene eines ausgesetzten oder immer nur krisenhaften Urteils. Im Zuge der Sublimierung jenes ›Sinnenwesens‹ ist es die gespenstische Physis als Entzugsmoment, die diese kritische Krisenhaftigkeit der Tragödie markiert. Tatsächlich hat das einiges mit Kants Kritik zu tun. Seine Begründungen der Urteilskraft sind der Versuch, Kritik als Unterfangen allgemeiner Grenzziehungen zu bestimmen, die den vagen Modus des Spekulativen, aber auch des nur je Situativen überwinden. Schillers gespenstische Wiederkehr der Physis erinnert unterdessen daran, dass ›Kritik‹ sich vom griechischen krinein herleitet – das heißt ›urteilen‹ und ›entscheiden‹, aber auch ›scheiden‹ und ›trennen‹. Schillers Maria Stuart, so meine Lektüre, spielt mit der Unabschließbarkeit dieser Trennung – hier: zwischen Physischem und Moralischem, aber damit auch: zwischen Singulärem und Allgemeinem. Referiert Kritik auch auf kategorische Grenzziehungen, funktioniert sie also doch immer zugleich genuin situativ, d.h. konkret-szenisch: daran gemahnt etwa Leicesters Stellvertreterszene. Nicht umsonst stehen dabei krinein und krisis in einer etymologischen Verwandtschaft: In ihrem akuten, mithin gefährlichen Zustand bedingen sich Kritik und Krise gegenseitig – d.h. es kann, wie für Maria, um Leben und Tod gehen. Wenn Kritik, so eine gängige kantische Bestimmung, ihre eigenen Voraussetzungen fortwährend überdenken und explizieren muss, dann deshalb, weil in ihr die Urteilskraft – auf die sie sich beruft – auf die Probe gestellt ist, krisenhaft-prekär wird. Daher stellt Judith Butler an Michel Foucaults Lektüre Kants richtig heraus, dass es mit Kritik um Wissensformen des Vollzugs und weniger um einen einmaligen oder finalen Akt des Urteils geht.29 D.h., Kritik geht einher mit einer krisis des Wissens und des Wissbaren, und zwar auch und gerade im Sinne einer Urteilspraxis. Kritik im engeren Sinne hätte damit nicht nur nach den unterschiedlichsten Voraussetzungen ihres eigenen Urteilens zu fragen, sondern diese auch – als Krise – lesbar zu halten.30 Will man also Schillers Auseinandersetzung mit Kants Erhabenem als Frage einer – als kritisch lesbar gehaltenen – Kritik lesen, dann deuten sich hier drei Aspekte an: Das »Gespenst« der Physis wiedersetzt sich jeder allgemeinen und ewigen Ratio oder Moral, so dass 28 | Ebd. 29 | Vgl. Butler, Judith: »What Is Critique? An Essay on Foucault’s Virtue«, in: Sarah Salih/ Judith Butler (Hg.), The Judith Butler Reader. Oxford 2004, S. 304-322. 30 | Vgl. zu diesem Kritikbegriff ausführl. die Einl. der Hg. in Andrea Allerkamp/Pablo Valdivia Orozco/Sophie Witt (Hg.), Gegen/Stand der Kritik. Zürich 2015, S. 7-28.

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sich Kritik fortwährend an der Begrenztheit oder Unabschließbarkeit des Urteils abzuarbeiten hat; an diesen, im produktiven Sinne: krisenhaften Charakter erinnert das Theater, und zwar vermittels der Konkretheit der Szene.

K ritische A usdruckskörper in den R äubern Sowohl die Idee eines krisenhaften Urteils als auch das Problem der Physis gab es bei Schiller jedoch schon vor seiner Beschäftigung mit Kant, seit den frühen 1780er Jahren. In seiner medizinischen Dissertationsschrift positioniert Schiller seinen Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) als ein erkenntnistheoretisches – und damit: kritisches – Projekt: Schiller interessiert sich für den »merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele« und vermutet, dass selbst »die Operationen des Denkens und Empfindens gewissen Bewegungen des innern Sensoriums korrespondieren«.31 Im Fokus stehen also ein Wissen und eine Methode, die darauf fußen, das Körperliche und Geistige gerade nicht voneinander zu trennen; damit wird Schiller ideengeschichtlich zu einem der ›Urväter‹ der Psychosomatik, die sich im 20. Jahrhundert als Fachdisziplin der Medizin etablieren wird – und insofern bis heute kritisch genannt werden kann, als sie – quasi-geisteswissenschaftlich – die Frage nach dem Wissen- und Urteilenkönnen fortwährend mitstellt. Interessant ist, dass Schiller diese Untrennbarkeit von Körper und Geist 1784 in seinem Vortrag Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? dem Theater zuschreibt: Es sei die »Bühne«, die sich am vortrefflichsten dem »Bedürfnis des Tiermenschen« und dem »Bedürfnis des Geistes« sowie deren Verbindung widme.32 Schillers Räuber (1781) beschäftigen sich ausführlich mit jener ›tierischen‹ Seite des Menschen: verhandelt etwa in Karl Moors abtrünnigen »Triebe[n]« und »Lüste[n]«.33 Bekanntlich partizipiert Schiller sowohl mit den Räubern als auch mit seinen medizinischen Schriften an dem Unterfangen der sich neu begründenden Disziplin der Anthropologie, die den Menschen als ›ganzen‹ in den Fokus rückt, Physiologie und Psychologie zu vereinen trachtet.34 Die gängige Erzählung über den Zusammenhang von Anthropologie und Schauspielkunst im 18. Jahrhundert setzt bei dem »aufklärerische[n] Traum von der Authentizität der eloquentia cor-

31 | Schiller, Friedrich: »Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. V. München 2004, S. 287-324 (= Schiller, 2004e), hier: S. 290f. Zu Schillers medizinischen Schriften ist bis heute einschlägig Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller – Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹. Würzburg 1985. 32 | Schiller, Friedrich: »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. V. München 2004, S. 818-831 (= Schiller, 2004f), hier: S. 819. 33 | Schiller, Friedrich: Die Räuber, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. I. München 2004, S. 481-618 (=Schiller, 2004g), hier: S. 498. 34 | Platner, Ernst: Anthropologie für Ärzte und Weltweise, Leipzig 1772, S. XVII. Vgl. zur Anthropologie exempl. Košenina, Alexander: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin/New York 2008.

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poris«, von der »zuverlässige[n] Übersetzbarkeit des Inneren ins Äußere« an.35 Sie konzentriert sich auf das Bestreben, den Schauspielerkörper mit seinem »veristischen« Schauspielstil zum »Ausdrucksmedium« von Gefühlen zu machen.36 Es gibt sicher gute Gründe, Schiller als Gewährsmann einer solchen ›Seelenkunde‹ zu lesen, die dem Bühnenkörper nurmehr den Ausdruck überlässt.37 In Schillers Räubern aber bleibt – kritisch – der stets krisenhafte Versuch lesbar, Soma und Psyche qua Körperzeichen und Bedeutung in einer Ausdruckslogik zu bändigen, ihnen für den Beobachterblick eine Ordnung zu geben, die eben nicht schon immer gegeben ist. Statt nur Verismus, so möchte ich argumentieren, wird hier ein theatrales Spiel verhandelt, in dem sich die Körper der Ausdruckslogik widersetzen und eigenlogische Triebökonomien an den Tag legen. ›Tierisch‹ nämlich meint bereits in der ersten Szene der Räuber noch etwas anderes als Affektregungen und Seelenkunde: die kreatürliche Hinfälligkeit, die Endlichkeit des Menschen, die Physis in ihrer Begrenztheit. So hat Vater Moor einen »kränklichen Körper«, dem »Grab« und »Sarge« nah; und Karl bringt das archaisierende Diktum des alten Moor zur Wirkung: »Die Sünden seiner Väter werden heimgesucht im Dritten oder vierten Glied«38. In dieser dem alten Testament entnommenen Ahnenschuld beglaubigen aber Sünden, Väter und Söhne nicht länger eine heilsgeschichtliche Logik und eine genealogische Ordnung. Die »Sünden« werden zu »Trieben« und diese zu Symptomen im »kränklichen Körper« (s.o.). Damit folgen die Räuber keiner einfachen – auf Authentizität ausgerichteten – Ausdruckslogik, sondern verweisen – proto-psychoanalytisch – auf die komplexen Verkörperungs- und Lektüreverfahren, die das Symptom mit sich bringt. Zugleich aber gilt damit die »Heimsuchung« durch die »Körper« und die »Triebe« – von der Vater Moor spricht – nicht zuletzt der Logik der kritischen Erkenntnis selbst. Diese – gespenstische – Heimsuchung formulieren die Räuber in Franz Moors metatheatralem Spiel aus – und zwar als Frage des kritisch-krisenhaften Urteils. Hier lohnt es noch einmal, Schillers Versuch zu berücksichtigen: Dort gibt sich der Mediziner als kritischer Beobachter der Körper und ihrer Zeichen aus und kommt so zu der Formulierung von zwei Gesetzen über die Parallelismen der »gemischten Naturen«: dass »[d]ie Tätigkeiten des Körpers […] den Tätigkeiten des Geistes [entsprechen]« und vice versa.39 In den Räubern formuliert Schiller diese Psychosomatik weiter aus.40 So beschließt Franz den ungeliebten Vater umzubringen, es zu »machen wie der gescheite Arzt, (nur umgekehrt)«; denn »Philosophen und Mediziner lehren […], wie treffend die Stimmungen des Geists mit den Bewegungen der Maschine zusammenlauten«, und beschließt, »den Körper vom Geist 35 | Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst: Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995, S. 289; vgl. auch Baumbach, Gerda: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Leipzig 2012, S. 159. 36 | Vgl. Baumbach, 2012, S. 140. 37 | D.h., den Akteur in seiner eigenen Leiblichkeit (theoretisch) unterschlägt, vgl. ebd., S. 78-84. 38 | Schiller, 2004g, S. 493ff. 39 | Schiller, 2004e, S. 312. 40 | »Verwandlung seelischer Inhalte in körperliche Symptome«, bezeichnet bis heute den Vorgang der Konversion, eines der Kernstücke der Psychosomatik; Uexküll, Thure v.: Grundfragen der psychosomatischen Medizin. Reinbek 1963, S. 82.

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aus zu verderben«.41 Und so ist er nicht länger kritischer Beobachter der Seele; wie ein in Tragödientheorie und Wirkungspsychologie erprobter Regisseur spielt er die Leidenschaften durch: vom Zorn über die Sorge bis hin zu Furcht und Jammer.42 Doch die Seelenkunde am Körper erweist sich als gefährliches – mithin endliches – Spiel: Denn es ist ausgerechnet die Physis, die eigenlogisch dem kontrollierbaren Parallelismus zwischen Soma und Psyche einen Strich durch die Rechnung macht – und damit auch Franz’ auf Kontrolle angewiesenem Tun. Die erkrankte Physis greift auf Franz über, schließt ihn in die inszenierte Szene mit ein: Die »Geister ausgespien aus Gräbern« bringen Fieber, Schwindel und andere psychosomatische Symptome und lassen ihn schließlich zum Strick greifen.43 So ist am Schluss Franz das beste Beispiel der zu exemplifizierenden Psychosomatik – weswegen Schiller sein noch unveröffentlichtes Schauspiel in seinem Versuch zitiert: Moor, der sonst spitzfindig genug war, die Empfindungen der Menschlichkeit durch Skeletisierung der Begriffe in Nichts aufzulösen, springt eben jetzt bleich, atemlos, den kalten Schweiß auf seiner Stirne, aus einem schrecklichen Traum auf. 44

Durchgestrichen sind hier die kritische Beobachterperspektive und die Logik des Ausdruckskörpers, die der veristische Stil und die anthropologische Hoffnung in die Schauspielkunst verheißen; stattdessen kommt es zu einer physischen Heimsuchung des kritischen Urteils – die dann selbst noch auf Schillers Beobachtungsund Schreibperspektive übergreifen wird. Schillers Dissertation reiht sich nämlich zwar in das breite Korpus derjenigen Texte ein, die sich im 18. Jahrhundert mit dem Wechselverhältnis von Körper und Seele auseinandersetzen, ist aber insofern nicht diskurskonform, als sie nicht bei der reinen Beschreibung der Wechselverhältnisse stehen bleibt;45 vielmehr stellt sie die (kantische) Frage: Wie wissen? Wie urteilen?

A usblick : K ritik und K rise Liest man von der Szene des heimgesuchten Urteils in den Räubern aus noch einmal Schillers Versuch einer ›neuen‹ anthropologischen Begründung, fällt auf, dass sich die dem Körper zugeschriebene Endlichkeit in der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis fortschreibt. Ich habe an anderer Stelle ausführlicher ausgeführt, was ich hier nur andeuten kann; dass mit Schillers Anthropologie zweierlei Krise in den Blick rückt: Krisenhaftigkeit des endlichen Menschen zum einen und eine krisen-

41 | Schiller, 2004g, S. 521f. 42 | Ebd., S. 522f. 43 | Ebd., S. 598 und ff. 44 | Schiller, 2004e, S. 309. 45 | Vgl. Stockinger, Ludwig: »›Es ist der Geist, der sich den Körper baut‹. Schillers philosophische und medizinische Anfänge im anthropologiegeschichtlichen Kontext«, in: Georg Braungart/Bernhard Greiner (Hg.), Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen (= Sonderheft 6 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft). Hamburg 2005, S. 75-86, hier: S. 85.

Kritische Physis

hafte Wissens- und Darstellungsperspektive zum anderen.46 Das Projekt ist damit nicht mehr einfach erkenntnistheoretisch, sondern genuin kritisch. Dass Schiller seine Räuber angeblich als Lesedrama konzipiert hatte, wurde von der (germanistischen) Forschung gerne als Beleg für die auf das ausgehende 18. Jahrhundert datierte Emanzipation des dramatischen Texts vom konkreten Theater gelesen – die jener Dualisierung von ›Text‹ und ›Körper‹ folgt, auf der (paradoxerweise) auch das verkörpernde Theater und sein zeitgleich entstehender »veristischer Stil« beruhen.47 Tatsächlich grenzt sich Schiller vor allem von diesem Verismus – von dem Wahrheit und Erkenntnis verheißenden »Licht der Sinnlichkeit« ab: Weiter ist in der Vorrede zu den Räubern von der »dramatische[n] Methode« die Rede, die – proto-psychoanalytisch – »die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen« sucht. Dabei soll es dem »Auge des bedeutsamen [d.h. kritischen] Lesers« um die »feinsten Schönheiten« und die »untergeflossenen Flecken« gehen.48 Diesem Theater eignet also analog zur biologischen und epistemologischen Krisenhaftigkeit des Menschen eine immer auch gefährdete – kritisch-krisenhafte – Wissens- und Darstellungsperspektive. Im Versuch ist diese angedeutet, wenn die unveröffentlichten Räuber zitiert werden: Nicht um jene an der Bühnenmetaphorik orientierte Funktion der Lesbarkeit und Übersicht geht es hier; impliziert ist vielmehr eine Erkenntnisperspektive des Wahns, des Fiebers und des Traums. Natürlich ist dabei nicht der Verstand leitend, sondern das »ganze System der dunkeln Ideen« ist das dem Theater zugeschriebene »Denkorgan«.49 Wie ein früher Kommentar zu der späteren Theorie der »Inokulation« liest sich dabei der Hinweis, dass die schauspielerische Einbildungskraft nicht nur auf den Schauspieler selbst, sondern sogar auf den Zuschauer übergreift. Nicht aber von einer wohldosierten, kontrollierbaren Wirkungsästhetik ist hier die Rede, sondern wahrlich von Psychosomatik: So mache schon der »nachgemachte Affekt […] den Schauspieler augenblicklich krank«, bringe ihm »einige Stunden in gichterische[n] Zuckungen«; aber mehr noch: Auch die »Sympathie des Zuschauers« bringe nicht nur den wohlbekannten – auf Erkenntniszugewinn und moralische Erhebung abzielenden – »Schauer«, sondern außerdem »Gichter und Ohnmachten« mit sich.50 Abermals haben wir es hier mit einem kritischen Übergreifen der Physis zu tun, die die Szene des Theaters als eine – im produktiven Sinne – krisenhafte Kritik ausweist.51 46 | Zu dieser endlichen Anthropologie vgl. Witt, Sophie: »›Drama‹ der Endlichkeit. Genealogie und Generativität um 1800 (Goethe, Schiller, Kleist)«, in: Michael Gamper/Peter Schnyder (Hg.), Dramatische Eigenzeiten des Politischen. Hannover 2018, S. 93-113. Zum Verhältnis von Psychosomatik und Theater um 1800 vgl. Witt, Sophie: »Psychosomatik und Theater: Das prekäre Gesetz der Gattung bei Schiller und Kleist«, in: Andrea Allerkamp et al. (Hg.), Unarten. Kleist und das Gesetz der Gattung. Bielefeld (vorauss. 2018). 47 | Vgl. zu diesem Komplex einschlägig Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Basel/Frankfurt a.M. 2000. 48 | Schiller, 2004g, S. 484 (aus der unterdrückten Vorrede zur ersten Auflage). 49 | Schiller, 2004e, S. 310. 50 | Ebd. 51 | Der Zusammenhang von Theatralität, kritischer Beobachtung und psycho-physischem Geschehen bleibt übrigens bis in die aktuellere Geschichte der Psychosomatik bestehen; vgl.

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Wenn ich eingangs die Dopplung von krinein und krisis erwähnt habe, ist es vielleicht diese Krisenhaftigkeit, die einerseits zum Erkennen und Handeln zwingt, zugleich aber an deren Begrenztheit gemahnt, die der Kritik eignet – und ihr nicht zuletzt eine ethische Dimension einträgt. Dass aus dieser genuinen Krisenhaftigkeit der Kritik folgt, dass sie ihre eigenen Voraussetzungen fortwährend ›zu überdenken hat‹ – so habe ich versucht herauszustellen –, heißt damit immer zugleich, auch die physisch-libidinöse Natur dieser Voraussetzungen anzuerkennen. Eine kritische Theaterwissenschaft hat es immer mit dem, wie Schiller über den ›ganzen Menschen‹ schreibt, »unselige[n] Mittelding von Vieh und Engel«52 zu tun, jenem Doppel/double von Körper und Sprache. Sie vermag daran zu erinnern – und zwar gerade auch dann, wenn sie sich als historische dem Bereich der Texte zuwendet –, dass es mit der Physis einen unkalkulierbaren, aber zugleich motivatorischen Rest gibt – eine kritische Unverfügbarkeit im Denken und Handeln.

Mitscherlich, Alexander: »Zur Krise der Menschlichkeit in der Heilkunde«, in: ders., Kranksein verstehen. Hg. v. Timo Hoyer. Berlin 2010, S. 81-100, bes. S. 96. 52 | Schiller, 2004e, S. 296.

Das Singspiel als kritische Praxis Lorenz Aggermann

K ritik und S elbstrefle xion In seinem Vortrag Was ist Kritik? verortet Michel Foucault das Potential dieser Praxis vor allem in jenem (selbst-)reflexiven Modus, in dem sich Kritik äußert und den sie auch ihrem Gegenstand aufzwingt. Dies tritt deutlich in der mittlerweile kanonisch gewordenen Definition von Kritik hervor, für die Foucault die allgemeine Frage: »Wie regiert man?«1, zur spezifischen, jedwede Kritik bezeichnende Frage: »Wie ist es möglich, daß man nicht derartig […] regiert wird?«2, verkehrt. Die Frage nach dem Modus, um die sich alles zu drehen scheint und die Foucault im Rahmen einiger Nachfragen zu präzisieren gezwungen ist,3 verdeckt die selbstreflexive Volte, die mit dieser Verkehrung vollzogen wird: Kritik befragt, in Anerkennung der subjektiven Position und der daraus resultierenden Einwirkungen und Möglichkeiten, die Methoden jedweder Regierungskunst, jedweder Organisation. Die Frage, ›wie man nicht derart regiert wird‹, zielt also erst in zweiter Linie auf die Regierungskunst selbst − in erster Linie geht sie mit einer Selbstvergewisserung einher, da sie implizit das Faktum anerkennt, als Subjekt gewissen Mechanismen und Dynamiken ausgesetzt zu sein. Kritisches Denken thematisiert nach Foucault folglich die Position, von der aus gedacht und gehandelt wird, und fordert dieses Bewusstsein auch seinem Gegenstand ab. Judith Butler hält für Foucaults Ausführungen eine weitere Interpretation vor, die sich vor allem in Hinblick auf die darstellende Kunst als inspirierend erweist. Nach Butler entsteht Kritik aus einem Riss im Gewebe unseres epistemischen Netzes.4 Dieser Riss wird zur vagen Bestimmung einer (prä-)subjektiven Freiheit herangezogen, die an den Grenzen jeglichen Wissens aufscheint. Da diese Freiheit jedoch schon von Foucault postwendend wieder zurückgenommen wird,5 so bleibt sie ein imaginäres und fiktionales Desiderat. Butler rückt infolgedessen die Praxis der Kritik mit Foucault in die Nähe der Fiktion und, etwas genereller, der Kunst.6 1 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Üb. v. Walter Seitter. Berlin 1992, S. 11. 2 | Ebd., S. 11f. 3 | Vgl. ebd., S. 52. 4 | Vgl. Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/ Tilo Welsche (Hg.), Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 221-246, hier: S. 226. 5 | Vgl. Foucault, 1992, S. 27 und S. 52, bzw. Butler, 2009, S. 237. 6 | Vgl. Butler, 2009, S. 232 und S. 236.

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Erst diese eröffnet jenen Horizont, der die illusorische Freiheit schimmern lässt. Insofern verwundert es wenig, dass der Begriff des Spiels und seine Derivate wie »sich-aufs-Spiel-setzen« und andere Begriffe, die eine Nähe zur Kunst suggerieren, immer wieder Butlers Argumentation durchweben 7 und dem Aufsatz neben der politischen eine ästhetische Stoßrichtung geben.8 Kritik wird bei Butler und bei Foucault letztlich als eine Praxis ausgewiesen, die ihr Ziel einzig in der Freiheit der Kunst verwirklichen kann. Ist Kunst allerdings tatsächlich ein Hort der Freiheit, wie das beispielsweise auch das Grundgesetz, Art. 5, Absatz 3, behauptet? Geht nicht eine jede ihrer Materialisationen aus einem jeweils spezifischen Dispositiv hervor, einem Regelwerk, das notwendigerweise befragt werden muss, um so etwas wie eine ästhetische Freiheit überhaupt postulieren zu können?9 Die folgenden Ausführungen widmen sich den selbstkritischen und selbstreflexiven Momenten und Mechanismen in der darstellenden Kunst. Kritik wäre demnach als jener Modus zu verstehen, in welchem sich die Aufführung der SelbstReflexion hingibt und ihr Regelwerk befragt. Denn »Theater als Kritik« rekurriert nicht nur als eine stets neu zu verhandelnde Denkfigur im analytischen Diskurs, sondern beschreibt als Topos auch jenen konstitutiven ästhetischen Mechanismus, in dem sich Theater immer wieder selbst(-kritisch) aufs Spiel setzt. Diese Selbstreflexion wird nicht nur, wie Walter Benjamin und im Anschluss daran Bettine Menke gezeigt haben,10 im barocken Trauerspiel deutlich, sondern stärker noch in einer Gattung, die primär auf Unterhaltung und erst sekundär auf einen ideologischen oder kulturellen Mehrwert setzt und ebenfalls das Spiel in ihrem Titel führt, im Singspiel. Dieses führt als Hybrid verschiedener Gattungen vor, dass nicht nur das Subjekt, sondern auch die Aufführung stets gezwungen ist, »sich zu formen, jedoch innerhalb von Formen, die mehr oder weniger schon da sind oder sich abzeichnen«11.

S ingspiel , 1743 … Mit der Bezeichnung Singspiel wird zumeist jenes historische Repertoire erfasst, welches im 18. Jahrhundert maßgeblich von den fahrenden Truppen aufgeführt wurde und weniger aufgrund der dramaturgischen Gestaltung der Fabel als vielmehr aufgrund seiner popkulturellen Qualitäten wie des Fokus auf alltägliche Inhalte, der direkten Ansprache, der unterhaltsamen Narration und einprägsamen Melodik große Verbreitung fand. Diese volkssprachliche und musikalisierte Form des Theaters, 1743 mit Sydows Der Teufel ist los durch die Schönemann’sche Truppe

7 | Vgl. Butler, 2009, S. 237 und S. 244. 8 | Butler, 2009, S. 236. 9 | Vgl. Aggermann, Lorenz: »Die Ordnung der darstellenden Kunst«, in: Lorenz Aggermann/ Georg Doecker/Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung. Frankfurt a.M. 2017, S. 7-32, hier: S. 10f. 10 | Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1978; Menke, Bettine: Das Trauerspielbuch. Der Souverän, das Trauerspiel, Konstellationen, Ruinen. Bielefeld 2010. 11 | Butler, 2009, S. 246.

Das Singspiel als kritische Praxis

in Berlin als Novität in den deutschsprachigen Kulturraum eingeführt,12 wandelte sich nach dem Siebenjährigen Krieg zu dem zentralen Impulsgeber innerhalb des Theatergefüges und ist am Ende des 18. Jahrhunderts größtenteils in der Gattung der (komischen) Oper aufgegangen.13 Da das Singspiel abgesehen von wenigen Ausnahmen von der Theaterpraxis des 19. Jahrhunderts nahezu komplett hinter sich gelassen wurde,14 scheint es eine eminent zeit- und funktionsgebundene Erscheinung und weniger eine (zu generalisierende) Gattung zu sein. Warum also begrifflich zu einer derartigen Formation der darstellenden Kunst zurückkehren, zumal sowohl die philologische als auch die musikologische Diskussion von einer genre-setzenden Definition absehen15 und die Literaturwissenschaft tendenziell das bürgerliche Trauerspiel zum Paradigma dieser Epoche erhebt?16 Dem Verlöschen dieser Form steht eine sachte Konjunktur ebenso hybrider und mobiler Formen ab den 1990er Jahren gegenüber: Aufführungen, die sich dezidiert nicht als Oper verstehen respektive nicht unter dem Dach dieser Institution produziert werden, obgleich sie zentral auf Musik und Gesang setzen, um eine Szene zu generieren; Aufführungen, die das sonore und musische Register ihrer Elemente gegenüber der sprachlichen, dialogischen Dimension ins Spiel bringen, um Theatralität zu erzeugen; die weniger auf der virtuosen Beherrschung von Stilen als vielmehr auf charakteristischen Stimmen, Körpern und generell eher auf Theatralität denn auf Narration gründen. Hierbei ist neben dem Œuvre von Heiner Goebbels auch an die Arbeiten der Needcompany, der Baktruppen, von ZT Hollandia und in jüngerer Zeit beispielsweise von andcompany&Co., FUX, Bürk/Sienknecht und anderen zu denken. Diese Konjunktur legt nahe, derartige Aufführungen ebenso als Singspiel zu definieren und auf jene strukturellen Merkmale zu verweisen, durch welche diese gegenwärtige Praxis der darstellenden Kunst mit jener aus dem späten 18. Jahrhundert in reziproker Verbindung steht. In beiden Epochen lässt sich das Singspiel als eine Formation lesen, die stets neue Antworten auf die Fragen und Probleme des Theatergefüges der Zeit formuliert, indem sie sich maßgeblich hochkultureller Vorlagen bedient und diese einem Sampling unterzieht, in andere Kontexte versetzt. Vor der Ausbildung klar geschiedener Wege in der Produktion, Distribution und Rezeption von Musik- und Sprechtheater ansetzend, lanciert das Singspiel ein intermedial versiertes, popkulturell informiertes und vornehmlich komisches 12 | Vgl. Urchueguía, Christina: Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760-1790. Frankfurt a.M./Basel 2015, S. 77. Der Teufel ist los gilt Urchueguía als Prototyp des Singspiels, weil die Aufführung nicht von Musikern als Variante der italienischen Oper konzipiert wurde, sondern von einer Schauspieltruppe unter gänzlich anderen dramaturgischen und institutionellen Prämissen. 13 | Vgl. Krämer, Jörg: Deutschsprachiges Musiktheater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1998, S. 60. 14 | Vgl. Urchueguía, 2015, S. 12. 15 | Die Bezeichnungen variieren. Neben dem Melo-, dem Mono- oder dem Duodrama werden zahlreiche weitere wie deutsche komische Oper, musikalisches Lustspiel, Schauspiel mit Gesang, Operette etc. verwendet, wobei sich Krämer (1998, S. 12ff.) gegen und Urchueguía (2015, S. 33ff.) für den Begriff Singspiel entscheidet. 16 | Vgl. Szondi, Peter: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister. Frankfurt a.M. 1973, S. 15.

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Spiel, aus dem eine starke Innovationskraft ergeht, die das Theatergefüge nachhaltig verändert. Das Singspiel bedingt aufgrund seiner hybriden Spielmodi und seiner diversen Spielräume die am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Disziplinierung und Professionalisierung der darstellenden Kunst. Denn obgleich »ein mittelmäßiger Gesang, von gutem Spiele begleitet, […] immer mehr Anwerth finden [wird] als die herrlichste Kehle mit Steifheit und Unbehaglichkeit des Körpers vergesellschaftet«, so muss doch ein Sänger, »wenn der Gesang vorbei ist, auch sprechen können, und seinen Dialog mit dem gehörigen Spiele zu begleiten wissen«17. Das Singspiel formuliert zudem eine Antwort auf die sozio-politische und ökonomische Gemengelage. Seine narrative Basis gründet sich überwiegend auf fremde, der italienischen opera buffa, der französischen opéra comique als auch der englischen ballad opera entwendete Vorlagen, die, von den fahrenden Truppen eingedeutscht und adaptiert, durch die Lande sowie durch die gesellschaftlichen Schichten verbreitet werden. Der virulenten Idee, darstellende Kunst als identitätsstiftendes Instrument für die Vereinigung der deutschen Nation zu funktionalisieren, setzt das Singspiel eine volkssprachliche und zugleich transnationale Praxis entgegen, die nicht nur die Übersetzung und Adaption fremder Vorlagen in die eigene Kultur ermöglicht und der Ausbildung eines Bildungskanons zuarbeitet, sondern auch die »wechselseitige Assimilation bestimmter bürgerlicher und bestimmter höfischer Wertordnungen erlaubt«18. Diese prädestiniert es – im Gegensatz zu den bürgerlichen Trauerspielen − zur (Massen-)Unterhaltung eines heterogenen Publikums. Nach dem Siebenjährigen Krieg findet das Singspiel in bereits bestehenden kleineren und mittleren Hoftheatern seine primäre Behausung, da deren Bespielung durch ausländische Operntruppen kaum mehr finanziert werden kann. Diese strukturellen Merkmale zeitigen auffällige Parallelen zur Gegenwart: Auch im zeitgenössischen Theatergefüge werden kleinere Compagnien mit ihren avantgardistischen Aufführungsformaten, die − in unterschiedlichen Sprachen, aber zumeist mit volkssprachlichen Übertiteln versehen − von Stadt zu Stadt, durch die verschiedenen Lande reisen, zu wichtigen Impulsgebern. Der Einsatz von Musik, Klang und Geräusch ist dabei ein wesentliches dramaturgisches Mittel, um ein theatrales Spiel zu lancieren, das nur in geringen Teilen sprachliches Verständnis oder einen narrativen Strang bedingt. Diese Aufführungen folgen dem Kalkül der Hybridisierung und des Samplings und sind ohne den Bezug zu den hochkulturellen Vorlagen, den Dramen, Opern, Filmen und Romanen, nicht zu denken, stellen sich aber vor allem durch ihre Komposition und durch ihr Spiel quer zum vorherrschenden Bildungskanon19 respektive zu den damit verbundenen, konventionalisierten Rezeptionsmodi. Denn diese Aufführungen setzen maßgeblich auf einen nicht uniform ausgebildeten Typus von Akteurinnen und Akteuren und entspre17 | Vgl. Stephanie d. J., Johann Gottlieb: »Vorrede« zu den Singspielen (1792), abgedruckt in: Renate Schusky (Hg), Das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert. Quellen und Zeugnisse zu Ästhetik und Rezeption. Wuppertal 1980, S. 91-97, hier: S. 92. 18 | Krämer, 1998, S. 36. 19 | Vgl. Siegmund, Gerald: »Zwischen Repräsentation und Partizipation. Zur gesellschaftlichen Lage des Theaters«, in: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 14, 2 (2017), S. 27-52, hier: S. 33.

Das Singspiel als kritische Praxis

chend auf ein Spiel, dessen Kalkül nicht auf virtuose Darstellung, sondern auf eine »unverrechenbare und nichtnormierbare Singularität«20 zielt. Diese Aufführungen zeigen, dass sich die darstellende Kunst im Hinblick auf ihren soziopolitischen Wirkungs- und Gültigkeitsbereich gegenwärtig neu justiert, und sie haben, wie auch jene aus dem späten 18. Jahrhundert, die Umbruchsituation nicht nur implizit zum Thema, sondern schlagen daraus ihr szenisches Kapital. Dadurch verändern sie letztlich das Theatergefüge, dem sie entspringen − weshalb sie hier ebenfalls als Singspiel bezeichnet werden und dieser Begriff erneut für die Theorie und Analyse produktiv gemacht werden soll. Der Begriff Singspiel definiert hier indes nicht eine Gattung, ein dramatisches Genre oder gar eine Norm, sondern weist auf eine spezifische szenische und epistemische Qualität hin, die eingangs mit Butler und Foucault angesprochen wurde und aus der letztlich das selbstreflexive und kritische, transformative Potential dieser Aufführungen rührt. Dramaturgisch betrachtet basiert die Komposition des Singspiels überwiegend auf einer »disjunktiven Synthese«21. Die unterschiedlichen Elemente des szenischen Geschehens werden verklammert, obgleich von einer für diesen Nexus notwendigen Handlung Abstand genommen wird. Musik, Sprache und Bewegung werden nicht im Hinblick auf eine Narration oder einen synthetischen Gesamteindruck konstelliert. Die Aufführung ordnet sich stattdessen über ein Spiel der Differenzen, um eine Szene zu entwickeln. Durch die Distanznahme gegenüber einer Handlung, fallweise gar durch ihre komplette Rückstellung gewinnt die Frage nach dem gewählten Ausdrucksmittel und dessen theatraler Qualität Dringlichkeit. Im Singspiel geht es »um eine Entbindung der Potentiale des Spiels gegenüber der lastenden Übermacht des dramatischen Gehalts«22 . Die Auffassung des Singspiels, wie sie hier vorgeschlagen wird, steht also in unweigerlicher Nähe zu Walter Benjamins Definition des Trauerspiels, welche ebenfalls dem Spiel eine entscheidende Bedeutung beimisst. Um die »Entwicklung des Spielhaften«23 zu verfolgen, lenkt Benjamin die Aufmerksamkeit auf die Reflexion als den seiner Meinung nach wesentlichen dramaturgischen und ästhetischen Mechanismus: »Nicht immer ist die Technik offenkundig, indem die Bühne selber auf der Bühne aufgeschlagen wird, oder gar der Zuschauer-Raum in den der Bühne einbezogen wird. Doch stets liegt nur in einer paradoxen Reflexion von Spiel und Schein […] die heilende und lösende Instanz.«24 Stärker noch als das Trauerspiel nutzt das Singspiel die verschiedenen Ausdrucksformen und Medien, um ›die Bühne auf der Bühne aufzuschlagen‹, um zu einer Reflexion vorzudringen, die durch den Rahmen der Bühne unweigerlich zu einer Selbstreflexion wird. Im disjunktiven Abgleich befragt es die spezifischen Eigenschaften seiner Elemente und Formen − die Spezifik der Musik, des Ge20 | Ebd., S. 42. 21 | Schäfer, Armin/Menke, Bettine/Eschkötter, Daniel: »Das Melodram. Ein Medienbastard. Einleitung«, in: dies. (Hg.), Das Melodram. Ein Medienbastard. Berlin 2011, S. 7-18, hier: S. 8. 22 | Menke, Bettine/Menke, Christoph: »Tragödie, Trauerspiel, Spektakel. Die drei Weisen des Theatralen«, in: dies. (Hg.), Tragödie, Trauerspiel, Spektakel. Berlin 2007, S. 6-16, hier: S. 7. 23 | Benjamin, 1978, S. 64. 24 | Ebd., S. 63.

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sangs, des Bildes, der Bewegung und der Ansprache ebenso wie weiterer Elemente − und erkundet so die möglichen Repräsentationsmodi derselben. Dabei werden nicht unbedingt neue Formen herangezogen, sondern zumeist Elemente, deren szenische Funktion aus Erfahrung bereits verbürgt ist. Das Singspiel ist dadurch charakterisiert, dass es bekannte, mitunter popkulturelle Formen beizieht wie beispielsweise das Vaudeville oder den Song, oder bekannte Figuren, Witze und Aussprüche. Über das Verfahren, »sich zu formen, jedoch innerhalb von Formen, die mehr oder weniger schon da sind oder sich abzeichnen«25, verfolgt das Singspiel die Reflexion des szenischen Geschehens. Dies gilt für das Singspiel zur Zeit Mozarts, das quasi den Endpunkt im 18. Jahrhundert darstellt, ebenso wie für jenes, das Heiner Goebbels Mitte der 1990er Jahre entwirft.

… und 1995 »Ich begreife das neue Werk gar nicht so sehr als meine eigene Komposition. Da spiele ich als Komponist sicher nur eine untergeordnete Rolle«26. Derart äußert sich Heiner Goebbels im Vorfeld der Uraufführung von Die Wiederholung am 8. April 1995 im Bockenheimer Depot. Da das Theater nach Goebbels »keine Botschaften vermitteln, sondern ein Ort für vergnügliche Beschäftigungen sein [soll]«27, setzt der Komponist und Regisseur primär auf Verführung, um anhand einiger Motive von Kierkegaard, Robbe-Grillet und Prince und zahlreicher klassischer Musikstücke das Publikum zu umwerben. Abseits dieses affektiven Appells gibt es keine Fabel im eigentlichen Sinne. Wir sehen einem Gitarrenspieler aus New York zu (John King), wir hören einem Schauspieler aus Belgien zu (Johan Leysen), und wir werden von einer Pianistin (Marie Goyette) gleichsam durch ihr Spiel als auch durch ihre Artikulation ein wenig verführt. Eine jede dieser Figuren zählt auf, was wir sehen können, »wenn der Vorhang sich öffnet«, wobei sich der Beschreibung nach und nach Auszüge aus Kierkegaards Tagebuch eines Verführers beimengen. Zu dieser Ansprache gesellt sich als zweiter literarischer Strang ein Dialog aus Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad, und als dritter die Lyrics des Songs Joy in Repetition von Prince. Diese drei ›bereits geformten Formen‹ werden in unterschiedlichen Sprachen verlautbart; manchmal wird die Ansprache mit Musik kombiniert, so zu Beginn oder während des Resnais-Dialogs; manchmal wird ohne begleitende Worte musiziert, manchmal nur gesprochen. Die verschiedenen Kombinationsmodi von Musik, Sprache und Bewegung werden vorgestellt, ehe sie in weiterer Folge in ein Spiel münden, dessen Bogen Goebbels in saloppem Ton beschreibt: »Es wird im ersten Teil sehr trocken, fast ohne Musik. Der zweite Teil ist dafür mehr ›filmisch‹ und modern konzipiert, der dritte ist schließlich der klassische Teil. Die unterlegte Musik deckt sich mit dem Zeitalter, aus dem die jeweiligen Texte dazu stammen.«28 Weitere Bestandteile dieser ›disjunktiven Synthese‹ sind 25 | Butler, 2009, S. 246. 26 | Anon.: »Das Depot soll ein Ort des Vergnügens werden: Heiner Goebbels eröffnet neue TAT-Spielzeit in Bockenheim. Ein Interview«, in: Frankfurter Neue Presse vom 7. April 1995 (o. S.). 27 | Ebd. 28 | Ebd.

Das Singspiel als kritische Praxis

Auszüge aus Kompositionen von Bach, Beethoven, Brahms, Schubert und Chopin, die in Teilen, in Takten und manchmal auch nur in Tönen, aber immer live auf der Bühne gespielt werden. All diese Elemente werden wiederholt und rekombiniert, in ihrer Komplexität gesteigert, mit langen Pausen ab und an dazwischen. In Gang gehalten wird dieses retardierende Geschehen durch das »filmisch motivierte, oft marionettenhaft lakonische Spiel der Darsteller«29. Szenische Wirkung erlangen die einzelnen Elemente vornehmlich durch die Art und Weise ihres Auftritts. Der erste Einsatz ist nicht das Öffnen des Vorhangs, sondern der markante Klang zweier aneinander schlagender Hölzer, an den das Klavier mit einer aufsteigenden Phrase sowie die Artikulation des ersten Textes anschließt, ehe in einem zweiten Schritt das Licht aufgedimmt wird. Von Beginn an bekommen die einzelnen Elemente ihren je eigenen Auftritt zugestanden; und von Beginn an treten sie nicht nur in Differenz zueinander, sondern machen vor allem auf jene Differenz oder Mannigfaltigkeit aufmerksam, die sie konstituiert. Die Wiederholung wirft ein jedes Element immer wieder und jeweils anders in die vage Unbestimmtheit der Bühne, sodass mehrere Seiten desselben als Möglichkeit aufscheinen.30 Das ist maßgeblich dem Bühnenbild von Erich Wonder zuzuschreiben, das sich in Die Wiederholung nahezu permanent verändert. »Wände bewegen sich lautlos, Lichtkorridore gliedern die leere Bühne, die Drehbühne wird zum Mitspieler«31; »die runde Wand ist fast unentwegt in Bewegung und suggeriert, je nachdem, ob konkav oder konvex plaziert, Innen- oder Außenräume«32 − so beschreiben die Kritiken die besondere Wirkung der Bühne, deren Variabilität sie letztlich als »kleines Gesamtkunstwerk«33 oder als »Theaterwunderwelt«34 zu fassen versuchen. Die Bühne erlaubt eine Fülle von Abschattungen, obgleich das Publikum auf der Rampe seine perspektivische Ausrichtung nur schwer umgehen kann. Sie konfrontiert die Rezipierenden vorderhand mit der vagen Unbestimmtheit der auftretenden Elemente. Darüber hinaus aber, und das scheint der Mechanismus zu sein, den Die Wiederholung als Singspiel für ihre Ästhetik produktiv macht, können die einzelnen Elemente durch den wiederholten Auftritt in ihrer Kenntlichkeit verändert werden. Die Bühne bildet demnach einen für jeden Auftritt notwendigen Resonanzund Schattenraum. Dieser erweist sich allerdings in seinen Grundfesten als variabel. Das grundlegende spielerische Prinzip von Goebbels’ Wiederholung liegt nun weniger darin, die unterschiedlichen Elemente zu variieren und sie als andere 29 | Ehrler, Hanno: »Im Reich der Sinne. Heiner Goebbels’ Musiktheaterstück ›Die Wiederholung‹ am Frankfurter Theater am Turm uraufgeführt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. April 1995, S. 35. 30 | Vgl. hierzu Edmund Husserls Idee der Abschattung, in: ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 1 (= Husserliana 3). Hamburg 1992, S. 91ff. 31 | Gerberding, Christine: »Wunderbare Einladung an die Phantasie«, in: Berliner Morgenpost vom 15. Okt. 1995 (o. S.). 32 | Roelcke, Eckhard: »Der tiefe Sinn des Doppelpunkts: Heiner Goebbels in Frankfurt: Die Wiederholung – La Reprise – The Repetition«, in: Die Zeit Nr. 16/1995 vom 14. April 1995 (o. S.). 33 | Gerberding, 1995 (o. S.). 34 | Roelcke, 1995 (o. S.).

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hervortreten zu lassen, sondern die sich wiederholenden Auftritte stets in einem leicht veränderten Resonanz- bzw. Schattenraum zu plazieren. Wann immer die ›bereits geformten Formen‹ nach einer Pause oder inmitten des Geschehens erneut einsetzen, hat sich, durch das bereits erfolgte Auftreten dieser, durch die (Re-) Kombination mit anderen Elementen oder durch bühnentechnische Mittel ihr Resonanz- und Schattenraum markant verändert. Die Aufmerksamkeit der Rezipierenden wird auf die nun neuen Resonanzen und Schatten des bekannten Textes, der bekannten Musik, der bekannten Bewegung gelenkt. Die Wiederholung bringt, neben der Differenz der szenischen Elemente zueinander und zu sich selbst, vor allem eine subtile Verschiebung jenes spezifischen Resonanz- und Schattenraumes zum Vorschein, den der Apparat der Bühne eröffnet. Darüber thematisiert und reflektiert die Aufführung auch ihr spezifisches, vorgängiges Regelwerk, ihr »Zugangsprotokoll«35, unterzieht die Aufführung die Möglichkeiten der Bühne einer kritischen Selbstbefragung. Die Wiederholung erweist sich so als durch und durch selbstreferentielles Spiel − und nicht zuletzt als eine Praxis der Kritik. Die These, dass das Singspiel seine repräsentativen Qualitäten ästhetisch produktiv zu machen weiß, findet ihre Bestätigung. Zudem wird eine interessante Parallele der Theatergefüge des 18. und des endenden 20. Jahrhunderts bemerkbar: In beiden Epochen lässt sich das Singspiel als eine Formation lesen, die im Modus der Kritik, das heißt in und als Selbstreflexion, eine Antwort auf die Fragen und Probleme der ästhetischen und politischen Ordnung der Zeit formuliert, die quer zu jenem starren Reglement steht, das von den führenden Institutionen mehr oder weniger vorgegeben wird. Zu beiden Zeiten bildet ein Patchwork von Quellen die zentrale Basis dieser kritischen Praxis, auf der die unterschiedlichen Strategien des Zitierens, Kopierens und vor allem der Wiederholung zur Wirkung kommen. Indem die szenischen Elemente mit einem anderen und sich immer wieder verändernden Schatten- und Resonanzraum versehen werden, bewerkstelligt das Singspiel eine An- und eine Abreicherung und darüber hinaus die Transformation ihrer Vorlagen. Darüber sorgt es für nachhaltige Innovationen in der Ordnung der darstellenden Kunst. Zitat, Kopie und Wiederholung machen das Singspiel zu einer paradigmatischen kritischen Praxis und darüber hinaus »von der anekdotischen Ausnahmeerscheinung« zur »unkontrollierbaren Gefahrenquelle«36 im ästhetischen Regime der (damaligen) Zeit.

35 | Vogel, Juliane: »›Who’s there?‹ Zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater«, in: Juliane Vogel/Christopher Wild (Hg.), Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin 2014, S. 2237, hier: S. 27. 36 | Vgl. Urchueguía, 2015, S. 82.

»Am Anfang« Die Kritik und ihre Aporien, der Tod und seine Abschaffung am Beispiel Valeska Gerts Felix Stenger »Am Anfang.« – Dies die vollständige Antwort Valeska Gerts, zu diesem Zeitpunkt 83 Jahre alt, in der Talkshow Je später der Abend auf die eröffnende Frage, wo sie in ihrem Leben stehe. Im Lakonismus der Antwort, in ihrer Kürze, vor allem aber in ihrer Irrationalität, ihrem sympathischen Trotz wider alle Realität, liegt bereits einiges von dem offen zutage, was in der hier folgenden Auseinandersetzung erst mühsam einem ihrer Tänze abgerungen wird: Wie sich zu einer Tatsache verhalten, die offenkundig unausweichlich ist, die zu akzeptieren jedoch ebenfalls keine Option darstellt, will man sich einen Begriff von Rationalität bewahren? Das, was von allen so offenkundig und aus dezidiert vernünftigen Gründen anerkannt wird, einfach nicht akzeptieren zu wollen, nämlich dass das eigene Leben zu Ende geht: Es ist diese Frechheit, die nicht nur das allgemeine Verständnis von Leben – und dem Tod, der immer dazugehöre – angreift, sondern notwendig denjenigen als Provokation auf die Füße fallen muss, denen bereits das Leben wie ein einziger, langer Tod sich darbietet. So muss Individualität, die schon in ihrer verkümmerten Form als bürgerliche Subjektivität kaum mehr existiert, an denjenigen exorziert werden, die sich der allgemeinen Regression zu entziehen versuchen, beweisen sie doch damit gleichzeitig, dass es so, wie es ist, nicht unbedingt immer hätte sein müssen – im Fall eingangs zitierter Äußerung Valeska Gerts etwa in Form eines Publikums, das sich im Gelächter des Scherzcharakters der Äußerung zu vergewissern versucht und im schlimmsten Fall als Form von Senilität abtut, was an Ernst doch kaum zu überbieten ist: Emphase eines Menschen, der sich weigert, ein Leben in Phasen zu führen.

U rbaner L akonismus oder die Ä sthe tik der U nterbrechung Ein großer Teil der Forschung zu Valeska Gert stellt das Fragmentarische, Allegorische, Unabgeschlossene ihrer Tänze in den Vordergrund.1 Damit ist ein Aspekt 1 | Vgl. Foellmer, Susanne: Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre. Bielefeld 2006; sowie Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995.

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angesprochen, der sich unter dem Stichwort Unterbrechung zu einem nichtmimetischen Körperkonzept verdichtet, das mit Worten wie Stakkato, Synkope oder Segmentierung beschreibbar wird. In einem weiteren Sinn ist darunter aber auch ein selbstreflexives Moment angesprochen – als Bruch sowohl mit der Tradition des Balletts als auch anderen zeitgenössischen Darstellungspraktiken wie etwa dem Ausdruckstanz Isadora Duncans oder Mary Wigmans. Beide Brüche zusammen – die gebrochene Bewegung als bewusster Bruch mit naturalistischen Ambitionen – gerinnen Valeska Gert auf diese Weise zu einem entscheidenden ästhetischen Prinzip, das sich wie wohl nur das Groteske durch ihre gesamte Arbeit zu ziehen scheint.2 Gleichzeitig deutet die thematische Auswahl der Tänze Valeska Gerts bereits in eine ähnliche Richtung: Tänze wie Nervosität, (Berliner) Verkehr, Zirkus, Kino oder Boxen sprechen von einer Beschäftigung mit modernen Großstadtphänomenen und deren Einfluss auf Zeitempfinden und Wahrnehmungsmodi. So kündigt sich hier bereits Gerts Verhältnis zu moderner Subjektivität an: Indem sie Alltagssituationen des urbanen Lebens zum Ausgangspunkt ihrer Tänze macht, erkundet sie die Bedingungen, Verfahrensformen und Kränkungen jener Subjektivität in einem fast naiv anmutenden Lakonismus, der mit plumper Affirmation jedoch so wenig zu tun hat wie mit metaphysischer Ursachenforschung. In der Negation des ungebrochenen und harmonischen Tanzes und der Betonung der Unabgeschlossenheit der Bewegungen wie des Körpers, der sie ausführt, zeichnet Valeska Gert tänzerisch die Diagnose einer gebrochenen Subjektivität nach, welche längst bis in ihre innere Zeitstruktur hinein heteronomen Reglementierungen verfallen ist. Wird die Brechung der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper in der profanen Sphäre der Lohnarbeit zumeist (und zu Recht) als Entmündigung erfahren, eignet ihr – ästhetisch gewendet – jedoch paradoxerweise die Möglichkeit der Re-Okkupation von Handlungsfreiheit: indem sie einen Raum der Selbstdistanzierung und damit auch einen der Selbstreflexion öffnet. Weil die Unterbrechung im Tanz nicht bloß jene Stelle im Produktionsprozess markiert, an der alles wieder von vorne losgeht – im Sinne einer sich endlos perpetuierenden Wiederholung –, sondern Eingedenken, Sammlung, Stillstand, birgt sie die Möglichkeit, anders weiterzumachen oder gar aufzuhören.3 Gleichwohl und zugleich ist die Unterbrechung der (flüssigen) Bewegung ihrer Form nach der Arbeitswelt entlehnt, reflektiert also dort gemachte Erfahrungen und leugnet sie nicht schlicht. So wird die Unterbrechung auch zum Protest gegen den Versuch, jene Selbstentfremdung vermeintlich ungeschehen zu machen, indem hinter sie zurückgegangen wird und blind ein natürliches, unbeschädigtes Subjekt rehabilitiert werden soll. Valeska Gert bezieht damit eine Position, die sich am avantgardistischen Projekt der Destruktion tradierter Werk- und Subjektkategorien zwar beteiligt und durchaus als Protest gegen krisenhafte Erfahrungen der bürgerlichen Moderne verstanden werden will, gleichwohl aber auch gegen Versuche deren regressiver Lösung auf einer unversöhnten Subjektivität beharrt, die Autonomie und Körperbeherrschung nur vermittelt über die Figur der gebrochenen Bewegung noch behaupten kann – und damit der Mobilisierung des kompletten Menschen entsagt, 2 | Vgl. Brandstetter, 1995, S. 449. 3 | Vgl. hierzu prägnant Benjamin: »Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit)« (Benjamin, Walter: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I-2. Frankfurt a.M. 1974, S. 636).

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die sich bereits im ganzheitlichen Geraune der Lebensreformer ankündigt und deren ästhetische Manifestation sich bspw. bei Vertreterinnen des Ausdruckstanzes beobachten ließe.

V orr ang des O bjek ts , A bschaffung des Todes Interessanterweise gerät all dies ins Stocken, betrachtet man den Tanz Tod. Vor allem seine nahezu harmonische Geschlossenheit bei gleichzeitiger Weigerung, in die Metaphysik abzuspringen, vereitelt die Möglichkeit ebenjener heteronomen »Umkehrungen und Gegenlektüren«, wie sie Brandstetter der Ästhetik der Unterbrechung einräumt4 und die Foellmer dazu veranlassen, in Anlehnung an Brecht vom epischen Tanz Valeska Gerts zu sprechen.5 Fred Hildenbrandt schildert den Tanz in seiner Reduziertheit in gleichwohl reduzierten Worten, wenn er schreibt: »Sie tut nichts. Sie steht und stirbt.«6 Mehr noch: »Es geschieht nichts an Bewegung.« 7 In der Tat ist der Tanz in erster Linie eine Stillstellung von Bewegung: Valeska Gert steht auf der Stelle, rührt sich nicht vom Fleck und »stirbt«. Sie tut dies, wie sie später selbst beschreibt, »in einer einzigen Bewegung. Ich habe die eine Bewegung von unten nach oben gemacht und innerhalb dieser Bewegung bin ich gestorben.«8 Neben den Kommentaren Hildenbrandts sind es vor allem die Photographien und eine Videoaufnahme Suse Byks von 1925, anhand derer sich die Choreographie rekonstruieren lässt.9 In dieser präsentiert sich Gert, ein schwarzes, gerade geschnittenes Kleid tragend, das keine Anhaltspunkte für den Blick bietet und ihren Körper nur noch erahnen lässt.10 Die Aufnahme zeigt einen auffällig unaufgeregten Todeskampf, der relativ treu den Vorgang des Sterbens abzubilden sucht und seine Dynamik in erster Linie aus dem Wechsel von Anspannen und Erschlaffen der Arme und der Gesichtszüge Gerts bezieht. Anfänglich in fast zärtlich anmutender Pose, den Kopf auf der Schulter abgelegt, spannt sie den Oberkörper langsam an. Während die Hände, in die Hüften gestemmt, zu Fäusten verkrampfen und sich die Gesichtsmuskulatur insbesondere um die Augen herum verspannt, heben sich langsam die Schultern zu beiden Seiten des Kopfes. Dieser neigt sich mehr und mehr nach hinten, gleichzeitig öffnet sich der Mund wie zu einem tiefen, erbarmungslosen Schrei. Anschließend steht Valeska Gert nahezu aufrecht, den rechten Arm nach schräg oben, den linken nach schräg unten gereckt und die Hände zu Fäusten geballt, die Augen mittlerweile ganz geschlossen und den Mund zu einer großen, runden Öffnung geformt. Das Zentrum bildet das gut beleuchtete, helle Gesicht, das einen einzigen großen Schrei auszustoßen scheint. Nachdem beide Arme herabgesunken sind und für einen Moment lang Entspan4 | Brandstetter, 1995, S. 460. 5 | Foellmer, 2006, S. 87-89 sowie S. 93f. 6 | Hildenbrandt, Fred: Die Tänzerin Valeska Gert. Stuttgart 1928, S. 129. 7 | Ebd. 8 | Valeska Gert in: Volker Schlöndorff, Nur zum Spaß, nur zum Spiel. Kaleidoskop Valeska Gert. Dokumentarfilm, BRD 1977. Zit. nach: Foellmer, 2006, S. 185. 9 | Vgl. für die Videoaufnahme die beigelegte CD-ROM in: Foellmer, 2006. 10 | Vgl. Foellmer, 2006, S. 185.

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nung zu herrschen scheint, setzt Valeska Gert zu einem letzten, großen Schrei an, von wiegenden, wankenden Kopf bewegungen begleitet, die Arme weit zu beiden Seiten ausgestreckt. Schließlich löst sich die Spannung im gesamten Körper: Die Arme und die Schultern sinken herab, der Mund schließt sich, bis schließlich das Kinn auf die Brust fällt. In dieser Stellung bleibt Valeska Gert unbewegt stehen, bis die Aufnahme endet. Wie Foellmer anmerkt, steht der Tanz zeitgenössischen Darstellungen des Todes »diametral gegenüber«11. So hat er in seiner »fast zur Bewegungslosigkeit reduzierte[n]  Gestik«12 nichts zu tun mit der »metaphysischen Inspiriertheit der Schöpfungen Mary Wigmans«13, wie diese sie etwa in Totenmal oder in Todesruf präsentiert. Gleichzeitig entsagt Valeska Gert auch der emblematischen Darstellungstradition im Sinne einer Verkörperung der Figur des Todes.14 Insofern reiht sich auch dieser Tanz Valeska Gerts in den eingangs beschriebenen Bruch mit sowohl Darstellungspraktiken anderer Avantgardistinnen als auch der naturalistischen Tradition nahtlos ein – Foellmer bezeichnet den Tanz folgerichtig als »Tabubruch der Bühnenkonvention«15. Doch vollzieht sich in ihm eine Wendung Gerts eigener Inszenierungsstrategie der Unterbrechung – wenn nicht gar, und das gilt es hier zu diskutieren, ein Bruch mit ihr. Dies beginnt schon bei der Figur der Unterbrechung selbst, die den Tod nicht mehr zu fassen in der Lage ist: Er ist keine Unterbrechung unter anderen, vielmehr kommt in ihm das Prinzip der Unterbrechung selbst an sein Ende. Meint diese gewöhnlich eine Stelle des Innehaltens, die ein Vorher und ein Nachher hat, markiert der Tod jenen letzten und endgültigen Bruch, der kein Nachher mehr kennt. Er induziert damit eine Unterbrechung der Ästhetik der Unterbrechung in dem Sinne, dass dieses Formprinzip ihm schon nicht mehr gerecht wird. Folgerichtig ist er bei Valeska Gert auch nicht ontologisch behaftet als sinnstiftende Instanz, von der aus – analog zur Ästhetik der Bewegungsunterbrechung in ihren anderen Tänzen – Subjektivität sich einen Ort der Autonomie freisprengen könnte. Er ist keine Möglichkeit des Subjekts, die dieses sich irgend aneignen könnte, sondern schiere und äußerliche Notwendigkeit.16 Folgerichtig ist der Tanz Tod in seiner Reduziertheit und Knappheit – er dauert ganze 90 Sekunden – kein metaphysischer Versuch, »im Tod den Sinn des Lebens zu ergründen«17, wie dies etwa bei Wigman immer wieder begegnet. Kein Sein zum Tode als eigentliche, wahrhaftere Daseinsform wird entfaltet, keine retrospektiv gewandte Erschließung des Lebensganzen durch ihn hindurch eröffnet, keiner Opposition zum (vermeintlich) hedonistischen und lebensbejahenden Impetus der 11 | Ebd. 12 | Ebd. 13 | Ebd. 14 | Ebd. 15 | Ebd. 16 | »Der Tod ist nicht meine Möglichkeit, nicht zu sein, sondern die Vernichtung meiner Möglichkeiten zu sein« (Schmid Noerr, Gunzelin: Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses. Darmstadt 1990, S. 268). 17 | Müller, Hedwig: Mary Wigman. Leben und Werk der großen Tänzerin. Weinheim/Berlin 1968, S. 201. Zit. nach: Foellmer, 2006, S. 185.

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urbanen Moderne der Rücken gestärkt, kurz: In den so realistisch wie lakonisch getanzten eineinhalb Minuten finden sich keinerlei Züge einer wie auch immer gearteten Apologie des Todes. Zudem ist er selbstgenügsam: Er ist keiner anderen Ordnung verpflichtet und verweist auf kein größeres Ganzes, ist somit auch nicht allegorisch und bezieht keine Rechtfertigung von äußeren Instanzen, ganz anders als etwa der Opfer- oder Heldentod, der, als kausale Notwendigkeit, das Subjekt nur noch als Ziel instrumentellen Zugriffs kennt und das Individuelle in ihm je immer schon vergisst. Schließlich gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Tod hier lediglich die Schwelle zu einer anderen Daseinssphäre wäre – womit er nicht nur unverhofft christlich geriete, sondern ihm auch jener Stachel gezogen wäre, den seine Endgültigkeit immer auch bedeutet –, noch eignen ihm bei Valeska Gert zirkelförmige Motive von Reinkarnation (dies die spiritistische Variante).18 In keinen Sinnzusammenhang geflochten, steht der individuelle Tod völlig unbeholfen, beinahe: nihilistisch entkleidet, im Raum – und entleert auf diese Weise ebenso jede Formsprache ihres Bedeutungsgehalts. Auch Valeska Gerts eigener Tanzsprache geht so die Relationalität abhanden: Verweist sie doch nur auf Innerweltliches und kann kraft ihrer Semiotik, wie vermittelt auch immer, je nur Bedeutung produzieren. Der Tod hingegen scheint als Faktum sinnlos, als Sujet schießt jede ihm angeheftete Bedeutung an seinem Kern – der Negation von Bedeutung – vorbei. Um ihn tanzen zu können, muss daher alles Diesseitige, auch Valeska Gerts eigene Darstellungstechnik, in einem metaphorischen Sinn sterben. Der Tanz ist so nicht mehr gebrochene Bewegung, sondern der Bruch mit Bewegung an sich – und darin schon an der Grenze von Tanz überhaupt. In dieser Weigerung, überhaupt etwas darzustellen, oder besser: etwas anderes darzustellen als das Ende aller Darstellung, schlägt der Gegenstand zurück auf die Formen seiner Inszenierung: Er bestimmt die Möglichkeiten und Grenzen seiner Darstellbarkeit, ist in diesem Sinne vorrangig. Hierin unterscheidet er sich auch deutlich von allen anderen getanzten Sujets Valeska Gerts: Sind es sonst erwähnte Topoi modernen Großstadtlebens mit ihrer auffälligen Diesseitigkeit, denen formal mit der ebenso diesseitigen, weil historische Erfahrungen reflektierenden Strategie der Bewegungsunterbrechung begegnet wird, provoziert der Gegenstand in Tod eine Absage eben nicht nur an verbrauchte Verfahren seiner Darstellung, sondern auch an die Valeska Gert selbst gewohnten Prinzipien der Handhabung diesseitiger, weil weltlicher Phänomene. Indem Valeska Gert dort, wo sie auf den Tod kommt, ihren Tanz nahezu sterben lässt, besser: wenn von Seiten des Sujets her sich dieser bewegungsanalytische Tod aufdrängt, Valeska Gert hier also in einem gewissen Sinne auf eine ›negative‹ Ästhetik verfällt, tritt nun ein gänzlich anderes, zutiefst religiöses Motiv auf den Plan: dasjenige des Bilderverbots. Meint dieses in monotheistisch verfassten Religionen das Verbot, sich von Gott oder seinen Gesandten ein Bild zu machen, firmiert es in der Kritischen Theorie in einer Engführung des transzendentalen Gehalts von Religion und befreiter Gesellschaft stellvertretend für die Unmöglichkeit, über die Utopie positiv etwas auszusagen.19 So empfiehlt Theodor W. Adorno 18 | So kommt der Tanz bspw. komplett ohne Musik aus: Kein Rhythmus, der ihn archaisieren, keine Komposition, die ihn einschließen würde. 19 | Vgl. Münz-Koenen, Inge: Konstruktion des Nirgendwo. Die Diskursivität utopischen Denkens bei Bloch, Adorno, Habermas. Berlin 1997, S. 93. Vgl. auch in der Dialektik der

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in einem Gespräch mit Ernst Bloch, »um der Utopie willen zu verbieten, von der Utopie ein Bild zu machen, im tiefen Zusammenhang mit dem Gebot: ›Du sollst dir kein Bild machen!‹, das wahrscheinlich ebenso die Abwehr der zu billigen, der zu falschen, der Utopie ist, die es sich abkaufen läßt, was eigentlich gedacht war«20. In dieser Wendung wird die Utopie zum Ort, an dem alles ganz anders sei – in durchaus wörtlicher Übersetzung als Nicht-Ort, der (noch) nicht ist und über den nur ex negativo Aussagen möglich sind. Wo »die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt«21, wie Adorno im letzten Aphorismus der Minima Moralia schreibt, zeichnet sich die Utopie gewissermaßen als Schatten ab, der vom erlösten Zustand in den hiesigen herüberfällt: in der bestimmten Negation alles innerweltlich Vorgefundenen.22 Die apodiktische Kehrseite dessen bildet das Verbot, positive Aussagen über den erlösten Zustand zu treffen: Jedwede konkrete Vorstellung der Utopie blamiert zugleich ihren eigenen Gedanken, bleibt sie doch notwendig empirischen Kategorien verhaftet – und setzt jenen Ort, über den sie spricht, gleichzeitig voraus als Ort, von dem aus sie spricht. Das Bilderverbot meint also das Verbot, die Utopie sich vorzustellen – analog der Beschränkung im Tanz Tod auf dessen rein innerweltliche Phänomenologie, die Metaphysik scheuend und auf Diesseitigkeit beharrend, wo diese endet. Die Diagnose vom ›sterbenden Tanz‹ zielt bewegungsanalytisch bereits in eine ähnliche Richtung, bereitet jedoch vor allem den Boden für die Todeskonzeption Valeska Gerts, die jener materialistischen, auf seine Abschaffung drängenden der Kritischen Theorie so erstaunlich nahe scheint. Die Weigerung Valeska Gerts, ihm irgend ein positives Recht zu gewähren, ihn gleichzeitig doch nicht zu verdrängen oder gar zu leugnen, sondern ihn einzig in seiner brutalen Banalität zur Aufführung zu bringen, entstellt den Tod vielmehr erst zur Kenntlichkeit: zur kreatürlichen Spur aller Individuation. Der Tod erscheint in dieser Perspektive nicht als Aufgabe oder Telos des Individuums, sondern kappt dessen Möglichkeit, zu sein – bedingt also nicht Subjektivierung, sondern beendet diese. Der Einspruch gegen den Tod trifft sich abermals mit der Idee von Utopie, wo der Gedanke an diese die Abschaffung jenes bereits in sich trägt. So stellt Adorno in erwähntem Gespräch mit Bloch die Vorstellung von der Abschaffung des Todes in direkten Bezug zur Möglichkeit, einen sinnvollen Begriff von Utopie überhaupt zu bilden: »Utopisches Bewußtsein meint ein Bewußtsein, für das also die MögAufklärung: »Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns. […] Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots« (Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [= Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3]. Frankfurt a.M. 1984, S. 40). 20 | Bloch, Ernst/Adorno, Theodor W.: »Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno«, in: Rainer Traub/Harald Wieser (Hg.), Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt a.M. 1975, S. 58-77, hier: S. 69. Hervorhebung im Original. 21 | Adorno, 1980, S. 281. Vgl. auch das entsprechende Kapitel »Negative Dialektik – eine Utopie in Spiegelschrift«, in: Münz-Koenen, 1997, S. 113-120. 22 | Vgl. Bloch/Adorno, 1975, S. 70.

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lichkeit, daß die Menschen nicht mehr sterben müssen, nicht etwas Schreckliches hat, sondern im Gegenteil das ist, was man eigentlich will.«23 Eine solche Kritische Theorie steht damit als Antipode jeder Todesverfallenheit gegenüber, wo immer diese sich äußert – Konsequenz ihrer Opposition »zu allen ontologischen Entwürfen, zumal wenn diese die Verneinung individueller Lebensansprüche zum Angelpunkt der Sinngebung erklären«24. Die Figur von der ›Abschaffung des Todes‹ ist jedoch nicht bloß als Frage nach den biologisch-technischen Bedingungen der Möglichkeit seiner Überwindung zu verstehen, wie dies sich bspw. bei Marcuse oder den russischen Kosmisten finden ließe; der utopische Zustand nicht einfach mit Unsterblichkeit auf den Begriff zu bringen. Vielmehr liegt in beiden Begriffen – Tod und Unsterblichkeit – eine unauflösliche Antinomie. So ist der eigene Tod zwar denkbar, jedoch nicht vorstellbar, ohne sich dabei gleichzeitig als unsterblich zu imaginieren: »Ich kann meinen eigenen Tod zwar rational antizipieren und als unausweichlich einsehen, ihn mir aber nicht vorstellen, ohne mich als dieses vorstellende Subjekt zugleich festzuhalten und damit als unsterbliches zu denken.«25 Gleiches gilt, unter umgekehrten Vorzeichen, von der Unsterblichkeit: Auch sie »widersetzt sich der Vorstellung, denn es wäre eine raum-zeitliche Existenz außerhalb von Raum und Zeit«26. Die Konzeption von Unsterblichkeit auf Grundlage der empirischen Todesgewissheit verdoppelt also bloß das schlechte Allgemeine und läuft damit selbst auf ›tote‹ Zeit hinaus. Die Utopie als ›Spiegelschrift‹ des Bestehenden kommt damit im Tod an ihre eigene Grenze: dessen vermeintliche Antithese, die Unsterblichkeit, erweist sich als schlechthin komplementär.27 An ihm zeigt sich anschaulich die Unmöglichkeit, auf Grundlage diesseitiger Gefüge das Utopische kategorial zu entwerfen. Dieses Resultat ist offensichtlich nicht zufriedenstellend, legt es doch Zeugnis ab von einer inkommensurablen Idee von einer ›Abschaffung‹ des Todes: Weder rein metaphorisch gemeint noch spekulativ den technischen Fortschritt in Haft nehmend, ist sie vom Denken aufgegebene Notwendigkeit, die sich gleichzeitig undenkbar darbietet.

N achleben und E rlösung : E xkurs zu B enjamin Ein Diskurs, der sich ebenso aufdrängt und einen Ausweg aus der aporetischen Situation weisen könnte, ist der des ›Nachlebens‹. Ursprünglich von Aby Warburg eingeführt, um einen nach wie vor bestehenden bzw. wieder zu erneuernden Einfluss der Antike auf die krisenhafte Moderne zu behaupten, reift der Begriff bei Walter Benjamin – insbesondere in der »Aufgabe des Übersetzers« – zur Denkfigur, die mehr meint als das überhistorische Fortwirken kultureller Tradition; ja 23 | Bloch/Adorno, 1975, S. 66. Hervorhebung im Original. 24 | Schmid Noerr, 1990, S. 233. Wenig überraschend ist die damit einhergehende Frontstellung zu Heidegger und dessen Existentialontologie, die im ›Vorlaufen in den Tod‹ zu sich selbst kommt. Vgl. hierzu: ebd., S. 237f. 25 | Ebd., S. 241. 26 | Ebd. 27 | Vgl. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik (= Gesammelte Schriften, Bd. 6). Frankfurt a.M. 1990, S. 364.

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sich bei ihm aufspreizt zu einer Konstellation, von der aus eine neue Form der Geschichtsschreibung erschlossen werden soll. Georges Didi-Huberman wiederum holt den Begriff bei Benjamin ab und entwickelt ihn weiter zu einem vor allem für eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses brauchbaren kulturwissenschaftlichen Instrument. All diesen Konzeptionen gemein ist ein dezidiert a-zyklisches Geschichtsverständnis, das sich nicht in den üblichen Größen Leben/Tod, Entstehen/Verfallen etc. bewegt, sondern von (Dis-)Kontinuitäten, Sprüngen und Überblendungen durchsetzt ist. Bezogen auf Kunstwerke meint dies vor allem, dass ein solches sich nicht als Artefakt in seinem spezifischen historischen Kontext erschöpft, sondern diesen überdauert und sich je stets entwickelt, indem es seinen ursprünglichen Kontext zwar transportiert, es aber zugleich mit neuen Situationen und Umständen neue Relationen eingeht, sich modifiziert und – wie Benjamin am Beispiel der Übersetzung zeigt – gar erst nachträglich vollendet wird. Solche Art nachträglichen Dringlich-Werdens ist eng verwoben mit Benjamins Theorie der Erinnerung, spezieller: dem Begriff des Erwachens. Analog zu Prousts individual-biographischem Zugang in der Recherche fordert Benjamin einen Erinnerungs- und damit einen Geschichtsbegriff, der an der unwillkürlichen Erfahrung des Choc – ein Begriff, den er wiederum von Baudelaire entlehnt und der in Nähe zur unreglementierten Erfahrung Adornos zu denken wäre – sein Vorbild hat. Benjamin hat nicht weniger im Sinn als eine »kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung«, deren Primat nicht mehr der (vermeintliche) Nachvollzug der Vergangenheit ist, sondern eine erinnernde Vergegenwärtigung der Historie, die die Gegenwart adressiert. Dem blitzhaften »Vorbeihuschen« der Vergangenheit, wie Benjamin im Passagen-Werk formuliert, korrespondiert also nicht mehr die Vorstellung eines historischen Kontinuums, das sich logisch-linear entfaltet und dem Erinnernden darbietet, vielmehr verdichtet sich Vergangenheit in solchem schockhaften Erwachen zum Bild. Mehr noch: Benjamin stellt Geschichte als potentiell Unabgeschlossene vor, wird sie erinnernd – sozusagen ›nachlebend‹ – vergegenwärtigt. Der Gedanke speist sich wie das Bilderverbot bei Adorno und Bloch aus der jüdischen Theologie, und wie dieses wird auch er materialistisch geerdet: Benjamin aktualisiert »die messianische Auffassung, daß ›die Vergangenheit‹ einen ›Anspruch‹ auf ›Glück‹ und ›Erlösung‹ habe«28. Eingedenk der Kritik Horkheimers, eine solche Idee von der Unabgeschlossenheit der Geschichte sei idealistisch, wenn die materielle – sprich: körperliche – Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen sei, da »vergangenes Unrecht tatsächlich geschehen« sei und »die Erschlagenen tatsächlich erschlagen« seien, geht es Benjamin um eine Umwertung der Historie. Die Idee der Erlösung wird damit »aus ihren religiösen und geschichtsphilosophischen Bindungen befreit und von einer ungewissen Zukunftserfahrung zu einem Augenblicks-Phänomen, das jederzeit erfahrbar ist«29. Indem Geschichte also nicht mehr als Kontinuum, sondern als unwillkürliche Abfolge von Bildern gedacht wird, die die Gegenwart in Gestalt des Erwachens förmlich heimsuchen, ist Erlösung nicht ein erst noch einzuholender Endzustand, wie

28 | Schöttker, Detlev: »Erinnern«, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamins Begriffe. Bd. 1. Frankfurt a.M. 2000, S. 260-298, hier: S. 290. 29 | Schöttker, 2000, S. 290f.

»Am Anfang«

dies der historische Materialismus marxistischer Lesart vorstellte, sondern Situation, die potentiell jederzeit eintreffen kann.30 Paradoxerweise führt der Gedanke des ›Nachlebens‹ damit zu einer unwahrscheinlichen Gleichzeitigkeit von Hybridität und Stillstellung: Steht er einerseits für ein Modell permanenter Unabgeschlossenheit, Verfügbarkeit und unwillkürlichen Wieder-Erwachens, brennt er Geschichte gleichzeitig in voneinander geschiedene, stillgestellte Bilder. Der Vorstellung eines gleichförmigen Kontinuums – einer »homogenen und leeren Zeit«31 – setzt Benjamin die Aufsprengung und Diffusion von Zeit entgegen: »Mit dieser Bestimmung bestätigt sich die Liquidierung des epischen Moments der Geschichtsdarstellung. Der unwillkürlichen Erinnerung bietet sich – das unterscheidet sie von der willkürlichen – nie ein Verlauf dar sondern allein ein Bild.«32 Und dieses Bild, möchte man ergänzen: führt ein Nachleben.

S tehen bleiben Das antizyklische Moment im erinnernden ›Nachleben‹ ist am Beispiel von Valeska Gerts Tanz Tod besonders brisant. Indem der Tanz in semantische Nähe zur Figur einer ›Abschaffung des Todes‹ rückt, weist er bereits aus sich heraus auf einen Ausbruch aus dem Zyklus Leben/Tod. Sein Nachleben bestünde damit im uneingelösten Glücksversprechen, das solch ein Ausbruch darstellte – solange der Tod historisch nicht überwunden ist, lebt er ironischerweise negativ fort in der (diskursiven) Aneignung des Tanzes, wie sie auch dieser Beitrag darstellt. Gleichzeitig schließt sich hier der Kreis zu Valeska Gerts Tanz Tod, genauer gesagt zu seinem Ende, das in seinem antimimetischen Moment mit der phänomenologischen Logik des Tanzes insgesamt bricht und das, ganz analog Benjamins unwillkürlichen Vergangenheits-Bildern, die die sture historische Linearität sprengen, als (Schluss-)Bild aus dem flüssigen Bewegungskontinuum wiederum herausfällt: Valeska Gert stirbt im Stehen. Diese kuriose Tatsache kann gar nicht genug betont werden, manifestiert sich doch in ihr, dass auch bei Valeska Gert der Tod nicht das letzte Wort behält. In diesem vermeintlich trivialen Moment, in dem sie von traditionellen Darstellungen des Todes abweicht (etwa: Die Sterbende sackt in einem letzten Aufschrei in sich zusammen und schlägt auf dem Boden auf, wo sie bewegungslos liegen bleibt, dem Erdboden endgültig gleichgemacht), liegt gleichzeitig ein Unterschied ums Ganze. Wo der Tod bei Valeska Gert eintritt, bringt er das Subjekt doch nicht zu Fall: Sie bleibt stehen und setzt damit dem Menschen als eben nicht bloß erster Natur ein Denkmal im Augenblick seines Untergangs. »Nur das Gesicht geht noch um in der Welt«33, schließt Fred Hildenbrandt seine Beschreibung des Tanzes und verweist damit auf das unwiderlegbare Zeugnis von Subjektivität, in das sich die Erfahrungen eines singulären Lebens eingeschrieben haben und das darum auch keinem anderen gleicht, gleichzeitig unverkennbar Me30 | Vgl. Benjamin, 1974, S. 704. 31 | Ebd., S. 701. 32 | Benjamin, Walter: »Anmerkungen«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I-3. Frankfurt a.M. 1974, S. 1243. 33 | Hildenbrandt, 1928, S. 129.

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tapher des Verstandes. Der Schluss opponiert damit gegen das Skandalon, dass »stirbt, was des Sterbens am wenigsten wert ist, und fortbesteht, was des obersten Wertes – integraler Individuation – ermangelt«34. Er ist hierin, ähnlich der zwingend sich aufdrängenden wie zwingend unmöglichen Vorstellung von einer ›Abschaffung des Todes‹, zur Irrationalität gesteigerte Rationalität, die mit ihren eigenen Prinzipien gegen sich selbst vorgeht – und eben darum an einer Rettung der unbegründeten Hoffnung sich beteiligt, dass die Utopie gemäß der Kraft, »ganz einfach das Ganze sich vorzustellen als etwas, das völlig anders sein könnte«35, unverhofft Wirklichkeit wird. Das Schlussbild führt auch über den empirischen Tod Valeska Gerts hinaus ein Nachleben, das seiner Einlösung nach wie vor harrt.

34 | Schweppenhäuser, Hermann: »Zum Problem des Todes«, in: ders., Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Lüneburg 1986, S. 222-237, hier: S. 227. 35 | Bloch/Adorno, 1975, S. 61.

Kraft des Irrens Moholy-Nagys Experimentaltheater und die Biozentrik der Moderne Matthias Dreyer

In ihrer Biographie Experiment in Totality beschreibt die Kunsthistorikerin Sibyl Moholy-Nagy ihren Mann durch eine »devotion to seeing as a philosophy of life«1. Damit nimmt sie auf eine doppelte Dynamik Bezug, die für die frühen Avantgarden paradigmatisch ist, jedoch bislang kaum erforscht wurde. Zum einen entfaltete der aus Ungarn stammende László Moholy-Nagy, der von 1923 bis 1929 als Lehrer am Bauhaus in Weimar und Dessau wirkte und nach der Emigration an dessen Fortführung in Chicago arbeitete, eine neue Kunst des Sehens, deren Radikalität erst in unseren Tagen deutlich wird: Sie betrifft eine am Konstruktivismus geschulte Experimentalkultur, die Collage, Photographie, Photogramm, Film und andere technische Apparate integriert, durch Licht und Bewegung strukturiert ist und mehr durch ihren Forschungscharakter als durch einzelne Kunstwerke wirkt.2 Zum anderen wurde unlängst herausgearbeitet, wie stark Moholys Schaffen von einer ›künstlerischen Lebensphilosophie‹ geprägt ist, die sich vielfältiger Anregungen aus Naturphilosophie, Biologie, Psychologie bedient. So bezieht der Kunsthistoriker Oliver Botar Moholys Werk auf eine »biozentrisch« genannte Bewegung, die spätestens in der Spätromantik beginnt und nach 1900 weit verbreitet ist.3 Moholy stand im Austausch mit Künstlern, Erziehern und Theoretikern der vitalistischen Lebensreform, insbesondere eignete er sich das Denken des österreichisch-ungarischen Biologen und Naturphilosophen Raoul H. Francé an, der mit seiner ›Bios‹Konzeption in den 1920er Jahren breit rezipiert wurde.4 An diesem Bezug wurde 1 | Moholy-Nagy, Sibyl: László Moholy-Nagy. Experiment in Totality. Mainz/Berlin 1972, S. 62. 2 | Zu diesem Verhältnis von »experimentellen Strukturen« und Kunstobjekt vgl. David, Catherine: »Vision, Motion, Emotion: Moholy-Nagys experimenteller Einsatz«, in: o.A., László Moholy-Nagy, Ausst.-Katalog Museum Fridericianum Kassel, 21. April-16. Juni 1991. Kassel 1991, S. 9-12, hier: S. 10. 3 | Botar, Oliver A. I.: »Defining Biocentrism«, in: ders./Isabel Wünsche (Hg.), Biocentrism and Modernism. Farnham 2006, S. 15-46. Zu Kontakten von Moholy mit den ›biozentrischen‹ Kreisen vgl. ders.: »The Origins of Laszlo Moholy-Nagy’s Biocentric Constructivism«, in: Eduardo Kac, Signs of Life. Bio Art and Beyond. Cambridge/London 2007, S. 316-344. 4 | Francé, Raoul H.: Bios. Die Gesetze der Welt. Band 1. 2. Aufl., Stuttgart/Heilbronn 1923. Das Interesse an Francé bei Moholy und anderen Konstruktivisten wurde vor allem durch den

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in der letzten Zeit die holistische Verbindung von Mensch und Technik hervorgehoben, ein »network-like concept of the interconnectedness«, das sie mit Erich Haeckels Gedanken der Einheit von Organischem und Inorganischem verknüpft.5 Vor dem Hintergrund dieser Dynamik ist heute Moholys Theaterarbeit neu zu entdecken, wie er sie in einer Reihe von Projekten in den 1920er Jahren entwickelt. Neben den Bühnenbildern für Erwin Piscator und die Berliner Krolloper, die wegen ihrer Experimente mit Film und Licht erinnert werden, umfasst sie auch eine Theorie zur Synthese der Theatermittel, die Partiturskizze für eine mechanische Exzentrik (1925), den Apparat Lichtrequisit einer elektrischen Bühne (1922-1930), der durch Schattenspiele ein Environment avant la lettre schafft, sowie das zwischen Raum-Phantastik und Spiel-Entwurf angesiedelte Projekt Kinetisches konstruktives System (1922-1928). Der biozentrische Kontext seiner »kunst des lebendigen«6 ermöglicht es Moholy, von der klassischen Fixierung auf die Menschendarstellung abzurücken und Theater stattdessen als ein Beziehungssystem zwischen Technologien, Objekten und Körpern zu verstehen, das nach dem Modell eines Ökosystems gedacht ist. Um dieses näher zu analysieren, wird im Folgenden zunächst die Problematik des Lebensbegriffs in den frühen Avantgarden diskutiert, um im Anschluss daran Moholys Experimentaltheater in seinen formal-ästhetischen Spannungen und Widersprüchen zur Sprache zu bringen.

D er kritische L ebensbegriff Die Verbindung von Kunst- und Lebensbegriff lässt sich als ein kritisches Projekt im doppelten Sinne begreifen. Zunächst ist dem Lebensbegriff selbst ein kritischemanzipatives Potential inne, das um 1900 häufig mit Bezug auf Friedrich Nietzsche hervortritt.7 Viele der vom Begriff des Lebens ausgehenden Denker – darunter Ludwig Klages, Georg Simmel, Helmuth Plessner oder der frühe Walter Benjamin –  verstehen sich als Kritiker eines in seinen Traditionen erstarrten Bürgertums, einer positivistischen Wissenschaft oder einer Verkürzung des Menschen auf ›Humankapital‹. Indem sie über eine ›Kraft des Lebens‹ reflektieren, suchen sie Alternativen zu den Positionen des Subjekts, des Zwecks oder der Norm ihrer Zeit.8 Doch viele dieser vom Leben ausgehenden Strömungen stehen in einer problematischen Spannung zur Kritik. Georg Lukács wirft der Lebensphilosophie vor, dass ihr Versuch, die Wirklichkeit durch den Rückgriff auf das Leben als zugrunAbdruck eines Kapitels aus Francés Die Pflanze als Erfinder in der Zeitschrift Kunstblatt im Januar 1923 geweckt, vgl. Botar, Oliver A. I.: »The Biocentric Bauhaus«, in: Charissa N. Terranova/Meredith Tromble (Hg.), The Routledge Companion to Biology in Art and Architecture. New York/London 2017, S. 17-51, hier: S. 28. 5 | Terranova, Charissa N.: Art as Organism. Biology and the Evolution of the Digital Image. London/New York 2016, S. 25f. 6 | Moholy-Nagy, László: Von Malerei zu Architektur. Faksimile der 1929 erschienenen Erstausgabe. Mainz/Berlin 1968, S. 73. 7 | Vgl. Aschheim, Steven: The Nietzsche Legacy in Germany, 1890-1990. Berkeley 1992. 8 | Vgl. den Begriff der Kraft, den Christoph Menke ausgehend von der Ästhetik Herders analysiert und auf ähnliche Weise zuspitzt: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 2008.

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deliegendes Prinzip zu begreifen, Dialektik und gesellschaftliche Widersprüche verschleiere.9 Wenn Leben als Erleben gedacht werde – eine verbreitete vitalistische Position –, trete an die Stelle einer objektiven Wirklichkeit eine Pseudo-Objektivität. Die Lebensphilosophie sieht Lukács daher, auch wenn viele ihrer Vertreter kritisch oder progressiv eingestellt waren, als Wegbereiterin Hitlers.10 Diese Position findet sich auf ähnliche Weise in anderen klassischen Auseinandersetzungen mit der ›deutschen Ideologie‹.11 Die Wissenschaftshistorikerin Anne Harrington warnt jedoch davor, einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen holistischen oder vitalistischen Positionen nach 1900 und deren Instrumentalisierung im Nationalsozialismus zu ziehen, weil dies die historischen Widersprüche der jeweiligen Theoreme verkürze.12 Vor dem Hintergrund dieser noch nicht abgeschlossenen Diskussion gilt es kritisch zu scheiden, welche Ideen des ›Lebens‹ formativ für die Theateravantgarden waren, welche Bezüge sich zur ästhetischen Praxis ergeben und wie dieses Erbe heute zu interpretieren ist. An diesem Punkt liegt ein wichtiges Desiderat der Avantgarde-Forschung, wurden doch die Relationen zwischen den Begriffen von Leben und den Neuanfängen der darstellenden Künste nach 1900 – sei es im Ausdruckstanz, im Bauhaus mit seinem organologischen Denken oder bei Artaud – bislang nicht systematisch reflektiert. Exemplarisch für dieses Manko ist Peter Bürgers Theorie der Avantgarde, die einen Konflikt zwischen Kunst und Leben als zentral für die Entwicklung avantgardistischer Strategien zwischen Futurismus und Surrealismus ansieht, ohne seinen Lebensbegriff zu thematisieren.13 Implizit meint ›Leben‹ bei Bürger Alltagspraxis, politische Wirksamkeit und Authentizität. Angesichts der kontroversen Diskussion zum Lebensbegriff zwischen Philosophie und Humanwissenschaften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts müssen jedoch konkrete Bezüge ausgearbeitet werden. Nur so ist es möglich, die Geschichte der Verbindung von Kunst- und Lebensbegriff aufzuarbeiten und eine Kritik des Vitalen im doppelten Sinne zu formulieren: eine Kritik am Vitalen wie durch das Vitale.14 Für dieses historiographische Projekt ist es jedoch sinnvoll, die Fragestellung zunächst aus der Perspektive heutiger Debatten zu entwerfen, weil in diesen die Gefahr der Verstrickung in die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts bereits mitgedacht ist.15 Ein Anknüpfungspunkt ist Michel Foucaults Text mit dem Titel Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft, in dem er die vielzitierte Formulie-

9 | Vgl. Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Darmstadt/Neuwied 1988 [1955], S. 318-328. 10 | Ebd., S. 5-31. 11 | Vgl. Mosse, George L.: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich. New York 1964; Stern, Fritz: The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the Germanic Ideology. Berkeley 1962. 12 | Harrington, Anne: Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler. Princeton 1996, S. XXI. 13 | Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1990. 14 | Vgl. hierzu Dreyer, Matthias: »Kritik des Vitalen. Zu den epistemologischen Bedingungen von Liveness«, in: Milena Cairo et al. (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit. Bielefeld 2016, S. 77-88. 15 | Vgl. aktuell Muhle, Maria/Voss, Christiane (Hg.): Black Box Leben. Köln 2017.

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rung wagt, der Vitalismus stelle einen »kritischen Indikator«16 dar. In diesem Text von 1984 hebt er den Wert des Vitalen hervor. Diese Setzung ist gerade von Foucault überraschend, hat er doch als Theoretiker der Biopolitik die Position stark gemacht, dass Leben nicht jenseits seiner Verstrickung in Macht und Ökonomie und deren Regierungsweisen verstanden werden könne. Der Text – es ist der letzte, den Foucault vor seinem Tod für den Druck freigibt – erschien als Nachruf auf den französischen Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem, einen seiner Lehrer, der zeitlebens die Geschichte der Lebenswissenschaften (Biologie und Medizin) analysierte. Dessen Hinwendung zum Lebensbegriff fasst Foucault als eine Kritik der abendländischen Vernunft. Ähnlich wie die Frankfurter Schule habe Canguilhem darauf abgezielt, »eine Vernunft zu überprüfen, deren strukturelle Autonomie mit der Geschichte von Dogmatismen und Despotismen verknüpft ist«17. In diesem Kontext ist der Vitalismus für Foucault der »theoretische Indikator für Probleme, die es zu lösen gilt«, der »kritische Indikator für zu vermeidende Reduktionen«18. Mit dem Vitalismus ließe sich, laut Canguilhem, mehr »ein Anspruch als eine Methode« verfolgen, »eher eine Moral als eine Theorie«19. Von Foucaults daran anschließenden Argumenten sind hier besonders zwei wichtig: dass Canguilhem ›Leben‹ untersucht hat als die Geschichte der Begriffe vom Leben, die ihrerseits »eine Weise zu leben«20 sind, eine »Antwort des Lebens auf [den] Zufall«21. Und dass das Leben vom Irrtum her verstanden werden sollte, als etwas, »was zum Irrtum fähig ist« und »mit dem Menschen zu einem Wesen geführt hat, das sich nie ganz an seinem Platz befindet, einem Lebewesen, das dazu verurteilt ist, zu ›irren‹«22 . Die Suche nach dem Vitalen ist demnach, mit Foucaults Hommage an Canguilhem gelesen, ein kritischer Akt, wenn sie hilft, den Sinn für den Zufall offen zu halten, damit es möglich ist zu irren – französisch errer auch im Sinne von umherirren, streunen, abschweifen.

»A k tivmachung des R aumes « Die Frage, was Moholys Kunst mit dem Vitalismus verbindet, ist daher politisch, ethisch aufgeladen. Moholys Position ist zunächst von seinem pädagogischen Ansatz her zu verstehen, als eine Schulung der Sinne angesichts der durch Technik veränderten Wahrnehmung der Moderne. Im Zentrum seines Wirkens als Lehrer am Bauhaus steht die Entgrenzung der traditionellen Kategorisierung in fünf Sinne. Durch seine Kontakte mit der reformpädagogischen Bewegung in den frühen 16 | Foucault, Michel: »Das Leben: Die Erfahrung und die Wissenschaft«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 4: 1980-1988. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M. 2005, S. 943-959. 17 | Ebd., S. 948. 18 | Ebd. 19 | Zit. nach ebd., S. 955. 20 | Ebd., S. 956. 21 | Ebd., S. 957. 22 | Ebd. Foucaults Hervorhebung des Irrtums verstehe ich als eine gewissermaßen überspitzte Lesart von Canguilhems Begriff des Pathologischen, vgl. Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische. Berlin 2013.

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1920er Jahren – explizit mit Heinrich Jacoby, den er mittels Lucia Schulz kennengelernt und mit dem er eng befreundet war – entwickelt er die Vorstellung, dass jeder Mensch kreative Begabung besitze.23 Moholys Pädagogik und Kunst des Lebendigen setzen jedoch einen Schritt davor oder daneben an: Die individuelle Schöpfung ist stets auf eine andere Schicht anonymer, gewissermaßen kollektiver ›Kräfte‹ bezogen, die der Einzelne aufnimmt, aber nicht ursächlich bewirkt. Im Aufruf zur elementaren Kunst von 1921, unterzeichnet gemeinsam mit Raoul Hausmann, Hans Arp und Iwan Puni, wird der Künstler als eine Art Medium verstanden: Den Elementen der Gestaltung nachgeben, heißt Künstler sein. Die Elemente der Kunst können nur vom Künstler gefunden werden. […] [D]er Künstler ist nur ein Exponent der Kräfte, die die Elemente der Welt zur Gestalt bringen […]. 24

Die künstlerische Konzentration auf das Elementare stellt die Idee einer intentionalen Schöpfung des Subjekts zurück. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Kräfte, die zur Gestalt bringen. Dieser Ansatz scheint vitalistisch inspiriert –  doch auf welche Weise? Diese Gestaltungskräfte wurden als Energieströme interpretiert. Botar verweist auf die damals intensiv rezipierte Energetik von Wilhelm Ostwald, einem Chemiker und Philosophen, der 1909 den Nobelpreis erhielt und einer von vielen ist, die um 1900 aus den Naturwissenschaften kommend Weltanschauungslehren entwickelten.25 Solcherart monistische Philosophien, die alle Erscheinungen auf ein Urprinzip zurückführen, können als ein Einfluss für Moholys Schaffen beschrieben werden. Mehr als ein metaphysischer Ansatz ist jedoch ein politisch-marxistischer Impetus zu betonen. Dieser wird im Manifest Dynamisch-konstruktives Kraftsystem deutlich, das Moholy ein Jahr später, im Dezember 1922, gemeinsam mit Alfréd Kemény veröffentlicht.26 Hier entstehen die »Kräfte der Zeit« keineswegs aus einem einheitlichen Strom, sondern aus einer Polarität und Gegensätzlichkeit von Elementen, die nicht vereinheitlicht sind. So heißt es zunächst, die »vitale Konstruktivität« – also die Kräfte des Auf baus – sei »das Prinzip aller menschlichen und kosmischen Entfaltungen«27. Entscheidend ist jedoch im Folgenden, dass sie mittels einer Raumspannung gedacht werden, als eine »Aktivmachung des Raumes«, als »die Ineinander-Konstruierung der in dem physischen Raume sich real gegeneinander spannenden Kräfte«28. Diese lassen sich als Echo des Klassenkampfs hören. Im Vordergrund steht indes nicht das alleinige Prinzip eines Antagonismus und schon 23 | Vgl. Jacoby, Heinrich: Jenseits von ›Musikalisch‹ und ›Unmusikalisch‹. Die Befreiung der schöpferischen Kräfte dargestellt am Beispiel der Musik. Hg. von Sophie Ludwig. Hamburg 1995. 24 | Arp, Hans/Hausmann, Raoul/Moholy-Nagy, László/Puni, Iwan: »Aufruf zur elementaren Kunst«, in: De Stijl 4, Nr. 10 (1921), S. 156 [Hervorhebung: M.D.]. 25 | Vgl. Botar, Oliver A. I.: Sensing the future: Moholy-Nagy, die Medien und die Künste. Zürich 2014, S. 81; zu Ostwalds vgl. auch Krajewski, Markus: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt a.M. 2006, S. 64-114. 26 | Kemény, Alfréd/Moholy-Nagy, László: »Dynamisch-konstruktives Kraftsystem«, in: Der Sturm 13 (1922), H. 12, S. 168. 27 | Ebd. 28 | Ebd. [Hervorhebung: M.D.].

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gar nicht eine einheitliche Zweckbestimmung, sondern eine Vielzahl heterogener, die Intention des Einzelnen übersteigender Kräfte und Spannungen. Das Vitale steht mittels einer »Aktivmachung des Raumes« für die Vielheit. Abb. 1 (links): László Moholy-Nagy, Ohne Titel [Entwurfsskizze für das »Kinetische konstruktive System«], 1921, 34,2 x 44,5 cm Abb. 2 (rechts): László Moholy-Nagy, Skizze für das »Kinetische konstruktive System«, 1922, 61 x 48 cm

Quelle (Abb. 1 und 2): Botar, Oliver A. I.: Sensing the future: Moholy-Nagy, die Medien und die Künste. Zürich 2014, S. 84.

Ü bung im I rren Moholys Experimente mit dem Theater im weitesten Sinne können als ein Austesten dieser »Aktivmachung des Raumes«, seiner Spannungen und Polaritäten verstanden werden. In direktem Zusammenhang mit dem letztgenannten Manifest steht das Projekt mit dem komplizierten Titel Kinetisches konstruktives System. Bau mit Bewegungsbahn für Spiel und Beförderung. Hierzu entsteht 1921 zunächst eine Skizze (Abb. 1), 1922 eine weitere aus Aquarell, Tinte, Graphit, Collage auf Papier (Abb. 2); 1928 wurde diese zu einer Konstruktionszeichnung, die den genannten Titel trägt, weiterentwickelt – als eine Photomontage auf Aquarell-Basis mit sich im Raum bewegenden, schwebenden Figuren (Abb. 3). Schon die frühe Skizze betont den dynamischen, schwebenden Charakter der Gesamtkonstruktion: Zwei angeschnittene Spiralen zeichnen Bewegung in den Raum, die an Wladimir J. Tatlins Monument der Dritten Internationalen (1919/20) samt seiner revolutionären Dimensionen denken lässt (Abb. 4). Bei Moholy stellen die Pfeile jedoch unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten her, und der Anschnitt macht das Gesamte leicht und anti-monumental. Die Photomontage von 1928 überführt die abstrakte Bewegung in ein futuristisches Tanzspiel mit sieben freischwebenden Menschen, die von der

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Schwerkraft und allen früheren Kontexten gelöst zu sein scheinen, und einen am Rande stehenden Mann, der als Zuschauer gesehen werden kann. Abb. 3: László Moholy-Nagy, »Kinetisches konstruktives System. Bau mit Bewegungsbahn für Spiel und Beförderung«, 1928, ausgeführt von Istán Sebök, 76 x 54,5 cm

Quelle: Matthew S. Witkovsky, Carol S. Eliel, and Karole P.B. Vail (Hg.), Moholy-Nagy. Future present. Chicago 2016, S. 153.

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Abb. 4: Vladimir Tatlin, Modell des »Denkmals der III. Internationale«, November 1920, Moskau

Quelle: Anatolij Strigalev, Jürgen Harten (Hg.), Vladimir Tatlin. Retrospektive. Köln 1993, Kat. 122.

In einer Beschreibung dieses Kinetischen konstruktiven Systems benennt Moholy verschiedene Spiralbahnen, zwei horizontale Plattformen, einen Fahrstuhlschacht, eine sich selbst bewegende »Rollrampe« als Rutsche und manches mehr.29 Da er von einem »Publikum« spricht, das nach oben befördert wird und dann hinabrutscht, sowie von aktiveren Teilnehmern als »Aktören«, bestehen deutliche Theater-Assoziationen. Dennoch ist die Montage nicht für eine bauliche Verwirklichung vorgesehen, sondern erkundet Möglichkeiten des Ästhetischen als eine »Fantastik«.30 Dabei bestehen Ähnlichkeiten zu Raumtheater-Entwürfen der Zeit, die neue Verbindungen von Bühne und Zuschauern entfalten und die zentralperspektivische Blickordnung negieren. In Friedrich Kieslers Raumbühne, vorgestellt 1924 auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik in Wien, kreist eine spiralförmig ansteigende Rampe, auf der sich die ehemals Zuschauer genannten Teilnehmer bewegen, um eine darüber angebrachte Plattform für szenische Aktionen.31 Im Vergleich zu den zeitgenössischen architektonischen Utopien sucht Moholy die Freiheit der Zuschauer und Spieler zu erhöhen. Mit der Aufhebung 29 | Moholy-Nagy, 1929/1968, S. 205. 30 | Ebd., S. 203. 31 | Vgl. Phillips, Stephen J.: Elastik Architecture. Frederick Kiesler and Design Research in the First Age of Robotic Culture. Cambrige/London 2017, S. 57-62. Weitere RaumbühnenKonzepte finden sich zu dieser Zeit in Jakob Levy Morenos Stegreiftheater (1924), Andreas Weiningers Kugeltheater (1926) oder Gropius’ Total-Theater für Erwin Piscator (1926/27).

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der Zentralperspektive zielt das Projekt der »vitale[n] Konstruktivität« im Kern auf eine aktive Beteiligung. Der Mensch wird »zum aktiven Faktor der sich entfaltenden Kräfte«32, ebenso wie die »formungskräfte des menschen«33 betont werden. Im Hintergrund stehen Bergsons Philosophie der schöpferischen Entwicklung und konkret die genannte Reformpädagogik Heinrich Jacobys mit seiner Auflösung der Grenze von ›begabt‹ und ›unbegabt‹. So schreibt Moholy 1929, »daß jeder gesunde mensch auch aktiv musiker, maler, bildhauer, architekt usw. sein kann, wie er, wenn er spricht – ein ›sprecher‹« ist.34 In diesem Sinne ist jeder auch ein Spieler, Tänzer, Performer. Die Originalität des Kinetisch-konstruktiven Systems basiert also auf der freien Bewegung der sich körperlich austestenden, ihre Grenzen erkundenden Teilnehmer im Raum. Sie bildet im Kern eine Erfahrung der Immersion, die vermutlich analog zu einer erweiterten filmischen Illusion gedacht ist: Die Teilnehmer tauchen in den Raum ein wie Zuschauer in einen Film, sie suchen den Taumel als eine Befreiung aus den gesetzten Dimensionen. Zugleich jedoch – und das ist ebenso wichtig – können sie sich selbst bewegen. Durch die am Rande stehende Zuschauerfigur wird der Vorgang zudem so ausgependelt, dass alles wie eine Übung im Taumeln und Irren wirkt, da es ein Außen gibt, von dem aus der Vorgang reflektierbar ist.

D er O rganismus und die Teile Diese Idee der aktiven freien Teilhabe und der nicht-hierarchischen, integrativen Konzeption hängt, wie angesprochen, mit einem Verständnis des Lebendigen zusammen, das weiterer Klärung bedarf. So ist das Kinetisch-konstruktive System Teil einer biotechnischen Vision, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet ist.35 Moholy verweist mehrfach auf Raoul H. Francé, der die Vorbildfunktion der Natur für den menschlichen Konstruktionsprozess hervorhebt: »Es gibt keine Form der Technik, die nicht aus der Form der Natur abgeleitet wäre«36, heißt es in dessen Studie Die Pflanze als Erfinder von 1920. Als eine der sieben Grundformen dieser Art nennt er die Spirale, die Moholys genannte Entwürfe prägt. Die Technik wird auf diese Weise naturalisiert. Sie ist, darüber hinausgehend, Teil eines Kontinuums von Natur, Mensch und Maschine, das als ein Organismus, ein harmonisches Ganzes verstanden wird: »Der Begriff Leben ist von dem der Harmonie untrennbar«37. Doch zugleich sieht Francé dieses Ökosystem als die »Ursache der ungeheueren

Die Spiralform stellt zudem in russisch-konstruktivistischen Bühnenbildern der Zeit eine Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum her. 32 | Kemény/Moholy-Nagy, 1922. 33 | Moholy-Nagy, 1929/1968, S. 94. 34 | Ebd., S. 14. 35 | Technik erscheint – so fasst Canguilhem diese nach 1900 verbreitete Tendenz zusammen – als »ein universales biologisches Phänomen« (Canguilhem, Georges: »Maschine und Organismus«, in: ders., Die Erkenntnis des Lebens. Berlin 2009, S. 183-232, hier: S. 231). 36 | Francé, Raoul H.: Die Pflanze als Erfinder. Stuttgart 1920, S. 20. Vgl. die Hinweise auf Francé in Moholy-Nagy, 1928/1969, bspw. S. 60 und 148. 37 | Francé, 1923, S. 263ff.

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Mannigfaltigkeit« der Welt: »dass […] unbedingt die Geltung jedes seiner, auch des geringsten Teiles dazugehört«38. Abb. 5: László Moholy-Nagy, Partiturskizze zu einer mechanischen Exzentrik (Ausschnitt), 1925

Quelle: Schlemmer, Oscar/Moholy-Nagy, László/Farkas Molnár: Die Bühne im Bauhaus. Faksimilie-Nachdruck nach der Ausgabe von 1925. Berlin 1985, S. 45-56, o.S.

Dieses Organismus-Konzept ist nicht hierarchisch, sondern – wie erwähnt – nach dem Prinzip einer »network-like interconnectedness« gestaltet.39 Die Idee dient als Modell für Moholys Vision der synthetischen Mittel, die 1925 unter dem Titel »Theater, Zirkus, Varieté« in der – gemeinsam mit Oskar Schlemmer und Farkas Molnár verantworteten – Buchpublikation Theater am Bauhaus erscheint. Hier wird der Mensch als Teil eines organischen Gefüges gezeichnet, dem er nicht vorsteht, sondern in das er als eines von vielen, auch nicht-menschlichen Aspekten einge38 | Ebd., S. 270 [Hervorhebung im Original]. 39 | Terranova, 2016, S. 26.

Kraf t des Irrens

woben ist. Moholy löst damit die neuzeitliche Vorrangstellung des Menschen im Theater auf radikale Weise auf. Form, Bewegung, Ton, Licht, Projektion, Geruch sollen als »reine Mittel«40 einzeln hervortreten. Dem Schauspieler kommt die Aufgabe zu, »das allen Menschen GEMEINSAME in Aktion zu bringen«41. Chöre, vergrößerte Gesichter, verstärkte Stimmen, Masken, Projektionen, Licht- und Formspiele – alles wird in einen parataktischen Spannungsbezug gebracht. Was das konkret heißt, zeigt Moholys Partitur-Skizze zu einer mechanischen Exzentrik (Abb. 5), die – neben Labans Bewegungsnotationen und den Experimenten von Lothar Schreyer und Oskar Schlemmer am Bauhaus – zu den frühesten Beispielen einer Performance-Partitur gehört. Auf dieser ist oben ein Raumschema zu sehen mit verschiedenen Bühnen-Plateaus, die teils auch in Film-Projektionswände umgewandelt werden können und die beschriebene Auflösung des statischen Raumes veranschaulichen. In vier Kolonnen werden simultane Aktionen angezeigt, die von oben nach unten gelesen werden sollen und mit den genannten Raum-Plateaus kommunizieren. Auf der linken Seite sind Formen und Bewegungen durch Pfeile und geometrische Objekte notiert, aber punktuell auch durch gegenständliche Objekte; die Zeile daneben verweist auf weitere Aktionen u.a. auf Filmprojektionen; in den zwei rechten Kolonnen finden sich Hinweise auf LichtIntensitäten und -Rhythmen sowie, nur angedeutet, auf Musik und auf eine olfaktorische Komponente. Die genannte Organismus-Metapher wendet Moholy auch zur Beschreibung dieses simultanen, intermedialen Geschehens an. Die Metaphorik ist produktiv für die Künste, da sie es ermöglicht, eine Vielfalt heterogener Elemente aufeinander zu beziehen. Damit tritt die Umgebung des Menschen in den Vordergrund – der sonst im Hintergrund stehende Apparat, die Technik und die Dinge. Die Idee des Organismus impliziert jedoch, dass der Zusammenhang zwischen den ästhetischen Ebenen und Aspekten nicht menschlich erschaffen wäre, sondern sich selbst erschafft und selbst erhält. Wie Canguilhem in Maschine und Organismus gezeigt hat, ist ›Lebendigkeit‹ auch ein Effekt – er stellt sich ein, wenn vergessen wird, dass ein Konstrukteur dahintersteckt und somit jemand, der dafür verantwortlich wäre.42 Die kybernetische Komplexität des ästhetischen Systems – das Synthetische, Gestreute, Simultane – verdeckt letztlich, dass es gesteuert ist.

40 | Moholy-Nagy, László: »Theater, Zirkus, Varieté«, in: Oskar Schlemmer/László MoholyNagy/Farkas Molnár, Die Bühne im Bauhaus. Faksimile-Nachdruck nach der Ausgabe von 1925. Berlin 1985, S. 45-56, hier: S. 51. 41 | Ebd., S. 50. 42 | Canguilhem, 2009, S. 211.

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Abb. 6: László Moholy-Nagy, Lichtrequisit einer elektrischen Bühne

Quelle: Barry Bergdoll, Leah Dickerman (Hg.), Bauhaus 1919-1933. Workshops for Modernity. New York, 2009, S. 275.

Abb. 7: László Moholy-Nagy, Lichtrequisit in Bewegung

Quelle: László Moholy-Nagy. Musée Cantini Marseille, Marseille 1991, S. 177.

Kraf t des Irrens

V om Totalthe ater zum E nvironment Diese Vorstellung von der Selbstorganisation des Organismus macht den Vergleich mit dem Kunstwerk problematisch. Das könnte anhand von Gropius’ architektonischem Entwurf zum Totaltheater von 1927, der auf Moholys Ideen für ein Theater der Totalität zurückgeht, oder in Moholys Zusammenarbeit mit dem Regisseur Erwin Piscator näher ausgeführt werden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Entfesselung der einzelnen Elemente des Theaters letztlich die Gefahr einer sinnlichen Manipulation birgt. Die organische Synthese der Kunst tendiert zu einer ideologischen Totalität, wenn die Vielheit nicht in ihrer Polarität und Widersprüchlichkeit gestaltet ist. Diese Tendenzen zum geschlossenen System gibt es in Moholys Konzept einer »absoluten raumgestaltung«, in der sich die Grenzen von innen und außen auflösen und alles zu einer Einheit verschmilzt.43 Die Herausforderung einer kritischen Analyse besteht somit darin, eine Grenze zwischen der Totalen und dem Totalitären zu beschreiben, zwischen einer integrativen, intermedialen Ganzheit und einem geschlossenen, manipulativen System. Wichtig ist dafür als erster Faktor die Möglichkeit, das System von außen zu betrachten und damit zu öffnen. Daher ist im Kinetisch-konstruktiven System (Abb. 2) der Mann am rechten unteren Rand als ein konstitutiver Teil des Entwurfs zu sehen. Er erinnert an die Position des Zuschauers, die für Moholy im Spiel bleibt, auch wenn sich der Dualismus von Zuschauer und Akteur auflöst. Der zweite Faktor zur Infragestellung der Geschlossenheit des Systems ist die freie Bewegung der Betrachter. Ihre konstante Veränderung von Positionen und Perspektiven erfordert es, den Blick jeweils neu einzustellen. Im Idealfall können sie sich selbst als Gestalter jener Beziehungen reflektieren, die letztlich den Raum konstituieren, und damit zu Lernenden der dynamischen Komplexität werden. Beide Aspekte lassen sich abschließend mit Blick auf Moholys Hauptwerk zeigen: Das Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, auch Licht-Raum-Modulator genannt (Abb. 6 und 7), ist Bühnentechnik, kinetische Skulptur und Film-Projektor in einem, wirkt daher nicht als ein in sich geschlossenes Kunstwerk, sondern als relationales Raumobjekt. Der Apparat wurde zwischen 1922 und 1930 entwickelt und ist paradigmatisch für Moholys Arbeit mit Licht. Verschiedene Teile sind zu einer kinetischen Figur zusammenkonstruiert, die durch elektrischen Antrieb rotiert. Von hinten beleuchten 70 farbige Glühbirnen wechselnd den beständig sich bewegenden Mechanismus aus teils durchbrochenen Materialien und verwandeln den umgebenden Raum in ein Bewegungsspiel von Licht und Schatten.44 Hier ist signifikant, dass Moholy zu Beginn um seinen Licht-Raum-Modulator herum eine Box gebaut hatte – gewissermaßen einen Guckkasten, der den Objektcharakter des Gerätes betont –, dass er diese Box jedoch in der weiteren Arbeit an dem Projekt entfernt. Ohne den Guckkasten strahlt das Licht des Modulators in den ihn umgebenden Raum. Heutige Ausstellungs-Präsentationen des Licht-Raum-Modulators betonen konsequenterweise diese von Moholys Lichtapparat geschaffene Räumlichkeit. In diesen Raum können 43 | Moholy-Nagy, 1929/1968, S. 222. 44 | Das wird deutlich in dem zum gleichen Werkkomplex gehörenden Film Ein Lichtspiel. Schwarz, weiß, grau (1930), in welchem Aufnahmen des Licht-Raum-Modulators sowie seiner Lichteffekte übereinandergelegt sind und den Raum in verschiedenste Richtungen dynamisieren.

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die Rezipienten eintreten, sie können mit der Komplexität interagieren und können wieder aus ihm austreten. Das Lichtrequisit einer elektrischen Bühne, das in den 1960er Jahren wiederentdeckt wurde, kann als ein partizipatives Environment avant la lettre gedacht werden, in dem die Zuschauer zu Handelnden werden. Und tatsächlich hat Moholy als Emigrant auf die experimentelle Kunstszene New Yorks durch seine Kooperation mit John Cage indirekt eingewirkt.45 Auf die beschriebenen Experimente Moholys zurückblickend lässt sich sagen, dass das Ziel dieser Projekte nicht darin besteht, eine Einheit des Lebens in einem nostalgischen oder essentialistischen Sinn zu schaffen. Die Vorstellung einer Einheit ist vielmehr als ein Behelf zu verstehen: Sie ermöglicht es, Heterogenität und Vielfalt zu gestalten, und stellt daher, wie Foucault über Canguilhems Lebensbegriff sagte, »eine Weise zu leben« dar, eine »Antwort des Lebens auf [den] Zufall«46. In Moholys Projekten erscheint der Holismus des Vitalen wie ein Symptom für die Auflösung von Institutionen und medialen Ordnungen. An dessen Stelle treten bei Moholy Modelle für die ständig sich bewegenden Bezüge zwischen Mensch, Technologie und Objekten. Dabei liegt eine spezifische Leistung der Theaterarbeiten Moholys in der genannten Übung im Irren, dass sich der Einzelne in der Bewegung des Eintauchens, der Teilhabe und ebenso des Austretens aus dieser Bewegung sieht, dass er sich als ein Teil gegenstrebiger Kräfte empfindet. Die von Sibyl Moholy-Nagy anfangs zitierte »philosophy of life« speist sich so gesehen aus einer schöpferischen Dynamik und daraus, den Teilnehmer als ein Lebewesen zu zeigen, das dazu »verurteilt ist, zu ›irren‹«, das »zum Irrtum fähig ist«47. Diese Dynamik geht nicht vom Menschen aus, sondern führt über diesen hinaus.

45 | Botar, 2015, S. 88. Die Idee des Environments kann an dieser Stelle in ihren biologistischen Einschreibungen nicht näher untersucht werden, bedarf aber weiterer Forschungen. 46 | Foucault, 2005, S. 956. 47 | Ebd., S. 957 [Hervorhebungen: M.D.].

Störung Dimensionen der Konstitution und Kritik im Dispositiv Anna-Carolin Weber

A usgangsbasis : K ritik und D ispositiv Michel Foucault bezeichnet Kritik als »die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden« und benennt Kritik als eine ästhetische Praxis, die die »Selbstformierung des Subjekts aufs Spiel setzt«. Kritik, so Foucault, bringt als ästhetische Praxis hervor, was sie aufs Spiel setzt und setzt aufs Spiel, was sie hervorbringt.1 In Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Theater und Kritik regt eine Betrachtung des Theaters als Dispositiv dazu an, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: Jenseits von Fragen nach der Legitimität von Theater als Kritik und kritischer Instanz, nach dem spezifischen Verständnis von Theater als kritischer Praxis und nach Formen szenisch-praktischer wie theoretischer Kritik am eigenen Dispositiv wird der Fokus verschoben von der Frage Wie kritisiert Theater? hin zu den Fragen Wie wird Kritik im Theaterdispositiv prozessiert? und Wie wird Kritik im Theaterdispositiv operationalisiert, d.h., wie stellen sich die Selbstbeschreibungen, Zuordnungen und Beobachtungen von Kritik im Dispositiv dar? Einen ambivalenten Ausgangspunkt für diesen Beitrag bildet die Aussage Giorgio Agambens, dass das Unregierbare im Dispositiv dasjenige sei, das für das Widerständige empfänglich ist. Das Unregierbare, so Agamben weiter, sei dem Dispositiv ursprünglich eingeschrieben und arbeite an dessen Auflösung.2 Agamben betont in seiner Beschreibung des Foucault’schen Dispositivs die »konkrete strategische Funktion« des Dispositivs, für dessen Formation immer eine »Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen« Voraussetzung sei.3 Als ein »reines Regierungshandeln«4 ziele das Dispositiv mit einer »Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen« darauf ab, »das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kon-

1 | Vgl. Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 12. 2 | Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Raum-zeitliche Kippfiguren. Endende Räume in Theater und Performance der Gegenwart«, in: Norbert Otto Eke/Ulrike Haß/Irina Kaldrack (Hg.), Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014, S. 227-247, hier: S. 239. 3 | Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin 2008, S. 9. 4 | Ebd., S. 23.

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trollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken«5. In der eigenen Konzeption des Dispositivbegriffs definiert Agamben den Subjektivierungsprozess über eine klassifizierte Gegenüberstellung von Lebewesen/Substanzen und Dispositiven, aus deren »Nahkampf« Subjekte hervorgehen.6 Daran anschließend plädiert Agamben mit dem Begriff der Profanierung dafür, das Unregierbare in den Blick zu nehmen, da dieses den einzigen Ansatzpunkt für Widerstand gegenüber dem Dispositiv bilde. Mit Profanierung bezeichnet Agamben den Prozess, »das zu befreien, was mittels der Dispositive abgesondert und eingefangen wurde, und es wieder einem allgemeinen Gebrauch zugänglich zu machen« 7. In seinem Ansatz, Theater als Dispositiv zu denken, und die Grundzüge einer theaterwissenschaftlichen Dispositivanalyse skizzierend, modifiziert Nikolaus Müller-Schöll Agambens Konzept des Unregierbaren dahingehend, dass er das Unregierbare im Dispositiv des Theaters als eine Praxis (z.B. das Harlekin-Spiel) versteht, die sich aus dem Inneren des Dispositivs formiert und die Veränderung der ästhetischen Ordnung vorantreibt.8 Agambens Profanierungs-Appell mildernd lenkt Müller-Schöll den Blick auf die Frage, »was Dispositive hervorbringt und zugleich von Beginn an neuerlich zu ihrer Auflösung drängt«9. Weitergehend adaptiert Müller-Schöll Agambens Begriff des Unregierbaren für die Dispositivanalyse, indem er von einer »konstitutiven primordialen Entgrenzung«10 spricht, die als permanente Veränderung bewirkt, dass ein Dispositiv durch ein anderes abgelöst wird.11 Müller-Schöll zufolge liegt das Potential theaterwissenschaftlicher Dispositivanalyse darin, zum einen das Unregierbare bzw. die primordiale Entgrenzung des eigenen Dispositivs zum Vorschein zu bringen und zum anderen die Veränderbarkeit und Geschichtlichkeit wahrnehmbar zu machen. Müller-Schöll präzisiert und funktionalisiert somit Agambens Begriff des Unregierbaren für Dispositivanalysen, um damit den Fokus darauf zu richten, was dem Theater-Dispositiv in einer »nicht chronologischen, primordialen Form vorausgeht«12 und gleichzeitig konstitutiv ist für das Dispositiv Theater. Die hier vorgestellten Positionen dienen mir als Anregung, um ein Argument durchzudenken, das das Verhältnis von Theater und Kritik über die Denkfigur der Störung bestimmt: In Momenten der Störung wird die Auseinandersetzung des Dispositivs mit (noch) unregierbaren Elementen sichtbar. Störungen prüfen ein System, sie machen aufmerksam auf die Kontingenz einer Ordnung und die Möglichkeit der Aufhebung oder Umgestaltung der jeweiligen Ordnung.13 Die Störung 5 | Ebd., S. 24. 6 | Ebd., S. 27. 7 | Ebd., S. 33. 8 | Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Das Dispositiv und das Unregierbare. Vom Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik«, in: Lorenz Aggermann/Georg Döcker/Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung. Frankfurt a.M. 2017, S. 67-87, hier: S. 77. 9 | Ebd., S. 71. 10 | Ebd., S. 86. 11 | Vgl. ebd., S. 80. 12 | Ebd., S. 75. 13 | Vgl. Horn, Eva: »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Katastrophen-Szenarien als Phantasien der Störung«, in: Julia Fleischhack/Kathrin Rottmann (Hg.), Störungen. Medien – Prozesse – Körper. Berlin 2011, S. 11-21, hier: S. 11.

Störung

markiert jene Schwelle, an der Agamben zufolge das dem Dispositiv ko-originär innewohnende Unregierbare zum Vorschein kommt.14 Dabei zeige ich auf, dass Störung ein zentraler Begriff für dispositiv-immanente Kritik ist. Etymologisch verweist Kritik (gr. krinein) bereits mit der Bedeutung von »trennen und unterscheiden« auf den »Aspekt des Zersetzenden und Entzweienden«15. Die paradoxale Operationsweise von Kritik im Dispositiv – trennend und unterscheidend sowie konstituierend und formend zugleich – führe ich dabei zurück auf das spezifische Beziehungsgefüge von Störung, Urgence und strategischer Wiederauffüllung im Dispositiv. Daran anschließend argumentiere ich, dass Dispositive nicht durch jenes Unregierbare auf- oder abgelöst werden, sondern dass vielmehr das Unregierbare in Form von Störungen als systemimmanente Kritik konstitutiv für das Dispositiv und dessen fortwährenden Wandel ist. Störung ist – funktional verstanden – strategisch-produktive Kritik im Dispositiv.

S törung als D enkfigur »Rauschen ist das, was den Künstler fasziniert und den Nachrichtentechniker stört.«16

Die klassische Begriffsdefinition von Störung geht zurück auf Claude E. Shannon und Warren Weaver, die 1949 mit ihrer Forschung zur mathematischen Fundierung der Informationstheorie und dem Sender-Empfänger-Modell das Verständnis medienbasierter Kommunikation grundlegend prägten. Störung bezeichnet ein Hindernis für zielgerichtete Kommunikation zwischen Sender und Empfänger, das sich z.B. in Form von Noise, Rauschen oder Interferenzen materialisiert und immer im Übertragungskanal situiert ist. In der Nachrichtentechnik wie in der frühen Medienkommunikationstheorie wird Störung als nichtintentional und unproduktiv betrachtet, da Störungen den reibungslosen, transparenten Kommunikationsverlauf beinträchtigen.17 Dieser negativen Konnotation steht die Faszination künstlerischer Verfahren für Störungen gegenüber. Störungen verschieben die Aufmerksamkeit der Betrachtenden von einem vermittelten Inhalt hin zur Operationsweise des (vermittelnden) Mediums. Im Moment der Störung wird das sichtbar, was unter ›normalen‹ Umständen unsichtbar bleibt: das Medium selbst. Störungen machen somit die Medialität von Medien wahrnehmbar. Medien-kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsansätze haben Störung als konstruktives Prinzip, als Grundvoraussetzung für Kommunikation, als zentrales Verfahren von Sinnproduktion und als ein Medium gesellschaftlicher (Selbst-)Verstän-

14 | Vgl. Agamben: Was ist ein Dispositiv? (Anm. 3), S. 34. 15 | Lemmata »Kritik – Affirmation«, in: Metzler Lexikon Ästhetik. Stuttgart 2006, S. 209211, hier: S. 209. 16 | Hiepko, Andreas/Stopka, Katja: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Rauschen – Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Würzburg 2001, S. 9-18, hier: S. 11. 17 | Vgl. Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard: »Medientheorie der Störung/Störungstheorie der Medien. Eine Fibel«, in: dies. (Hg.), Signale der Störung. München 2003, S. 9-13.

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digung benannt.18 Als Störung wird der Moment bezeichnet, in dem die ›normale‹, konventionelle Operationsweise eines Mediums dahingehend verändert prozessiert, dass störende Aspekte wahrnehmbar werden. Ludwig Jäger argumentiert im Kontext seines Modells medialer Performanz, dass eine Störung keine Unterbrechung ist, vielmehr wird die Stetigkeit und die Performanz gestört, indem Aspekte der medialen Operationsweise, die sonst transparent sind, wahrnehmbar werden. Mediale Performanz konstituiert sich über Störung und Transparenz – zwei Modi der Sichtbarkeit, die sich in der Regel ausschließen: die Sichtbarkeit des Mediums und des Mediatisierten.19 Laut Dieter Mersch zeigen die Operationsmodi die Analogie von Medien und Dispositiven in ihrer homologen Struktur auf, die in der Verschränkung von Öffnen/Verbergen sowie Zeigen/Zurückhalten liegt. Durch das paradoxe Verbergen der eigenen Funktionslogik werden bei Medien wie auch bei Dispositiven die Funktionsverfahren und Operationsweisen nur im Rahmen von Störungen sichtbar.20 Somit bieten Störungen einen zentralen Ansatzpunkt zur Analyse von Mediendispositiven.

O per ationsweisen des D ispositivs Foucault benennt in Bezug auf die Genese von Dispositiven ein Zusammenspiel aus Urgence (Notstand), funktioneller Überdeterminierung und strategischer Wiederauffüllung21 und beschreibt die Genese des Dispositivs wie folgt: Zuerst gibt es immer die Prävalenz einer strategischen Zielsetzung. In der Folge konstituiert sich das Dispositiv dann eigentlich als solches und bleibt in dem Maße Dispositiv, in dem es Ort eines doppelten Prozesses ist: Prozeß einerseits einer funktionellen Überdeterminierung, sofern nämlich jede positive oder negative, gewollte oder ungewollte Wirkung in Einklang oder Widerspruch mit den anderen treten muß[,] und eine Wiederaufnahme, eine Readjustierung der heterogenen Elemente, die hier und da auftauchen, verlangt. Prozeß einer ständigen strategischen Wiederauffüllung andererseits. 22

Weitergehend hebt er hervor:

18 | Vgl. Gansel, Carsten/Ächtler, Norman: »Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung«, in: dies. (Hg.), Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/Boston 2013, S. 7-13, hier: S. 13. 19 | Vgl. Jäger, Ludwig: »Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität. München 2004, S. 3573, hier: S. 59. 20 | Vgl. Mersch, Dieter: »Dispositiv, Medialität und singuläre Paradigmata«, in: Elke Bippus/ Jörg Huber/Robert Nigro (Hg.), Ästhetik x Dispositiv. Die Erprobung von Erfahrungsfeldern. Wien 2012, S. 25-37, hier: S. 29f. 21 | Vgl. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 121f. 22 | Ebd., S. 120.

Störung

Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion. 23

Jedes Dispositiv formiert sich mit einer strategischen Zielsetzung auf einen gesellschaftlichen Notstand hin ausgerichtet und operiert fortwährend über zwei Prozesse. Der Prozess der funktionellen Überdeterminierung bedeutet dabei, dass alle primären, überdeterminierten Operationsmodi des Dispositivs sich auf die strategische Zielsetzung hin ausgerichtet verhalten. Die strategische Wiederauffüllung ist dabei ein Prozess, der als Effekt auf die funktionelle Überdeterminierung hin orientiert ist und die Inkorporierung der heterogenen Elemente in das Dispositiv vollzieht.24 Die Entstehung und der Wandel der Dispositivformation werden demzufolge durch das fortlaufende Prozessieren von Urgence, strategischer Wiederauffüllung und funktionaler Überdeterminierung bestimmt. Dabei ist mit Bezug zur Urgence bedeutsam, dass »das Dispositiv immer erscheint, wenn eine Struktur sich auf die Umstände hin öffnet«, so Bernard Vouilloux, der weitergehend ausführt, dass ein Dispositiv jedes Mal dann entsteht, »wenn eine Konfiguration von Effekten, die sie produziert, überlastet ist«25. Auf die entstandene Urgence reagiert das Dispositiv mit strategischer Wiederauffüllung und damit auch mit der Integration neuer Elemente, die die bisherige überdeterminierte Ausrichtung neu bestimmen.26 Der Prozess der strategischen Wiederauffüllung ist von einer Doppelbewegung gekennzeichnet: »einerseits dem Dispositiv unterworfen sein und sich andererseits zugleich reflexiv zu ihm zu verhalten«, so Christoph Hubig, der weiterführend in der strategischen Wiederauffüllung das Spannungsfeld von Macht und Gegenmacht im Dispositiv lokalisiert: »Den Netzen der Macht stehen die Punkte der Verwirklichungsbedingungen gegenüber, die die Realisierung des Netzes im Dispositiv affirmieren, verhindern, modifizieren, fortschreiben«27. Die Hauptfunktionen von Dispositiven unterliegen dabei dem von Jürgen Link beschriebenen Paradigma des Normalismus.28 Dispositive produzieren mit der permanenten Begrenzung und Entgrenzung des Sagbaren ein Wechselspiel von Denormalisierung und Normalisierung, das über die Irritation von Toleranzgrenzen zu einem beständigen Ausloten von bestehenden Konventionen führt und damit gesellschaftlichen Wandel provoziert. Durch beständiges Aushandeln der »Begrenzung und Entgrenzung des Sagbaren« – und ich ergänze an dieser Stelle das Sagbare um das Sichtbare und Spürbare –, das immer mit der »Irritation von Tole-

23 | Ebd. 24 | Vgl. ebd., S. 121. 25 | Vouilloux, Bernhard: »Die Kritik der Dispositive. Das Dispositiv in der poststrukturalistischen Ära«, in: Matthias Rothe/Hartmut Schröder (Hg.), Stil, Stilbruch, Tabu. Stilerfahrung nach der Rhetorik. Eine Bilanz. Berlin 2008, S. 258-274, hier: S. 261. 26 | Vgl. ebd. 27 | Hubig, Christoph: »›Dispositiv‹ als Kategorie«, 2000, S. 1-12, hier: S. 9; aufrufbar unter: http://sammelpunkt.philo.at:8080/561/1/Dispositiv.pdf. 28 | Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 2006.

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ranzgrenzen« einhergeht, werden Konventionen und Vereinbarungen gewandelt.29 Mit dem Konzept der Störung lässt sich – so meine These – die Kritik in das Dispositiv selbst verlagern. Störung übernimmt die Funktion der Kritik im Dispositiv und ist dispositiv-immanent generierte Kritik.30 Kritik im Dispositiv zeigt sich im Moment der Störung, in der das Unregierbare erscheint und die Operationsweise des Dispositivs als beständiger Prozess von Urgence, funktioneller Überdeterminierung und strategischer Wiederauffüllung sichtbar macht. Störung als Kritik hat hier eine doppelte, paradoxe Funktion inne: Zum einen zeigt sie das Trennende auf, zum anderen operiert sie konstituierend und formend, indem sie den Wandel der Formation des Dispositivs betreibt.

N ine E venings : D as K onstruk tive der S törung Im weiteren Verlauf zeige ich mit Bezug zu den Nine Evenings-Performances in einem ersten Schritt auf, dass Störung als Dimension der Kritik im Dispositiv, und in einem zweiten Schritt weitergehend, dass Kritik als konstitutives Element des Dispositivs operiert. Aus heutiger Sicht wird die Performance-Reihe Nine Evenings: Theatre and Engineering, die im Oktober 1966 in der 69th Regiment Armory in New York City gezeigt wurde, als bahnbrechendes Ereignis für den Auf bruch der performativen, szenischen Kunst betrachtet.31 Rund 30 Ingenieure der Bell Laboratories treffen auf zehn Kunstschaffende aus den Bereichen Tanz/Choreographie, Musik/Komposition und Bildende Kunst, um in kollaborativer Arbeit zehn interdisziplinär konzipierte Stücke umzusetzen. Catherine Morris, Initiatorin der am MIT 2006 veranstalteten Retrospektive 9 Evenings Reconsidered, resümiert: Forty years later, 9 Evenings is understood as a significant group of performances that encompassed not only a unique set of collaborative experience between artists and engineers but a critical attempt to integrate into contemporary performative practices the technology of the day beyond simply utilizing gadgetry as a form of theatrical embellishment. 32

Die auf Initiative von Billy Klüver und Robert Rauschenberg entstandene Aufführungsreihe Nine Evenings verbindet die weitgehend dichotom wahrgenommenen Bereiche von Technologie und Kunst. Das neuntägige Ereignis ruft ein ebenso gro29 | Vgl. Ächtler, Norman: »›Entstörung‹ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik«, in: Carsten Gansel/Norman Ächtler (Hg.), Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/Boston 2013, S. 57-82, hier: S. 68. 30 | Anmerkung: Dabei habe ich keinesfalls die Absicht, eine Gleichsetzung der Begriffe von Störung und Kritik zu vollziehen, vielmehr zeige ich deren funktionelle Äquivalenz auf. 31 | Vgl. Dixon, Steve: Digital Performance. A History of New Media in Theatre, Dance, Performance Art, and Installation. Cambridge/London 2007, S. 97. 32 | Morris, Catherine: »9 evenings: an experimental proposition (allowing for discontinuities)«, in: 9 evenings reconsidered: art, theatre, and engineering, 1966. MIT List Visual Art Center, Cambridge, Massachusetts 2006, S. 9-20, hier: S. 9.

Störung

ßes Interesse in der Öffentlichkeit hervor, wie es das in großer Zahl anwesende Publikum irritiert, indem es ein neues Verständnis von Performance, Theater, Kunst und Technologie fordert.33 In der Rekonstruktion der historisch-zeitgenössischen Nine Evenings-Rezeption der späten sechziger Jahre vermittelt sich der Eindruck, dass vor allem das NichtFunktionieren der technischen Apparatur bzw. die Fehler- und Störanfälligkeit der Technologie in der Interaktion mit anderen agierenden Bestandteilen der Performances (Materialien, Menschen und Objekten) sowie das Nicht-Beherrschen der Technologie als signifikantes Merkmal der Nine Evenings-Aufführungen wahrgenommen wurden. Wenn Michelle Kuo Nine Evenings trotzdem als »[f]ailure as an exceptional kind of success«34 beurteilt, liegt die Frage nahe, worin sich das konstruktive Potential der Störung begründet. Die Tanzschaffenden der Nine Evenings – Deborah Hay, Lucinda Childs, Steve Paxton und Yvonne Rainer –, die sich in ihrem Selbstverständnis als Tänzer-Choreographen und als Performer verstehen und die interdisziplinäre Kollaborationen mit anderen Kunstschaffenden und Ingenieuren eingehen, sind Teil der Avantgarde-Kunstszene im New York der sechziger Jahre und ebenso wie Musikschaffende und Bildende Künstler daran interessiert, neue Variablen in ihre Arbeitsweisen zu integrieren und die Definitionen sowie die historischen Grenzen ihres gewählten Mediums zu erweitern bzw. zu überschreiten. »Dance gives up its medium specificity. In the 1960s there is a rupture with both object and medium specificity of art and dance is no longer embodied movement in time and space.« Mit Gerald Siegmunds Argument, dass der Tanz in den sechziger Jahren seine Medienspezifizität aufgibt,35 lässt sich nach der Urgence fragen, die zu diesem Dispositivwandel führt. Denn: Ein Dispositiv formiert oder wandelt sich immer als Antwort auf ein gesellschaftliches Bedürfnis, eine Notwendigkeit oder ein Problem. Die Nine Evenings-Stücke lösen Irritationen und Verstörungen beim Publikum aus, indem sie erstens permanent zwischen Ausstellungs- und Aufführungssituation oszillieren sowie ihr Aufführungs-Ablauf wiederholt durch technische Fehler und lange Pausen ins Stocken gerät. Zweitens werden durch die Anordnung von Spielorten, Zuschauenden und technischer Apparatur sowie dem sichtbaren Agieren der Ingenieure im Verlauf der Aufführungen die an den Theater-Kontext gebundenen Erwartungen, Normen und Konventionen unterlaufen. Drittens lässt sich eine diskursive Störung hinsichtlich des konventionellen Verständnisses von Choreographie beobachten, wenn z.B. ein Bildender Künstler wie Robert Rauschenberg die Erweiterung vornimmt, seine Performances wie z.B. das Tennisspiel in Open

33 | Vgl. Büscher, Barbara: Live Electronic Arts und Intermedia: die 1960er Jahre. Über den Zusammenhang von Performance und zeitgenössischen Technologien, kybernetischen Modellen und minimalistischen Kunst-Strategien. Habilitationsschrift an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig, 2002, S. 77. 34 | Kuo, Michelle: »9 evenings in reverse«, in: 9 evenings reconsidered: art, theatre, and engineering, 1966. MIT List Visual Art Center, Cambridge/Massachusetts 2006, S. 31-43, hier: S. 39. 35 | Vgl. Siegmund, Gerald: »Serial Materializations: Contemporaneity as Medial Distribution«. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. Dance Future II: Claiming Contemporaneity, Hamburg, 28. Jan. 2017.

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Score als Tanz36 bzw. weiterführend als Choreographien zu bezeichnen37. Viertens bedingt die Integration der Technologie in das Bühnengeschehen die gemeinsame Performance von Medien, Menschen und Materialien innerhalb der Bewegungsanordnungen der medienübergreifenden Choreographien. Somit operieren die Nine Evenings-Performances choreographisch permanent an der Schwelle der Störung: Die Störungen und Irritationen, die die Medienchoreographien der Nine Evenings auslösen, eröffnen in Bezug auf die Operationsweisen des Dispositivs Choreographie daher ein weiterführendes Fragen- und Beobachtungsfeld: • Die Perspektive der Urgence lässt die Frage zu, wie Choreographie und Tanz im Kontext der Entgrenzung der Künste, Happenings und Aktionskunst im New York der sechziger Jahre auf gesellschaftliche Urgence reagieren. Welches Verständnis von Choreographie gerät vor dem Hintergrund der Krise der Repräsentation in den Künsten und dem Einzug des Performativen ins Wanken? • Die Perspektive der funktionellen Überdeterminierung macht die Grenzen des in den sechziger Jahren vorherrschenden Tanz- und Choreographie-Verständnisses sichtbar. Wo zeigen sich diese Grenzen? Wie äußert sich die Überbestimmtheit von Choreographie? • Die Perspektive der strategischen Wiederauffüllung ermöglicht es, danach zu fragen, auf welche Art und Weise Tanz und Choreographie Grenzen überschreiten, wie diese heterogenen Elemente wieder in das Dispositiv Choreographie integriert werden und wie mit der Erweiterung auch eine neue Institutionalisierung einhergeht.

S törung als zentr ale D enkfigur der K ritik Meine Argumentation zielt darauf ab, Agambens These zum Unregierbaren38 eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Zwar stimme ich Müller-Schöll zu, dass das Unregierbare den Blick auf die Geschichtlichkeit des Dispositivs lenkt bzw. mit dem Blick auf »primordiale Entgrenzungen«39 die paradoxe Geschichtlichkeit von Dispositiven erklärbar wird. Jedoch stelle ich dem Konzept des Unregierbaren, das für Agamben direkt und für Müller-Schöll indirekt eine zentrale Denkfigur ist, ein anders gelagertes Argument entgegen: Mit der Denkfigur der Störung lässt sich verdeutlichen, dass Kritik im System Theater weder als Unregierbares noch als Widerständiges oder gar als Gegendispositiv operiert. Es gibt kein »Gegendispositiv«40 außerhalb, sondern das Unregierbare ist konstitutiv für jedes Dispositiv. Störung als zentrale Denkfigur zeigt auf, so meine Argumentation, dass die dem Dispositiv immer schon innewohnende ko-originäre Unregierbarkeit weder dessen Gründung entgegenstrebt noch an dessen Auflösung arbeitet, sondern dass die Operationsweisen der Störung in Form von produktiver Kritik den Wandel des Dispositivs vorantreiben, ohne das Dispositiv als solches aus den Angeln zu heben. Die 36 | 9 Evenings: Theatre and Engineering. Programmheft, o.S. 37 | Vgl. Büscher: Live Electronic Arts und Intermedia: die 1960er Jahre (Anm. 36), S. 91. 38 | Vgl. Müller-Schöll: »Raum-zeitliche Kippfiguren« (Anm. 2), S. 245. 39 | Müller-Schöll, Nikolaus: »Das Dispositiv und das Unregierbare« (Anm. 8), S. 75. 40 | Agamben: Was ist ein Dispositiv? (Anm. 3), S. 34.

Störung

Veränderung eines Dispositivs vollzieht sich nicht durch die Ersetzung des einen Dispositivs durch ein anderes,41 sondern Dispositive vollziehen einen Wandel in sich selbst. Die konstitutive Unregierbarkeit im Dispositiv treibt dessen fortwährenden Wandel voran. Gleichzeitig bewirkt sie damit die Stabilität eines Dispositivs wie des Theaters gegenüber historischer Wandelbarkeit und kulturellem Kontext. Die Störung macht das (noch) Unregierbare im Dispositiv sichtbar. Die Störung provoziert damit jedoch zugleich den Prozess der strategischen Wiederauffüllung, welcher vom Dispositiv vollzogen wird, um der entstandenen Urgence zu begegnen. Ergebnis dieser Operation wäre somit ein verändertes Dispositiv im Sinne eines Dispositivwandels. Wird Theater als kritische Praxis untersucht, so erfordert dies eine Perspektivverschiebung hin zu Störungen und Störmomenten. Das Dispositiv als analytischer Zugang zum Theater ermöglicht es, Störung als dispositivimmanente Kritik zu operationalisieren. Störung ist – funktionell verstanden – strategisch-produktive Kritik im Dispositiv Theater.

41 | Müller-Schöll: »Raum-zeitliche Kippfiguren« (Anm. 2), S. 245.

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Nachwuchsfestivals als kritisches Dispositiv Zwischen institutioneller Öffnung und Einhegung von Kritik Benjamin Hoesch

Wer heute über Theater als Kritik nachdenkt, hat es mit zwei äußerst unscharfen Größen zu tun. Nicht nur gehört die Frage »Was ist Kritik?« zu den philosophischen Standardproblemen;1 auch das komplementäre »Was ist Theater?« ist kaum mehr systematisch umfassend zu beantworten: Die Pluralität von Orten, Formaten und Ästhetiken sowie Kooperationen, Grenzüberschreitungen und -auflösungen etwa zwischen Stadttheater und freier Szene, Medien, Genres und Gattungen, Politik und Kunst etc. machen ein sistierendes Sprechen über das Theater, von dem Kritik ausgehen oder an dem Kritik ansetzen könnte, fragwürdig. Gleichwohl lassen sich in dieser Heterogenität Phänomene als allgemeine Tendenzen identifizieren, für die zweierlei gilt: dass sie relativ neu im Feld sind, und dass sie an vielen Orten und in unterschiedlicher Ausgestaltung, aber mit gemeinsamen Grundannahmen, Motivationsdiskursen und Zielen zu beobachten sind. Zu diesen Phänomenen gehört das Format des Nachwuchsfestivals, das regelmäßig wiederkehrend über mehrere Tage dezidiert die Arbeiten junger, nicht-etablierter Theaterschaffender zeigt. Seit der Jahrtausendwende ist allein im deutschsprachigen Raum eine zweistellige Anzahl entsprechender Festivals gegründet und institutionalisiert worden, gerade auch durch renommierte öffentliche, freie und private Träger – wie Tabelle 1 zeigt. Nachwuchsfestivals können damit als eine der charakteristischen institutionellen Neuentwicklungen des Theaters der 2000er Jahre mit Bestand bis in die Gegenwart gelten. Tabelle 1: Nachwuchsfestivals und ihre Ausrichter im deutschsprachigen Raum Plateaux – Neue Positionen Internationaler Darstellender Kunst Körber Studio Junge Regie

100° Festival – Langes Wochenende des Freien Theaters

Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt Thalia Theater Hamburg, Theaterakademie Hamburg, Körber-Stiftung, Deutscher Bühnenverein Hebbel am Ufer Berlin, Berliner Sophiensæle, Ballhaus Ost

2000-2010 seit 2003

2003-2015

1 | Vgl. etwa Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009.

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Benjamin Hoesch OUTNOW! FESTIVAL

Schwankhalle Bremen, Junges Theater Bremen Kaserne Basel, Roxy Birsfelden, junges theater basel

seit 2004

SOPHIENSÆLE Berlin, FFT Düsseldorf, Kampnagel Hamburg, brut Wien, Gessnerallee Zürich, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt Münchner Volkstheater

2004-2017

Festival Premières

Théatre National de Strasbourg, Badisches Staatstheater Karlsruhe

seit 2005 seit 2013

Kaltstart

Kaltstart e.V. Hamburg

2006-2015

Osterfestival der Kunsthochschulen

Maxim Gorki Theater Berlin

2007-2013

Fast Forward – Europäisches Festival für junge Regie

Staatstheater Braunschweig Staatsschauspiel Dresden

2010-2016 seit 2017

Treibstoff-Theatertage

Freischwimmer

Radikal Jung

seit 2004

seit 2005

Als Ursachen dieses Booms von Nachwuchsfestivals kommen zahlreiche Problemlagen und Lösungsstrategien in Frage: etwa die Eventisierung des Kulturbetriebs, die Reduzierung von Produktions- und Honorarbudgets, die Auslagerung der theaterkünstlerischen Ausbildung von betriebsinternen Assistenzen in die Hochschulen und Akademien sowie deren immenser künstlerischer Produktivitätsanstieg.2 Diese Gründe kommen in den einzelnen Nachwuchsfestivals in unterschiedlicher Gewichtung zum Tragen. Zwei Gemeinsamkeiten fallen in ihren Ausgestaltungen jedoch auf: Zum einen erfolgt die Ausschreibung und Ankündigung der Nachwuchsfestivals im Gestus der Öffnung. Die veranstaltenden Institutionen »öffnen […] all ihre Türen, Bühnen, Foyers und Höfe[,] bis jede Nische von Theater-, Tanz- und Performancegruppen bespielt wird«3, wie es etwa zum 100 Grad Festival Berlin hieß, und werden für den Festivalzeitraum »zur Plattform für den Regienachwuchs«4, wie das Körber Studio Junge Regie ankündigt. Die ausrichtenden Institutionen nehmen die Nachwuchsarbeiten sehr bewusst als einen externen Impuls auf, den sie willkommen heißen und zugleich in Differenz zu ihrem eigentlichen künstlerischen Programm sehen. Zum anderen räumt ein Großteil der Nachwuchsfestivals den Künstler*innen auch neben den Aufführungen weitreichende Gelegenheiten zur diskursiven Artikulation ein: Publikumsgespräche, Podiumsdiskussionen oder Werkstattgespräche finden

2 | Zur Eventisierung vgl. Hauptfleisch, Temple et al. (Hg.): Festivalising! Theatrical Events, Politics and Culture. Amsterdam/New York 2007. Zur Verschiebung der Ausbildung von Assistenzen in Hochschulstudiengänge vgl. Hänzi, Denis: Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie. Bielefeld 2013, S. 157-162. 3 | www.ballhausost.de/produktionen/100grad-2015-ausschreibung-de am 18. Feb. 2018. 4 | https://www.koerber-stiftung.de/koerber-studio-junge-regie.html am 18. Feb. 2018.

Nachwuchsfestivals als kritisches Dispositiv

sich hier in deutlich höherer Zahl und Prominenz als im regulären Programm der Ausrichter, aber auch als auf den Festivals etablierten Theaters.5 Mit diesen beiden Setzungen – der institutionellen Öffnung und der Gelegenheit zur Äußerung – schaffen Nachwuchsfestivals die Voraussetzung für einen kritischen Diskurs, zu dem ihre Veranstalter oft explizit einladen und der sich deutlich von der sonstigen Kritik aus oder in diesen Institutionen unterscheidet. Ich sehe daher ein zentrales Motiv für die Konjunktur von Nachwuchsfestivalformaten in der Einrichtung eines spezifischen Dispositivs der Kritik, worunter ich einen bestimmten konstitutiven Zusammenhang von Diskurs, Institution, Subjekt und Wissen verstehe. Dieser Zusammenhang erlaubt eine Mobilisierung kritischen Potentials, verdeckt dabei aber ihr inhärente Bedingungen und Beschränkungen des kritischen Diskurses. Dem kritischen Dispositiv von Nachwuchsfestivals möchte ich mich daher zunächst mit der Frage nähern, welche Art von Kritik in ihm ermöglicht und privilegiert wird, um dann zu zeigen, durch welche Relativierungen der Diskurs im entschärften Rahmen genau dieser Kritik eingehegt wird. Abschließend möchte ich an einem Beispiel unter Bezugnahme auf Michel Foucaults und Judith Butlers Überlegungen zur Kritik als Praxis der Entunterwerfung skizzieren, wie das von Nachwuchsfestivals mobilisierte kritische Potential zur volleren Entfaltung kommen kann.

I nstitutionelle E rneuerung der K ünstlerkritik Ausgangspunkt meiner Untersuchung sind die öffentlichen Diskussionsveranstaltungen und Publikumsgespräche, die für Nachwuchsfestivals charakteristisch sind und in denen sich die Struktur und strategische Ausrichtung des kritischen Dispositivs besonders explizit zeigen. In der klaren Mehrzahl der von mir besuchten oder in Dokumentation nachvollzogenen Diskussionsveranstaltungen ging es um die gezeigten Theaterarbeiten nur am Rande bzw. nur insofern, wie sich in ihnen die dominanten Themen der Gespräche niederschlugen; diese drehten sich um die jeweiligen Regisseur*innen: persönliche Prägungen, Vorbilder und Ausbildungsgänge, ästhetische und mediale Vorlieben, thematische Interessen, politische Anliegen sowie immer auch präferierte Arbeitsweisen und zukünftige Karriereerwartungen.6 Zusammengefasst artikuliert dieser Diskurs den Anspruch junger Künstler*innen, dass ihre Arbeit selbstbestimmt, frei und nur vom eigenen künstlerischen Willen geleitet war, sowie die Hoffnung, diese Arbeit auch in Zukunft so fortsetzen zu können. Dass einem solchen persönlichen Ausdruck auch öffentliche Bedeutung zukommt, steht in der Tradition dessen, was Ève Chiapello als Künstlerkritik bezeichnet hat: Im Unterschied zur Sozialkritik wendet sich die Künstlerkritik gegen Entfremdung, Kontrolle und Kommodifizierung und fordert dagegen Freiheit und

5 | Publikumsgespräche sehen das Körber Studio, OUTNOW!, Radikal Jung, Premières, Kaltstart und Fast Forward fest vor; zusätzliche Podiumsdiskussionen gibt es bei OUTNOW! und Radikal Jung; Video-Interviews veröffentlichen derzeit das Körber Studio und Fast Forward. 6 | Vgl. etwa Roeder, Anke/Sucher, C. Bernd: Radikal jung. Regisseure: Porträts, Gespräche, Interviews (= Recherchen 25). Berlin 2005.

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Benjamin Hoesch

kreative Selbstentfaltung ein.7 Chiapello zufolge hat diese Kritik in der Gegenwart erheblich an Schlagkraft eingebüßt. Ihre Begründungen einer aktuellen Krise der Künstlerkritik lassen verstehen, warum gerade der künstlerische Nachwuchs Hoffnungen auf ihre Erneuerung weckt: Zum einen haben für Chiapello gesellschaftliche Entfremdungserfahrungen als kritische Motivation von Künstler*innen durch die weitgehende staatliche Protektion und öffentliche Finanzierung der Kunst stark abgenommen. Die auf Nachwuchsfestivals präsentierten Künstler*innen fallen jedoch nicht hierunter, ihre gesellschaftliche Anerkennung in Form dauerhafter Beschäftigungschancen ist und bleibt fragwürdig. Sie bringen daher die »Fähigkeit zur Empörung«8 gegen bestehende intransparente Bewährungsproben der staatlich getragenen Kunst mit, wenn sie in der neuerrichteten öffentlichen Bewährungsprobe des Nachwuchsfestivals »zeigen […], wozu sie fähig sind und – in einem tieferen Sinne – wer sie überhaupt sind«9. Zum anderen hat Chiapello gemeinsam mit Luc Boltanski herausgearbeitet, wie ein neuer Geist des Kapitalismus Anliegen der Künstlerkritik kooptiert: Er schafft autonome, eigenverantwortliche und Kreativität einfordernde Arbeitsverhältnisse, nicht ohne diese zu neuen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung zu nutzen. Darunter leide die Glaubwürdigkeit der Künstlerkritik, ihre Unterscheidbarkeit von Diskursen des Neo-Managements sowie der soziale Sonder-Status von Künstler*innen und ihrer Arbeit.10 Auch hiergegen wenden sich Nachwuchsfestivals, indem sie junge, hochqualifizierte Menschen präsentieren, die auf lukrativere Karrierewege verzichten und sich für das Theater entscheiden. Sie bekräftigen damit öffentlich die Distinktion zwischen künstlerischer und Erwerbsarbeit und revitalisieren die Künstlerexistenz als gesellschaftliches Ideal. Das kritische Dispositiv von Nachwuchsfestivals eröffnet also Möglichkeiten, künstlerisches Arbeiten exemplarisch als nicht-entfremdete, kreative Selbstentfaltung jenseits ökonomischer Bedingungen und Beschränkungen zu postulieren. Sie folgen darin Chiapellos und Boltanskis Forderung nach einer Erneuerung der Künstlerkritik,11 führen jedoch in ein Paradox: Denn konsequenterweise müsste sich diese Künstlerkritik gegen dieselbe Institution und Bewährungsprobe wenden, die sie erst ermöglicht. Schließlich sind es die Veranstalter*innen von Nachwuchsfestivals, die – wenn auch nicht autark – Arbeitsbedingungen und kreative Freiräume für die Künstler*innen in Gegenwart und Zukunft definieren. Es wundert daher nicht, dass die Schärfe und Tragweite des mobilisierten kritischen Potentials durch Relativierungen der Kritik begrenzt werden. Das Dispositiv der Nachwuchsfestivals zeichnet sich durch die dreifache Bindung des kritischen Diskurses an das produktive künstlerische Subjekt, an die Generation und Altersklasse sowie an

7 | Vgl. Chiapello, Ève: »Evolution und Kooption. Die ›Künstlerkritik‹ und der normative Wandel«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2012, S. 38-51, hier: S. 38-44; Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003, S. 79-84. 8 | Boltanski/Chiapello, 2003, S. 80. 9 | Ebd., S. 72. Vgl. zum Begriff der Bewährungsprobe ebd., S. 72-79. 10 | Vgl. auch Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012, S. 123-132. 11 | Vgl. Chiapello, 2012, S. 50f.

Nachwuchsfestivals als kritisches Dispositiv

den Wettbewerb aus, wobei sich die Aspekte der Relativierung verschränken und ineinanderwirken, wie sich im Folgenden zeigen wird.

E inhegungen : S ubjek tivierung , G ener ationendenken , W e t tbe werb der K ritik Mit weit mehr Aufwand noch als am kritischen Diskurs arbeiten Nachwuchsfestivals an der Herstellung künstlerischer Subjekte. Sie versprechen bislang unbeachteten Künstler*innen »die einmalige Möglichkeit«, sich »einem interessierten und fachkundigen Publikum zu zeigen«12 . Dieses Zeigen – oder Gezeigt-Werden – beginnt schon vor der Präsentation der künstlerischen Arbeit; das Spektrum der Praktiken reicht von der Namensnennung im Programm über Presseankündigungen und Vorabinterviews bis zur Veröffentlichung von Porträts und Biographien – wie beispielsweise im Festivalband der Reihe Regisseure von morgen, den Radikal Jung am Münchner Volkstheater jedes Jahr herausgibt.13 Andere Veranstalter heben am Festival dagegen informelle Gelegenheiten zum Kontakteknüpfen und Netzwerken hervor, bezeichnen sich etwa wie OUTNOW! als »Ort der Verständigung und Verschwisterung«14. In allen Fällen verlangt die Herstellung künstlerischer Subjekte die Kooperation der Künstler*innen selbst, die nur in dieser Subjektivierung öffentliche Sprach- und Handlungsfähigkeit erhalten. Orientierung bietet dabei der Subjekttyp ›Nachwuchskünstler*in‹, den die Festivals in dieser Prominenz erst neu definiert haben.15 Da sich Nachwuchsfestivals explizit als Fördermaßnahme begreifen, vereint die Subjektivierung von Nachwuchskünstler*innen die gegenläufigen Charakteristika von Förderungsbedürftigkeit und Förderungswürdigkeit zu individuellen Profilen: Einer Förderung bedürftig sind Künstler*innen durch den Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit und professionellen Arbeitsangeboten, eine sozioökonomische und kulturpolitische Krisenlage, gegen die sich das kritische Dispositiv der Nachwuchsfestivals explizit wendet. Insofern stellt der Auftritt von Nachwuchskünstler*innen den Status quo des Theaters in Frage und fordert Perspektiven für neue Ästhetiken, neue Arbeitsweisen und neues Personal in ihm ein. Erhaltener und weiterer Förderung würdig erweisen sie sich dagegen durch einen persönlichen Entwicklungsstand und ein Professionalisierungs-Potential, die sich nur an etablierten ästhetischen und strukturellen Normen messen lassen. Innovative Impulse und kritische Visionen der Nachwuchskünstler*innen werden damit umgekehrt darauf befragt, ob sie in den bestehenden Verhältnissen des Theaters umsetzbar 12 | www.ballhausost.de/produktionen/100grad-2015-ausschreibung-de, zuletzt abgerufen am 18. Feb. 2018. 13 | Zuletzt Engels, Kilian/Sucher, C. Bernd (Hg.): radikal jung 2017. regisseure von morgen. Berlin 2017. 14 | ht tps://outnowbremen.de/wp-content/uploads/2017/05/OUTNOW17_PRGhef t _ 0805_WEB.pdf, zuletzt abgerufen am 18. Feb. 2018. 15 | Vgl. hierzu ausführlich Hoesch, Benjamin: »Junge Kunst oder wahre Kunst? Institutionelle Reproduktion durch die Subjektivierung ›NachwuchskünstlerIn‹ in Festivalformaten«, in: Friedemann Kreuder/Ellen Koban/Hanna Voss (Hg.), Re/produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten. Bielefeld 2017, S. 147-159.

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sind, ob ihre Kritik konstruktiv bleibt. Grundsätzliche Infragestellungen oder Verweigerung werden auf Nachwuchsfestivals derzeit kaum sichtbar, weil solche Diskurse und Praktiken für die Nachwuchskünstler*in als produktives Subjekt in den meisten Formaten nicht vorgesehen sind. Diese Relativierung von Kritik kann gerade auch kritische Haltungen betreffen, die sich selbst an eine bestimmte Subjektivität binden – wie etwa identitätspolitische Anliegen: Nachwuchsfestivals stehen durchaus auch solchen künstlerischen Identitäten offen, die im etablierten Theaterbetrieb auf der Basis von Geschlecht, Ethnizität, Nationalität, Religion oder sozialer Herkunft marginalisiert sind. Nachwuchskünstler*innen, die sich mit einer solchen Minorität identifizieren, können eine Kritik an diesen Repräsentationsdefiziten artikulieren und verkörpern, die dabei jedoch zum individuellen Thema in ihrem persönlichen Profil wird. Emanzipative künstlerische Identitätsentwürfe werden dabei überlagert von der grundsätzlich provisorischen und instrumentellen Subjektivierung der Nachwuchskünstler*innen. Die strukturellen Ungleichheiten werden so nur schwer grundlegend angreifbar, da sie mit der relativen institutionellen Offenheit des Nachwuchsfestivals als nichtexistent oder als bereits behoben behauptet werden können. Dennoch sind die Subjektivierungen der Nachwuchsfestivals nicht grundsätzlich individuell. Vielmehr zählt der Begriff der Generation zu den häufigsten Schlagworten in ihrem Diskurs. Nachwuchsfestivals machen ein Interesse für die ästhetische und politische Perspektive einer jungen Generation von Theaterschaffenden stark. Sie fragen nach Abgrenzungen, Gegenentwürfen, programmatischen Zielen und Allianzen – und stoßen stattdessen regelmäßig auf Widersprüche und Unvereinbarkeiten in den individuellen Positionen.16 Dass Nachwuchsfestivals diese Vereinzelung aber nicht nur konstatieren, sondern womöglich auch herstellen oder forcieren, verbirgt dieser Fragegestus. Ihr Generationenbegriff ist nicht geeignet, um zur Kollektivierung von kritischem Potential einzuladen, sondern bereitet dessen Spaltung vor: So impliziert die kontinuierliche Zuweisung der Künstler*innen zur jungen Generation Naivität, da ihre kritische Haltung auf überschaubaren Entfremdungserfahrungen beruhen muss. Insbesondere gegenüber dem Theaterbetrieb mit seiner Geschichte und Reproduktionsfähigkeit hat diese Kritik einen schweren Stand. Dagegen verfestigt der Generationendiskurs häufig überkommene Streitfelder, die nun eine neue Generation innerhalb der etablierten Konfliktlinien füllt: Weil etwa das Körber Studio – wie zeitweise auch das Osterfestival der Kunsthochschulen – die Nachwuchskünstler*innen zu Repräsentant*innen ihrer jeweiligen Ausbildungsgänge macht, werden dort Podiumsdiskussionen und Werkstattgespräche von Grabenkämpfen zwischen den spezifischen Arbeitsweisen und ästhetischen Prinzipien der Schulen wesentlich geprägt. Der kritische Diskurs wird dadurch in Inhalt und Richtung erwartbar und bekommt eine Tradition, in die er sich zwangsläufig einreiht. Eine Überwindung oder auch nur Verschiebung dieser Konfliktlinien ist gerade deshalb wenig wahrscheinlich, weil das Interesse der Nachwuchsfestivals an allgemeinen Zügen der jungen Generation nach Dominanten fragt, gegenüber denen andere Positionen als Abweichung abgewertet werden. Eine solche Hierarchisierung erfolgt auf den meisten Nachwuchsfestivals ganz explizit im Modus des Wettbewerbs, auch wenn sie sich diesem gegenüber ambivalent positionieren: Wett16 | Vgl. etwa Roeder/Sucher, 2005, S. 8-11, 66-68.

Nachwuchsfestivals als kritisches Dispositiv

bewerb wird oft als externe Bedingung künstlerischer Arbeit thematisiert sowie als Herausforderung und Belastung auch problematisiert. So sah sich das PLATEAUX-Festival am Frankfurter Mousonturm als »eine der wenigen Nachwuchsförderungen im Bereich Darstellender Kunst, die junge Künstler dabei unterstützt, sich auf den internationalen Wettbewerb vorzubereiten und zu behaupten«17. In den Publikationen des »Radikal Jung«-Festivals wird ein aktueller Hype um junge Regisseur*innen kritisch diskutiert, weil er mit steigendem Konkurrenzdruck und der Ausbildung persönlicher Labels in der Öffentlichkeit einhergehe. Diskontinuierliche und delokalisierte Arbeitsverhältnisse mischten sich mit der Angst davor, vom Theaterbetrieb auch schnell wieder fallen gelassen zu werden.18 An keiner Stelle reflektieren die Veranstalter*innen jedoch, was ausgerechnet ein Gastspielfestival für Nachwuchskünstler*innen – etwa im Vergleich zu Produktionsresidenzen oder anderen Formaten – diesen Verhältnissen entgegenzusetzen hat. Der Widerspruch in diesem Beispiel ist symptomatisch: Die Vorbereitung auf den Wettbewerb mitsamt der Entwicklung einer kritisch-souveränen Haltung darin wollen Nachwuchsfestivals ermöglichen, indem sie ihn internalisieren. Wettbewerb steht am Anfang schon in der kuratorischen Auswahl von einigen wenigen unter vielen in Frage kommenden Nachwuchsarbeiten; Wettbewerb begleitet den Festivalverlauf etwa in Abstimmungen für Publikumspreise; Wettbewerb steht am Ende, wenn Fachjurys jeweils eine einzelne Arbeit auszeichnen.19 Dass der Preis oft in weiteren Aufführungsgelegenheiten, Zuschüssen zu Nachfolgeprojekten oder Anschlussengagements besteht – also die künstlerische Weiterarbeit gerade einmal kurzfristig sichern hilft –, zeigt und schärft ein Bewusstsein dafür, dass dieser Wettbewerb ein existentieller ist. Er wirkt über den Wettstreitmodus hinaus auch informell auf vielen Ebenen, etwa in die Kommunikation der Künstler*innen mit Entscheidungsträger*innen des Theaterbetriebs, zu denen die Nachwuchsfestivals Kontakte vermitteln. Eine Einhegung von Kritik bewirkt dieser Wettbewerbsmodus in mehrfacher Hinsicht: Zunächst bedeutet er auch einen Wettbewerb der kritischen Positionen um Anerkennung und Konsequenz, den nur populäre, institutionell akzeptable und konstruktiv nutzbare Kritik gewinnen kann. Davon abweichende kritische Positionen und Praktiken werden dagegen vom Markt und aus dem Diskurs verdrängt. Doch auch die Kritik der Gewinner kommt zum Erliegen – schließlich verspricht der Wettbewerb ja gerade, bei Erfolg Beschränkungen abzubauen und Gegenentwürfe umsetzbar zu machen. Im Wettbewerb bestanden hat, wer nichts mehr zu kritisieren hat – so ließe sich die Logik des kritischen Dispositivs der Nachwuchsfestivals zugespitzt auf den Punkt bringen.

17 | https://www.goethe.de/de/kul/tut/ser/thr/1802707.html am 18. Feb. 2018. 18 | Vgl. Roeder/Sucher, 2005, S. 7, 53-59, 167-187. 19 | Offen als künstlerischer Wettstreit ausgelegt sind durch Jurypreise das Körber Studio (10 000 Euro Produktionszuschuss für eine Nachfolgeproduktion), 100° Festival (einen für jede der fünf Spielstätten: Wiederaufführung bei Best of 100°) und Fast Forward (Neuproduktion am Staatstheater Braunschweig); per Abstimmung ermittelte Publikumspreise vergeben das Körber Studio (undotiert), Radikal Jung (3000 Euro) sowie Fast Forward (undotiert).

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A usblick : K ritik als P r a xis der E ntunterwerfung in R egie 2 von M onster Truck Wie ich hoffe gezeigt zu haben, wird im Format des Nachwuchsfestivals kritisches Potential mobilisiert, um jedoch durch die Etablierung des Subjekts als Nachwuchskünstler*in, die Generationenfrage und die Reproduktion des Wettbewerbs im Rahmen einer Künstlerkritik gehalten zu werden, die im Wesentlichen als Geste der Stabilisierung und Profilierung nach innen und nach außen dient, für diejenigen Institutionen, die sie konformen Künstler*innen ermöglichen. Kritik kann sich in diesem Dispositiv nicht entfalten, ohne die eigenen Relativierungen zu bestätigen. Sehr wohl kann sie dabei aber als »die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden«20 die Stabilität und Transparenz der kritischen Einhegungen angreifen, indem sie die eigene, selbstbestimmt schöpferische Subjektivität aufs Spiel setzt. Wie dies beispielsweise aussehen könnte, lässt sich an der Aufführung Regie 2 von Monster Truck bei Radikal Jung 2016 zeigen:21 In Regie 2 erklärt das Theaterkollektiv per Textprojektion, heute auf die Präsentation einer eigenen Regiearbeit zu verzichten, und bittet stattdessen das Publikum, das Theater zu verlassen, um in bereitstehenden Bussen zum Besuch einer Vorstellung gefahren zu werden, die andere Regisseure verantworten. Unterwegs erhalten die Zuschauer*innen Tickets für die Night of the Jumps – Freestyle Motocross Championship in der gutbesuchten Münchner Olympiahalle und mischen sich unter ein dreieinhalbstündiges Massenevent zwischen dramatisiertem sportlichen Wettkampf und grellem Showspektakel – ohne weiteren Eingriff oder Kommentare seitens Monster Truck. Die spätabendliche Rückkehr zum Theater markiert das Ende von Regie 2. Im anschließenden Publikumsgespräch äußert das Kollektiv offen, dass Erschöpfung und Faulheit nach den letzten anstrengenden Theaterarbeiten eine zentrale Motivation in dieser Konzeptionierung gewesen seien. Man habe sich gefragt, welchen minimalen Eigenaufwand eine Regiearbeit zu leisten habe, um noch als solche bezahlt zu werden, und die Prinzipien des Readymades und der Inklusion auf kulturelle Aufführungen übertragen – nachdem man aufgrund der früheren Zusammenarbeit mit Schauspieler*innen mit Down-Syndrom in Dschingis Khan (2012) und Regie (2014) als inklusives Theaterkollektiv angekündigt war. Monster Truck nehmen damit reflexiv-spielerisch Bezug auf ihre Subjektivierung als Nachwuchskünstler*innen und die Arbeitsbedingungen, die hinter dieser stecken. Kritik üben sie dabei als eine »Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit«22 in der sehr explizit »stilisierte[n] Beziehung auf die an sie gerichtete Forderung«, deren »Stil nicht im Voraus gänzlich festgelegt ist«, sondern »eine Kontingenz beinhaltet«23: Regie 2 gibt die Behauptung einer autonomen 20 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 12. 21 | Regie 2 (2015). Von Marcel Bugiel, Manuel Gerst, Sahar Rahimi, Mark Schröppel, Ina Vera. Regie: Monster Truck. In Koproduktion mit No Limits Berlin und SOPHIENSÆLE. Aufführung am 23. April 2016 am Münchner Volkstheater. 22 | Foucault, 1992, S. 15. 23 | Butler, 2009, 236. Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Jaeggi/Wesche, 2009, S. 221-246, hier: S. 236.

Nachwuchsfestivals als kritisches Dispositiv

künstlerischen Praxis auf und die inszenatorische Verantwortung und Kontrolle selbstbestimmt ab. Dafür nutzt das Konzept parasitär die Produktivität des spätkapitalistischen Unterhaltungsspektakels, testet damit den Modus institutioneller Öffnung und zugleich die Vereinnahmungsfähigkeit des Theaters, dessen sozialer Rahmen und Betrieb auf seine Unterscheidbarkeit und Widerständigkeit gegenüber der Kulturindustrie befragt wird. Monster Truck gelingt ein Akt der »Entunterwerfung«24 in einer Verweigerung künstlerischer Arbeit, die produktiv und damit öffentlich präsentierbar – sowie entlohnbar – bleibt. Sie können deshalb die Privilegien, die das Nachwuchsfestival bietet, in Anspruch nehmen und gleichzeitig die Evaluation von existentiellem Bestehen im Wettbewerb von sich selbst auf die Institution und das soziale Feld des Theaters zurückwerfen. Diese Kritik weitet die Frage künstlerischer Produktion und ihrer öffentlichen Wahrnehmung und Bedeutung vom Problem der subjektiven Leistungsfähigkeit einer Nachwuchsgeneration zum gemeinsamen, ergebnisoffenen Projekt von Institutionen, Künstler*innen und Publikum. Ich möchte mit diesem Beispiel nicht sagen, dass Selbstreflexion, Verweigerung und freiwillige Entautonomisierung gleichsam die Rezepte für eine Entfaltung von Kritik jenseits ihrer Einhegung durch Nachwuchsfestivals seien. Dass jedoch das Möglichwerden dieser Prinzipien in der Konzeption und im künstlerischen Ereignis von Regie 2 Verschiebungen im Dispositiv bewirkt und dabei einen flüchtigen Bezug zur Utopie ursprünglicher Freiheit herstellt – Foucault würde sagen: Auch davon habe ich nicht gesprochen, »aber ich will es nicht absolut ausschließen«25.

24 | Foucault, 1992, S. 15; Butler, 2009, S. 224. 25 | Foucault, 1992, S. 53. Zu dieser rhetorischen Geste als Praxis der Tugend vgl. Butler, 2009, S. 241-244.

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Kritik der Kritik

»Mimique« Zu Derridas Theatralisierung der Rede und seiner diakritischen Arbeit am Wort Judith Kasper In Jacques Derridas Texten kommt das Wort »Kritik« – bzw. das französische Wort »critique« – nur am Rande vor. Für seine eigene Art des Denkens und der Bezugnahme auf andere Texte und Aussagen, für die er den Namen Dekonstruktion geprägt hat, hat er sich nicht auf die kritischen Traditionen gestützt: weder auf die deutsche (die Kritiken Kants, die frühromantische Feier der Kritik, die Kritische Theorie) noch auf die französische der »critique littéraire« in allen ihren Ausprägungen und inneren Zerwürfnissen. Während Roland Barthes mit seiner bahnbrechenden Lektüre von Racine1 die sogenannte »nouvelle critique« eingeleitet hat, die sich strukturalistisch und polemisch gegen die literaturhistorische und biographistische »critique« wendet, setzt sich Derrida Anfang der 1970er Jahre in eingängiger Auseinandersetzung mit JeanPierre Richards Studie L’univers imaginaire de Mallarmé 2 von der von diesem vertretenen »critique thématique« ab. Letzterer, für die neben Richard Literaturwissenschaftler und Philosophen wie Gaston Bachelard, Georges Poulet und Paul Ricœur standen, lag die Überzeugung zugrunde, dass ein literarischer Text die spezifische Weltwahrnehmung seines Autors artikuliere, die der Literaturwissenschaftler mittels Einfühlung rekonstruieren könne. Dass eine solche Weltwahrnehmung als Thema im Werk Mallarmés noch ausgemacht werden kann, zweifelt Derrida grundsätzlich an. Denn Mallarmés Dichtung bedeutet eine extreme Erschütterung des Vertrauens in die sprachlichen Möglichkeiten, eine Weltsicht so zu äußern, dass darin noch eine Welt und eine Sicht zum Ausdruck kommen. Während die »critique« – ganz gleich, ob es nun die »alte«, die »neue« oder die »thematische« ist – von einem relativ stabilen Verhältnis zwischen klar voneinander abgegrenzten Identitäten – der Welt und der Sicht, dem Text und dem Leser – ausgeht, stellt Derrida mit Mallarmé genau diese Gegenüberstellung radikal in Frage. Seine – von der Kritik abgesetzte, andere – Annäherung an Mallarmé bezeichnet er dabei mehrfach als »diakritisch«. Damit greift er ein Adjektiv auf, das er schon bei Richard findet, wo es allerdings ausschließlich als Beschreibung von Mallarmés Schreibtechnik auftaucht. Was heißt »diakritisch«? 1 | Barthes, Roland: Sur Racine. Paris 1963. 2 | Richard, Jean-Pierre: L’univers imaginaire de Mallarmé. Paris 1961.

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Das griechische Präfix dia bedeutet zunächst »durch«, »hindurch«, »auseinander«. Die Linguistik nennt Zeichen diakritisch, die nicht zum Alphabet gehören, d.h. Zusätze, die das Alphabet erweitern und die aus dem Alphabet bekannten Laute und Grapheme leicht verändern. Wenn Derrida das Wort aufgreift, so setzt er damit die Kritik selbst »auseinander«, lässt anderes in ihr »durch«-scheinen. Er tut dies, indem er nicht interpretiert und auslegt, sondern zitiert und wiederholt und in der Wiederholung das Zitierte diakritisch anders hörbar werden lässt. Es geht um minimale Verschiebungen in der Wiederholung, aus der unheimliche Doppelgänger aufsteigen. Das diakritische Verfahren ist damit unvermeidlich theatralisch: Wörter und Aussagen werden auf eine Bühne – einen anderen Schauplatz – getrieben, wo sie sich seltsam gebaren.3 Diese andere Bühne wird bei Derrida und Mallarmé als »entr’acte« gedacht. In Mallarmés »Kritzeleien im Theater« – Schriften zum Theater, die er unter dem Titel »Crayonné au théâtre« veröffentlichen ließ 4 – wird das Theater in einem absoluten Sinne als Zwischenakt gedacht: Es geht nicht um kleine, musikalische Stücke, die vor geschlossenem Vorhang eine Pause im Theater überbrücken, sondern um ein buchstäbliches »Zwischen den Akten«, in dem Handlung und Zeit ausgesetzt sind. Dieses Zwischen ist durch keinen vorgängigen und keinen nachfolgenden Akt begrenzt. Damit findet eine Verräumlichung – espacement – statt, ohne dass wir uns eine Vorstellung von dem Raum, der sich durch diesen Akt vollzieht, machen können. Eine Theatralisierung ereignet sich, deren Vorstellung und Aufführung unmöglich ist. In der formalen Gestaltung von Mallarmés Coup de dés5, in dem die schwarzen Wörter disseminiert auf dem weißen Blatt nur noch ansatzweise in konstellative Verbindungen gebracht werden können, wird dieses espacement als Insistenz des Zwischen buchstäblich ausgestellt. Derridas diakritische Geste setzt sich dem schwindelerregenden Abgrund, der sich hier eröffnet, aus. Gleichsam mimetisch treibt sie ihrerseits in den Wörtern und Aussagen das Andere der Zwischenräume hervor, die sie auseinanderschreiben und in ihnen anderes durchscheinen lassen. Vorstellungen von einer zeitlichen und räumlichen Ordnung werden durch die diakritische Geste als obsolet ausgestellt: Das Zwischen ist weder mit der Gegenwart noch mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft gleichzusetzen; es hat weder ein Innen noch ein Außen; es gehört weder zum Original noch zum Abbild, weder zur Realität noch zum Imaginären. Wie sollte ein solches Zwischen zur Aufführung gebracht werden? Mallarmé schreibt in Bezug auf den entr’acte L’après-midi d’un faune, dass dieser unmöglich für das Theater sei, aber doch nach dem Theater verlange: »le poème devait s’écrire en effet […] sur un mode absolument scénique, non possible au théâtre, mais exigeant le théâtre«6.

3 | Die Vorstellung einer Theatralisierung der Schrift findet sich bei Derrida auch schon in Auseinandersetzung mit Freuds »Wunderblock«, vgl. Derrida, Jacques: »Freud oder der Schauplatz der Schrift«, in: ders., Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1994, S. 302-350. 4 | Mallarmé, Stéphane: »Crayonné au théâtre«, in: ders., Œuvres complètes. Edition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchal. Bd. II. Paris 2003, S. 160-204. 5 | Ebd., S. 365-387. 6 | In diesem Sinne schrieb Mallarmé an seinen Freund Henri Cazalis, auf den von ihm als entr’acte konzipierten L’après-midi d’un faune Bezug nehmend, zit. in Mallarmé, Stéphane:

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Zu Mallarmés »Crayonné au théâtre« gehört auch sein knapp eine Seite umfassender Text »Mimique« (1886)7. Der Titel – gelesen als Substantiv – referiert einerseits auf das in diesem Text angesprochene Mimodram Pierrot assassin de sa femme von Paul Margueritte; andererseits – gelesen als Adjektiv: mimisch – bezeichnet er die Art und Weise eines Vorgehens. Gegenstand und Vorgehensweise, die in der kritischen Geste möglichst getrennt zu halten sind, fallen im Titelwort zusammen. »Mimique« steht am Anfang von Derridas »La double séance«, die selbst in La dissémination (1972) eine Art in sich gedoppeltes Zwischenspiel darstellt. Der Titel des Buches – la dissémination – sowie der Ausdruck la double séance sind Mallarmés Werk entliehen.8 Dissémination ist zu einem wichtigen Konzept der Dekonstruktion avanciert. Es verweist auf einen Raum von Mehrdeutigkeit in der Sprache, der sich nicht mehr auf das Phänomen der Polysemie begrenzen lässt. La double séance bringt einen performativen Aspekt ins Spiel, der sowohl der Seminarsitzung, der spiritistischen Séance, der Analyse-Sitzung als auch der Theateraufführung eignet. Mit double ist die schwierige Figur des Doppelgängers benannt, zu der auch der weißgeschminkte Mime gehört – Medium des Unheimlichen, der Wiederkehr von Geistern und Gespenstern, maßgeblich verantwortlich für die disseminierende Kraft in der Sprache und zugleich eine symptomatische Reaktion darauf.9 »La double séance« verdoppelt »Mimique«, ist jene Doppelsitzung, die das Gespenstische darin beschwört und die Pantomime noch einmal zur Aufführung bringt. Mallarmés »Mimique« ist mimisch, mimt. Zugleich mimt es nichts. Die mimische Geste bleibt, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer extrem fremdartigen Syntax, jeder diskursiven Auslegung verschlossen. Wer sich diesem Text nähert, wird zurückgestoßen und zurückverwiesen auf die einzige Referenz, die sich im Text findet: auf das Mimodram Pierrot assassin de sa femme, aufgeführt von Mallarmés Cousin, dem Schriftsteller und Mimen Paul Margueritte. Es handelt sich dabei nicht um ein Drama, das zur Aufführung gebracht werden soll, sondern vielmehr um die nachträgliche Notation einer pantomimischen séance, einer gespenstischen Mimesis, die 1882 im Théâtre de Valvins stattgefunden und der Mallarmé vermutlich beigewohnt hatte. Es gibt zu dieser Pantomime keinen Vortext, kein Drehbuch, das der Mime nachahmen würde. Anders gesagt: Was der Mime mimt, steht nirgends geschrieben; was er nachahmt, gab es vorher nicht. Die nachträgliche Notation versucht dieses Paradox zu benennen, wenn sie Pierrot sprechen lässt, aber zugleich sagt, dass er nicht spricht; wenn sie unterstreicht, dass all seine Gesten Œuvres complètes. Edition présentée, établie et annotée par Bertrand Marchal. Bd. I. Paris 1998, S. 1167. 7 | Mallarmé, Stéphane: »Mimique«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. II. Paris 2003, S. 178-179. 8 | »Dissémination« findet sich z.B. in Mallarmé, »Quant au livre«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. II. Paris 2003, S. 214; der Ausdruck »double séance« in den Entwürfen zum LIVRE, vgl. Scherer, Jacques (Hg.): Le »Livre« de Mallarmé. Paris 1977, S. 182. 9 | Eben aufgrund dieses unheimlichen Aspekts – des doppelgängerischen Aspekts des trompe l’œil und des Simulakrums, das ihm innewohnt – wurde das Mimetische aus Platons Staat verbannt. Die Verbannung taucht in Derridas »double séance« in einer langen Fußnote wieder auf (vgl. Derrida, Jacques: La dissémination. Paris 1972, S. 210ff.; dt. Üb.: Dissemination. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1995, S. 206ff.).

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keine Handlungen, sondern Nachahmungen (von nichts) sind. Nachträglich wird versprachlicht, was stumm nachgespielt worden ist, ohne dass das, was gemimt wird, zuvor je stattgefunden hatte oder geschrieben worden war. Und doch ist das mimetische Spiel kein erstes Mal, sondern strikte Wiederholung, Wiederholung eines Verbrechens, von dem niemand hätte etwas erfahren sollen: nämlich Pierrots Mord an seiner Frau Colombine, die ihn betrogen hatte. Aus Rache fesselt er sie ans Bett und kitzelt sie so sehr, dass sie sich buchstäblich zu Tode lacht. In dem Moment aber, da Pierrot Colombines Leiche vergraben und verbergen will, sucht sie ihn als Untote heim, und der Kitzelreiz, an dem sie umgekommen ist, überträgt sich auf Pierrot (der in wechselnden Rollen sich selbst und auch Colombine nachspielt) und streckt ihn schließlich nieder. Was in und durch das Mimische passiert, ist die Übertragung einer Erregung, eines tödlich starken Reizes, der die Körper in Konvulsion versetzt, sie ein unhörbar lautes und erschütterndes Lachen ausstoßen lässt, einen stummen Schrei, der über den Tod hinaus anhält. Dieser Kitzel überträgt sich auf Mallarmé, auf Derrida, auf alle, die sich dieser Szene – kritzelnd – zu nähern wagen. Die Herauf beschwörung dieses Kitzels beginnt in Derridas Gespenstersitzung bezeichnenderweise damit, dass er mit weißer Kreide (frz. craie) Zitate an die Tafel kritzelt.10 Ein irreparabler Moment kehrt darin wieder, laut und stumm zugleich durchkreuzt er die sprachliche Ordnung ebenso wie die herkömmlichen Konzepte von Raum, Zeit und Handlung. Das, was auf keine diskursive, logische Aussage, auf keinen greifbaren Tatbestand gebracht werden kann (in der Tat ahmt der Mime nichts nach, alles ereignet sich im Mimischen selbst), wird in Derridas diakritischer und kritzelnder Geste abermals ausagiert. Gleichsam nebenbei äußert sich dies als eine dezidierte Abwendung von der »critique«. Krínein – die intellektuelle Fähigkeit des Unterscheidens, Urteilens und Beurteilens – wird von der Diakritik gekitzelt; aus ihr herausgekitzelt wird, was durch die Kritik verdeckt und vergraben werden sollte. Während die Kritik immer an die Möglichkeit zu entscheiden und zu urteilen gebunden ist, unterscheidet die diakritische Geste anders als entscheidend und urteilend. Sie trennt und unterscheidet so, dass die Unmöglichkeit zu entscheiden und ein abschließendes Urteil zu fällen als unhintergehbare Bedingung jedes sprachlichen Verhältnisses zum Vorschein kommt. Denn die Sprachen selbst sind – wie Derrida, Richards eigene Formulierung aufnehmend, zitierend, wiederholend, schreibt – »diakritische Realitäten«: »Les langues, nous le savons maintenant, sont des réalités diacritiques; l’élément est en elles moins important que l’écart qui le sépare des autres éléments.«11 Derrida nimmt diese Einsicht auf und verkompliziert sie, wendet sie gegen die von Richard vertretene »critique thématique«: 10 | Den Zitaten – eine Stelle aus Platons Philebos, Mallarmés »Mimique« und fünf Stellen aus Mallarmés LIVRE, die zu Beginn von »La double séance« stehen – schreibt sich Derrida wie folgt zu: »Diese Zitate an der Tafel (tableau), damit stillschweigend mit dem Finger darauf gezeigt werden kann. Und damit ich beim Lesen eines bereits, schwarz auf weiß, geschriebenen Textes mit einem gewissen, stets hinter mir befindlichen Index, weiß auf schwarz, rechnen (tabler) kann. Im Verlauf dieser Überkreuzungen wird eine bestimmte Schrift des Weißen sich stets zu remarkieren geben« (Derrida, 1972, S. 203; dt. S. 197). 11 | Derrida (Richard zitierend), 1972, S. 281; dt. S. 281: »Die Sprachen sind, wie wir jetzt wissen, diakritische Realitäten. Das Element in ihnen ist weniger wichtig als der Abstand (écart), der sie von den anderen Elementen trennt«.

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Aus dieser Diakritizität, deren Schema noch zu komplizieren sein wird, werden wir weiter unten eine andere Konsequenz ziehen […]. Nichtsdestotrotz wird bereits nach Richards eigener Ansicht durch die Diakritizität untersagt, dass ein Thema ein Thema sei, das heißt die Kerneinheit eines da, dem Blick gegenüber gesetzten, außerhalb seines Signifikanten gegenwärtigen und an letzter Stelle nur auf sich selbst verweisenden Sinns, selbst wenn seine Identität als Signifikat sich vor dem Horizont einer unendlichen Perspektive abhebt.12

Die diakritische Realität der Sprache bewirkt, dass die Zwischenräume, die vermeintliche Leere, das Weiße zwischen den schwarzen Schriftzeichen zu jener Fläche wird, an der – wie auf dem weißgeschminkten, leichenblassen Gesicht Pierrots, dessen Körper in einem gespenstischen weißen Gewand steckt – das Irreparable, das Nicht-Thematisierte und Nicht-Thematisierbare durchscheint. Pierrots weißer Körper schreibt, indem er mimt, und zugleich ist sein Körper jener Schirm, auf dem etwas erscheinen kann, das unlesbar bleibt: eine weiße Schrift auf weißem Grund. Weiß auf weiß erscheinen keine Themen, sondern etwas, das verunmöglicht, dass sich eine Äußerung je zu einem mit sich selbst identischen Thema schließt. Das Diakritische ist mithin jener Moment, in dem die immer wieder erneut einsetzende Ordnung und thematische ›Vereindeutigung‹ durch eine Faltung und Auseinanderschreibung durchkreuzt wird. Das Diakritische kommt stets dazwischen, ist radikales Zwischen, Unterbrechung, Falte, Störung, es lässt sich auf keine kritische Aussage, auf keinen kritischen Standpunkt zurückführen. Viele reagieren bis heute auf Derridas diakritische Geste mit großer Abwehr. Man sollte sich an dieser Stelle allerdings klar machen, dass diese Geste nicht mit der nervenden Position eines kritischen Nörglers, der stets alles in Frage stellt, zu verwechseln ist, sondern dass sie sich in einem sehr konsequenten Sinne aus einer Lektüreerfahrung an und mit Mallarmé heraus entwickelt hat. Mallarmé hat ja in radikaler Weise unsere landläufige Idee von Literatur, Dichtung, Text und Sprache verunsichert. Er hat dies durch minimale Gesten der Faltung, Auseinanderschreibung, Verräumlichung getan. »[L]e tout sans nouveauté qu’un espacement de la lecture«13, so steht es in Mallarmés Vorwort zu seinem formal radikalsten Gedicht Un coup de dés n’abolira jamais le hasard. Das, was als radikal neu und anders rezipiert worden ist, sei nichts Neues, sondern beruhe allein auf einer Verräumlichung und Auseinanderschreibung der Schrift. Für Derrida ist der Coup de dés zu einer unhintergehbaren Erfahrung mit Sprache und Dichtung überhaupt geworden. Der Würfelwurf, in dem und durch den die sechs Seiten eines jeden Würfels in ihrer Noch-nicht-Entschiedenheit als potentiell mögliche Fälle offen gehalten werden, ist das Momentum, dem sich die diakritische Geste zuzuschreiben sucht. Während die Kritik an die Entscheidung und das Fällen eines Urteils gebunden ist, durchkreuzt die diakritische Geste eben diese Urteilsfällung, transformiert den Fall in einen Wurf, in dem Würfel und Urteil im Fall begriffen sind, ohne je gefallen zu sein. Die Zeit des Würfelwurfs ist nicht auf die Entscheidung der gefallenen Würfel ausgerichtet, sondern sie öffnet sich im Wurf auf das, was durch jede Entscheidung ausgeschlossen und verdeckt wird.

12 | Ebd., S. 281f.; dt. S. 281. 13 | Mallarmé, Stéphane: Un coup de dés n’abolira jamais le hasard, in: ders., Œuvres complètes. Bd. II. Paris 2003, S. 365-387.

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Die diakritische Geste faltet Wörter und Aussagen zu einem solchen Würfelwurf auf. Wörter und Aussagen werden auseinandergeschrieben, verräumlicht und dadurch unwiederbringlich theatralisch: Unvermeidlich komisch und auch unheimlich inszenieren und gebaren sie sich, als ob sie nicht auf dem Papier stünden, sondern wie der Mime kreideweiß auf einer Bühne ein stummes Spektakel aufführten. Der Raum, in dem die Wörter als Gliederpuppen erscheinen können und ihr Spektakel aufführen, ist keine herkömmliche Bühne. Die Bühne dringt vielmehr in die Sprache selbst ein, sie klafft dort als eine Art »inneres Theater«, als espacement.14 Die Artikulationsstellen, die an diesen diakritisch gefalteten Wortmimen sichtbar werden, sind nicht unbedingt diejenigen, die der Grammatik oder der Etymologie folgen. Oft sind es »faux pli« – Knitterfalten, die die Worte und Texte durchfurchen und in ihrer Lesbarkeit – wie sie zu lesen seien – radikal verunsichern.15 So ist zum Beispiel Mallarmés berühmtes, nie geschriebenes LIVRE keineswegs einfach als ein potentielles Buch zu verstehen. Die Trunkenheit (ivresse) ist ihm eingeschrieben, und zwar nicht nur lautlich, sondern auch graphisch, wenn sich das V – das auch im FAVNE, den Mallarmé stets in römischen Majuskeln geschrieben hat – wie ein Keil in das Wort eintreibt, es von innen her aufspaltet, auseinandersetzt und sexualisiert: die Pirouette eines Tänzers, die zugleich das weibliche Geschlecht mit geöffneten Beinen als Phantasma auf blitzen lässt. Derrida führt vor, wie jeder Versuch, derartige Falten und Knicke (plis) qua Erklärung, Umschrift oder Auslegung wieder zu glätten und damit einen vernünftigen Sinn herzustellen, dazu führt, dass sie sich in unkontrollierter Weise vermehren: nämlich – wie wir auf der Textoberfläche seiner mimischen séance ablesen können – in den vielen Komplikationen und Repliken: »chaque séance aura été la réplique ou l’application de l’autre, son jeu ou son exercice. Plus ou moins, ensemble, que deux hémitropes, jamais en somme un volume accompli [meine Hervorhebungen].«16 Das Spektakel dieser Faltungen wird gleichsam unwillkürlich fortgesetzt. Sie lassen sich in keine Bedeutung überführen, sondern vermehren sich erst recht bei dem vergeblichen Versuch, sie in polysemische Bedeutungsvarianten zu übersetzen.

14 | »Diese Unmöglichkeit, sich auf sich hin zu schließen, dieses Aufspringen des mallarméschen Buches als ›inneres Theater‹ ist die Praxis und nicht die Reduktion der Verräumlichung« (Derrida, 1972, S. 264; dt. S. 263). Auch hier nimmt Derrida die Vorstellung eines »inneren Theaters«, das bei Richard immer noch im Sinne einer Innerlichkeit verstanden wird, auf und wendet es anders. 15 | Eine Vorstufe dieser Aufwirbelung der Buchstaben und Signifikanten kann in Mallarmés Experimentieren mit seinen sogenannten Fächergedichten (éventails) gesehen werden. Verse werden auf bewegliche, faltbare Oberflächen geschrieben, das Auf- und Zuklappen der Fächer entfaltet bzw. schließt das Gedicht. Vgl. dazu genauer Ortlieb, Cornelia: »Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé«, in: Jörg Paulus/ Renate Stauf (Hg.), SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2013, S. 307-329. 16 | Vgl. Derrida, 1972, S. 257; dt. S. 255f.: »jede Séance […] wird die Replik oder die Applikation der anderen, ihr Spiel oder ihre Übung gewesen sein. Mehr oder weniger, zusammen, als zwei Hemitropen, niemals insgesamt ein erfülltes Volumen/ein vollendeter Band.«

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In solcher Weise treten bei Mallarmé und – qua Übertragung – bei Derrida Kritik und Theater in ein Verhältnis, das beide Größen radikal verändert. Man könnte auch sagen: Kritik und Theater treiben sich gegenseitig in eine radikale Krise. Diese Krise ist auch ein Moment der Wiederkehr jener Krise der Literatur, die Mallarmé in seinem Essay »Crise de vers«17 umkreist und von der Derrida geschrieben hat, dass ihre Konsequenzen für die Kritik bzw. eine bestimmte Vorstellung von Kritik immer noch zu denken seien: Die kritischen Konsequenzen: diejenigen, die die mallarmésche Kritik affizieren müssen, dann die Kritik im allgemeinen, gebunden, wie ihr Name es anzeigt, an die Möglichkeit des Entscheidbaren, an das κρίνειν ; aber auch die kritischen Effekte, die eine gewisse Re-Markierung oder eine Wieder-Härtung der Verräumlichung im Hinblick auf die literarische Operation, auf die »Literatur«, die infolgedessen in die Krise eintritt.18

Wenn Kritik an die Notwendigkeit zu entscheiden gebunden ist, eine Notwendigkeit, die aus einer Krise erwächst,19 so deutet die Tatsache der Krise auch darauf hin, dass diese Notwendigkeit nicht mit der Fähigkeit zur Entscheidung koinzidiert. Die Krise erwächst gerade da, wo diese Fähigkeit mit einer irreduziblen Unfähigkeit zur Entscheidung einhergeht. Derridas diakritische Lektüre treibt genau diese Unmöglichkeit der Entscheidung hervor, indem sie das espacement immer wieder erneut performiert und zuweilen diese Performance bis zu einem orgiastischen, schwindelerregenden und zuweilen auch komisch anmutenden, pirouettenhaften Tanz von Wörtern und Konzepten steigert. Anders gesagt: Dort, wo die Wörter nie mit ihrer Bedeutung koinzidieren, sich der Sinn in ihnen nicht entscheidet, beginnen sie, sich hysterisch aufzuführen. Die crise de vers, die sich vornehmlich durch ein überspanntes Verhältnis zwischen Vers, Satz und Lexik äußert, ist auch eine crise de nerfs20 – und noch dieser von Derrida hervorgebrachte Kalauer ist Ausdruck eben dieser Krise.21 17 | Vgl. Mallarmé: »Crise de vers«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. II, Paris 2003, S. 204-213. 18 | Derrida, 1972, S. 267; dt. S. 266. 19 | So der klassische Zusammenhang zwischen Kritik und Krise, wie er in der Medizin seit Hippokrates und Galen überliefert ist. Allerkamp, Andrea/Valdivia Orozco, Pablo/Witt, Sophie (Hg.): Gegen/Stand der Kritik. Berlin/Zürich 2015, S. 8, weisen in ihrer Einleitung zu Recht darauf hin. 20 | Derrida, 1972, S. 313ff.; dt. S. 314ff. 21 | Wir liegen vermutlich nicht ganz falsch, wenn wir uns das unmögliche Theater Mallarmés vorstellen wie die Gebärden der Hysterikerinnen, die Charcot auf die psychiatrische Bühne gebracht hat, Gebärden und Verrenkungen, in denen ein traumatischer Moment mimetisch und unartikuliert ausagiert wird. Vgl. dazu Didi-Huberman, Georges: Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München/Paderborn 1997. Breuers und Freuds Studien über Hysterie (Freud, Sigmund: Gesammelte Werke in 18 Bänden. Hg. v. Anna Freud. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1986 [6. Aufl.], S. 75-312) rufen die hysterische Szene theatralisch-hypnotischen Ausagierens noch einmal auf, um sie recht bald durch das epische Modell der Redekur abzulösen. Nichtsdestoweniger wirkt das Theatralische darin weiter, und zwar in der Rede selbst, es treibt dort den Punkt des Nicht-Wissens hervor, um den die vermeintlich lineare Rede fortwährend einen Tanz aufführt. In diesem kreisenden

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Das espacement, das sich in der diakritischen Geste ereignet, ist nicht mit der bewussten und besonnenen oder auch kritischen Abstandnahme oder Distanzierung zu verwechseln. Vielmehr bewirkt das espacement einen spasme: Die Gliederpuppen-Wörter werden auseinandergezogen und wieder zusammengefaltet. Syntax und Lexik geraten in eine Art Konvulsion, drehen und winden sich um sich selbst als andere. Distanz wird im diakritischen Gestus zur Selbst- und Heterodistanzierung der Wörter und Sätze von sich selbst. Sie setzen sich von sich selbst ab, etwas Anderes wird in ihnen wahrnehmbar, das sich weder in sie integrieren noch von ihnen abtrennen, geschweige denn distanzieren lässt. In diesem inneren – hysterischen – Theater der Wörter und Aussagen gibt es schließlich nur noch wilde Auffaltungen, Verwirrungen und Vervielfältigungen, denen kein Einhalt zu gebieten ist. Stumm artikuliert sich darin, für was es weder Ausdruck noch kritische Distanz gibt. Die diakritische Artikulation ist Desartikulation der kritischen Rede. Sie ist eine Kritik, die sich zur Pantomime macht, zur geknitterten weißen Fläche, auf der als K-r-itz-el – Krise, Kritzel, Kitzel, Ritze – etwas erscheint, das sich weder sagen noch lesen lässt. Die Freisetzung und Ausstellung von unbewussten Übertragungen in der Lektüre als Verunsicherung jeder kritischen Position hat Implikationen und Konsequenzen, die jede »Entscheidung«, ob man nun lieber der »critique thématique« oder der diakritischen Geste Derridas den Vorzug geben möchte, zu einer irrelevanten macht. Man möchte meinen, dass es hier mitnichten um methodische Entscheidungen und die Vorliebe für die eine oder andere akademische Schule geht, sondern um unbewusste Übertragungsprozesse, die im Zusammenhang mit irreparablen, traumatischen Momenten stehen, von denen wir alle eine Erfahrung haben, eine Erfahrung, die uns jedoch durch und durch gespenstisch – unheimlich und rätselhaft zugleich – bleibt. Der Mime folgt keinem Textbuch; keine Gegenwart wird seinen Gesten vorausgegangen sein.22 Der Mime imitiert nichts, in seinem gegenstandslosen mimischen Spiel tritt hingegen etwas in Erscheinung – ein crime –, das nicht dargestellt werden kann. Die diakritische, sprich: mimische, die Worte verräumlichende Geste wird crime nicht thematisieren, sondern kritzelnd darin den stumm schlummernden Schrei (cri) laut machen und in sich dia-kri-tisch weitertreiben. Im crime wird dadurch auch laut, was in ihm nicht aufgeht: nämlich le rire, an dem Colombine und schließlich auch Pierrot selbst zugrunde gehen. Le rire hört indes nicht auf, im rire hallt crime – das Verbrechen, das begraben werden soll – immer nach. Auch im mime – auf crime reimend, weil crime zum rime, zur Assonanzbildung immer schon treibt und neigt, pflanzt es sich fort. Mime ist mithin nicht äußeres, abgetrenntes Medium für die Darstellung des crime, sondern auf unheimliche Weise immer schon in es verwickelt: crime-mime. Ebenso wenig wie der mime ein Verbrechen, mit dem er nichts zu tun hat, imitiert, ist das Lachen, um das es hier geht, eines, das als Reaktion auf die Darstellung dieses crime zu bewerten wäre. Tanzen werden Worte zu Körpern, die in ihrer Gelenkigkeit, ihren Drehungen und Wendungen und Verrenkungen erscheinen. Dabei werden in diese Wortkörper auch Schnitte eingefügt. 22 | »Es gibt keine Nachahmung. Der Mime ahmt nichts nach. Und als erstes: er ahmt überhaupt nicht nach. Vor der Schrift seiner Gesten ist nichts. Nichts ist ihm vorgeschrieben. Nichts Gegenwärtiges wird dem Spurenzug seiner Schrift weder vorangegangen sein noch diesen überwacht haben« (vgl. Derrida, 1972, S. 221; dt. S. 216f.).

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Der mime ist ebenso corpus delicti wie das Lachen. Der mime ist es im wörtlichen Sinne und im doppelten Genitiv dazu: Körper des Verbrechens (er mimt Pierrot und Colombine zugleich). Das Lachen ist corpus delicti im metaphorischen Sinne: die Mordwaffe. Im lachenden Körper, der auf crime diakritisch reimt (mime – rime – ri[re]), kehrt crime stets zurück, und der konvulsivische Schrei (cri) darüber hallt noch als anhaltende cri-se der cri-tique nach.23 Die Bühne dieses Geschehens, das an Hamlets dumbshow erinnert, besteht aus den Elementen Reim, Assonanz und faux pli. Sie ist jenes espacement, das in den Wörtern wirkt, sie kitzelt und aufsprengt, sie auseinanderschreibt, ohne sie je zu trennen. Keine Kritik im Sinne einer kohärenten Argumentation und Urteilsfindung und Fällung oder gar Verurteilung des Täters reagiert auf dieses Verbrechen. Stattdessen ereignet sich eine »pathologische Erregung«24 angesichts eines Irreparablen, das selbst in irreparabler Weise komisch und schrecklich zugleich ist. Das Verbrechen – crime – bricht die Wörter auf – crime – rime – crise – critique – cri – ri – i: »Point suspendu, le i chaque fois pique et déchire«25. Worte, Aussagen, Kritik zeigen sich in ihrer Verwundung durch diese unabtrennbare Verwicklung ineinander und in etwas, das nicht mehr gutzumachen ist und unsere Fähigkeit zu lesen und zu artikulieren immer heimsuchen wird. C-RIME MIME RIME CRI-ME CRAIE CRI CR-I-ME CRI– SE C-RI-SE CR-I-SE CRI-TIQUE KRI-TZEL KITZEL K-RITZE C-RI-TIQUE CR-I-TIQUE QUI-Z–E–L KRI-CE CRI-ZE–L CR-I-TIK

Dies als Versuch einer nachträglichen Notation – provisorische Anordnung von Wörtern, Reimen, Paronomasien, nomadischen diakritischen Zeichen – dessen, was in der double séance ausagiert wird.

23 | Es ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass Mallarmés Dichtung den Reim scheinbar untangiert lässt. Seine Dichtung ist nicht modern durch Aufgabe des Reims, vielmehr wird die unheimliche Echobildung im und durch den Reim vorangetrieben. 24 | Bachmann, Ingeborg: Malina. München 1978, S. 13 – eine Haltung, die von Allerkamp/ Valdivia Orozco/Witt als »Zukunft der Kritik« angedeutet wird: »Kritik wäre dann aufgeregte Fragestellung oder Fragehaltung« (2015, S. 20). 25 | Derrida, 1972, S. 267.

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»… das Ärmchen kam immer wieder heraus« Vom Eigensinn als kritischem Überschuss Veronika Darian

K ritik und E igensinn . E in V orgespr äch Man stelle sich vor, der kritische Stichwortgeber Michel Foucault (MF) und der Alltagsforscher Alf Lüdtke (AL) träten in Dialog zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten, vielleicht sogar zum ganz grundsätzlichen Verhältnis von Kritik und Eigensinn. MF: Kritik [ist] die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.1 AL: Eigensinn wird in aller Regel als ein Unterfall von Widerstand und Widerständigkeit begriffen. Im vorherrschenden Blick pendeln historische Verhaltensweisen nur zwischen zwei Polen: Gehorsam und Folgsamkeit auf der einen, Widerständigkeit und offener Widerstand auf der anderen Seite. Im Unterschied dazu zielt die Frage nach dem Eigensinn auf ein Verhalten ›jenseits‹ solcher Entweder-Oder-Fixierungen. 2 MF: Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, nicht auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt. […] [W]enn man also diese Dimension der Kritik erkunden möchte, müßte man sich dann nicht mit einem Sockel der kritischen Haltung beschäftigen, die entweder die historische Praktik der Revolte, das Nicht-Akzeptieren einer wirklichen Regierung oder die individuelle Erfahrung der Verweigerung der Regierungsrealität wäre?3

1 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Aus dem Französischen von Walter Seitter. Berlin 1992, S. 15. 2 | Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993, S. 380. 3 | Foucault, 1992, S. 52f.

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AL: Ich möchte dagegen eine Perspektive einnehmen, die die Artikulation und das Geltendmachen von individuellen Bedürfnissen, vor allem für die direkt Betroffenen, als politisches Verhalten begreift. 4 MF: Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste ist damals in Europa eine Kulturform entstanden, eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden. 5 AL: Es kommt darauf an, den Blick auf das Politische zu erweitern. In der Perspektive strategischer Kalkulation bleibt das Ensemble emotionaler Ausdrucksformen und symbolischer Bedeutungen abgespalten. Und es sind doch eben diese Emotionen und Symbolpraktiken, die aus Idealtypen ›wirkliche‹ Individuen und Gruppen machen – die nicht nur reagieren, sondern aktiv handeln, manchmal entschieden und konsistent, manchmal widersprüchlich, sogar widersinnig. 6

D as eigensinnige K ind Es war einmal ein Kind eigensinnig, und that nicht was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm, und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Todtenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt war, und Erde über es hingedeckt, so kam auf einmal sein Aermchen wieder hervor, und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber thaten, so half das nicht, das Aermchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehn und mit der Ruthe aufs Aermchen schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.7

Es ist das kürzeste der Grimmschen Märchen, doch erweist es sich als eine sowohl für das Verhältnis von Kritik und Eigensinn als auch für die Frage nach Körperpraktiken innerhalb dieses Verhältnisses äußerst aufschlussreiche Szene. Schon der Titel ist Programm, lässt er doch schnell erahnen, dass diesem ›eigensinnigen Kind‹ nichts Gutes widerfahren wird. Der Titel wirkt als unhintergehbare Zuschreibung »eines anderen Willens, dem überhaupt Totalität zukommt«8, so die Literaturwissenschaftlerin Bettine Menke. Diesen Willen, dieses Gesetz vertreten 4 | Lüdtke, 1993, S. 145. 5 | Foucault, 1992, S. 12. 6 | Lüdtke, 1993, S. 145. 7 | Brüder Grimm: »Das eigensinnige Kind«, in: dies., Kinder- und Hausmärchen. Große Ausgabe. Bd. 2. Göttingen 1840 (4. Auflage), S. 170. Erst in dieser vierten Auflage hat das Märchen die sprachliche Form angenommen, die dann weiterhin überliefert wurde und auf die sich spätere Interpreten bis heute meist beziehen. 8 | Menke, Bettine: »Tatorte: eigensinnig«, in: Anna Häusler/Jan Henschen (Hg.), Topos Tatort. Fiktionen des Realen. Bielefeld 2011, S. 15-30, hier: S. 25f.

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die im Folgenden aufgeführten Autoritäten: der krankmachende »liebe Gott«, der hilflose Arzt, der beerdigende Priester und nicht zuletzt die schlagende Mutter. Jede dieser Autoritäten reagiert auf ihre Weise auf den Eigensinn und liefert das von ihr Erwartete ab. Auffällig ist weiterhin eine kleine grammatikalische Verschiebung gleich zu Beginn. Nach dem formelhaften »Es war einmal« wird keine – wie es zu erwarten wäre – durch ein Adjektiv näher bestimmte Hauptfigur eingeführt. Stattdessen wird das Eigenschaftswort »eigensinnig« von der Vorder- quasi an die Rückseite des (Satz-)Subjektes versetzt und findet sich dadurch überraschend in prädikativer Verwendung wieder: »Es war einmal ein Kind eigensinnig …« Durch diese textliche Finte weitet sich der Beginn durch das betonte Handlungsmoment im Nu zur Szene: Nicht das Kind ist eigensinnig, sondern sein Da-Sein – und auch wenn es am Ende nicht mehr zu handeln imstande sein wird, so wird doch weiterhin etwas durch es hindurch handeln. Dabei ziehen sich die Handlungen von Mutter und Kind zu Gesten zusammen, die ausgestanzt, ausgestellt zum Vorschein kommen. Ist die Szene des Märchens zu Beginn noch eine tableauhafte Bilderfolge mit verschiedenen Handelnden, wandelt sie sich zunehmend zu einem Schauplatz zweier ineinander verflochtener Gesten: (Mit) Der Geste des (Wieder-)Auf-Richtens korrespondiert die Geste des Schlagens, des Unter-Schlagens. Bereits in der Motivgeschichte dieser widergängerischen Gliedmaße, auf die die Brüder Grimm selbst in ihren Anmerkungen zu den Märchen hinweisen,9 sind zwei Motivvarianten angelegt, die beide ein phantasmatisches Verhältnis von Körperganzem und Körperteil begründen. In der einen Motivvariante fungiert das aus dem Grabe ragende Körperglied als statisches Mahnmal, das die am bzw. vom Toten begangene Schuld anzeigt. Die zweite Motivvariante bringt Bewegung ins statische Bild: Das Ärmchen bleibt im Gegensatz zur ersten im wahrsten Sinne ruhelos, es lässt sich nicht zur Ruhe zwingen, sondern bewegt sich wie mechanisch auf und nieder. Während die erste ein zur erlösenden Ruhe kommendes Körper- als Subjekt-Ganzes durch Schuldzuweisung und vorausgesetzte Bußfertigkeit allererst herstellen will, zeugt die zweite von etwas Abgespaltenem, das keine Ruhe geben kann und wird, ein verselbständigtes Körperteil, das keiner Erlösungsphantasie zugänglich ist. Vom gleichen phantasmatischen Begehren zeugt auch ein kleiner, aber wirkungsvoller Eingriff in den Märchentext durch die Brüder Grimm. Durch zwei minimale, aber prägnante grammatikalische Veränderungen versuchen sie sich an einer Klärung, wer oder was nun endlich »unter der Erde Ruhe hat«. Hierfür wird zum einen das Körperteil vom Körper abgelöst und als Urheber der eigensinnigen Geste deutlich her(aus)gestellt, indem nicht mehr »er« (1. Auflage), auch nicht nur »es« (2. und 3. Auflage), sondern schließlich ganz klar »das Aermchen« (4. Auflage) aus dem Grab »immer wieder heraus[kommt]«. Zum anderen ist am Ende des Märchens dem Kind (3. Auflage) und nicht mehr (nur) dem »Aermchen« (1. und 2. Auflage) Ruhe unter der Erde gegeben. Die bewegte Lebendigkeit des einzelnen Körperteils muss zusammen mit dem Kind, sozusagen endgültig und total, in Form einer pädagogisch-religiös fixierten Moral von der Geschicht’ zur Ruhe gebracht werden. 9 | Brüder Grimm: »Das eigensinnige Kind«, in: dies., Kinder- und Haus-Märchen. Große Ausgabe. Bd. 2. Berlin 1815 (1. Auflage), Anhang, S. XXX.

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Die von den Brüdern Grimm bewusst unbewusst angewendeten – und darin selbst bereits dialektischen – Praktiken des Sammelns, Dokumentierens, Auf-, Weiter- und Neuschreibens sind bestrebt, einen in sich dialektisch angelegten Topos zu vereindeutigen und in seiner Aussage zu begradigen. Sie versuchen sich an einer Fest-Stellung der Bilder, an einer Fixierung des mit Benjamin so zu nennenden ›bestimmten kritischen Punktes der Bewegung in ihrem Innern‹, um einer darin vermuteten lehrreichen Wahrheit nahezukommen: Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses ›zur Lesbarkeit‹ gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem Innern [Hervorhebung VD]. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen.10

Die Bemühungen um Stillstellung dieser kritischen Bewegung markieren gleichermaßen Krise und Kritik der Schreib- und Erziehungspraktiken selbst. Sie sind mit ihrer Zeit durchaus synchronistisch – das heißt, sie verhelfen einem bestehenden Verständnis von Körpern und Subjekten zu einer weiterhin wirksamen Sichtbarkeit. Doch führt die andauernde Suche nach dem pädagogischen Kern der Märchen, den es als solchen erst herauszupräparieren gilt, zu Umschriften, die umso mehr das Uneingepasste, Eigensinnige im Text selbst hervortreten lassen. Die eigensinnige Bewegung des Körperteils, die die Prekarität11 der mühsam hergestellten Körper- und Subjektkonzepte wachhält, lässt sich mitnichten weg-schlagen oder weg-schreiben. Vielmehr werden die verordneten Erziehungs-, Disziplinierungs- und Schreibpraktiken als Ablenkungsmanöver ersichtlich.

E igensinn als/in der K ritik Zwei seiner prominentesten Deuter, Alexander Kluge und Oskar Negt, haben dem Märchen in ihrem 1981 erschienenen 1300-Seiten-Werk Geschichte und Eigensinn eine knapp zweiseitige Analyse gewidmet. Sie beginnt mit einem Satz, der wie eine bestätigende Replik auf Alf Lüdtkes »abgespaltenes Ensemble emotionaler Ausdrucksformen und symbolischer Bedeutungen« wirkt: »Die aus der Gesellschaft abgezogenen Motive verschwinden nicht einfach aus der Gesamtökonomie der Eigenschaften, sondern arbeiten dort weiter, wo sie am geschütztesten sind, im Subjekt.«12 Im kurz darauf folgenden »Vergleich zwischen Antigone und Das eigensinnige Kind« kommen Kluge und Negt zu einem hierfür bedeutsamen, wenn auch nahezu geringschätzig anmutenden Schluss: »Der deutsche Text vom eigen10 | Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk (1928/29, 1934-1940), in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 5.1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 577f. 11 | Die Beschäftigung mit der Thematik unter dem Aspekt der Prekarität verdankt sich einem gemeinsamen Panel mit Sophie Witt, Adam Czirak und Jeanne Bindernagel auf der 3. Jahrestagung der Deutschen Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft 2017 in Gent. 12 | Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a.M. 1981, S. 765.

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sinnigen Kind läßt sich wohl nicht weiter entfalten. Der Eigensinn der Antigone im griechischen Mythos ist dagegen zu einer ausführlichen differenzierten Handlung ausgestaltet. Hierin liegt die Differenz.«13 Der Eigensinn der Antigone hat laut Kluge und Negt im wahrsten Sinne Gestalt angenommen in Form bzw. mittels »einer ausführlichen differenzierten Handlung«. Im Märchen dagegen finden sich weder Handlung noch Aus-Gestaltung, sondern gewissermaßen nur ausgestanzte Handlungsfetzen und eben fehlende geschlossene Gestalt(ung)en. Genau darin ist jedoch eine besondere Form der Kritik angelegt. Statt der ausdifferenzierten Handlung eines souverän agierenden Subjekts ragt lediglich das Ärmchen in einer willkürlichen, nicht intentionalen, gewissermaßen unterlaufenden Haltung hervor. Es ist das eigensinnige Ärmchen, das nicht nur auf das Phantasma eines Körperganzen sowie einer souveränen Subjektkonstitution hindeutet, sondern auch das Scheitern jeglichen intentionalen Widerstands vorführt. Als vom Körperganzen Abgelöstes, Abgespaltenes verweist es – wie auch der prothesenhaft durch die Rute verlängerte Arm der Mutter – auf Körperpraktiken, die sich vom ›zänkischen Gehirn‹14 nicht länger unterjochen lassen und die den Text des Märchens selbst im wahrsten Sinne untergraben.15 Sowohl der dialektisch angelegte Topos des widerständigen Ärmchens zwischen Stillstand und Bewegung als auch die widersprüchlichen Praktiken zwischen Körper und Text finden ihren spezifischen Widerhall in den grundsätzlich ambivalenten Definitionen des Eigensinns, an denen sich die Alltagsforscher seit den 1980er Jahren versuchten. Sie hatten den Eigensinn als Handlungsoption von Einzelnen gegenüber der Macht der Herrschenden (wieder-)entdeckt. Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge wurde Eigensinn, wie bereits angedeutet, lange Zeit zwischen den zwei Polen von »Gehorsam und Folgsamkeit auf der einen und Widerständigkeit und offenem Widerstand auf der anderen Seite« verortet. Alf Lüdtke hingegen trug in seinen Forschungen zum Eigensinn von Fabrik- und Industriearbeitern der Dialektik des Begriffes selbst Rechnung. Mit dem Eigensinn fragte er gerade nach »ein[em] Verhalten ›jenseits‹ solcher Entweder-Oder-Fixierungen«16. »Eigensinn erweist sich als ein Drittes, als ein Verhalten, das sich nicht der Logik des Entweder-Oder von Herrschaft und Widerstand fügt.«17 In seinen Definitionsversuchen klingen die unauflösbaren Mehrdeutigkeiten an, die den Begriff und seine Verwendung schon durch die letzten Jahrhunderte hindurch geprägt hatten. 13 | Ebd., S. 767. Die dazwischenliegende Analyse wäre einer näheren Betrachtung wert, die ich an anderer Stelle werde nachholen müssen. 14 | S.a. das gleichnamige Kapitel bei Kluge/Negt, 1981, S. 50. 15 | Es wäre diesbezüglich noch einiges zur Naturmetaphorik rund um den Eigensinn zu bemerken, die die Erziehungshandbücher dieser Zeit durchzieht, wenn beispielsweise von der »Ausjähtung dieses Unkrauts« nach Vernehmen »deutliche[r] Spuren eines Wurzelfassenden Eigensinns« die Rede ist bei Carl Daniel Küster: Sittliches Erziehungs-Lexicon, oder Erfahrungen und geprüfte Anweisungen: wie Kinder von hohen und mittlern Stande, zu guten Gesinnungen und zu wohlanständigen Sitten können angeführet werden. Ein Handbuch für edelempfindsame Eltern, Lehrer und Kinder-Freunde, denen die sittliche Bildung ihrer Jugend am Herzen liegt. Magdeburg 1774, Lemma »Eigensinn«, S. 38-42, hier: S. 39; Lemma »Ruthe«, S. 135-138, hier: S. 135. 16 | Beide Zitate in: Lüdtke, 1993, S. 380. 17 | Ebd., S. 146.

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Eigensinn könne sich sowohl als willkürliches als auch als unwillkürliches Verhalten äußern; er sei Ausdruck eines »Bei-sich-selbst-seins« wie auch eines »Mit-anderen-seins«18; er vollziehe eine »doppelte Absatzbewegung« in »Anstrengungen zur Distanz gegenüber Zumutungen ›von oben‹ wie von ›nebenan‹«19. Eigensinn bleibe in »kalkulierte Arbeit eingefügt«, sei aber gleichzeitig »verknüpft mit dem bewußten und nachdrücklichen Über-alle-Stränge-Schlagen, d.h. mit ›Verausgabung‹«20. Er tauche plötzlich auf, als momenthafte Unterbrechung,21 sei aber in »gleichwohl beständig wiederholten Augenblicken der Aneignung aufzufinden«22 . Eigensinn bezeichne also gerade kein Entweder-oder, sondern vielmehr ein Sowohl-als-auch. Gerade dadurch sei er prädestiniert, insbesondere innerhalb der »veränderten Widersprüchlichkeiten des ›proletarischen Lebenszusammenhangs‹«23 spezifische, in sich wiederum widersprüchliche Verhaltensweisen zu beschreiben. Diese ambivalenten Erscheinungsformen des Eigensinns aber zeitigen einschneidende Auswirkungen auf den Einzelnen. Denn in Reaktion auf widersprüchliche Realitäten kehrt der Eigensinn als in sich widersprüchliches, »widersinniges« Moment ganz offensichtlich in den Einzelnen zurück – und zerspaltet ihn.

M arie F arr ar Schon der Topos des mal ragenden, mal schlagenden Ärmchens ist ambivalent angelegt. Im Märchen teilt sich dieser aufgespaltene, in sich dialektische Topos der beiden Motivvarianten zudem auf Kind und Mutter auf. Die wie blindlings niedergehenden, mechanisch ausgeführten Schläge des zweiten Motivstranges rufen Erinnerungen wach an das »stumme Trommelfeuer der Fäuste«24, das viel später eine andere Frau, die selbst (noch) Kind ist, übermannen wird. Es ereilt »Marie Farrar, geboren im April/Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise/Bislang angeblich unbescholten, will/Ein Kind ermordet haben«25. In seiner Hauspostille erteilt Bertolt Brecht seine »Erste Lektion: Bittgänge« anhand der Geschichte der »ledige[n] Kindesmutter«26 und späteren Kindesmörderin Marie Farrar. Im Gegensatz jedoch zu den emotional anrührenden Kindermörderinnentrauerspielen werde »[d]ie Geschichte, die sich ans Gemüt wendet, […] gleich abgetrieben«27, wie Hans18 | Ebd., S. 140. 19 | Ebd., S. 266. 20 | Ebd., S. 257. 21 | Ebd., S. 257. 22 | Ebd., S. 141. 23 | Ebd., S. 71. 24 | Lehmann, Hans-Thies: »Der Schrei der Hilflosen (Von der Kindesmörderin Marie Farrar)«, in: ders./Helmut Lethen (Hg.), Bertolt Brechts »Hauspostille«. Text und kollektives Lesen. Stuttgart 1978, S. 74-98, hier: S. 78. Ich verdanke den so wichtigen Hinweis auf Brechts »Marie Farrar« und Lehmanns eingängige Interpretation Günther Heeg. 25 | Brecht, Bertolt: »Von der Kindesmörderin Marie Farrar« [1922], in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. II: Gedichte I. Sammlungen 1918-1938. Hg. v. Werner Hecht et al. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1988, S. 44-46, hier: S. 44. 26 | Ebd., S. 46. 27 | Lehmann, 1978, S. 87.

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Thies Lehmann in seiner luziden Lektüre dieser Lektion feststellt. Es finden sich einige Gründe für die ambivalente Wirkung des Berichteten, der augenfälligste und erschütterndste jedoch ist sicherlich in der Mechanik der Ausführung – der Erzählung wie der Tat gleichermaßen – auszumachen. Im Ton eines amtlichen Protokolls wird das Vergehen der Marie Farrar nachvollzogen, wobei sich Fakten zur Täterin und zum Tathergang seltsam mischen mit Mutmaßungen, Einschätzungen und Urteilen verschiedener Sprechinstanzen. Das Sprechen Maries wird hierin durch das durchgängig eingestreute »sagt sie« markiert. Vor allem in der Schilderung der Kindstötung, die erst in der achten von insgesamt neun Strophen erfolgt, fällt die Häufung dieser Einschübe auf: Dann zwischen Kammer und Abort, vorher sagt sie Sei noch gar nichts gewesen, fing das Kind Zu schreien an, das hab’ sie so verdrossen, sagt sie Daß sie’s mit beiden Fäusten ohne Aufhörn, blind Solang geschlagen habe, bis es still war, sagt sie. Hierauf hab’ sie das Tote noch gradaus Zu sich ins Bett genommen für den Rest der Nacht Und es versteckt am Morgen in dem Wäschehaus. 28

Nachdem in den vorangehenden Strophen Maries »pünktliche und mechanische«29 Verrichtung ihrer Arbeiten in ebenso mechanisch protokollarischem Duktus geschildert wurde, fügt sich das blind mechanische Totschlagen des Kindes bestürzend passgenau in die Logik der Abläufe ein. Und so ist Brechts Lektion mit der der Brüder Grimm im Gestus verbunden. Der sich dem Kind entwindende Schrei mahnt ebenso wie das andauernd wiederkehrende Grimmsche Ärmchen ein Doppeltes (an). Zum einen rufen Schrei und Ärmchen das (Tot-)Schlagen, diese verbotene und erzieherisch zugleich gebotene Reaktion, erst hervor; zum anderen führen diese eigensinnigen und darin grund- und intentionslosen Äußerungen stellvertretend etwas aus, was Müttern wie Kindern innerhalb der Systeme versagt bleibt: den weithin unhörbaren Aufschrei gegen die Verhältnisse. (Auf-)Schrei, Auf begehren, Sich-Erheben, Schlagen und Unter-Schlagen finden sich unmittelbar miteinander verkoppelt. Durch die eigensinnigen Gesten hindurch wird der Aufstand gegen auferlegte Erziehungs- und Rollendogmata geprobt. Doch kann man an der Gewalt der Verhältnisse eben nur scheitern. Das Verdrängte kehrt als Unerträgliches und Un(er)lösbares – für Mutter und Kind – wieder: Der Zwang der Gesten drängt auf Erlösung, die nicht zu finden sein wird. Doch was als Verdrängtes, Ausgestoßenes, Untergründiges an die Oberfläche drängt und seine Verkörperung sucht, muss abgewehrt werden. Es wird zum Symptom, das die eigene Bild- und Gestaltwerdung als Verdrängungsleistung allererst markiert:

28 | Brecht, 1988, S. 46. Hervorhebungen VD. 29 | Lehmann, 1978, S. 77.

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Die Symptombildung ist in gewisser Weise ein Nachleben, das seine Verkörperung erfährt. Körper, die von Konflikten, von widersprüchlichen Bewegungen und den Strudeln der Zeit heimgesucht werden. Körper, aus denen plötzlich ein verdrängtes Bild hervortritt […]. 30

– So beschreibt Georges Didi-Huberman das Nachleben dieser Bilder. Die folgerichtige Reaktion auf diese drohende, sich verkörpernde Symptombildung ist im Märchentext die einer wiederholten Ent-Körperung, einer Abschaffung der Körper und des Körperlichen durch Verdinglichung und Zerteilung. Im »Eigensinnigen Kind« wird die Tilgung beider, sowohl des Mutter-Körpers wie auch des Kindes-Körpers, parallel betrieben. Mutter und Kind bleibt kaum eine andere Wahl, als miteinander durch Fragmente von Körpern und Prothesen (das Ärmchen, die Rute) und durch Fetzen von Handlung zu kommunizieren. Die einzige Kommunikation, die noch möglich ist, wird gestisch. Diese Gesten sind ihrer eindeutigen Bedeutung enthoben und in kein semiotisches System der körperlichen Gebärden mehr einzugliedern. Im Kontext bürgerlich-familialer (Erziehungs-)Konzepte, die Mutter wie Kind zurichten und pädagogisieren sollen, stellen beide ent-körperte Gesten das Auszuschließende, Auszustoßende, zu Verdrängende aus. Sie sind Re-Aktionen, Anzeiger des Verstörenden, zu Tilgenden, Abjekten, Fälle von Widerstand auf widersprüchliche Zusammenhänge. Sie fallen ineinander. Davon spricht auch die Etymologie des Symptoms (altgr. σύμπτωμα [symptoma]), die den ›Zu-Fall‹ (πτῶμα [ptoma], ›Fall‹) und den ›Zusammen-Fall‹ (συν [syn], ›zusammen‹, und πίπτειν [píptein], ›fallen‹) verbindet. Es wirkt, als versetzten die ineinander verschlungenen Märchen-Gesten die Benjaminsche »Dialektik im Stillstand«31 wieder in Bewegung. Es sind mitnichten bedeutungsvolle Gesten, sondern ausgestellte, sich dem Subjekt entziehende. Sie zielen auf keine Gestalt, sondern stellen diese – und mit ihr das erst herzustellende Subjekt der Erziehungs- wie auch der Schreibpraktiken – zur Disposition.

N achrede Die abgekoppelten Körperteile mit ihren eigensinnigen Gesten haben im eben beschriebenen Sinne als Symptome zu gelten: Symptome, die letztlich Entzugserscheinungen darstellen. Denn sie entziehen sich selbst einer dechiffrierbaren Bedeutung, sie entziehen aber auch der Gesellschaft den Einzelnen als Projektionsfläche des Pathologischen und gleichermaßen dem Subjekt ein zuweisbares und darin potentiell lösbares Trauma. Diese eigensinnigen Gesten schlagen über alle Stränge, indem sie weit mehr über die Gewalt der Zusammenhänge anzuzeigen vermögen als über ein ausführendes Subjekt, das darin mitnichten souverän zu agieren vermag. Somit haben sie – mit Georges Didi-Huberman – als eine »kritische Kategorie«32 zu gelten, die Kritik und Krise gleichermaßen sowohl aufruft 30 | Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 2010, S. 341. Hervorhebungen VD. 31 | Benjamin, Walter: »N [Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts]«, in: ders., 1991, S. 570-611, hier: S. 576f. (N 2 a, 3) u. S. 595 (N 10 a, 3). 32 | Didi-Huberman, 2010, S. 323.

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als auch in sich birgt. Die hier Bild gewordenen – und sich zugleich stur der Bildwerdung entziehenden – eigensinnigen Körperpraktiken scheinen die Un-/Möglichkeiten intentionalen Widerstands sowie rational basierter Kritik zu markieren. Durch die Her(aus)stellung des einzelnen Körperteils als eines Teils des Körpers, das bzw. der nicht (mehr) der Ratio unterstellt ist, wird auch Kritik nicht nur als verstandes-, sondern potentiell auch als körperbasierte verortet. Damit aber setzen diese vom souveränen Subjekt abgelösten Körperpraktiken die pädagogisierenden Konzepte von Literatur, Erziehung, Gesellschaft, Politik und Ökonomie einer nachdrücklichen Kritik aus, indem sich die soziale Prekarität der (dargestellten) Körper mit der Prekarität der Darstellungen und deren lenkenden Text-, Bild- und Gestaltwerdungen verkoppelt findet. Zu Beginn war im erdachten Dialog zwischen Foucault und Lüdtke vom »Sockel der kritischen Haltung« die Rede, den Foucault weder auf einen »fundamentalen Anarchismus« noch auf eine »ursprüngliche Freiheit« gestützt sah. Möglicherweise wäre stattdessen der Eigensinn als ein solcher Sockel zu denken, als eine Haltung noch vor aller Kritik. Denn schließlich wuchert in all den Versuchen der Begradigung und Ruhigstellung der Eigensinn ungezähmt als kritischer Überschuss.

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Diesseits der Kritik 1 oder Szene auf unsicherem Grund (in Nietzsches Also sprach Zarathustra) Marten Weise Der aufklärerischen Bestimmung, die dem Begriff der Kritik in der Folge David Humes von Immanuel Kant programmatisch eingeprägt war, wohnte ein utopischoptimistischer Telos inne, der am Scheitern einer Erzählung der Geschichte als Fortschritt im 20. Jahrhundert zu Bruch gegangen ist. Davon ist eine Vorstellung von Kritik als Skeptizismus gegenüber allem Vorliegenden übrig geblieben, allerdings nicht als Vorbereitung eines verbesserten Gegenentwurfs, sondern als Befreiung vom Telos und Umwendung in Negation. Für Theodor W. Adorno etwa ist die immanente Kritik eine Form des rückhaltlosen Denkens: Gedanken, die der eigenen Objektivität vertrauen, müssen dem Gegenstand, in den sie sich versenken, und wäre er wiederum Gedanke, va banque, ohne Mentalreservat sich überantworten; das ist die Risikoprämie dafür, daß sie nicht System sind. 2

Wo Kritik nicht mehr System sein darf, und Adorno noch die vollkommene und rückhaltlose Überantwortung an einen Gegenstand als positives Merkmal hervorhebt, deutet sich am Begriff der Risikoprämie bereits – avant la lettre – das neoliberale Arrangement an, dem die Kritik sich überantworten kann. Ohne Programmatik und ohne beabsichtigtes System ist sie an den Flanken offen und potentieller Teil einer Ökonomie des Gleichgewichts. Eine solche Form der Kritik ohne Kriterien reproduziert zwar nicht die Geste des Systematisch-Programmatischen, der sie sich modo negativo widmet, läuft dabei aber Gefahr, sich im gleichen Zuge von einer revolutionären zu einer transformativen Kraft zu entwickeln – einer Hilfskraft des Systematischen. Anders formuliert: Diese Form der Kritik verhält sich immer zu einem Normativen, das sie in ihrer kritischen Aufarbeitung bestätigend bewahrt. Es muss allerdings nicht so weit kommen, dass Kritik nurmehr als Opti1 | Vgl. die Beiträge von Julia Schade und Leon Gabriel in diesem Band. Der vorliegende Artikel ist im Dialog mit ihnen im Rahmen des gemeinsamen Panels »Diesseits der Kritik« auf der Tagung entstanden. 2 | Adorno, Theodor W.: »Skoteinos oder wie zu lesen sei«, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a.M. 1990, S. 326-375, hier: S. 374.

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mierung gilt, um zu verstehen, warum sie dem unter die Arme greift, dessen sie sich entledigen wollte. Das Ende von Michel Foucaults erstem Band von Histoire de la sexualité3 gibt einen Ausblick auf diese – zugegebenermaßen pessimistische – Diagnose: Die Ironie des Dispositivs mache uns glauben, das Aussprechen »wahrerer Bekenntnisse« sei eine Befreiung gegenüber dem Dispositiv der Konstituierung und Regelung von Sexualität. Ironie liegt dabei nicht nur in der Anpassungsfähigkeit des Dispositivs, sondern sie macht vergessen, dass auch eine vermeintlich aufgeklärtere oder gar nur positive Weise des Sprechens an diesem Dispositiv teilhat. Aber damit nicht genug. Die Ironie des Dispositivs macht uns wohl auch glauben, dass es eine Befreiung sei, wenn wir nur das Rätsel seines Geheimnisses lüften, und dass wir uns auf diese Weise – in kritischer Auseinandersetzung mit ihm – seinem Zugriff entziehen könnten.

K ritische H altung als K unst Wie lässt sich in der Folge etwas im Begriff der Kritik auftun, das nicht dem Sog restaurativer Tendenzen nachgibt? Foucault hat darauf eine vorläufige Antwort. In seiner Auseinandersetzung mit der Kritik bei Kant und in Nachfolge der Aufklärung ist für ihn die »attitude critique« »l’art de n’être pas gouverné ou encore l’art de ne pas être gouverné comme ça et à ce prix«4. Wenn die Charakterisierung der kritischen Haltung als Kunst in dieser eigentümlichen Formulierung erstens mehr als eine umgangssprachliche Wendung oder ein Residuum des griechischen Verständnisses der Kunst als Technik ist, muss das Verständnis der Kritik als Kunst nicht nur als Anspielung auf ein künstlerisches Leben, d.h. einer ästhetischen Praxis des Lebens, begriffen werden. Es geht – in Anlehnung an die bereits erwähnte Schlusspassage von Histoire de la Sexualité I – um eine »autre économie des corps et des plaisirs«. Und wenn zweitens die Kunst als eine setzende Weise des Sprechens, des Ausdrucks oder der Verlautbarung zu begreifen ist, während die Kritik auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Sprechens zurückgeht: Dann gibt es eine der kritischen Haltung als Kunst inhärente, risikovoll-affirmative Geste des Sprechens – eine Bejahung, die sich zugleich selbst aufs Spiel setzt, wie sie schon Friedrich Nietzsche zu denken suchte. In dieser von Foucault angerissenen Kritik ohne Kritik deutet sich erneut die bereits erwähnte Kritik ohne Kriterien an, erhält jedoch unter dem Gesichtspunkt, den Adorno mit dem waghalsigen Glücksspiel »va banque« in den Kreis der Debatte um die Kritik einbringt, einen neuen Schwerpunkt: eine kritische Haltung als Kunst. Steckt darin womöglich die Form einer ganz anderen Kritik, eine ganz andere Form der Kritik?

3 | Foucault, Michel: Histoire de la sexualité I. La Volonté de savoir. Paris 1976, S. 211. 4 | Foucault, Michel: Qu’est-ce que la Critique? Suivi de La culture de soi. Paris 2015, S. 37.

Diesseits der Kritik

R ätselsprechen und - r aten In Anschluss an Ausführungen um den 2004 erschienenen Aufsatz »Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern«5 des Wissenschaftssoziologen und -historikers Bruno Latour soll zunächst exemplarisch skizziert werden, wie eine gegenwärtige Unzufriedenheit mit dem Begriff, dem Selbstverständnis von Kritik oder gar eine ihr inhärente Unzulänglichkeit aussieht. Anschließend wird dieser Gedanke zu Nietzsche zurückverfolgt und mit Passagen aus Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse dargelegt, wie in seinen Schriften eine Kritik der Kritik in einem Sprechen auf unsicherem Grund oder über dem Abgrund mündet. Dieses Sprechen, das sich selbst radikal in Frage stellt, wird in einer Szene im Kapitel »Gesicht und Rätsel« in Also sprach Zarathustra anhand der Verweigerung, ein Rätsel einfach aufzulösen, verhandelt. Wichtig ist dabei, wie Zarathustra von seinen Zuhörern – den Schiffsleuten – spricht und sie als romantische Projektion entwirft. Das Rätselsprechen und -raten sieht eine kommunikativ-dialogische Szene vor, welche Rede, Gegenrede und Deutung ohne präformierte Gewissheiten auslegt. Nietzsches fragmentiertes Schreiben einer Philosophie der Interpretation6 gibt somit eine Anregung, wie sich ein nicht-kritisches oder affirmatives Denken bzw. eine Kunst des Sprechens diesseits der Kritik – welche für ihn stets ›dahinter geht‹ – als dialogisch und im Dialog begreifen lässt.

D as E lend der K ritik In seinem Aufsatz »Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern« macht Bruno Latour eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage der Geistes- und Sozialwissenschaften. Eine erkenntniskritische Perspektive, die einen grundsätzlichen »lack of scientific certainty« 7 auszuweisen vermag, war über lange Zeit, so Latour, eine der dringlichsten Fragen seiner eigenen Arbeit.8 Gegenüber dem Fetisch naturalisierter Fakten übernimmt die Kritik in dieser Konstellation die Geste eines »Ikonoklasmus«9: Sie zerschlage die Vorstellung eines bloßen So-Seins der Dinge und der Erkenntnisse und gehe zurück auf die Bedingungen ihres Erscheinens. Sie stellt die Fiktionalität oder Kontingenz der Bedingungen heraus, innerhalb derer wissenschaftlicher Gewissheit eine Konsistenz verliehen wird. Neben der Instrumentalisierbarkeit eines solchen Vorgehens durch politische Reaktionäre gibt es für Latour – mit dieser ersten Tendenz und Gefahr durchaus zusammenhängende – weitere, d.h. vor allem kritikimmanente Probleme. Die Kritik eines Bestandes faktischer Umstände ermögliche zwar Rückschlüsse auf deren Entstehungsprozess, schließe aber nicht eine kritische Haltung gegenüber Fakten 5 | Latour, Bruno: »Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern«, in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 225-248. 6 | Vgl. Blanchot, Maurice: »Nietzsche und die fragmentarische Schrift«, in: ders., Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente. Zürich 2010, S. 179-206, hier: S. 179. 7 | Latour, 2004, S. 226. 8 | Vgl. ebd., S. 227. 9 | Vgl. ebd., S. 237.

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als solchen ein.10 Im Zentrum der Kritik steht weiterhin ein Kampf um Fakten – auch wenn dieser darin besteht, das Metafaktum der immer zumindest latent-fiktionalen Verfasstheit aller Fakten nachzuweisen. In dieser Orientierung hin auf ein gewisseres Faktum inszeniert sich Kritik als Produzentin von Gewissheiten und selbst als gewiss. Diese Grundausrichtung macht Kritik über jeden Zweifel und Selbstzweifel erhaben – sie sei »always right«11, d.h. in einem Selbstverständnis verfangen, stets angemessen und auf der richtigen Seite zu sein –, berechtigt und rechtens, ja sogar selbstgerecht. Die Kritik bleibt bei sich selbst. Statt einen Kampf darum zu führen, worin die »matters of fact« oder das Metafaktum – d.h. die kritische Meta-Gewissheit von der stets mindestens latent-fiktionalen Verfasstheit aller Fakten – liegen und wie das Verhältnis von Beschreibung und vorgeblichen Fakten gelagert ist, schlägt Latour vor, den »matters of concern«12 nachzugehen. Ein anderes Verhältnis der Kritik zu den Dingen sowie ihr Verhältnis untereinander begreift er als vermittelnd, versammelnd, zusammentragend. Eine daran anschließende »kritische Attitüde«13 könne anhand der empfangenen Ideen ein Surplus an Ideen generieren, statt die empfangenen nur zu entlarven.14 »The critic is not the one who debunks, but the one who assembles.«15 Was in der Welt von Belang – »of concern« – ist, wird durch ein Sprechen ausgelotet, für das die Welt selbst noch keine Gewissheit ist und das nicht primär auf der Grundlage von Gewissheiten erfolgt oder Gewissheiten anstrebt. Dafür spricht nicht zuletzt, dass Latour wiederholt von Arenen spricht, die durch diese andere Haltung geschaffen werden und die Teilnehmenden versammelt.16 Was Latour andeutet, ist eine Weltdeutung oder Interpretation, die nicht bei ihrem selbstgerechten Anspruch bleibt, sondern sich in einer pluralen Bezogenheit auf die Ungewissheit dessen, was Welt überhaupt ist und werden kann, stetig neu entwirft.

K ritik der kritischen S kepsis Im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra kehrt Zarathustra einer Stadt den Rücken. Die Städte sind für ihn an anderer Stelle die Heimat der gutgefütterten, berühmten Weisen, die er als »Zugthiere des Volkes und der öffentlichen Meinung« beschreibt.17 Die Gelehrten sind die Statthalter der Gewissheiten. Deren Inanspruchnahme leitet sich in Jenseits von Gut und Böse von der Skepsis ab: Die Philosophie gehe von einer Irrtümlichkeit der Welt aus. Diese Grundsituation der universalen Täuschung gelte es aufzudecken, die scheinbare Welt abzuschaffen und ihr eine wahre gegenüberzustellen. Dabei werde nicht nur Irrtümlichkeit als gewiss gesetzt, sondern auch die Möglichkeit einer wahren Welt angenommen und

10 | Vgl. ebd., S. 231. 11 | Ebd., S. 239. 12 | Vgl. ebd., S. 231. 13 | Vgl. ebd., S. 245. 14 | Vgl. ebd., S. 248. 15 | Ebd., S. 246. 16 | Vgl. ebd., S. 246. 17 | Ebd., S. 132-135.

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die Operation, zu ihr zu gelangen, als etwas begriffen, das Objekt von Gewissheit sein könne.18 Was Nietzsche als Skepsis beschreibt, kann im Anschluss an die Ausführungen Latours Kritik heißen. Erstens, weil die der Kritik innewohnende Bewegung auf die Findung einer Gewissheit zuläuft, sei sie auch die einer zweiten Ordnung, dass jede Gewissheit nur im Rahmen der fiktionalen Annahme möglich ist, dass es Gewissheiten geben könne. Zweitens werden die skeptisch-kritischen Grundhaltung, ihre Operationen, ihr Zugriff und ihre Legitimität, ihre Rechtschaffenheit als unanfechtbar angenommen. Im skeptisch-kritischen Willen zur Gewissheit tut sich ein »Metaphysiker-Ehrgeiz«19 des Zurückgehens und Dahintertretens auf. Der totgeglaubte Gott lebt in der kritischen Haltung fort. In ihrer metaphysischen Ausrichtung auf das Eigentliche und im Glauben an sich selbst ist kritische Skepsis für Nietzsche zumindest in einer Hinsicht nicht das heteronome »désassujettissement« (Entunterwerfung), welches Judith Butler in ihrer Lektüre von Foucaults Text besonders hervorhebt: »Après tout, la critique n’existe qu’en rapport avec autre chose qu’elle-même.«20 Die Kritik entwirft sich zwar an etwas anderem, aber darin, dass sie behaupten muss, in der Lage zu sein, Gewissheiten offenzulegen oder zu etablieren, sich selbst voraussetzt und selbst nicht in Frage steht, bleibt sie immer zumindest sich selbst unterworfen. Maurice Blanchot zufolge wolle Nietzsches Schrift die das abendländische Denken beherrschenden Kategorien nicht bekämpfen, sondern das Denken nach dem Verschwinden des Menschen begreifen.21 Der Fokus auf dem Verschwinden (des Menschen) wirft ein spezielles Licht darauf, was bei Nietzsche häufig als Verachtung auftaucht.22 Es steht im Zeichen des Auf hörens der Achtung, des Endes und des Verschwindens einer Beachtung, heißt es doch im Zarathustra: »wo man nicht mehr lieben kann, da soll man – vorübergehn! [i.O. gesperrt] –«23. Zarathustras Kritik der Kritik äußert sich in einem Ausbleiben der Liebe für die kritische Skepsis. Den Gewissheiten sowie der etablierten Form, diese zu erlangen, steht der Wille zu einem anderen Sprechen gegenüber: »Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.«24

18 | Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 5. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, S. 9-243, hier: Aph. 34, S. 52-54. 19 | Nietzsche, ebd., Aph. 10, S. 23. 20 | Vgl. Foucault, 2015, S. 34. Vgl. Butler, Judith: »What is Critique? An Essay on Foucault’s Virtue«, in: David Ingram (Hg.), The Political: Readings in Continental Philosophy. London 2002, S. 212-226, bes. S. 214, 220. 21 | Vgl. Blanchot, 2010, S. 183f. 22 | Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra (= Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4). Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980, S. 39ff. 23 | Ebd., S. 225. 24 | Vgl. ebd., S. 17.

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D iesseits der K ritik Der eigentümliche Gebrauch, den Nietzsche in Zarathustra vom Wort ›hinterweltlerisch‹ macht,25 ist das rhetorische Feld, in dem Kritik ihm als »metaphysischer« Blick die Welt »von hinten«26 anvisiert. Eine Handvoll Gewissheiten sei den Hinterweltlern stets mehr wert als ein Wagen voller Möglichkeiten.27 Die Hervorhebung von Liebe und weltlicher Sehnsucht sowie die Ablehnung eines Dahinters suggeriert, dass es Nietzsche im Diesseits der Kritik um eine Überfülle realer Potentialitäten geht. Auf eine Fülle von Möglichkeiten zielt auch Foucault, wenn er die Kunst der Kritik beschreibt als »instrument, moyen pour un avenir ou une vérité qu’elle ne saura pas et ne sera pas, elle est un regard sur un domaine où elle veut bien faire la police et où elle n’est pas capable de faire la loi«28. Wenn es bei Nietzsche heißt, dass es überhaupt einer größeren Künstler*innenschaft bedürfe,29 ist der Drang zum Wagen von Möglichkeiten vielleicht im künstlerischen Schaffen gegeben. Dies ist das Feld, auf dem die Kritik als Kunst – und weniger als Kritik – heteronom ist und in einer Beziehung steht mit dem, was sie nicht ist, und dabei auch selbst nicht einmal mehr vorausgesetzt bleibt. Für Martin Heidegger ist das künstlerisch-schöpferische Subjekt bei Nietzsche die Figur eines Hervorbringen-Könnens.30 Dies beschreibt Philippe Lacoue-Labarthe als eine Ins-Werk-Setzung (»être-œuvré«) des Seins und Energie eines selbstbildenden Subjekts im Sinne einer ungeteilten Subjektivität, die im Zusammenhang mit völkisch-mythischen Überlegungen steht.31 Damit ist die Gefahr eines usurpatorischen politischen Gebrauchs des schöpferischen Tuns umrissen: die Möglichkeit der Kunst, zur in-eins-bildenden Kraft eines Volkskörpers zu werden. Dem hält Lacoue-Labarthe jedoch in der Folge entgegen, dass jene Mimesis, die Nietzsche im Sinn habe, sich stets auf Inkommensurables, Undarstellbares beziehe32 und demzufolge niemals bloße Ins-Werk-Setzung sein kann, sich nicht in eine ungeteilte und souveräne Subjektivität umsetzt. In Jenseits von Gut und Böse heißt es, man sei aufgrund einer Gewöhnung ans Lügen schon viel mehr in einer künstlerischen Haltung verfangen, als man es wissen könne.33 Die Kunst ist nicht Kunstschaffenden vorbehalten, und womöglich geht es gar nicht um ein schöpferisches Tun, das etwas – und damit auch sich selbst – zustande bringt. Denn es ist eine von den bei Nietzsche häufig auftauchenden typologisierten Figuren, denen eine Lebenshaltung und eine Weise des Sprechens zugeschrieben wird, die nicht oder nicht ganz Kunst ist, eine andere Form der Kunst oder eine andere Form als Kunst, weil sie sich selbst verschwenden und 25 | Vgl. ebd., S. 35-38. 26 | Vgl. ebd., S. 256. 27 | Ders.: Jenseits von Gut und Böse, a.a.O., Aph. 10, S. 23. 28 | Foucault, 2015, S. 34. 29 | Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a.a.O., Aph. 10, S. 24. 30 | Heidegger, Martin: Nietzsche I (Gesamtausgabe, Bd. 6.1). Hg. v. Brigitte Schillbach. Frankfurt a.M. 1996, S. 66. 31 | Lacoue Labarthe, Philippe: L’Imitation des modernes. Typographies II. Paris 1986, S. 97. 32 | Ebd., S. 108. 33 | Ders.: Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, a.a.O., Aph. 192, S. 114.

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verausgaben. Dabei handelt es sich um die heimatlosen und sehnsüchtigen Schiffsleute, auf die Zarathustra im dritten Teil von Nietzsches Text trifft.

S prechen auf unsicherem G rund Als es unter den Schiffsleuten ruchbar wurde, dass Zarathustra auf dem Schiffe sei, denn es war ein Mann zugleich mit ihm an Bord gegangen, der von den glückseligen Inseln kam – da entstand eine grosse Neugier und Erwartung. 34

Zarathustra betritt ein Schiff. Das anfängliche Schweigen und die Niedergeschlagenheit Zarathustras verfliegen, als ihm bewusst wird, dass es viel Seltsames und Gefährliches auf dem Schiff anzuhören gebe, »welches weither kam und noch weiterhin will«. Er wird angesteckt von der Stimmung der Reise, der Sehnsucht nach der Ferne, dem Streben und Drängen. Den Reden der anderen zuzuhören löst ihm die Zunge. Er erzählt den Schiffsleuten sein Rätsel, das auch als Gleichnis oder Vision bezeichnet werden könnte. Im ersten Teil des Rätsels steht Zarathustra mit einem Zwerg, den er zuvor auf der Schulter getragen hat, vor einem Tor, an dem sich zwei Wege treffen und an dem »Augenblick« angeschrieben steht. Er fragt den Zwerg, ob die Wege sich ewig widersprechen, würde man einen von beiden immer weitergehen. Der Zwerg hat darauf die schnelle Antwort, dass alle Wahrheit krumm und die Zeit ein Kreis sei. Daraufhin bezeichnet ihn Zarathustra wütend als »Geist der Schwere«, führt aber gleich darauf in fragender Manier die Gedanken zur »ewigen Wiederkunft« weiter aus. Er widerspricht dem Zwerg nicht, sondern greift den Anspruch der Gewissheit seiner Antwort an. Die Szene wechselt und Zarathustra erblickt einen Hirten, dem eine Schlange in den Mund kriecht. Zarathustra ruft ihm zu, er solle den Kopf der Schlange abbeißen. Er tut dies und verwandelt sich in den Augen Zarathustras in einen »Umleuchteten« – nun weder Hirt noch Mensch –, dessen schallendes Lachen in ihm Durst und Sehnsucht entfacht. Die Anspielung auf die biblische Szene der Anstiftung Evas, vom Baum der Erkenntnis zu probieren, ist unverkennbar. Der Hirt scheint sich vom Anspruch der Erkenntnis und der Gewissheit – denn auch die Schlange wird als schwer und das Schwerste bezeichnet – freigemacht zu haben. Die Formulierung der ewigen Wiederkunft als Gewissheit, die der Zwerg anbringt, wird wütend aufgenommen und im zweiten Teil des Rätsels durch die Verlachung der Erkenntnis kommentiert. Das Rätsel (mit der Schlange) im Rätsel fordert zu einem Widerstand gegenüber jeder vorgeblichen Erkenntnis, aber vor allem auch gegenüber der in ihr zugleich auch enthaltenen philosophischen Gewissheit auf. Der philosophischen Betrachtung wird der Boden entzogen. Auf den verschiedenen Erzählebenen befindet sich Zarathustra dabei stets im Dialog und erwartet ein probierendes Sprechen, das nicht auf Erkenntnis abzielt – besonders von den Schiffsleuten. In ihnen scheint er diejenigen Gefährten gefunden zu haben, die er schon zu Beginn des Textes gesucht hatte: »Ich liebe den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt

34 | Ders.: Also sprach Zarathustra, a.a.O., S. 197.

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immer und will sich nicht bewahren.«35 Er nennt die Gründe, warum er ihnen das Rätsel erzählen möchte: »Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, – euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit Flöten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird: – denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und, wo ihr errathen könnt, da hasst ihr es, zu erschliessen – euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich sah. 36

Zarathustras Beschreibung nach ist es – im Gegensatz zum Zwerg – nicht das Ziel der Interpretation der Matrosen, die Lösung des Rätsels zu erschließen. Eine Antwort ist für ihn nicht die Bewegung zu einer Bestimmung von Gewissheit. Zarathustra suggeriert, dass sich die Matrosen gegen die Auflösung und das damit einhergehende Ende dieses und jedes Rätsels sträuben: Ihr Interpretieren ist rätseltrunken und zwielichtfroh. In dieser romantisch aufgeladenen Betrachtung der Seefahrer, die bis zuletzt auch eine Projektion Zarathustras bleibt – einer unbekannten Zukunft zugewandt –, ist das Verstehen und das Sprechen der Schiffsleute so ausgelegt, dass Alles Rätsel ist und bleiben kann. Überall ein Rätsel sehen zu können, ist die affirmativ-sehnsüchtige Leistung der Matrosen, die sich dem, was ihnen begegnet, als immer wieder Neuem zuwenden. Sie scheinen auf ein Diktum aus Jenseits von Gut und Böse zu antworten: »Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn.«37 Was die Seefahrer nicht haben, können sie somit gewinnen, denn schon zu Beginn von Zarathustra heißt es: »Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen [i.O. gesperrt] Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.«38 Eine Weltverlorenheit scheint Zarathustra in den Matrosen erkennen zu wollen. Indem sie nicht eine Welt haben, sind sie als kühne Sucher und Versuchte in der Lage, für viele Welten zu sprechen. Sie setzen zusammen, statt zu entlarven, generieren ein Surplus gegenüber den empfangenen Ideen und erfüllen damit vielleicht eine Anforderung für jene andere kritische Attitüde, von der bei Latour die Rede war: vermittelnd, versammelnd, zusammentragend. Zu ihrer Empfängnisbereitschaft dem Ungewissen gegenüber kommt die Grundsituation der Seeleute hinzu. Sie fahren auf dem Meer, d.h. sie haben keinen sicheren Grund, auf dem sie stehen, und entwerfen sich auf etwas Entferntes und Unsicheres hin. Entscheidend an ihnen ist nicht, dass sie bereits an diesem oder jenem besonderen Ort gewesen sind, sondern dass sie an keinem Ort sind. Scheinbar ohne Ziel fahren sie zur See und sind weder nur hier noch schon oder gar jemals dort. Die Schiffsleute haben nicht nur keine gesicherte Welt, sondern auch sich selbst nicht. Ihnen kommt vielleicht mehr als nur diese »Art Widerwillen« aus Jenseits von Gut und Böse zu, »etwas Bestimmtes über sich zu glauben«39. Womöglich sind sie in ihrem Wandeln auf unsicherem Grund ganz unfähig dazu – das suggeriert die Rede Zarathustras über sie. Den Schiffsleuten ist in ihrer Cha35 | Ebd., S. 17. 36 | Ebd., S. 197. 37 | Ders.: Jenseits von Gut und Böse, a.a.O., Aph. 80, S. 88. 38 | Ders.: Also sprach Zarathustra, a.a.O., S. 31. 39 | Ders.: Jenseits von Gut und Böse, a.a.O.,Aph. 281, S. 230.

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rakterisierung durch Zarathustra die Möglichkeit eines vorgreifenden Bezugs auf Erkenntnis genauso wenig zugänglich wie ein Rückbezug auf gegebene Gewissheiten. Sie haben weder eine Gewissheit ihrer selbst noch der Welt, und auch nicht der erkenntniskritischen Bedingungen, unter denen sie sprechen. Musste die Kritik immer noch zumindest auf sich selbst als Gewissheit zurückgreifen, sind die Schiffsleute in der Beschreibung Zarathustras sich selbst entunterworfen. Das Sprechen der Matrosen ist von der ihm eigenen Fehlbarkeit, d.h. der Möglichkeit, falsch und nichtig zu sein, durchzogen. In seinem Außen- und Weltbezug ist das Rätselsprechen und -raten nicht nur konfrontiert mit dem Unverstandenen, dem Defizit und der Möglichkeit seines Nicht-sein-Könnens, d.h. der äußersten Form der Kontingenz – es ist somit ein Sprechen auf unsicherem Grund oder über dem Abgrund: die Forderung nach einer Interpretation mit einem Surplus und ohne Absicht, auf kritische Weise dahintertreten zu wollen. Jedoch auch bei dieser Erkenntnis kann man nicht stehen bleiben, und es muss dies noch zu einem Teil Rätsel bleiben, denn die Seeleute werden zur Rede Zarathustras nicht Stellung beziehen – weder zu ihrer Beschreibung noch zum Rätsel werden sie sprechen. Selbst also die Gewissheit, dass die Möglichkeit eines solchen Sprechens, wie es Zarathustra den Schiffsleuten attestiert, überhaupt besteht, ist fraglich. Umso deutlicher wird damit, dass Nietzsche hier nicht einen Kult des Schöpferischen der Kritik gegenüberstellt, sondern ein probierendes Sprechen im Dialog.

E in A bgrund im D ialog Die aus der Beschreibung der Seeleute hervorgehende Weise des Sprechens könnte als rückhaltlose »Redlichkeit« bezeichnet werden. Über diese schreibt Jean-Luc Nancy, dass sie bei Nietzsche eine andere Wahrheit und eine ganz andere Moral ohne Rückgriff auf wertende – und damit nur relative – Gewissheiten meine. Die Aufgabe Nietzsches, den Menschen jenseits von Wert und Wesen oder, in Blanchots Formulierung, nach seinem Verschwinden zu denken, weist in der Redlichkeit Nancy zufolge auf die unabschätzbare und unverwertbare Würde einer »Menschheit als Zweck«40. Die Redlichkeit werde nicht im Sprechen eines Subjekts durch den Rückgriff auf die bestehende Gewissheit der Würde aufrechterhalten, sondern halte umgekehrt als Sprechen in Absehung jeglicher Kriterien von Wert und Bewertung das Subjekt, so Nancy.41 An die Stelle einer Achtung oder Selbstachtung ist die Rede, das Sprechen und die Antwort getreten, welche die Würde des Subjekts ausmachen. Nicht ein bereits bestehendes Subjekt setzt zum Sprechen an, sondern die Rede mit ihren konstituierend-dekonstituierenden Merkmalen bringt es hervor, weil es sich in ihr verausgabt und an andere wendet. 40 | Vgl. Nancy, Jean-Luc: «Unsere Redlichkeit!« (Über Wahrheit im moralischen Sinne bei Nietzsche)«, übers. v. Werner Hamacher, in: Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt a.M. 1986, S. 169-192, hier: S. 191. Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 2007. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 3. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, Aph. 335, S. 343651, zitiert nach Nancy, 1986, S. 181. 41 | Vgl. Nancy, 1986, S. 190.

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Blanchot beschreibt dies als Pluralismus, welchen die Rede des Fragments in sich als die Provokation der Sprache trage42 und welcher hier als das Sprechen angesichts eines Rätsels und im Rätsel umrissen wurde. An der zitierten Stelle verweist Blanchot auf einen Passus aus der Fröhlichen Wissenschaft: »Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit.«43 Beim Rätselsprechen und -raten handelt es sich um einen nach außen gerichteten und kommunikativen Vorgang: Zarathustra ist fortlaufend im Dialog. Nicht nur ist das Sprechen selbst, als affirmative Veräußerung eines Wagens voller Möglichkeiten über einem Abgrund, fragmentiert, sondern es hat auch stets ein Gegenüber. Es ist zwar nicht kritisch, deswegen aber noch nicht verantwortungslos. Florian Sprenger hat gezeigt, dass bei Nietzsche gesprochene Worte nicht in einer unmittelbaren Selbstgegenwart stehen können.44 Sprache setze die Trennung zwischen Elementen voraus, die sich im Sprechen herausbilden.45 Kommunikation bleibe als Teilung und Vereinigung mit der Offenheit ihres Scheiterns konfrontiert, auch ohne real existierendes Gegenüber. Der Abgrund zwischen Ort der Sendung und Ort des Empfangens setze voraus, dass man hinabstürzen könne.46 Die Rede der Schiffsleute ist damit nach außen und in den Abgrund, an die Möglichkeit des Scheiterns, an den anderen gerichtet und wartet ihrerseits auf eine Interpretation. Während diese Ausführungen nicht aus der Auseinandersetzung mit Theatermaterialien hervorgehen, können sie einerseits dabei behilflich sein, ästhetische Strategien im Theater zu besprechen, die etwas hervorbringen, das sie zugleich auf radikale Weise aufs Spiel setzen, denn das von Zarathustra in den Schiffsleuten erkannte Sprechen setzt noch auf kritische Weise die Gewissheit des eigenen Sprechens aus. Ihre Rede steht ohne Rückbindung an Gewissheiten und als kritische Perspektive auf die erkenntnisorientierte Kritik – vom Ort eines unsicheren Grundes her – auf dem Spiel. Darin besteht wohl das besondere Potential einer kritischen Haltung als Kunst. Weiterhin ist die von Zarathustra eingeforderte Redlichkeit der Schiffsleute dialogisch-kommunikativ. Als Sprache nach dem Verschwinden des (einen) Menschen ist das Rätselsprechen und -raten der Matrosen, wie es ihnen von Zarathustra zugesprochen wird, eine dialogische (Un-)Vernunft, weil das plurale und fragmentierte Sprechen selbst sie über dem Abgrund hält. Mit dieser Selbstüberschreitung und Veräußerung – die radikale Wendung und Erwartung an den anderen – wird ein Dialog an die Stelle der Kritik gesetzt und gibt damit einen Ausblick darauf, wie dieser – auch im Theater – als Appell der Rede und der Deutung, statt als zwischenmenschlicher Bezug oder Erkenntnis des anderen, begriffen werden kann. In diesem Dialog ist weder der andere noch das Selbst vorausgesetzt oder jemals erkannt, sondern im Verhältnis zueinander wird im Sprechen und Antworten – im Hören-Sagen – auf fortlaufend neue Weise ausgelotet, was von Belang ist: diesseits der Kritik.

42 | Vgl. Blanchot, 2010, S. 184. 43 | Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, a.a.O., Aph. 260, S. 517. 44 | Vgl. Sprenger, Florian: »Divisionen des Individuums – Selbstgespräche am Ende der Zeit«, in: Michael Andreas/Natascha Frankenberg (Hg.), Im Netz der Eindeutigkeiten. Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität. Bielefeld 2013, S. 291-313, hier: S. 302. 45 | Vgl. ebd., S. 309. 46 | Vgl. ebd., S. 299, 303.

»WIE GESTANK, DER IHN UMWEHT …« Kritik im Zeichen von Gouvernementalisierung Sebastian Kirsch

An exponierter Stelle zitiert der Call unserer Tagung die berühmte Kritik-Definition, die Michel Foucault 1978 formulierte: die »Kunst[,] nicht dermaßen regiert zu werden«1. Ich will an diese Definition anknüpfen, allerdings etwas anders, als der Call nahelegt. Es scheint mir nämlich wichtig, genauer zu fragen, was Foucault hier eigentlich mit dem Begriff des Regierens bzw. Regiert-Werdens meint. 1978 und 1979 hält Foucault seine beiden großen Vorlesungsreihen zur Gouvernementalität.2 Die Definition des Kritik-Vortrags kann aber ohne den Horizont dieser Vorlesungen kaum angemessen situiert werden, da hier das Thema der Regierung grundlegend neu angegangen wird. Speziell für einen theaterwissenschaftlichen Bezug auf Foucault scheint mir dabei von Bedeutung, dass diese Neubestimmung die früheren Analysen der Disziplinarmacht und des Panoptismus in anderem Licht erscheinen lässt. Denn diese Analysen, wie sie prominent etwa in Überwachen und Strafen vorliegen,3 werden bis dato in vielen theaterwissenschaftlichen Arbeiten herangezogen, um etwa eine Kritik des Guckkastens, des Schauspielers und überhaupt des Dramas zu leisten. Dass sich Foucault zufolge die gouvernementale Regierung in der Moderne ebenfalls schon im Gefolge der bürgerlichen »Achsenzeit« um 1800 zu etablieren und zu entwickeln beginnt – wie er etwa an den frühen Liberalismen zeigt –, scheint demgegenüber unterbelichtet. Foucaults breit angelegter Geschichte der Regierungskünste folgt ab 1981 seine ausführliche, aber unabgeschlossen gebliebene Relektüre der antiken Sorgetechniken. Diese werden von ihm als mögliches Gegenverhalten auf der Ebene der Gouvernementalität perspektiviert und mithin genau im Licht der Frage nach einer »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«, untersucht. In einer Parallelbewegung zu dieser theoriepolitischen Geste möchte ich vorschlagen, die Frage nach der antiken Sorge als Frage nach den Erbschaften des antiken Chores zu verstehen, des im Sinn von Ulrike Haß »zweiten Körpers des Theaters« und anderen Figuren-

1 | Foucault, Michel: Was ist Kritik. Berlin 1992, S. 12. 2 | Vgl. ders.: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt a.M. 2004 (= Foucault 2004a); Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt a.M. 2004 (= Foucault 2004b). 3 | Vgl. ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1976.

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typs neben dem Protagonisten.4 Mit Blick auf Derridas berühmte Platon-Lektüre in Dissemination werde ich schließlich zu begründen versuchen, warum eine Anknüpfung an Foucaults Verständnis von Gouvernementalität, Sorge und Kritik eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber sogenannten textuellen Theorien impliziert – jenen Theorien des (post-)strukturalistischen Spektrums, die im Gefolge des »linguistic turn« Kritik als Verweis auf die Nicht-Schließbarkeit einer als Repräsentationszusammenhang aufgefassten Darstellung konzipierten. Zunächst also zu Foucaults Vorlesungen von 1978 und 1979, in deren Umfeld der Kritik-Vortrag fällt. Foucault konzentriert sich hier auf drei historische Vektoren. Erstens wird, wie angedeutet, Gouvernementalität als spezifischer Machttyp porträtiert, der sich schon im 18. Jahrhundert – etwa mit den physiokratischen Ökonomen – gegen die Koordinaten des Disziplinarregimes zu formulieren beginnt. Zweitens porträtiert Foucault die historischen Vorläufer der gouvernementalen Macht. Diese stellt sich ihm letztlich als Neuformulierung uralter Regierungstechniken dar, deren Spuren Foucault entlang des Begriffs der »Pastoralmacht« über die Geschichte des Christentums hinaus bis in antike und archaische Hirten- und Herdenmodelle nachverfolgt. Dabei verortet er die Vorläufer des Pastorats in den Gouvernementalitätsanalysen zunächst noch vorwiegend in ägyptischen, assyrischen, hebräischen und generell in orientalischen Traditionen, die er mit einer territorialen Souveränität der griechischen und römischen Stadtstaaten kontrastiert. Schon im Folgejahr wird indes sein zunehmendes Interesse an der griechischen »Sorgekultur« auch diese Gegenüberstellung aufweichen, so dass die Traditionen der griechischen epiméleia ihm von nun an als Anderes der Souveränitätsgeschichte selbst erscheinen. Und drittens verknüpft Foucault, in großer Nähe zu Deleuzes vielzitierter Skizze zur Transformation der Disziplinar- in Kontrollgesellschaften5, diese beiden Linien mit einer aus heutiger Sicht überaus hellsichtigen Analyse der neoliberalen Gouvernementalität, die sich nach 1945 durchsetzt. Akribisch untersucht er die Programmatiken der deutschen Ordoliberalen um Ludwig Erhard sowie der – historisch erfolgreicheren – amerikanischen Ökonomen um Hayek und Becker, zeichnet ihren Bezug und auch ihren Abstand zu den klassischen Liberalismen nach und dehnt die Analyse bis zu Regierungsprogrammen aus, die zum Zeitpunkt der Vorlesungen tagesaktuell sind. Für das 18. Jahrhundert gilt nun zunächst, dass der gouvernementale Machttyp einer bedeutenden Schwachstelle des sogenannten Disziplinarregimes begegnet, das seinerseits – wie in Überwachen und Strafen anhand der panoptischen Gefängnisordnung geschildert – auf Brüchigkeiten der Souveränitätsgesellschaften reagierte. Zumindest vordergründig zeichnet Foucault also einen Dreischritt, der von der Souveränität über die Disziplin hin zur Gouvernementalität führt. Es ist dabei sehr wichtig, dass der disziplinäre Panoptismus noch mit einem souveränitätslogischen Rahmen kompatibel ist und erst die gouvernementale Macht diesen Rahmen überschreiten wird. Denn laut Foucault gilt,

4 | Vgl. Haß, Ulrike: »Die zwei Körper des Theaters. Protagonist und Chor«, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach dem Ende der Geschichtsteleologie. Berlin 2014, S. 139-159. 5 | Vgl. Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262.

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dass der Panoptismus der älteste Traum des ältesten Souveräns ist: Keiner meiner Untertanen entgeht mir, und keine Geste keines meiner Untertanen bleibt mir unbekannt; noch einmal der perfekte Souverän, auf eine gewisse Art der Zentralpunkt des Panoptismus. Was wir dagegen jetzt auftauchen sehen, ist (nicht) die Idee einer Macht, welche die Form einer erschöpfenden Überwachung der Individuen annähme, damit jedes von ihnen gewissermaßen in jedem Moment, bei allem, was es macht, für die Augen des Souveräns gegenwärtig wäre, sondern die Gesamtheit der Mechanismen, die für die Regierung und für diejenigen, die regieren, recht spezifische Phänomene relevant werden lassen, die nicht exakt die individuelle Phänomene sind […], obwohl die Individuen darin auf bestimmte Weise figurieren und die Individualisierungsvorgänge dabei recht spezifisch sind. 6

An dieser Passage lässt sich gut erkennen, wie Foucault seine älteren Annahmen stillschweigend korrigiert. Noch die Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft des Vorjahres hatte nämlich die Disziplinarmacht als »nicht-souveräne Macht, die der Form der Souveränität fremd gegenübersteht« 7 definiert, während sie jetzt nachgerade als deren Perfektionierung und Double erscheint. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass die disziplinäre Überwachung die souveräne Gesetzesmacht zwar in sich umwendet, indem sie deren primär strafenden Zugriff in einen produktiv bessernden verkehrt, dass jedoch der Referenzpunkt beider Mächte gleich bleibt: In beiden Fällen ist der Ansatzpunkt ein im Feld moderner Sichtbarkeit konstituierter und konturierter Einzelkörper der Untertanen bzw. Bürger. Erst die gouvernementale Regierung wird gegenüber diesem in sich widerstreitenden und dennoch arbeitsteiligen Doppel etwas Neues ins Spiel bringen: Sie wird beginnen, jene Prozessualitäten des Lebens oder besser des Lebendigen 8 zu explizieren und zu regulieren, die auf der Ebene der Einzelkörper nicht »behandelt« werden können und darum auch die Sichtbarkeiten und Wahrnehmungsschwellen des panoptischen Raumes unterlaufen bzw. übersteigen. Entsprechend zielt diese Macht nicht mehr darauf ab, Einzelwesen entlang ihrer Körperkonturen zu disziplinieren, sondern vielmehr die diversen Umräume, Milieus und Lebensbedingungen zu erkunden, zu kontrollieren, zu optimieren und auch zu ökonomisieren, in die diese Einzelnen auf der Ebene somatischer Relationen und opaker affektiver Resonanzen vielfach eingefaltet sind: Gouvernementalität arbeitet environmental. Diese Fokusverlagerung ist keineswegs nur »negativ«. Trotz ihres manipulativen Potentials gehen mit ihr auch wirkliche Liberalisierungsprozesse im Sinn des »Laissez-faire« einher. Denn weil sie ihr Interesse von den unmittelbaren Verhaltensweisen der Einzelwesen abzieht, bedarf gouvernementale Regierung weder der starren Verbote der Souveränität noch vorausgesetzter Normen und strikter zeit-räumlicher Taktungen wie der Disziplin. Der Aufstieg der Gouvernementalität hat sowohl makro- wie mikropolitische Dimensionen. Auf einer makropolitischen Ebene verlängert sich die Verlagerung von der Disziplinierung der Einzelkörper zur Regierung ihrer Umräume in den 6 | Foucault, 2004a, S. 102f. 7 | Ders.: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1999, S. 46. 8 | Vgl. zu Foucaults vitalistischer Prägung, die in der deutschen Rezeption lange Zeit unterbelichtet blieb, sowie zur Kritik von Agambens grob entstellender Foucault-Adaption: Muhle, Maria: Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem. München 2013.

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Versuch, eigenständige künstliche Umwelten zu entwerfen. Zur Gouvernementalisierung gehört daher wesentlich das Bestreben, im Verbund mit der technischen Entwicklung umweltliche Prozesse und Umgebungen simulierbar, transportabel und schließlich selbstorganisierend zu machen. Indes wird erst das 20. Jahrhundert – speziell mit der Entwicklung der kybernetischen Technologien – die Mittel perfektionieren, mit denen sich umweltliche Bedingungen in immer neuen Tiefenschichten explizieren und künstlich generieren lassen. Exemplarisch mag man hier an die Extremmöglichkeit der Raumfahrt denken, mit deren Kapseln ja nicht einfach disziplinierbare Einzelkörper ins All geschossen werden, sondern der Umraum dieser Körper selbst. Mit Blick auf das 21. Jahrhundert hingegen wäre zu fragen, wie diese Dynamik sich in der Genese »smarter« Umwelten fortsetzt, wie sie sich in steuerungstechnischen Phänomenen wie den berüchtigten algorithmischen »Filterblasen« und »Bubbles« niederschlägt, und auch wie die Sujets von Klima, Wetter und generell die Atmosphärenforschung in sie eingebunden sind. Doch wie Foucault zeigt, beginnt die gouvernementale Macht eben schon im 18. Jahrhundert, einen somatischen Werdensgrund zu regieren, in dessen endlose Verzweigungen konturierte Einzelkörper eingebettet sind und der sich jenseits panoptischer Sichtfelder rhizomatisch ausbreitet. Auf einer mikropolitischen Ebene wiederum entsprechen der neuen Macht Subjektivierungsprozesse und Selbstverhältnisse, die sich als dynamisches Rückkopplungsgeschehen innerhalb der gouvernementalen Environmentalität entfalten. Schon deswegen unterlaufen sie die unflexibleren Paradigmen von Gesetz und Disziplin weiträumig, in deren Koordinaten sie denn auch nicht mehr beschreibbar, geschweige denn kritisierbar sind. Tatsächlich hatte Foucault die Bedeutung dieser anderen Subjekt-Logik bereits am Ende von In Verteidigung der Gesellschaft erkannt, ohne sie richtig situieren zu können (was auch den Punkt bezeichnet, an dem diese Vorlesung »ins Schwimmen« geriet). Dennoch fand er auch dort schon eine aufschlussreiche Beschreibung: Diese neue Technik der nicht-disziplinären Macht lässt sich nun – im Gegensatz zur Disziplin, die sich auf den Körper richtet – auf das Leben der Menschen anwenden; sie befaßt sich, wenn Sie so wollen, nicht mit dem Körper-Menschen, sondern dem lebendigen Menschen, dem Menschen als Lebewesen, und letztendlich, wenn Sie so wollen, dem Gattungs-Menschen. Genauer gesagt versucht die Disziplin die Vielfalt der Menschen zu regieren, insofern diese Vielfalt sich in individuelle, zu überwachende, zu dressierende, zu nutzende, gegebenenfalls zu bestrafende Körper unterteilen läßt. Die neue Technologie dagegen richtet sich an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw. 9

Ab dem Folgejahr wird Foucault die Unterscheidung eines souverän-disziplinären Körper-Menschen und eines gouvernementalen Gattungs-Menschen weiter ausarbeiten. Ersterer erscheint jetzt als »Vertragssubjekt«, wie es in den Theorien von Hobbes und Rousseau reüssiert: ein Subjekt, das mit juristischen Formen zusammenhängt und das »die Negativität akzeptiert, […] das in einem gewissen Sinne 9 | Foucault, 1999, S. 286.

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seine Spaltung akzeptiert«10. Sein wesentlicher Existenzmodus kann folglich als ein Sein in Vertragszusammenhängen bestimmt werden, die in sich aufgrund ihrer sprachlich-symbolischen Konstitution notwendig inkonsistent bleiben müssen. Den Gattungs-Menschen hingegen bezeichnet Foucault mit Bezug auf die Empiristen Hume und Locke nun als »Interessensubjekt«, das sich in einem »Bereich unbestimmter Immanenz« bewegt.11 Sein Existenzmodus lässt sich als Spielart eines Seins in nicht-symbolischen Relationen auffassen, deren Vorgängigkeit gegenüber den Vertragsformen überall dort sichtbar oder auch zur tragenden Form wird, wo die Bindekraft symbolischer Kodifizierung und disziplinärer Einklammerung nicht (mehr) vorausgesetzt werden kann. Tatsächlich wird, wie Foucaults Analyse zeigt, nach 1945 die Logik dieses Gattungs-Menschen mit aller Macht in den Vordergrund treten, während das bürgerliche Zeitalter rückwirkend als Zeit des Kräftemessens der beiden gleichsam nebeneinander herlaufenden Subjekt-Logiken erscheint. Dabei werden der historische Siegeszug der neoliberalen Gouvernementalität und die volle Entfaltung der kontrollgesellschaftlichen Bedingungen die Prozessualitäten des Gattungsgrundes in »Humankapital« überführen, während das Interessenssubjekt der Empiristen ein unheimliches Double in Gestalt des »Unternehmers seiner selbst« findet, der die diversen umweltlichen Vektoren, die ihn von Geburt an als relationales Milieu umgeben, als kreativ auszubeutendes Potential zu begreifen lernt. Von diesem Punkt aus will ich nun zu meiner theatertheoretischen Pointe kommen. Denn meines Erachtens prägt sich in den unterschiedlichen Logiken von Interessens- und Vertragssubjekt, von Gattungs- und Körper-Mensch exakt das antike Doppel von Chor und Protagonist in moderner Gestalt aus. Anders gesagt bezeichnen Souveränität und Disziplin zwei verschiedene Zugriffsweisen auf das protagonistische Einzelwesen. Gegenstand der gouvernementalen Macht hingegen sind all jene immanenzlogisch zu beschreibenden Relationen, die sich jenseits des symbolisch organisierten Feldes erstrecken und die als solche mit den differentiellen Erscheinensbedingungen der Körper- bzw. Vertragssubjekte selbst zu verknüpfen wären. Dass diese Formation aber in der Tat mit dem Erbe des antiken Chores koinzidiert, wird schon dann deutlich, wenn man sich Foucaults Analysen der Pastoralmacht zuwendet, die zunächst im Christentum unter dem Vorzeichen der Transzendenz aufgenommen wird und aus der später die Gouvernementalität hervorgeht. Wo sie auf orientalische Einflüsse verweist, hat sie etwa dieselben geographischen Vektoren wie der Chor; gleichzeitig gehören zu ihr Praktiken der Katharsis und der (Auto-)Affektion, die gerade für die Rolle des Chores im Gefüge der Tragödie von Bedeutung sein werden. Und generell gilt, dass die Pastoralmacht in nomadischen Organisationsformen wurzelt: Sie erstreckt sich zunächst auf umherziehende Herden und Populationen ohne souveränitätslogisch eingegrenzten, besiedelten Boden. Die These ist also, dass das relationale Sein des Gattungs-Menschen auf der Ebene des Theaters mit den Möglichkeiten chorischer Darstellung übereinkommt. Allerdings lässt sich das erst dann adäquat erkennen, wenn man den Begriff der Darstellung nicht mehr repräsentationslogisch beschränkt, also immer schon als eine »Darstellung von etwas« konzipiert (die sich dann von ihrem notwendigen 10 | Foucault, 2004b, S. 377. 11 | Ebd., S. 381.

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Scheitern her denken ließe), sondern ihn immanenzlogisch wendet: als Praxis der Bezugnahmen innerhalb jener umweltlichen Geflechte und differentiellen Gefüge, in denen sich protagonistische Auftritte allererst vollziehen können.12 Um das plausibler zu machen, will ich zuerst auf Elfriede Jelinek verweisen, deren Stücke vielfach als herausragendes Beispiel für ein genuin chorisches Theaterschreiben unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts diskutiert worden sind. Aus Platzgründen kann ich lediglich an eine wichtige poetologische Notiz Jelineks erinnern, die den Status dessen betrifft, was Jelinek in ihren Theatertexten nach wie vor als »Figur« versteht. So hält sie im Vorwort zu Ulrike Maria Stuart 2005 fest: Das muß also so inszeniert werden, daß die Figuren quasi neben sich selbst herlaufen, daß eine Differenz erzeugt wird, und zwar von ihnen selbst. Es steht nicht der reine Mensch vor uns, sondern seine Absonderung und seine Absonderlichkeit, wie Gestank, der ihn umweht […].13

Tatsächlich könnte man Foucaults Definition der Gouvernementalität auch derart umformulieren, dass diese sich bevorzugt um den Gattungs-Gestank kümmert, der die Einzelwesen umweht wie wolkige Dunstschichten mit unscharfen Rändern. Jelineks Schreiben aber dürfte die umfassendste Analyse derartiger Dunstschichten sein, die das Theater der Gegenwart kennt – und ebendas dürfte ihre chorische Signatur bedingen. Damit geben Jelineks Stücke aber auch eine mögliche Antwort auf die Frage, wie Kritik auf der Ebene eines »Seins in Relationen« aussehen kann: Man kann sagen, dass Jelinek in einer letztlich unabschließbaren Herkulesarbeit all die Besetzungen und Instrumentalisierungen nachzeichnet, die an diese Relationen von außen herangetragen werden. Interessanterweise erinnert ihre Poetik damit genau an jene Praktiken der Selbstsorge, die Foucault etwa an den Schreibübungen der Stoiker und sogar an bestimmten christlichen Traditionen nachvollzieht.14 Denn letztlich gelten all diese Sorgeübungen nichts anderem als einer Verteidigung der »Immanenz der Zwecke« gegenüber ihren äußeren Codierungen und »Territorialisierungen«. Der Konnex zwischen antikem Chor und gouvernementaler bzw. pastoraler Macht ließe sich weiterhin am Beispiel kanonischer Tragödien illustrieren.15 Im Rahmen dieses Aufsatzes will ich indes nicht auf ein Theaterstück, sondern auf einen philosophischen Dialog der klassischen Antike eingehen – nämlich auf Platons Phaidros. Diese Wahl mag in mehrerer Hinsicht überraschen. Ich treffe sie hier 12 | Vgl. hierzu auch Marita Tataris Habilitationsschrift Kunstwerk als Handlung (München 2017), speziell S. 192-195. 13 | Jelinek, Elfriede: Ulrike Maria Stuart, in: dies., Das schweigende Mädchen/Ulrike Maria Stuart. Zwei Theaterstücke. Hamburg 2015, S. 7-149, hier: S. 9. 14 | Vgl. neben zahlreichen Ausführungen in Foucaults Vorlesung Hermeneutik des Subjekts (Frankfurt a.M. 2004) seinen Aufsatz »Über sich selbst schreiben«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980-1988. Frankfurt a.M. 2005, S. 503-521. Zur genaueren Lokalisierung von Jelineks Schreiben in diesem Kontext möchte ich auch auf die Forschungen von Jasmin Degeling verweisen. 15 | Ausführlich tue ich das im Rahmen meiner Habilitation mit dem Titel Chor-Denken. Sorge, Wahrheit, Technik.

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aber, weil ich noch einmal genauer zeigen will, wo eine Analyse von Gouvernementalisierungsprozessen die Koordinaten textueller Theorien überschreitet. Schließlich ist Derridas Lektüre des Phaidros in Dissemination von 1972, die ausführlich die Thesen zum Logo-, Phono- und Phallozentrismus der abendländischen Geschichte entwickelt, einer der wirkmächtigsten Referenztexte dekonstruktiver Theoriebildung.16 Dabei knüpfe ich an dieser Stelle nicht nur an Foucaults 1984 anhand von Platons Siebtem Brief entwickelten Alternativvorschlag zu diesen Thesen an, sondern auch an eine aufschlussreiche Kritik der Derrida’schen Phaidros-Lektüre durch Wolf Kittler.17 Derridas berühmte Lektüre konzentriert sich auf den hinteren Teil des Phaidros, in dem Sokrates das Verhältnis von Schrift und Stimme unter repräsentationslogischen Vorzeichen diskutiert. Entlang dieser Diskussion spannt Derrida seine Thesen zur abendländischen Abwertung der Medialität der vermeintlich sekundären Schrift zugunsten des Phantasmas einer selbst-präsenten Stimme sowie zum notwendigen Scheitern dieses Abwertungsversuches auf. Mit besonderer Aufmerksamkeit für Platons Gebrauch des Begriffs pharmakon analysiert er die jeweiligen Supplementbeziehungen zwischen Sprache und Schrift, Vater und Sohn, platonischer Idee und sophistischer Rhetorik, vermeintlich reinem Ursprung und kontaminierender sekundärer Größe etc. In sich selbst ist diese Analyse vollständig konsistent; und auch ihre theaterwissenschaftlichen Adaptionen, die das niemals einhegbare Spiel der Schrift und der Bedeutungsproduktion auf das Potential des Theaters bezogen, jedwede eindeutige Darstellung zu ruinieren (bzw. anfänglich ruiniert zu haben), sind in sich schlüssig. Der entscheidende Kritikpunkt liegt an anderer Stelle. Allerdings lässt er sich schon bei einem oberflächlichen Blick in Phaidros kaum übersehen. Derrida entwickelt den Gedanken von der Schrift als pharmakon vor allem in einer ausgedehnten Analyse des sogenannten Mythos von Theuth, dessen Erzählung und Ausdeutung die Schrift-Debatte des Phaidros beschließt.18 In der Tat bündelt dieser Mythos, der von der Erfindung der Kulturtechnik Schrift durch den Gott Theuth sowie ihrer Zurückweisung durch den König bzw. Vatergott Thamus handelt, sämtliche Fäden, die sich um das supplementäre Sprache-Schrift-Verhältnis ranken. Allein: Als Eröffnung dieser Diskussion wird im Phaidros von Sokrates noch ein ganz anderer Mythos erzählt, der innerhalb des Dialogs als deutliches Gegengewicht zum Theuth-Mythos fungiert. Es handelt sich um den sogenannten Zikaden-Mythos 19: Sokrates, der mit Phaidros im Schatten einer Platane vor der Polis Platz genommen hat, berichtet dem in der Mittagshitze und durch den Gesang der Zikaden schläfrig werdenden Phaidros von der Entstehung dieser Tiere. Sie seien einstmals Menschen gewesen, die die Geburt der Musen miterlebten und infolgedessen so sehr vom Gesang hingerissen waren, dass sie darüber Essen und 16 | Vgl. Derrida, Jacques: Dissemination. Wien 1995, S. 69-190. 17 | Vgl. Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Frankfurt a.M. 2009, speziell S. 322f.; sowie Kittler, Wolf: »Aphrodite gegen Ammon-Ra. Buchstaben im Garten des Adonis, nicht in Derridas Apotheke«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Stadt, Land, Fluss. Medienlandschaften (= Archiv für Mediengeschichte, 7). Weimar 2007, S. 193-211. 18 | Vgl. Platon: Phaidros, 274c-275b. 19 | Vgl. ebd., 258e-259d.

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Trinken vergaßen und starben. So verwandelten sie sich in die Zikaden, die keine Nahrung benötigen, sich aber unentwegt dem Singen hingeben können und dabei auch die Menschen zur Poesie, zur Musik und zum angeregten Dialog zu inspirieren wissen. Gerade im halbbewussten Zustand der drückenden Mittagshitze und der körperlichen Müdigkeit vermögen die musizierenden Zikaden nun offenbar eine Berührung zwischen Menschen- und Musensphäre zu vermitteln, ohne die auch die Schriftdebatte des Phaidros nicht zustande käme: »Reden also wollen wir«, sagt Laches, nachdem Sokrates ihm den Mythos erzählt hat.20 Mit anderen Worten: Diese Zikaden sind konnektive Affektmedien, die innerhalb der Ökonomie des platonischen Dialogs dem repräsentationalistischen Verhältnis von Sprache und Schrift noch einmal als äußere Bedingung vorgelagert sind. Es ist nun frappierend, dass der so akribische Leser Derrida diesen ersten, einleitenden und einräumenden Mythos zugunsten der umso ausführlicheren Lektüre des Theuth-Mythos vollständig ausblendet. Frappierend vor allem, weil Phaidros extrem sorgfältig komponiert ist und den Zikaden-Mythos dem Theuth-Mythos nicht nur vorlagert, sondern rückwirkend als umfassende Ausgangsbedingung des gesamten philosophischen Dialogs kenntlich macht. Denn schon ganz zu Beginn des Phaidros äußert sich Sokrates bewundernd über den Zikaden-Gesang, der sich mit den Geräuschen des Mittags, der sommerlichen Luft und dem Schatten der Platane vor der Polis vermischt und als solcher ein singuläres räumliches – mit Deleuze/Guattari könnte man sagen: ein »maschinisches« und »asignifikantes« – Gefüge bildet, in dem das Philosophieren über das pharmakon sich allererst zu entwickeln vermag. Für das Thema des Chores ist das sogar besonders aufschlussreich, denn Sokrates spricht explizit vom »Chor der Zikaden« (tōi tōn tettígon chorōi)21. Und in der Tat berichtet der Mythos der singenden Zikaden und der Musen von nichts anderem als von einer chorischen Stimm-Praxis, die aber keine ideelle phoné meint, sondern eine somatische (Auto-)Affektion. Sokrates macht diese Affekt-Praxis aber auch als Gedächtnis-Praxis kenntlich, verbindet sie also mit Techniken der Einschreibung. Und auch diese, ebenfalls als »nicht-signifikant« qualifizierbare Schreib-Praxis unterscheidet sich deutlich von dem im Theuth-Mythos diskutierten Schriftbegriff, den Derridas Lektüre in isolierter Form verhandelt. Darum ist in meinen Augen Kittler zuzustimmen, der ob dieser Einseitigkeit festhält: »Diese Praxis, deren technische Bedingungen Derrida selbst im Fall Artauds, wo es dringend nötig wäre, nie zur Sprache bringt, ist der blinde Fleck seiner Grammatologie.«22 Insgesamt scheint es mir nun legitim zu sagen, dass die supplementären und pharmazeutischen Beziehungen von Sprache und Schrift mit dem protagonistischen Feld und seinen inneren Aporien übereinkommen – was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass diese Beziehungen auch mit den inneren Unmöglichkeiten der Vater-Sohn-Ketten und stammbaumförmigen Genealogien koinzidieren, mit denen die Protagonisten der Tragödien (und Komödien) immer wieder zu kämpfen haben. Das Affektmedium des Zikaden-Chores hingegen führt auf das umweltliche Milieu, in dem diese letztlich souveränitätslogischen Beziehungen als sekun20 | Vgl. ebd., 259d. 21 | Ebd., 230c. In einer Seitenbemerkung erwähnt Derrida (1995, S. 77) diese Chor-Bemerkung des Sokrates sogar, um sie dann nie wieder aufzugreifen. 22 | Kittler, 2007, S. 209.

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däre Form eingebettet sind. Für Derridas Analyse bedeutet das, dass sie als Ganze noch einmal in dieses äußere Feld eingezogen und gleichsam in die »Immanenz der Welt« (Deleuze) zurückgefaltet werden müsste. Und zwar umso mehr, als die gouvernementale Macht in der Moderne damit beginnen wird, ebenjene Relationen zu explorieren, für die Platons Zikaden-Chor ein Beispiel gibt – und die sich im Vokabular von Schrift und Signifikanz insofern nicht hinreichend thematisieren lassen, als sie dort für gewöhnlich lediglich unter dem Aspekt ihrer Unzugänglichkeit unter repräsentationslogischen Vorzeichen reüssieren. Die Foucault’sche »Kunst, nicht dermaßen regiert« zu werden, stellt sich aus dieser Perspektive als Sorge um ebendiese chorischen Relationen und die mit ihnen resonierenden Affekte dar.

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Reenactment ist keine Rekonstruktion, sondern das Aufbrechen von Ereignissen Stefan Hölscher

Im Folgenden sollen Überlegungen zu einem Konzept von Reenactment unternommen und dieses vom Begriff der Rekonstruktion unterschieden werden. Dabei werden Reenactments in einem ersten Schritt entlang Michel Foucaults frühen Vorlesungen Über den Willen zum Wissen von 1970/71 als Destabilisierung von Ereigniskonstellationen und deren Rahmung in Tatsachenordnungen verstanden, um dann in einem zweiten Schritt an seinen Forschungen zu Les Vies parallèles, besonders dem programmatischen Aufsatz Das Leben der infamen Menschen, exemplifiziert zu werden. Den Fokus bildet die ästhetische Theatralität des Reenactments, ein Als-ob, dessen prekärer Status deshalb auf dem Spiel steht, wenn es um das kritische Potential von Reenactments geht, weil in ihnen unklar bleibt, als was genau sich Ereignisse zeigen und wie sie als primär sinnliche sekundär intelligibel sind, wenn sie durch die Maschen der Tatsachen fallen. Hierbei wird Kunst von Ästhetik unterschieden: Während Kunst im traditionellen Sinne die Herstellung von Dingen meint, stellt Ästhetik zunächst nichts her, sondern wirft zunächst nur einen anderen Blick auf bereits Vorhandenes.1 In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren kursierte ein häufig zitiertes Schlagwort in der Theaterwissenschaft: das der Rekonstruktion. Es ging damals um die Kritik an der durch Vertreter der Performance Studies wie Peggy Phelan in Umlauf gebrachten Annahme, dass Performance Art sich in erster Linie durch Ephemeralität auszeichne, also als Zeitkunst nicht nur in der Zeit stattfinde, sondern auch in ihr vergehe, ohne Spuren zu hinterlassen: »Defined by its ephemeral nature, performance art cannot be documented (when it is, it turns into that document – a photograph, a stage design, a video tape – and ceases to be performance art).«2 Diesem Standpunkt liegt die Prämisse zugrunde, dass das Ereignis der Performance in ihrer vor einem Publikum stattfindenden Aufführung liege. Ausgeklammert werden können so nicht nur Zeugnisse, die mit ihm zusammen1 | Die in dem vorliegenden Beitrag entfalteten Gedanken verdanken ihre Entstehung nicht zuletzt zahlreichen Diskussionen und gemeinsamen Lektüren, die zwischen 2014 und 2017 im Teilprojekt »Mindere Mimesis« der DFG-Forschergruppe Medien und Mimesis stattgefunden haben. Der Autor dankt insbesondere Friedrich Balke, Hanna Engelmeier und Maria Muhle für den regen Austausch während dieser Zeit. 2 | Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance. London/New York 1993, S. 31.

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hängen – welche neben denen seiner Dokumentation auch solche umfassen, die unmittelbar zu seiner Entstehung beigetragen haben: Notizbücher, Probenhefte, Videoaufzeichnungen u.s.w. –, sondern auch das Problematische am Ereignis, das auf räumliche Kräfteverhältnisse zwischen Körpern und ihr gegenseitiges Einwirken aufeinander sowie auf ihre Genealogie verweist, in deren Rahmen sie zuallererst Form annehmen.3 Wenn wir uns also, anstatt nach dem Was zu fragen, den Bedingungen und Modalitäten der Ereignisse, ihrem Wie, widmen, wird zum Problem, was zuvor deren Kern war. Dann kann es auch im Hinblick auf künstlerische Werke nicht länger darum gehen, deren Ephemeralität zu feiern. Hierin hatten in durch die Performance Studies geprägten Diskursen bis zum Aufkommen der Rekonstruktionsdebatten viele das widerständige Potential von Performance gesehen: einer allumfassenden Dokumentation und Verdinglichung vermittels im Raum bewegter und sich in der Zeit entziehender Körper entgehen zu können. Gerald Siegmunds Position ist symptomatisch für die Kritik an einer solchen Kritik.4 Siegmund macht Wiederholung stark, um darauf hinzuweisen, dass auch Aufführungen aus Spuren bestehen, was Phelans Fetischisierung des Ereignisses im Sinne einer Präsenz, deren Ephemeralität es zu privilegieren gälte, problematisch erscheinen lässt. Vielmehr müsse es darum gehen, in der Aufführung etwas zu sehen, das auf Dokumenten und letztlich in der Partitur einer symbolischen Ordnung begründet ist, die im Rahmen der Aufführung immer unvollständig und annähernd rekonstruiert werde. Das hier umrissene Konzept des Reenactments zielt allerdings in eine andere Richtung als ein solches – dekonstruktiv geprägtes – Verständnis von Rekonstruktion. Es geht von der Annahme aus, dass Ereignisse mehr sind als das, was sich von ihnen in einem diskursiven Rahmen zeigt, und verweist auf etwas, das zwar festgehalten sowie in bestimmte Macht- und Wissensnetze eingespannt wurde, durch sein Reenactment jedoch aufgebrochen wird.5 Durch ein so verstandenes Reenactment tritt das Unausschöpf bare am Ereignis zutage. Bereits kurz nach der im Rahmen seiner Professur für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France gehaltenen Antrittsvorlesung6 definiert Michel Foucault, ganz anders als z.B. Jacques Derrida 7, ein Ereignis folgendermaßen: 3 | Einen guten Überblick bzgl. der Diskussionen zu verschiedenen Ereignisbegriffen im Pariser Milieu der 1960er und 1970er Jahre verschaffen Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, und Rölli, Marc (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München 2004. 4 | Vgl. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. Bielefeld 2006. 5 | Während Derrida den Logozentrismus von innen heraus zu dekonstruieren versucht und dabei trotz aller Abstandnahmen Heidegger durchaus nahe steht, geht es dem ›glücklichen Positivisten‹ Foucault nicht nur um Wissen, Macht und Subjekte. Von seiner frühen Unterscheidung zwischen Tatsachenordnungen und Ereignissen bis zu seinen späten Attacken gegen die Methode der Dekonstruktion insgesamt entwickelt sich sein Denken geradezu in Abkehr von Heidegger. Vgl. Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Berlin 2012, sowie Sarasin, Philipp: Darwin und Foucault. Frankfurt a.M. 2009. 6 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 2000. 7 | Vgl. zu Derridas Ereignisbegriff exemplarisch ders.: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2003.

Reenactment ist keine Rekonstruktion, sondern das Aufbrechen von Ereignissen

Es erstreckt sich hierhin und dorthin und hat zahlreiche Köpfe. Unter einem Diskursereignis verstehe ich kein Ereignis, das in einem Diskurs oder einem Text stattfände, sondern ein Ereignis, das zerstreut ist zwischen Institutionen, Gesetzen, politischen Siegen und Niederlagen, Forderungen, Verhaltensweisen, Revolten und Reaktionen. 8

In seiner allerersten Vorlesungsreihe auf dem Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme, Über den Willen zum Wissen von 1970/71, führt Foucault das Problem der Wahrheit genealogisch auf von Persien ins antike Griechenland importierte Reinigungspraktiken zurück und spricht von der in diesem Geiste entstehenden Systematik aller Diskurspraktiken, »die weder logischer noch linguistischer Natur«9 und erstens »durch die Abgrenzung eines Objektbereichs«10, zweitens »durch die Definition einer für das Erkenntnissubjekt legitimen Perspektive«11 sowie drittens »durch die Festlegung von Normen für die Entwicklung von Konzepten und Theorien«12 bestimmt ist. Weil sie an auf Reinheit abzielenden Wahrheitsregimen teilhaben, sind Diskurspraktiken ihm zufolge immer auch Ausschließungs- und »Zwangssysteme«13. Seiner Lesart des Ödipus von Sophokles zufolge geht es in der antiken Tragödie weniger um eine Wahrheit des Begehrens denn vielmehr um das Problem der Wahrheit selbst. Foucault stellt hier einen Ereignisbegriff zur Diskussion, der sich den innerhalb von Diskurspraktiken geschaffenen ›Tatsachen‹ gegenüber konträr verhält: »Das Ereignis der Form der festgestellten Tatsache zu unterwerfen, das ist der erste Aspekt der ödipalen Wahrheit.«14 Er weist darauf hin, dass Wahrheitsals Zwangssysteme auf Formationen von Macht und Wissen beruhen, die Netze auswerfen, in welche die Ereignisse eingespannt werden. In einem Vokabular, das wichtige Figuren seiner Studien zu Les Vies parallèles und seines späteren Aufsatzes über Das Leben der infamen Menschen vorwegnimmt, beschreibt er, inwiefern so eine »Machtverteilung im Wissen«15 etabliert wird, zu dem dann »nur Weisheit und Reinheit«16 Zugang gewähren würden. Die Umwandlung des blitzartig aufscheinenden Ereignisses in eine festgestellte Tatsache und der Zugang zur Wahrheit, den nur erhält, wer den nomos achtet, das sind die beiden großen historischen Zwänge, die dem Wahrheitsdiskurs der westlichen Gesellschaften seit Griechenland auferlegt sind, und von der Geburt, der Herausbildung dieser historischen Zwänge erzählt König Ödipus. […] Hier zeichnet sich ein System von Zwängen ab – und jene Determinierung, die den Blitz des Ereignisses unter das Joch der festgestellten Tatsache

8 | Foucault, Michel: Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 197071. Berlin 2012, S. 250. 9 | Ebd., S. 282. 10 | Ebd. 11 | Ebd. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 252. 14 | Ebd. 15 | Ebd. 16 | Ebd.

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zwingt. Sie unterwirft das Erfordernis der universellen, regelmäßig wiederholten Verteilung dem gereinigten und reinigenden Wissen über das unveränderliche Gesetz.17

Vor diesem Hintergrund erweist sich das kritische Potential von Reenactments als etwas, das Wahrheitssysteme destabilisiert, ihre Systematik verunreinigt und das am Ereignis zur Erscheinung bringt, was durch die Maschen der Aufschreib- und Einordnungstechniken gefallen ist. Anders als die Rekonstruktion, derzufolge Ereignisse nur vermittels der Spuren zugänglich werden, die sie in Dokumenten hinterlassen haben, und die deshalb der Logik dessen folgen, was Foucault an anderer Stelle »gelehrige Körper«18 nennt, ist das Reenactment auf den Staub darunter gerichtet. Es wiederholt, was bis dahin nicht das Tageslicht erblickt hat: Sinnliches, das noch nicht intelligibel geworden ist, und einen Himmel der Blitze, nicht der Ideen, wie später hinsichtlich einer ästhetischen Theatralität ausgeführt werden soll. In der Situierung der frühen Vorlesungen seines Freundes zu Wahrheits- als Zwangssystemen bemerkt Daniel Defert, dass es laut Foucault kein Wissen ohne »geregelte Diskurspraxis«19 geben kann, in deren Rahmen ein »ungehemmtes Wuchern«20 der Aussagen begrenzt wird. Auf genau dieses ungehemmte Wuchern und auf ein damit zusammenhängendes Nicht-Wissen jedoch zielt das hier vorgeschlagene Reenactment-Konzept, wobei die Kritik des Reenactments sich, ganz kantianisch, auf die Grenzen der Macht und des Wissens richtet, also auf die Frage, was am Ereignis verschütt gegangen ist, als es zur Tatsache wurde, was abgewaschen wurde bzw. was am Ereignis innerhalb eines Dokuments fortwirkt, ohne selbst dokumentiert zu sein.21 In Foucaults langjährigem Forschungsprojekt über Les Vies parallèles, zu dem neben seinen beiden Büchern über den Hermaphroditen Herculine Barbine sowie über den Mörder Pierre Rivière auch eine gemeinsam mit Arlette Farge publizierte Sammlung von Dossiers zu den zwischen 1728 und 1758 verfassten Bittschriften des französischen Volkes an den König und dessen daraufhin erlassene lettres de cachet gehören, geht es nicht um ›künstlerische‹ Reenactments. Dennoch spielen in ihm, das betont er in Das Leben der infamen Menschen, der 1977 in Les Cahiers du chemin veröffentlichten Zusammenfassung seines Anliegens, ästhetische Fragen eine zentrale Rolle.22 Foucault erkennt nämlich in den ihm vorliegenden Dossiers, bei deren Zu-

17 | Ebd., S. 252f. 18 | Vgl. ders.: Überwachen und Strafen. Frankfurt 1977. 19 | Ders.: Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970-71. Berlin 2012, S. 336. 20 | Ebd. 21 | Diesbzgl. sei noch einmal der Abstand zwischen Foucault und Derrida markiert: Während Ersterer in seinen frühen Vorlesungen auf dem Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme das Ereignis außerhalb des Machtwissens ansiedelt, lässt sich seit dem Streit der beiden über Foucaults Lesart des Wahnsinns bei Descartes in Wahnsinn und Gesellschaft Zweiterem zufolge nur innerhalb des Logos von ihm sprechen. 22 | Achim Geisenhanslüke hat darauf hingewiesen, dass Foucault in Das Leben der infamen Menschen zwar die Dokumente, die seinen Untersuchungsgegenstand bilden, explizit nicht als Literatur im Besonderen und Kunst im Allgemeinen verstanden wissen will, aber bei seiner Beschäftigung mit ihnen dennoch in erster Linie ein ästhetisches Anliegen verfolgt. –

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sammenstellung ihn sein »Geschmack«23 geleitet habe, eine »Schönheit dieses klassischen, in wenigen Sätzen um zweifellos elende Gestalten herum gewickelten Stils«24, welche die des als Literatur klassifizierten Schreibens in seinen Augen sogar noch übertrifft. So beurteilt er die vielen Selbst- und Fremdrepräsentationen der Infamen (›Unberühmten‹) und Infimen (›unendlich Kleinen‹) nicht allein im Spannungsfeld verschiedener Diskursformationen, in die das in ihnen thematisierte Abweichen von der Norm und das Fehlverhalten Einzelner eingespannt sind und die dadurch zu Vorläufern der sich Mitte des 18. Jahrhunderts von unten nach oben anbahnenden Strafgesellschaft werden, sondern viel mehr noch aufgrund der Tatsache, dass sie auf die ›Intensität‹ vergangener Leben verweisen, die in Vergessenheit geraten wären, wäre es nicht zu ihrer (unglücklichen) Begegnung mit der Macht gekommen. Foucaults Anthologie ›paralleler Leben‹ ist deshalb zwischen der Ordnung der Tatsachen und der Unordnung der Ereignisse angesiedelt, weil er einerseits die sie beweisenden Dokumente historisch und machtanalytisch situiert, sie andererseits jedoch für sich selbst sprechen lässt: »Und da Gefahr bestand, dass sie überhaupt nicht in die Ordnung der Ursachen eingehen, da mein Diskurs unfähig war, sie zu tragen, so wie es notwendig gewesen wäre, war es da nicht das Beste, sie in genau der Form zu belassen, in der ich sie erfahren hatte?«25 Zwar fügt er sie nicht als Belege oder Fußnoten in einen sie umschließenden Text ein, dennoch versammelt er die ›parallelen Leben‹ in einem neuen Kontext und führt sie einer ästhetischen Theatralität zu. Das Als-ob, das hier auf dem Spiel steht, verunsichert die Beziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem, weil offen bleibt, wofür steht, was zunächst nur eine ›intensive‹ Wirkung auf den Betrachter ausübt. In Anspielung auf Kant ließe sich sagen, es sei eine Wirkung ohne Begriff oder festschreibenden Zugriff auf sie.26 Sowohl in seinen Büchern Der Fall Pierre Rivière – Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz (1973) und Über Hermaphrodismus – Der Fall Barbin (1978) als auch bzgl. der Sammlung an Dossiers in Familiäre Konflikte – Die ›Lettres de cachet‹ (1982), das er gemeinsam mit Arlette Farge verfasst, entscheidet sich Foucault dazu, seine Position als Sprecher und Kommentator bzw. seine Funktion als Diskursanalytiker weitestgehend hinter die von ihm ausgegrabenen Zeugnisse zurückzustellen, um sie in ihrem Eigenwert und in ihrer ihn anziehenden ›Intensität‹ so zu belassen, wie er sie vorgefunden hat. Anstatt sie in den Rahmen seines Denkens und seines Redens über sie einzufügen, zieht er es vor, sie mit ihrer eigenen Stimme sprechen zu lassen. Indem er sie als ready-mades behandelt und nicht ›künstlich‹ rahmt – also von Tatsachenordnungen fernhält, um so ihre ›unordentliche‹ Wirkung zu bewahren –, reenacted er sie. Lange Zeit habe ich daran gedacht, sie in einer systematischen Anordnung zu präsentieren, mit einigen grundsätzlichen Erklärungen und auf eine Weise, dass sie ein Minimum an hisVgl. Geisenhanslüke, Achim: Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit. München 2014. 23 | Foucault, Michel: »Das Leben der infamen Menschen«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 3: 1976-1979. Frankfurt a.M. 2005, S. 310. 24 | Ebd., S. 311. 25 | Ebd., S. 312. 26 | Vgl. Kant, Immanuel: »Kritik der Urteilskraft«, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 2. Essen 2000, S. 17-288, hier: S. 44.

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torischer Bedeutung zum Ausdruck bringen könnte. Ich habe darauf […] verzichtet […]; ich habe mich entschlossen, ganz einfach nur eine Anzahl von Texten der Intensität wegen zu versammeln, die sie mir zu haben schienen; ich habe ihnen einige Vorbemerkungen mitgegeben, und ich habe sie so verteilt, dass die Wirkung eines jeden – meiner Meinung nach so wenig schlecht wie möglich – bewahrt wird. 27

In Foucaults Haltung gegenüber dem von ihm bearbeiteten Material bzw. dem Verhältnis zwischen ihm und den in den Dokumenten niedergedrückten, »unendlich kleinen«28 Leben, »denen es beschieden war, unterhalb jedes Diskurses zu vergehen«29, zeigt sich deshalb eine ästhetische Theatralität, weil es hier um ein Als-ob geht, dessen Bezugspunkt zwar zutiefst instabil, aber auch nicht mit der Exorbitanz etwa des Signifikanten gleichzusetzen ist. Obwohl Foucault sich seinem Material unter ästhetischen Gesichtspunkten nähert, soll seine »Anthologie von Existenzen«30 Bezüge zur Wirklichkeit aufweisen: »nicht nur, dass sie sich darauf beziehen, sondern dass sie darin operieren; dass sie ein Stück in der Dramaturgie des Wirklichen sind«31. Foucault plädiert hinsichtlich seiner parallelen Leben für eine »Lyrik des Zitats«32 und legt die Regeln offen, denen er gefolgt sei, während er sich mit »Lebensgedichte[n]«33 und der Erstellung einer »Legende der unauffälligen Menschen«34 befasste. Neben seinem Anliegen, das von ihm gefundene Material nicht zu bearbeiten bzw. in es einzugreifen oder es umzuformen, sondern es zu reenacten, lauten deren erste und letzte, »dass es sich um Personen handelt, die wirklich existiert haben«35, und »dass aus dem Schock dieser Worte und dieser Leben noch für uns eine bestimmte, aus Schönheit und Schrecken gemischte Wirkung entsteht«36. Neben seinem Interesse an einer Analyse des Zugriffs der Macht und des Wissens auf die unscheinbaren Existenzen der zunächst nur in den und durch die lettres de cachet aufsteigenden und erstmals Sichtbarkeit erlangenden Leben fühlt er sich von der schieren Unmöglichkeit ihrer vollständigen Klassifizierung und von der Art und Weise angezogen, wie von ihnen Zeugnis abgelegt wurde, nämlich in einer Sprache, die in mehrerlei Hinsicht unangemessen ist. Die gemeinen Formulierungen der Bittschriften sind ebenso unangemessen, weil sie dem hohen Ton des Königs nacheifern, dabei aber gemein bleiben, ohne seinen Glanz auch nur annähernd zu erreichen, wie sie unstimmig sind, weil sie eine unüberbrückbare Kluft zwischen den in ihnen geschilderten, oft durchaus brutalen Taten und deren Registrierung in der artikulierten und gewollt ›feinen‹ Rede der Ankläger offenbaren. In einer ganzen Reihe von Merkmalen, welche die Unmöglichkeit einer Entsprechung von Ereignis und Tatsache miteinander teilen, zeichnet sich so ein 27 | Foucault, 2005, S. 312. 28 | Ebd., S. 311. 29 | Ebd., S. 315. 30 | Ebd., S. 310. 31 | Ebd., S. 314. 32 | Ebd., S. 312. 33 | Ebd., S. 313. 34 | Ebd., S. 316. 35 | Ebd., S. 313. 36 | Ebd.

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prekäres Als-ob ab, das Foucault ihnen zugesteht, obwohl er sie gerade deshalb von dem, was als Kunst intendiert und klassifiziert ist, abgrenzt und darauf besteht, sie als ready-mades behandeln zu wollen. Unstimmigkeit zwischen den berichteten Dingen und der Art und Weise, wie sie gesagt werden; Unstimmigkeit zwischen denen, die klagen und flehen, und denen, die über sie alle Macht haben; Unstimmigkeit zwischen dem winzigen Bereich der aufgeworfenen Probleme und dem ungeheuren Aufwand an eingesetzter Macht; Unstimmigkeit zwischen der Sprache der Zeremonie und der Macht und der der Wut oder der Ohnmacht. 37

Neben seiner Beschäftigung mit dieser ästhetischen Problematik stellt er 1977 in Das Leben der infamen Menschen, zeitgleich zum Beginn seiner Vorlesungen über Die Geschichte der Gouvernementalität am Collège de France, die These auf, dass der fließende und sich von unten nach oben anbahnende Übergang von souveränen zu disziplinären und biopolitischen Machtformen in der Sattelzeit um 1800 vonstatten ging, weil es bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Nachahmung des Königs durch sein Volk kommt. Derart wird die souveräne Macht »zugleich zum Objekt der Begehrlichkeit wie zum Objekt der Verführung; sie ist also begehrenswert, und dies in eben dem Maße, wie sie absolut furchtbar ist«38. Obwohl die Bittschriften des Volkes explizit den König adressieren, treten mit ihnen implizit Ereignisse auf, die sich an alle gleichermaßen richten, und zwar an irgendwen und jedermann. Ereignisse lösen sich dann aus der Tatsachenordnung, wenn Worte und Gesten ihre Empfänger verfehlen und von jemandem aufgegriffen werden, der sie wie Foucault von ihrem Funktionszusammenhang abhebt und behandelt, als ob sie Kunst wären. Ihr Gewordensein ist dann wichtiger als ihr Gemachtsein: Im Kontext des zeitgenössischen Theaters wäre hier bspw. zu diskutieren, inwiefern sich die Adaption des ready-mades für die Bühne durch Rimini Protokoll und die sich als Reenactment verstehende Praxis von Milo Rau (die im hier vorgeschlagenen Sinne Rekonstruktionen und eher gemacht als geworden sind sowie mehr für die Ereignisse sprechen als ›sie selbst‹ sprechen lassen) unterscheiden oder inwiefern die Arbeiten von Omer Fast in den Museumsraum importieren, was hier ästhetische Theatralität genannt wird. Durch seine ästhetische Betrachtung wird in Das Leben der infamen Menschen jedenfalls etwas mehr als Literatur, obwohl es weniger als Literatur ist, indem es auf dem Weg zu seinem Adressaten vom Weg abweicht. Die unscheinbaren Existenzen und winzig kleinen Leben werden nämlich nicht nur den Zugriffen der Macht dargeboten, sondern zeitigen ungewollt ihre Wirkung auf Beliebige. Einerseits tragen die Bittschriften des Volkes an den König zum Entstehen der kommenden Strafgesellschaften bei, andererseits initiieren sie aufgrund ihrer ästhetischen Theatralität auch Inszenierungen des profanen Lebens, wie es sich am Rande des Diskurses abspielt. Die Banalität des Alltäglichen steigt nach oben und überschreitet die Schwelle des Sichtbaren, so dass zwar die Macht in Form des souveränen Blicks Zugriff auf sie erhält, sie aber auch jedem anderen, zufällig auf sie geworfenen Blick (wie über 200 Jahre später dem Foucaults) dargeboten ist. Entweder wird das Leben des Kleinen so zum Gegenstand der Macht – »sie wird durch ein feines, differenziertes, kontinuierliches Netz gebildet werden, 37 | Ebd., S. 327. 38 | Ebd., S. 324.

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in dem die verschiedenartigen Institutionen der Justiz, der Polizei, der Medizin und der Psychiatrie einander ablösen«39 –, an der auch die Literatur als Institution teilhat, oder es wird einem ästhetischen Blick zuteil, der eigentlich gar nicht an ihm interessiert ist und es nicht höher als bis zur unruhigen Oberfläche der Ereignisse, unterhalb der Tatsachenordnung, aufsteigen lässt und gerade deshalb eine ›Schönheit‹ in ihm sieht. Das Unangemessene unangemessen und das Unstimmige unstimmig sein zu lassen hieße demnach, einem Konzept von Reenactment nachzugehen, das die Ereignisse an den Grenzen der Macht und des Wissens situiert. Ebenso wie das Unberühmte und das unendlich Kleine in ihrer ›Intensität‹ etwas sind, das zwar innerhalb der Raster des Machtwissens erscheint, von dem aber mehr erscheint, als in ihm aufgehoben werden kann, sind nach Foucault auch Ereignisse nicht auf Tatsachen reduzierbar. Zwar bedarf es, um die Differenz zwischen Tatsache und Ereignis erfahrbar zu machen, einer künstlerischen Rahmung wie bspw. der Szene des Theaters, hierfür wichtiger aber noch als seine Zurichtung ist das Ereignis in seiner Rohheit. Für ästhetische Theatralität bedarf es eines Blicks, der das Sichtbare seinen Klassifizierungen entreißt und das Sagbare destabilisiert. Nun ist es aber bezeichnenderweise so, dass Foucault sich in seiner Beschäftigung mit den lettres de cachet gerade denjenigen Fällen zuwendet, die mit ›Ungeheuerlichkeiten‹ oder ›Schandtaten‹ zu tun haben und gerade nicht mit dem gemeinen Leben in seiner radikalen Bedeutungslosigkeit, das den König nicht weiter tangieren würde. Es ist zunächst notwendig, dass es zu einem Abfall von der Norm und zu einem Fehlverhalten kommt, damit er sich einschaltet. Obwohl die Bittschriften gemeinsam haben, die in ihnen geschilderten Ereignisse um den Körper des Königs herum zu zentrieren und über ihn als Mittler an das sich zu dieser Zeit herausbildende moralische Pflichtgefühl aller zu appellieren, werden in ihnen dennoch Leben erzählt und Schicksale sichtbar, die in ihrer Unordnung die sie vereinende Souveränität überfordern. Im Spannungsfeld zwischen einer Nachahmung der souveränen Macht durch die untersten Schichten seines Volkes einerseits (»Der politische Diskurs der Banalität konnte nicht anders als feierlich sein«40) und deren auf dem Spiel stehender ästhetischer Theatralität andererseits liest Foucault die lettres de cachet als Symptom eines umfassenderen gesellschaftlichen Umschwungs, der sich im 18. Jahrhundert abspielt. Zunächst wird durch sie das winzig Kleine, Mindere und vormals Unbedeutende überhaupt nur für den König und seinen Beamtenapparat sichtbar, und obwohl sich ein Netz feiner Beziehungen zu erheben beginnt, in das die Ereignisse zukünftig eingespannt sein werden, sind sie erst dann auch einem gemeinen Blick zugänglich, wenn spätere Leser wie Foucault sie aus den Archiven herausholen und von ihrem Zweck erlösen. An diesem Punkt besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Kunst und dem Netz anderer Machtbeziehungen, mit denen sie verflochten ist. Die Bittschriften richten sich an den König und das moralische Pflichtgefühl aller, Kunst jedoch richtet sich an niemanden. Auf diese Differenz weist Foucault auch hin, obwohl er gleichzeitig eine Komplizenschaft zwischen Literatur und dem Zwang, sogar noch das unendlich Kleine bedeutsam machen zu müssen, vermutet und dabei nicht seinen eigenen Blick auf das Material thematisiert.

39 | Ebd., S. 328. 40 | Ebd., S. 326.

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Ich möchte damit nicht behaupten, dass die ›lettre de cachet‹ den Ursprung unerhörter literarischer Formen darstellen würde, sondern dass in der Wende des 17. und des 18. Jahrhunderts die Bezüge zwischen dem Diskurs, der Macht, dem alltäglichen Leben und der Wahrheit auf eine neue Art geknüpft wurden und darin auch die Literatur eingebunden war. 41

Während er die Literatur auf Seiten der Macht ansiedelt, schlägt er vor, seine Sammlung von Anklageschriften als Novellen zu lesen, und konstatiert am Ende seines Aufsatzes: »Weder ›Quasi-‹ noch ›Unter-Literatur‹, ist sie noch nicht einmal der Ansatz zu einem Genre; sie ist in der Ordnungslosigkeit, im Lärm und in der Pein die Arbeit der Macht an den Leben, und der Diskurs, der daraus entsteht.«42 Dass also die zuvor unbedeutenden Dinge in den von ihm ans Tageslicht geholten ready-mades eine theatrale Gestalt annehmen, ist ästhetisch zu verstehen, was in diesem Rahmen aber wie genau dem Blick des Königs – und gerade nicht dem Blick von irgendwem – dargeboten wird, bringt eine Serie an Klassifizierungsrastern mit sich, die ihn bald überflüssig machen und seine Macht in die Institutionen von Justiz, Medizin, Polizei und Psychiatrie übergehen lassen werden. Wenn hingegen Literatur, wie Foucault vorschlägt, an diesem ›Zwangsdispositiv‹ teilhat, stellt sich die Frage, wie sie sich, genau wie andere regelpoetisch definierte Künste und die Idee von Kunst im Allgemeinen, von der Ästhetik abgrenzen lässt, die im Gegensatz dazu weniger Dinge herstellt denn vielmehr einen besonderen und interesselosen Blick auf sie wirft, der sie von ihren Adressaten, Klassifizierungen und Zwecken loslöst, um sie jedermann und irgendwem als von Tatsachen befreite Ereignisse darzubieten. Anders als die Rekonstruktion, die in Tatsachen gefangene Ereignisse zu rekonstruieren versucht, zielt das Reenactment, so wie es hier vorgestellt wurde, auf die Grenze selbst zwischen der Ordnung der Tatsachen und der Unordnung der Ereignisse, auf das Gewitter zwischen Sinnlichem und Intelligiblem. Die Grenzen der Macht anzuvisieren und dorthin zu schauen, wo Sinnliches noch nicht intelligibel gemacht bzw. unter Begriffe gebracht worden ist (Blitze spielen bei Foucault vom Früh- bis zum Spätwerk immer wieder eine wichtige Rolle), dies kann Ästhetik besser leisten als Kunst, weshalb es bei Letzterer vielleicht mindestens so sehr um Offenheit fürs Material wie um dessen Bearbeitung oder die Herstellung von künstlerischem stuff gehen sollte. Aus den vorangegangenen Ausführungen könnte demnach klar geworden sein, dass es bei dem in ihnen entfalteten Konzept von Reenactment um eine ästhetische Anschmiegung an diejenigen Seiten des Ereignisses geht, die nur in ihrer Diffusion und Streuung erfahrbar werden und dadurch, dass sich das Subjekt einem unbestimmten Objekt gegenüber öffnet. Arlette Farge hat für das kritische Potential eines solchen Verständnisses von Reenactment und das Auf brechen von Ereignissen durch ästhetische Theatralität treffende Worte gefunden: »Es handelt sich eben um jenen Überschuss an Leben, der das Archiv überschwemmt und den Leser im Intimsten herausfordert. Das Archiv ist immer dann Exzess des Sinns, wenn sein Leser Schönheit, Betroffenheit und einen gewissen affektiven Stoß verspürt.«43

41 | Ebd., S. 329. 42 | Ebd., S. 332. 43 | Farge, Arlette: Der Geschmack des Archivs. Göttingen 2011, S. 29.

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Krisen der Kritik und die Chance der Affirmation Über die Bejahung von Instabilitätserfahrungen in Kunst und Theorie Martina Ruhsam Spätestens seit der Jahrtausendwende befinden sich kritische Theatermacher*innen und Choreograph*innen insofern in einer Krise, als die – großteils in den sechziger und siebziger Jahren entwickelten – kritischen künstlerischen Arbeitsmethoden zu Leitprinzipien neoliberaler Unternehmen geworden sind. Die künstlerische Kritik dieser Zeit wurde unter anderem von den Soziologen Ève Chiapello und Luc Boltanski sogar beschuldigt, als Inspirationsquelle für den Neoliberalismus fungiert zu haben. In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus 1 (1999) haben Chiapello und Boltanski die Forderungen der »Künstlerkritik« in den späten sechziger und siebziger Jahren nachgezeichnet: Weniger Entfremdung, mehr Selbstbestimmung, weniger Unterdrückung und Bevormundung durch Autoritäten, mehr Flexibilität und Mitbestimmungsrecht etc. Boltanski und Chiapello behaupten, dass die von der »Künstlerkritik« geforderte Autonomie und Flexibilität der Arbeiter*innen jedoch langfristig gesehen mit schrumpfenden Sicherheitsgarantien und Sozialleistungen bezahlt wurden. Ihrer Interpretation zufolge ist der Abbau von Sozialleistungen in Betrieben und Unternehmen nicht als Reaktion auf verschärften Wettbewerb und Konkurrenzdruck zu verstehen, sondern vielmehr darauf zurückzuführen, dass es dem Kapitalismus gelungen ist, viele Vertreter*innen der »Künstlerkritik« (vor allem der 1968er Generation) oder zumindest deren Argumente zu vereinnahmen und die vormaligen Kritiker in kapitalistische Unternehmen zu integrieren. Dies führte wiederum dazu, dass die Anliegen der »Künstlerkritik« (wie etwa der Wunsch, sich in der Arbeit selbst verwirklichen zu können) sukzessive realisiert wurden und große Transformationen im Inneren der Betriebe auslösten. Diese Veränderungen gingen jedoch, so Boltanski und Chiapello, mit einer weitreichenden Stillstellung der antikapitalistischen Kritik und einem Abbau von Sicherheit schaffenden Sozialleistungen einher. Ihrer Darstellung zufolge ist es also paradoxerweise so, dass Forderungen, die in den späten sechziger Jahren aufgrund eines Distanzierungsbedürfnisses von spezifisch organisierten, kapitalistischen Arbeitszusammenhängen formuliert wurden, später in den kritisierten Betrieben umgesetzt wurden.

1 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003.

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Abgesehen von der »Künstlerkritik« skizzieren Boltanski und Chiapello die »Sozialkritik« als zweite große kritische Bewegung dieser Zeit, die vor allem mehr Gleichheit, soziale Absicherung und Solidarität einforderte und sich somit den Autoren zufolge radikal von der »Künstlerkritik« unterschied. Außerdem wurde die »Sozialkritik« von einer anderen Klientel hervorgebracht und adressierte eine andere Zielgruppe als die »Künstlerkritik«. Während sich Student*innen und Kreative eher mit der »Künstlerkritik« identifizierten, sprach die »Sozialkritik« vor allem Arbeiter*innen mit Niedriglöhnen in traditionellen Industrien an.

D ie K ritik der künstlerischen K ritik bei B oltanski und C hiapello Eine der grundlegenden Thesen von Boltanski und Chiapello ist, dass die von den Autoren sogenannte »künstlerische Kritik« und die »soziale Kritik« inkompatibel sind. Denn während die erste, die sich in den achtziger Jahren Vertreter*innen des Showbusiness, der Medienindustrie, der Finanzwelt etc. angeeignet haben, auf Authentizität, Freiheit und Autonomie pochte, beanspruchte die letztere Gleichheit, Solidarität und Sicherheit.2 Chiapello und Boltanski kommen sogar zu dem Schluss, dass die »künstlerische Kritik« nicht notwendig war, denn ihrer Meinung nach haben die Errungenschaften der Arbeiterbewegung gezeigt, dass entscheidende Veränderungen von der sozialen Kritik allein ausgehen können. Ich halte die Darstellung und Kritik dessen, was Chiapello und Boltanski als »Künstlerkritik« bezeichnen, für simplifizierend und stimme mit ihrer Skizzierung der Anliegen kritischer Künstler*innen dieser Zeit nicht überein. Ich bin der Meinung, dass es zumindest frag- oder diskussionswürdig ist, ob die künstlerische Aktivität in den sechziger und siebziger Jahren tatsächlich ein Modell für den Neoliberalismus bereitstellte – wie Boltanski und Chiapello es behaupten. Abgesehen davon ist es problematisch, divergente künstlerische Projekte und Praktiken unter dem Begriff der »Künstlerkritik« zusammenzufassen und damit eine Homogenität zu suggerieren, die es im künstlerischen Feld nicht gegeben hat. Darüber hinaus schließe ich mich dem Einwand Stefan Nowotnys in Bezug auf die Kritik der »Künstlerkritik« bei Boltanski und Chiapello an, nämlich dass dieser eine Auffassung von Kritik zugrunde liegt, die das Vorhandensein einer Distanz zwischen dem kritisierenden Subjekt (oder den kritisierenden Subjekten) und dem kritisierten Objekt voraussetzt. Da Nowotny jedoch davon ausgeht, dass wir in die Umstände, die wir kritisieren, involviert sind, hält er eine klare Distanzierung von diesen für unmöglich.3

2 | Maurizio Lazzarato erkennt in dieser Gegenüberstellung »eine Neuauflage der Opposition von Freiheit und Gleichheit, Autonomie und Sicherheit«, die ihm zufolge aus einer anderen Epoche stammt. Lazzarato, Maurizio: »Die Missgeschicke der ›Künstlerkritik‹ und der kulturellen Beschäftigung« (übersetzt von Stefan Nowotny), http://eipcp.net/transversal/0207/ lazzarato/de vom 13. Sept. 2016. 3 | Vgl. Nowotny, Stefan: »Immanent Effects: Notes on Cre-activity«, in: Gerald Raunig/Gene Ray/Ulf Wuggenig (Hg.), Critique of Creativity: Precarity, Subjectivity and Resistance in the ›Creative Industries‹. London 2011, S. 9-23, hier: S. 14.

Krisen der Kritik und die Chance der Af firmation

Auch Maurizio Lazzarato kritisiert die Darstellung der »Künstlerkritik« bei Boltanski und Chiapello vehement. Ihm zufolge ist es vielmehr die Auffassung des Individuums als Humankapital oder als Unternehmer seiner selbst – wie es Foucault in Die Geburt der Biopolitik 4 bezeichnet hat –, die die Grundlage für den Aufstieg des Neoliberalismus darstellte und das als Kompetenzmaschine wahrgenommene Subjekt zunehmend zum Produkt der eigenen Arbeit werden ließ. Lazzarato schreibt: Was von den Individuen verlangt wird, ist nicht, die Produktivität der Arbeit sicherzustellen, sondern die Rentabilität eines Kapitals (ihres eigenen Kapitals, eines Kapitals, das von ihrer eigenen Person nicht getrennt werden kann). Der oder die Einzelne muss sich selbst als Kapitalfragment betrachten, als molekulares Bruchstück des Kapitals. Die ArbeiterIn ist kein einfacher Faktor der Produktion mehr, das Individuum ist genau genommen keine »Arbeitskraft« mehr, sondern ein »Kompetenzkapital«, eine »Kompetenzmaschine«. 5

In den neunziger Jahren wurde die Unternehmerfigur in allen Sparten etabliert – auch in der Kunst. Außerdem wurde spätestens von diesem Zeitpunkt an Kreativität ein ökonomischer Wert zugesprochen – sowohl in den Wirtschaftswissenschaften als auch in der Managementliteratur – was unter anderem zu dem fulminanten Aufstieg des Wirtschaftssektors der Creative Industries führte. Die zunehmende Anzahl kreativer Selbstunternehmer*innen erhöhte den Druck zur Durchsetzung auf dem kompetitiven Arbeitsmarkt, geprägt durch Selbstdisziplin, eine totale Mobilisierung des Selbst und maximale Identifikation mit der eigenen Arbeit, die den Ethos der talentbasierten Ökonomie darstellt. Selbst in Berufen, die den Performing Arts fern stehen, nahmen junge Leute zum Teil an Coaching- und Fortbildungskursen teil, in denen sie Techniken der Selbstdarstellung erlernen und Präsentationsfähigkeiten erwerben konnten.6 Die Form der kulturellen und ökonomischen Gouvernementalität, die sich hier abzeichnete, besteht darin, dass das Subjekt unaufhörlich einem kreativen, performativen und produktiven Imperativ ausgesetzt ist. So erhält die Frage nach der »Kunst, nicht derart regiert zu werden«, die Foucault in Was ist Kritik?7 stellte, im aktuellen sozioökonomischen Kontext 4 | Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Berlin 2006. 5 | Vgl. Lazzarato, Maurizio: »Die Missgeschicke der ›Künstlerkritik‹ und der kulturellen Beschäftigung«, http://eipcp.net/transversal/0207/lazzarato/de vom 13. Sept. 2016. 6 | Vgl. Raunig/Ray/Wuggenig, 2011, sowie McRobbie, Angela: »Die LosAngelesierung von London. Drei kurze Wellen in den Kreativitäts- und Kultur-Mikroökonomien von jungen Menschen in Großbritannien«, http://eipcp.net/transversal/0207/mcrobbie/de vom 3. Sept. 2016: »Wenn Kunst und Kultur per se zum Kristallisationspunkt für Kapitalisierung werden (die Logik des Spätkapitalismus, wie die berühmte Formulierung von Frederic Jameson lautet), wenn die Kultur ganz allgemein zum absoluten Imperativ der Ökonomiepolitik und Stadtplanung wird, wenn die Kunst derart instrumentalisiert wird, dass sie ein Modell für Arbeitsleben und Arbeitsabläufe wird, und wenn die Regierung, wie im Jahr 2001, ein Grünbuch mit den Worten ›Jeder ist kreativ‹ eröffnet, dann wird offensichtlich, dass das, was in der Vergangenheit für das Tüpfelchen auf dem I gehalten wurde, sich heute in eine der wichtigsten Zutaten des Kuchens verwandelt hat.« 7 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992.

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eine spezifische Bedeutung. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der kreativen Selbstunternehmer*innen im »Performance-Kapitalismus« (Boyan Manchev)8 in Europa und Amerika zeichnen sich durch prekäre Arbeitsbedingungen, ausgedehnte Arbeitszeiten und die Transformation der Freizeit in eine Zeit aus, die zur Selbstoptimierung genutzt werden soll.9 Zahlreiche Theoretiker*innen haben sich in den letzten zwanzig Jahren daran abgearbeitet, diese Entwicklungen zu analysieren und aufzuzeigen, dass vormals kritische künstlerische Praktiken und Methoden ihr kritisches Potential aufgrund der Vereinnahmung durch den Kapitalismus verloren haben: Kollaboration, Partizipation, der Fokus auf den Arbeitsprozess und nicht nur auf das künstlerische Produkt, Flexibilität, Mobilität, Kreativität, Selbstverantwortung, Autonomie und so weiter – all das sind Merkmale des neuen organisatorischen Paradigmas postfordistischer Unternehmen und taugen deshalb kaum zur Kritik derselben. Wenn jedes künstlerische Projekt, das im Kontext von Institutionen oder Festivals gezeigt wird, immer schon im Verdacht steht, vom Kapitalismus vereinnahmt zu sein oder zu werden, wie sind dann (kapitalismus-)kritische Arbeitsweisen noch möglich? Anstatt mich auf den kritischen Befund, dass widerständige künstlerische Praktiken aufgrund der Aneignung durch den Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sind, zu konzentrieren, stelle ich mir in diesem Text die Frage: Was kann ich inmitten dieser Krise der Kritik (und im Wissen um problematische Verstrickungen) affirmieren? Im Weiteren folgen also keine Antworten auf das letztgenannte Dilemma, sondern Gedanken über affirmative Denkmodelle und das Verhältnis von Kritik und Affirmation.

K aren B ar ad : K ritik als P r a xis der I nvolvierung Im folgenden Abschnitt setze ich mich mit der diffraktiven Methodologie der feministischen Philosophin und neuen Materialistin Karen Barad auseinander, die wertvolle Anhaltspunkte für ein Neudenken dessen anbietet, was wir als kritisch

8 | Vgl. u.a. Manchev, Boyan: »Der Widerstand des Tanzes. Gegen die Verwandlung des Körpers, der Wahrnehmung und der Gefühle zu Waren in einem perversen Kapitalismus«, www. corpusweb.net/der-widerstand-des-tanzes.html vom 22. Aug. 2016. 9 | Einige Künstler*innen im Umfeld des Judson Dance Theatre etwa haben festgestellt, dass sie im New York der 1960er Jahre von ein bis drei Tagen Erwerbstätigkeit leben und die restliche Zeit ihren künstlerischen Projekten widmen konnten, mit denen sie nicht ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Yvonne Rainer hat als Protagonistin der amerikanischen Avantgarde in einem Künstlergespräch im Tanzquartier Wien 2012 darauf hingewiesen, dass sich die sozioökonomischen Arbeits- und Lebensbedingungen von Künstler*innen in den 1960er und 1970er Jahren in New York (Höhe des Einkommens, Höhe der Mieten, Höhe der Sozialleistungen, Verfügbarkeit von günstigen Wohn- und Arbeitsräumen) so stark von den gegenwärtigen Bedingungen unterschieden, dass eine Diskussion künstlerischer Arbeitsweisen nicht ohne die Berücksichtigung dieser Aspekte stattfinden könne.

Krisen der Kritik und die Chance der Af firmation

bezeichnen. Ähnlich wie Bruno Latour10 und Rosi Braidotti11 schlägt Barad eine affirmative Theorie/Praxis vor, wobei sie Affirmation nicht als das Gegenteil von Kritik versteht, sondern sogar eine ethische Aufgabe darin erkennt, Kritik und Affirmation zusammenzudenken.12 Barad versteht Diffraktion – ein physikalisches Phänomen – insofern als eine wissenschaftliche Methode, als sie für das Lesen von Texten differenter Disziplinen durch einander (hindurch) plädiert. Sie selbst kommt aus den Naturwissenschaften und liest etwa Konzepte der Quantenphysik durch die Erkenntnisse der feministischen Theorie hindurch. Über ein transdisziplinäres Zusammendenken statt Abgrenzen bestehender Positionen soll so ein »materiell-diskursives« (vgl. Barad 2007) Verständnis der wirkmächtigen Verschränkungen von Körpern, Sprache, Affekten und Technologien entwickelt und darüber nach neuen Formen – statt nach neuen Subjekten – der Kritik gesucht werden.13

Das Querlesen von Texten verschiedener Disziplinen soll in der Wissenschaft zur Generierung neuer Konzepte beitragen. Eine diffraktive Methodologie beinhaltet also eine affirmative Dimension insofern, als die Intention das Entwerfen neuer (auf die Fragen der Zeit reagierender) Konzepte darstellt, die mithilfe bereits existierender Theorien fabriziert oder auf deren Basis konstruiert werden. (Es ist nicht Ziel einer solchen Methode, sich im Widerlegen oder Verwerfen vorhandener Entwürfe zu erschöpfen.) Zugleich sollen die kontextuellen und theoretischen Differenzen der verwendeten Texte anerkannt werden. Es handelt sich bei Barad also keineswegs um die Affirmation des Status quo, sondern um die Bejahung einer (unvorhersehbaren) kritischen theoretischen Praxis, welche selbst als situierte und materielle Tätigkeit (und nicht als die Aktivität eines körperlosen Subjekts) verstanden wird, die als solche auf positive Weise zur materiellen Rekonfigurierung der Welt beitragen kann. Barads Begriff der Affirmation weist somit Parallelen zu demjenigen von Marcus Steinweg und Wilfried Dickhoff auf, die vorschlagen, Affirmation als eine Bejahung dessen zu denken, was noch nicht ist oder sein könnte.14 In Anlehnung an Barad möchte ich darüber nachdenken, ob Kritik (egal ob es sich dabei um eine künstlerische oder eine wissenschaftliche Praxis handelt) als immanente Praxis der Involvierung und des Engagements verstanden werden 10 | Vgl. Latour, Bruno: »Versuch eines ›Kompositionistischen Manifests‹«, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2 (2013), Nr. 1, S. 8-30. 11 | Vgl. Braidotti, Rosi: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt a.M./ New York 2014. 12 | Vgl. Barad, Karen: »Matter feels, converses, suffers, desires, yearns and remembers. Interview with Karen Barad«, in: Rick Dolphijn/Iris Van der Tuin (Hg.), New Materialism: Interviews & Cartographies. Michigan 2012, S. 48-70; und Barad, Karen: »On Touching – The Inhuman That Therefore I Am«, in: Kerstin Stakemeier/Susanne Witzgall (Hg.), Macht des Materials. Politik der Materialität. Berlin 2014, S. 153-164. 13 | Weibel, Fleur: »Diffraktion. Ein Phänomen, eine Praktik und ein Potenzial feministischer Kritik«, in: Femina Politica 22 (2013), H. 1, S. 108-114, hier: S. 109. 14 | Dickhoff, Wilfried/Steinweg, Marcus: »How can we not philosophize?«, in: Wilfried Dickhoff/Marcus Steinweg/Marius Babias (Hg.), INAESTHETICS. Bd. 4: Philosophy! Berlin 2015, S. 5-12.

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könnte, das heißt: als eine Praxis, die sich sowohl von einer besonnenen Analyse aus einer vermeintlich distanzierten Position wie auch vom reflexhaften Einnehmen einer Oppositions- oder Verweigerungshaltung im Stil von Bartleby (»I would prefer not to …«) unterscheidet. Die Methode der Diffraktion steht nicht nur für Transdisziplinarität, sie geht außerdem von der ontologischen Unbestimmtheit und Instabilität jedes Körpers (egal ob menschlich oder nichtmenschlich) aus. In der klassischen Physik spricht man von Diffraktion (Beugung), wenn eine Vielzahl von Wellen auf ein Hindernis trifft. Durch den Aufprall entstehen neue Wellen, die sich mit den ursprünglichen Wellen überlagern und ein Interferenzmuster hervorrufen. Der Newton’schen Physik zufolge können ausschließlich Wellen ein Diffraktions- oder Interferenzmuster bilden, Teilchen jedoch nicht. Quantenphysiker*innen (und Barad ist eine solche) haben allerdings gezeigt, dass Wellen und Teilchen – abhängig vom experimentellen Apparat – Diffraktionsmuster produzieren können und sich – in Abhängigkeit von der forschenden Person und der experimentellen Einrichtung – entweder wie Teilchen oder wie Wellen verhalten können. Diese Tatsache stellt die Möglichkeit einer generellen, ontologischen Bestimmung (etwa) eines Photons als Teilchen oder als Welle in Frage – beweist sie doch, dass die Eigenschaften des Photons nur im Zusammenspiel mit dem experimentellen Apparat und der forschenden Person im Verlauf des Experiments definiert werden können und nicht a priori oder per se existieren. Die ontologische Unbestimmtheit eines Photons stellt die Grundlagen der klassischen Physik radikal in Frage. Barad entwickelte basierend auf dieser Erkenntnis der Verschränkung von Beobachter*in, Apparat und beobachteter/ emergierender Entität die philosophische Theorie der Intra-Aktion. Während eine Interaktion präexistierende separate Entitäten voraussetzt, welche sich dann im Rahmen einer Interaktion begegnen und sich im Zuge derselben eventuell beeinflussen/verändern, geht Barad davon aus, dass Menschen und Nichtmenschen immer erst aus Intra-Aktionen hervorgehen und nicht als solche präexistieren. Handlungsfähigkeit (agency) ist ihr zufolge demnach nicht im Besitz von Individuen, sondern entspringt ausschließlich spezifischen Verschränkungen und dem Zusammenwirken von Menschen (und Nichtmenschen). Wenn Individuen nicht präexistieren, sondern sich in Intra-Aktionen materialisieren, dann heißt das auch, dass ihre Eigenschaften nicht individuell determiniert werden können. Der von Barad entwickelte agentielle Realismus geht davon aus, dass Individuen innerhalb von Phänomenen leben, welche als Verstrickungen im Sinne einer ontologischen Untrennbarkeit intra-agierender Kräfte definiert werden. It is through specific agential intra-actions that the boundaries and properties of »individuals« within the phenomenon become determinate and particular material articulations of the world become meaningful.15

Diffraktion ist als nichtrepräsentationalistische Methode als ein Gegenmodell zu einem Denken in Spiegelungen und Reflexionen – dem Spiel der Spiegelbilder, wie Barad es bezeichnet – zu verstehen. Als Metapher und Methodologie betont Diffraktion die Verschränkung des Beobachteten und des/der Beobachters/Beobachterin 15 | Barad, Karen: »Intra-actions« (Interview mit Karen Barad von Adam Kleinmann), in: Mousse 34 (Sommer 2012), S. 76-81, hier: S. 77.

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sowie die Verstrickung des Selbst in diversen Apparaten und Dispositiven sowie anderen, wobei es sich dabei um menschliche und nichtmenschliche andere handelt. Diesem Ansatz gemäß ist der/die Kritiker*in im Kritisierten verstrickt, und es gibt keine Position »außerhalb«, von der aus man auf das kritisierte Phänomen blicken könnte. Barad setzt keine Distanz zwischen Subjekt und Objekt voraus, sie geht vielmehr von der Unmöglichkeit einer solchen a priori vorgenommenen und stabilen Grenzziehung aus. Indem sie den Blick auf die Materialisierungen lenkt, die konzeptuelle und praktische Aktivitäten in ihren Verschränkungen sind und hervorbringen, fokussiert sie die spezifische Rekonfiguration der Welt in einer bestimmten Intra-Aktion als Effekt des Zusammenwirkens aller Involvierten. Demnach wären nicht nur diejenigen Künstler*innen kritisch, die sich gegen bestimmte Verhältnisse aussprechen, sondern auch diejenigen, die eine affirmierbare konzeptuell-empirische Situation kreieren, in der (temporäre) Veränderungen stattfinden (können). Sind zeitgenössische künstlerische Performances als Experimente vorstellbar, in denen eine Neugestaltung der Welt erprobt wird, während gleichzeitig die »iterativen materiellen Rekonfigurationen von Macht«16, in die Künstler*innen einbezogen sind und die sie mitkonstituieren, zur Diskussion und in ihrer Instabilität ausgestellt werden? Kritik wäre dann nicht die Praxis des kunstvollen Widerlegens oder Opponierens, sondern mit der Herausforderung verbunden, durch andere Theorien und künstlerische Arbeiten hindurch und mit diesen mitzudenken – mit dem Ziel, neue Möglichkeitsspielräume zu erkennen und zu eröffnen.

N ormal D ance Der Nexus von Kritik und Affirmation, der in den Texten Barads in Bezug auf wissenschaftliche Arbeiten thematisiert wird, kann auch im Hinblick auf künstlerische Performances ausgemacht werden. In der Performance Normal Dance, die von Antonia Baehr gemeinsam mit Valérie Castan, Mirjam Junker, Pia Thilmann und Maya Weinberg choreographiert und am 2. Juni 2016 im Hebbel am Ufer in Berlin uraufgeführt wurde, findet auf den ersten Blick keine Kritik der bestehenden (Gender-)Verhältnisse statt, die über eine gewisse Distanzierung von denselben oder ein »Aufdecken« falscher Normierungspraktiken oder Machtverhältnisse artikuliert werden würde, und dennoch ist die Performance keinesfalls unkritisch. Antonia Baehr, Mirjam Junker und Pia Thilmann – drei langjährige Freundinnen, die sich durch ihr maskulines Aussehen auszeichnen – betreten in Normal Dance abwechselnd eine weiße, quadratische Tanzfläche, um zu tanzen. Mal tanzen sie einzeln, mal zu zweit, teilweise sogar zu dritt oder zu viert, und wer gerade nicht tanzt, verlässt die beleuchtete Tanzfläche und sieht den anderen vergnügt zu. Das Publikum ist an drei Seiten um die Tanzfläche herum plaziert, auf der sich die Performer*innen, die weiße, legere, sportlich anmutende, aber zeitlich nicht einzuordnende Kleidung tragen, bewegen. Die Kostüme uniformieren die Performer*innen nicht, ähneln einander aber vor allem durch die weiße Farbe und in ihrem Stil, der keinem aktuellen Modetrend entspricht. Auf die Wand hinter der Tanzfläche werden Zitate aus Gertrude Steins 1927/28 veröffentlichtem Text Four Saints 16 | Barad, Karen: Verschränkungen. Berlin 2015, S. 202.

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in Three Acts projiziert, die wie die poetischen Titel der einzelnen Szenen wirken. Anfangs bestehen eindeutige Entsprechungen zwischen den projizierten Textfragmenten und der Choreographie, wodurch der Eindruck entsteht, die Zitate würden als choreographische Scores fungieren. Mit zunehmender Dauer des Stücks werden die Projektionen aber eher zu einer Assoziationsfläche ohne direkten Bezug auf das Geschehen auf der Tanzfläche. Außerhalb der weißen Tanzfläche befindet sich die Musikerin Carola Caggiano, die auch als Djane CC Imperatriz bekannt ist und für die Musik des Stücks verantwortlich zeichnet. Hinter einem klassischen DJ-Pult stehend legt sie Platten diverser Musikerinnen auf. Es gibt nur eine Szene im Stück, in dem sie ihre Position verlässt, um mit den drei Performer*innen zu tanzen. Was das Stück, das Antonia Baehr selbst als ihr erstes Tanzstück bezeichnet, zunächst auszeichnet, ist eine Affirmation des Tanzens und eine Bejahung der (uneindeutigen) verkörperten geschlechtlichen Identitäten und der körperlichen Ausdrucksweisen der drei Performer*innen, die keiner normierten sexuellen Identität zugeordnet werden können. Der Titel Normal Dance behauptet eine gewisse Normalität in Bezug auf die dargebotenen Tanzszenen, die für jede der Akteur*innen (sowie potentiell auch für die Zuseher*innen) eine Instabilitätserfahrung mit sich bringen, denn Antonia Baehr, Mirjam Junker und Pia Thilmann stellen sich bei einer Aktivität aus, bei der sie nicht auf ein Spezialist*innenwissen zurückgreifen können. Keine der Performer*innen hat je eine Tanzausbildung absolviert, und zwei von ihnen haben auch kaum Rezeptionserfahrung in diesem Feld. Die Körper der drei Performer*innen entsprechen nicht dem Körperbild professioneller Tänzer*innen, das sich durch ein intensives, physisches Training auszeichnet. Es stellt sich zwar die Frage, ob das Auftreten von Laien in zeitgenössischen Tanzperformances heute nicht tendenziell zu einer neuen Norm wird, ich möchte mich in Bezug auf das Stück hier aber auf folgende Frage konzentrieren: Inwiefern kann Normal Dance als eine Form der kritischen Involvierung oder involvierten Kritik im Sinne einer selbstermächtigenden Affirmation verstanden werden? Antonia Baehr, Mirjam Junker und Pia Thilmann verwirren durch ihr Aussehen, ihre Kostüme und ihre Bewegungsformen stereotype Vorstellungen von Weiblichkeit. Normal Dance ist der Tanz dreier Butches, die offensichtlich das, was sie in diesem Stück darbieten, nicht jahrelang erlernt haben und die sich kaum kulturell etablierten Frauenbildern zuordnen lassen. Normal Dance zelebriert eine Art weibliche Maskulinität oder maskuline Weiblichkeit, die in binären Geschlechtermodellen keinen Platz findet. Die Performer*innen setzen sich und ihre Körper in einem Tanz der Bejahung aufs Spiel, der alles andere als normal ist, und gerade die Proklamation von Normalität in Bezug auf diesen Tanz fungiert als selbstermächtigende Geste, die die Tanzenden mit ihrer uneindeutigen geschlechtlichen Identität nicht als Vertreter*innen minoritärer Positionen markiert, sondern ihre Praxis im Sinne einer selbstdefinierten Normalität ausstellt. Wenn jemand diese Tänzer*innen bzw. diesen Tanz nicht als normal bezeichnet, muss es wohl am Blick des/der Zuschauer*in liegen … Die Performer*innen erheben nicht den Zeigefinger, um auf hegemoniale Normierungspraktiken oder Diskriminierungen zu verweisen, sie experimentieren mit den »materiell-diskursiven onto-epistemologischen Bedingungen der (Un)Möglichkeit des Weltmachens«17. Indem sie die Unterminier- und 17 | Ebd., S. 203.

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Veränderbarkeit von Normvorstellungen verdeutlichen und Perfektion der Freude am Tanzen als einer gemeinschaftlichen Tätigkeit unterordnen, kritisieren sie den verbissenen Fitness- und Selbstoptimierungskult, der in einer konkurrenzbasierten Gesellschaft viele Anhänger*innen hat.

V erschr änkungen , auf die es ankommt Wie ließe sich Barads agentieller Realismus durch Normal Dance hindurch lesen? Diese Frage kann im Rahmen dieses Texts nicht mehr in ihrer ganzen Komplexität erörtert werden. Barads Methode der Diffraktion nimmt nicht nur die Verschränkungen von Disziplinen, Entitäten und Identitäten in den Blick, sondern auch die Verstrickung von Theorie und Praxis. Die Bedeutung der Performance Normal Dance emergiert in der Intra-Aktion der Performer*innen, der Zuseher*innen, des Dispositivs, in dem dieselbe stattfindet, und der Texte der Kritiker*innen. Wenn der Theorie Barads zufolge alle in ein Set-up Involvierten sich (immer wieder) gegenseitig hervorbringen, wobei die Grenzen zwischen Subjekten und Objekten immer wieder neu verhandelt und gezogen werden, dann ist das materiell-semiotische Phänomen Normal Dance untrennbar von den Kritiker*innen, den Zuseher*innen, den Kolleg*innen und denjenigen, die über sie schreiben. Im agentischen Realismus ist Realität nicht unabhängig von unseren Erforschungen von ihr – epistemologisch sowie ontologisch betrachtet. Die Fokussierung auf beides, das Ontologische wie das Epistemologische, ist wesentlich, um innerhalb der Welt verantwortlich zu intraagieren. Wissensprojekte bedingen die Setzung von Grenzen, die Produktion von Phänomenen, die materiell-kulturelle Intraaktionen sind. Das heißt, unsere konstruierten Wissen haben reale, materielle Konsequenzen. Und deshalb fordert Agentischer Realismus direkte Verantwortlichkeit und Verantwortung.18

Das Denken in Verschränkungen und die Anerkennung der Instabilität von Phänomenen und Akteur*innen legen eine Auffassung von Kritik nahe, die sich weniger an der Widerlegung und Verneinung von Praktiken und Aussagen zugunsten der eigenen Positionierung (und Profilierung) orientiert als an dem Interesse für materiell-diskursive Bedingungen, die spezifische affirmative und transformative Aussagen und Praktiken – wie etwa Normal Dance – stützen/ermöglichen. Kritische Performances machen die ontologische Instabilität (des Theaters, der Agierenden, der Zuseher*innen sowie der sie einschließenden Realität) spürbar. Und um zu einem affirmativ-spekulativen Schluss zu kommen: Künstler*innen im Feld der Performing Arts werden unerbittlich daran festhalten, Verschränkungen in ihrer Komplexität aufzuzeigen und minimale Differenzen und Brechungen zu produzieren, um dadurch eine »politische Kreativität zu kultivieren«19, die die kollektive Fähigkeit des Erfindens von Ökologien, Widerstandsformen und »Praktiken

18 | Ebd., S. 50-51. 19 | Ebd., S. 201.

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des Lebens mit Problemen«20 fördert. Denn wie Isabelle Stengers in ihrem Text In Catastrophic Times festgestellt hat: »We have a desperate need for other stories, not fairy tales in which everything is possible for the pure of heart, courageous souls, or the reuniting of goodwills, but stories recounting how situations can be transformed when thinking they can be, achieved together by those who undergo them.«21

20 | In Anlehnung an Donna Haraways Buchtitel Staying with the Trouble (Durham/London 2016). 21 | Stengers, Isabelle: In Catastrophic Times: Resisting the Coming Barbarism. S.l., 2015, S. 132.

Produktion als Kritik Miriam Drewes

Kritik ist, als ein Modus der Beurteilung, ebenso Teil subjektiv geprägter Alltagshandlungen, wie sie Gegenstand wissenschaftlich-systematischer Erörterungen ist. Auskunft darüber geben unterschiedliche Schriften, die sich auch in jüngerer Zeit mit dem Terminus befassen.1 Seit dem 18. Jahrhundert gilt Kritik, zumindest im Kontext der abendländischen Tradition, als eine spezifische Form der Erkenntnis, sie wird als Urteilsvermögen beschrieben. Kritik ist, in diesem Sinne, ohne die Idee des Rationalismus nicht zu denken. Zieht man abseits dieser durchaus vielschichtigen Tradition die rein etymologische Herkunft des Begriffs in Betracht, handelt es sich bei Kritik zunächst aber einmal um nicht mehr als um eine Form der Unterscheidung (etymologisch gr. κρίνειν/krínein: unterscheiden, trennen). Die Form der Unterscheidung setzt dabei grundsätzlich ein »In-Verhältnis-Setzen« voraus, es bedeutet, einen Vergleich, Maßstäbe herzustellen, wobei zunächst noch nichts über die Bewertung der ins Verhältnis gesetzten Bereiche ausgesagt ist. Dass der Modus der Distanzierung und damit der Unterscheidung in irgendeiner Form notwendig ist, um überhaupt ein »Verhältnis« herzustellen, gehört damit zu den Grundkategorien von Kritik. Dieser Modus gilt aus heutiger Sicht, unabhängig von den jeweiligen Werturteilen, denen Kritik unterliegt, bezogen auf Kunstproduktion und -rezeption, unabhängig vom Grad ihrer Formalisierung und Institutionalisierung, er gilt für das kultur- und kunstpublizistische Rezensionswesen, er gilt für die Exegese und Quellenaufarbeitung in der Wissenschaft, er gilt für die alltägliche mündliche Verständigung über den künstlerischen oder Unterhaltungswert von künstlerischen/kuratorischen Produktionen, er gilt für Kritik als »Evaluation« im Sinne eines Arbeitsgesprächs von Projektbeteiligten, die ihre Produktion bewerten, sich darüber verständigen, was gut gelaufen ist oder anders hätte laufen müssen. Kritik setzt also, idealtypisch gesprochen, Distanz voraus. Wer kritisiert, nimmt für sich in Anspruch, den jeweiligen Gegenstand der Kritik aus einer überindividuellen Perspektive, also gleichsam »von außen« zu betrachten. Diese (Selbst-) Verortung wird implizit auch dort vorausgesetzt, wo Künstler als kritische Instanz auftreten, indem sie gesellschaftliche oder politische Ereignisse und Zustände ästhetisch bzw. performativ adressieren. Dieses »Außen« kann sich inhaltlich wie strukturell artikulieren, so dass sich historisch jeweils spezifische Ausdrucksweisen von Kritik als ebenso variabel wie komplex erweisen. 1 | Vgl. u.a. Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009; siehe auch Brugger, Walter: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg i.Br. 2010.

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Vor allem seit den 1960er Jahren versuchten zahlreiche Künstler Kritik nicht nur inhaltlich oder ästhetisch zu formulieren, sondern auch über spezifische Formen der Produktion, über Herstellungsweisen, die sich von den gängigen Routinen absetzen sollten. Die in der Theorie demgegenüber meist eher implizit oder lediglich am Rande verhandelte Konfiguration von Produktion als Kritik soll im Folgenden erörtert werden: Wie manifestiert sich Produktion als Kritik, wo wird sie als Abstandspraxis kenntlich? Und lässt sich über die letzten Jahrzehnte ein Wandel dieser Konfiguration ablesen? Diese Perspektivierung ist auch deshalb von Interesse, weil ihr eine gegenwärtige methodische Konstellation entspricht: So etwa die in den letzten Jahren erkennbare praxeologische Wende in den Kunst- und Geisteswissenschaften (»practical turn«). Durch diese Neu-Perspektivierung werden nicht mehr nur allein die Resultate, die Werke bzw. Aufführungen aus wissenschaftlicher Sicht in den Blick genommen, sondern eben auch ihre Entstehungs- und Herstellungsbedingungen, damit verbundene Diskursivierungen, ihre Materialitäten, die Vielfalt ihrer Entstehungswege sowie die Spuren, die diese hinterlassen.2 Auch diese Entwicklungen sind als Effekt einer bestimmten Form von Kritik aufzufassen, nämlich der vor allem durch poststrukturalistische Theorien forcierten Kritik an teleologischen Narrativen, an Ursprungsmythen und an singulären Kausalbegründungen, die deren Entstehung unbeachtet lässt. Mit der praxeologischen Perspektivverschiebung hat sich poststrukturalistische Kritik, so ließe sich zugespitzt sagen, von der distanzierenden Abgrenzung gegenüber bestimmten Denkmustern der Moderne hin zu einer diskursiven Integration und Anwendung dieser Kritik bewegt. Die Repräsentationskritik in den Wissenschaften hat dabei viele Impulse der Repräsentationskritik in den Künsten – vor allem der Neoavantgarde seit den 1960ern – aufgenommen.3 Nicht zuletzt aus diesem Grund sollen unterschiedliche kritische Distanzbewegungen in der Produktion seit dieser Zeit erläutert werden. Sie erst machen historische (Dis-)Kontinuitäten kenntlich. Meine These dabei ist, dass sich insbesondere im Rahmen von Kunstproduktion das Apriori der Kritik hin zu einer Aporie von Kritik verschoben hat. Dabei gilt es zunächst in Rechnung zu stellen, dass der Begriff der »Produktion« in hohem Maße polyvalent ist. Für den vorliegenden Geltungsbereich aber sind vor allem die drei folgenden Differenzierungen relevant: 1. Produktion in philosophischer Perspektive: Hier ist der Begriff der »Poiesis« zentral. Bereits Aristoteles differenzierte in der Nikomachischen Ethik zwischen Theorie, Praxis und Poiesis, auch wenn er ausdrücklich von Wechselwirkungen zwischen diesen drei Bereichen ausging. Der Begriff der Theorie bezeichnet hier die Form der Erkenntnis, der der Praxis hingegen den Bereich des Handelns, ins2 | Im Rahmen der praxeologischen Wende wurden u.a. Bruno Latours und auch Hans-Jörg Rheinbergers Beobachtungen zur Wissensproduktion ausführlich rezipiert und auf den Bereich künstlerischer und literarischer Produktion übertragen, vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a.M. 2002; Rheinberger, Hans-Jörg: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt a.M. 2006; Gamper, Michael (Hg.): Experiment Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010. 3 | Vgl. Drewes, Miriam: Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz. Bielefeld 2010, S. 98ff.

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besondere als tugendhaftes Tun. Die Poiesis wiederum beschreibt ein herstellendes Tun, etwa die Produktion von Objekten, Gebrauchsgegenständen, aber auch von Kunstwerken. Während das praktische Handeln den Zweck in sich selbst trägt, ist poietisches Handeln zweckgerichtet, es setzt immer schon ein bestimmtes Ziel voraus, das außerhalb dieser Handlung liegt.4 2. Mit Produktion im ökonomischen Kontext wird die Herstellung von Dingen, Objekten, aber auch von Dienstleistungen bezeichnet, kurz, von Waren, die in einen Warenkreislauf eingespeist werden. Produktion ist hier ganz auf das Ziel, das Produkt und damit der Herstellungsprozess, nicht nur, aber hauptsächlich, auf das Utilitaristische abgestellt. In dieses Feld der Bedeutung von Produktion lassen sich nicht nur sämtliche praktisch-ökonomischen Herstellungsformen einbeziehen, sondern auch die wirtschaftswissenschaftlichen, meist anwendungsbezogenen Erörterungen, die sich mit Produktion und Produktionsabläufen befassen, die Politische Ökonomie sowie all jene Formen, die den Kontext und die Schichtungen kapitalistischer (neoliberaler) und anti-kapitalistischer Praktiken und Diskursivierungen umfassen.5 3. Produktion in den Künsten: Das Spezifische von Produktion im Bereich der Künste ist, dass sie Aspekte der beiden oben beschriebenen Dispositive umfasst, sich die Kunstproduktion deshalb zumeist im Spannungsfeld von freier Herstellung und utilitaristischer Zweck-Mittel-Relation befindet, was sich auch darin ausdrückt, dass Kunstproduktion erhebliches Legitimations- und Schaffenspotential aus dem Widerstand gegen jeglichen Utilitarismus (oder doch zumindest aus einem forcierten Inkommensurabilitätsanspruch) bezieht. Widerstand und auch Kritik gegenüber bestimmten utilitaristischen Zweck-Mittel-Relationen wurden seit der Moderne bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem auf inhaltlicher Ebene ausagiert, während, verkürzt gesprochen, Formen des Herstellens und Machens weitgehend camoufliert wurden. Vor allem seit den historischen Avantgardebewegungen wurden kritische Abstandspraktiken auch ostentativ in den künstlerischen Produktionsprozess einbezogen.6 Es handelte sich um eine Repräsentationskritik, die sich auf unterschiedliche Weise artikulierte: etwa, spätestens seit Bertolt Brecht, über Weisen der Distanznahme, die im Zeigegestus liegen und das Funktionieren von Repräsentation vorführen und ausstellen, oder aber über das Ausstellen 4 | Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hamburg 1985. In der Philosophiegeschichte hat die Konstellation dieser Begriffe eine vielfältige Umschichtung erfahren. Von Interesse für eine praxeologische Perspektive ist vor allem eine Lesart, die Dirk Cürsgen in seiner Studie Phänomenologie der Poiesis vorgeschlagen hat. Poiesis beschreibt ihm zufolge eine Form menschlichen Handelns, durch die ein Übergang vom Nicht-Sein zum Sein zustande kommt. Dabei legt Cürsgen besonderen Wert auf den Aspekt des Anfangens aus dem Nichts im Hinblick auf das Mögliche. Im Möglichen finden sich dabei so analoge wie auch unterschiedliche Aspekte des Unentschiedenen, etwa das Unentschlossene oder das Unfertige, also nichtrealisierte Konkretionen, die vor jeder Entscheidung liegen. Vgl. Cürsgen, Dirk: Phänomenologie der Poeisis. Würzburg 2012, S. 44ff. 5 | Vgl. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a.M. 2004. 6 | Als stabil kanonisiert gelten hier vor allem die neoavantgardistischen performativen Praktiken etwa mit Marina Abramović, Chris Burden, Allan Kaprow u.a. Vgl. hierzu u.a. Goldberg, RoseLee: Performance Art. From Futurism to the Present. London 2001.

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von Handlungen als solchen in künstlerischen Aktionen, die, wie bei zahlreichen Performances seit den 1960ern, das Tun »im Hier und Jetzt« in den Vordergrund stellten und damit Produktion und Repräsentation zusammenfallen ließen (wenn auch nur, um damit ebenfalls eine Form der Demonstration von Produktion vorzuführen). Kritik wurde damit nicht mehr nur inhaltlich oder als manifeste Außenposition formuliert, sondern figurierte nun auch über die ostentative Integration in den Produktionsprozess als eine Form des tätigen Unterscheidens im und durch den Produktionsprozess.

K unstproduk tion der späten 1960 er und frühen 1970 er J ahre Während sich die neoavantgardistische Kritik seit den späten 1960er Jahren ästhetisch in der Negation von Repräsentation ausdrückte, in a-kausalen Erzählmustern, in der Absage an psychologische Darstellungsmuster etc., manifestierte sich die Kritik in der Produktion – in vielen Künsten zum großen Teil analog – auf folgende Weise: in der Reduktion der Produktionsmittel (armes Theater, Arte povera), im Verkürzen oder Vermeiden von Arbeitsteilung, in der Dehierarchisierung von Entscheidungsverfahren, in kollektiven, kooperativen und, im Idealfall, transparenten Arbeitsabläufen, ferner, wie oben formuliert, im ostentativen Offenlegen oder Verlegen von Produktionsprozessen in die Arbeiten selbst. Diese Form der Kritik sollte sich schließlich auch über die Verlagerung der Präsentationsstätten aus Museen, Galerien, Theater- und Konzerthäusern heraus in andere, vorwiegend kunstferne Orte mitteilen. Ideell, und das ist trotz aller Trivialität ganz entscheidend, bezogen sich derlei Produktionsweisen – ob implizit oder explizit, ob stark oder schwach – zumeist auf eine (post-)marxistische Kapitalismus- und Konsumkritik, die eben auch eine umfassende Institutionenkritik bedeutete. Diese Form der Kritik versuchten viele Künstler und Kulturschaffende vor allem auch in kollektiven Arbeits- und Gestaltungsprozessen umzusetzen. Die Formulierung: »den Sozialismus [im Verlag] versuchen« 7, beschreibt beispielsweise als Kondensat ziemlich genau das gemeinsame Ziel durchaus unterschiedlicher künstlerischer Produktions- und Arbeitsweisen. Denn vor allem die kollektiven, zumindest ideell jegliche Hierarchie zurückweisenden Arbeitszusammenhänge stehen für Gesellschaftskritik in actu. Sie finden sich im Literaturbetrieb, im Theater, wie etwa der Schaubühne am Halleschen Ufer unter Peter Stein, im Kunstbetrieb, wie etwa dem 1970 gegründeten Hamburger Künstlerkollektiv CO-OP oder dem 1974 gegründeten Münchner Künstlerkollektiv B.O.A.8 Der Sozialismus war hier Antriebskraft und Ziel zugleich. Bemerkenswert aber ist, dass es überhaupt um eine umfassende Theorie-Praxis-Überwindung gehen sollte, für die die künstlerischen Kooperationen nicht nur modellhaft stehen. Louis 7 | Gründungssitzung des Verlags der Autoren 1969. Zitiert nach Dominik Wessely, in: DVD Gegenschuss – Aufbruch der Filmemacher. Studiocanal 2008, TC 00:47:32-00:47:23. 8 | Aktuelle Entwicklungen perspektivierend: Jäger, Dagmar et al. (Hg.): Künstlerische Transformationen: Modelle kollektiver Kunstproduktion und der Dialog zwischen den Künsten. Berlin 2010.

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Althusser etwa, der auch die Theorie als Klassenkampf konzipieren wollte, stellte den Theorie-Praxis-Dualismus bereits auf erkenntnistheoretischer Ebene in Frage. In »Das Kapital lesen« schrieb er: »Es gibt nicht einerseits die Theorie als geistige Schau ohne Körper und Materialität« und andererseits »eine durch und durch materielle Praxis, die dann Hand anlegte«9. Mit anderen Worten, erst die wechselseitige Durchdringung vermag »das System« im Sinne (post-)marxistischer Überlegungen zu revolutionieren. Wie problematisch die Realisation kollektiver Arbeitszusammenhänge im Einzelnen sein konnte, belegt indes nicht nur die Genese der Schaubühne in den 1970ern,10 sondern auch der Verlauf des 1971 gegründeten Filmverlags der Autoren, dessen Akteure die oben benannten Ziele sogar in der seitens der »hohen Künste« generell unter Kapitalismusverdacht stehenden Spielfilmproduktion zur Anwendung brachten. Analog zum »real existierenden« Sozialismus scheiterten derlei kollektive Arbeitszusammenhänge meist an den unterschiedlichen Auffassungen über die praktische Verwirklichung von politisch-ökonomischen Konzepten durch die jeweiligen Akteure.11 Fest steht indes, dass, trotz aller Disparatheit der jeweiligen Vorhaben (und auch trotz ihres späteren Scheiterns) ein klar umrissener Gegenpol auch eine relativ klare Verortung von Kritik in ihrer Außenposition ermöglichte. Ohne diese Konturiertheit wäre die künstlerische Entwicklung womöglich nicht so nachhaltig und weitreichend ausgefallen.

A porie der K ritik Vom Apriori der Kritik zur Aporie von Kritik unterstellt, dass gegenwärtig die Selbstverortung von Kritik als klar konturierbare Außenposition bereits als Denkfigur prekär geworden ist. Kritik als Produktion ist, zumindest was die Kunstproduktion in westlichen Industrienationen angeht, in hohem Maße aporetisch, was nicht heißt, dass die oben beschriebenen kritischen Manifestationen in der Produktion obsolet wären. Im Gegenteil. Die genannten Kriterien der 1960er und 1970er Jahre werden auf unterschiedliche Weise angewendet und variiert, »reenacted«, erweitert, zitiert. Dass Kritik in der Kunstproduktion, anders noch als in den 1960ern bis zu den 1980ern, nicht mehr widerspruchsfrei konzipiert werden kann, ist zunächst auf veränderte Rahmenbedingungen zurückzuführen: Zum einen ist das für weite Teile der Kunstproduktion so zentrale und verlässliche politische Telos des Sozialismus nach dessen Scheitern nicht länger uneingeschränkt utopiefähig. Ge9 | Althusser, Louis: Das Kapital lesen. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 76. Zitiert nach Rheinberger, Hans-Jörg: »Die erkenntnistheoretischen Auffassungen Althussers«, in: Das Argument 94 (1975), S. 922-951, hier: S. 927. 10 | Vgl. Iden, Peter: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1979. München 1990. 11 | Vgl. Drewes, Miriam: »›Unter Wert verkauft‹. Zum diskursiven Verhältnis von Ökonomie und Ästhetik im Autorenfilm der frühen 1970er Jahre«, in: dies./Valerie Kiendl/Lars-Robert Krautschick/Madalina Rosca/Fabian Rudner/Mara Rusch (Hg.), (Dis)positionen Fernsehen & Film. Tagungsbeiträge des 27. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums. Marburg 2016, S. 255-266.

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zwungenermaßen ist damit auch die ehemalige Gewißheit über Ziele und Objekte dieser Gesellschaftskritik erodiert. Kritisch wahrgenommen wird das vor allem in Wohlstandsgesellschaften damit verbundene Sich-Zurückziehen einer politischen Linken auf den Modus einer zwar vitalistischen, aber selbstreferentiellen Daueropposition.12 Eine weitere Rahmung, die den Effekt der Aporie von Kritik produziert, liegt in der durch die oben genannten (poststrukturalistischen) Dehierarchisierungsbewegungen selbst mit angetriebenen grundlegenden Skepsis gegenüber Universalnarrativen. Das damit einhergehende Misstrauen zeigt sich vielleicht nicht als Misstrauen gegenüber bestimmten Gegenständen und Möglichkeiten von Kritik. Aber das Selbstverständnis von Kritik muss nun, eben gerade aufgrund dieser Skepsis, die Kontingenz ehemals als klar konturiert vorausgesetzter, universalistischer oder/und normativer Begründbarkeiten stets mitreflektieren.13 Ein weiterer kunst- bzw. kulturspezifischer Aspekt kommt hinzu: Strukturelle Veränderungen im »System Kunst« haben Status und Ort von Kritik verändert. Postavantgardistische, postdramatische Positionen und Ästhetiken besetzen nicht länger für den kritischen Selbstanspruch notwendige Außenpositionen. Sie sind, wenn auch nicht überall, integraler Bestandteil auch hochkultureller Institutionen. Die Kanonisierung (post-)avantgardistischer Kunst hat zudem dazu geführt, dass in westlichen Industrieländern vielfältige künstlerische Ausdrucksweisen – wenn auch in unterschiedlichem Maß – von staatlicher Förderung profitieren. Zugleich hat sich die Zahl der an sogenannten Quasi-Märkten (z.B. dem Festivalbetrieb) Partizipierenden erhöht, was wiederum zu einem gesteigerten Konkurrenzdruck geführt hat in einem Bereich, der idealiter von ökonomischen Wettbewerbsmaßstäben ausgenommen sein sollte.14 Wie nun aber lässt sich die Behauptung von der Aporie von Kritik genauer fassen? Ein Feld, an dem sich diese Entwicklung exemplarisch beobachten lässt, ist die digitale Online-Kunst- und Performanceproduktion. Digitalisierung und Internet sind seit den 1990ern zu neuen (globalen) Hoffnungsträgern geworden: Gleichberechtigte Teilhabe, die Bildung von Gemeinschaften über gesellschaftliche und nationale Grenzen hinweg und eine transparente, offene Kommunikation reaktivier(t)en vertraute Utopien. Tatsächlich »neu«, bezogen nun auf Produktionsweisen, sind im Rahmen digitaler Netzkultur und -kunst vor allem die Demokratisierung und Schwellenreduktion der Zugangs-, Aktions- und Publikationsweisen, 12 | Vgl. Badiou, Alain: Die kommunistische Hypothese. Berlin 2011; Hirsch, Michael: Logik der Unterscheidung – 10 Thesen zu Kunst und Politik. Hamburg 2015. 13 | Vgl. hierzu die Beiträge in: Elkins, James/Newman, Michael (Hg.), The State of Art Criticism. New York 2007. 14 | Vgl. Koch, Klaus Georg: Innovation in Kulturorganisationen. Die Entfaltung unternehmerischen Handelns und die Kunst des Überlebens. Bielefeld 2014. Selbstredend ist hier zu unterscheiden zwischen den einzelnen Künsten, etwa dem Kunstmarkt, der Kunstwerke auch zur Spekulationsmasse macht, dem Theater, das seinerseits unterschieden werden muss in den traditionell staatlich geförderten Repertoirespielbetrieb (was auch für Konzerthäuser gilt), den Festivalbetrieb und die freie Szene, dem Literaturbetrieb mit eigenen Publikationskonventionen der Verlage und dem Filmsystem, mit einem hybriden Produkt, das als (Kunst-) Ware international zirkuliert.

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eine Vergünstigung der Produktionsmittel. Neu sind auch die Akzeleration von Produktion und ihre Verbreitung, was wiederum eine Annäherung von Produktion und deren Wahrnehmung und eben auch von Kritik bedeutet. Will man hier nicht der pauschalen Unterstellung folgen, mit dieser Entwicklung sei man nun im postkritischen Zeitalter angekommen, Kritik sei reine Attitüde bei der Beobachtung ästhetischer Oberflächenphänomene,15 so ist ein Blick auf unterschiedliche performative Produktions- und Repräsentationsformen digitaler Netzkunst und deren Diskursivierung aufschlussreich. Zunächst haben Formen der Verlinkung und die im und für das Netz hergestellten (Bewegt-)Bilder zu einer weiteren Diffundierung ästhetisch-performativer Ausdrucksweisen, zu einer weiteren Transformation von Gattungsgrenzen geführt (Performance, Bildende Kunst, experimenteller Film, Installation, Amateurfilme etc.), was auch in einer Verschiebung ontologischer Gewissheiten resultierte.16 Das Internet ist, so könnte man formulieren, der Ort, an dem sich diese schon seit den 1960ern virulent werdende Grenzverschiebung in all ihrer Evidenz vollzieht. Dabei wiederholt oder gar »reenacted« auch netzbasierte Kunst herkömmliche Aspekte traditionell kritischer Produktionsweisen der 1960er und 1970er Jahre: Sie nutzt das Internet z.B. als Kritik an konventionalisierten musealen, theatralen oder filmischen Produktions- und Präsentationsweisen, geht aus den Institutionen hinein in den digitalen Raum (z.B. Martin Schick mit X Minutes [seit 2014]; die Performance Rooms der Tate Modern [2012-2016]; The Wrong Biennale [2013, 2015/16]), sie nutzt das Netz als herkömmliche, zugleich aber spezifische Form der selbstreflexiven und interaktiven Genderkritik, etwa indem sie mit der Praxis von Klick und Download arbeitet (Christopher Clary mit The Download. Sorry to dump on you like this. zip [2016]; Body Anxiety [2015], kuratiert von Leah Schrager und Jennifer Chan), oder über die Selbstreflexion von Kunst, indem sie, analog zur Appropriation Art, Funktions- und Repräsentationsweisen des Internet assimiliert und wiederholt (z.B. allein über Algorithmen produzierte Kunst bei den Produktionen der digitalen Gruppenausstellung It’s doing it! [2015/16], über die Imitation von Google Maps mit Indirect Flights [2015] von Joe Hamilton oder die Simulation von Werbeästhetik des Künstlerkollektivs DIS). Produktionsrelevant ist bei vielen derartigen Formen vor allem die demokratische Delegation der Intervention an den Internet-User, der zum Ko-Produzenten avanciert. Doch diese Demokratisierungsbewegungen können auch im Netz keinen egalitären Raum für sich reklamieren, womit auch die Voraussetzung klar konturierbarer Kritik und damit die Plausibilität einer Verortung von Kritik in einem relativ klar umrissenen »Außen« problematisch geworden ist. Denn wie der Kunsthistoriker David Joselit in »Nach Kunst« geschrieben hat, geht es mit der Entwicklung digitaler Netzkultur nicht länger um den Entwurf neuer avantgardistischer Positionen. Vielmehr wird Kunst, gerade über die Explosion von Bildpopulationen 15 | Vgl. Edlinger, Thomas: Der wunde Punkt. Vom Unbehagen der Kritik. Frankfurt a.M. 2015, S. 36ff. 16 | Ulf Otto beispielsweise verweist in seiner Studie »Internetauftritte« auf die Grenzen einer essentialistischen Beschreibung von Theater als leiblicher Ko-Präsenz von Darstellern und Zuschauern. Demgegenüber müsse vor allem Theater in seiner Relationalität und Ausdifferenziertheit untersucht werden. Vgl. Otto, Ulf: Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien. Bielefeld 2013, S. 63ff.

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im Netz, als Währung eingesetzt, ebenso wie auch Politik, Grundbesitz oder Kapital als Währung eingesetzt werden.17 Kunst fungiere demnach nicht mehr als utopisches Regulativ, sondern, insbesondere was den internationalen Austausch angeht, als Form der »kulturellen Diplomatie« sowie als Machtinstrument, Wissen hegemonial zu transportieren, um damit auch die Akkumulation von Finanzkapital etwa über Museen und Kunstinstitutionen demokratisch zu legitimieren.18 Eine damit verbundene Diversifizierung und Amalgamierung von Kritik erschwert so gesehen die genaue Konturierung von Abstandsbewegungen und somit Funktionen und Ziele von Kritik überhaupt.19 Noch entscheidender als Joselits Diagnose dürfte aber sein, was der Internetkritiker Geert Lovink in zahlreichen Publikationen moniert. Die Netz-Utopie von einem transparenten, herrschaftsfreien Raum zog Lovink schon vor einigen Jahren in Zweifel. Zweifel, der nicht nur aus dem Vorbehalt gegenüber der reduzierten Halbwertszeit von Informationen resultiert oder aus der ungefilterten Verbreitung fragwürdiger Meinungsäußerungen, sondern vor allem auch aus der Skepsis gegenüber Providern wie Google oder (Verkaufs-)Plattformen wie Amazon und Facebook, die – für die User unsichtbar – aus den gespeicherten und verkauften Datenprofilen von Benutzern Profit schlagen. Und diese identifizierbar machen. Die User sind nicht länger unabhängige Entscheider. Vielmehr sind sie Adressaten gezielter Angebotslenkung, die über ihr jeweiliges persönliches Bewegungsprofil generiert wird. Lovink misstraut den Versprechungen z.B. sozialer Plattformen, die ebenfalls intransparent und gewinnorientiert arbeiteten und bisher keineswegs zur Behebung der Legitimationskrisen politischer Systeme beigetragen hätten.20 Formen von Zugangsregulierungen, etwa über Facebook in Indien, konterkarieren gar jegliche Möglichkeit von offener Kritik und werden als eine neue Form von Kolonialismus beschrieben.21 Bereits der Präsentationsrahmen netzbasierter Produktion, in der Regel der digitale Marktplatz (Google), ist damit weder wertneutral noch Garant für die Produktion und Verbreitung autonomer Kunst. Es kommt hinzu, dass die durch das Netz induzierte Demokratisierung zwangsläufig zu einer Zunahme divergierender Interessen führt, zumindest zu einer Zunahme ihrer Visibilität. Produktion (als Kritik), die selbst von einem relativ klar konturierbaren Ziel und Gegenstand der Kritik ausgeht (etwa als Kritik an bestimmten Machtpraktiken oder als Kritik an bestimmten ökonomischen Praktiken), die also von der Möglichkeit einer klaren Distanznahme ausgeht, kann konsequenterweise gar nicht anders, als die Wider17 | Vgl. Joselit, David: Nach Kunst. Berlin 2016. Bereits 1974 sprach Peter Bürger von einem Leerlaufen der Ziele der historischen Avantgardebewegungen in der Neoavantgarde. Wie David Joselit schreibt, hat sich die Situation seither nur verschoben bzw. ausgeweitet. Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. 18 | Ebd., S. 89. 19 | Symptomatisch hierfür ist die Aufregung um die Intendanz von Chris Dercon an der Berliner Volksbühne. 20 | Vgl. Lovink, Geert: Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur. Bielefeld 2012, S. 199 ff; siehe auch ders.: Im Bann der Plattformen. Die nächste Runde der Netzkritik. Bielefeld 2017. 21 | Vgl. Lanchaster, John: »You are the Product«, in: London Review of Books 39, 16 (Aug. 2017), S. 3-10, hier: S. 10.

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sprüche, die sie aufzeigen möchte, für die eigene Arbeit mitzukalkulieren und sich dazu zu verhalten. Das aber heißt: Eine ästhetische Strategie, die beispielsweise (netz-)ökonomische Handlungsweisen und Marketingpraktiken nur imitiert oder performativ vorführt, ist defizitär. Auch der Produktionsrahmen muss in diesem Fall mitbedacht werden. Die Schwierigkeit liegt hierbei in der Tat darin, die kritische Distanz, will sie sich am Spiel der providertypischen Aufmerksamkeitsökonomie nicht beteiligen, innerhalb des Webs herzustellen. Sieht man im Ausweg einer Totalverweigerung von Produktion keine sinnvolle Alternative (die letzten Endes das Leben in einer zurückgezogenen Subsistenzwirtschaft nach sich zöge), sollte man sich deshalb, wie Lovink vorschlägt, auf den Aufbau und Betrieb unabhängiger Infrastrukturen konzentrieren, Verschlüsselungen zum Schutz privater Information sicherstellen und »organisierte Netzwerke« (Orgnets) schaffen, die jenseits informationsorientierter Plattformen neue institutionelle Formen der Zusammenarbeit ermöglichen und auf eine stärkere Bindung innerhalb kleinerer Einheiten achten.22 Formen, die, wie Lovink beschrieben hat, im internationalen, offenen Netzwerk von Kulturexperten (»Culturemondo«) umgesetzt oder, unter anderem, im Amsterdamer »Wintercamp 09« am Institute of Network Cultures schon vor einigen Jahren diskutiert wurden.23 Eine demgegenüber bewusste (oder gar gezielte) Verwendung von und Anpassung an (netz-)ökonomische Praktiken bedeutete dann aber bereits auf Produktionsebene nichts anderes, als eine Verstrickung in neue Aporien in Kauf zu nehmen.24 Es bleibt die Frage nach der Möglichkeit von Kritik als Modus der Distanznahme in einer aporetischen Struktur, die in demokratischen Gesellschaften per se begünstigt wird. Bemerkenswerterweise bietet hier die poststrukturalistische Universalismuskritik, die bisweilen von alten und neuen Kulturkritikern als Ausdruck eines Kulturverfalls gescholten wird, eine (philosophische) Hilfestellung: die Aporie selbst eben nicht als Unmöglichkeit, als Sackgasse anzusehen, sondern als Gewinn.

22 | Vgl. Lovink, 2012, S. 201ff. und S. 209ff. 23 | Vgl. ebd., S. 212ff. 24 | So gesehen verweisen sämtliche Performances der »Performance Rooms« der Tate Modern, die ausschließlich für das Netz produziert wurden und durch die gezielte Unterstützung der BMW Group entstanden, auf nichts anderes als das: die Verstrickung in neue Aporien. Hierzu siehe: Drewes, Miriam: »Messen, Tauschen, Weitergeben. Über Wert- und Äquivalenzverhältnisse im Theater der Gegenwart«, in: Géraldine Boesch/Beate Hochholdinger-Reiterer (Hg.), Spielwiesen des Globalen. Forschungen zum Gegenwartstheater (= itw: im dialog, 2). Berlin 2016, S. 67-79.

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Zu den kritikwürdigen und »unhaltbaren Zuständen«1, die im und durch das Theater formuliert werden können, gehören politische, gesellschaftliche und soziale Missstände, die Dynamiken der Unterdrückung aufgrund von Gender, Class und Race sowie ökologische Krisen und ökonomische Bedingungen. Jener Aspekt der ökonomischen Bedingung, der »herrschende Zustand« (Th. W. Adorno) des globalisierten Spätkapitalismus, soll im Folgenden für den Kontext des zeitgenössischen Tanzes diskutiert werden. Dabei ist die Perspektivierung jene, dass das Theater und die Kunst nicht außerhalb des ökonomischen Felds stehen, sondern dass sie Teil der Kontinuität von Arbeitshandlungen und Geldströmen sind und damit auch Teil der bestehenden Machtverhältnisse. Die Frage der Arbeitsbedingungen im Theater wurde in den letzten Jahren zunehmend in künstlerischen Projekten selbst sowie im wissenschaftlichen Diskurs reflektiert. So beispielsweise der prekäre Status von Schauspieler*innen, produktund projektorientierte Arbeitsweisen, hierarchische Strukturen in Theaterinstitutionen oder die Abhängigkeit künstlerischer Entscheidungen vom kommerziellen oder Förderungserfolg.2 In jenen künstlerischen Reflexionen ging es dabei einerseits um die Repräsentation von gegenwärtigen, neoliberalen Arbeitsbedingungen in Handlungen, Stücken oder Narrativen, andererseits um ein In-Szene-Setzen und Sichtbarmachen der eigenen Produktionsbedingungen im theatralen Ereignis.3 In 1 | Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus/Siegmund, Gerald: Theater als Kritik (= Kongresspapier und Call for Papers des Kongresses, Frankfurt a.M. und Gießen, 3.-6. Nov. 2016, www.theaterwissenschaft.de/kongresse/am 17. Aug. 2016). 2 | Exemplarisch Schößler, Franziska/Bähr, Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009; Ruhsam, Martina: Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung. Wien 2010. 3 | Bspw. Arbeiten von René Pollesch, Rimini Protokoll, Stefan Kaegi und Daniel Kötter; sowie Tanzperformances in Ausstellungsräumen, die ein anderes Zeit- und Arbeitsmanagement erfordern, bspw. bei Anne Teresa De Keersmaeker, Tino Sehgal oder Eszter Salamon. Die Frage der Förderanträge (in Kunst und Wissenschaft) reflektierte bspw. das Projekt Das Milieu der Toten von Hannah Hurtzig (Berlin, 2017). Zu weiteren historischen und aktuellen Beispielen auch in anderen Künsten vgl. auch Skrandies, Timo: »Arbeit, Medien, Gelassen-

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den Vordergrund traten dann die Proben- und Produktionsarbeit, die ansonsten in künstlerischen Produkten und Aufführungen unsichtbar bleiben. Im Folgenden soll entlang der Analyse des heute ikonisch gewordenen kollaborativen4 Arbeitsprojekts 6M1L (6 Months, 1 Location) ein solches Sichtbarwerden der Produktionsweise thematisiert werden. 6M1L wurde 2008 im Tanz- und Performancekontext als temporäre Arbeitsgemeinschaft u.a. von Choreograph Xavier Le Roy und Performerin und Theoretikerin Bojana Cvejić verwirklicht. Es wirkte in einem Prozess des Sichtbarmachens, Unterscheidens und Trennens, im Akt des Entnaturalisierens von Arbeitsprozessen kritisch,5 weil es eine Auseinandersetzung mit bestehenden Arbeitsstrukturen ermöglichte; aber auch als Utopie, weil es ein ›Anders‹ und eine neue Weise des (Zusammen-)Arbeitens praktizierte.

6M1L Im Jahr 2008 initiierten Le Roy und Cvejić zusammen mit Saša Asentić, Younes Atbane, Eleanor Bauer, Kelly Bond, Jefta van Dinther, Juan Domínguez, Luís Miguel Félix, Thiago Granato, Mette Ingvartsen, Gérald Kurdian, Inés López Carrasco, Neto Machado, Chrysa Parkinson, Nicholas Quinn und Eszter Salamon eine temporäre Arbeitsgemeinschaft mit dem Namen 6M1L – für sechs Monate an einem Ort (Juli bis Dezember 2008; in Kooperation mit dem Centre Choréographique National in Montpellier). Eingeladen wurde nach Kettenprinzip und einer Politik der Freundschaft.6 Der Tagesablauf war in Arbeitseinheiten geordnet: Am Morgen gab es ein gemeinsames Training; am Nachmittag wurde an eigenen Projekten geprobt; hinzu kamen abends Gruppentreffen mit allen Teilnehmer*innen sowie tageweise gemeinsame Textlektüren und -diskussionen und Veranstaltungen, die für die Öffentlichkeit zugänglich waren.7 Ziel des Projekts war es, spezifiheit«, in: Daniel Kötter (Hg.), Arbeit und Freizeit. Die glückliche Hand. Ein Reader, 2011, www.danielkoetter.de/sites/default/files/projects/pdfs/arbeit_und_freizeit_reader.pdf, S. 7 am 15. Sept. 2017. 4 | Der Begriff der Kollaboration ist hier in Abgrenzung zum gängigeren der Koproduktion gewählt, weil er eine zweite Bedeutung der Zusammenarbeit mit dem ›Feind‹ suggeriert. Es stellt sich die Frage, ob man in Formen der projektbezogenen Zusammenarbeit nicht gerade jene Logiken des Neoliberalismus, wie Flexibilisierung, Improvisation und Selbstoptimierung, bspw. durch das Networking und Skilling unterstützt. 5 | Vgl. Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Michel Foucaults Tugend«, in: eipcp. Europäisches Institut für progressive Kulturkritik, 5/2001, http://eipcp.net/transver​ sal/0806/butler/de am 17. Feb. 2017. Butler bestimmt hier, aufbauend auf Foucaults poststrukturalistischer Gouvernementalitätskritik und genealogischer Methode, Kritik als eine postfundamentalistische Praxis der Entunterwerfung, die Ordnungsweisen von Wissen und Macht offenlegt. 6 | Vgl. Colin, Noyale/Sachsenmaier, Stefanie (Hg.): Collaboration in Performance Practice. Premises, Workings and Failures. London 2016, S. 111. 7 | Vgl. ebd., S. 111-113; sowie Ingvartsen, Mette et al. (Hg.): 6 Months, 1 Location (6M1L). Ohne Ortsangabe, 2009; Bauer, Eleanor: »6M1L/EX.E.R.CE 08«, in: Alice Chauchat/Mette Ingvartsen (Hg.), Everybodys Group Self Interviews. Ohne Ortsangabe, 2009, S. 34-38, hier: S. 34. Das Michael Douglas Kollektiv (Michael Maurissens und Douglas Bateman), das seit

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sche Bedingungen zu generieren, um zu erforschen, was und wie sie produzieren, und welche Verfahren, Arbeitsmethoden, Formate, Diskurse entstehen würden. Es war also ein produktionsreflexives Projekt, das die Betonung auf die Prozesse und nicht die Produkte legte. Die Mitglieder arbeiteten zwar an eigenen Projekten, es ging aber darum, das Zufällige und Unerwartete, das in Kollaborationen entstehen kann, in die Denk- und Arbeitsweise zu integrieren.

K oll abor ation als künstlerische P r a xis Es gibt zahlreiche historische Vorläufer für das Projekt. Werkstätten, Bauhütten, Zünfte, Lebensgemeinschaften, Produktionskollektive dienten besonders seit der Moderne als Gegenmodell zu hierarchischen Organisationsformen, zu denen beispielsweise auch das Theater als staatliche Institution seit dem 19. Jahrhundert gehört. Laut der gängigen Bedeutung heben Kollaborationen die Trennung von praktisch-technischer und entwerfender Autorschaft auf und ermöglichen Synergieeffekte.8 Seit der Moderne, besonders seit den 1950er und 1960er Jahren, gehören kollaborative Verfahren aber zu einer spezifischen kunstübergreifenden Praxis.9 In dieser Tradition des Arbeitens steht 6M1L insofern, als es die Entgrenzung der Künste und von Kunst und Leben aufgreift und kollaborative Produktions- und Arbeitsformen praktiziert. 6M1L distanziert sich von institutionellen und hierarchisierten Arbeitsweisen am Theater, in dem mit vorgefundenen Strukturen und zeitlichen Abläufen gearbeitet werden muss. Bezeichnend ist an 6M1L, dass sich die Teilnehmer*innen nicht um ein gemeinsames Produkt herum gruppierten. Das Produkt selbst wurde pluralisiert, und das Proben stand im Vordergrund. In ihrer Studie zur Probe hat Annemarie Matzke herausgearbeitet, wie komplex Begriffe von Produkt und Produzieren im Theater sind und was passiert, wenn man das Probieren unter Vorzeichen jener Auflösung und Pluralisierung des Produkts, der Ergebnisoffenheit, der Verschwendung oder der Gabe praktiziert und betrachtet.10 Aus dieser Perspektive und auch mit Sabeth Buchmann und Constanze Ruhm

2009 kollektive Arbeitsweisen verwendet, ist ein aktuelles Beispiel. Improvisatorische Praktiken werden als »collective explorations« und »collective feedback system« bezeichnet, die ein »sharing« und »embodiment« des Wissens erzeugten. Vgl. zum aktuellen Zaurak Project das Programmheft der Präsentation am 30. Mai 2017, »Open Studios«, Tanzhaus NRW, Düsseldorf, sowie www.mdkollektiv.de/# am 17. Sept. 2017. 8 | Zu Begriffen des Kollektiven im künstlerischen und politischen Kontext siehe exemplarisch: Eikels, Kai van: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie. München 2013; Ziemer, Gesa: Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität. Bielefeld 2013; sowie Terkessidis, Mark: Kollaboration. Frankfurt a.M. 2015. 9 | Vgl. u.a. Lehmann, Annette Jael: »Pädagogische Praktiken und Kreativitätsmodelle am Black Mountain College«, in: Eugen Blume et al. (Hg.), Black Mountain: An Interdisciplinary Experiment 1933-1957. Leipzig 2015, S. 98-109. Vgl. u.a. Butte, Maren/McGovern, Fiona/ Maar, Kirsten et al. (Hg.): Assign & Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance. Berlin 2014. 10 | Vgl. Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld 2012.

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könnte man bei 6M1L von einem Projekt gegen das Produkt sprechen:11 6M1L legte die ›Zurichtung‹ der Theaterarbeit auf ein Produkt offen, indem es jenes in der Arbeitsweise und der verschwenderischen Dehnung der Produktionszeit auf ein halbes Jahr fast auflöste; auch wenn es natürlich eine Reihe von Aufführungsprojekten gab.

I mmaterielle A rbeit und der gr ausame O p timismus Auf diese Weise fragt 6M1L nach den Dimensionen der so genannten immateriellen Arbeit als jenes Sektors innerhalb der Arbeitswelt der Industrienationen, in dem statt Güterproduktion die Dienstleistungen und der Informationsaustausch dominieren; jener Arbeit, zu der im weitesten Sinne auch die geistige und kreative gehört. Immaterielle Arbeit kennt nur das Produkt des eigenen Selbst im Prozess eines improvement, des »Projektemachens«.12 In der heutigen – mit Luc Boltanski und Ève Chiapello – »projekt- und netzwerk-basierten« Polis der neoliberalen Arbeitsgesellschaft13 scheinen kollaborative Arbeitsweisen der Kunstarbeiter*innen zunächst ideologiekonform und affirmativ, weil sie effiziente, optimierte, improvisierte und flexible Gruppen organisieren. 6M1L eröffnet zunächst eine flexible und offene Organisationsstruktur für immaterielle Arbeit im Sinne von produktloser Arbeit und wäre in dieser Hinsicht kein kritisches Projekt. Doch stellt sich die Frage, ob es tatsächlich auf ein self improvement durch das Erlernen neuer skills und Arbeitsweisen und auf Flexibilisierung zielte oder ob es gerade jene Dynamiken zu durchbrechen beabsichtigte. Kai van Eikels und andere haben darauf hingewiesen, dass die skills und Verfahren der Künste wie Improvisation, flexibles Arbeiten, Kollaboration und Teamarbeit heute sogar zunehmend auf Unternehmenskulturen angewendet und in coachings und Workshops erprobt werden; Kunst und Arbeit, Ästhetik und Ökonomie scheinen heute auf eine neue Weise ineinander verschränkt.14 Die traditionsreiche Trennung der Sphären seit der Romantik, die Arbeit und Kunst, praxis und poiesis unterschied15 und die eine distanziert-kritische Position im Außen als Widerständigkeit der Kunst ermöglichte, hat sich, bildlich gesprochen, verschoben. Damit erscheint eine Durchkreuzung von Logiken der Arbeit durch Entzug und Verweigerung, wie 11 | Vgl. Buchmann, Sabeth/Ruhm, Constanze: »Subjekt auf Probe«, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 90 (Juni 2013): Wie wir arbeiten wollen, https://www.textezurkunst.de/90/buch​ mann-ruhm-subjekt-auf-probe/am 10. Feb. 2017. 12 | Vgl. Krajewski, Markus: Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. München 2006. Viele freie performative Arbeiten entstehen heute entlang der geprüften Ideen und Förderanträge, die Kollaborationen, Zeit- und Geldmanagement bestimmen. 13 | Vgl. Netzwerk Kunst & Arbeit: Art Works. Ästhetik des Postfordismus. Berlin 2015, S. 22. Die Autor*innen bestimmen hier die neoliberale Lebensweise als eine Arbeitsbiographie, die aus einer Folge von losen Projekten besteht, als »Teilhabe in der Entfremdung«. 14 | Vgl. ebd., S. 18f. 15 | Nancy, Jean-Luc: Die Musen. Göttingen 1998, S. 17; sowie Lemke, Anja/Weinstock, Alexander (Hg.): Kunst und Arbeit. Zum Verhältnis von Ästhetik und Arbeitsanthropologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2014.

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sie beispielsweise noch der moderne Spazier- und Müßiggänger von Robert Walser (Der Spaziergang, 1917) inszeniert, nicht mehr adäquat, um die aktuelle Arbeitsgesellschaft (Karl Marx) als ein gouvernementales Konstrukt16 herauszustellen. Welche Form der Herrschaft hat sich heute im Zeichen des neoliberalen Kapitalismus formiert, und in welchem Verhältnis steht die künstlerische Arbeit dazu? Anders gefragt, wenn flexibles, kreatives und individuelles Handeln die Ressourcen erweitern und der globalen Ökonomie zuarbeiten, kann es noch Kritik oder Widerstand geben?17 Lauren Berlant hat in ihrer Studie Cruel Optimism herausgearbeitet, wie sich heute eine neue Form der Gouvernementalität im Neoliberalen entfaltet, wie sie durch die Subjekte und Körper verläuft. In einer Art psychoanalytischer Archäologie untersucht sie die »affective history of the present« und zeigt die Logik des Begehrens und der Selbstoptimierung auf, die durch einen »Optimismus« Unterdrückung produziere.18 In der Gestimmtheit der kontinuierlichen Krise, der Kontingenzen und konstanten Prekarisierung (im Gegensatz zum außergewöhnlichen Event des Traumatischen) seien die europäischen und nordamerikanischen sozialdemokratischen Versprechen der 1980er Jahre (Jobsicherheit, politische und soziale Gerechtigkeit usw.) in unserem kollektiven Unterbewusstsein verhaftet, obwohl sich das System längst in ein neoliberales gewandelt habe. Aus dieser Differenz entstehe ein grausamer Optimismus, der nie belohnt werde, aber das Begehren in Gang halte.19 Die zentrale Figur dieser Konstellation ist das Ich, das strebende Subjekt; gerade jenes wird in 6M1L kritisiert.

Teilen stat t P roduzieren Schauspieler*innen und Performer*innen sind mit der immateriellen Arbeit und einem cruel optimism auf bestimmte Weise verknüpft.20 Nicht das Produkt im herkömmlichen Sinne der Material-Arbeit-Umformungslogik steht im Zentrum ihrer Arbeitshandlungen, sondern – neben den flüchtigen Produkten wie der Aufführung, Figur und Rolle – vor allem das Selbst als Ressource und die eigenen Fähigkeiten, die auch moderne Aufteilungen von Freizeit und Arbeit durchkreuzen. Dies lässt sich mit Antonio Negri und Maurizio Lazzarato auch als die biopolitische Dimension der immateriellen Arbeit bezeichnen.21 Und Sven Lütticken spricht hier-

16 | Vgl. Skrandies, 2011. 17 | Vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: »Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel«, in: Berliner Journal für Soziologie 11, 4 (Dez. 2001), S. 459-477. Die Autor*innen zeigen, wie die Sphären von Arbeit, Kunst und Subjektivität sich im Spätkapitalismus neu konstelliert und Kritik verunmöglicht haben, weil sich die neue Form (der »Geist«) des Kapitalismus die Praktiken der Ideologie-Kritik der 1960er Jahre ›einverleibt‹ habe. 18 | Berlant, Lauren: Cruel Optimism. Durham 2011, S. 12f. 19 | Vgl. ebd. 20 | Vgl. Lazzarato, Maurizio: »Immaterial Labor«, in: Generation Online, www.generationonline.org/c/fcimmateriallabour3.htm am 15. Feb. 2017. 21 | Vgl. ebd.

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bei vom »performativen Imperativ« des Neoliberalismus:22 Die performative Arbeit an sich selbst, die Selbsttechnologien23 seien eine perfekte Eindrehung von Innen und Außen im ökonomischen Feld der Gegenwart, ein »Performance Capitalism« (Boyan Manchev).24 Erstens wird also in 6M1L das produktförmige Arbeiten unterlaufen, auch wenn am Ende natürlich einzelne Produktionen und Autor*innen standen; zweitens wird auch die immaterielle Arbeit reflektiert: durch die Beschäftigung mit responsiven, transindividuierenden Prozessen des Zusammenspielens und (Aus-)Probierens eines Neuen, Unvorhergesehenen, dem Zulassen und Ermöglichen von neuen Formaten, die nicht auf Verbesserung zielen. Die Arbeitsweise sollte habitualisierte Arbeit, Trainings und Abläufe durch Praktiken des Body Mind Centering, Feldenkrais und andere somatische Praktiken sowie durch diskursive Arbeit destabilisieren, mit neuen Fähigkeiten überschreiben. Dies kann als eine spezifische Form des Teilens verstanden werden, das mit Judith Butler in der Versammlung enteignet.25 Die Prozesse des deskilling als einem Verlernen der optimierten (Tanz-)Praktiken dienten dabei nicht dem persönlichen Gewinn im Sinne einer Verbesserung oder der Extension, sondern einer Verschiebung und Entortung. Diese Arbeitsweise nimmt die Verwobenheit von Ökonomischem und Ästhetischem wahr und hin und imaginiert eine Utopie, wie sie aktuell vermehrt postuliert wird: einen Austritt aus der »Überaffirmation der Steigerung«, die »Verringerung der Arbeitszeit«, eine »Postwachstums-Ökonomie«, eine Bewirtschaftung von »Commons«, die auf die Erhaltung und Kultivierung von Gütern und Ressourcen zielt.26 Eine solche Dezentrierung von Praktiken unterläuft die Subjektkonzepte des cruel optimism.27

dance practicable is in the air .

D ie Ä sthe tik von 6M1L

Aus diesem Kontext entstanden Arbeiten wie Mette Ingvartsens It’s in the air (2008) und Frédéric Gies’ Dance (practicable) (2009) sowie eine Essaypublikation 28 und ein Open-Source-Archiv, das für alle zugänglich ist: everybodystoolbox, mit Scores, Notizen und Spielen, ein digitalisiertes sharing of knowledge. Den einzelnen, künstlerischen Arbeiten selbst war das utopische Moment des Teilens nur sehr diskret anzumerken – alle trugen Zeichen einer subjektiven Au22 | Als Beispiel zieht er nicht das Theater, sondern die Fernsehshows mit Laienschauspieler*innen heran. Vgl. Lütticken, Sven: »Progressive Striptease«, in: Amelia Jones/Adrian Heathfield (Hg.), Perform, Repeat, Record. Live Art in History. Bristol/Chicago 2014, S. 187198, hier: S. 188. »To perform« als Hervorbringen und auch als Leistung-Erbringen steht dabei in einem spannungsreichen Verhältnis zu Fragen von Arbeit und Neoliberalismus. 23 | Vgl. Foucault, Michel: Technologien des Selbst. Frankfurt a.M. 1993. 24 | Boyan Manchev, zit. n. Martina Ruhsam im Themenforum 17: (Ende der) Kritik, Affirmation, Emanzipation, GTW-Kongress am 6. Nov. 2017, Goethe-Universität Frankfurt a.M. 25 | Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Frankfurt a.M. 2016. 26 | Vgl. Netzwerk Kunst & Arbeit, 2015, S. 22. 27 | Skilling beschreibt den Prozess der Aneignung neuer Fähigkeiten. Vgl. Roberts, John: »Art After Deskilling«, in: Historical Materialism 18 (2010), S. 77-96. 28 | Ingvartsen et al., 2009.

Teilen statt Produzieren

torschaft: Titel und Choreograph*in. Es wurde aber für die Zuschauer*innen evident, die mehrere Arbeiten sahen und ähnliche ästhetische Strukturen wahrnahmen. Die konzeptuellen und teils reduzierten Arbeiten zeigten an, wie sie durch die gleichen diskursiven Fragen und somatischen Praktiken geprägt waren. So präsentierte beispielsweise It’s in the Air Ingvartsen mit Jefta van Dinther fünfzig Minuten lang Trampolin springend, was auf kleinste Bewegungsverschiebungen und den repräsentativen Rahmen des Theaters sowie den kinästhetischen Mitund Nachvollzug der Zuschauer*innen aufmerksam machte. Frédéric Gies’ Dance (practicable) präsentierte eine score-basierte, kollektive Bewegungsarbeit mit vielen Tänzer*innen, in deren responsivem Setting bestimmte Tanzstile und -motive sowie konkrete popkulturelle Zitate (von Madonna bis zum Modern Dance) kinästhetisch in eine Folge zuständlicher Bewegungsqualitäten transformiert wurden. Diese Bewegungsqualitäten gingen über die Kontrolle des Choreographen und auch der einzelnen Performer*innen hinaus.29 Beide Arbeiten und weitere aus diesem Produktionskontext hatten also sehr unterschiedliche Themen, teilten jedoch die Arbeitsweisen und die diskursive Einbindung. Dies zeigte sich konkret an der Arbeit mit Scores als Bewegungsanweisung, Partitur und Notation zugleich, die zu einer Destabilisierung von Konzepten von Autorschaft führten, weil sie teilbar und offen in ihrer Umsetzung sind. Wie bei jeder kritischen Verfahrensweise kann auch hier die Beobachtung laut werden, dass sich diese Schule des Denkens auf gewisse Weise in ihrer Verbreitung affirmierte und ›institutionalisierte‹. Und dass einige Namen und Vertreter*innen wie Ingvartsen, Le Roy oder Gies heute mehr als andere Teilnehmer*innen mit einer bestimmten Form der produktkritischen Choreographie in Verbindung gebracht werden – und sich damit wiederum einer Marktlogik anschmiegten.30

K oll abor ation als affirmative K ritik ? Der GTW-Jahreskongress 2016 befragte das Theater als Kritik, also eine Kritikfähigkeit oder -haftigkeit von Performances selbst, von Aufführungen als sozialem und ästhetischem Akt. Wenn es eine Kritikhaftigkeit von Performances gibt,31 läge diese in einem sinnlich erfahrbaren Prozess des Sichtbarmachens und Unterscheidens von Inhalten, dessen Urteil, so Judith Butler, ausgesetzt wird, in der Schwebe bleibt.32 Kritik meint hier also nicht Repräsentation von problematischen Zuständen allein, sondern ein Wirken durch ihre situative Ästhetik, die eine Distanzierung ermöglicht und einen Modus des »Es soll anders sein« (Th. W. Adorno) 29 | Vgl. http://fredericgies.com/?page_id=15 am 19. Sept. 2017. 30 | Diesen Gedanken formuliert Sabeth Buchmann in Bezug auf die Institutionskritik innerhalb der bildenden Kunst und ihrer Verwicklung mit der Produktlogik. Vgl. Buchmann, Sabeth: »Kritik der Institutionen und/oder Institutionskritik? (Neu-)Betrachtung eines historischen Dilemmas«, www.igbildendekunst.at/bildpunkt/2006/ortederkritik/buchmann. htm am 16. Sept. 2017. 31 | Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft 2016 an der FU Berlin mit dem Titel »Kritik!« nannte Kathrin Busch die Kunst in ihrem Vortrag über Claire Denis ein »Milieu des Denkens« und die »Kritik ein Verfahren über die Sinne« (29. Sept. 2016). 32 | Vgl. ebd.

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herstellt. Dies wird im Theater als Potential der Verwandlung des Gefüges erfahrbar.33 Diese Form des Kritisierens wurde in den 6M1L-Arbeiten und ihrem diskursiven Umfeld erfahrbar. In ihrem Vortrag während des Kongresses schlug Martina Ruhsam für die Frage der (zu ihrem Ende gekommenen) Kritik eine Theorie der Verwicklung vor, eine immanente Praxis der Involviertheit, ein Affirmieren, das Differenzen kenntlich macht.34 In dieser Konstellation lässt sich die Kritik in 6M1L imaginieren: als kritisch distanzierte Offenlegung der Episteme, der aber auch eine Involvierung und Affirmation eingeschrieben sind.

33 | In der Keynote-Lecture »Das Spiel im Theater und die Veränderung der Welt« beschrieb Christoph Menke am 4. Nov. 2016 jenes Potential des theatralen Spiels als eine Formwerdung in Auflösung und als eine Spannung, die nicht aufgelöst wird und darin seine Kraft entfalte. 34 | Vgl. Martina Ruhsam im Themenforum 17: (Ende der) Kritik, Affirmation, Emanzipation, GTW-Kongress am 6. Nov. 2017, Goethe-Universität Frankfurt a.M.

Das Lehrstück (vom) Theater Fragen an das Verhältnis von Kritik und Lehre Mayte Zimmermann

Nach Freud gehört es zu den Fehlleistungen, »wenn jemand einen Gegenstand irgendwo unterbringt und ihn nicht mehr aufzufinden weiß«1. Fragen wir hier nach Theater und/oder/als Kritik, gehen wir hier also auf die Suche nach etwas, so können wir schnell konstatieren, dass weder »Theater« noch »Kritik« gegenständliche Entitäten sind. Ergo können wir sie weder auf eine unverändert-statische Weise wie einen Gegenstand (wieder-)finden, noch wäre – folgen wir der intrinsischen Logik von Freuds Definition – von einer Fehlleistung zu sprechen, wenn wir sie nicht dingfest machen können. Dem Dingfesten gegenüber sprechen wir im theaterwissenschaftlichen Diskurs lieber von Praktiken, die sich durch Prozessualität, Offenheit und Unabgeschlossenheit auszeichnen. Und doch: Sowohl Theater als auch Kritik sehen sich auf mehr als einem Schauplatz mit der Frage von Leistung, Fehlleistung und deren Unterscheidung oder auch der einfachen Dichotomie von »fort« und »da« verstrickt.2 Von diesen Schauplätzen möchte der folgende Beitrag einen ganz zentralen in den Blick nehmen: die Universität. Einer der Grundgedanken der Konferenz Theater als Kritik bestand in der Überlegung, dass Kritik sich nicht im Sinne eines klassischen Untersuchungsfeldes identifizieren oder vorstellen lässt, sondern vielmehr die Verfasstheit des Wissens befällt, das sich selbst kritisch begegnen oder als In-kritischem-Zustand begreifen muss. Den Herausforderungen, die aus einem sich selbst nicht sicher sein könnenden Wissen resultieren, begegnen wir vielleicht auf keinem Schauplatz so deutlich wie dem der Lehre. Der folgende Aufsatz beschäftigt sich damit, vor welche Schwierigkeit sich diese alltägliche Praxis einer Weitergabe, Erforschung oder auch Diskussion des Wissens gestellt sieht, die zugleich ihrer eigenen Autorität kritisch begegnet (und zwar auch der Autorität des »kritischen Denkens«). Ich bin der Überzeugung, dass wir nicht von einer kritischen Theaterwissenschaft sprechen können, solange wir nicht diese oftmals im Dunkeln gelassene Wirkstätte ihrer Praxis in den Blick nehmen und die Frage stellen, wie wir mit jenen umgehen, die wir in ein (kritisches) Wis1 | Freud, Sigmund: »2. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse: Die Fehlleistungen«, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 4. Altenmünster 2015, S. 63-73, hier: S. 64. 2 | Vgl. Freud, Sigmund: »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. XIII. Frankfurt a.M. 1967, S. 3-72.

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sensfeld hineinführen sollen/wollen. Mich interessiert also nicht, welche theatralen Arbeitsweisen oder Inszenierungen als kritische beschrieben werden könnten, sondern die Frage, wie wir an der Universität das (vielleicht kritische) Lehrstück (vom) Theater inszenieren und Kritik üben. * Judith Butler hebt in ihrem Essay »Was ist Kritik?« die durch Michel Foucault im gleichnamigen Vortrag »inszenierte«3 Form der Frage hervor, »die sich als zentral für den Vollzug der Kritik selbst erweist«4. Sie distanziert sich von einem Verständnis des Kritischen, wie es zum Beispiel in der Lesart von Jürgen Habermas auftaucht, dem Kritik möglich zu machen scheint, soziale, politische oder gar moralische Handlungen zu beurteilen bzw. bewertend einzuordnen. Butler hingegen setzt vor jede instrumentelle Verdinglichung des Kritischen mit Foucault die Frage nach dem Subjekt: »Kritisch« oder auch in »kritischem Zustand« ist das Subjekt, weil es zugleich Unterworfenes wie durch die Unterwerfung Hervorgebrachtes ist. Vor jeder konkreten Handlung oder deren Bewertung stellt sich für Butler wie Foucault die Frage, wie sich das Subjekt zu diesem Zwiespalt ver-hält – wie es sich also nicht nur geistig, sondern auch körperlich in diesem Widerspruch bildet. Die Formulierung ›kritische Haltung‹ darf also im Denkgebäude dieser beiden nicht als Bewertung (gut/schlecht) Einzelner verstanden werden, sondern wäre eher als allgemeingültige Beschreibung des Subjekts im Werden zu charakterisieren. Schwieriger wird es, wenn Foucault wohl in Anlehnung an Immanuel Kant im Fortgang von einer »tugendsamen Haltung«5 spricht, die sich offenbar nicht kausallogisch aus der kritischen Verfasstheit des Subjekts ableitet. Sie erfordert, so Foucault und vor ihm Kant in seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, einen gewissen Mut und zeichnet sich nicht – wie man heute mit Blick auf den lebensweltlichen Gebrauch des Tugend-Begriffes denken könnte – durch regelkonformes Verhalten aus. Wie aber bildet sich diese tugendsame Haltung und wie unterscheidet sie sich von einem genuin kritischen Zustand aller Subjekte – im mutigen Widerstand gegenüber den es formenden, fordernden, aufrufenden Systemen? Aber was passiert, wenn wir feststellen müssen, dass die Fähigkeit zur Kritik inzwischen längst von Bildungsinstitutionen vereinnahmt ist? Vor-geschrieben wird? In vielen Modulhandbüchern geisteswissenschaftlicher Studiengänge findet sich unter der Formulierung der Bildungsziele nicht mehr länger nur das Wissen, sondern auch die Kompetenz zur ›kritischen Auseinandersetzung‹ mit einem bestimmten Fachbereich. Zugleich mehren sich auf Dozierendenseite Stimmen (ich kann hier nur auf meine eigenen Erfahrungen verweisen), die einen Mangel an ›kritischem Denken‹ bei den jungen Studierenden konstatieren. Und als Beschreibung meiner Tätigkeit als Dozentin an unterschiedlichen Universitäten oder auch als Aufgabenstellung habe ich in fast zehn Jahren Lehre am häufigsten gehört: 3 | Butler, Judith: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50, 2 (Apr. 2002), S. 249-265, hier: S. 250. 4 | Ebd. 5 | Hier paraphrasiert nach Butler, vgl. aber Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992, bereits S. 9: »Es gibt etwas in der Kritik, das sich mit der Tugend verschwägert.«

Das Lehrstück (vom) Theater

›Es geht darum, die Studierenden zum kritischen Denken zu bewegen.‹ Auf unterschiedliche Weise scheint also das Kritische in der Institution der Universität doch bekannt, vermittelbar oder zumindest als Bildungsziel ausgerufen. Folgen wir Butlers Aufforderung, »Kritik als Praxis zu überdenken«6, so scheint mir die Frage nach einer Lehre der Kritik oder einer kritischen Lehre nahezu geboten. Und Butler gibt einen zentralen Hinweis darauf, auf welche Weise sich diesem Feld zu nähern ist: Sie spricht (wie oben zitiert) von einer Inszenierung, die sich als zentral für den Vollzug der Kritik erweist. ›Inszenierung‹ ist ein Begriff, der zugleich ein Produkt wie den Prozess der Hervorbringung umfasst. Er verweist darauf, dass sich Kritik als Teil eines gestaltenden und auf unterschiedliche Weise gestaltbaren Prozesses vollzieht, den wir nicht erfassen können, wenn wir uns ihm lediglich von einem beurteilbaren Ergebnis her zuwenden. Wie vielleicht kein anderer Theaterpraktiker und -theoretiker hat Bertolt Brecht in seinem Denken, Forschen und Erproben dieser konstitutiven Beziehung von Inszenierung, Bildung und Kritik nachgespürt. Neben den in diesem Zusammenhang schon vielfach diskutierten Lehrstücken oder dem Pädagogium werfen vor allem seine Denker-Figuren höchst ambivalente Schatten auf das, was in unseren Seminarräumen geschieht. In seinem inkommensurablen Theater-Theorie-Fragment Der Messingkauf z.B. finden wir einen bzw. »den« Philosophen, der von einer »politischen« 7 Schauspielerin ins Theater eingeladen wird, um mit den Theaterleuten über das Theater nachzudenken. »Rücksichtslos« 8 wünscht er, das Theater für seine Zwecke zu verwenden, so Brecht in einem der Personenverzeichnisse. Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen Philosoph und Theaterleuten ist nicht nur die Bildung von Zuschauern im Raum des Theaters, sondern auch die Bildung (also Gestaltung) von Figuren. Zugleich baut ein Bühnenarbeiter die Dekoration der Vorstellung langsam ab,9 ›das Theater‹ wird dekonstruiert. In »Was ist episches Theater?« beschreibt Walter Benjamin mit Blick auf eine andere Denker-Figur Brechts, nämlich Keuner, eine gänzlich andere Beziehung zum Raum des Theaters: Auf dem Rücken liegend muss Keuner in das Theater hineingetragen werden, »denn so wenig zieht es ihn dahin«10. Was geben uns solche Inszenierungen zu denken? Müssen wir uns die Studierenden als Synonym einer Figur vorstellen, die wie Keuner gegen einen eigenen Widerstand zum kritischen Denken bewegt wird/werden muss? Oder finden wir uns als Dozierende in der Rolle eines rücksichtlosen Vordenkers vor, durch den ein bestimmter Schauplatz erst zu einem Denk-Raum wird/werden kann? Kann die Frage des Kritischen in personalen Szenarien überhaupt begriffen werden (à la: Hier kommt der kritische Denker?), oder müssten wir das Kritische in einem Szenario verorten, in dem es kritisch wird und also das Fundament seines Statthabens selbst ins Schwanken gerät? Was aber ist dieses Fundament? Einer Kritik Einar Schleefs an Brecht folgend, der dessen Festhalten an Protagonisten 6 | Butler, 2002, S. 252. 7 | Ebd., S. 696. 8 | Ebd. 9 | Ebd., S. 773. 10 | Benjamin, Walter: »Was ist episches Theater? Eine Studie zu Brecht«, in: ders., Versuche über Brecht. Frankfurt a.M. 1971, S. 17-29, hier: S. 21.

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problematisierte,11 vermute ich, dass es eher die ›szenographische‹ Dimension der Brecht’schen Figuren ist, die uns der inszenatorischen ›Natur‹ des kritischen Vollzugs näherbringt. Die Frage also, wie das sich in Sprache manifestierende Denken diese Figuren erzeugt, stellt sich durch Reibung oder Aufrauung an der Schwelle zwischen ›drinnen‹ und ›draußen‹, die dadurch als solche ›kritisch‹ wird, nicht mehr genau bestimmbar ist und zwei scheinbar getrennte Sphären aufeinander bezieht. Denn auch wenn beispielsweise der Philosoph im Messingkauf scheinbar mit bereits vor-gedachten Überlegungen und scheinbar als klar konturierte Figur in das Theater kommt, so bildet den Raum seines Denkens zugleich die Auseinandersetzung mit den Theaterleuten, die auf der Bühne stattfindet – zum »Philosophen« also wird er in der Logik von Brechts Text, indem er ins Theater geht. Der Messingkauf legt nahe, dass Kritik sich entfaltet im Abbau der Institution, oder in heutigen Worten: in ihrer Dekonstruktion. Zugleich aber bedarf eine von Foucault als tugendsam beschriebene Haltung der Einräumung eines Schauplatzes, in dem sie sich in aller Prekarität bilden kann – und im Messingkauf wird dieser Schauplatz durch das Theater eingeräumt, welches trotz des Abbaus der Kulissen weiterhin zur Verfügung steht, um Neues zu probieren. * Warum kann vielleicht nur eine solch paradoxe »Inszenierung« etwas über eine kritische Lehre oder auch eine Lehre der Kritik zu denken geben? Ist, um bei Brechts Messingkauf-Inszenierung zu bleiben, Kritik nur denkbar als Abbau des Theaters? Als gegensatzlogische Suspendierung von Bildung? Oder ist eine von Foucault als tugendsam beschriebene Haltung etwas, das der Bildung vielmehr bedarf (sowohl an einer Universität, als auch im Theater)? Im Rahmen des Lehrauftrags Philosophie für Regisseure an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt habe ich im Sommersemester 2016 mit Studierenden der Regie ausgewählte Texte aus der Philosophiegeschichte der Kritik gelesen. Dabei zeigte sich zunächst, dass der Kritikbegriff jenseits seiner philosophischen Ausprägung auch im Raum der künstlerisch-praktischen Bildung längst institutionell verankert ist: Kritikgespräche, in großer Runde oder im Zwiegespräch nach einer Probe, weisen Kritik nicht als fundamentale Krise aus, sondern als eine zentrale Fähigkeit, die man ›beherrschen‹ und ›produktiv‹ einsetzen können solle.12 Kritisch wird es, wenn solche lebenspraktische Erfahrung jener, deren Praxis die Inszenierung ist, beispielsweise auf die Thesen Theodor Adornos in Kulturkritik und Gesellschaft13 treffen, der Kritik explizit nicht als produktiven Gegenvorschlag 11 | Einar Schleef zitiert nach Lehmann, Hans-Thies: »Theater des Konflikts«, in: ders., Das politische Schreiben: Essays zu Theatertexten. Berlin 2002, S. 186-206, hier: S. 198. 12 | So äußerten sich die Studierenden zu Seminarbeginn, bei denen ich mich an dieser Stelle für die fruchtbaren und offenen Diskussionen bedanken möchte: Simon-Philipp Gärtner, Meike Hedderich, Anna Hilfrich, Anne Kapsner, Mark Reisig, Marie Schwesinger und Bastian Sistig (Philosophie der Kritik und kritische Philosophie, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt, SoSe 2016). 13 | Adorno, Theodor: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Bd. 10. Frankfurt a.M. 2003, S. 11-30.

Das Lehrstück (vom) Theater

zu etwas Bestehendem begreift. Dann kann Kritik nichts sein, das im Sinne eines Instrumentes im Rahmen einer Inszenierung ›produktiv‹ eingesetzt werden kann, und es stellt auch in hohem Maße in Frage, was überhaupt damit gesagt ist, wenn wir von einer ›kritischen Inszenierung‹ sprechen. Und es stellt sich auch die Frage, ob ein Studium der Philosophiegeschichte der Kritik im Rahmen eines Seminars zur Bildung einer tugendsamen Haltung beiträgt und mit welchem Maßstab dies zu bemessen wäre. Wie verhält es sich denn mit den Studierenden, die dem Seminar fernbleiben, um ›politische Aktion‹ oder ein Theaterprojekt zu machen, oder wie verhält es sich mit denen, die keinen Zutritt zum Raum akademischer Bildung erhalten? Ich denke hier an Kants Insistieren auf einem öffentlichen Gebrauch der Aufklärung. Während Hegel noch in »Über das Wesen der philosophischen Kritik«14 darauf besteht, dass Kritik nicht dem Pöbel überlassen werden darf und ergo einem elitär geschlossenen Raum vorbehalten bleibt, adressiert Kant mit einem Zeitungsartikel eine Öffentlichkeit, die sich der Kritik bedienen solle – leider ist jedoch gemäß seinen eigenen Ausführungen nicht wirklich klar, wo genau denn diese Öffentlichkeit zu finden ist. Er setzt sie nämlich von einem privaten Bereich ab, in dem die Pflichterfüllung oberste Notwendigkeit ist, und nimmt davon auch Berufe wie z.B. den Lehrer oder Dozenten nicht aus. Wo also ist diese kritische Öffentlichkeit und wer hat das Recht zu sagen, wann sie kritisch ist? * Finden wir diese Öffentlichkeit im Rahmen der Universität? Ist das der privilegierte Ort kritischer Auseinandersetzung? Oder gerade nicht? Über seinen utopos, die unbedingte Universität, schreibt Derrida: Wie wir nur zu gut wissen, gibt es diese unbedingte Universität de facto nicht. Dennoch sollte sie prinzipiell und ihrer eingestandenen Berufung, ihrem erklärten Wesen nach ein Ort letzten kritischen – und mehr als kritischen – Widerstands gegen alle dogmatischen und ungerechtfertigten Versuche sein, sich ihrer zu bemächtigen.15

Dem von Derrida zitierten Recht darauf, alles, auch die Geschichte des Kritikbegriffes selbst, kritischen Fragen auszusetzen, steht die Realität dieser Institution gegenüber, ihre Ökonomien, ihre Eignungsvoraussetzungen, ihre Credit Points, Regelstudienzeiten, Exzellenzcluster, Kurzzeitverträge für den Großteil ihrer Angestellten und die Notwendigkeit beständiger Akquise von Drittmitteln für den Rest von ihnen. Gehen wir nun aber einmal mit Derrida davon aus, dass die Universität dem Kritischen trotz allem verbunden ist und bleibt, dann doch nicht in einem frei flottierenden paritätischen Diskurs, sondern in einer Bildungsszene, die den Unterschied von Lehrenden und Studierenden kennt. Und die Frage der tugendsamen Haltung betrifft nun nicht nur den ›Bildungsempfänger Student‹, sondern natürlich auch die Rolle der Dozierenden. 14 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Einleitung – Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Stand der Philosophie insbesondere«, in: ders., Werke. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1970, S. 171-187. 15 | Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität. Frankfurt a.M. 2001, S. 12.

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Ich habe mich sehr gefreut, bei der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak zu lesen, dass sie ihre Tätigkeit explizit als die einer Lehrerin beschreibt.16 Damit nimmt sie nämlich eine Funktion an und macht sie zum möglichen Gegenstand des kritischen Diskurses, den viele Lehrende an Universitäten gerne mit Verweis auf den Inhalt ihrer Lehre von sich weisen – zu stark haftet jeder Form des ›Pädagogischen‹ offenbar das Signum von Manipulation, Disziplin oder Vereinfachung an. Man schüttet aber das Kind mit dem Bade aus, wenn man aus Angst vor einem ganz bestimmten Bildungsverständnis die Frage von Lehre und Lernen und damit einer wirkmächtigen Dimension der Inszenierung aus der Praxis der Theorie herausstreicht oder so tut, als wäre das Arbeiten im Seminar das eines primus inter pares. Spivak hebt immer wieder hervor – und wir können das analog zur Theaterwissenschaft verstehen –, dass postkoloniale Überlegungen nicht nur wichtig für den Bereich der Pädagogik sind, sondern auch umgekehrt jede Form der theoretischen Arbeit der pädagogischen Reflexion bedarf, um sich ihrer eigenen Praxis zu verantworten. Was wäre denn eine im Foucault’schen Sinne tugendsame Haltung der Lehre? Sicherlich keine, die glaube, die kritischen Fragen zu kennen und wie ein Musikinstrument durch Wiederholung ›einüben‹ zu können. Müsste sie nicht vielmehr Kritik verüben, also noch ihre eigenen Gewissheiten über Kritik zur Disposition stellen und sich auf die Szene der Vermittlung als einer schon in sich kritischen hinwenden? Verlangt dies nicht wie die Figuren-Analyse der Brecht’schen Denker eine Beschäftigung mit der eigenen Haltung, also der Frage, zu welchen Voraussetzungen wir uns (auch körperlich) verhalten und was es uns da begehrt zu hören, zu erfahren, mitzuteilen oder auch mit anderen zu teilen in diesem Raum des Seminars? Sich diesen Fragen zu stellen scheint mir umso mehr unsere Verantwortung17 zu sein, wenn wir es mit Studierenden zu tun haben, die sich als zukünftige Theaterlehrer*innen, Theaterpädagog*innen, Dramaturg*innen, Regisseur*innen oder auch Theaterwissenschaftler*innen ihrerseits ganz explizit vor Vermittlungsaufgaben gestellt sehen werden. * Foucaults Kritikbegriff hat nach Judith Butler zwei Dimensionen: die Verweigerung der Unterordnung einerseits und die Verpflichtung anderseits, ein Selbst hervorzubringen und auszuarbeiten. Und Butler schreibt: »Für Foucault ist diese Verbindung zwischen Kritik und der Hervorbringung unseres Selbst eine Übung, deren Autonomie sich von diversen Humanismen unterscheidet.«18 Foucault beschreibt diese ›Übung‹ in ästhetischen Termini: Er spricht von der »Kunst[,] nicht derartig regiert zu werden«19 und von Existenzkünsten20, aber auch von einem Subjekt, dass 16 | Vgl.: Spivak, Gayatri: The Spivak Reader. New York/London 1996. 17 | Zu meiner Lesart des Begriffes der Verantwortung siehe Zimmermann, Mayte: »Ich als Verantwortung« und »Die Sorge um die Sorge«, in: dies., Von der Darstellbarkeit des Anderen. Bielefeld 2017, S. 78-81 u. 259-266. 18 | Butler, Judith: Kritik, Dissens, Disziplinarität. Zürich 2011, S. 39. 19 | Foucault, 1992, S. 12. 20 | Ebd., S. 18.

Das Lehrstück (vom) Theater

um »Selbst-Formung« oder »Selbst-Bildung« bemüht ist.21 Aber diese Selbst-Bildung ist keine, die allein oder von allein funktioniert. Butler verortet sie knapp im Bereich der Ethik, einer vormoralischen Dimension des Mit, welche aber natürlich nur im Rahmen einer Politik der Norm und an ihren Bruchstellen erfahrbar ist. Wie lässt sich daraus ein Modell von Lehre ableiten, das weder auf die völlige Suspension von Lehre zielt noch das Kritische im Besitz eines Vordenkers verortet? Ich kehre an dieser Stelle zu den Ambivalenzen zurück, die Brecht in das Denken über Lehre eingetragen, aber auch eröffnet, freigelegt hat. Was sind seine Lehrstücke anderes als eine Eröffnung der praktischen Suche nach dem gemeinsamen, aber nie paritätischen Konflikt von Lehren und Lernen? Für mich bergen sie die Foucault’sche Aufforderung, Kritik als Praxis zu überdenken, ohne bereits vorzugeben, in welcher (Aufführungs-)Form oder dass überhaupt diese Praxis sich zu manifestieren hätte. Was sie aber vorzugeben scheinen, ist die Aufforderung, aus einer präfigurierenden Erkenntnishaltung in den Entwurf, in die Bewegung des Hervorbringens überzugehen – vielleicht die originäre Geste von Theater, die und durch die hier gelehrt und gelernt wird bzw. werden kann. Wie aber verhindern, dass diese Überlegungen zur Basis einer – mit Emmanuel Levinas’ Worten – völligen Gleich-Gültigkeit werden, in der Unterschiede negiert und nicht zum Ausgang eines auf Alterität beruhenden Reichtums werden (von dem doch, so lassen schon Brechts Texte erspüren, das Denken vielleicht seinen eigentlichen Ausgang nimmt)? Eine mögliche Antwort lässt sich in den sogenannten Modellbüchern Brechts finden.22 Anders als die Lehrstücke, die sich in ihrer Lektüre bzw. der eigenen praktischen Aneignung ja problemlos von Brechts Umsetzung ablösen lassen, bleiben die Modellbücher seiner eigenen szenischen Arbeit in Fotografien, Textfassungen und in für die Probenarbeit entwickelten Brückenversen verbunden, die in einem Buch zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Brecht schreibt im Vorwort seines Antigonemodells: »Es wurde ein verpflichtendes Aufführungsmodell hergestellt, das aus einer Sammlung von Fotografien nebst erklärenden Anweisungen ersichtlich wird.«23 Der mögliche Verdacht aber einer ideologischen Festschreibung seines eigenen als Tuns als ›des richtigen‹, das in Folge nur noch reproduziert werden könnte, wird von ihm selbst zurückgewiesen: »Gedacht als Erleichterungen, sind Modelle nicht leicht zu handhaben. Sie sind nicht gemacht, das Denken zu ersparen, sondern es anzuregen; nicht dargeboten, das künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern es zu erzwingen.«24 Brechts »Lehre« hat hier den Charakter eines Modells, das uns scheinbar zur bloßen Nachahmung auffordert. Und es ist gerade die Detailgenauigkeit der Modelle, es sind ihre umfangreichen Abbildungen und ihre wortmächtigen Ausfüh-

21 | Ebd. 22 | Für die Anregung zur Auseinandersetzungen mit Brechts Modellbüchern danke ich Annegret Schlegel und ihren Nachforschungen, die in der unveröffentlichten Masterarbeit Antigone. Drei Betrachtungen im Sommersemester 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt eingereicht wurden. 23 | Brecht, Bertolt/Neher, Caspar: Antigonemodell 1948. Berlin 1949, S. 6. 24 | Brecht, Bertolt: »Schöpferische Verwertung von Modellen«, in: Berliner Ensemble/Helene Weigel (Hg.), Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Berlin 1961, S. 305.

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rungen, die dann eine Verwunderung darüber erzeugen, dass Brecht schreibt, sie seien »von vornherein als unfertig zu betrachten«25. Brechts Modelle inszenieren ein zeitliches Spannungsgefüge, das ich als die Szene von Vormachen und Nachahmen beschreiben möchte und das ich für das ›eigentliche‹ Modell halte, welches Brecht uns für eine kritische Lehre bereitstellt (und das über die Konkretion einer einzelnen Arbeit hinausgeht, vielmehr also, wie Nikolaus Müller-Schöll schreibt, als das »Modell eines Modells«26 zu betrachten wäre). Brechts Modelle ahmen nicht nur nach (eine Inszenierung) oder fordern ihrerseits zum Nachahmen auf, sie machen auch etwas vor. Schon während der Probenarbeit fungierten die Photographien von Ruth Berlau als ein in die Zukunft weisendes Korrektiv, das Überprüf barkeit ermöglicht, aber auch Unsichtbares und Flüchtiges sichtbar macht. Bereits die Theaterprobe ahmt so ihre eigene zukünftige Modellhaftigkeit nach, obwohl das schließlich entstehende Modell als Vorgemachtes unfertig bleibt und sein einziges Ziel in seiner erneuten Modellierbarkeit liegt: »Ein solches Modell steht und fällt mit seiner Nachahmbarkeit und Variabilität. Das Ganze oder gewisse Teile mögen bei der Wiedergabe nichts Lebendiges hervorrufen; das Ganze oder solche Teile wären dann aufzugeben«27, so Brecht. Die Modelle, so formuliert er selbst, sind kein Appendix seiner Theaterarbeit, sondern sie bringen den Charakter seiner Arbeitsweise exemplarisch zum Ausdruck; Brecht selbst schreibt von einer Mischung aus »[b]eispielhaft und beispiellos«28. Den besonderen Charakter ihrer Lehre entfalten sie, weil sie nicht nur als Modell von oder für etwas stehen, sondern ihre eigene Modellhaftigkeit in Frage stellen bzw. in Szene setzen. Beispielhaft machen die Modelle uns etwas vor und fordern uns zur Praxis auf, weil sie notwendigerweise das Beispiellose verfehlen und zugleich als Verpflichtung artikulieren. Sie entziehen sich der chronologischen oder linearen Vorstellung von Wissensordnungen, in die ein Lehrender selbst als Schüler eingestellt wurde und in die er dann seinerseits Lernende hineinstellt, weil sie einen Eigensinn entwickeln, der dieses personale Szenario übersteigt – und gleichzeitig auf diesem beruht: »Damit etwas mit Gewinn nachgeahmt werden kann, muß es vorgemacht sein.«29 Die Bildung einer mit Foucault gesprochenen tugendsamen Haltung scheint mir an eine solche Szene gebunden. Es liegt ein Gewinn im Nachahmen, im Durchstreifen des Bekannten, im Abtasten der Details – aber nur, wenn es auch vorgemacht ist. Wenn jemand nicht nur vorgibt, vorschreibt, sondern die Inszenierung, also das ›Machen‹ von Theater zur Disposition stellt. Zwischen Zwang und Verpflichtung, zwischen Rücksichtslosigkeit und Widerstand darf die Relevanz des Vormachens nicht ausfallen oder übersehen werden. »Man braucht die Arbeit an Modellen auch nicht mit mehr Ernst zu betreiben, als zu jedem Spiel nötig ist.«30 Es scheint mir dieser Moment zu sein, der den inszenatorischen Charakter 25 | Brecht/Neher, 1949, S. 7. 26 | Müller-Schöll, Nikolaus: »Brecht, Hölderlin und der Einbruch des Realen«, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie. Zürich 2014, S. 109-124, hier: S. 110. 27 | Brecht/Neher, 1949, S. 7. 28 | Ebd. 29 | Ebd. 30 | Ebd.

Das Lehrstück (vom) Theater

im Vollzug des Kritischen in der Lehre bedeutet: Es geht darum, die Essentialität von Wissen zugunsten einer Modellbildung zu verlassen und dass wir uns in die Szene der Bildung als jene einstellen, vorstellen und ausprobieren, die anderen etwas vormachen. * »Die Liebe zum Eigenen erweist sich in der (Selbst-)Kritik.« (Navid Kermani in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015.)

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Autorinnen und Autoren Lorenz Aggermann, Dr., forscht im DFG-Projekt Theater als Dispositiv am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Fanti Baum, M.A., arbeitet als Performancekünstlerin und freie Dramaturgin in Frankfurt am Main und Dortmund. Eliane Beaufils, Dr., ist Maître de conférences in Theaterwissenschaft an der Universität Paris 8. Maren Butte, Dr., ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft und Performance Studies am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Veronika Darian, Dr., ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Jasmin Degeling, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Miriam Drewes, Dr., ist wissenschaftliche Koordinatorin des Herder-Kollegs, Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung in Hildesheim. Matthias Dreyer, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (TFM) der Goethe-Universität Frankfurt/M.  Miriam Dreysse, Dr. habil., lehrt u.a. an der Universität der Künste Berlin und der Universität Hildesheim.  Olivia Ebert, M.A., arbeitet als Dramaturgin und künstlerische Produktionsleiterin in Frankfurt am Main und Dortmund. André Eiermann, Dr., ist Professor für Theater an der Universität von Agder (Norwegen).

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Theater als Kritik

Wolf-Dieter Ernst ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Jörn Etzold ist Professor für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Francesco Fiorentino ist Professor für Deutsche Literatur an der Università Roma Tre. Leon Gabriel, Dr. des., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Martina Groß, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. Werner Hamacher (†2017) war Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Daniela Hahn, Dr., forscht als PostDoc/Koordinatorin des Sinergia-Projekts The Power of Wonder an der Universität Zürich. Clemens-Carl Härle ist Professor emeritus für Deutsche Literatur und Ästhetik an der Universität Siena (Italien). Eva Holling, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Stefan Hölscher, Dr., forscht im Fritz Thyssen-Projekt Kollektive Vergegenwärtigung. Der Workshop als künstlerisch-politisches Format an der Ruhr-Universität Bochum. Benjamin Hoesch, M.A., forscht in der DFG-Forschergruppe Krisengefüge der Künste am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Sabine Huschka, PD Dr., leitet das DFG-Forschungsprojekt Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin (HZT) | UdK Berlin/HfS »Ernst Busch«. Judith Kasper ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Sebastian Kirsch, Dr., forscht im Rahmen einer DFG-Stelle an der Ruhr-Universität Bochum. Swetlana Lukanitschewa, PD Dr. habil., lehrt am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Autorinnen und Autoren

Maud Meyzaud, Dr., forscht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Nikolaus Müller-Schöll ist Professor für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (TFM) der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Matthias Naumann, M.A., ist freier Autor und Theatermacher, Theaterwissenschaftler, Übersetzer, Verleger (Neofelis Verlag) in Berlin. Sophie Nikoleit, M.A., forscht im Rahmen des SFB Affective Societies an der Freien Universität Berlin im Projekt Reenacting Emotions. Strategies and Politics of immersive theater. Leonie Otto, Dr. des., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (TFM) der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sabine Päsler, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Juliane Prade-Weiss, Dr., forscht als DFG postdoc fellow am Department of German der Yale University (USA). Patrick Primavesi ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Sarah Ralfs, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Annika Rink, M.A., arbeitet im Bereich kulturelle Bildung am Schauspiel Frankfurt. Hans Roth, M.A., forscht im Sonderforschungsbereich Affective Societies der Freien Universität Berlin. Martina Ruhsam, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Julia Schade, M.A., ist Doktorandin der Theaterwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Martin Jörg Schäfer, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur/Theaterforschung an der Universität Hamburg. Philipp Schulte, Dr., arbeitet als Geschäftsführer der Hessischen Theaterakademie und lehrt Szenographie-Theorie an der Norwegischen Theaterakademie Fredrikstad.

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Theater als Kritik

Bernhard Siebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Gerald Siegmund ist Professor für Theaterwissenschaft am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Felix Stenger studiert an der Freien Universität Berlin Theaterwissenschaft, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. Jana Telscher, M.A., arbeitete als Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Andreas Tobler, M.A., studierte Theaterwissenschaft in Bern und Berlin. Dorothea Volz, Dr., arbeitet an der Semperoper Dresden. Meike Wagner ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Stockholm. Frithwin Wagner-Lippok ist freier Regisseur und Doktorand an der Universität Hildesheim. Anna-Carolin Weber, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Arts & Culture International (inSTUDIES) an der Ruhr-Universität Bochum und Doktorandin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Michael Wehren, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig und Mitglied der freien Theatergruppe friendly fire. Marten Weise, M.A., ist Doktorand der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Markus Wessendorf ist Professor für Theaterwissenschaft an der University of Hawa‘i in Mānoa (USA).  Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sophie Witt, Dr., forscht am Collegium Helveticum/Ludwik Fleck Zentrum der ETH, Universität und ZHdK Zürich. Isa Wortelkamp, Dr., ist Tanz- und Theaterwissenschaftlerin am Institut für Theaterwissenschaft (Heisenberg-Stelle, DFG) an der Universität Leipzig. Mayte Zimmermann, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für zeitgenössisches Theater und Performance der Universität Koblenz.

Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Andreas Englhart

Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute 2017, 502 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2400-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2400-1

Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)

Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3991-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de