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German Pages [425]
Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)
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Erhard Blum
Textgestalt und Komposition Exegetische Beiträge zu Tora und Vordere Propheten Herausgegeben von
Wolfgang Oswald
Mohr Siebeck
Erhard Blum, geboren 1950; Studium der Evangelischen Theologie in Heidelberg und Jerusalem; 1982 Promotion; 1988 Habilitation; 1989–2000 Inhaber des Lehrstuhls für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Biblische Theologie an der Universität Augsburg; seit 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Altes Testament mit Schwerpunkt Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Universität Tübingen. Wolfgang Oswald, geboren 1958; seit 2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evang.-theol. Fakultät der Universität Tübingen; seit 2009 Leiter des DFG-geförderten Forschungsprojekts „Historische und literarisch-ästhetische Kommentierung des Buches Exodus“.
e-ISBN PDF 978-3-16-151110-3 ISBN 978-3-16-150306-1 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet überhttp://dnb. d-nb.de abrufbar. © 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band versammelt wichtige exegetische Arbeiten von Erhard Blum zu den Kanonteilen Tora und Vordere Propheten, darunter auch solche, die heute nicht mehr ohne weiteres zugänglich sind. Der Titel „Textgestalt und Komposition“ bringt dabei das methodische Programm zum Ausdruck, mit dem Erhard Blum Anfang der 1980er-Jahre an die wissenschaftliche Öffentlichkeit trat und das alle seine Arbeiten durchzieht: Das Voranschreiten von der präzisen Wahrnehmung, Beschreibung und Interpretation der Textgestalt zur Darstellung der literarischen Kompositionen und ihrer Geschichte, die für die Formation der erzählenden Bücher von der Genesis bis zu den Königebüchern maßgeblich waren. Im Mittelpunkt stehen die „in der Textgestalt zum Ausdruck gebrachten Intentionen“ (S. 209) und deren Einordnung in die Literatur- und Religionsgeschichte des Alten Israel. Dieses Programm hat Erhard Blum in seinen beiden großen Monographien „Die Komposition der Vätergeschichte“ von 1984 und „Studien zur Komposition des Pentateuch“ aus dem Jahr 1990 vorgetragen und damit die internationale Forschung am Alten Testament in entscheidender Weise geprägt. Seine Beiträge haben einen erheblichen Anteil daran, dass die Pentateuchforschung aus der Sackgasse, in die sie durch ein allzu langes Festhalten an der Urkunden-Hypothese geraten war, wieder herausfand. Die hier versammelten Aufsätze greifen einerseits einige neuralgische Punkte im Pentateuch auf, die nach einer gesonderten Aufarbeitung verlangten, andererseits stellen sie das kompositionsgeschichtliche Modell auf eine breitere Basis, indem sie dessen Konsequenz für die Bücher Josua bis Könige darstellen. Immer wieder rücken die „kompositionellen Knoten“, wie ein Aufsatztitel prägnant formuliert, in den Mittelpunkt, um an ihnen die entscheidenden Weichenstellungen in der Literargeschichte dieser alttestamentlichen Bücher aufzuzeigen. Zugleich musste für diese Sammlung eine Auswahl getroffen werden. Die erste Entscheidung betraf die thematische Beschränkung, so dass die Arbeiten von Erhard Blum zur exegetischen Methodologie sowie zur alttestamentlichen und altorientalischen Prophetie einem – in gewissem Abstand erscheinenden – weiteren Band vorbehalten bleiben. Zudem wurden kleinere Beiträge zu Pentateuch-Fragen ausgeklammert, sowie solche eher resümie-
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Vorwort
renden Charakters. Angestrebt wurde jedoch, jene Arbeiten aufzunehmen, die mit dezidierten Neulesungen und Interpretationsvorschlägen die Forschungsdiskussion nachhaltig geprägt haben und prägen. Die Reihenfolge des Wiederabdrucks in diesem Band orientiert sich dabei nicht an der Chronologie ihrer Erstveröffentlichung, sondern cum grano salis am Kanon. Für den vorliegenden Band wurden die Aufsätze soweit möglich und sinnvoll in formaler Hinsicht angepasst und vereinheitlicht. So findet jetzt die neue Rechtschreibung Anwendung (Zitate anderer Autoren ausgenommen). Orts- und Personennamen sowie die Abkürzungen für biblische Bücher wurden vereinheitlicht, ebenso die bibliographischen Angaben in den Anmerkungen. In einigen Aufsätzen wurden hebräische Passagen, die im Original in Umschrift wiedergegeben waren, in Quadratschrift gesetzt. Schließlich wurden auch gelegentliche Schreibfehler und kleinere Versehen stillschweigend korrigiert. Für die gute Zusammenarbeit sei gedankt dem Cheflektor des Verlages Mohr Siebeck, Herrn Dr. Henning Ziebritzki, sowie den Herausgebern der „Forschungen zum Alten Testament“, den Professoren Bernd Janowski, Hermann Spieckermann und Mark S. Smith. Am Lehrstuhl haben sich insbesondere Sabine Rumpel, Kristin Weingart und Benjamin Häfele um die Aufbereitung der Texte verdient gemacht. Auch ihnen gilt ein herzlicher Dank. Gute Wünsche gelten dem Autor, zu dessen 60. Geburtstag diese Sammlung erscheint.
Tübingen, im Januar 2010
Wolfgang Oswald
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit. Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
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Die Komplexität der Überlieferung. Zur diachronen und synchronen Auslegung von Gen 32,23–33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus. Ein Gespräch mit neueren Endredaktionshypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(mit Ruth Blum) Zippora und ihr
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Die Feuersäule in Ex 13–14 – eine Spur der „Endredaktion“? Das sog. „Privilegrecht“ in Exodus 34,11–26. Ein Fixpunkt der Komposition des Exodusbuches?
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Esra, die Mosetora und die persische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Gibt es die Endgestalt des Pentateuch?
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Beschneidung und Passa in Kanaan. Beobachtungen und Mutmaßungen zu Jos 5
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Der kompositionelle Knoten am Übergang von Josua zu Richter. Ein Entflechtungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thronfolgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
VIII
Inhaltsverzeichnis
Die Lüge des Propheten. Ein Lesevorschlag zu einer befremdlichen Geschichte (1 Kön 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Der Prophet und das Verderben Israels: Eine ganzheitliche, historisch-kritische Lektüre von 1 Kön 17–19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Die Nabotüberlieferungen und die Kompositionsgeschichte der Vorderen Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Pentateuch – Hexateuch – Enneateuch? Oder: Woran erkennt man ein literarisches Werk in der Hebräischen Bibel? . 375
Nachweis der Erstveröffentlichungen Stellenregister
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Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung Auf einem Symposium zu Ehren eines Kommentators der Urgeschichte in spe und des Autors einer schönen Anthropologie in re1 liegt es nahe, den Text zu Wort kommen zu lassen, der in der Urgeschichte – neben Gen 1 – theologisch das Belangreichste „vom Menschen“ zu sagen hat: die Paradieserzählung in Gen 2–3. Nun ist dieser Text exegetisch gerade in jüngster Zeit wiederholt und eingehend bearbeitet worden. Das Ergebnis sind unter anderem diffizile redaktionsgeschichtliche Hypothesen und eine Diskussion darüber, ob die seit Wellhausen geradezu selbstverständliche zeitliche Zuordnung der beiden Schöpfungstexte in Gen 1 und 2–3, nämlich die Priorität der Paradiesgeschichte, nicht – ganz oder teilweise – umgekehrt werden sollte. Die Urteilsbildung zu beiden Fragehorizonten hat unmittelbare Konsequenzen für die sachliche Deutung des Textes. Es gibt also Diskussionsbedarf. Deshalb werden im Folgenden zunächst neuere Vorschläge zur Redaktionsgeschichte zu diskutieren sein, sodann die diachrone Relation zu Gen 1. Der dritte Teil wird schließlich – dadurch angeregt – eine eigene Lesung der Erzählung vorstellen, die versuchen wird, sich bewusst und hartnäckig auf ihre anspruchsvolle Komplexität einzulassen. |
I Es ist eben diese Komplexität, die den Text mitunter überladen oder gar ungereimt erscheinen lässt und die nachhaltige Neigung der Forschung zu diachronen Erklärungsversuchen2 verständlich macht. Zu Anfang des 20. 1 B. J ANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003. 2 Zur älteren Forschung vgl. den Abriss bei C. WESTERMANN, Genesis 1–11 (EdF 7), Darmstadt 1972, 26ff., zur neueren die Zusammenstellung bei H. PFEIFFER, Der Baum in der Mitte des Gartens. Zum überlieferungsgeschichtlichen Ursprung der Paradieserzählung
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Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit
[9–10]
Jh.s gehörten dazu noch klassisch quellenkritische Versuche3. Später folgten Jahrzehnte eines bemerkenswert breiten Konsenses, wonach die | beobachteten Inkohärenzen „überlieferungsgeschichtlich“, genauer: mit der Rezeption mündlicher Erzählüberlieferung zu erklären wären. Exemplarisch für diesen Ansatz sind die Auslegungen von G. von Rad4, W.H. Schmidt5 und vor allem die grundlegende Studie von O.H. Steck.6 So postuliert Steck als Vorstufe unserer „Paradieserzählung“, die er traditionsgemäß dem „Jahwisten“ zuordnet, eine ältere mündliche „Paradiesgeschichte“ von der Vertreibung eines einzelnen Urmenschen aus dem Gottesgarten, in dessen Mitte ein besonderer Baum stand. Eine genaue Abgrenzung dieser mündlichen Vorstufe, gar in einer Wortlautrekonstruktion lehnt Steck aus methodischen Gründen ab. Gleichwohl kann er die mündliche Vorlage auch zur Erklärung syntaktischer Auffälligkeiten im vorliegenden Text heranziehen.7 In solchen Fällen gleicht das Modell der mündlichen Überlieferungsgeschichte freilich einer im Anspruch reduzierten Literarkritik, die sich in Vorstufenrekonstruktionen gegebenenfalls mit Umrissen begnügen kann.9–10 Weniger zurückhaltend geben sich im Vergleich die neuesten Analysen unter dem Zeichen der Redaktionsgeschichte.8 Unter diesen zeitigte vor allem diejenige C. Levins9 nachhaltige Wirkung. Levin identifiziert zunächst eine Grundschicht in Gen 2 mit Gen 3,20f. als Abschluss. Es ist eine Erzählung von der Erschaffung des Menschen, seiner Einsetzung in den neu angelegten Gottesgarten zu Eden, von der Erschaffung der Tiere und deren (Gen 2,4b–3,24). Teil I: Analyse, ZAW 112 (2000) 487–500, Teil II: Prägende Traditionen und theologische Akzente, ZAW 113 (2001) 2–16, darin Teil I, 487f., Anm. 3. 3 S. z.B. H. GUNKEL, Genesis (HKAT 1/1), Göttingen 19103, 25ff. (zwei Rezensionen: „Jj“ und „Je“); R. SMEND, Die Erzählung des Hexateuch auf ihre Quellen untersucht, Berlin 1912, 18ff. (ein älterer Jahwist [J1] und ein jüngerer [J2]); O. PROCKSCH, Genesis (KAT I), Leipzig-Erlangen 19242+3, 19ff. (zwei Überlieferungen von J verbunden). 4 G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen (1949) 19724, bes. 70ff. 5 W.H. SCHMIDT, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift. Zur Überlieferungsgeschichte von Genesis 1,1–2,4a und 2,4b–3,24 (WMANT 17), Neukirchen-Vluyn 19672, 194ff. 6 O.H. STECK, Die Paradieserzählung. Eine Auslegung von Genesis 2,4b–3,24 (BSt 60), Neukirchen-Vluyn 1970 (= DERS., Wahrnehmungen Gottes im AT. Gesammelte Studien [ThB 70], München 1982, 9–116). 7 Vgl. STECK, Paradieserzählung (Anm. 6), 49, zu 2,9b. 8 Dies durchaus in Übereinstimmung mit dem exegetischen Zeitgeist, wie er sich in den nicht hinterfragten Selbstverständlichkeiten der Theoriebildungen spiegelt: Finden sich Berührungen oder Verwandtschaft zwischen Texten, dann deuten sie auf literarische Abhängigkeiten. Finden sich in einem Text Inkohärenzen, dann deuten sie auf Fortschreibungsschichten, die man wieder säuberlich von einander lösen kann. 9 C. LEVIN, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen 1993, 82ff. Zur genauen Schichtenzuweisung vgl. den Anhang.
[10–11]
Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit
3
Benennung durch den Menschen, sodann vom „Bau“ der Frau aus der Rippe des ’adam und ihre Benennung als und schließlich von der Bekleidung der Menschen durch Gott. Diese Schöpfungsgeschichte sei dann von einem Redaktor, Levins exilischem „Jahwisten“, zu einer Erzählung von Schöpfung und Fall ausgearbeitet worden. In diesen Grundzügen wurde die Analyse in der neueren Monographie von M. Witte10 zur Urgeschichte und in R.G. Kratz’11 „Lehrbuch“ zu den erzählenden Büchern des AT rezipiert. Über die Einzel|zuordnungen orientiert die Tabelle im Anhang. – Bildet sich hier so etwas wie ein Konsens heraus?1210–11 Das auffälligste Merkmal der Rekonstruktion bildet zweifellos der direkte Anschluss des Verses 3,20 an 2,22. Tatsächlich findet C. Levin bei 3,20f. „den Schlüssel zur Trennung von Quelle und Redaktion“ mit der von Wellhausen übernommenen Einschätzung, dass „die Benennung der Frau als Reaktion auf den Fluch [sc. von 3,17–19] nicht am Platze“ sei.13 Wie bei den Tieren habe sie vielmehr „ursprünglich an die Erschaffung … angeschlossen“. Das Ergebnis stellt sich im Wortlaut14 folgendermaßen dar: 2,5a* 2,7a* 2,8
2,19a*
Ehe alles Gesträuch des Feldes auf der Erde war, bildete Gott (.) den Menschen (…) und blies ihm Lebensodem in seine Nase. (…) Dann pflanzte Gott (.) einen Garten in Eden gegen Osten und setzte den Menschen hinein, den er gebildet hatte: Und Gott (.) bildete (…) alle die Tiere des Feldes und alle die Vögel des Himmels,
10 M. WITTE, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1–11,26 (BZAW 265), Berlin/New York 1998, 155ff. 11 R.G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments (UTB 2157), Göttingen 2000, 254f. 12 Freilich gibt es daneben weiterhin gewichtige Stimmen zugunsten einer literarischen Einheitlichkeit (R. Albertz, E. Otto, K. Schmid; s.i.F.). Eigene diachron-analytische Wege gingen in jüngster Zeit D.U. ROTTZOLL, Die Schöpfungs- und Fallerzählung in Gen 2f. Teil 1: Die Fallerzählung (Gen 3), ZAW 109 (1997) 481–499; Teil 2: Die Schöpfungserzählung, ZAW 110 (1998) 1–15, und PFEIFFER, Baum I/II (Anm. 2), s.u. Anhang. Die komplizierte Analyse von Rottzoll arbeitet in Gen 3 (im Anschluss an D. Michel) einen ursprünglich außerisraelitischen „Götter-Neid-Mythos“ heraus (3,1a*. 2–7.22*.24), der aber weder als eigenständige Überlieferung verständlich wäre, noch die ihm zugeschriebene Pointe (Raub der Sexualität durch den Menschen mit Hilfe des klugen Schlangerichs) erfolgreich formulierte. Daraus und aus einer älteren Schöpfungserzählung hätte „J“ im Wesentlichen die vorliegende Erzählung gebildet. Die deutlich vorsichtigere Analyse Pfeiffers, die nach der literarischen Ausscheidung (im Wesentlichen) des Lebensbaums und von 2,10–14 noch eine ältere mündliche Vorstufe (mit Schöpfung und „Fall“) zu umreißen versucht, erscheint mir vor allem im Blick auf die herangezogenen Traditionen vom „Weltenbaum“ und einer mehrstufigen Anthropogonie bedeutsam. 13 LEVIN, Jahwist (Anm. 9), 83. 14 In der Übersetzung von LEVIN, a.a.O., 51f.
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2,20a* 2,21
2,22* 3,20 3,21
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und er brachte sie zu dem Menschen (…). Und der Mensch gab allen (…) Vögeln des Himmels und allem Tier des Feldes Namen. (…) Dann ließ Gott (.) einen Tiefschlaf auf den Menschen fallen, so dass er einschlief. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch; und Gott (.) baute aus der Rippe (…) eine Frau, und brachte sie zum Menschen. Und der Mensch nannte seine Frau Eva, denn sie wurde die Mutter aller Lebenden. | 11–12 Und Gott (.) machte ‚dem Menschen‘ und seiner Frau Röcke von Fell und zog sie ihnen an.
Mit literarkritischen Augen beurteilt, weist die so postulierte Erzählung allerdings einige narrative Leerstellen/Unstimmigkeiten auf: – Wozu bedarf es des Gartens? – Er hat im Ganzen keine Funktion. – Die „als-noch-nicht-Aussage“ vom Anfang wird am Ende nicht eingeholt; m.a.W.: Weshalb differieren der Garten in Eden und die Wirklichkeit der Leser? – Wozu werden die Tiere geschaffen? – Weshalb wird die Frau erst nach den Tieren erschaffen und weshalb wird sie aus einer Rippe des Mannes „gebaut“? – Woher weiß der Mensch in 3,20, dass die Frau die „Mutter aller Lebenden“ geworden war?15 Solche Anfragen an die Kohärenz16 der „Grundschicht“ betreffen die Substanz der Handlung; sie alle stellen sich im überlieferten Text gar nicht oder werden darin beantwortet. Dies gilt insbesondere für die Frage, weshalb die Frau aus einem Knochen des Mannes „gebaut“ wird, und nicht nach Analogie des Menschen und der Tiere geschaffen. Altorientalisch gibt es für dieses Motiv keine Parallelen – was nicht verwundert, denn es ist in der Paradieserzählung aus der in V. 22 zitierten und wörtlich genommenen „Verwandtschaftsformel“ herausgesponnen: „Diese ist jetzt Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch!“ Eben daraus leitet der jubelnde ’adam die Wesensverwandtschaft mit der Frau ab: „Diese soll ‚Männin‘ heißen, denn vom Mann ist sie genommen.“
15 Das Statement von K. BUDDE, Die biblische Paradiesesgeschichte (BZAW 60), Gießen 1932, 74, „mit seinem Wortlaut“ sei V. 20 „hier ganz unmöglich“, trifft für die vorliegende Erzählung nicht zu (s. gleich), jedenfalls aber für die zitierte Rekonstruktion. 16 Eine zupackende Literarkritik würde zweifellos noch weitere Spannungen konstatieren, z.B. die Benennung der Tiere mit Gattungsnamen, aber der Frau mit einem Eigennamen; das isolierte Motiv der Kleidung.
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Eine diachrone Ausscheidung von V. 22 beraubt die Darstellung der Erschaffung der Frau also schlicht ihrer Pointe!17 Auf diese Pointe zielt aber bereits die vorangestellte Erschaffung und Zuführung der Tiere zum Menschen in einem ‚Trial-and-Error-Verfahren‘ (V. 19–20). Dieses hat seinerseits die Suche nach einer passenden „Hilfe“ für den Menschen und damit dessen Arbeit im Garten zur Voraussetzung. M.a.W., | die vorgeschlagenen literarkritischen Reduktionen belassen lediglich den Torso einer Erzählung.12–13 H. Spieckermann18 teilt die diachrone Differenzierung zwischen einer reinen Schöpfungserzählung und deren redaktioneller Transformation zu einer Geschichte vom Fall. Seine Grundschicht (2,5–9a*.18–24; 3,20.21. [23]) vermeidet freilich die genannten Aporien. Gleichwohl bleiben auch bei dieser Textrekonstruktion Fragen: So gibt die Schöpfungserzählung nicht deutlich zu erkennen, weshalb der Garten für den Menschen angelegt wird und vor allem weshalb er ihn alsbald verlassen muss. Zwar ist für Spieckermann der Garten zunächst einmal „der Ort des Urgeschehens“, aus dem die Menschen entlassen werden, nachdem sie „Individuation und Reife für die zugedachten Aufgaben der Fortpflanzung und Kultivierung des Ackerbodens“ erreicht hatten; Zeichen dieser Reife sei die Benennung Evas in 3,20.19 Reifung/Individuation setzt aber eine Veränderung/Transformation voraus, wie etwa bei Enkidu im Gilgamesch; sie ist nicht einfach da, wie in der angenommenen Grundschicht, wo Benennung, Bekleidung und Entlassung unmittelbar auf die Erschaffung der Frau folgen. Mann und Frau haben hier im Grunde keine Geschichte – anders in der Paradieserzählung! Im Übrigen lässt auch schon die Einführung des herrlichen Gottesgartens im Wonneland als Kontrastbild zur Lebenswelt der Adressaten wohl mehr erwarten als eine temporäre Vorbereitung der Geschöpfe. Mehr noch, man hat damit zu rechnen, dass gebildete Adressaten dabei selbstverständlich Traditionen vom Urmenschen und vom Gottesgarten assoziierten, wie sie auch Ez 28 als bekannt voraussetzen kann. Auch wenn die aktuellen literarkritischen Scheidungen in den Ergebnissen sich m.E. also nicht empfehlen, sind damit die Textbefunde, von denen sie ausgehen, noch nicht abgetan oder erklärt. Ob sich die Erzählung im 17 S. auch K. SCHMID, Die Unteilbarkeit der Weisheit. Überlegungen zur sogenannten Paradieserzählung Gen 2f. und ihrer theologischen Tendenz, ZAW 114 (2002) 21–39, darin 25, Anm. 29. 18 H. SPIECKERMANN, Ambivalenzen. Ermöglichte und verwirklichte Schöpfung in Genesis 2f, in: Verbindungslinien (FS W.H. Schmidt), hg. von A. Graupner u.a., Neukirchen-Vluyn 2000, 363–376. 19 SPIECKERMANN, Ambivalenzen (Anm. 18), 365.
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Gegenzug substantiell als literarische Einheit erweist, wie es zuletzt auch E. Otto und K. Schmid vertreten, muss die Auslegung zeigen. Zuvor ist aber, wie angekündigt, die neuerdings diskutierte Frage einer möglichen Abhängigkeit der Paradieserzählung von deuteronomistischen und priesterlichen Texten, insbesondere von intertextuellen Bezügen zu Gen 1, zu besprechen. | 13–14
II Zur Vielfalt der gegenwärtigen Pentateuchdiskussion gehört, dass für den Bereich der Urgeschichte (und darüber hinaus) auch eine Rückkehr zum Paradigma von „P“ als „Grundschrift“ aus der Ära vor Kuenen und Wellhausen erwogen wird. Vor allem J. Blenkinsopp20 und E. Otto21 vertreten ein Verständnis der nicht-priesterlichen Urgeschichte als nach-priesterlicher Ergänzungsschicht. Im Blick auf Gen 2–3 begnügt sich Blenkinsopp im Wesentlichen damit, hierin nachexilische Sprache und Theologie22 aufweisen zu wollen. E. Otto ist um einen genaueren Nachweis bemüht, der die Dependenz der (einheitlichen) Paradieserzählung von spät-deuteronomistischen Texten
20
J. BLENKINSOPP, P and J in Genesis 1:1–11:26. An Alternative Hypothesis, in: Fortunate the Eyes That See (FS D.N. Freedman), hg. von A.B. Beck, Grand Rapids 1995, 1–15; DERS., A Post-exilic Lay Source in Genesis 1–11, in: J.C. GERTZ u.a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin/New York 2002, 49–61. 21 E. OTTO, Die Paradieserzählung Genesis 2–3. Eine nachpriesterschriftliche Lehrerzählung in ihrem religionshistorischen Kontext, in: „Jedes Ding hat seine Zeit …“. Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit (FS D. Michel), hg. von A.A. DIESEL u.a. (BZAW 241), Berlin/New York 1996, 167–192. 22 Dazu gehört die These, wonach die Paradieserzählung eine Transkription geschichtlicher Katastrophenerfahrung in mythische Kategorien darstelle: Als Strafe für den Ungehorsam erfahre der Mensch nicht Tod, sondern „Exil“, und „[b]ehind the seductive Snake and the Tree of Ambiguous Knowledge we may discern cults carried out both before and after 586 B.C. in gardens, featuring sacred trees; and the role of the Woman in Eden recalls the concerns and anxiety about women as the occasion for adopting such cults …” (BLENKINSOPP, Lay Source [Anm. 20], 51). Von der allegorisierenden Deutung der Schlange etc. einmal abgesehen, hätte freilich die Allegorese der Vertreibung aus dem Garten als Chiffre für das Exil die merkwürdige Implikation, dass die Leser in den Lebensbedingungen des palästinischen Bauern ein Bild für das Leben in der Flusslandschaft Babyloniens und umgekehrt im ständig bewässerten Garten eine Chiffre für Kanaan erkennen sollten. Als jüngsten Versuch, einen Zusammenhang zwischen „la perte du jardin d’Eden et celle de Jérusalem“ aufzuweisen, vgl. B. GOSSE, L’inclusion de l’ensemble Genèse – II Rois, entre la perte du jardin d’Eden et celle de Jérusalem, ZAW 114 (2002) 189–211.
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und von „P“ belegen soll. Allerdings ist zu fragen, ob die angeführten Befunde dies leisten. Einige charakteristische Argumentationen mögen das Problem exemplarisch verdeutlichen: In Gen 2,15, das folgendermaßen wiedergegeben wird:23 „Und JHWH Elohim nahm (wajjiqah) den Menschen und ließ ihn Ruhe finden (wajjanniheû) im Garten Eden“, entdeckt Otto Bezüge zu deuteronomistischen Texten: neben dem Lexem (mit Verweis auf Dtn 4,20.34.37) vor allem das dtr „Ruhe“-Motiv (mit Verweis auf Dtn 12,9ff.). Einmal davon abgesehen, dass man für Letzteres in 2,15 eine andere Hif ilBildung von zu konjizieren hätte, geht es bei dem dtr Topos aber immer um „Ruhe vor den Feinden ringsum“ oder um Ruhe nach dem langen Weg ins Land. Beides wäre jedoch in Gen 2 offensichtlich sinnlos und bleibt darin auch ohne transparente Analogie. Weiterhin verweist Otto24 auf Dtn 13,5 und meint, der Vers lese sich „wie ein Vokabular für Gen 2–3“: „JHWH, eurem Gott, sollt ihr folgen (lk), ihn sollt ihr fürchten (jr’), und seine Gebote (miswotjw) sollt ihr bewahren (šmr), auf seine | Stimme (be-qolô) sollt ihr hören (šm), ihm sollt ihr dienen (bd), und an ihm sollt ihr festhalten (dbq).“ In der Tat finden sich entsprechende Lexeme auch in Gen 2–3: 2,15f.: „Gott JHWH setzte ihn in den Garten, ihn zu bebauen (bd) und zu hüten (šmr). Und Gott JHWH gebot (sw) dem Menschen: …“; 2,25: „und der Mann wird seiner Frau anhangen (dbq).“; *3,9.10: „Sie hörten das Geräusch (qol) von Gott J., der sich im Garten erging (itallek) beim Tageswind … Ich hörte dein Geräusch im Garten und fürchtete (jr’) mich, weil ich nackt bin …“; 3,17: „Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört hast (šm be-qol) und vom Baum gegessen hast, von dem ich dir befohlen hatte (sw): ‚Du sollst nicht davon essen‘ …“ – Doch was ist der Sachzusammenhang zwischen „Bebauen des Gartens“ und „JHWH dienen“ oder „Hüten des Gartens Eden“ und „Halten der Gebote“ oder zwischen „JHWH folgen“ und dem Lustwandeln des Schöpfers im Garten? Parallelen ergeben sich hier nur über eine Atomisierung von Lexemen und die Abstraktion von Syntax und Semantik. Entsprechendes gilt für die behaupteten Parallelen zu Dtn 4 und 30.25 Aber, ein Text ist ein Text und kein Cluster von Lexemen!2614–15 Der sprachliche Nachweis einer Verortung nach P schließlich hängt an der Wendung
in 2,7.27 Der Ausdruck kommt alttestamentlich – freilich bezogen auf Tiere –
23
OTTO, Paradieserzählung (Anm. 21), 180. OTTO, a.a.O., 181. 25 OTTO, a.a.O., 182. 26 Bezieht man dagegen den jeweiligen Kontext mit seiner Semantik ein, dann dürften die aufgeführten Vergleiche geradezu Argumente gegen einen traditionsgeschichtlichen oder gar literarischen Zusammenhang bieten. 27 Weitere Abhängigkeiten der Paradieserzählung von Gen 1 findet OTTO in der Benennung der Tiere durch den Menschen (2,19), womit die Benennung der drei ersten Schöpfungswerke durch Gott in Gen 1 aufgenommen würde (mit als Klammer) (Paradieserzählung [Anm. 21], 184f.). Auch knüpfe „das Motiv der dem Menschen zugesprochenen Baumfrüchte (Gen 2,16) an Gen 1,29 an“ (Paradieserzählung [Anm. 21], 185). Zumindest bei letzterem käme, wenn überhaupt, nur die umgekehrte Abhängigkeit in Frage, da das Motiv des Gottesgartens kaum aus Gen 1 herzuleiten sein wird. Die eingehende Argumentation zu 2,4 (Paradieserzählung [Anm. 21], 185ff.) schließlich verdeutlicht, dass Gen 2,4a.b bündig als Überleitung zwischen den beiden Schöpfungsberichten gestaltet sind. Allerdings lässt sich der Gesamtbefund m.E. nicht weniger schlüssig mit einer Abhängigkeit der P-Texte von nicht-P erklären. 24
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Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit
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gerade einmal in vier Abschnitten vor: Gen 1 und 9, in Lev 11 und in Ez 47,9. Daraus einen Idiolekt oder eine sprachliche Innovation von P abzuleiten, bleibt gewagt; nur in einem solchen Falle könnte aber 2,7b eine Abhängigkeit von Gen 1 belegen (oder eine spätere Eintragung von Gen 1 her28).
Nun ist die ganze Frage für unseren Zusammenhang lediglich insoweit von Interesse, als sich daraus unmittelbare Konsequenzen für die inhaltliche Deutung von Gen 2–3 ergeben könnten. Solche Konsequenzen werden insbesondere von H. Spieckermann benannt, der in Gen 2–3 eine kritische theologische Auseinandersetzung mit Gen 1 findet. Er schreibt diese Tendenz allerdings nicht dem Gesamttext zu, sondern der postulierten redaktionellen Ergänzung der ursprünglichen Menschenschöpfung zu einer Geschichte vom Fall, die zugleich die vorpriesterliche Tradition mit der Priesterschrift redaktionell verbunden hätte. An|ders als bei Otto stehen dabei nicht Sprachgebrauchsargumente u.Ä. im Vordergrund, sondern inhaltliche Bezugnahmen: „Diese große literarische Aufweitung [sc. die erste Redaktion in Gen 2–3, E.B.] setzt mit ihrer Sicht von Gut und Böse und mit ihrer Problematisierung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1 voraus.“29 Im Blick auf die Schöpfung, wie sie von Gen 3 her zu sehen ist, heißt dies dann: „Realisierte Schöpfung im Sinne der Ankunft in der Wirklichkeit und der Erkenntnis der gesetzten Grenzen und verspielten Möglichkeiten des Menschen ist nicht allein gut oder gar sehr gut, wie Gen 1 sagt, sondern besteht im verschlungenen Zusammensein von Gut und Böse. Gen 1 erfährt durch Gen 2f. eine Korrektur.“30 Vorausgesetzt ist hier eine subtil entfaltete Unterscheidung von Gen 2 als Darstellung von Schöpfung als Potentialität und Gen 3 als Darstellung einer bestimmten Realisierung der Schöpfung, welche die Welt der Adressaten in ihrer ganzen Ambivalenz aufnimmt. Eine wesentliche Pointe bestände dabei eben im theologischen Widerspruch zum ersten priesterlichen Schöpfungsbericht.15–16 Ohne die anregende Auslegung im Ganzen diskutieren zu können, sind hier doch die skizzierten Bezugnahmen auf Gen 1 zu prüfen. Die elementarste Rückfrage lautet, ob die unterstellten Gegenpositionen sich in der Urgeschichte wirklich finden: So ist auch in der priesterlichen Linie die „sehr gute“ Welt von Gen 1 ja nicht einfach die vorfindliche Wirklichkeit der Adressaten. Vielmehr muss das Urteil von 1,31 innerhalb der Schöpfungsgeschichte von „P“ sogleich in 6,12 revidiert werden: „Und Gott sah die Erde, und siehe, sie war verderbt.“ Und die Mensch und Tiere betref-
28
So LEVIN, Jahwist (Anm. 9), 89; PFEIFFER, Baum I (Anm. 2), 493. SPIECKERMANN, Ambivalenzen (Anm. 18), 365. Vgl. auch BLENKINSOPP, Alternative Hypothesis (Anm. 20), 7. 30 SPIECKERMANN, Ambivalenzen (Anm. 18), 371. 29
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fenden Ordnungen von Gen 1 werden nach der Flut in Gen 9 revidiert.31 Die vermuteten Korrekturen des Ergänzers in Gen 2–3 hätten insofern eine letztlich missverstandene P-Vorlage im Visier. Umgekehrt gibt die Paradieserzählung nicht zu erkennen, dass bei der Menschenschöpfung in Gen 2 das „Gutsein“ dieser Schöpfung zur Debatte stünde; letzteres gilt, wie wir noch sehen werden, auch im Blick auf die den Menschen vorenthaltene „Erkenntnis von Gut und Böse“. Kurzum, bislang sehe ich noch keine klaren Indizien dafür, dass die Paradieserzählung bei ihren intendierten Lesern die Kenntnis von Gen 1 etc. voraussetzte. Kompositionsgeschichtlich dürfte eher Gen 1 als Leseanweisung für Gen 2 gedacht sein. Im kanonischen Endtext allerdings ist die Bühne frei für jede Art von Midraschbildung. |16–17
III In der Konsequenz ist die Paradieserzählung demnach aus sich heraus zu interpretieren. Ich meine, sie lässt sich zudem als konzise narrative Einheit lesen, wobei gerade die traditionellen Anstöße der diachronen Hypothesen sich als hilfreich erweisen können. Dazu gehören beispielsweise die ungewöhnliche Gottesbezeichnung JHWH ’elohim, die narrative Rolle der beiden Bäume in der Mitte des Gartens, die Benennung Evas unmittelbar nach dem strafenden Gotteswort u.ä.m. Dazu gehören insbesondere auch die beiden thematischen Linien der „Erkenntnis von Gut und Böse“ und der Möglichkeiten von Leben und Tod, die vielen Auslegern ebenso sekundär verknüpft erscheinen wie das Nebeneinander der zwei Bäume. Die im Folgenden vertretene Lesung der Erzählung impliziert, dass diese disparat wirkenden Elemente in ihrer spezifischen narrativen Durchführung perspektivisch auf eine elementare Grundfrage als gemeinsamen Fluchtpunkt hin gestaltet sind: die Frage der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, von Gott und Mensch. Anders als diese These bedarf ein anderer, die Gesamtstruktur des Textes betreffender Aspekt hier keiner weiteren Begründung: die Einsicht in die ätiologische Grundanlage der Geschichte mit ihrer Ausrichtung auf die Lebenswelt des palästinischen Bauern.32 Gleichwohl erscheint es im Vorfeld notwendig, einen Teilaspekt dieser ätiologischen Ausrichtung abzuklären, der die verschiedenen Referenzwelten innerhalb der narratio betrifft: 31
Zum Einzelnen: E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin/New York 1990, 289ff. 32 Grundlegend bleibt hier die Analyse von STECK, Paradieserzählung (Anm. 6), bes. 66ff.
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Der einleitende Vers Gen 2,5 gibt eine Beschreibung der sog. „Vorwelt“ via negationis mit den typischen „noch-nicht-Aussagen“. Die Referenzwelt für dieses „noch nicht“ bildet nun aber nicht die unmittelbar folgende Schöpfungswirklichkeit des Gartens und des Menschen darin, sondern die Welt, wie sie von Erzähler und Adressaten erfahren wird: Weder die Vegetation von Wild- und Kulturpflanzen noch der dazu erforderliche Regen gehören zum Gottesgarten in Eden; und auch der Mensch wird zum Ackerbauern erst mit der Vertreibung in 3,23–24; davor ist er Gärtner. Allein Gen 2,6 benennt eine Gegebenheit der Vorwelt, die eine unabdingbare Voraussetzung für die Menschenschöpfung darstellt: das Wasser aus der Tiefe, welches die gesamte Erdoberfläche feucht hält. – Kein Töpfer, auch nicht der göttliche, kann mit trockenem Staub arbeiten, er benötigt die feucht durchtränkte Erdkrume.33 | 17–18 Mit der Anlage des Gartens scheint diese Vorweltsituation der allgemeinen Bewässerung erledigt zu sein: der Mensch wird sie beim Verlassen des Gartens nicht mehr vorfinden, und der Garten selbst wird nach 2,10–14 von einem gewaltigen Strom bewässert, der in Eden entspringt und sich nach dem Garten in die vier Weltströme teilt. Diese Beschreibung führt unvermittelt in die Welt der Adressaten – mit den Verweisen u.a. auf Tigris und Euphrat und mit dem Gihon, der mir von der gleichnamigen Stadtquelle des Zion kaum völlig zu trennen scheint.34 Die Erzählung wird hier gleichsam angehalten für einen geographischen Exkurs, der die Ökumene der Leser in ihrer weiter bestehenden Beziehung zum ursprungsmythischen Garten zeigt: Die lebenspendenden Ströme der Erde haben alle dort ihren Ursprung. Das „kosmotheologische“ Syndrom von heiligem Raum, Gottesberg bzw. -garten, heiligem Baum, vier Wasserläufen etc. ist traditionsgeschichtlich denn auch vielfach belegt35. Gleichwohl gilt der 33 Vgl. BUDDE, Paradiesesgeschichte (Anm. 15), 7.10, zur Durchfeuchtung der ganzen Erdoberfläche: „Jahwe soll nur zuzugreifen brauchen, wo immer er mag.“ 34 Die Skepsis von B. JANOWSKI, Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologische Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, in: O. KEEL / E. ZENGER (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels (QD 191), Freiburg 2002, 24–68, darin 53, Anm. 119 (Lit!); 56, Anm. 128, ist verständlich; zumindest was die Geographie betrifft scheint aber antikem Denken kaum etwas unvorstellbar zu sein. BUDDE, Paradiesesgeschichte (Anm. 15), 25f., der für Gihon in Gen 2,13 den Nil favorisiert (so zuletzt auch E. NOORT, Gan-Eden in the Context of the Mythology of the Hebrew Bible, in: G.P. LUTTIKHUIZEN [Hg.], Paradise Interpreted. Representations of Biblical Paradise in Judaism and Christianity [TBN 2], Leiden u.a. 1999, 21–36, darin 29ff.), verweist darauf, dass Alexander der Große den Indus für den Oberlauf des Nil hielt, Pausanias den Nil für die Fortsetzung des Euphrat etc. Könnte der Jerusalemer Gihon als (z.T. verborgen verlaufender) Quell(fluss) des Nil gedacht worden sein? 35 Vgl. O. KEEL, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1972, 118ff.; Abb. 153, 153a, 185, 191; M. DIETRICH, Das biblische Paradies und der babylonische Tempelgarten. Überle-
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Exkurs von V. 10–14 überwiegend als sekundärer Eintrag. Der wichtigste Grund scheint das Gefühl der Ausleger zu sein, dass eine solch umfangreiche Digression innerhalb einer „ursprünglichen Erzählung“ deplatziert wäre. Es ist jedoch nicht ausgemacht, dass dieses Gefühl vom ursprünglichen Erzähler geteilt würde.36 | 18–19 Eher dagegen könnte sprechen, dass in 2,24 eine weitere, freilich knappere Digression folgt: „Darum verlässt ein Mann seinen Vater und seine Mutter und hängt seiner Frau an, und sie werden zu einem Fleisch.“ Die generalisierende Formulierung „ein Mann verlässt …“ und die Rede von „Vater und Mutter“ zeigen eindeutig an, dass hier nicht die Rede des ’adam von V. 22 weitergeht, sondern – eingeleitet mit dem typischen – eine ätiologische Erläuterung des Erzählers vorliegt37. Dies hat zur Folge, dass weder eine Spannung mit Kap. 3 vorliegt, wo die Menschen ihre gungen zur Lage des Gartens Eden, in: B. JANOWSKI / B. EGO (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen 2001, 281–323, darin 318f. mit Abb. 9. 36 Das Urteil kann hier offen bleiben. Mit 2,15 als „Wiederaufnahme“ des Handlungsfadens ist der Exkurs jedenfalls tadellos eingebunden. Allerdings braucht V. 15 nicht von vornherein diese Funktion gehabt zu haben, denn auch ohne V. 10–14 bilden V. 8–9.15 einen kohärenten Zusammenhang, in dem V. 8 das verbreitete Stilmittel der „summarischen Prolepse“ darstellt, deren erster Teil in V. 9 und deren zweiter Teil in V. 15 entfaltet wird (zur genannten Stilfigur vgl. J.L. SKA, Sommaires proleptiques en Gn 27 et dans l’histoire de Joseph, Bib. 73 [1992] 518–527; DERS., Quelques exemples de sommaires proleptiques dans les récits bibliques, in: J.A. EMERTON [Hg.], Congress Volume Paris 1992 [VT.S 41], Leiden 1995, 315–326). Für literarkritische Operationen gibt es keine Grundlage. (Auch die viel diskutierten abweichenden Pronominalsuffixe in 2,15b finden literarkritisch keine Lösung, da passende Bezugswörter in jedem Falle zu weit abgeschlagen sind [auch bei D.M. CARR, The Politics of Textual Subversion. A Diachronic Perspective on the Garden of Eden Story, JBL 112 [1993] 577–595, darin 578f. Wahrscheinlich ist hier die ältere Orthographie der 3.Sg.m. stehen geblieben, weil ein Abschreiber die Suffixe abweichend auf das vorausgehende feminine Nomen rectum bezog.) Narrativ bilden 2,8–9.15 vielmehr die nachdrückliche Einführung des Bühnenbildes. Gewiss nicht zufällig korrespondiert dem die aufwändige Gestaltung des Dramenschlusses – sozusagen beim Fallen des Vorhangs. Zwar geht es in 3,23.24 nicht um die Figur der Prolepse, die Verse stellen aber auch „nicht wirkliche Parallelen“ dar (H. GESE, Der bewachte Lebensbaum und die Heroen. Zwei mythologische Ergänzungen zur Urgeschichte der Quelle J, in: Wort und Geschichte [FS K. Elliger [AOAT 18]], hg. von H. Gese und H.P. Rüger, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1973, 77–85 [= DERS., Vom Sinai zum Zion [BEvTh 64], München 1964, 99–112, darin 77]), vielmehr wird das Geschehen aus zwei Perspektiven dargestellt: V. 23 zeigt primär den Menschen und seine neue Bestimmung (Bearbeiten [bd] der ’adama), V. 24 primär den Garten mit dem Lebensbaum, aus dem der Mensch definitiv ausgeschlossen wird. Die perfekte chiastische Inclusio mit den beiden Elementen der Eröffnung (3,23 2,16[8b]; 3,24 2,9[8a]) erweist vollends die absichtsvolle Bildung. 37 Vgl. schon GUNKEL, Genesis (Anm. 3), 13, mit Verweis auf Meinhold, und bes. J. SKINNER, Genesis (ICC), Edinburgh 19302, 70.
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Sexualität erst nach dem Essen der verbotenen Frucht entdecken, wie von Rad38 u.a. meinen, noch ist 2,24 überhaupt etwas über die Zweisamkeit von Mann und Frau im Garten zu entnehmen.39 Zugleich aber ist diese Erläuterung unabdingbar, insofern sie den Skopos der Episode von der Erschaffung der Frau in 2,21–23 benennt: Sie erklärt den staunenswerten Tatbestand, dass es in einer traditionalen Gesellschaft, in der Verwandtschaft die schlechthin grundlegende Kategorie für die Identität und Solidaritätsbindung der Individuen darstellt, eine andere Beziehung gibt, deren Intensität sogar die der engsten Blutverwandtschaft, nämlich der von Eltern und Kindern, übertrifft: die Beziehung von Mann und Frau. Die Erklärung ist: ‚Mann und Frau‘ sind aufs engste „blutsverwandt“, nämlich „ursprungsmythisch“ in der Erschaffung der Frau aus dem Menschen. Deshalb auch die traditionelle „Verwandtschaftsformel“ im Jubelruf des Mannes (2,23)! Soweit die Vorbemerkungen! Nun zum harten Problemkern der konzeptionellen und narrativen Einheitlichkeit der Paradieserzählung: dem Nebeneinander von Baum des Lebens und Baum der Erkenntnis, und das heißt auch: der Verbindung der Themen „Erkenntnis“ und „Tod/Unsterblichkeit“. Die Hauptanstöße sind dreierlei: Zum Ersten die hebräische Syntax in 2,9b, zum Zweiten der Befund, dass der Lebensbaum nur am Anfang und Schluss der Erzählung vorkommt, und schließlich die Rede der Frau in 3,3, die nur einen Baum in der Mitte des Gartens zu kennen scheint.19–20 Zum Ersten: Generationen von Alttestamentlern hatten das sichere Gefühl, dass die Formulierung in 9b: „und den Baum des Lebens in der | Mitte des Gartens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ in ihrer syntaktischen Unbeholfenheit eine diachrone Nahtstelle anzeige, nämlich die nachträgliche Verknüpfung des Lebensbaums mit dem Baum der Erkenntnis. Dieser Eindruck mag sich für deutsches oder englisches Sprachgefühl durchaus aufdrängen. Demgegenüber hat A. Michel in einer eingehenden syntaktischen Untersuchung gezeigt, dass hier gutes Bibelhebräisch vorliegt, nämlich die syntaktische Figur der „gespaltenen Koordination“. Danach ist zu erwarten, dass die Ortsangabe „in der Mitte des Gartens“ zwischen den koordinierten Objekten steht, und zwar – wie in 2,9 – nach dem sprachlich kürzeren.40
38
VON RAD, Genesis (Anm. 4), 71. Vgl. bes. SPIECKERMANN, Ambivalenzen (Anm. 18), 368. 40 A. MICHEL, Theologie aus der Peripherie. Die gespaltene Koordination im Biblischen Hebräisch (BZAW 257), Berlin/New York 1997, 1–22, mit einer ausführlichen Darstellung der vielfältigen Erklärungsvorschläge. 39
[20–21]
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Auch für den zweiten Befund, die Verteilung der Erwähnungen des Lebensbaums in der Erzählung, gibt es keine wirkliche Alternative, und dies, wie sich zeigen wird, aus Gründen der Gesamtlogik der Erzählung. Es bleibt die eigentümlich ungenaue Rede der Frau vom Baum der Erkenntnis in ihrer Antwort gegenüber der Schlange (3,2b.3): „Von den Früchten der Bäume des Gartens essen wir; aber von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens , hat Gott gesagt: ‚Ihr sollt nicht davon essen und sie nicht anrühren, sonst werdet ihr sterben.‘“ Die Frau benennt nicht den Baum der Erkenntnis und sie formuliert so, als stünde in der Mitte des Gartens nur ein Baum. Finden wir hier also die Spuren einer Version, die lediglich den Baum der Erkenntnis kannte? – Gegenüber dieser geläufigen Erklärung sieht K. Schmid – im Anschluss an F. Stolz41 – in diesem Erzählungselement die Darstellung eines Missverständnisses auf Seiten der Menschen: Sie hätten sich demnach „den Baum der Erkenntnis als Baum in der Mitte des Gartens gemerkt“42 und dabei de facto auch den Baum des Lebens in das Verbot einbezogen; von daher wäre auch schon der Urzustand grundsätzlich defizitär gezeichnet: nicht nur ohne Erkenntnis, sondern auch ohne die Möglichkeit des „ewigen Lebens“. Hilfreich an dieser Überlegung ist zunächst die elementare Unterscheidung zwischen der Perspektive des Erzählers und der der handelnden Personen. Einen Schritt zu weit geht aber die Unterstellung, die Menschen hätten in ihrer Tumbheit zwei Bäume für einen gehalten oder umgekehrt.43 Die Schlange muss der Frau ja auch keineswegs den Baum zeigen, den sie in 3,6–7 anschaut und dessen Frucht sie nimmt. Dem Dialog zufolge hatte die Frau vielleicht Schwierigkeiten mit der Bedeutung des verbotenen Baumes, aber | nicht mit seiner Referenz. Anders gesagt, sie konnte ihn nicht präzise definieren, wohl aber identifizieren.20–21 Angeregt durch Schmid bleibt freilich die naheliegende Frage, welchen narrativen Sinn die der Frau in den Mund gelegte Formulierung haben könnte. M.E. sind hier wenigstens drei Aspekte zu bedenken. Zum Ersten eine schlichte, aber elementare dramaturgische Funktion: Erst die vage Antwort der Frau gibt der Schlange die Möglichkeit, die Bedeutung des verbotenen Baumes auf ihre Art wirkungsvoll zu „enthüllen“. Zum Zweiten zeigt diese Antwort, dass das Sinnen und Trachten der Menschen bis dahin keineswegs auf diesen Baum ausgerichtet war. Sie hatten in unbekümmertem Einverständnis mit dem Verbot gelebt. Von naiver Unbekümmertheit ist sogar noch die Wahrnehmung in V. 6 geprägt: „Und die Frau sah, dass der 41 42 43
F. STOLZ, Art. Paradies, TRE 25 (1995) 708–711, darin 708. SCHMID, Unteilbarkeit (Anm. 17), 32. SCHMID, a.a.O., 31f.
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Baum gut war zum Essen und dass er eine Lust war für die Augen und dass der Baum köstlich war, Einsicht zu geben. Und sie nahm von seiner Frucht …“ Kein Wort von einer Absicht, Gott gleich zu werden! Keine Spur von der vielfach, etwa auch von Steck unterstellten hybriden Auflehnung gegen Gott.44 Zum Dritten fügt sich die rührend ungenaue Rede der Frau, die aus dem Verbot des Essens eine Tabuisierung des Baumes werden lässt, nahtlos in die Gesamtzeichnung des ersten Menschenpaares mit charakteristisch kindlichen Zügen. Diese Perspektive ist vor allem von H. Gunkel45 sorgfältig herausgearbeitet worden. Zu nennen ist hier zunächst das Bewusstwerden der eigenen Nacktheit als erste Konsequenz nach dem verbotenen Genuss vom Baum der Erkenntnis, an der der Schöpfer denn auch die Übertretung erkennt. Sie ist zudem durch 2,25: „Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt und schämten sich nicht“ vorbereitet und in der Bekleidung durch Gott in 3,21 nachbereitet. Beide Notizen, die von der Nacktheit ohne Scham und die von der Bekleidung, markieren übrigens den Schluss bzw. Schlussabschnitt des ersten bzw. zweiten Erzählungsteils. Darüber hinaus ist bereits im Konzept der „Erkenntnis von Gut und Böse“ eine entwicklungsgeschichtliche Kontrastierung angelegt: Bekanntlich meint diese Erkenntnis die Unterscheidung zwischen Lebensförderlichem und Lebensabträglichem, die Befähigung zu einer eigenverantwortlichen Lebensorientierung, also die Urteilsfähigkeit des mündigen Menschen. Dementsprechend dient im Hebräischen die noch fehlende Urteilskraft idiomatisch zur Charakterisierung un|mündiger Kinder (Dtn 1,39; Jes 7,15f.) bzw. des Alters mit seinem geminderten Urteilsvermögen (2 Sam 19,36).21–22 Die Paradieserzählung zeichnet mithin die geistige Phylogenese der Menschen nach der Analogie der Ontogenese! Der Weg aus dem Garten geht einher mit dem Gewinn der Fähigkeit zu eigenverantworteter Lebensund Wirklichkeitsgestaltung. Es ist sozusagen der ‚selbstverschuldete Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit‘. Wie wird dieser Prozess vom Erzähler selbst evaluiert? Für neuzeitliches Bewusstsein liegt es verständlicherweise nahe, hier die eigentliche Menschwerdung zu erkennen, die allemal höher einzuschätzen sei als die damit verknüpfte Daseinsminderung46 (notfalls in prometheischem Trotz). R. Albertz47 hat zudem in einem wichtigen Beitrag gezeigt, dass eine grundsätzliche Abwertung von 44 STECK, Paradieserzählung (Anm. 6), 34.119ff. Vgl. gegen eine solche Sicht bereits GUNKEL, Genesis (Anm. 3), 32. 45 GUNKEL, a.a.O., 14f. 46 Dazu schon GUNKEL, a.a.O., 29; M. W ELKER, Schöpfung und Wirklichkeit (NBSt 13), Neukirchen-Vluyn 1995, 108f. 47 R. ALBERTZ, „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5), in: Was ist der Mensch …? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (FS H.W. Wolff), hg. von F. Crüsemann u.a., München 1992, 11–27.
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Erkenntnis, vernünftiger Lebensorientierung, Weisheit nicht nur modernem Denken, sondern auch dem Verständnis der alttestamentlichen Tradition als Ganzer zuwider liefe. Dies gilt selbst für den Vergleich menschlicher Weisheit mit dem Göttlichen. „Mein Herr ist weise wie der Engel Gottes, so dass er alles weiß, was auf Erden ist“, sagt die weise Frau aus Theqoa zu David (2 Sam 14,17), gewiss mit einem Schuss höfischer Übertreibung, aber keineswegs blasphemisch. Gleichwohl ist hier der Schritt zu modernen Eintragungen nur ganz klein. So, wenn man unterstellt, der Erzähler selbst hätte in dem Geschehen von Gen 3 eine unumgängliche Entwicklung gesehen;48 oder wenn die menschliche Existenz vor dem „Fall“ von manchen nicht weniger ambivalent gezeichnet wird als die postlapsarische.49 Die Existenz im Garten ist vielmehr bestimmt durch das väterlich-fürsorgliche Geleit des Schöpfers, dessen orientierender Anleitung sich die Menschen kindlich überlassen können. Leben in ungebrochener Gottesnähe ist nicht defizitär, es ist Existenz in der unerschöpflichen Fülle des Lebens, wie sie in unserem Text durch den Lebensbaum verkörpert wird. Gen 3 handelt insofern vom „selbstverschuldeten Ausgang des Menschen aus einer seligen Unmündigkeit“. Weshalb ist aber nun gerade der Griff nach dem Baum der Erkenntnis unter die Androhung des Todes gestellt? Gibt es hierfür eine ‚sachliche‘ Notwendigkeit? – Damit wären wir wieder beim Nebeneinander der beiden Paradiesbäume.22–23 Viel entscheidet sich an der Interpretation der angedrohten Sanktion in 2,17. Die traditionelle Auslegung (von Augustin bis zu den Refor|matoren) erkannte hier das Verhängnis der Sterblichkeit, das Sein zum Tode. Den meisten neueren Exegeten50 steht dagegen außer Frage, dass die Menschen von vornherein sterblich gedacht waren; 2,17 drohte demnach den unmittelbaren Tod an, der in den Strafworten dann aber in Minderungen der Conditio humana abgemildert würde. In der Literatur51 finden sich dafür zwei Argumente: Zum einen der Wortlaut in 2,17 – –, der eben nicht von „Sterblichkeit“ rede. Zum anderen die angebliche Formulierung als Rechtssatz entsprechend der Tradition des Todesrechts. Das zweite Argument ist schwer nachzuvollziehen, obwohl es zuletzt wieder nachdrücklich vertreten wurde:52 Die Sanktion der Todesrechtssätze lautet bekannt48
ALBERTZ, a.a.O., 23. S. SPIECKERMANN, Ambivalenzen (Anm. 18) und SCHMID, Unteilbarkeit (Anm. 17). 50 Ausnahmen bilden jedenfalls: BUDDE, Paradiesesgeschichte (Anm. 15), 23; H.TH. OBBINK, The Tree of Life in Eden, ZAW 46 (1928) 105–112. 51 S. z.B. SCHMIDT, Schöpfungsgeschichte (Anm. 5), 208.210. 52 OTTO, Paradieserzählung (Anm. 21), 181 mit Anm. 79. Vgl. auch H.-P. MÜLLER, Drei Deutungen des Todes. Genesis 3, der Mythos von Adapa und die Sage von Gilgamesch, JBTh 6 (1991) 117–134, darin 120. 49
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[23–24]
lich nicht mot tamut, sondern mot jumat, also im Hof al, nicht im Qal, und nicht in der 2. Person, sondern in der 3. Person, wie es für Rechtsfolgebestimmungen auch nicht anders möglich wäre. Das erste Argument schließlich ist m.E. vom Deutschen her gedacht. Man braucht sich nur zu fragen, wie denn in V. 17 „du wirst sterblich werden“ bibelhebräisch formuliert werden sollte! Auch für den Modus der Notwendigkeit „du musst sterben“ gibt es keinen anderen Ausdruck als das Imperfekt.53 Notwendige Vereindeutigung erfolgt durch Kontext und/oder Vorwissen. Dementsprechend sollte man erwarten, dass die intendierte Konsequenz wenigstens an einer anderen Stelle unmissverständlich artikuliert wird. Dies ist m.E. auch der Fall: In den abschließenden Strafworten ist vom Tod des Menschen in betonter Finalstellung die Rede (3,19), hier nicht mit der Wurzel , sondern in zwei Umschreibungen: bzw. , die als abschließende chiastisch gerundete Inclusio kräftig exponiert sind. Diese Umschreibungen bringen nun in der Tat Sterblichkeit in einer Weise zum Ausdruck, wie es althebräisch präziser kaum möglich wäre:54 „Du [Mensch] bist Staub, und zum Staub musst du zurückkehren!“23–24 Die Alten hatten also Recht, jedenfalls im Blick auf den Urstand: Es ist der Stand seliger Gottesnähe in ewiger Jugend, letzteres zumindest als Potentialität. Die Realität des Todes kommt erst in Gen 3 in den Blick, hier allerdings nicht erst in 3,19, sondern bereits in all den Daseinsminderungen, die das Signum des Todes an sich tragen – in der aufreibenden Feldarbeit, den Schmerzen der Geburt, in der Herrschaft des Mannes über die Frau oder der tödlichen Feindschaft zwischen Tier und Mensch. Darüber hinaus begegnet auf der Handlungsebene konsequenterweise hier, und erst hier, das Thema der Generationenfolge und | Nachkommen der Menschen, setzt es doch nicht nur das Bewusstsein der eigenen Sexualität als Aspekt der Erkenntnis voraus, sondern zugleich die Realität des Todes: Reproduktion des Lebens hat nur einen Sinn unter der Bedingung seiner Begrenzung! Dies ist freilich auch gegenläufig zu lesen, und dann umschließt die Rede von der Nachkommenschaft in den göttlichen Strafworten zugleich die tröstliche Verheißung, dass es überhaupt mit Schöpfung und Leben weitergeht nach dem Gemeinschaftsbruch durch die Menschen! In dieser Perspektive liegt nun auch auf der Hand, weshalb der Mensch im Anschluss an die Fluchworte des Schöpfers zuerst seiner Frau einen Namen gibt:55 Der Mensch kann erst hier seine Frau als Mutter aller Lebendigen bezeichnen, weil er es erst seit den Gottesworten verstehen kann. Und er verleiht den Eva-Namen gerade hier, weil dieser Name gegenüber den 53
Für Beispiele s. P. JOÜON, Grammaire de l’Hébreu biblique, Rome 1923, §113m (bes. 2 Sam 3,33). 54 Anders MÜLLER, Deutungen (Anm. 52), 120ff. 55 Hier ist an den Ausgangspunkt der eingangs referierten Literarkritik zu erinnern.
[24–25]
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vorausgehenden Todesworten die Zukunfts- und Lebensperspektive der neuen Existenz zum Ausdruck bringt.56 Es ist so etwas, H. Seebass merkt dies treffend an,57 wie ein zweiter, wenn auch verhaltener Jubelruf des ’adam angesichts seiner Frau. Eine analoge Ambivalenz bestimmt auch die anschließende Notiz von der Bekleidung der Menschen durch den Schöpfer: Einerseits dokumentiert sie das Wunder, dass die Fürsorge des Schöpfers nicht abbricht. Verlust der Gottesunmittelbarkeit bedeutet also nicht völlige Gottesferne! Andererseits klingt neben den Motiven von Sexualität und Erkenntnis implizit das Todesmotiv an, insofern die Bekleidung mit Fellen die Tötung von Tieren voraussetzt.58 Aus alldem folgt: Die beiden Bäume in der Mitte des Gartens müssen nebeneinander stehen, und dies von Anfang an! – Natürlich gilt dies nur für die Literargeschichte, nicht für die Traditionsgeschichte. Altorientalisch findet sich zwar durchaus das Motiv der exklusiven Dualität von „Erkenntnis“ und „ewigem Leben“.59 Deren duale Repräsentation in den beiden Bäumen bilden aber wohl eine Innovation unserer Erzählung. Sie repräsentieren als Wirkgrößen zwei Aspekte des Göttlichen, die damit buchstäblich in der Reichweite des Menschen liegen: An dem einen, der unerschöpflichen Lebenskraft können die Menschen von Anfang an partizipieren. Deshalb muss vom Baum des Lebens auch erst | ganz am Ende wieder die Rede sein, als der Zugang zu ihm versperrt wird. Die andere, autonome Erkenntnis und Lebensgestaltung, ist ihnen verwehrt; konsequenterweise rückt der Baum der Erkenntnis sogleich und nachhaltig in den Fokus. 24–25 Würden die Menschen an der Fülle des Göttlichen partizipieren, wie sie durch die beiden Bäume repräsentiert wird, wäre die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nivelliert. Deshalb ‚muss‘ der eine Aspekt der Gottähnlichkeit mit der Aufhebung der anderen sanktioniert werden: „Wenn du vom Baum der Erkenntnis isst, musst du sterben.“ Und deshalb ist der Vollzug dieser Sanktion im Strafwort für den Menschen in einer unverkennbaren Aufnahme an den Bericht seiner Erschaffung zurückgebunden: 56 Mit J. CALVIN, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, hg. von O. Weber, Erster Band: Genesis, Neukirchen 1956, 63: „Nur dies erscheint mir unzweifelhaft: als Adam hörte, dass Gott ihm das Leben noch beließ, da fasste er neuen Mut und fühlte sich wie neugeschaffen. Deshalb gab er seinem Weibe den Namen einer Lebensspenderin.“ 57 H. SEEBASS, Genesis I. Urgeschichte (1,1–11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, 103; cf. 129. 58 Vgl. SCHMIDT, Schöpfungsgeschichte (Anm. 5), 219. 59 Vgl. vor allem den Adapa-Mythos, und dazu OBBINK, Tree (Anm. 50); MÜLLER, Deutungen (Anm. 52).
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[25–26]
„… bis du zurückkehrst zur Erde (’adama), denn von ihr bist du genommen. Ja, Staub bist du, und zum Staub musst du zurückkehren!“ (3,19)
Im Entzug der unbegrenzten Lebensfülle der Gottesunmittelbarkeit wird der Mensch schonungslos auf seine Kreatürlichkeit reduziert – ein Klumpen Erde in der Hand des Schöpfers. Könnte die kategoriale Distanz zwischen Gott und Mensch schärfer markiert sein? Freilich wäre dem nun sogleich das unmittelbar anschließende Urteil Gottes gegenüber zu stellen: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner …“ (3,22). Beide Perspektiven zusammen bestimmen in der weiteren Urgeschichte Glanz und Elend des Menschen, der mit gottähnlicher Weisheit seine Wirklichkeit gestalten kann und dabei doch immer wieder an seiner auf den Tod hin geminderten Lebenswelt, d.h. an den Grenzen seiner Kreatürlichkeit60 scheitern wird, unbeschadet aller Errungenschaften. Zu dieser skeptisch-realistischen Sicht des Menschen61 gehört jedenfalls auch, dass der Mensch die Grenzsetzung gegenüber dem Schöpfer zu vergessen droht. Dementsprechend kommt die nicht-priesterliche Urgeschichte an ihrem Ende in Gen 11 auf dieses Thema zurück, nun aber unter den Bedingungen einer Menschheit, die sich als | machtvoll-kreatives Kollektiv erfährt und daraus ihre hybriden Ambitionen ableitet.6225–26 Ein letzter kurzer Blick auf den Text: Zu den in jeder Analyse wiederkehrenden Detailfragen zählt die ungewöhnliche Gottesbezeichnung JHWH ’elohim, die oft als eigentlich unübersetzbar deklariert wird und zumeist als in der einen oder anderen Weise redaktionelle Bildung gilt. Dagegen spricht aber schon die narrative Konsequenz: Die Bezeichnung steht in Gen 2–3 ganz konsequent in der Rede des Erzählers; die handelnden Personen sagen ebenso konsequent nur „Gott“. Sprachlich gesehen verbindet die Doppelbezeichnung Eigenname und Allgemeinbegriff, entspricht mithin Ausdrücken wie – „König David“. In der Genesis steht sie ausschließlich innerhalb von Gen 2 und 3. Ich meine, aus gutem Grund, geht es hier doch – mehr als in jeder anderen Erzählung – fundamental um die De-Finition des Menschen als Kreatur im Gegenüber zu Gott JHWH. 60 Es sind die elementaren Grenzen, die im Zusammenleben mit dem anderen zutage treten, wie bei Kain und Abel, oder an den Beschwernissen der Lebenswelt, wie der gerechte Noah selbst beim Genuss des tröstlichen Weins erfahren muss. 61 Die hier thematisierten Brechungen der weisheitlichen Weltbemächtigung haben im Übrigen mit den spezifischen Problemen der späten Weisheit, die neuerdings in diesem Zusammenhang gern bemüht wird (Witte, Otto, Spieckermann u.a.), nichts gemein, viel dagegen mit dem Geschichts- und Menschenbild der sog. Thronfolgegeschichte. 62 Kompositorisch ist dieser bedeutsame Zusammenhang nicht zuletzt durch die unverkennbare Korrespondenz von Gen 3,22 und 11,6 markiert.
Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit
[ ]
19
Anhang: Neuere redaktionsgeschichtliche Analysen von Gen 2–3 Levin
2,5a.
Witte
2,5a.b.6–7a*. 19a. 20a*. 21–22
+ 3,20.24a*b
Kratz
2,5.
+ 3,20f.
Spieckermann
2,5–9a*
Levin
2,5a.b.7*.9a.b.15–18.19a*.a.20b.22a*.23.25; 3,6a*.ab–7a.8–13a.16*.17.19a.23
Witte
2,4b.5b.7a.8–9a.16.17a*b.18.20b.23–25; 3,1–13.14a*b.15–18a.19.21.23a*.b
Kratz
2,9ab.16–17(.18.20b.23f.).25; 3,6–13a.16.17–19a
Spieckermann
2,9b.16f.25; 3,1–19a.24ab (ohne Cheruben)
Levin
Diverse Redaktionen
2,4b.7b.19b / 3,18b / 3,19b / 3,1–5.6a*.13b–14.16* / 3,15 / 2,9b; 3,22.24b* / 2,6.10–14
Witte
Endredaktion
2,7b.9b.10–15.17a.19a.b.20a*; 3,14*. 18b.22–24
Kratz
Nachträge
2,4b.6.7b.9b.10–15.19b; 3,1–5.13b–15.19b.22–24
Spieckermann
Todesthema
in 2,7; 2,9b.10–14.15; 3,19b.22; „Cheruben“ in 3,24b
Carr
Early Creation Narrative
Grundschicht (Schöpfung)
Redaktion (Fall)
7a*.8.19a*.20a. 21.22a*.b + 3,20f.
7a.8. 19a.
20a. 21–22
18–24
+ 3,20.21.(23)
2,4b–5.7–8.15Ende.18–24
Ältere Schöpfungserzählung
2,5.7*.8.15b.18.19*.20*.21–23a; 3,20(a)
Ältere Fallerzählung
3,1a.b.2.5.6*.7.22 (ohne „JHWH“).24
Grundschicht
2,4b.5.7*.8.9*.16–18.19*.20*.21–23; 3,1–13a.16a1–18a.19a.23
Rottzoll
Pfeiffer
27
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22 Die alttestamentliche Exegese vermittelt und diskutiert ihre Methodik und ihre Lösungsmodelle – wie andere Disziplinen auch – nicht zuletzt anhand von „Paradigmen“, d.h. Beispielfällen. Solche Paradigmen bilden im Bereich der Pentateuchanalyse z.B. die Flutgeschichte, die Berufung Moses – und Jakobs Traum zu Bethel. Gerade zu Gen 28,10–22 entwickelte sich zuletzt wieder eine kontroverse Diskussion, an der John Van Seters maßgeblichen Anteil hat. Nachdem Van Seters bereits in seinem grundlegenden Werk Prologue to History eine ausführliche Analyse von Gen 28 vorgelegt hatte,1 führte er diese jetzt in Auseinandersetzung mit D. Carrs gewichtiger Untersuchung zur Genesis2 weiter aus.3 Dies bietet die Gelegenheit, im Gespräch mit J. Van Seters und anderen rezenten Beiträgen4 erneut zentrale Beobachtungen, Probleme und Argumente abzuwägen und gegebenenfalls die eigene Sicht zu revidieren. |
1 J. VAN S ETERS, Prologue to History. The Yahwist as Historian in Genesis, Louisville 1992, 288ff. 2 D. CARR, Reading the Fractures of Genesis. Historical and Literary Approaches, Louisville 1996. 3 J. VAN S ETERS, Divine Encounter at Bethel (Gen 28,10–22) in Recent LiteraryCritical Study of Genesis, ZAW 110 (1998) 503–513. S. dazu die Antwort von D. CARR, Genesis 28,10–22 and Transmission-Historical Method: A Reply to John Van Seters, ZAW 111 (1999) 399–403. 4 C. LEVIN, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen 1993; S. MCEVENUE, A Return to Sources in Genesis 28,10–22?, ZAW 106 (1994) 375–389; L. SCHMIDT, El und die Landverheißung in Bet-El (Die Erzählung von Jakob in Bet-El: Gen 28,11–22) (1994), in: DERS., Gesammelte Aufsätze zum Pentateuch (BZAW 263), Berlin/New York 1998, 137–149; G. FLEISCHER, Jakob träumt. Eine Auseinandersetzung mit Erhard Blums methodischem Ansatz von Gen 28,10–22, BN 76 (1995) 82–102; D.J. WYNN-WILLIAMS, The State of the Pentateuch. A Comparison of the Approaches of M. Noth and E. Blum (BZAW 249), Berlin/New York 1997.
22
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[34–35]
Grundaspekte der Textstruktur Zwar geht es in den neueren Diskussionsbeiträgen in erster Linie um die Diachronie von Gen 28, doch steht dabei unter anderem auch (implizit oder explizit) die diachrone Signifikanz synchroner Befunde zur Debatte. Darüber hinaus empfiehlt es sich gerade bei einem so kontrovers diskutierten Abschnitt, die heuristische Präferenz der synchronen Perspektive zu beachten, womit letztlich nichts anderes gemeint ist als eine Wahrnehmung, die sich zunächst einmal vorbehaltlos auf den Text einlässt. Nun können in diesem Rahmen weder eine vollständige neue Strukturanalyse vorgelegt, noch auch ältere Beobachtungen in voller Breite rekapituliert werden. Jedoch sollen einige grundlegenden, vielfach auch von anderen geteilten Befunde5 in Erinnerung gerufen werden: Makrostrukturell gliedert sich die Episode – nach dem überleitenden Itinerar von V. 10 – in sechs Hauptabschnitte: (A) (V. 11) eine Handlungssequenz mit Jakob als Protagonist, Jakobs Traum, bestehend aus: (B) (V. 12–13a) dem Traumbild + (C) (V. 13a–15) der Gottesrede, Jakobs Reaktion, bestehend aus: (D) (V. 16–17) der verbalen Reaktion in zwei Redeteilen + (E) (V. 18–19a) einer Handlungssequenz (19b = erläuternde Bemerkung des Erzählers) + (F) (V. 20–22) Jakobs Gelübde. 34–35 Diese Episode erweist sich in vielfältiger Weise mit Gestaltungsmitteln verdichtet, wie sie für biblisch-hebräische Erzählungen charakteristisch sind. So bilden die beiden Handlungssequenzen (A) und (E) eine Art Inclusio, angezeigt durch die (partiell antithetische) Korrespondenz der Erzählaussagen: | V. 11*
V. 18
Inhaltlich markiert diese Inclusio die Transformation des zu Anfang beliebigen Steins, der Jakob als Kopfschutz diente, zu einem Kultstein und damit verbunden die Manifestation des vermeintlich beliebigen Ortes als heiliger Ort durch Jakob. Diese Veränderung ist bedingt und vermittelt 5
S. dazu E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), NeukirchenVluyn 1984, 9, Anm. 6f.
[35–36]
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
23
durch den Traum, dessen Bild von Jakob nach seinem Erwachen zunächst verbal verarbeitet wird, indem er die drei in ansteigender Klimax präsentierten Elemente auf seinen Übernachtungsort ( ) bezieht; dabei werden die Traumkomponenten in rückläufiger Abfolge aufgenommen: " # … $ $ $ Die Stichwortbezüge auf der Ausdrucksebene dienen hierbei lediglich als Leitfaden für die konzeptionellen Deutungen, in denen Jakob auf den Begriff bringt, was die Elemente des Traumbilds für die Qualität „dieses Ortes“ bedeuten: Es ist der Ort, an dem Himmel und Erde verbunden sind („Tor des Himmels“), an dem die Gottesboten ein- bzw. ausziehen („Gotteshaus“)6, an dem JHWH selbst gegenwärtig ist. |35–36 Zugleich bringen die Reden die situative Bedeutung dieser Qualität des Ortes für Jakob zum Ausdruck – in einem doppelten Sinn: Überraschung (V. 16) und Furcht (V. 17). Furcht als (spontane) Reaktion auf eine Konfrontation mit dem Heiligen ist so elementar – nicht nur für biblisches Denken –, dass sich weitere Belege zu erübrigen scheinen. Allerdings wird dabei gewöhnlich übersehen, dass dergleichen im Anschluss an eine Gottesoffenbarung im Traum (alttestamentlich) gerade nicht nachzuweisen ist.7 Jakobs Erschrecken resultiert vielmehr erst aus der Einsicht, dass der Traum nicht nur eine kontingente Gottesbegegnung darstellte, sondern zugleich einen Einblick in die an diesem Ort dauerhaft präsente himmlische Welt gewährte. Dies setzt einen kognitiven Prozess – bei dem Protagonisten und darüber vermittelt bei den Leser/Hörern – voraus, den unser Text narrativ präzise mit der deutlich profilierten Abfolge von überraschtem Begreifen („… und ich wusste es nicht“, V. 16) und Erschrecken („und er fürchtete sich und sprach: Wie furchterregend ist dieser Ort …“) abbildet. 6 Die Assoziation zwischen und den ist immerhin möglich und im Zusammenhang naheliegend, insofern die als himmlische Bedienstete JHWHs zum göttlichen „Haus(halt)“ gehören (verwiesen sei auch auf die Bezeichnung von JHWHBoten als „Elohim[wesen]“ in anderen Zusammenhängen). Jedenfalls beruht die behauptete Entsprechung nicht allein auf dem Vorkommen von – entgegen der Darstellung von MCEVENUE (Return [Anm. 4], 381), dem sich WYNN-WILLIAMS (wie zumeist) anschließt (State [Anm. 4], 115). Allerdings hält er auch einen konzeptionellen Zusammenhang zwischen „Himmelsleiter“ und „Tor des Himmels“ für substanzlos, solange nicht ein Text gefunden sei, in dem „ladder“ und „gate“ parallelisiert sind (ebd.) (!). 7 Vgl. etwa Gen 20; 46; 1 Kön 3.
24
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[36–37]
Im Übrigen ist gerade die Überraschung von V. 16 durch V. 11 erzählerisch sorgfältig vorbereitet.8 Die Verknüpfung von sichtbarer (alltäglicher) Welt und unsichtbarer (himmlischer) Welt zu Bethel in Wort und Tat Jakobs9 kommen schließlich in der Benennung des Ortes zu einer Bündelung (V. 19a).10 Bezieht man hierbei das Vorwissen der Adressaten in Bezug auf Bethel und sein Heiligtum ein, ist mit Händen zu greifen, dass hier ein kultätiologisches Gefälle zu einem Zielpunkt gelangt. Die strukturell im Zentrum verortete Gottesrede ([C] V. 13a–15) nimmt auf die Bethel-Thematik keinen Bezug, sondern ist im Horizont größerer, z.T. über die individuelle Lebensgeschichte Jakobs hinausgehender Zusammen|hänge (13a–14) formuliert. Dementsprechend findet sie – die Selbstvorstellung JHWHs ausgenommen (s. V. 16) – in den ersten Reaktionen Jakobs (D, E) kein Echo. Dagegen verknüpft Jakobs Gelübde (F) thematisch die auf seine persönliche Situation bezogene Zusage in der Gottesrede (V. 15) mit der kultätiologischen Linie der vorausgehenden Episode und substantiiert damit deren Kontextbindung in der Jakoberzählung. 36–37 Insgesamt weist die Textur von Gen 28,11–22 eine deutlich variierende Dichte der narrativen Kohärenz auf. Aus der Perspektive größerer Erzählhorizonte wie der Vätergeschichte bzw. der Jakob-Esau-Laban-Geschichte erschließen sich problemlos die Konnexionen und Bedeutung auch von V. 10.13b–14 bzw. V. 15.20–22. Betrachtet man die Episode für sich, gleichsam unter dem Vergrößerungsglas, dann besteht der höchste Verdichtungsgrad jedoch unter den Abschnitten, die ganz auf das Thema des Ortes ausgerichtet sind und von der Inclusio der Handlungssequenzen zusammengehalten werden, d.h. zwischen (A), (B), (D) und (E). Dies gilt im Übrigen auch für die Verknüpfung über Leitwörter bzw. -wurzeln.11 8 Durch die verschiedenen Elemente, welche die Zufälligkeit der Übernachtung an diesem Ort hervorheben; dazu BLUM, Komposition (Anm. 5), 13f. Weshalb LEVIN (Jahwist [Anm. 4], 216f.) meint, die Überraschung Jakobs in V. 16 (zusammen mit V. 13a. 15a schreibt er den Vers seiner „jahwistischen Redaktion“ zu) beziehe sich darauf, dass Gott „nicht ortsgebunden“ sei, ist mir unklar. 9 S. BLUM, Komposition (Anm. 5), 10ff. Die Argumentation mit solchen semantischen Zusammenhängen, von denen her die Gesamtstruktur erst ihr Fundament und ihre Bedeutung gewinnt, bleibt in McEvenues Diskussion meiner Analyse weitgehend ausgeblendet. Dies erleichtert freilich seine Konzentration auf diverse (unterstellte) Chiasmen (s.u. Anm. 12). 10 Die Aussage in V. 19a lässt sich insofern mit dem ersten und letzten Satz in V. 11 verbinden, als ebenda im Erzählertext eigengewichtig verwendet wird. Kaum zufällig sind gerade diese Aussagen einerseits in den skizzierten Korrespondenzen und Strukturbezügen nicht unmittelbar eingebunden, markieren aber andererseits – sukzessiv gelesen – besonders deutlich die sich transformierende Qualität des Ortes für Jakob. 11 In erster Linie in V. 11(3x).16.17.19; vgl. aber auch mit seinen Ableitungen: V. 12.13a.18.22.
[37–38]
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
25
Aus den genannten Zusammenhängen resultiert nun gewiss keine generelle „chiastic form“ und im Urteil eines modernen Lesers mag die Erzählstruktur „uneven“ oder als „a weak harmony“ erscheinen12, bemisst man sie nach den Gestaltungsmitteln biblischer Texte, kann sie aber getrost zu den Exempeln hebräischer Erzählkunst gerechnet werden. | 37–38
Grundfragen der Diachronie Die synchrone Wahrnehmung eines Textes und seine diachrone Analyse sind in ihrem Fragehorizont so fundamental verschieden, dass sich einfache Übertragungen bereits von daher verbieten. Gleichwohl besteht eine „hermeneutische“ (im günstigen Falle auch methodische) Interferenz zwischen beiden, insofern synchrone13 Deutungen biblischer Texte immer schon letztlich diachron definierte Größen implizieren, ebenso wie die diachrone Analyse immer schon diverse synchrone Lesungen vorwegnimmt und durchspielt.14 Dementsprechend gilt es die Möglichkeit der wechselseitigen Korrektur beider Horizonte zu nutzen. Im Folgenden sollen in erster Linie drei bereits „traditionelle“ diachrone Problemstellungen zu Gen 28 aufgenommen werden: (a) die Frage der Verarbeitung einer eigenständigen Kultätiologie in Gen 28, (b) die Vor12
Die zitierten Charakterisierungen finden sich bei MCEVENUE, Return (Anm. 4), 378.381, in der Darstellung meiner Auslegung. Bemerkenswert ist, dass McEvenue in seinem Referat unentwegt von „Chiasmen“ spricht (auf vier Seiten weit über 30mal; in seinem Gefolge auch WYNN-WILLIAMS, State [Anm. 4], 110ff.), während ich den Begriff in meiner synchronen Lesung nur einmal auf den Zusammenhang zwischen dem Traumbild und den Reden(!) Jakobs beziehe; stattdessen spreche ich von „Rahmen“, „Wiederaufnahme“ (im synchronen Sinne), „Entsprechung“ etc. Natürlich lassen sich „fragility“ und „weak harmony“ einer Textbeschreibung etwas leichter konstatieren, wenn man diese an einem Ideal gar nicht behaupteter Chiasmen misst. (Zum Erweis der Beliebigkeit solcher Chiasmen konstruiert MCEVENUE noch einen weiteren in V. 13a–15, wozu er freilich V. 15 zu einer Selbstvorstellung JHWHs“ – in Parallele zu V. 13a – umdeutet [a.a.O., 379; WYNN-WILLIAMS, a.a.O., 115f.].) 13 „Synchrone Lesung“ meint in meinem Verständnis nicht „Endtextdeutung“, sondern ist eine relationale Kategorie. Sie ist auf jede intentionale, d.h. letztlich einem Kommunikationsgeschehen zugeordnete Texteinheit zu beziehen (auf die Endgestalt eines Buches ebenso wie auf Vorstufen); damit ist sie im Fall der biblischen Texte von der Diachronie nicht abzulösen. Ob es daneben so etwas wie „a-chrone“ Lesungen geben sollte/kann, braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. 14 FLEISCHERs (Jakob träumt [Anm. 4]) Gegenüberstellung der Literarkritik mit einer gleichsam objektivierbaren „Kriteriologie“ und einer auf „subjektive Eindrücke“ gestützten Strukturanalyse erscheint mir allein schon von daher im Grundsatz verfehlt. Sie perpetuiert die Selbsttäuschung einer sich in ihrem selbstdefinierten Regelwerk „objektivierenden“ „Methode“, die von neueren kritischen Diskussionen um die Möglichkeiten und Grenzen diachroner Rekonstruktionen relativ unberührt zu sein scheint.
26
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[38–39]
schläge einer diachronen Ausscheidung von V. 13–16, (c) die diachrone Zuordnung der Gottesrede bzw. bestimmter Teile davon. (a) In meiner Arbeit von 1984 hatte ich – geprägt durch eine wesentlich von H. Gunkel bestimmte Forschungstradition – die These vertreten, in 28,11–13a.16–19 sei die erzählerische Substanz einer ursprünglich eigenständigen Kultgründungssage bewahrt, die als „Baustein“ in den Zusammenhang der Jakoberzählung integriert wurde, primär über das Gelübde Jakobs in V. 20–22. Für diese Sicht schien mir die Konvergenz von dreierlei Befunden zu sprechen: (1.) die relative narrative Geschlossenheit und hohe strukturelle Dichte gerade dieser auf die Entdeckung des heiligen Ortes ausgerichteten Textsegmente, (2.) die weitgehende Kontextunab|hängigkeit gerade dieser Segmente15 und (3.) die Kongruenz gerade dieser Erzählstruktur mit einem überindividuellen Textbildungsmuster, näherhin der Gattungsstruktur der kultätiologischen Sage, die sich aus dem Vergleich anderer Überlieferungen erheben lässt.16 Der letztere, gattungskritische Aspekt ist methodisch insofern grundlegend, als erst damit die Metabasis von synchronen Befunden (1.–2.) zur Diachronie ein argumentatives Widerlager erhält.17 38–39 Auch wenn mir eine solche Einarbeitung einer eigenständigen Erzählung als Möglichkeit immer noch erwägenswert erscheint,18 besteht hier doch – selbst bei vorsichtigen Formulierungen der Hypothese – die Gefahr einer Engführung, die vor allem die Prozesse der Traditionsbildung betrifft: Wie soll man sich die Überlieferung/Rezeption einer einzelnen ätiologischen Sage vorstellen? Im Falle einer mündlicher Überlieferung gehen die Chancen, in irgendeiner Form auf den Wortlaut oder die spezifische
15 Dazu BLUM, Komposition (Anm. 5), 8f. Entgegen dem Verständnis von FLEISCHER (Jakob träumt [Anm. 4], 84) ist die Untersuchung der Kontexteinbindung als Frageperspektive zunächst synchron ausgerichtet (auch wenn traditionelle Methodenlehren, die eine eigenständige synchrone Textwahrnehmung noch gar nicht vorsehen, dergleichen der Literarkritik zuschreiben mögen). Seine (in unterschiedlicher Formulierung wiederholte) Unterstellung, dass Blum „jeden Verweis des Textes auf den Kontext von vornherein als sekundär ausscheidet“ (a.a.O., 97), stellt ein grobes Missverständnis dar. Vgl. auch u. bei Anm. 17. 16 Ausführlich BLUM, Komposition (Anm. 5), 25ff. 17 Vgl. schon die Bemerkungen a.a.O., 25. MCEVENUE, Return (Anm. 4), 382f., ist diese Argumentation offenbar entgangen. Zudem (miss)versteht er die gattungskritisch („formgeschichtlich“) orientierte Frage nach einer möglicherweise vorgegebenen Einzelüberlieferung als literarkritische bzw. quellenkritische Frage nach „Quellen“/„Autoren“. Dementsprechend geht seine Argumentation hierzu an der Sache vorbei. 18 Selbst V AN SETERS, ansonsten der Annahme von (seinem „J“) vorgegebenen Überlieferungsmaterial eher abgeneigt, postuliert für Gen 28 (und die Jakobgeschichte?) eine noch im Wortlaut erkennbare (jedenfalls von der „jahwistischen“ Bearbeitung zu unterscheidende) Vorlage (Prologue [Anm. 1], 292 u.ö.).
[39–40]
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
27
Erzählstruktur der rezipierten Sage rekurrieren zu können, gegen Null.19 Selbst bei einer schriftlichen Überlieferung (wie ist diese aber bei einer kurzen Einzelerzählung konkret zu denken?) wäre eine transformierende Neuerzählung im Blick auf die | Großerzählung nicht weniger wahrscheinlich als eine den Wortlaut konservierende Fortschreibung, eher im Gegenteil.20 39–40 Tatsächlich finden die oben genannten Befunde auch dann eine Erklärung, wenn man voraussetzt, dass der Autor eines größeren Erzählzusammenhangs die Bethelepisode durchgreifend neu gestaltet hat unter Verwendung einer kultätiologischen Tradition, sei es eines entsprechenden „Wissensstoffs“, sei es einer mündlich überlieferten Erzählung.21 In einem solchen (mir durchaus wahrscheinlichen) Falle geht die Erzählungssubstanz einschließlich Jakobs Gelübde (V. 20–22) auf ein und denselben Erzähler zurück.22 Die variierende Dichte der strukturellen Konnexionen ist dann zum einen mit dem thematischen Eigengewicht des vorgegebenen Stoffs zu erklären, zum anderen mit einer gewissen Ökonomie der Erzählung, welche unterschiedliche Fokussierungen eher nebeneinander stellt als ineinander arbeitet. (b) Gleichsam den „harten Kern“ literarkritischer Analysen von Gen 28 bildet die Scheidung zwischen V. 11f.17f. einerseits und V. 13–16 andererseits. Im Rahmen der Urkundenhypothese wird – von kleineren Varianten abgesehen – letzterer Abschnitt „J“ zugeschrieben, ersterer „E“. Nun haben jedoch schon J. Van Seters und D. Carr darauf verwiesen, dass selbst unter der Voraussetzung einer Ausscheidung von V. 13–16 die Zuweisung dieser Verse zu einer eigenständigen Quellenschrift schwierig ist. Insbesondere 19 Diese Skepsis stützt sich auf Forschungen zu mündlichen Erzählprozessen (vgl. dazu Anm. 20); gegenüber der vorsichtigen Zurückhaltung in BLUM, Komposition (Anm. 5) erscheinen mir in dieser Hinsicht noch sehr viel deutlichere Vorbehalte geboten – dies im ausdrücklichen Gegensatz zu FLEISCHER (Jakob träumt [Anm. 4], 97), der mir vorwirft, nicht hinter die Verschriftungsstufe des Textes zurückgreifen zu wollen (dabei geht es ihm um „Literarkritik“). 20 Hier beziehe ich mich auf Beobachtungen an überprüfbaren Textverarbeitungen innerhalb biblischer und außerbiblischer Traditionsliteratur. Eine Darstellung entsprechender empirischer Daten und Fallstudien (auch zu mündlicher Überlieferung) wird von mir vorbereitet. 21 Diese Sicht nähert sich der von A. DE PURY, Promesse divine et légende cultuelle dans le cycle de Jacob. Genèse 28 et les traditions patriarcales (EtB), Paris 1975, vertretenen Deutung der Bethelepisode. Diesen vorausweisenden Ansätzen in de Purys großer Arbeit werden meine kritischen Anmerkungen in BLUM, Komposition (Anm. 5), 29ff., nicht gerecht. 22 Dies gilt auch für Teile der Gottesrede, dazu i.F. nebenbei: Wie diese und die folgenden Überlegungen zeigen mögen, hängt meine Grundthese zur Kompositionsgeschichte der Jakoberzählung keineswegs an der Rekonstruktion einer eigenständigen Bethel-Sage (zu WYNN-WILLIAMS, State [Anm. 4], 231ff.).
28
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[40–41]
wäre die Abstimmung der Verse 13a.16 auf den Vor- und Nachkontext nicht zu erklären: (1) 13a als drittes Element des Traumbildes mit der Struktur + Subjekt + Partizip, wobei mit auch noch aus V. 12 leitmotivisch (s. das Echo in ) aufgenommen wird;23 (2) 16a mit der Notiz vom Aufwachen | Jakobs, die auch von V. 17f. vorausgesetzt wird,24 (3) die erste Aussage Jakobs über den Ort in V. 16, die als Nominalsatz mit
$ in Endstellung dem ersten Satz der Aussage in V. 17 korrespondiert. Solch genaue Passformen wären bei der Zusammenarbeitung zweier selbständiger Urkunden zu viel der Zufälle.25 Anders verhält es sich mit der Annahme eines Autors/Kompositors, der diese Elemente der Erzählung in eine Vorlage eingeschrieben hätte, sei es nun Van Seters’ Yahwist oder Carrs Proto-Genesis-Verfasser. 40–41 Allerdings stellt sich bei einem solchen Befund und angesichts der synchron erhobenen Erzählgestalt des Ganzen dann erneut die Frage, mit welchen Gründen überhaupt eine Ausscheidung dieser Erzählelemente zu fundieren ist. Immerhin trägt aus methodischen Gründen die Behauptung der Uneinheitlichkeit des überlieferten Textes die Beweislast, nicht umgekehrt!26 Letztlich kehren die gleichen Argumente seit den klassischen Quellenscheidungen27 in zahllosen Repetitionen wieder, selten durch neue Nuancen erweitert. In den neueren Analysen tritt das ansonsten (gerade in Bezug auf Gen 28!) sehr bestimmende sog. „Gottesnamenargument“ deutlich zurück – mit Recht, stellt das Nebeneinander des Gottesnamens und des Appellativums doch weder eine logische oder semantische Spannung dar noch ist sie per
23 MCEVENUEs Frage „would the same author want to juxtapose the same verb for ‘standing’ à propos both of the ladder and of YHWH?“ (Return [Anm. 4], 381; WYNNWILLIAMS, State [Anm. 4], 115) überspielt die Differenz zwischen Hof‘al und Nif‘al; ersteres würde kaum auf JHWH bezogen werden. 24 Deswegen wird dieser erste Satz in V. 16 in Quellenscheidungen z.T. der „E“Schicht zugewiesen. Auch Van Seters und Carr fühlen sich an dieser Stelle mit der Ausscheidung von V. 13–16 nicht recht wohl und möchten die Zuordnung der Bemerkung vom Aufwachen offen lassen (CARR, Reading [Anm. 2], 208, Anm. 59; VAN SETERS, Encounter [Anm. 3], 506). Tatsächlich aber ist ohne eine solche Notiz die Kohärenz ihrer postulierten Grundschicht erheblich gestört. 25 Es sei denn man unterstellt einen „Jehovist“, der in dieser Episode eigenständig als Autor formuliert, so wie es etwa Wellhausen für Ex 3f. etc. annimmt. Dann wäre aber einer konkreten Quellenscheidung nach Versen oder Sätzen die Grundlage entzogen. 26 Daegen kann MCEVENUEs Argumentation verschiedentlich den Eindruck vermitteln, als ob die Beweislast auf Seiten der Bestreitung der Urkundenhypothese mit der Annahme der Einheitlichkeit der Erzählung läge (s. bes. Return [Anm. 4], 381). Dabei bildet der überlieferte Text (selbst davon gibt es freilich mitunter verschiedene Fassungen) doch wohl das einzig (mehr oder weniger) „objektive“ Datum jeder Analyse. 27 S. dazu ausführlich BLUM, Komposition (Anm. 5), 19ff.
[41–42]
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
29
se erklärungsbedürftig.28 Für die Scheidung zwischen V. 12 und 13a entfällt | damit freilich das tragende Argument.29 Bei der Scheidung zwischen V. 16 und 17 scheint sich dagegen das klassisch-literarkritische Kriterium der Dublette nahezulegen, „da Jakob zweimal die Besonderheit des Ortes ausspricht.“30 Nun wird diese „Besonderheit“ inhaltlich jedoch jeweils in unterschiedlichen Aspekten bestimmt, ebenso Jakobs Einstellung zu den genannten Sachverhalten. Dieser Differenz in der Topik korrespondiert denn auch – einem breit zu belegenden Usus alttestamentlicher Erzähler entsprechend31 – die erneute Redeeinführung in V. 17. Darüber hinaus findet J. Van Seters im vorliegenden Zusammenhang die erste Jakobrede in V. 16 „quite akward“: „It would be much more effective if the text simply 41–42
28 Selbstverständlich kann eine spezifische Verwendung der Gottesbezeichnungen signifikant für einen bestimmten Sprachgebrauch sein, wie die Systematik der P-Schicht belegt. In welch hohem Maße zirkulär und fragil aber Sprachgebrauchsargumente bei erst noch hypothetisch zu konstituierenden Texteinheiten (ohne explizite Indizien wie Ex 6) sind, lässt sich am Schicksal der diversen J/E-Lexika ablesen. MCEVENUE (Return [Anm. 4], 386, Anm. 23) verweist für J/E auf Gen 4,26 und Ex 3 als Belege für einen systematischen Sprachgebrauch. Nun geht es in Gen 4,26 aber doch wohl eher um den Anfang der JHWH-Verehrung, und Moses Frage nach dem Namen Gottes in Ex 3,13 zielt auf seine Legitimation gegenüber dem Volk und impliziert insofern gerade die Kenntnis des Namens zumindest bei den Israeliten. Vgl. im Übrigen auch VAN SETERS, Prologue (Anm. 1), 293: „… the use of Elohim for Yahweh is quite regular and indiscriminate in J.“ Die Problematik des vermeintlichen Gottesnamenkriteriums habe ich in Komposition (Anm. 5), 471–475, relativ ausführlich darzulegen versucht. FLEISCHER ist dieser Teil meiner Arbeit offenbar entgangen, wie seine Ausführungen (Jakob träumt [Anm. 4], 88) zeigen. Andererseits wird von ihm nicht erläutert, worin s.E. „die Konkurrenz zwischen in v. 12 und JHWH in v. 13“ (a.a.O., 92) besteht. 29 Eine eigenwillige Begründung unternimmt SCHMIDT (Landverheißung [Anm. 4], 140): Im „gegenwärtigen Kontext“ könne sich das Suffix von (V. 13a) nur auf die Rampe beziehen, die „folgende Jahwerede setzt aber voraus, dass Jakob als Adressat genannt wurde, denn hier wird Jakob angeredet. Das Suffix in V. 13a1 bezog sich somit ursprünglich sicher auf Jakob.“ Nun lässt aber auch im vorliegenden Zusammenhang bereits die Selbstvorstellung Gottes (von den weiteren Aussagen ganz zu schweigen) keinen Zweifel daran, wer von den am Traum beteiligten Protagonisten angesprochen ist. Damit entfällt die Voraussetzung des Arguments (für eine Umkehrung von Voraussetzung und Folgerung vgl. a.a.O., 142 oben). J. VAN SETERS Einwand gegen Blum „that he takes the reference to Yahweh in V. 13a as original even though the meaning of the text lyw, ‘above it (the ladder)’ or ‘beside him (Jacob)’, is very obscure“ (Prologue [Anm. 1], 291), wäre in Van Seters’ eigener Deutung als Frage an seinen „Yahwist“ zu reformulieren, weshalb dieser ohne Not einen so obskuren Text produzierte. – Die grundsätzliche Verständlichkeit des vorliegenden Textes für intendierte Leser einmal vorausgesetzt, ist dagegen davon auszugehen, dass die Referenz von und damit die hier evozierte räumliche Vorstellung letztlich durch ihren Verstehenshintergrund (in Bezug auf irdische/göttliche Wirklichkeit) determiniert wurde. 30 SCHMIDT, Landverheißung (Anm. 4), 138. 31 S. dazu E.J. REVELL, The Repetition of Introductions to Speech as a Feature of Biblical Hebrew, VT 47 (1997) 91–110.
30
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[42–44]
stated: ‘Then Jacob | awoke from his sleep and was afraid and said …’“32 Doch das ist eben sehr die Frage: Ob Van Seters’ Text für die Adressaten wirklich schlüssiger wäre als der vorliegende. Wie oben ausgeführt, ist im Anschluss an einen Traum die unmittelbare Furchtreaktion gerade nicht zu erwarten, dementsprechend wird sie hier erst in der Abfolge von überraschter Einsicht und Furcht kognitiv vermittelt! Ein potentielles Indiz für diachrone Uneinheitlichkeit wäre bei V. 16 // 17 allenfalls dann gegeben, wenn einem biblischen Erzähler dieses Maß an Differenziertheit nicht zuzugestehen wäre.33 Selbst der vordergründig überraschende Umstand, dass die Reaktion der Furcht mit der Rede vom Gotteshaus bzw. Himmelstor verbunden ist, und nicht mit der theologisch gewichtigeren Gegenwart JHWHs, ist durch das narrative Gefälle motiviert, das um der kult- und namensätiologischen Zuspitzung willen sich ab V. 17 auf die Qualität des Ortes konzentriert. Zugleich wird eben dadurch die zentrale Positionierung der Rede von JHWHs Erscheinung in V. 13–16 profiliert.42–44 (c) Gegen meine These in Komposition der Vätergeschichte, wonach der Grundbestand der Erzählung lediglich von einer stummen Schau Gottes und der himmlischen Welt Jakobs im Traum – ohne Gottesrede – handelte, formuliert Van Seters zwei grundlegende Einwände, zum einen: „This would be unprecedented in the OT“, zum anderen: „And how was Jacob able to identify this numinous presence, v. 16, without the deity making his identity quite clear, as in the parallel Exodus 3?“34 Diese Kritik, vor allem erstere Überlegung, ob eine solche Gotteserscheinung im Traum ohne Gottesrede für die intendierten Leser überhaupt schlüssig wäre, erscheint mir sehr bedenkenswert, selbst wenn Mutmaßungen neuzeitlicher Leser, was im altisraelitischen Kontext möglich/denkbar war, grundsätzlich nicht unproblematisch sind. In diesem Falle kommt jedoch eine wohlbekannte „external evidence“ hinzu – für alttestamentliche Texte eine seltene Ausnahme –, die Jakobüberlieferung in Hos 12. Wie im Folgenden erläutert werden soll, ergeben sich aus diesem prophetischen Text – entgegen meiner früheren Sicht – gewichtige Argumente dafür, dass dem ältesten erkennbaren Grundbestand in Gen 28 neben der Erzählung von 28,11–13a.16–22 auch eine Gottesrede mit | (vermutlich) einer Selbstvorstellung Gottes und mit einer Zusage JHWHs für Jakobs Rückkehr von seinem bevorstehenden Weg zuzurechnen ist.
32 VAN SETERS, Prologue (Anm. 1), 291. Wiederum möchte man fragen, weshalb der Yahwist diese Formulierung nicht wählte (zumal er schon die Notiz vom Aufwachen Jakobs umstellte), wenn sie wirklich so nahe lag. 33 Dabei finden sich bereits in der Jakoberzählung selbst noch erheblich subtilere Beispiele narrativer Komplexität, vgl. nur Gen 32–33. 34 VAN SETERS, Prologue (Anm. 1), 291.
[44–45]
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
31
Zwischenüberlegung: Hosea 12 und die Jakobüberlieferung der Genesis Die Jakob-Bethel-Aussagen in Hos 12,5b.7 sind Teil einer kohärenten diskursiven Einheit (*12,1–15) – unbeschadet der vordergründigen Disparatheit des Abschnitts.35 Dementsprechend kann auch ihr möglicher Zusammenhang mit der Genesisüberlieferung nur auf der Grundlage einer kontextuellen Lesung des ganzen Abschnitts bestimmt werden. Diese ist hier also zumindest zu skizzieren, selbst wenn im vorliegenden Rahmen eine explizite Auseinandersetzung mit der weitläufigen Literatur zu dem schwierigen Kapitel unterbleiben muss. Im Anschluss an A. de Pury lässt sich die „Untersuchung“ () JHWHs gegen Israel/Ephraim in die Eröffnung (V. 3), eine Durchführung in drei Strophen (V. 4–7 [I]; 8–11 [II]; 12–14 [III]) und das abschließende „Urteil“ (V. 15) gliedern. Vorangestellt ist (in direkter Gottesrede) der leitende Schuldvorwurf des trügerischen Verhaltens gegenüber JHWH (V. 1*–2), metaphorisch gekennzeichnet als Haschen nach dem Ostwind, konkretisiert als Lüge und Raub (im Inneren?) und unstete Bündnispolitik mit den Großmächten (nach außen). | 44–45 Die Durchführung profiliert dieses Fehlverhalten als unbändiges und gottwidriges „Haben-Wollen“ im Vertrauen auf eigene Kraft und trügerisches Können bereits im Ursprung, in der Geschichte des Stammvaters
35 Für mein Verständnis von Hos 12 grundlegend sind in dieser Hinsicht vor allem zwei neuere Auslegungen: J. JEREMIAS, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, 148ff., und A. DE PURY, Osée 12 et ses implications pour le débat actuel sur le Pentateuque, in: P. HAUDEBERT (Hg.), Le Pentateuque. Débats et recherches (LecDiv 151), Paris 1992, 175–207. Vgl. zum Folgenden auch: H. UTZSCHNEIDER, Hosea. Prophet vor dem Ende (OBO 31), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 1980, 186ff.; S.L. MCKENZIE, The Jacob Tradition in Hosea xii 4–5, VT 36 (1986) 311–322; H. GESE, Jakob und Mose: Hos 12:3–14 als einheitlicher Text (1986), in: DERS., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 84–93; H.-D. NEEF, Die Heilstraditionen Israels in der Verkündigung des Propheten Hosea (BZAW 169), Berlin/New York 1987; W.D. WHITT, The Jacob Traditions in Hosea and their Relation to Genesis, ZAW 103 (1991) 18–43; H.-C. SCHMITT, Der Kampf Jakobs mit Gott in Hos 12,3ff. und in Gen 32,23ff. Zum Verständnis der Verborgenheit Gottes im Hoseabuch und im Elohistischen Geschichtswerk, in: „Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil“ (Jesaja 45,7). Studien zur Botschaft der Propheten (FS L. Ruppert), hg. von F. Diedrich und B. Willmes (FzB 88), Würzburg 1998, 397– 430. Mit den meisten Auslegern ist in der folgenden Lesung vorausgesetzt, dass die Einbeziehung von Juda (in V. 1b.3a) nachträglich eingetragen wurde, ebenso die „Doxologie“ in V. 6 (damit verbunden vielleicht auch die Lesung der Suffixe in 5b als 1.P.pl., event. auch die durchgehende Formulierung der Verben im Imperfekt).
32
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[45]
Jakob/Israel.36 Gemessen am Profil der Jakoberzählung der Genesis begnügt sich die prophetische Analyse mit subtilen, z.T. ironisierenden Akzenten, die Jakob/Israel in einer „Trickster“-Existenz zeigen, dem strikten Gegenbild zu Eigensicht des „Gotteskämpfers“: Bereits im Mutterleib „rangelt“ er mit dem Bruder um die Erstgeburt, in seiner Manneskraft ( ) ringt er mit Gott bzw. einem elohim-Wesen, genauer einem Mal’ak37; sein berühmtes „Obsiegen“ ( )38 verdankt er freilich seinem flehentlichen Weinen39. Noch eklatanter ist die Diskrepanz zwischen der betrügerischen Praxis („einem Kanaanäer gleich“) und dem selbstgerechten Prahlen, mit dem Ephraim sein Vermögen ( ) auf eigene Arbeit zurückführt (V. 8–9), ein Zusammenhang, der Jakobs trickreiche Mehrung seines Vermögens auf Kosten Labans evoziert.40 Eine ähnliche „Überblendung“ der gegenwärtigen Wirklichkeitsschilderung mit Assoziationen/Farben der Jakobgeschichte bietet der Gileadvers 12, der nicht nur durch sein Spiel mit gil‘ad, gal, mizbeah, zæbah, sondern auch dank der Kontaktstellung mit V. 13 an Jakobs Vertragsschluss mit Laban erinnert. Sachlich geht es hier darum, dass Gileads Vermögen ( ) bereits zunichte geworden ist; auch ein prestigeträchtiger Aufwand im Kult (Stieropfer am Wallfahrtsheiligtum) vermochte es nicht zu sichern: die Altäre selbst sind verfallen wie Steinhaufen an den Feldern.41 | 45
36
Der Versuch einer positiven Lesung der Jakobtradition in Hos 12 (so GESE, Jakob und Mose [Anm. 35], und NEEF, Heilstraditionen [Anm. 35]) erscheint mir im Gesamtgefälle der Einheit hingegen nicht schlüssig. 37 Die verbreitete Konjektur, die als Glosse ausscheidet, ist m.E. unnötig: Die ungewöhnliche Präposition bei „kämpfen“ (anders die Masoreten) ist hier um der Anspielung an willen gewählt. Die Rede vom mal’ak spricht vielleicht nur aus, was auch in Gen 32 vorgestellt ist, jedoch unexpliziert bleibt, trifft aber gerade so mit einiger Subtilität den Nimbus des „Gotteskämpfers“. 38 Der Wortanklang an die überlieferte Pnuelepisode (Gen 32,29) in V. 5a kann nicht zufällig sein: Die bekannte Überlieferung wird zitiert, um sie gleich im Anschluss (5a) zu „entzaubern“. 39 MCKENZIE, Jacob Tradition (Anm. 35), 315f., verweist auf den Anklang an Stichwörter aus dem Kontext von Gen 32f. in dem Idiom . 40 Vgl. Gen 30f.; dazu DE PURY, Osée 12 (Anm. 35), 194f. Der Übergang von der Jakob-„Erzählung“ zu einer Rede Ephraims in 12,9 dient der Vorbereitung der direkten Gottesrede an Ephraim in V. 10f., die als ganze der Gottesrede an Jakob in V. 7 korrespondiert. 41 M.E. ist V. 12 (aufgrund der Tempora etc.) folgendermaßen zu übersetzen: „(Oder) ist Gilead (etwa) vermögend (’ôn)? Fürwahr (’ak), zunichte sind sie geworden! In Gilgal opferten sie (sogar) Stiere. Auch ihre Altäre sind (jetzt) wie Steinhaufen an den Furchen der Flur.“ Für die Lesung ’ôn spricht auch die Parallele zur Rede Ephraims in 9a: „Fürwahr (’ak), ich bin reich! Vermögen (’ôn) habe ich mir gefunden“. Freilich sind und % in der (nordisraelitischen) Aussprache nicht unterschieden, so dass „Nichtigkeit“ hintersinnig mitzuhören sein wird.
[46–47]
Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
33
Am schwersten tun sich die Ausleger mit dem letzten, nun wieder expliziten Verweis auf die Jakobüberlieferung in V. 13: „Jakob floh in die Gefilde Arams / Israel diente einer Frau wegen, / wegen () einer Frau hütete er () (Herden).“ Obschon der Bezug auf die Jakob-Laban-Episoden ebenso eindeutig ist wie der absichtsvolle Kontrast zu V. 14: „Durch einen Propheten führte JHWH Israel aus Ägypten herauf / durch () einen Propheten wurde es behütet ()“, besteht einige Unsicherheit in der Frage, worauf sich die Kritik an Jakob beziehen könnte. M.E. bringt der Text weder eine Kritik an der „Flucht“ in einen „Sexualkult“42 noch an einer genealogischen Selbstdefinition Israels43 zum Ausdruck, vielmehr geht es bei den Stichworten „Flucht in die Gefilde Arams“, „dienen“ um die außenpolitische Dimension der Untreue Israels (vgl. V. 2): die Zufluchtnahme bei einer Fremdmacht und die damit verbundene Selbstversklavung. Bereits Jakob war bereit, in der Fremde seine Freiheit aufzugeben, und wofür? – Um eine Frau zu besitzen! Noch deutlicher profiliert wird dieser Zusammenhang, wenn man V. 12 und 13 vor ihrem vermutlichen zeitgeschichtlichen Hintergrund liest: Der Verlust Gileads an das assyrische Imperium um 732 steht den Adressaten vor Augen, und diese Dezimierung des Nordreichs war die Konsequenz von Aufstandsbestrebungen, bei denen sich Nordisrael mit dem (überlegenen) aramäischen Königreich von Damaskus verbündet hatte. Dieser selbstherrlichen Praxis Jakobs/Israels ohne JHWH, die für einen Teil des Nordreiches bereits zu schlimmen Konsequenzen geführt hat, steht das bewahrende Handeln JHWHs an Israel gegenüber, das in der befreienden Herausführung aus Ägypten sein Zentrum hat (V. 10.14), das aber insbesondere in den Selbstmitteilungen JHWHs mit Weisungen zu einem „bewahrten“, gelingenden Leben anhält. Seit dem Exodus geschieht diese Selbstkundgabe Gottes durch Propheten mit Mose als deren Prototyp. Der Stammvater Jakob erfuhr diese Zuwendung Gottes als Zusage und Weisung für seinen künftigen Lebensweg in Bethel (12,5b.7). Doch ebenso wie Jakob die Mahnung, # und Recht zu wahren und allezeit auf seinen Gott zu harren, (in der Sicht des Propheten) nicht umsetzt, ebenso wenig hören die Israeliten auf die immer neuen Weisungen JHWHs durch die Propheten (12,11) – bis | hin zur Verkündigung Hoseas. Angesichts dieser Verweigerung, in den Augen JHWHs nichts als eine bitter erzürnende und schmachvolle Absage (12,15), bleibt nur die Konsequenz des Gerichts (12,10.15).46–47 Die Redekomposition stellt die Adressaten demnach vor eine grundlegende Alternative: Auf der einen Seite eine Existenz, die mit allen Mitteln auf den Erwerb und die Sicherung von „Vermögen“ ( ) aus ist, auf der 42 43
So im Anschluss an H.W. Wolff etwa JEREMIAS, Hosea (Anm. 35), 156f. So DE PURY, Osée 12 (Anm. 35), 205.
34
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[47–48]
anderen Seite die Orientierung an JHWH und seinem (prophetischen) Wort, welche die Wahrung von # und & einschließt (V. 7). Das (negative) Paradigma für ersteres ist Jakob, das (positive) Paradigma für das zweite ist die Befreiungsgeschichte des Exodus unter der Leitung des Propheten Mose.44 In diesem Diskurs bildet die Gottesrede an Jakob zu Bethel (V. 5b.7) ein integrales, unverzichtbares Element. Dies erweist sich 1. an ihrer strukturellen Funktion: Als Abschluss der ersten Strophe korrespondiert sie der JHWH-Rede im zweiten Teil der zweiten Strophe, die zudem von seiner Selbstmitteilung durch Propheten handelt, und dem Schluss der dritten Strophe mit dem Hinweis auf JHWHs bewahrende Führung durch den Propheten Mose. Die Gottesbegegnung (im Traum?) für Jakob bildet im Milieu der „Väterzeit“ das sachliche Pendant zur Prophetie, deren Institution an eine Gemeinschaft/Großgruppe gebunden ist (insofern steht Mose für einen Anfang), 2. an der Verklammerung von Einzelelementen mit dem Kontext, die durch Bezüge auf der Ebene des Oberflächentexts angezeigt werden: in V. 7a bildet ein sachliches Gegenstück zu dem zweimaligen ( / ) im Rahmen (V. 3.15), zugleich stellt es inhaltlich und im Gebrauch der Präposition eine Parallele zu dar.45 Das in V. 7b kehrt zweimal in Endstellung in V. 13 und 14 wieder46. Schließlich findet die Verheißung der Rückkehr mit Gott ( ) ein Wortspiel-| Echo in der Gerichtsansage von V. 10b ( )47, in der selbst möglicherweise ein Ausdruck der Jakobüberlieferung nachklingt;4847–48 3. an den inhaltlichen Zusammenhängen: So formulieren die Weisungen in V. 7b recht präzise die Alternative zu Jakobs/Israels tatsächlichem Verhalten. Das beständige „Harren auf deinen Gott“49 ist das Gegenbild zum andauernden Hinterherlaufen hinter dem Wind (12,2) und der Unbestän44 Wesentlich für die Argumentation des Textes ist, dass beide „Wege“ in der einen Ursprungsgeschichte Israels bereits paradigmatisch vorgegeben sind. Die Adressaten stehen also nicht vor der Aufgabe, „de choisir leur ‘ancêtre’: Jacob ou Moïse“ (DE PURY, Osée 12 [Anm. 35], 206), sondern es geht um die Orientierung an dem einen bzw. dem anderen. Im Übrigen stand die Ausrichtung am Gotteswort bereits für Jakob offen (V. 7); er hat sie nur nicht ergriffen. 45 Zu letzterem s. JEREMIAS, Hosea (Anm. 35), 154. 46 # und & sollte Jakob „hüten“, statt dessen „hütete“ er nach V. 13 wegen einer Frau. 47 Über das Wortspiel geht es zugleich um einen inhaltlichen Zusammenhang: das Wohnenlassen in Zelten als Gerichtshandeln Gottes stellt eine Form der Rückkehr Israels durch/zu Gott dar. 48 Siehe Jakobs Charakterisierung als in Gen 25,27. 49 Dass in V. 7b „Psalmensprache“ zu erkennen ist, besagt noch nichts für die Datierung; auch deutet nicht auf „priesterliche“ Sprache (vgl. 2 Sam 9,7.10; 1 Kön 10,8; 2 Kön 4,9 u.a.) (zu SCHMITT, Kampf Jakobs [Anm. 35], 404).
[48–49]
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35
digkeit des Tricksters. # kann auch sonst bei Hosea das rechte Gottesverhältnis mit den entsprechenden Konsequenzen für die menschliche Gemeinschaft bezeichnen (4,1; 6,4.6); zusammen mit & (vgl. 2,21) bildet es den positiven Gegenbegriff zum Betrug – (12,1.8), der im unmittelbaren Nachkontext (2. Strophe) als Verhaltensmuster Jakobs/Israels entfaltet wird. So „stehen mit V. 8f. zerstörte Gemeinschaft und Vertrauen auf (wie auch immer erworbenen) Gewinn dem Recht und dem Harren auf Gott aus V. 7 hart gegenüber.“50 Die Art und Weise, in der Hos 12 mit der Jakobtradition umgeht (in Anspielungen, ironischen Akzentuierungen etc.),51 zeigt, dass bei den Lesern/ Hörern die (relativ intime) Kenntnis einer entsprechenden Erzählüberlieferung vorausgesetzt werden kann. Inhaltlich gehörten dazu wenigstens (in „biographischer“ Anordnung): eine Geburtsgeschichte mit einem Zwillingsbruderkonflikt (und einer Anspielung an den „Jakob“-Namen?), eine Gottesbegegnung in Bethel mit einer Gottesrede vor/bei einem Weg in die Fremde, die Flucht ins Aramäergebiet, sein Dienen/Hüten um einer Frau52 | willen, der Gewinn von Reichtum (mit fragwürdigen Mitteln), eine GileadÜberlieferung mit Steinhaufen, Altar (und zæbah?) und schließlich ein Gotteskampf mit einer Anspielung an den Israelnamen, bei dem Jakob/Israel „obsiegt“.48–49 Die weitgehende substantielle Übereinstimmung mit der Jakoberzählung zwischen Gen 25 und 33 liegt auf der Hand.53 Dazu kommen einige Anklänge an spezifischen Wortlaut der Genesistexte.54 Es spricht somit 50 JEREMIAS, Hosea (Anm. 35), 155. Jeremias macht ebd. auch auf eine der charakteristischen Stichwortaufnahmen aufmerksam: „Auch zu V. 5 setzt V. 8f. einen Gegensatz: Gott ‚findet‘ Jakob (V. 5); Jakob ‚findet‘ Reichtum (V. 9a) und leugnet, dass man bei ihm Schuld ‚finden‘ könne (V. 9b).“ 51 W.D. W HITT (Jacob Traditions [Anm. 35]) schließt dergleichen für den prophetischen Text von vornherein aus, während er einem antiquarian historian („Yahwist“) des 6. Jahrhunderts zugesteht, dass er in großer Freiheit seine Erzählung aus minutiis des Hoseatextes (bzw. einer auch von Hosea benutzten Quelle) kreiert. Damit ist das Ergebnis natürlich vorgezeichnet; s. auch die nächste Anm. 52 W HITT, a.a.O., 39f., leitet aus Hos 12,13 ab, dass Jakob nur um eine Frau diente, der Text also nicht unsere Genesiserzählung voraussetze (vielmehr sei deren Überlieferung von Lea und Rahel aus einem Missverständnis des Hoseaverses heraus entstanden!). Ganz abgesehen davon, ob man 12,13 so pressen darf, wird dabei übersehen, dass auch nach Gen 29 Jakob nur um eine Tochter Labans dient. 53 Signifikant ist insbesondere, dass Hos 12 sich mit der Bethel- und Gotteskampfepisode auf Elemente bezieht, die in der Genesis konstitutiv sind für die Gesamtkomposition der Jakob-Esau-Laban-Geschichte; dies gilt zumal für den Schlussteil in Gen 32f. (s. die nächste Anm.); dazu BLUM, Komposition (Anm. 5), 145ff.168ff. 54 Vgl. Hos 12,5a mit Gen 32,29b; zu 12,5a vgl. die leitmotivartige Verwendung von Wortbildungen mit '' in Gen 32f. (s.o. Anm. 39); 12,10b mit Gen 25,27b.
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Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[49–50]
viel dafür, dass der Hoseatext – einschließlich der Bethel-Elemente in V. 5b.7 – sich auf eine bekannte Jakobüberlieferung bezieht, die der Jakoberzählung in unserer Genesis sehr nahe stand.55
Schlussfolgerungen Der Befund in Hos 12 hat eminente Konsequenzen sowohl (a) für die entstehungsgeschichtliche Verortung der Jakoberzählung als auch (b) für die Abgrenzung der ältesten Bethelepisode in dieser Erzählung: 49–50 (a) Ob man die Komposition von Hos 12 aufgrund der Argumentation mit Gilead in V. 12 in dem Jahrzehnt zwischen der Dezimierung des Nordreiches durch die Assyrer um 732 und seiner Zerschlagung ansetzt oder aus anderen Gründen bei Tradenten, die nach 721 die Hosea-Überlieferung aufgearbeitet haben,56 so oder so ist die Entstehung der Jakoberzählung noch deutlich vor den Katastrophen am Ende des 8. Jh.s zu veranschlagen. Dies folgt nicht nur daraus, dass Hos 12 die Bekanntheit der Überlieferung bereits selbstverständlich voraussetzen kann, sondern auch daraus, dass von bedrängenden Zeiterfahrungen wie Fremdherrschaft, Deportation, Ansiedlung | fremder Bevölkerung etc. in der Erzählung schlechterdings nichts zu erkennen ist,57 eher im Gegenteil. M.E. gewinnen die Einzelzüge (insbesondere der übergreifenden, auf das Finale in Gen 32f. hinzielenden Komponenten) in keiner anderen Epoche ein so konkretes Bedeutungsprofil wie in der Anfangszeit des Nordreiches (unter Jerobeam I.).58 Jedenfalls sind die Akzentuierungen der Erzählkomposition mit ihren massiv legitimatorischen Interessen am Kult in Bethel (Kap. 28, bes. V. 2259; die Got-
55 Grundsätzlich ist selbstverständlich mit der Möglichkeit zu rechnen, dass nicht nur ein Exemplar oder eine Fassung der Jakobgeschichte in Umlauf war. Deshalb greifen einfache Gleichsetzungen leicht zu kurz. E. OTTO, Jakob in Bethel. Ein Beitrag zur Geschichte der Jakobüberlieferung, ZAW 88 (1976) 164–190, möchte aus dem Vergleich von Hos und Gen eine entsprechende mündliche Erzählung erschließen. 56 Vgl. dazu die Überlegungen im Kommentar von J. Jeremias. 57 Anders SCHMITT, Kampf Jakobs (Anm. 35), 425ff., der in Gen 32,23ff. einen Reflex der Erfahrung der Verborgenheit Gottes beim Untergang des Nordreichs sieht. 58 S. die Begründung in BLUM, Komposition (Anm. 5), 168ff.175ff. Die Bedenken von SCHMITT, Kampf Jakobs (Anm. 35), 422ff., verdienten eine eingehende Antwort, die in diesem Rahmen nicht möglich ist. Zu seinem Hauptargument, der in der Erzählung vorausgesetzte „Israel“-Begriff sei erst in der Zeit nach 722 plausibel, sei lediglich angemerkt, dass beispielsweise das genealogische System der zwölf Stämme (vgl. Gen 29f.; 33) mit der Zuordnung Benjamins zu Joseph aus diesem „späten“ Kontext heraus nicht mehr zu erklären ist. 59 Gegen die übliche literarkritische Ausscheidung von V. 22b s. bereits OTTO, Jakob in Bethel (Anm. 55), 170, Anm. 19.
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tesrede in 31,1360) am einfachsten aus der Zeit des bestehenden Staatskults in Israel zu erklären.6150–51 (b) Angesichts des Befundes in Hos 12, wonach auch für die ältere Jakobüberlieferung eine Gottesrede in Bethel vorauszusetzen ist, gewinnt die schon lange beobachtete Parallele der Rückkehrzusage in Gen 28,15 und Hos 12,7 eine besondere Signifikanz. Nimmt man die u.a. von J. Van Seters formulierten berechtigen Einwände gegen eine stumme Gotteserscheinung im Traum Jakobs (s.o.) hinzu, dann spricht alles für die Ursprünglichkeit einer Gen 28,15 entsprechenden Beistandszusage, und zwar (gegen Van Seters u.a.) innerhalb der vorexilischen Komposition der Jakoberzählung.62 Der | inneren Logik solcher Gottesreden entsprechend wird sie wenigstens auch die Selbstvorstellung JHWHs beinhaltet haben (die dann in der Jakobrede in V. 16 aufgenommen wird).
60 In der Fremde identifiziert sich Gott Jakob gegenüber als „der Gott in/von Bethel“, wobei die Formulierung zugleich an einen Altarnamen „el bet-el“ anspielt; zur Begründung s. BLUM, Komposition (Anm. 5). 189f. (mit 64f.). 61 Dagegen bleibt fraglich, wie sich solch konkrete Interessen etwa bei Van Seters’ judäischem Yahwist plausibel machen ließen. Abgesehen davon kann man gewiss aus unterschiedlichen Gründen über Revivals des Kultes in Bethel (bzw. Bestrebungen dieser Art) auch noch in sehr viel späterer Zeit (nach dem Exil) spekulieren. Die Archäologie sollte man dafür jedoch nicht bemühen (zuletzt wieder SCHMITT, Kampf Jakobs [Anm. 35], 424), nachdem bislang weder ein Stein noch eine Scherbe des israelitischen Heiligtums ebenda identifiziert worden ist. 62 Entgegen einer üblichen Argumentation in den Quellenscheidungen (s. zuletzt SCHMIDT, Landverheißung [Anm. 4], 138) besteht zwischen der Verheißung in V. 15 und Jakobs Gelübde in V. 20ff. keine Spannung: Weder bringt das Gelübde als solches einen Zweifel an der Zusage zum Ausdruck, noch ist unbedingt ein expliziter Rückbezug auf die Zusage zu erwarten; s. schon BLUM, Komposition (Anm. 5), 22, und eingehender VAN SETERS, Prologue (Anm. 1), 293f.; DERS., Encounter (Anm. 3), 506ff. (zu CARR, Reading [Anm. 2], 106, Anm. 55; allerdings wird dessen Argumentation darin etwas vereinfacht). Wenn das Gelübde von vornherein als Korrespondenz zur Verheißung JHWHs in V. 15 zu lesen ist, verliert auch die von mir konstatierte Unebenheit der Formulierung in V. 20.21b (Komposition [Anm. 5], 91) deutlich an Profil. Ob damit auch die Bestimmung von V. 21b als jüngere Erweiterung, die VAN SETERS nachdrücklich bestreitet (Prologue [Anm. 1], 292f.; Encounter [Anm. 3], 509), hinfällig wird, hängt an der traditionsgeschichtlichen Interpretation des Satzes. Wie dieser Beitrag zeigt, meine ich, – auch gegenüber Van Seters – entschieden an einer erheblichen literargeschichtlichen Distanz zwischen der Hauptkomposition der Bethel- und Jakoberzählung und den späteren programmatischen Traditionsbildungen, in denen die sog. „Bundesformel“ zu Hause ist, festhalten zu müssen. Im Blick auf 28,21b könnte man nun fragen, ob Jakobs Verpflichtung auf JHWH, den Gott seines Vaters (27,20), als seinen „persönlichen Gott“ traditionsgeschichtlich ins Vorfeld der mit der „Bundesformel“ artikulierten theologischen Programmatik gehört (anders LEVIN, Jahwist [Anm. 4], 218f.). Dann entfiele jeder Grund für die Annahme einer Bearbeitung. – Die Frage mag hier offen bleiben; sie ist für meine Textanalyse auch nicht so zentral, wie es nach Van Seters erscheinen könnte.
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Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22
[51–52]
Allerdings zeigt die vorliegende Gestalt der Zusage in V. 15 auch deutliche Anzeichen einer jüngeren Neuformulierung. So schließt der Schluss in 15b bereits eine weiter gespannte Verheißungsrede (dazu gleich) ein, und einige Elemente der Formulierung haben ihre nächsten Parallelen in deuteronomistisch geprägten Texten.63 Nicht zuletzt scheint die Formulierung der Rückkehrverheißung über das Geschick Jakobs hinaus bereits die Problematik des Exils im Blick zu haben (vgl. 1Kön 8,34; Jer 16,15; 24,6). Alles in allem deuten mithin die Befunde zu Gen 28,15 in unterschiedliche Richtungen. Sie lassen sich jedoch miteinander vereinbaren, sofern man von einer späteren Umformung und Neuakzentuierung einer alten Beistandund Rückkehrzusage in 28,15 ausgeht.64 51–52 Zwei bislang ausgeklammerte Probleme des Betheltextes können abschließend nur mehr kurz angesprochen werden: die diachrone Einordnung des Itinerars von 28,10 und der Verheißungen in 28,13*–14. Gemeinsam ist beiden Textelementen, dass sie im Verhältnis zu ihrem engen Kontext keinerlei Kohärenzstörungen aufweisen, die zu einer diachronen Differenzierung nötigten. | Nach den gängigen literarkritischen Regeln bedeutet dies ein ernstes Handicap für jede diachrone Abgrenzung der Verse.65 Allerdings beruht das „Regelwerk“ in diesem Falle auf zwei unhinterfragten Axiomen, dass nämlich Redaktoren, Tradenten etc. normalerweise (a) irgendeine oder mehrere Textstörungen als „Spur“ hinterlassen und (b) bei der Traditionsbildung „additiv“ verfahren, so dass über eine Subtraktion der Bearbeitungen der ältere Text wiederherzustellen ist. Tatsächlich halten aber beide Axiome den empirischen Befunden nicht stand.66 So greifen sehr viele Textbildungen der Traditionsliteratur teilweise oder durchgehend verändernd, „transformativ“, in die rezipierten Texte ein – was in der Konsequenz eine Rekonstruktion des Wortlauts der Vorgaben weitgehend unmöglich macht. Und hinsichtlich der Kohärenz können die veränderten Texte sogar weniger auffällig, „glatter“ sein als die Ausgangstexte oder sie können „blinde“ Störungen aufweisen, die für die Diachronie keine Signifikanz haben. Solche Befunde bedeuten in der Konsequenz eine erhebliche Relativierung sowohl der „literarkritischen Kriterien“ als auch der Rückschlussmöglichkeit von synchroner auf diachrone Einheitlichkeit (und implizieren damit zugleich eine erhebliche Einschränkung der Urteilsfähigkeit).67 52–53
63
Ausführlich dazu BLUM, Komposition (Anm. 5), 159ff. Im Grundsatz habe ich eine solche Erklärung bereits in meiner ersten Arbeit (ebd.) als Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Heute würde ich aber die Akzente deutlich anders setzen. 65 So z.B. ausdrücklich SCHMITT, Kampf Jakobs (Anm. 35), 418, im Blick auf die gleich anzusprechenden Erwähnungen von „Haran“ in Gen 28,10 und anderen Versen der Jakobgeschichte. 66 Für den Nachweis und Beispiele muss wieder auf eine geplante Publikation verwiesen werden (s.o. Anm. 20). 67 So kann auch der positive Nachweis hoher Kohärenz eines Textes im Einzelfall eine dem analytischen Urteil verborgene Textgenese nicht ausschließen. Unbeschadet dessen gibt es natürlich zumeist unterschiedliche Grade der Plausibilität, Wahrscheinlichkeit usw. 64
[52–53]
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39
Gleichwohl lässt sich im Falle der genannten Verse wahrscheinlich machen, dass sie jüngeren Weiterführungen der Überlieferung angehören. Des Näheren ist für 28,10 mit der Neuformulierung einer älteren Itinerarangabe zu rechnen und in 28,13b–14 im Wesentlichen mit einer (additiven) Einschreibung.68 Die Gründe dafür ergeben sich aus dem weiteren Kontext. Im Falle von V. 10 liegt der Hauptanstoß in der Spannung zwischen Haran als Zielort Jakobs (in 27,43b; 28,10; 29,4) und der Erzählsubstanz, welche einen Aufenthalt Jakobs im „Land der Ostleute“ (29,1), näherhin bei dem Aramäer Laban, mit dem Jakob/Israel eine gemeinsame Grenze in Gilead hat (31,44ff.), voraussetzt.69 Nun kann man fragen, welcher Überlieferungs|schicht die Lokalisierung im „Land der Ostleute“ zuzuordnen ist: lediglich älterem verarbeiteten Material70 oder der Hauptkomposition der Jakoberzählung (einschließlich Jakobs Traum und Gotteskampf)? Für letzteres sprechen nicht nur innere Gründe,71 sondern wiederum der Befund in Hos 12 (V. 13): Für Israeliten des 8. Jh.s bedeutet „Aram“ zunächst und in erster Linie Damaskus. „Gefilde Arams“ ist in diesem Kontext mithin auf das Steppengebiet der „Ostleute“ im Einflussbereich des Königreichs Damaskus zu beziehen, das mit Israel in Gilead ein (konfliktträchtiges) Grenzgebiet teilt. Die Übertragung der Verwandtschaft Jakobs nach Haran in Nordsyrien setzt sachlich eine grundlegende Horizontveränderung voraus, wie sie wohl mit den assyrischen Deportationen aus Israel bzw. mit dem babylonischen Exil der Judäer verbunden war. Kompositionsgeschichtlich kommen wir damit in der Tat in einen Zusammenhang, der mehr umfasst als die Jakobgeschichte, am ehesten die Ahnelternüberlieferung von Abraham an.72 Dass die gesamte Bethelepisode erst in einem solch relativ späten Kontext eingefügt worden sei, lässt sich aus 28,10 nicht ableiten, auch nicht aus dem dortigen Verweis auf Beerscheba (mit
68 Gleichwohl ist bei der Selbstvorstellung JHWHs in V. 13a ein transformierender Eingriff durchaus wahrscheinlich. 69 Für die ausgeführte Begründung s. BLUM, Komposition (Anm. 5), 164ff. Dem Befund schließen sich auch VAN SETERS, Encounter (Anm. 3), 505, und SCHMITT, Kampf Jakobs (Anm. 35), 417f., an (anders LEVIN, Jahwist [Anm. 4], 217, der den Zusammenhang der „Ostleute“ mit der Haupthandlung nicht sieht). 70 So VAN S ETERS und SCHMITT (ebd.). 71 In der Textsubstanz unserer Jakoberzählung gibt es nichts, was einen Aufenthaltsort Jakobs außerhalb des damaszenischen Aram nahelegen würde. Das von SCHMITT, Kampf Jakobs (Anm. 35), 418, hierzu angeführte Gelübde Jakobs in 28,20ff. bezieht sich auf seinen gesamten „Weg“ in der Fremde, nicht allein auf die An- und Abreise. 72 Die Befunde sind allerdings komplex; vgl. vorläufig BLUM, Komposition (Anm. 5), 164ff. und 343f., Anm. 11. Van Seters denkt hier selbstverständlich an seinen „J“, Schmitt dagegen an ein sehr viel weniger umfängliches „elohistisches“ Werk (ca. 7. Jh.), zu dem er bei Abraham Gen 20–22 rechnet.
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den Bezügen zu Gen 26), auf den Van Seters in seinem jüngsten Beitrag so großen Nachdruck legt.73 Die Verheißungen in 28,13b–14 mit den Zusagen der Landgabe, der Mehrung der Nachkommenschaft und des exemplarischen Segens sind – unstrittig – aufs engste mit den Verheißungstexten am Anfang der Abrahamgeschichte (12,1–3; 13,14ff.) verbunden. Mit J. Van Seters u.a. besteht auch Einverständnis darüber, dass diese Verheißungen eine exilische Antwort auf | die Katastrophenerfahrungen Israels darstellen,74 in denen all dies: das Land, die Existenz des Volkes und der Segen JHWHs in Frage gestellt erschienen. Trifft nun unsere vorhoseanische Verortung der JakobEsau-Laban-Geschichte – einschließlich Jakobs Traum zu Bethel – in den Hauptlinien zu, dann kann es sich bei diesen Verheißungen nur um jüngere theologische Einschreibungen in die vorgegebene Gottesrede von Gen 28 handeln. Hier bleibt also ein Dissens mit Van Seters, der in einer entsprechenden Gesamtanalyse der Vätergeschichte begründet ist.75 Diese kann und soll im vorliegenden Rahmen nicht neu aufgenommen werden, doch dürften die vorstehenden Überlegungen zu Gen 28 einige der argumentativen Eckdaten zu erkennen gegeben haben. 53–54 Knapp zusammengefasst ergibt sich für die Diachronie von Gen 28,10–22 damit folgende Sicht: Die Episode erweist sich literarisch im Wesentlichen als einheitlich und auf den Kontext der Jakoberzählung (Gen 25B; 27–33 [35,6–8.16–20]) hin formuliert (28,11–13a*.15*.16–22); dabei wurde eine nicht mehr zu rekonstruierende Heiligtumsätiologie insbesondere über die Gottesrede (Selbstvorstellung + Rückkehrzusage) und Jakobs Gelübde narrativ eingebunden. Diese Jakoberzählung einschließlich der Bethelepisode ist vorhoseanisch im Nordreich Israel entstanden. Die Verheißungselemente in V. 13b.14 gehören dagegen sachlich und kompositionell in einen späteren (exilischen) Kontext, der (wenigstens) die Vätergeschichte umfasste; 73 Die Sachlage ist im Blick auf „Beerscheba“ in 28,10 deshalb nicht so eindeutig, weil (a) die Jakob-Esau/Edom-Tradition per se im Süden zu verorten ist, (b) Beerscheba bekannte Beziehungen zu Israel/Isaak im Norden aufweist (vgl. etwa W. ZIMMERLI, Geschichte und Tradition von Beerseba im Alten Testament, Gießen 1932). Die HaranProblematik zeigt jedenfalls an, dass bei diesem Itinerar mit einer retouchierenden Bearbeitung zu rechnen ist. Der ältere Wortlaut lässt sich hier nicht mehr rekonstruieren. 74 Dabei sehe ich in V. 13b.14 eine zusammengehörende Schicht; die entsprechende Modifikation meines Erklärungsmodells in E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin/New York 1990, 214, Anm. 35, hatte VAN SETERS, Prologue (Anm. 1), 294, übersehen. LEVIN, Jahwist (Anm. 4), 219f., rechnet V. 13b–14.15b zu „nachendredaktionellen Ergänzungen“. 75 Wenn diese argumentative Einbindung meiner diachronen Sicht von Gen 28 ausgeblendet wird – wie bei MCEVENUE (Return [Anm. 4]) –, dann bedeutet dies eine entscheidende Verkürzung. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang, dass von McEvenue nicht einmal die unterschiedliche Zuordnung von 28,13–15 bzw. 28,20–22, die für meine Analyse grundlegend ist, registriert wurde.
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Anzeichen einer (retouchierenden) Bearbeitung weisen auch die Verse 10 und 15 (21b?) auf. 54
Die Komplexität der Überlieferung Zur diachronen und synchronen Auslegung von Gen 32,23–33 Claus Westermann zum 70. Geburtstag
I Überblickt man die Auslegungsgeschichte von Gen 32,23–331, so scheint es, dass dieser Text im Wesentlichen erst neuzeitlichen Exegeten theologisch schwierig wurde. Wohl gab es schon früh Versuche, das ungewöhnliche Erlebnis Jakobs als Vision oder Traum zu deuten,2 für den Hauptstrom der jüdischen und der christlichen Tradition jedoch war der Text ohne weiteres integrierbar, indem man den Gegner Jakobs durchweg als Engel identifizierte.3 Anstößig wurde die Erzählung erst mit der Einsicht, dass eine derartige Deutung auf ein Engelwesen (im nachbiblischen Sinn) eine Interpretation an den Text heranträgt, die er selber weder explizit noch implizit bestätigt. Doch blieben die Exegeten die historisch-kritische Lösung dieses theologischen Problems keineswegs schuldig: Dachte man schon geschichtlich, was lag näher, als die Herkunft (darauf kommt es offensichtlich an!) der Überlieferung vom Kampf Jakobs mit (einem) Gott in die 1
Vgl. etwa B. JACOB, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, 641; C. WESTER1975, 53f.
MANN, Genesis 12–50 (EdF 48), Darmstadt 2 So Eusebius, Maimonides u.a.
3 In Midrasch Genesis Rabba werden unter dieser Voraussetzung auch die Einzelzüge erklärt. So wird wegen 33,10 der angreifende Engel als Schutzengel () Esaus interpretiert. Der Wunsch des Engels, bei Morgengrauen fortgelassen zu werden, wird mit dem schönen Gedanken erklärt, dass für ihn die Zeit, Gott zu lobpreisen, gekommen sei (# # $ " ). In einer hier nicht zu explizierenden Auslegung von Ps 147,4; Jes 40,26 und Ri 13,18 folgert der Midrasch, dass die Namen der Engel wechselten, weswegen der Engel seinen in 30.5 gar nicht nennen konnte. Zur Auslegung der Perikope bei Luther, der im Gegner Jakobs letztlich „dominum nostrum Jesum Christum“ sieht, vgl. H.J. STOEBE, Der heilsgeschichtliche Bezug der Jabbok-Perikope, EvTh 14 (1954) 466– 474, darin 467ff.
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Die Komplexität der Überlieferung
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ferne, vorisraelitische Religionsgeschichte zu entrücken.4 Anhaltspunkte ergaben sich ohne weiteres: das Element „el“ in „Pnuel“, das an einen kanaanäischen Kontext denken ließ, oder (damit konkurrierend?) der Zusammenhang mit dem Fluss, weswegen man als älteste Schicht einen Kampf mit einem Flussgott vermutete, oder die „Scheu“(?) des Gottes vor dem Tageslicht u.Ä.m.5 Eine andere religionsgeschichtliche Einordnung des Textes hat Hermisson vorgeschlagen.6 Ihm zufolge entstammt er nicht einer (kanaanäischen) Vorgeschichte (Pnuels), sondern der nomadischen Frühgeschichte Israels, womit freilich nach Hermissons Voraussetzungen ebenfalls keine genuine JHWH-Überlieferung vorläge.7 Allerdings weist er zu Recht mit einigem Nachdruck darauf hin, dass sie uns nun einmal als integrales Element israelitisch-jhwhistischer Tradition überliefert ist.8 Nicht erst damit sind wir | bei der (jedenfalls dem Anspruch nach) all solchen Interpretationen vorausgehenden Frage nach der Überlieferungsgeschichte9 des Textes, an der sich in der Tat die exegetische Stringenz der angedeuteten Auslegungen wird entscheiden müssen.2–3 Bemerkenswert ist zunächst, dass auch unter den Exegeten, die grundsätzlich im Rahmen der Urkundenhypothese argumentieren, eine deutliche Mehrheit nicht den naheliegenden Weg ging, die offenkundige Komplexität des Textes mit Hilfe einer Quellenscheidung aufzulösen.10 Gleichwohl 4
Mit aller Deutlichkeit WESTERMANN, Genesis 12–50 (Anm. 1), 53: „Es bleiben zwei Möglichkeiten; entweder es ist ein Zwischenwesen, also ein Engel … Die andere Möglichkeit geht davon aus, dass eine sehr alte, aus anderem Zusammenhang kommende Erzählung auf Jakob übertragen worden ist.“ Zu solchen Ansätzen in der exegetischen Forschung sind grundsätzlich die Überlegungen von J. und O. RADKAU (Praxis der Geschichtswissenschaft. Die Desorientiertheit des historischen Interesses [Konzepte Sozialwissenschaft 3], Düsseldorf 1972) zum Interesse von Historikern an den geschichtlichen „Großvätern“, das nicht zuletzt die Autorität der „Väter“ zu unterlaufen vermag, zu vergleichen: „Das historische Vorgehen besitzt die Fähigkeit, Autoritäten kampflos zu erledigen – zumindest für die eigene Innerlichkeit“ (Praxis, 145, in dem Abschnitt „Bibel und Babel: Auflösung des Alten in das Noch-Ältere“ S.144ff.). 5 Siehe dazu unten Abschnitt V. 6 H.-J. HERMISSON, Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23–33), ZThK 71 (1974) 239–261. 7 HERMISSON, a.a.O., 245ff. 8 HERMISSON, a.a.O., 258ff. 9 „Überlieferungsgeschichte“ verwende ich hier als eine Art Oberbegriff, der die gesamte Gesichte eines Textes bezeichnet, ohne eine Differenzierung in mündliche oder schriftliche Überlieferung; vgl. auch R. RENDTORFF, Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch (BZAW 147), Berlin/New York 1977, 3, Anm. 4. 10 Vgl. die Zusammenstellungen bei A. DE PURY, Jakob am Jabbok, Gen 32,23–33, im Licht einer alt-irischen Erzählung, ThZ 35 (1979) 18–34, darin 20ff. mit den Anm. 10– 12. Bei WESTERMANN, Genesis 12–50 (Anm. 1), 53f., wird die Frage einer Quellenscheidung gar nicht mehr erwähnt. Ist es eine Unterstellung zu vermuten, dass der „Verzicht“
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Die Komplexität der Überlieferung
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postuliert die Mehrzahl der vorgelegten Analysen eine mehr oder weniger komplizierte überlieferungsgeschichtliche Schichtung des Textes, den man selbstverständlich als ursprüngliche Einzelüberlieferung betrachtet. Gerade in jüngster Zeit mehren sich Arbeiten mit dezidierten Vorschlägen zu einer oft vielschichtigen Überlieferungsgeschichte.11 Demgegenüber bleiben die Plädoyers für eine einheitliche Komposition vereinzelt12 und wurden zudem in ihrer spezifischen Argumentation nicht erkennbar rezipiert, durchaus zum Schaden für die primär überlieferungsgeschichtlich orientierten Untersuchungen. Merkwürdigerweise ist es bisher unterlassen worden, diachrone und synchrone12a Fragestellungen bewusst und umfassend aufeinander zu beziehen. Eben darin soll die Leitfrage dieses Beitrages bestehen, die, wie ich meine, dazu anleiten kann, die Interpretation dieses Textes von einigen fast schon zu exegetischen Selbstverständlichkeiten gewordenen Vor-Urteilen zu emanzipieren. Inhaltlich kann ich mich dabei weitgehend auf schon erarbeitete Beobachtungen zu dem vielbehandelten Text beziehen, was allerdings die Ausführungen nicht wesentlich abkürzt, da es die spezifische, hier vorausgesetzte Auslegung zu begründen gilt. Zur leichteren und genaueren Verständigung über den Text setze ich – im Anschluss an Diebner13 – seine Aufgliederung in die Einzelsätze und deren Zählung voraus: | 3–4
23.1 2 3 24.1 2
auf die Quellenscheidung in diesem Fall dadurch erleichtert wurde, dass diese den oben skizzierten theologischen Anstoß belässt, insofern sie gerade nicht hinter eine israelitische Tradition zurückführen kann? Solches konnte nur eine entsprechende „vorquellenschriftliche“ Überlieferungsgeschichte leisten. 11 G. HENTSCHEL, Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23–33) – eine genuin israelitische Tradition?, in: W. ERNST (Hg.), Dienst der Vermittlung (FS Priesterseminar Erfurt), Leipzig 1977, 13–37; B. DIEBNER, Das Interesse der Überlieferung an Gen 32,23–33, DBAT 13 (1978) 14–52; E. OTTO, Jakob in Sichem (BWANT 110), Stuttgart 1979, 40–47. 12 Vgl. J. P EDERSEN, Israel. Its Life and Culture IV, London 1940, 716f. (Anm. 1 zu S. 505); H. EISING, Formgeschichtliche Untersuchung zur Jakobserzählung der Genesis, Emsdetten 1940, 118–137; P.A.H. DE BOER, Genesis XXXII 23–33. Some Remarks in Composition and Character of the Story, NThT 1 (1947) 149–163; J. SCHILDENBERGER, Jakobs nächtlicher Kampf mit dem Elohim am Jabbok (Gen 32,23–33), in: R.M. DIAZ (Hg.), Miscellanea Biblica Bonaventura Ubach, Montisserrati 1953, 69–96; DE PURY, Jakob am Jabbok (Anm. 10); vgl. unten Anm. 120. 12a Zu den Begriffen „Diachronie“ und „Synchronie“ siehe unten Abschnitt VII. 13 DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 20f. Nur in 30.5f. weiche ich von seiner Zählung ab. Diebner teilt hier weiter auf in 30.5–7.
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3 25.1 2 26.1 2 3 4 27.1 2 3 4 5 6 28.1 2 3 4 29.1 2 3 4 5 30.1 2 3 4 5 6 31.1 2 3 32.1 2 4–5 | 3 33.1 2
3
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II Ein immer wiederkehrendes Urteil betont, dass der Text unbestreitbar innere Spannungen, Unausgeglichenheiten, Risse u.Ä.m. aufweise.14 In der Tat kaum zu bestreiten scheint mir dies zunächst für die Ränder unseres Textes. Sein Anfang enthält eine deutliche Dublette,15 insofern V. 24 noch einmal von dem Übergang über den Fluss berichtet, obwohl dies schon in V. 23 geschehen ist. Insbesondere 24.1 ( ) nimmt 23.2 (… ) wieder auf. Als überlieferungsgeschichtliche Lösung dieses Befundes sind allerdings verschiedene Möglichkeiten denkbar. So vermutet Noth,16 dass 23.3 ein „unsachgemäßer Zusatz“ und 24.1 als „Wiederaufnahme“ zu interpretieren sei. Hermisson fragt jedoch zu Recht nach der Motivation für einen solchen Zusatz und verweist auf den sachlichen Zusammenhang des Namens „Jabbok“ (23.3) mit der Substanz der Erzählung.17 Er betrachtet deshalb 23.1f. und 24.1f. als Erweiterungen, welche der Verklammerung mit dem Kontext dienten.18 Allerdings ist damit kaum die Wiederaufnahme in 24.1 zu erklären. So spricht einiges für die Überlegung Eisings19, der 24.1– 25.1 für einen Zusatz hält, welcher sicherstellen will, dass Jakob zum Zeitpunkt des Überfalls allein war.20 Im Übrigen dürfte es schon genügen, 24.1–3 als eine Erweiterung zu betrachten, die 25.1 dahingehend näher interpretiert, dass Jakob beim Überfall von seiner Familie durch den Fluss getrennt war. 5 Am Schluss der Erzählung wird allgemein V. 33 als Zusatz betrachtet21 – wohl zu Recht. Diese ätiologische Notiz ist an den eigentlichen Schluss der Erzählung deutlich angehängt und überschreitet deren Horizont in einer
14 Vgl. z.B. G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2–4), Göttingen 19729, 259.263; HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 243; HENTSCHEL, Kampf (Anm. 11), 20ff.; DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 25f. 15 Anders P. VOLZ, Der Elohist als Erzähler. Ein Irrweg der Pentateuchkritik? Gießen 1933, 117, für den V. 23b „zuerst summarisch die allgemeine Tatsache, V. 24 die nähere Ausführung“ bringt. Doch vermag ich gerade nicht zu sehen, inwiefern V. 23b allgemeiner und V. 24 „näher“ ausgeführt sein soll. 16 M. NOTH, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948, 31, Anm. 98. 17 HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 241, Anm. 8. 18 HERMISSON, a.a.O., 241. 19 EISING, Jakobserzählung (Anm. 12), 133f. 20 So auch DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 35; auch HENTSCHEL sieht in 24.1–25.1 eine „Glossierung“, allerdings mit einer anderen Argumentation: Die Sätze sollten zwischen 23 und 32.2 ausgleichen, da 32.2 als Durchschreiten des Jabbok verstanden worden sei (Kampf [Anm. 11], 35f.). Freilich ist diese Deutung von V. 32 alles andere als zwingend (vgl. schon HENTSCHEL selbst, ebd., Anm. 100). 21 Anders DE P URY, Jakob am Jabbok (Anm. 10), 31.
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Weise, wie sie für den engeren Kontext nicht zu belegen ist.22 Jedenfalls wird dieser Vers kaum die Interpretation der eigentlichen Erzählsubstanz beeinflussen.23 |5–6 Doch nicht nur für die Ränder der Erzählung, sondern auch für ihre Substanz ist auf verschiedene überlieferungsgeschichtlich relevante Indizien verwiesen worden. Diebner hat als Ausgangspunkt seiner Analyse eine sorgfältige Auflistung solcher Textbeobachtungen zusammengestellt.24 Ich werde mich allerdings in diesem Rahmen auf die Diskussion einiger weniger Aspekte beschränken, die mir sachlich (und forschungsgeschichtlich) wesentlich erscheinen. So ist schon immer darauf hingewiesen worden, dass mit dem Gotteskampf am Jabbok (abgesehen von 33) zwei explizite Ätiologien verknüpft sind: die Umbenennung Jakobs in „Israel“ (28f.) und der Ortsname „Pnuel“ (31). Nicht selten hält man schon diese Beobachtung für ein deutliches Indiz für diachrone Schichtung,25 ein Urteil, das v.a. auf der ebenso verbreiteten wie methodisch unausgewiesenen Prämisse der ursprünglich „einfachen“ Erzähleinheiten beruhen dürfte. Ganz abgesehen von der grundsätzlichen Problematik einer solchen Voraussetzung hat jedenfalls die Diskussion zu den Ätiologien26 gezeigt, dass die unterschiedlichen Funktionen ätiologischer Elemente in Texteinheiten sorgfältig zu differenzieren sind. Wenn damit aber die Ätiologien keineswegs selbstverständlich mit dem Skopus der Erzählung zusammenfallen, wird auch ihr mehrfaches Vorkommen innerhalb eines Textes nicht unbedingt erstaunen. Erst recht ergibt sich eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten, wenn der betreffende Textabschnitt auf einen größeren Kontext hin angelegt und damit fast notwendig in eine Vielzahl von Sinnzusammenhängen einbezogen ist – eine Möglichkeit, die auch für unseren Text nicht a limine ausgeschlossen werden sollte. 22 HENTSCHEL, Kampf (Anm. 11), 19, rechnet mit „zwei aufeinander folgenden Glossierungen“, da 33.3 deutlich nachhinke und gegenüber 32.3; 33.1 eine andere Begründung gebe. DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 40, hält darüber hinaus den Relativsatz 33.2 für einen weiteren Zusatz. 23 Dies gilt auch dann, wenn, wie S. GEVIRTZ, Of Patriarchs and Puns: Joseph at the Fountain, Jacob at the Ford, HUCA 46 (1975) 33–54, vermutet, in " eine Anspielung auf die Namen der Stämme Gad und Manasse gehört werden sollte. Anders als GEVIRTZ (a.a.O., 53) vermag ich nicht zu sehen, wie darin eine territorial-politische Aussage des Autors zum Ausdruck kommen könnte. 24 DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 25f. 25 Vgl. z.B. A. JEPSEN, Zur Überlieferungsgeschichte der Vätergestalten, WZ Leipzig 3 (1953/54) 139–155, darin 147; HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 243. 26 Vgl. bes. I.L. SEELIGMANN, Aetiological Elements in Biblical Historiography, Zion 26 (1961) 141–169 (hebr.), und C. WESTERMANN, Arten der Erzählung in der Genesis, in: DERS., Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien (ThB 24), München 1964, 9–91 (= DERS., Die Verheißungen an die Erzväter. Studien zur Vätergeschichte [FRLANT 116], Göttingen 1976, 9–91, darin 39–47).
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Über die genannte allgemeine Überlegung hinaus wird die Ausscheidung des/r vermuteten „sekundären“ ätiologischen Elemente/s aber auch im Einzelnen begründet. 6–7 Als besonders deutliche Erweiterung gilt gemeinhin27 die Umbenennung Jakobs und die Erklärung des Namens „Israel“ in V. 28f. In der Tat fügt sich V. 30 lückenlos an V. 2728, und der verbleibende Text ergäbe immer noch eine gehaltvolle Erzählung. Aber, um eine Bemerkung Noths29 abzuwandeln, eine überlieferungsgeschicht|liche Möglichkeit ist noch keine überlieferungsgeschichtliche Notwendigkeit. Gibt es „positive“ Argumente für einen sekundären Charakter von V. 28? Zirkulär auf ein Vorurteil bezogen ist die Begründung, dass die ursprüngliche Erzählung noch vorisraelitisch bzw. noch nicht gesamtisraelitisch gewesen sei.30 Wenig überzeugend ist aber auch die Argumentation bei Hentschel31 und Diebner32, welche sich darauf berufen, dass trotz der Umbenennung in der Fortsetzung des Textes und im weiteren Kontext nicht „Israel“, sondern „Jakob“ verwendet werde. Zunächst ist diese Begründung bei Diebner besonders inkonsequent, da er im Fortgang seiner Analyse die beiden Verse einer recht frühen, kontextunabhängigen (!) Überlieferungsstufe zuschreibt.33 Welchen Sinn hat es dann, mit dem Kontext zu argumentieren? Aber auch für sich genommen ist das Argument nicht schlüssig. Es wäre ja nun erst zu erklären, warum denn nicht einmal in der Pnuel-Szene selbst (V. 30ff.) (geschweige denn im engeren Kontext Gen 33,1ff.) der Name angeglichen wurde, sei es durch den, der V. 28f. eingefügt haben soll (Hentschel), oder diejenigen, die 30.1–5 und den Schluss der Erzählung gestaltet haben sollen (Diebner)34. Die Beobachtung, dass da, wo es um den Erzvater
27 Sogar VOLZ, Elohist (Anm. 15), 118f., erwägt hier einen „späteren Eintrag“, allerdings bezogen auf V. 28–30a. 28 Gegen DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 28f., der zunächst ohne zwingende Gründe auch 30.1f. als Zusatz ausscheidet und danach feststellen muss, dass der Anschluss von 30.3ff. an 27.6 „schwerfällig“ „wirkt“. 29 M. NOTH, Könige 1 (BK IX/1), Neukirchen-Vluyn 1968, 246. 30 So z.B. HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 243. Das zweite Argument HERMISSONS, 28f. sei ein „retardierendes Element zwischen der Forderung und der Erteilung des Segens“ (Jakobs Kampf [Anm. 6], 244), setzt zum einen ungeprüft die erzählerische Priorität des Segens voraus und wird sich zum anderen als unpräzise Beschreibung herausstellen. Die Behauptung (ebd.), V. 28 „konkurriere“ mit 30.1–5, ist mir unverständlich. 31 HENTSCHEL, Kampf (Anm. 11), 26ff. 32 DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 28.32f. 33 DIEBNER, a.a.O., 40. 34 Umso weniger überzeugend erscheint mir DIEBNERs Verweis (Interesse [Anm. 11], 32) auf die wenigen Vorkommen von „Israel“ als Personenname in Gen 35–50. Warum sollte man gerade diese Texte „ein wenig“ „bearbeiten“, aber nicht den eigentlichen Kontext? Sein Hinweis schließlich (a.a.O., 33), „Israel“ dürfte nach Meinung der Erzähler so
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Die Komplexität der Überlieferung
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Jakob geht, allermeist „Jakob“ und nicht „Israel“ benutzt wird, obwohl Jakobs Identität mit Israel überall selbstverständlich vorausgesetzt wird, führt doch auf eine andere Erzählerintention, die in einem wichtigen Aspekt hier schon angedeutet sei: In 32,28f. geht es nicht um eine vordergründige Namensänderung analog zu der in Gen 17,5 („Abram“ – „Abraham“), sondern u.a. um eine Ätiologie der Tatsache, dass (das Volk) Israel sich „Israel“ nennen kann.35 Die Geschichte Jakobs ist hier in besonderer Weise transparent für die in ihr zugleich gegebene Volksgeschichte. Der bevorzugten Verwendung von „Jakob“ in der Vätergeschichte entspricht komplementär der bevorzugte Gebrauch von „Israel“ für das Volk in anderen Zusammenhängen.36 Eine direkte Parallele ist der Gebrauch von „Esau“/„Edom“ in den Vätergeschichten einerseits und prophetischen/poetischen Texten andererseits. 7–8 Voreilig scheint mir auch das Urteil, „… hier wurde recht willkürlich eine Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, den Namen ‚Israel‘ zu erklären …“37 Welcher Zusammenhang ist enger | als der zwischen der Haupthandlung in Gen 32,23ff. und der Volksetymologie von „Israel“? Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass in 25.2 die Wurzel verwendet wird (und nicht ). Einerseits hat Zakovitch gezeigt,38 dass die Verwendung synonymer und bedeutungsverwandter Lexeme für die etymologische Anspielung auf Namen keineswegs außergewöhnlich ist.39 Andererseits wäre auch zu diskutieren, ob nicht umgekehrt der Gebrauch von überlieferungsgeschichtlich „sekundär“ sein könnte (etwa um den Bezug zu „Jabbok“ zu gewinnen40). Insgesamt bleibt somit kein Argument, das den Zusatzcharakter der Umbenennung Jakobs schlüssig begründen könnte.41 Allerdings wurde ein wesentlicher Aspekt bislang noch nicht erörtert: 29.5 macht eine Aussage über den Ausgang des Kampfes, deren Verhältnis zu den anderen Erzählungszügen noch zu diskutieren sein wird. etwas wie ein „ehrenvoller Zusatzname“ gewesen sein, hebt m.E. überhaupt den vorausgehenden Argumentationszusammenhang auf. 35 Ähnlich wohl DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 33. 36 Zu „Jakob“ als Bezeichnung des Volkes vgl. DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 50, Anm. 23. 37 DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 32, vgl. auch 33. 38 ,\ $ ' / Y. ZAKOVITCH (M.A.-Arbeit, masch.schriftlich, Jerusalem 1971), bes. 30f. 39 Beispiele bei ZAKOVITCH, ebd.: Jes 48,8 ( – ); Gen 49,13 ( $ – ); 38,5 ( – $); Dtn 33,24 ( – ); Jos 8,28 ( – ). 40 Vgl. unten bei Anm. 142. 41 Weitere Argumente zur erzählerischen Desintegration von V. 28f. in der PnuelSzene bei HENTSCHEL (Kampf [Anm. 11], 27f.) beruhen auf einer Auslegung aus einer verengten Fragestellung; vgl. dagegen unten Abschnitt IV.
[8–9]
Die Komplexität der Überlieferung
51
Die zweite explizite Namensätiologie („Pnuel“) in 31 ist zwar vielfach zum Kernbestand der Überlieferung gerechnet worden,42 aber v.a. in neueren Arbeiten wird dies bestritten.43 Das wichtigste Argument sehe ich in der Beobachtung, dass in der Aussage 31.2 kein spezifischer Bezug auf das für den Text eigentümliche Thema, den Kampf Jakobs mit Gott, gegeben ist; sie könnte ebenso gut eine „gewöhnliche“ Theophanie abschließen (vgl. Ri 6,22!).44 Damit ist dieser Vers freilich noch nicht als Zutat erwiesen. Auch hat schon Hermisson45 darauf hingewiesen, dass „Pnuel“ indirekt, über den sachlichen Zusammenhang mit dem Fluss Jabbok, dessen Name in 25.2 anklingt, doch stärker in den erzählerischen Zusammenhang eingebunden ist. Mit diesen Beobachtungen soll die Frage nach V. 31 hier für die weitere Diskussion offengehalten werden. Das Problem innertextlicher Spannungen bzw. Widersprüche wird gewöhnlich in Bezug auf 26.3f. und den inhaltlich damit zusammenhängenden Satz 32.3 diskutiert. Eine Spannung sieht man zunächst zwischen 26.3f. und V. 27. Während sich nach 26.3f. infolge einer (zauberischen) Berührung des „Mannes“ die Hüfte Jakobs ausrenkt,46 bittet der Unbekannte nach V. 27 Jakob, ihn loszulassen/zu entlassen. Liegt hier ein Widerspruch vor? Offenkundig | nur, wenn man von dem Postulat eines eindeutigen Siegers bzw. Unterlegenen ausgeht. Gerade dessen Adäquatheit wäre allerdings erst zu zeigen. 8–9 Deutlich ist immerhin der „Widerspruch“ zwischen 26.3f. und 29.5, da Jakob in 29.5 explizit der Sieg zugesprochen scheint ( ). Als überlieferungsgeschichtliche Lösung bietet sich an, entweder V. 28f. oder 26.3f. mit 32.3 als nachträgliche Erweiterung zu deuten. Ein Grund für die Einfügung von 26.3f. könnte etwa der Versuch sein, den Sieg Jakobs über Gott abzuschwächen und damit den theologischen Anstoß zu mildern.47 Sollte dies 42 Vgl. z.B. VON RAD, Genesis (Anm. 14), 262; K. ELLIGER, Der Jakobskampf am Jabbok. Gen 32,23ff. als hermeneutisches Problem, in: DERS., Kleine Schriften zum Alten Testament (ThB 32), München 1966, 141–173 (= ZThK 48 [1951] 1–31), darin 151. 43 Vgl. HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 244.249f.; DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 35ff.; HENTSCHEL, Kampf (Anm. 11), 31ff., vertritt eine besondere Variante, insofern nach ihm die Erzählung schon immer bei Pnuel am Jabbok spielte, jedoch ohne die Ätiologie von V. 31. 44 HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 244; HENTSCHEL, Kampf (Anm. 11), 28ff. 45 HERMISSON, a.a.O., 244f. 46 Weder besteht ein Widerspruch (vgl. u.a. H. GUNKEL, Genesis [HK I/1], Göttingen 19103, 359) zwischen 26.3 und 26.4 (die scheinbar umständliche Formulierung ist bedeutungsvoll, dazu u. Anm. 112), noch gibt es Anlass, als Subjekt von 26.3 „Jakob“ zu postulieren (so z.B. E. MEYER, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen, Halle 1906, 57; GUNKEL, Genesis, 361; weitere Literatur bei HENTSCHEL, Kampf [Anm. 11], 22, Anm. 46): Solche Überlegungen sind unauflösbar zirkulär. 47 So etwa DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 33f; OTTO, Jakob (Anm. 11), 47.
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die Absicht sein, wäre sie allerdings nur halbherzig durchgeführt. Versteht man nämlich 29.5 im angedeuteten Sinn, läuft der Text insgesamt immer noch eindeutig auf eine Überwindung Gottes durch Jakob hinaus. Wäre es da nicht einfacher gewesen, die für die Israel-Ätiologie nicht unbedingt erforderliche48 Aussage 29.5 wegzulassen? Dies macht deutlich: Interpretiert man diesen Text unter der einfachen alternativen Fragestellung, wer Sieger des Ringkampfs geblieben ist, Gott oder Jakob, muss die Erzählung so oder so als Flickwerk erscheinen.49 Deshalb soll in der Strukturanalyse des Textes (Abschnitt IV) auch dieser Aspekt aufgegriffen und die Möglichkeit einer von vornherein differenzierenden Gesamtdeutung erwogen werden. Diese Skizze ernstzunehmender Ansatzpunkte für eine überlieferungsgeschichtliche Analyse mag als vorläufige Bestandsaufnahme genügen. Die folgende Textauslegung wird u.a. auch an ihrer Erklärungskraft für die dabei teilweise noch offen gebliebenen Fragen zu messen sein.
III Ohne an die bisherigen diachronen Überlegungen sogleich anzuknüpfen, soll eine weitere Bestandsaufnahme die Auslegung weiterführen, und zwar, was zunächst als ein Umweg erscheinen könnte, eine Zusammenstellung synchroner Bezüge zwischen unserem Textabschnitt und seinem Kontext. Dabei geht es ausschließlich um die auch sprachlich ausweisbare Aufnahme konkreter Einzel|elemente im Kontext und umgekehrt. 9–10 1. Spätestens seit Gunkel ist immer wieder beobachtet worden, dass das Wort nicht nur in 31.1f. („Pnuel“) eine Rolle spielt, sondern in der Weise eines Leitwortes den engeren Kontext prägt. So ist es nicht mehr als Zufall zu verstehen, wenn es unmittelbar vor der Pnuel-Szene, innerhalb zweier Verse (32,21f.), in verschiedenen Variationen fünfmal belegt ist.50 Noch deutlicher ist die Aufnahme in Gen 33,10:51
48
Anders DIEBNER, a.a.O., 34. Auch auf 31.3 ist in diesem Zusammenhang zu verweisen, insofern diese Aussage nun wieder schlecht mit einem Sieg Jakobs zu vereinbaren scheint, ebenso wie die Verweigerung des Namens des Gottheit (30.1–5). 50 Vgl. GUNKEL, Genesis (Anm. 46), 356; F. ROSENZWEIG, Das Formgeheimnis der biblischen Erzählungen, in: M. BUBER / F. ROSENZWEIG, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, 239–261, darin 253; N. SCHMIDT, The Numen of Pnuel, JBL 45 (1926) 260–279, darin 273; VON RAD, Genesis (Anm. 14), 258; E.A. SPEISER, Genesis (AB 1), Garden City 1964, 256, u.a. 51 Vgl. H. HOLZINGER, Genesis (KHC 1), Tübingen 1898, 211; GUNKEL, Genesis (Anm. 46), 356; SCHMIDT, Numen (Anm. 50), 273; ROSENZWEIG, Formgeheimnis (Anm. 49
[10]
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… Dieser explizite Rückverweis parallelisiert in einer durchaus gewagten, kultische Terminologie assoziierenden Sprache52 die beiden Begegnungen (Stichwort !), zunächst mit Gott, hernach mit Esau, und erhellt damit – über das Wortspiel hinaus – den engen inneren Zusammenhang zwischen Pnuel- und Esauszene. Dabei ist die szenische Abfolge zu bedenken. Vorbereitet war Jakob auf eine kämpferische Auseinandersetzung mit Esau (32,4ff.). Doch es kommt anders. Den Kampf muss Jakob in einem nächtlichen Ringen mit Gott austragen.53 Nachdem er dies glücklich bestanden hat, begegnet ihm Esau am Morgen – friedfertig. Procksch hat mit Recht auf die Strukturparallele zwischen 31.2f. und 33,10b aufmerksam gemacht:54 10
31.2 33,10
Die Parallelisierung der Imperf. cons. stellt unübersehbar den gleichermaßen glücklichen Ausgang der in vieler Hinsicht so gegensätzlichen55 Begegnungen heraus.56 Im Folgenden wird sich erweisen (vgl. u. 4.), dass der Zusammenhang zwischen beiden Szenen noch weiter in die inhaltliche Substanz hineinreicht, doch ging es uns hier zunächst um die mit dem Leitwort indizierten Bezüge. Es liegt auf der Hand, dass sich schon aus den Beobachtungen zu diesem einen Leitbegriff unmittelbar Konsequenzen für das diachrone Verhältnis von Pnuel-Szene und Kontext ergeben: Entweder ist der Textabschnitt von vornherein als eine Szene in diesem Kon-
50), 253; O. PROCKSCH, Die Genesis (KAT 1), Leipzig 19242/3, 198; VON RAD, Genesis (Anm. 14), 266, u.a. 52 Vgl. JACOB, Genesis (Anm. 1), 646f. Zu als kulttechnischem Ausdruck vgl. R. RENDTORFF, Studien zur Geschichte des Opfers im Alten Israel (WMANT 24), Neukirchen-Vluyn 1967, 253ff. 53 Vgl. dazu VON RAD, Genesis (Anm. 14), 259. 54 PROCKSCH, Genesis (Anm. 51), 198. 55 Dies ist darstellbar in einfachen Gegensatzpaaren: unerwarteter Überfall – erwartete Begegnung; Kampf – Begrüßung; Gott – Mensch; Nacht – Tageslicht; Jakob (allein) – Jakob mit seiner Familie. Eigentlich wäre auch eine dritte Begegnung zu bedenken: mit den „mal’ake elohim“ in 32,2f. ( " !), die damit gleichsam als Vorboten des künftigen Geschehens erscheinen. Vgl. dazu J.P. FOKKELMAN, Narrative Art in Genesis. Specimens of Stylistic and Structural Analysis (SSN 17), Assen 1975, 197ff.; freilich neigt Fokkelman dazu, die Interpretation der Strukturbezüge zu überziehen (so mit Recht C. HOUTMAN, Jacob at Mahanaim. Some Remarks in Genesis XXXII 2–3, VT 28 [1978] 37–44, darin 42f.). 56 Gen 33,10b ist im Übrigen strukturell auch dadurch herausgehoben, dass es, wie FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 226, schön gezeigt hat, in der Mitte des streng konzentrisch angeordneten Dialogs 33,9–11a zu stehen kommt.
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text gestaltet worden, oder der Kontext ist auf diese (ursprünglich selbstständige?) Szene hin entworfen worden.57 | 10–11 2. Gunkel58 hat auf ein weiteres Leitwort aufmerksam gemacht: . Es „durchzieht“ den ganzen Kontext (32,4.17.22.23.24.32; 33,3.14) und ist in der Pnuel-Episode konstitutives Element des szenischen Rahmens.59 3. Das zeitliche Gerüst der Pnuel-Szene60 erweist sich als Teil der zeitlichen Gliederung des Kontextes, auf die v.a. Eising61 hingewiesen hat. Nach dem Aufriss in Gen 32f. begegnet Jakob seinem Bruder am dritten Tag nach seiner Trennung von Laban. Erzählerisch dargestellt wird dies durch die Markierung – der Nächte: 31,54b: 32,1: 32,14: 32,22: 32,32:
1. Nacht Morgen (Abschied von Laban: Begegnung mit dem „Gotteslager“) 2. Nacht 3. Nacht (Pnuel) Morgen (nach bestandenem Kampf, Begegnung mit Esau)
4. Der wohl hintergründigste Zusammenhang mit dem Kontext ergibt sich über das Thema Segen, das in den Jakob-Esau-Erzählungen unbestreitbar so etwas wie ein Leitthema darstellt. Was bedeutet es nun für den Hörer/Leser des Gesamtzusammenhangs, wenn Jakob in der Pnuel-Szene – unmittelbar vor dem Zusammentreffen mit Esau – an entscheidender Stelle den Segen fordert (27.5f.), der ihm schließlich auch gewährt wird (30.6)? Schon Raschi paraphrasiert Jakobs Verlangen in 27.6 mit einem Rückbezug auf Kap. 27:62
In neuerer Zeit formuliert Elliger63 ganz ähnlich im Blick auf 30.6: „Das bedeutet im großen Zusammenhang, dass er [sc. Gott] den erschlichenen Segen Isaaks legitimiert …“ Unübersehbar ist in der Tat der antithetische Zusammenhang mit Gen 27: dort der Segen mit Betrug ( ) erschlichen, hier im wörtlichen Sinn „errungen“; dort der Segen des Vaters, hier Gottes selbst. Wie noch auszuführen sein wird, dient wohl auch die Umbe57 Auszuschließen ist damit etwa die These DIEBNER s (Interesse [Anm. 11], 41), „Pnuel“ sei erst nach der Einfügung des Einzeltextes in den Kontext hinzugefügt worden. 58 GUNKEL, Genesis (Anm. 46), 356. 59 Vgl. unten Abschnitt IV. 60 Nacht (23.1) – Morgenröte (25.2; 27.3) – Sonne (32.1). 61 EISING, Jakobserzählungen (Anm. 12), 143ff. 62 „Bestätige mir die Segenssprüche, mit denen mich mein Vater gesegnet hat und die Esau anficht.“ 63 ELLIGER, Jakobskampf (Anm. 42), 168; zustimmend VON RAD, Genesis (Anm. 14), 262.
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nennung Jakobs (aus „Jakob“ wird „Israel“) u.a. der erzählerischen Durchführung dieses Themas, die auf die Schaffung eines neuen Sachverhalts vor der Konfrontation mit Esau zielt: „Der erfochtene Segen deckt den erschlichenen zu.“64 | 11–12 Die Intentionalität eines solchen Sinnzusammenhangs wird schließlich in der szenischen und sprachlichen Gestaltung der Begegnung der beiden Brüder (33,1ff.) bestätigt. Hervorgehoben durch kleinteilige Darstellung und Wiederholungen ist sie wesentlich durch die Selbstunterwerfung Jakobs unter Esau bestimmt ( : 33,3.6.7: bzw. im Mund Jakobs: 33,5.8.14.15). Dies gewinnt erst seinen präzisen Sinn, wenn man beachtet, dass damit zweifelsohne nach Inhalt und Sprache der Segensspruch aus 27,29: "
aufgenommen wird,65 allerdings in aufregender Umkehrung, indem „sich der Gesegnete vor dem Ungesegneten niederwirft“.66 So verlockend es wäre, die Bedeutung dieser Bezüge im Einzelnen nachzuzeichnen,67 will ich mich hier doch auf einen grundlegenden Aspekt beschränken, der über die Hinweise unter Punkt 1. hinaus die strukturelle Entsprechung und Kontrastierung der Szenen in 32,23ff. und 33,1ff. verdeutlicht: Im Gefälle der Jakob-Esau-Erzählungen bedeutet der brüderliche Empfang durch Esau, dass Jakob nun am Ende seines Weges auch von dem Bruder – und damit endgültig – der Segen Isaaks bestätigt wird. Paradoxerweise gewinnt er den Segen dieses letzte Mal dadurch, dass er – der Gotteskämpfer! – den im Segensspruch für den Bruder vorgesehenen Part auf sich nimmt und sich unterwirft“.68 Am Ende der Begegnungsszene (33,16. 17) allerdings wird wieder deutlich, wer der Gesegnete ist und bleibt: Esau/Edom kehrt zurück nach Seïr, Jakob/Israel aber bleibt in Kanaan (vgl. 27,28.39). 64
M. BUBER, Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuchs, in: BUBER/ROSENdarin 226. 12), 156; FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 223. 66 W ESTERMANN , Arten der Erzählung (Anm. 26), 81. 67 Vgl. dazu auch FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 223ff., dessen anregende Auslegung allerdings streckenweise zu einer Art produktiver Nachdichtung gerät, die dann am Text selbst nicht mehr auszuweisen ist, etwa wenn er den vorliegenden Erzählungszusammenhang durch Ausführungen über das Innenleben der Helden auffüllt. 68 Verschiedentlich wird auch in 33,11: ^ eine Anspielung auf diesen Zusammenhang gesehen, vgl. BUBER, Leitwortstil (Anm. 64), 226; EISING, Jakobserzählung (Anm. 12), 156 mit Anm. 72; FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 227. Die Ausdrucksweise für sich genommen ist freilich nicht ungewöhnlich, vgl. 2 Kön 5,15b. ZWEIG, Verdeutschung (Anm. 50), 211–238, 65 Vgl. EISING, Jakobserzählung (Anm.
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Dieser Erzählungsschluss lässt damit eine von mir bislang eher unterschlagene Bedeutungsdimension der Jakoberzählungen hervortreten: die völkergeschichtliche Bedeutung als Geschichte der Anfänge Israels, die nicht neben der Geschichte der betreffenden Einzelpersonen steht, sondern mit ihr identisch ist. Dementsprechend erzählt auch die Pnuel-Szene „Volksgeschichte“, allerdings nicht in dem allegorisierenden Sinn, dass Israel hier „fast prophetisch seine ganze Geschichte mit Gott als einen solchen Kampf bis zum Anbruch der Morgenröte dargestellt“69 hätte, sondern als einmaliges Geschehen in der Frühgeschichte Israels=Jakobs, das allerdings – über das Kontinuum der Ge|schichte hinaus – in einigen Aspekten ätiologisch auf die Gegenwart der Hörer bezogen ist. Dazu gehört neben dem seinem Inhalt nach (vgl. 27,27–29) eindeutig auf Land und Volk bezogenen Segen70 und der Ätiologie für „Pnuel“ vor allem auch die Ätiologie des Israel-Namens. 12–13 5. Auch die Feststellung, dass die Umbenennung Jakobs nach der Intention des Erzählers nicht zuletzt auf die Geschichte Israels als Volksgeschichte zielt, lässt sich, falls sie überhaupt eines Nachweises bedarf, mit dem Kontext belegen. Wie anders wäre es zu erklären, dass just in der Überleitung zur Pnuel-Szene (23.2) die Frauen, die Sklavinnen und „seine elf Kinder“71 eigens aufgeführt und darüber hinaus in 33,1ff. je für sich „in Szene gesetzt“ werden? Ohne jeden Zweifel sind für den Erzähler Jakob und seine Söhne Israel im vollen Sinn des Wortes. Nicht erklärt ist damit freilich die Differenzierung zwischen den Frauen und ihren Söhnen in 33,1ff., die offenbar auf eine Sonderstellung Josephs und Rahels hinzielt und damit ein spezifischeres Interesse des Erzählers verrät.72 Wie schon angedeutet, ist zu erwägen, ob nicht der Umbenennung auch eine spezifische erzählungsimmanente Bedeutung zukommt. Immerhin liegt es nahe, dass in dem so deutlich auf Gen 27 bezogenen Kontext auch der Name „Jakob“ die ihm in 27,36 ( $ ) beigelegte Bedeutung evozieren soll. In diesem Sinn interpretiert Raschi:73 "
69
VON RAD, Genesis (Anm. 14), 264. Vgl. auch F. VAN TRIGT, La signification de la lutte de Jacob près du Yabboq, Genèse XXXII 23–33, Oudtestamentische Studien 12, Leiden 1958, 280–309, darin 305f. 71 „Elf“, weil Benjamin entsprechend Gen 29,31–30,24 feh1t. Die vielverhandelte Frage, warum dem so ist, soll hier auf sich beruhen. 72 Vgl. unten bei Anm. 143. 73 „Nicht mehr werde gesagt, dass dir die Segenssprüche durch Schläue und Betrug zuteil wurden, sondern in Überlegenheit und Offenheit.“ Gelungen formuliert Raschi diese Paraphrase mit wichtigen Leitwörtern der Jakob-Esau-Überlieferung: , ,
, (nach Hos 12,5), . 70
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und ähnlich nicht wenige neuere Ausleger.74 Auf jeden Fall ist nicht zu bestreiten, dass eine entsprechende Deutung des Wandels von „Jakob“=„Betrüger“ zu „Israel“=„Gotteskämpfer“ sich nahtlos in das erzählerische Gefälle von Gen 32f. und deren antithetische Aufnahme von Gen 27 einfügt. In der vorstehenden „Bestandsaufnahme“ habe ich es bewusst vermieden, nach dem Vorgang von von Rad, Elliger, Stoebe u.a. vom Kontext des sogenannten „Jahwisten“ auszugehen. Dies ist zuallererst darin begründet, dass mir die Erklärungsadäquatheit der Urkundenhypothese insgesamt mehr als fraglich erscheint. Auf keinen Fall aber wird man bei dem gegenwärtigen Forschungsstand75 ihre spezifischen Kontextabgrenzungen prämissenartig voraussetzen können, wie es nicht selten gehandhabt wird. In dem hier diskutierten Textbereich teile ich insbesondere nicht die übliche überlieferungsgeschichtliche Einordnung des Gebets in | 32,10–13, das gemeinhin für eine genuine Schöpfung des Jahwisten gehalten wurde/wird und als wesentlicher Bezugspunkt für die Interpretation der Pnuel-Szene diente.76 M.E. sind demgegenüber diese Verse zusammen mit 28,15 und 31,3 nach Inhalt, Phraseologie und Einzelzügen (z.B. Nennung des Jordan in 32,11) einer dtr Bearbeitungsschicht in der Jakobgeschichte zuzurechnen,77 gehören mithin auch nicht zum primären Kontext unserer Szene. 13–14 Auch einmal abgesehen von diesem spezifischen, im Rahmen dieser Arbeit nicht ausweisbaren Urteil, sprechen die obigen Ausführungen eher gegen die Voraussetzung eines dem „Jahwisten“ entsprechenden Zusammenhangs. Sie belegen eine deutlich umrissene Bedeutung von 32,23ff. und Kap. 32f. insgesamt im Kontext der Jakob-Esau-LabanGeschichte. Die Einbeziehung eines weiter gefassten Kontextes wird durch nichts nahegelegt und würde lediglich die konkrete Deutung zugunsten allgemein gehaltener Zusammenhänge verdrängen. So zielen 32,23ff. und 33,1ff. nachweislich auf den Segen in Kap. 27. Hierbei handelt es sich um eine spezifische Thematik der Jakob-Esau-Geschichte, die nicht ohne weiteres mit übergreifenden Verheißungsstücken gleichgeschaltet werden darf, weder in ihrem inhaltlichen Profil noch in ihrer überlieferungsgeschichtlichen Zuordnung. Von daher erklären sich etwa auch die inhaltlichen und sprachlichen Unterschiede zu der Verheißungsrede in 28,13b.14, die eben nicht primär mit 27,27ff. zusammenzusehen ist, sondern mit 13,14ff.78 Auch der Hinweis auf die Vorkommen von in 12,2 und 26,379 führen auf keinen stringenten Zusammenhang, wie ein Blick auf die mit
74 A. DILLMANN, Die Genesis (KEH 11), Leipzig 18926, 364 (seine Interpretation, der Kampf sei „der Schluß seiner [= Jakobs] Läuterungen“ [ebd.], trägt freilich eine den Texten fremde Kategorie ein); JACOB, Genesis (Anm. 1), 642f; BUBER, Leitwortstil (Anm. 64), 225f; ELLIGER, Jakobskampf (Anm. 42), 169f; VON RAD, Genesis (Anm. 14), 261; FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 215f., u.a.m. 75 Vgl. E. OTTO, Stehen wir vor einem Umbruch in der Pentateuchkritik?, VuF 22 (1977) 82–97; B. DIEBNER, Neue Ansätze in der Pentateuch-Forschung, DBAT 13 (1978) 2–13. 76 Vgl. ELLIGER, Jakobskampf (Anm. 42); VON RAD, Genesis (Anm. 14); W. DOMMERSHAUSEN, Israel: Gott kämpft. Ein neuer Deutungsversuch zu Gen 32,23–22, TThZ 78 (1969) 321–334. 77 Eine eingehende Analyse dieser Texte werde ich in anderem Zusammenhang vorlegen (vgl. unten Anm. 143). 78 Vgl. RENDTORFF, Problem (Anm. 9), 54.63. 79 DOMMERSHAUSEN, Israel (Anm. 76), 331.
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ihnen verbundenen Verheißungselemente lehrt, die ihrerseits in der Jakob-Esau-LabanGeschichte teilweise ganz fehlen.80 81
Was bedeutet nun der Nachweis der engen Verflechtung von 32,23ff. mit dem Kontext der Jakob-Esau-Laban-Erzählungen für die Überlieferungsgeschichte dieses Abschnitts? Die verbreitete Annahme, dass eine weithin ausgestaltete Pnuel-Überlieferung in einen ebenfalls vorgegebenen Kontext eingefügt wurde, war schon in Abschnitt 1. aufgrund des Textbefundes auszuschließen. Darüber hinaus aber stellt diese synchrone Textbeschreibung das übliche Konzept einer eigenständigen überlieferungsgeschichtlichen Entwicklung des Textabschnitts vor einige Probleme: Wenn vielfältige Züge der Einzelszene mit der erzählerischen Substanz des engeren und des weiteren Kontexts verflochten sind, ergibt sich von selbst die Frage, wie die zahlreichen Anschlussmöglichkeiten eines weitgespannten, in sich ruhenden Kontextes an eine individuelle Einzelüberlieferung vorzustellen sein sollen. Eine weitgehende kontextunabhängige „Eigenentwicklung“ des Pnuel-Textes scheint mir von daher einigermaßen unwahrscheinlich, es sei denn, man macht das Rechnen mit Zufällen zum methodischen Prin|zip. Besonders in Frage zu stellen scheinen mir unter diesem Gesichtspunkt neuere Analysen, welche die thematischen Züge der Erzählung in diachroner Perspektive wie Perlen auf einer Schnur hintereinander reihen möchten.82 14–15 80 Vgl. die Verheißung, zu einem großen Volk zu werden (12,2), und die Landverheißung in der Formulierung von 26,3. 81 Eine ausgeführte Diskussion dieser Fragen scheint mir im Übrigen in diesem Rahmen nicht erforderlich, da es hier nicht um eine erschöpfende Auslegung des Textabschnitts geht und die begrenztere Frage nach seiner Überlieferungsgeschichte bei dem von mir gewählten methodischen Zugang von dem Streit um mögliche weitere Kontextbezüge relativ unberührt bleibt. 82 Vgl. die Zusammenfassungen: HENTSCHEL, Kampf (Anm. 11), 31ff.; DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 40f. Auch abgesehen von der Kontextanalyse muss insbesondere die Analyse Diebners m.E. mit zu vielen zufälligen Verknüpfungsmöglichkeiten rechnen. Man könnte seine Rekonstruktion etwa folgendermaßen paraphrasieren: Am Anfang stand eine Erzählungsstruktur (s. im Folgenden) von dem Ringkampf () eines Menschen mit einem nicht-menschlichen Wesen (Kobold o.Ä.). Eine zufällige inhaltliche Entsprechung ermöglicht den Einbau der Umbenennung Jakobs in „Israel“. Da hebräisch zufällig an „Jabbok“ anklingt, wird die Erzählung an den Jabbok versetzt: Da Pnuel zufällig am Jabbok liegt und sich über mit dem Erzählungsmotiv verbinden lässt, kann eine Ätiologie für „Pnuel“ hinzugefügt werden, womit möglicherweise auch eine „Legitimierung transjordanischer bzw. überhaupt außerpalästinischer YHWH-Heiligtümer“ verbunden ist. Besonders wenig will mir an dieser diachronen Reihe einleuchten, dass sie letztlich von dem Wort ihren Ausgang genommen haben soll. Sollte in diesem Fall die die zu erklärenden Sachverhalte an sich gezogen haben?! M.a.W.: Ist es hier nicht wahrscheinlicher anzunehmen, dass gerade dieses Wort hier gebraucht wird, weil es geeignet ist, auf andere Elemente hinzuführen (vgl. Abschnitt VI)?
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Die Einsicht in die dichten synchronen Kontextbezüge mehrerer Elemente der Erzählung führt unmittelbar zu der Fragestellung, ob sich auch innerhalb des Textes ein entsprechend geschlossener Sinnzusammenhang erkennen lässt. Die damit geforderte synchrone Strukturanalyse83 greift erneut die Frage nach der Einheitlichkeit des Textabschnitts auf, die auch in den schon skizzierten überlieferungsgeschichtlichen Ansätzen thematisch war, Ein anderes methodisches Problem bei DIEBNERs Analyse sehe ich in seiner Rekonstruktion des Überlieferungs-„Kerns“, den er in den Sätzen 25.2–26.2; 27; 30.6 findet (Interesse [Anm. 11], 29.40). Eine naheliegende Frage, ob diese Elemente eigentlich eine Erzählung bilden können, wird von Diebner selbst diskutiert, und er neigt zu dem überraschenden Schluss, dass der erschlossene Zusammenhang wohl nie in dieser Weise überliefert worden sei: „Dieser Kern ist eine abstrakte, theoretische Konstruktion (unklar bleibt: Wessen? E.B.), eher eine Erzählstruktur als eine konkrete Erzählung“ (a.a.O., 29). Bedeutet aber nicht eine solche Konsequenz, dass sich damit das methodische Vorgehen in der Analyse selbst aufhebt? M.E. impliziert ein methodischer Ansatz, der ausgehend von konkreten Textbeobachtungen (Spannungen, Nahtstellen usw.) Schritt für Schritt die Überlieferungsschichten benennt und „abhebt“ eo ipso die Annahme konkreter, fast möchte ich sagen „realer“ Text- und Überlieferungseinheiten. Die Überlegung lässt sich umkehren: Was ist zu erwarten, wenn eine „abstrakte“ Erzählstruktur als Grundlage einer frei gestalteten Erzählung dient? Jedenfalls kein Text mit diachron auswertbaren Bruchund Nahtstellen, es sei denn, der Erzähler wollte dem Exegeten einen Gefallen tun. Von daher gesehen immunisiert Diebners Auskunft in gewisser Weise seine Analyse, indem sie an einer wichtigen Stelle die Möglichkeit einer Gegenprobe zu den analytischen Schritten ausschließt. 83 „Strukturanalyse“ ist hier nicht im Sinn strukturaler Erzähltextanalysen in der Nachfolge V. Propps und französischer Strukturalisten gemeint, sondern entsprechend dem literaturwissenschaftlichen Strukturbegriff, wobei nach der Funktion der Einzelelemente (in Ausdruck und Inhalt) für die individuelle Bedeutungsganzheit des Textes gefragt wird (vgl. dazu auch unten Abschnitt VII). Demgegenüber zielt der strukturalistische Ansatz von vornherein eher auf über-einzeltextliche Strukturelemente und -beziehungen, was selbstverständlich eine weitgehende Abstraktion von den Einzelzügen der Erzählung voraussetzt. Zufälligerweise hat gerade unser Abschnitt als Vorlage solcher Auslegungen gedient. V.a. ist zu nennen: R. BARTHES, La lutte avec l’ange. Analyse textuelle de Genèse 32,23–33, in: R. BARTHES u.a. (Hg.), Analyse structurale et exégèse biblique. Essais d’interprétation, Paris 1971, 27–39. Am stärksten entfernt sich Barthes von der individuellen Bedeutung des Textes, wo er das von V. PROPP (dt. Ausgabe: Morphologie des Märchens (stw 131), Frankfurt/Main 1972) an russischen Zaubermärchen erarbeitete Schema von Erzähl-„funktionen“ auf den Genesis-Text bezieht (BARTHES, a.a.O., 37ff.). Mit Propps Analysen arbeiten offenbar auch R. COUFFIGNAL, Jacob lutte au Jabboq. Approches nouvelles de Genèse XXXII, 23–33, Revue thomiste 4 (1975) 582–597, und X. DURAND, Le combat de Jacob, Gn 32,23–33. Pour un bon usage des modèles narratifs, in: A. VANEL (Hg.), L’Ancien Testament. Approches et lectures; des procédures de travail à la théologie (Le point théologique 24), Paris 1977, 99–115. Beide Arbeiten sind mir allerdings nur über das Referat in DE PURY, Jakob am Jabbok (Anm. 10), bekannt.
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freilich mit anderen methodischen Voraussetzungen, die in der Auswertung mit zu reflektieren sein werden.84 Anfang und Ende des erzählten Geschehens sind deutlich markiert durch jeweils sich entsprechende „Zeit“- und „Orts“angaben, welche auf diese Weise einen Rahmen bilden: In der Nacht (23.1) passiert () Jakob den Jabbok (23.3) – bei Sonnenaufgang (32.1) passiert () er Pnuel (32.2).85 Zweifellos verweist der kontrastive Unterschied zwischen den beiden Teilen des „Rahmens“ über die szenische Begrenzungsfunktion hinaus auf die Bedeutung dessen, was Jakob dazwischen widerfahren ist.86 Der in diesem Sinn nahezu symbolische Übergang von der Nacht zum Tag wird auch im eigentlichen Korpus der Erzählung in 25.2 und 27.3 aufgenommen. Das Heraufziehen der Morgenröte87 begrenzt hier den eigentlichen Ringkampf, von dem in außerordentlicher Raffung zunächst nur in einem Satz gehandelt wird (25.2). Erzählerisch ausgeführt ist sozusagen nur die letzte Phase des Kampfes, in der sich infolge einer (magischen) Berührung des „Mannes“ Jakobs Hüfte verrenkt. Strukturell ganz deutlich ist der ganze Abschnitt 25.2–26.4 von dem nachfolgenden Dialog abgehoben: Das abschließende bindet ihn durch die Aufnahme des ersten Wortes in einer Klammer zusammen88 – eine Wirkung, die sich nicht zuletzt daraus ergibt, dass der Infinitiv in 26.4 sachlich nicht erforderlich ist. Zu|gleich ist er sprachlich durch eine sich steigernde Dichte von Alliterationen und Assonanzen gestaltet:89 25.2: / – Alliteration; 26.2: „k“-, „1“- und „o“-Laute; 26.3f. variieren fast ausschließlich „k(q)“-, „p/b“-, „j“und „/“-Laute, was dadurch verstärkt wird, dass 26.4 den Satz 26.3 nahezu lautgleich aufnimmt.15–16 Eine mit in 25.2–26.4 vergleichbar strukturierende Rolle kommt im darauffolgenden Dialog dem Wort zu. Seine beiden Vorkommen in 27.6 und 30.6 umschließen unmittelbar das scheinbar um ein ganz anderes Thema, nämlich die Namen Jakobs/Gottes, kreisende Gespräch in 28.1– 30.5. Dies indiziert eine zentrale Stellung der Segensforderung für die ganze Szene. Das gleiche erhellt aus dem inhaltlichen Gefälle: In gewisser 84
Vgl. dazu unten V. Zum Verhältnis Synchronie – Diachronie vgl. unten VII. Vgl. EISING, Jakobserzählung (Anm. 12), 130; SCHILDENBERGER, Jakobs nächtlicher Kampf (Anm. 12), 75; DOMMERSHAUSEN, Israel (Anm. 76), 324. 86 VON RAD, Genesis (Anm. 14), 262: „Wunderbar fällt mit dem Ende des Kampfes und mit dem Weichen des Grauens der Anbruch des Morgens zusammen …“; vgl. auch FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 221f. 87 Zu und Sonnenaufgang als zeitliche und szenische Gliederungsmittel vgl. auch Gen 19,15.23! 88 DE BOER, Genesis XXXII 23–33 (Anm. 12), 158; DOMMERSHAUSEN, Israel (Anm. 76), 325; FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 213. Vgl. auch unten Anm. 112. 89 Vgl. R. MARTIN-ACHARD, Un exégète devant Genèse 32.23–33, in: BARTHES, Analyse structurale (Anm. 83), 41–62, darin 46. 85
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Hinsicht bietet die vorausgehende Schilderung insgesamt eine erzählerische Vorbereitung auf 27.5f.: Nach langem, unentschiedenen Kampf (26.1f.) will der Gegner fort. Der Grund: (27.3). Damit ist nun die szenische Voraussetzung gegeben für Jakobs Forderung (27.5f.). 90 Es geht im Folgenden also gar nicht mehr um die einfache Alternative „Sieg oder Niederlage“ im Zweikampf, jetzt geht es um die Bedingung Jakobs.91 Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Verletzung Jakobs (26.3f.) zu? Man hat u.a. darin den Grund gesehen, der Jakob veranlasste, diesem Gegner den Segen abzuverlangen, insofern die zauberische Berührung (26.3) den übermenschlichen Charakter des Widersachers erkennen ließ.92 Wichtiger erscheint mir aber ein anderer Aspekt: Trotz seiner Verletzung, obwohl er kein ebenbürtiger Gegner mehr ist, lässt Jakob den „Mann“ nicht los. Gerade dieses szenisch, nicht begrifflich, dargestellte „Dennoch“93 stellt deutlich heraus, worum es nun geht: den Segen.94 Unmittelbar auf die Segensforderung 27.6 folgt die Namensänderung Jakobs in „Israel“. Auch diese beiden Verse (28f.) lassen sich im Blick auf ihre Stellung und den Sinn ihrer Einzelelemente in 32,23ff. und im Kontext nur unter dem Vorzeichen von 27.5f. verstehen.16–17 Zunächst gewinnt nun das meist als unbeholfen empfundene in 29.4 einen präzisen Sinn. Schon lange wurde an|gemerkt, dass dieser Ausdruck für die Erklärung des Namens „Israel“ keine rechte Funktion hat, aber auch nicht an ein Element der Szene anknüpft, da von hier nicht die Rede ist.95 Der Erklärungsversuch,96 jemand habe mit diesem Zusatz die anstößige Aussage abzuschwächen versucht, will deshalb nicht überzeugen, weil eine solche Lösung wohl auch für den vermeintlichen Bearbeiter unzulänglich geblieben wäre. Auch die Deutung als 90 Zur erzählerischen Funktion von vgl. schon GUNKEL, Genesis (Anm. 46), 361; EISING, Jakobserzählung (Anm. 12), 130: „Szenisch ist es (sc. 27.3) ein Mittel, um von der als länger dauernd vorgestellten Handlung des Ringens an einen Endpunkt zu kommen, der die Hauptsache bringen muß“. 91 So schon richtig SCHILDENBERGER, Jakobs nächtlicher Kampf (Anm. 12), 87. 92 So z.B. PROCKSCH, Genesis (Anm. 51), 374; EISING, Jakobserzählung (Anm. 12), 130f. u.a.; genau besehen wird hier aber diese Einsicht sozusagen nur dem Hörer/Leser vermittelt (vgl. bei Anm. 112). 93 VAN TRIGT, Signification (Anm. 70), 287: „Il (sc. der Text) dit formellement que Jacob, malgré le fait que sa hanche fut démise, ne lâche pas son adversaire – je ne laisse point aller – mais continue à ‘s’accrocher’ à lui. C’est cette ténacité à s’accrocher à Yahvé à travers toutes les circonstances qui charactérise Jacob tout le long des récits au sujet du patriarche.“ Vgl. auch FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 215. 94 Zu einem weiteren, für die Gesamtszene wesentlichen Bedeutungsaspekt von 26.3f. vgl. weiter unten in Abschnitt IV. 95 Vgl. z.B. ELLIGER, Jakobskampf (Anm. 42), 165. 96 DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 34.
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eine Art Merismus97 löst das Problem nicht, da die Erzählung nun einmal von einem Kampf mit Gott handelt.98 So ist hier wohl zu Recht ein Verweis auf den Kontext der Jakobgeschichte gesehen worden.99 Freilich ist diese Feststellung zu präzisieren: Bezieht man hier die Beobachtungen aus Abschnitt III100 ein, wonach Jakob in der Pnuel-Szene unmittelbar vor dem Zusammentreffen mit Esau den in Kap. 27 von Vater und Bruder erschlichenen Segen gleichsam neu gewinnt, ergibt sich als Bezug des … die Auseinandersetzung um den Segen in Jakobs Familie.101 Auf den gleichen Zusammenhang weist wohl die ebenfalls schon diskutierte Gegenüberstellung von „Jakob“ und „Israel“,102 insofern die „positive“ Ätiologie von „Israel“ diejenige von „Jakob“ in Kap. 27 assoziiert. Ist dieser Deutungszusammenhang angemessen, wird man aber auch das andere Element in 29.4: von 27.5f. her zu verstehen haben, das heißt: In V. 29 wird der Kampf Jakobs in der Qualität gesehen, die ihm jedenfalls seit V. 27 zukommt und die seine zentrale Bedeutung für den Kontext ausmacht: als das Ringen Jakobs um den Segen.103 Zugleich wird ihm hierin der Erfolg bescheinigt (29.5) oder sollte man besser sagen „zugestanden“?104 30.6 jedenfalls dokumentiert diesen „Sieg“ Jakobs: . 17 Eine Art Gegengewicht hierzu bildet allerdings die Weigerung des göttlichen Gegners, seinen Namen zu offenbaren. Jakob wird gleichsam in 97
Vgl. VON RAD, Genesis (Anm. 14), 261 u.a. JACOBs These (Genesis [Anm. 1], 640), dass in der Ausdruck „auseinandergezogen“ sei, ist einfallsreich, aber allzu weit hergeholt. Mit dem Erzählungszusammenhang nicht zu stützen und aus einer mir sehr fraglichen Voraussetzung gewonnen ist die Deutung DOMMERSHAUSENs (Israel [Anm. 76], 332), wonach es dem „Jahwist“ – entsprechend dem Bewusstsein der salomonischen Zeit – um Israels Siege über die Nachbarvölker gehe. Man kann (gegen PROCKSCH, Genesis [Anm. 51], 373 u.a.) sein Heil auch nicht in einer Textänderung in Anlehnung an die LXX suchen, in deren Lesung: vielmehr schon eine abschwächende Interpretation zu sehen ist, die in der jüngeren LXX-Überlieferung noch zusätzlich geglättet wurde ( !). 99 ELLIGER, Jakobskampf (Anm. 42), 166 u.a. Schon Raschi erklärt : „ “ (ebenso D. Qimchi). Unnötig und rein spekulativ ist die Annahme GUNKELs (Genesis [Anm. 46], 365) und John SKINNERs (A Critical and Exegetical Commentary on Genesis [ICC], Edinburgh 19302, 409f.), die mehrfach aufgegriffen wurde, dass sich die Aussage auf einen nicht erhaltenen Kontext von Jakobsagen beziehe. 100 Vgl. oben Abschnitt III bei den Anm. 63 und 64. 101 Vgl. auch FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 216. 102 Vgl. oben Abschnitt III, 5. 103 Vgl. VAN TRIGT, Signification (Anm. 70), 303; H. JUNKER, Genesis (EchterBibel), Würzburg 1949, 98. 104 VON RAD, Genesis (Anm. 14), 264: „Gesiegt hat Jakob im Sinne der jetzigen Erzählung, weil es Gott gefallen hat, seiner Zudringlichkeit, seiner (Luk. 11,8) zu willfahren …“ 98
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seine Schranken gewiesen, indem er auf die Frage nach dem Namen dessen, der ihm soeben die neue Identität zusprach, mit einer zurückweisenden Gegenfrage beschieden wird, die freilich, wie Fokkelman richtig beobachtet,105 zugleich auch eine „Aussage“ impliziert.106 17–18 Das Verschwinden des geheimnisvollen Angreifers wird ebenso | wenig erzählt wie sein Kommen, allerdings ist es nach 30.6 schon wegen 27.5f. zu supponieren.107 31.1 schließt zwar durch den Rückverweis mit auf relativ eng an 30.6 an, gleichwohl beginnt damit, dass Jakob nun als einziger Akteur zurückbleibt, ein eigener Abschnitt. Er zeigt die Reaktion Jakobs, wie sie erst nach dem eigentlichen Erlebnis möglich ist. V. 31 geht dabei, wie schon angemerkt, nicht über die sozusagen „übliche“ Reaktion auf eine Theophanie hinaus. Allerdings ist zu bedenken, dass bei der Formulierung der ätiologische Bezug auf den Ortsnamen „Pnuel“108 und der erzählerische Zusammenhang mit 33,10 wohl nicht viel Spielraum ließen. Stärker zum Tragen kommt die Differenziertheit der Erzählung im abschließenden Vers 32 in einem eindrücklichen szenischen Bild: Im Licht des neuen Tags verlässt Jakob den Ort des dramatischen Kampfes, den er glücklich bestehen konnte, aber: als gezeichneter Mann: „Er hinkte an seiner Hüfte“.109 105 FOKKELMAN,
Narrative Art (Anm. 55), 217. Interesse (Anm. 11), 30f, trägt zur Erklärung der Verweigerung des Namens in 30.3–5 zwei Überlegungen vor. Zum einen vermutet er hier einen redaktionellen Verweis auf Ex 3,15 (der Gottesname wird erst Mose offenbart), zum anderen eine Ätiologie für die jüdische Tradition, den Gottesnamen nicht auszusprechen. Zunächst wäre zu fragen, ob nicht beide Erklärungen eher alternativ sind. Ein Bezug auf Ex 3,15 ist m.E. (neben anderen Gründen) schon deswegen inadäquat, weil Ex 3,13ff. nicht nach Analogie von Ex 6,22f. zu verstehen ist, als wäre in Ex 3,13ff. eine Aussage über die Erzväterzeit impliziert. Noch weniger will die zweite Deutung überzeugen: Hätten die Verse, die von Diebner beschriebene ätiologische Intention, verfehlten sie den beabsichtigten Skopus, denn in unserem Text geht es mit keinem Wort um den Gebrauch des Gottesnamens im Mund der Menschen, sondern um seine Offenbarung aus dem Munde Gottes! Die Kenntnis des Namens ist zudem im Frühjudentum selbstverständlich, problematisch war allein seine außer-kultische Verwendung. (Der Mischna zufolge wurde der Gottesname im Tempel jedenfalls beim Priestersegen [Sota 7,6] und von dem Hohenpriester am Versöhnungstag [Joma 6,2] öffentlich ausgesprochen). Eine wesentliche erzählerische Funktion von 30.1–5 sehe ich darin, die „Unschärfe“ der Erzählung im Blick auf die Identität des Angreifers weiterzuführen, vgl. dazu unten Abschnitt V. 107 EISING, Jakobserzählung (Anm. 12), 131f. 108 Die Hartnäckigkeit, mit der in dem Text immer wieder eine Kultätiologie gesucht wird (H. GUNKEL, Genesis [HK I/1], Göttingen 1901f., 328f., anders in der dritten Auflage, GUNKEL, Genesis [Anm. 46], 364f.; PROCKSCH, Genesis [Anm. 51], 374; VON RAD, Genesis [Anm. 14], 262; DIEBNER, Interesse [Anm. 11], 38f. u.v.a.), ist mir unverständlich. Im Text selbst gibt es hierfür nicht einmal eine Andeutung. 109 MCKENZIEs (Jacob at Peniel: Gn 32,24–32, CBQ 25 [1963] 71–76, darin 75) Deutung, die Verletzung Jakobs sei als „Strafe“ zu verstehen, hat keinen Anhalt am Text. 106 DIEBNER,
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Überblickt man die Episode als Ganze, so wird deutlich, dass die skizzierte inhaltliche Komplexität dank einer subtilen Erzählweise möglich wird, welche dem Hörer/Leser Schritt für Schritt die Bedeutung des Geschehens enthüllt. Die Rezeption des Hörers/Lesers wird mit Hilfe zweier Darstellungsmittel „gelenkt“: Das eine besteht darin, dass mit dem linearen Diskurs in dichter Abfolge Erwartungen des Hörers aufgebaut, sogleich aber durch unerwartete Weiterführungen durchkreuzt werden. Auf diese Weise ergeben sich für den Hörer „Unbestimmtheitsstellen“110 im Text, die ihn nötigen, zunächst naheliegende, einlinige Deutungen mehrfach in Richtung auf das intendierte Bedeutungsgefüge zu korrigieren. Die erste Unbestimmtheit ergibt sich bei dem Übergang von 26.1f. zu 26.3f.: Obwohl der Fremde selbst den Kampf unentschieden sehen muss (26.1f.), vermag er mit geheimnisvollen Kräften Jakobs Hüfte zu verrenken.111 Die nun zu erwartende „Unterwerfung“ Jakobs tritt ebenfalls nicht ein: Jakob beantwortet die Aufforderung des Fremden, ihn gehen zu lassen, mit einer Bedingung, welche das zentrale Thema „Segen“ einführt. In drei knappen Versen wird so der Hörer von einem vordergründigen Interesse am Ausgang des Ringkampfes weggeführt und zugleich in die Lage versetzt, das wiederum überraschende | in 29.4f. – unter Einbeziehung von 30.6 – auf das heimliche Thema des Kampfes, den Segen, zu beziehen. Dieses hintergründige Verständnis wird durch die folgenden Reaktionen Jakobs verstärkt, welche das Geschehen ebenfalls kontrastiv beleuchten: Jakobs (fast dreiste) Frage nach dem Namen (30.1–5) und sein Aufatmen: (31.3) (vgl. auch 32,1f. :: 32.3). Das andere Mittel der erzählerischen Darstellung inhaltlicher Komplexität ist die deutliche Differenzierung zwischen der Hörer/Leser-Perspektive und der Perspektive der handelnden Person Jakob: Hat zunächst der Hörer einen „Informationsvorsprung“ vor Jakob (26.1–3),112 so ändert sich dies bald, insofern der Erzähler bei der eigentlichen Deutung der Begegnung ganz hinter seine Protagonisten zu18–19
Verfehlt ist auch die Interpretation HENTSCHELs (Kampf [Anm. 11], 23), der aus syntaktischen Gründen 32.3 von 32.1f. trennen will, da der Nominalsatz von 32.3 besage, dass „Jakob nach dem Ereignis am Jabbok gleichsam bis zu seinem Tode gehinkt habe“. Dies ist grammatisch unzutreffend. Mit der Verwendung eines mit einem Partizip gebildeten Nominalsatzes wird vielmehr ein Vorgang als durativ und gleichzeitig zu einem anderen Vorgang oder zur Sprachsituation bezeichnet (vgl. z.B. Gen 18,1f; 27,5; 29,9 u.ö.). 110 Dieser von R. Ingarden übernommene Begriff spielt eine wesentliche Rolle in W. Isers rezeptionsästhetischem Ansatz innerhalb der Literaturwissenschaft (vgl. unten Anm. 158). 111 Damit ist für den Hörer zumindest die Außergewöhnlichkeit dieses „Mannes“ angezeigt, zugleich muss aber sein Urteil über dessen Identität noch offenbleiben. 112 Demgegenüber ist m.E. 26.5 mithilfe des Infinitivs bewusst aus der Perspektive Jakobs formuliert. (Über diesen Perspektivenwechsel sind wohl die Literarkritiker, die in 25f. eine sich widersprechende Dublette fanden, gestolpert.)
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rücktritt. Am auffallendsten ist dabei, dass der Erzähler bei Jakobs Gegner, abgesehen von dem anfänglichen (25.2), bis zum Schluss jedes explizite Subjekt vermeidet,113 während seine Identifizierung mit Gott (nur) im Mund der handelnden Person begegnet (29.4; 31.2). Selbstverständlich „nimmt“ der Hörer/Leser beide Perspektiven „wahr“; gerade damit aber erreicht diese Erzählweise ihr Ziel: eine in bestimmtem Sinn „gebrochene“, verhüllende Darstellung, die der Erzähler auch in seiner abschließenden Bemerkung (32) nicht aufhebt.
V Beziehen wir diese Skizze des inneren Zusammenhangs der PnuelErzählung auf die vorausgegangenen Überlegungen (III), so wird zunächst deutlich, dass die thematischen Züge, deren Bedeutung in und für den Kontext der Jakobserzählungen unbestreitbar ist, auch untereinander eng verknüpft sind und in dieser Verknüpfung den spezifischen Sinn dieser Szene konstituieren. Vor allem die Erringung des Segens durch Jakob und seine Umbenennung in „Israel“ erwiesen sich als eng aufeinander bezogene Elemente, wobei ihr inhaltlicher Zusammenhang allerdings – und das scheint mir wichtig – erst vor dem Hintergrund des Kontextes verstehbar wird. Ebenso integrale Züge der Erzählung sind aber auch die gleichermaßen kontextbezogenen Struktur- und Rahmenelemente, | die hier mit dem Leitwort 114 und dem Dreischritt Nacht – Morgenröte – Sonnenaufgang115 angezeigt seien. Weniger dicht gestaltet erscheint dagegen der Zusammenhang von V. 31 mit der vorausgehenden Szene. Allerdings ist seine Zugehörigkeit deswegen nicht in Frage zu stellen. Schließlich ist zu beachten, dass a) in 30.6 die Thematisierung des Ortes vorbereitet, b) in 32.2 die Benennung des Ortes vorausgesetzt ist, c) ein sachlicher Zusammenhang mit „Jabbok“ besteht und damit eine Verbindung mit dem Thema „Kampf“.116 19–20 Fragen wir nun nach den Konsequenzen dieser Beobachtungen für die diachrone Fragestellung, so ist m.E. – unter Aufnahme der Überlegungen in Abschnitt III117 – mit einiger Sicherheit auszuschließen, dass dieser Text zunächst in einer mehr oder weniger langen eigenständigen Überlieferungsgeschichte zu einer so nuancierten Erzählung angewachsen ist, um sich dann auch noch in nahezu allen seinen Einzelzügen aufs Beste in den
113 Vgl.
schon HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 250, Anm. 29. oben Abschnitt IV. 115 Vgl. oben Anm. 60. 116 Vgl. oben Abschnitt II bei den Anm. 38 bis 40. 117 Vgl. oben die abschließenden Überlegungen in Abschnitt III. 114 Vgl.
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weiteren Kontext integrieren zu lassen.118 Formulieren wir es „positiv“: Die Szene 32,23.25–32 ist in ihrer vorliegenden Gestalt bis in die einzelnen Formulierungen hinein auf den Kontext der Jakob-Esau-Geschichte hin entworfen.119 20 Diese These120 impliziert selbstverständlich den Anspruch, dass unter ihrer Voraussetzung auch die anfangs skizzierten Argumente für eine dia118 DOMMERSHAUSEN, Israel (Anm. 76), sieht ebenfalls die Kontextgebundenheit der Umbenennung Jakobs und des Segensmotivs, die er deswegen dem „Jahwisten“ zuschreibt. Dieser habe eine „Ortssage“ vom Kampf eines Menschen mit einem in der Nacht wirkenden Flussgott an der Jabbokfurt „ziemlich unverändert“ übernommen und transformiert (a.a.O., 333). Freilich wird die Notwendigkeit dieses Rückgriffs auf eine vorgegebene Sage bei ihm auch nicht andeutungsweise begründet. Zudem würde diese Erklärung ähnliche Fragen (nach der zufälligen Verknüpfungsmöglichkeit der Elemente und ihrer doppelten Interpretation) wie bei den anderen hier diskutierten Hypothesen aufwerfen. 119 Theoretisch sind auch andere Erklärungsmodelle denkbar. So könnte man erwägen, ob die Erzählung unter Kenntnis einer mit unserer Jakobgeschichte vergleichbaren Jakobüberlieferung, aber als selbständiger Text entstand. Doch ist dies eine mit unausweisbaren Prämissen belastete Hypothese. JEPSENs These (Vätergestalten [Anm. 25], 148), der Jakobkampf sei die älteste Jakobüberlieferung und von ihr aus sei das Thema Segen zum bestimmenden Zug der Jakobgeschichten geworden, bürdet unserer Episode allzu viel auf, nämlich die Geschichte der ganzen Jakobüberlieferung, und unterschätzt damit zugleich das überlieferungsgeschichtliche Eigengewicht von Erzählungen wie denen in Gen 25 und 27. 120 Einheitlichkeit (in diachroner Hinsicht) und Kontextbezogenheit der Szene sind mit unterschiedlichen Argumenten und unterschiedlicher Konsequenz v.a. von Eising, de Boer, Schildenberger und de Pury vertreten worden. Hervorzuheben ist zunächst die Auslegung EISINGs (Jakobserzählung [Anm. 12]), insofern er als erster unter Kenntnis der literarkritischen/überlieferungsgeschichtlichen Hypothesen den Versuch einer zusammenhängenden Interpretation vom Kontext her unternommen hat. Gleichwohl postuliert er eine ältere Gestalt der Szene, die dem Erzähler von Gen 32 vorgegeben gewesen sei, ohne dass er die Möglichkeit sieht, diese aus dem vorliegenden Textbestand zu rekonstruieren (Jakobserzählung [Anm. 12], 132f.). Seine inhaltliche Auslegung leidet etwas unter seinen psychologisierenden Fragestellungen und der Einebnung spezifischer Bedeutungszusammenhänge durch einen weitgefassten Begriff der „Heilsgeschichte“ (vgl. z.B. seine Erklärung des Segens in der Pnuel-Szene von 35,9–12 her (!), Jakobserzählung [Anm. 12], 128f.). DE BOER (Genesis XXXII 23–33 [Anm. 12]) begründet mit Beobachtungen zur Erzählungsstruktur („narratory form“) die Einheitlichkeit des Textes, belastet aber seine Analyse damit, dass er aufgrund einer bestimmten Interpretation von Hos 12 für die Pnuel-Szene einen älteren, „nicht-jhwhistischen“ Sinnzusammenhang postuliert. Hosea polemisiere nun gerade gegen die Identifizierung des Patriarchengottes mit JHWH (a.a.O., 161ff.). Am stärksten berührt sich mit meiner hier vorgelegten Analyse die Arbeit von SCHILDENBERGER (Jakobs nächtlicher Kampf [Anm. 12]). (Die Übereinstimmung ist umso bemerkenswerter, als mein Konzept i.W. schon abgeschlossen war, als ich diesen Aufsatz zur Kenntnis nehmen konnte). Dies betrifft zunächst schon den Ansatz der Auslegung, indem er – konsequenter als Eising – vom Kontext her nach dem inneren Sinnzusammen-
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chrone Schichtung des Textes in der Beschreibung seiner synchronen Komplexität erklärt bzw. „aufgehoben“ sind. Dies ist hier noch für einige wesentliche Aspekte auszuführen. Die bei unserem Text immer wieder gestellte Frage nach dem ursprünglich einfachen (vermutlich ätiologischen) Skopus erweist sich nach unserer Auslegung schon als zu eng gefasste, andere Erklärungsmodelle zirkulär ausschließende Fragestellung, insofern der vorliegende Text gar nicht auf eine abgeschlossene Aussage hinzielt, sondern in seinen verschiedenen Elementen als Teil der (notwendigerweise komplexen) Gesamterzählung zu sehen ist. Anstatt nach dem „Skopus“ wäre demnach angemessener nach den strukturell betonten Elementen zu fragen.121 hang der Pnuel-Szene fragt, aber auch (wie oben jeweils angemerkt) wichtige Einzelfragen der Auslegung. Die auffallende Wirkungslosigkeit seiner Analyse ist vielleicht mit seiner deutlichen Orientierung an einem Schriftverständnis im Sinn der kirchlich-dogmatischen Tradition zu erklären, weswegen seine Auslegung möglicherweise einer Harmonisierungstendenz verdächtigt wurde. In der Tat enthält seine Argumentation nun auch einige methodisch problematische Elemente, etwa wenn er als Bezugsrahmen für unseren Textabschnitt unbesehen den gesamten Bestand der Jakobgeschichte in der Genesis (einschließlich der Josephsgeschichte) heranzieht (a.a.O., 88). Eine der neuesten Arbeiten zu unserem Text, nämlich die Untersuchung von DE PURY (Jakob am Jabbok [Anm. 10]), in der ebenfalls die Annahme einer ursprünglichen Einzelüberlieferung bestritten wird, musste hier demgegenüber weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil de Purys Argumentation m.E. methodisch gänzlich unzulänglich ist. So bringt er es fertig, der Episode – nahezu (ohne 23 und mit „Jakob“ als Subjekt in 26a) in ihrer vorliegenden Gestalt! – einen letztlich frei konstruierten Sinn zu unterstellen, wonach es sich hier um die Erzählung von einem Kampf um die „Überschreitung der Grenze“ handelte, in der Jakobs Gegner als „der Wächter (erscheint), der den Helden am Überschreiten der Furt hindern will“ (a.a.O., 31f.). Sein Ausgangspunkt ist ein Vergleich mit einer s.E. strukturparallelen altirischen Erzählung und mit dem von PROPP (Morphologie [Anm. 83]) erarbeiteten Schema narrativer Funktionen. Methodisch bedenklich wird sein Unternehmen aber zum einen dadurch, dass er, um überhaupt einen Vergleich anstellen zu können, zuvor schon die Pnuel-Szene zu einem „Grenzkampf“ umdeuten muss. Zum anderen gelangt er zu seiner Strukturparallele nur über eine so weitgehende Abstraktion von den konkreten Erzählungsstrukturen (DE PURY, Jakob am Jabbok [Anm. 10], 28ff.), dass sie einen Beleg eher für die Beliebigkeit der Konstruktion von Textstrukturen bei entsprechender Verallgemeinerung darstellt als für die Beschreibung signifikanter Entsprechungen. Schließlich wäre – auch dann, wenn es ihm gelungen wäre, eine spezifische Strukturparallele aufzuzeigen – methodisch erst noch auszuweisen, inwiefern daraus nun Folgerungen für die spezifische Bedeutung und Überlieferungsgeschichte des Genesistextes gezogen werden könnten. Die Arbeit FOKKELMANs (Narrative Art [Anm. 55]) mit ihrer sehr elaborierten Analyse von Gen 32,23ff. unterscheidet sich grundsätzlich von der hier verfolgten Fragestellung, insofern sie von vornherein jeden diachronen Ansatz ausblendet. 121 Nach den Ausführungen in Abschnitt IV sind diese in den Themen „Segen“ und „Israel“ zu suchen, während die Namensätiologie für „Pnuel“ eher am Rande steht (so auch EISING, Jakobserzählung [Anm. 12]; DOMMERSHAUSEN, Israel [Anm. 76], u.a.).
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Auch die vermeintlichen Ungereimtheiten und inhaltlichen Spannungen erweisen sich im Nachhinein als Konsequenz aus dem apri|orischen Postulat einer ursprünglichen „Einfachheit“ der Überlieferung. Auf unseren Text appliziert, ergaben sich daraus die Versuche, seine Ambiguitäten in der Frage, wer schließlich obsiegte, überlieferungsgeschichtlich in einen klaren Sieg Jakobs (bzw. des entsprechenden Helden) über einen außer- bzw. protoisraelitischen Gott bzw. Dämon bzw. Kobold aufzulösen.20–21 Die Möglichkeiten, diese Ambiguitäten innerhalb des Kontextes als Bauelemente eines differenzierten intentionalen Sinngefüges zu verstehen, sind zwar auch in der vorwiegend diachron orientierten Exegese mehr oder weniger deutlich beschrieben worden,122 führten aber nicht zu einer methodischen Infragestellung der vielfältigen Hypothesen zur Vorgeschichte des Abschnitts. Vielmehr konstatierte man für dieselben Textelemente einen mehrfachen Sinn, je einen für den gegenwärtigen Kontext und für den jeweils (re-)konstruierten, älteren Kontext.123 Die Gründe, die m.E. eine solche Erklärung bei diesem Text verbieten, brauchen nicht mehr wiederholt zu werden. Gleichwohl ist es von Interesse zu fragen, worin die Hartnäckigkeit und Sicherheit, mit denen eine vorisraelitische bzw. vorjhwhistische Vorstufe eruiert wurde, begründet sind. Über das genannte Postulat einer „einfachen“ Überlieferung hinaus hat hier m.E. noch ein weiteres Vorurteil gründlich gewirkt: der Eindruck eines vorjhwhistischen Charakters des Gottesbildes in Gen 32,23ff. Methodisch bedenklich scheinen mir daran v.a. zwei Aspekte: Zum einen wird die neuzeitliche, oft in suggestiven Formulierungen gesetzte124 Intuition vom „Altertümlichen“125 zur kaum überprüfbaren Voraussetzung der Exegese. Zum anderen werden – angeregt durch religionsgeschichtliches Material – Einzelzüge des Textes gegenüber ihrem jetzigen Sinnzusammenhang isoliert und in einen anderen, allerdings konstruierten Sinnzusammenhang hineingestellt, der dann oft zum Leitfaden der weiteren Textanalyse wird. Der Beliebigkeit solcher Sinnrekonstruktionen korrespondiert die Vielzahl der Vorschläge. So wird in der Auslegung Gunkels die Gottheit in 32,23ff. zu einem „den Menschen feindliche(n)“ „Numen des Flusses“, welches „dem Jakob zürnt, weil er seine Furt überschreitet“126. Teils alternativ dazu, teils ergänzend 122 Vor
allem seit ELLIGER, Jakobskampf (Anm. 42) und VON RAD, Genesis (Anm. 14). dazu auch L. SABOURIN, La lutte de Jacob avec Elohim (Gen 32,23–33), ScEc 10 (1958) 77–89, der in unserem Text „un témoin de la ‘démythisation’ progressive opérée par Israël dans son milieu historique“ (S. 89) sieht. 124 Vgl. z.B. VON RAD, Genesis (Anm. 14), 263: „… das uralte, aus roher, heidnischer Vorzeit stammende Gerüst und Vorstellungsmaterial …“ 125 Zur notwendigen methodischen Unterscheidung von „alt“ und „archaisch“ vgl. die Ausführungen von DIEBNER, Interesse (Anm. 11), 42. 126 GUNKEL, Genesis (Anm. 46), 364; mit einem Flussgott rechnet denn auch die Mehrheit der Exegeten. Vgl. z.B. VAN TRIGT, Signification (Anm. 70), und die Diskus123 Vgl.
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wird sie auch als eine Art Nachtdämon | beschrieben.127 Dagegen sieht etwa McKenzie128 in dem „Mann“ einen Gott oder Dämon, „the protecting genius of the land“, der Jakob am Betreten des Landes hindern wollte. Eißfeldt identifiziert ihn mit dem Gott El.129 Hermisson schließlich widerspricht all diesen Interpretationen und vermutet dagegen eine „nomadische“ Vätergottheit.130 21–22 Unter der Voraussetzung der hier vorgelegten Auslegung131 scheint es mir müßig, diese Vorschläge im Detail zu diskutieren. Nur einen Aspekt möchte ich herausgreifen, da er für mehrere Deutungen eine zentrale Funktion hat: Zumeist wird die Bemerkung in 27.3 ( ) dahingehend gedeutet, dass „der Unbekannte das Tageslicht zu fürchten hat, offenbar weil seine Kraft auch auf Grund des Lichtes zu schwinden beginnt“.132 Diese, außerbiblischem Sagenmaterial entlehnte Deutung muss freilich ihre eigentliche Aussage erst an den Text herantragen. In Abschnitt IV habe ich demgegenüber die klare erzählerische Funktion von 27.3 beschrieben. Darüber hinaus könnte man im Rahmen der Erzählung auch an weitere Bedeutungsaspekte denken: Will der göttliche Unbekannte sich der Identifizierung entziehen (vgl. 30.1–5)? Oder dient seine Absicht letztlich sion bei O. KAISER, Die mythische Bedeutung des Meeres in Ägypten, Ugarit und Israel (BZAW 78), Berlin 1959, 95–99. 127 Vgl. z.B. STOEBE, Jabbok-Perikope (Anm. 3), 466; OTTO, Jakob (Anm. 11), 42; HENTSCHEL, Kampf (Anm. 11), 32. Eine besondere Variante findet sich bei S. MITTMANN, Die Steige des Sonnengottes (Ri. 8,13), ZDPV 81 (1965) 80–87. Er vermutet für Pnuel das „Bestehen eines Sonnenkultes“ (a.a.O., 84) und überlegt, ob für die älteste Gestalt der Erzählung „die mythische Beschreibung eines Kampfes zwischen dem Sonnengott und einem nicht näher zu fassenden Dämon der Finsternis“ anzunehmen sei (ebd., Anm. 26). 128 MCKENZIE, Jacob at Peniel (Anm. 109), 73; vgl. auch PEDERSEN, Israel (Anm. 12), 503–505. 129 O. EIßFELDT, Non dimittam te, nisi benedixeris mihi, in: Mélanges Bibliques en l’honneur d’André Robert (Travaux de l’Institut Catholique de Paris 4), Paris 1957, 77– 81 (= DERS., Kleine Schriften 3, Tübingen 1966, 412–416. Er begründet dies v.a. damit, dass die Namen „Israel“ und „Pnuel“ auf El verwiesen. So habe auch die Gegenfrage in 30.5 den Sinn, dass sich Jakob selbst seinen Reim auf den Gottesnamen („El“) machen solle. Allerdings wird man die beiden Namen nicht als Argument anführen können, da sie auf jeden Fall vorgegeben waren und ihre eigene Geschichte haben. Vor allem aber wird in der Erzählung selbst (29.4; 31.2) das Namenselement „-el“ als mit „Elohim“ gleichwertige Gottesbezeichnung und nicht als Gottesname gedeutet. Auch Eißfeldts Hinweis auf Gen 33,20 führt nicht weiter, da hier – jedenfalls im alttestamentlichen Kontext – ebenfalls nicht als Eigenname zu verstehen sein wird. 130 HERMISSON, Jakobs Kampf (Anm. 6), 248, nach dem Vorgang JEPSENs (Vätergestalten [Anm. 25], 147). 131 Siehe auch unten Abschnitt VI. 132 R. KILIAN, Isaaks Opferung. Zur Überlieferungsgeschichte von Gen 22 (SBS 44), Stuttgart 1970, 12.
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dem Schutz Jakobs?133 M.E. bedarf es aber gar nicht derartiger interpretativer Anstrengungen. Einmal vorausgesetzt, dass es hier um JHWH geht und nicht um einen Dämon oder dergleichen, – was ist eigentlich so verwunderlich daran, dass der Kampf auf die Nacht beschränkt bleibt? Korrespondiert nicht das szenische Element der Dunkelheit aufs beste der verhüllenden Sprache des Textes, der auf der Erzählerebene – wie oben134 ausgeführt – lediglich von einem spricht? Und wird nicht die Unschärfe und Undeutlichkeit des Bildes, welches durch diese Darstellungsweise bei dem Hörer evoziert wird, am ehesten der Ungeheuerlichkeit dieses Geschehens gerecht? (Vgl. dazu Ex 4,24–26 [ ]!).22–23 Als Argument für unsere These ist schließlich noch darauf hinzuweisen, dass die Episode Gen 32,23–33 nicht nur inhaltlich in den Kontext eingebunden ist, sondern sich auch in der Art, wie erzählt wird, von diesem nicht unterscheidet. Die hier betonte hintergründige, fast artifizielle Erzählweise ist kennzeich|nend für den ganzen Zusammenhang von Gen 32 und 33. Er bildet insgesamt eine kunstvolle Komposition,135 welche – auch überlieferungsgeschichtlich „aus einem Guss“ (ausgenommen 32,10–13136) – zentrale thematische Fäden aus der Jakob-Esau- und Jakob-Laban-Geschichte bündelt137 und zu einem dramatischen Finale gestaltet. Im Blick auf die inhaltlichen Zusammenhänge138 wird man Westermanns Urteil zustimmen, dass es sich (besonders bei 33,1f.) um eine „theologische Erzählung“ handelt, die freilich ohne „theologische Begriffe“ auskommt.139 Zu ihrem Verständnis ist erforderlich, dass der Hörer die szenische Gestaltung und die sprachlichen Ausdruckselemente in Beziehung zum ersten Teil der JakobEsau-Erzählungen setzt. – All dies gilt ebenso für 32,23ff. 133 So wohl E. KÖNIG, Die Genesis. Eingeleitet, übersetzt und erklärt, Gütersloh 1919, 609. 134 Siehe oben Abschnitt IV Ende. 135 W ESTERMANN , Arten der Erzählung (Anm. 26), 80: „32–33 ist ein kompliziertes Gebilde, eine großartige Komposition“. 136 Zu 32,10–13 vgl. den Exkurs in Abschnitt III. Der Nachweis der Geschlossenheit von Gen 32f. würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. Zudem handelt es sich um eine hier eher marginale These. M.E. lässt sich jedenfalls recht deutlich zeigen, dass 32,4–14a und 32,14b–22 nicht etwa konkurrierende oder gar alternative Darstellungen, sondern zwei aufeinanderfolgende Akte der Szenerie von der Wiederbegegnung Esaus und Jakobs darstellen. Eine Quellenscheidung in 33,1–17 ist vollends willkürlich. (vgl. dazu auch J. PEDERSEN, Israel. Its Life and Culture II, London 1926, 523f; M. KESSLER, Die Querverweise im Pentateuch. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchung der expliziten Querverbindungen innerhalb des vorpriesterlichen Pentateuchs, Diss. theol. Heidelberg 1972 [masch.schr.], 5.129ff.). 137 Vgl. z.B. H. GUNKEL, Die Urgeschichte und die Patriarchen (Das erste Buch Mosis) (SAT 1,1), Göttingen 19202, 227; EISING, Jakobserzählung (Anm. 12), 155.159. 138 Vgl. oben Abschnitt III. 139 W ESTERMANN , Arten der Erzählung (Anm. 26), 80f. mit Anm. 46.
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VI Die hier vertretene These, dass die „Erzählung“ insgesamt als Teil der JakobEsau-Laban-Geschichte, insbesondere ihres Finales, konzipiert wurde, scheint nun kaum einen Raum für weitere überlieferungsgeschichtliche Fragen zu lassen. Gleichwohl erscheint es mir erforderlich, wenigstens tentativ noch einen Schritt darüber hinauszugehen, freilich nicht in dem Sinne, dass ich mich erneut auf die Suche nach überlieferungsgeschichtlichen Nahtstellen und dergleichen innerhalb des Textes machte. Den Anstoß bildet vielmehr der – zugegeben nur vage zu beschreibende – Eindruck, dass dieser Szene ein thematisches Eigengewicht zukommt, das sie von ihrem engeren Kontext unterscheidet. Zunächst ist da der Kampf Jakobs mit Gott. Gewiss fügt sich dieses Motiv, wie oben gezeigt, in hintergründige Textzusammenhänge ein. Wie aber nicht zuletzt die verhüllende Sprache des Erzählers zeigt,140 liegt es zugleich offenbar an der Grenze des in Israel theologisch Sagbaren. Zudem standen dem/den Erzähler/n zweifellos auch andere, weit weniger „gewagte“ Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung (vgl. Gen 28,11ff; 31,10ff.).23–24 Dies führt zu der Vermutung, dass dieses Thema doch an ein be|stimmtes Erzählungselement gebunden gewesen sein könnte. Sollte es zusammen mit dem „Jabbok“ in den Textzusammenhang integriert worden sein? Wohl kaum. Schließlich spielt der Fluss aufs Ganze gesehen eher eine „Nebenrolle“, was man demgegenüber von der Umbenennung Jakobs und der Ätiologie des Israel-Namens nicht wird sagen können. In der Tat liegt in der etymologischen Ätiologie für „Israel“ m.E. der Schlüssel für unsere Fragestellung, sozusagen „der Erzählung Kern“. Wohl lassen sich auch andere volksetymologische Erklärungen für „Israel“ denken,141 doch ist es überhaupt wahrscheinlich, dass ausgerechnet dem Israel-Namen erst durch die Aufnahme in die Jakob-Esau-Erzählungen die „schlüssige“ und ebenso eindrückliche wie geheimnisvolle Erklärung als „Gottesstreiter“ zugeordnet wurde? Grundsätzlich wird man jedenfalls davon ausgehen können, dass es gerade für die in vieler Hinsicht stark „besetzte“ Selbstbezeichnung „Israel“ eine eigenständige Tradition der ätiologischen Erklärung gegeben hat. Bei Abwägung dieser Gesichtspunkte scheint mir einiges dafür zu sprechen, dass dem Erzähler eine kontextunabhängige Tradition vorgegeben war, in welcher der Name „Israel“ ätiologisch auf das Motiv des Gotteskampfs zurückgeführt wurde. In strikter Umkehrung der üblichen tradi140 Vgl.
oben Abschnitt V bei Anm. 134. (Anm. 38), 158f., verweist u.a. auf Anspielungen an den Namen „Israel“ mit der Wurzel („gerade, ehrlich sein“), z.B. Num 23,10. Besonders prägnant sind die Belege in polemischen Aussagen Michas (Mi 2,7; 3,9), bei denen er zugleich die Deutung „Jakob“ = „Betrüger“ als bekannt voraussetzen dürfte. 141 ZAKOVITCH,
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tions- bzw. überlieferungsgeschichtlichen Thesen sehe ich von daher den Ursprung des thematischen „Kerns“ unserer Szene in genuin israelitischem Kontext, nämlich in einer an den Israel-Namen selbst gebundenen Tradition, womit wir uns – jedenfalls nach dem Zeugnis des Alten Testaments – zugleich auch im Kontext genuiner JHWH-Tradition befinden. Müßig freilich wäre es, über die Gestalt einer solchen Tradition zu spekulieren, zu viele Möglichkeiten sind denkbar: eine knappe Notiz, eine ausgeführte Erzählung usw.; offenbleiben muss z.B. auch, ob es dabei um die Umbenennung Jakobs ging oder um die für sich stehende Erklärung des Namens.24–25 Allerdings ist eine Frage noch zu erörtern, wenn diese hypothetischen Überlegungen einen plausiblen Erklärungsrahmen abgeben sollen: Wie kommt es unter dieser Voraussetzung zu der erzählerischen Verbindung von Gotteskampf und Pnuel/Jabbok? M.E. erklärt sie sich relativ einfach damit, dass die aus anderen | Gründen beabsichtigte Lokalisierung der Szene in/bei Pnuel die Wahl des Lexems als Anspielung auf „Jabbok“ nahelegte.142 Was aber sind diese „anderen Gründe“ für die Erwähnung Pnuels? Man könnte wiederum auf den Kontext verweisen: So ist zu überlegen, ob sich die Zuordnung zu dem geographischen Bereich Ma-hanaim – Pnuel – Sukkoth etwa aus dem erzählerischen Zusammenhang mit der lokal gebundenen Gilead-Überlieferung (31,46ff.) einerseits und der Zusammenführung mit dem aus Seïr kommenden Esau andererseits ergab. Darüber hinaus ist an die beschriebenen erzählerischen Anschlussmöglichkeiten an das Stichwort zu erinnern. Allerdings ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass nicht nur solche textimmanenten Gründe, sondern auch (oder: vor allem) konkrete geschichtliche Interessen hinter der Verbindung Pnuels mit dem Gotteskampf Jakobs und seiner Umbenennung in „Israel“ stehen könnte. Freilich sind begründete Überlegungen zu der die Adressaten des Textes einschließenden Synchronie des Textes erst unter Voraussetzung einer umfassenden überlieferungsgeschichtlichen Analyse der Jakobgeschichte und ihrer zeitgeschichtlichen Bezüge möglich, führen mithin weit über den Rahmen dieser Einzelanalyse hinaus.143 142 Der
Fluss dürfte sogar diesem Umstand überhaupt seine Erwähnung verdanken. Die anderen Elemente ergeben sich dagegen i.W. aus dem Zusammenhang des Kontextes: der Segen, Morgenröte und Sonnenaufgang als szenische Gestaltungsmittel, die Formulierung in V. 31 und die Verletzung Jakobs – sie sind Teil der differenzierten Gestaltung, die sich nicht zuletzt daraus ergibt, dass eben nicht ein Dämon oder Gespenst der Gegner Jakobs ist, sondern von Anfang an der Gott Israels. Das Verrenken () der Hüfte () könnte übrigens seinen Grund in dem lautmalerischen Zusammenhang: – – – – haben. Als einzige nicht aufzulösende Koinzidenz bliebe bei dieser Erklärung der lautliche Anklang von an und . 143 Eine entsprechende, umfassende Analyse der Geschichte der Jakobüberlieferungen gedenke ich in meiner in Vorbereitung befindlichen Dissertation vorzulegen.
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VII
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In der vorstehenden Auslegung habe ich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zwischen synchronen und diachronen Fragestellungen unterschieden. Diese aus der neueren Sprachwissenschaft übernommenen Begriffe haben innerhalb des letzten Jahrzehnts auch in die exegetische Literatur Eingang gefunden.144 V.a. in englischsprachigen Arbeiten wird dabei „Diachronie“ i.W. mit der Überlieferungsgeschichte des Textes gleichgesetzt und „Synchronie“ mit einer Struktur- und Bedeutungsanalyse des als Einheit betrachteten (Einzel-)Textes.145 Zugleich neigt man offenbar dazu, 144 In der deutschsprachigen Literatur ist zunächst W. RICHTER (Formgeschichte und Sprachwissenschaft, ZAW 82 (1970) 216–225, darin 220; DERS., Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, Göttingen 1971, 35f. u.ö.) zu nennen. Er bezieht die Dichotomie synchron – diachron auf die einzelnen Methodenschritte und unterscheidet dementsprechend zwischen „Formkritik“ und „Form(en)geschichte“, „Gattungskritik“ und „Gattungsgeschichte“, „Redaktionskritik“ und „Redaktionsgeschichte“ usw. Demgegenüber orientiert sich die von mir voraus- gesetzte Differenzierung an den jeweiligen Erkenntniszielen der Fragestellungen. So zielen etwa auch die Literarkritik und Redaktionskritik im Sinne Richters grundsätzlich auf eine diachrone Erklärung der Texte, wenn auch eine adäquate Beschreibung einer Redaktion ohne eine synchrone Analyse nicht möglich sein wird (dazu im Folgenden). Damit sollen Berechtigung und Sinn von Richters Unterscheidung nicht bestritten werden, allerdings werde ich sie im Folgenden nicht thematisieren (zur „Formgeschichte“ vgl. unten Anm. 170). In einem wenig präzisen Sinn verwenden K. KOCH und Mitarbeiter (Amos. Untersucht mit den Methoden einer strukturalen Formgeschichte. Teil 1 [AOAT 30], Kevelaer/ Neukirchen-Vluyn 1976) die beiden Begriffe. Ist der Zusammenhang zwischen Diachronie und (Sprach-/Text-)Geschichte noch deutlich, so scheint für sie „synchron“ einfach die Negation von „diachron“ zu sein. Wie anders könnten sie als Beispiel für eine synchrone Fragestellung die Erklärung hebräischer Ausdrücke mithilfe von „Parallelen … auch aus dem historisch weiter abgelegenen Akkadischen, Arabischen, selbst Äthiopischen“ (a.a.O., 9) anführen? Weitere Belege für eine missverständliche Rezeption der sprachwissenschaftlichen Begrifflichkeit ließen sich nennen. Geradezu verwirrend werden ihre Ausführungen, wenn sie Sprachsystem und konkrete Texte in eins setzen, indem sie etwa nach der Stellung von Doppelungen und Widersprüchen (im Sinne der Literarkritik!) im Sprachsystem (!) fragen (ebd.). 145 Vgl. z.B. FOKKELMAN, Narrative Art (Anm. 55), 1ff.; M. KESSLER, Rhetorical Criticism of Genesis 7, in: J.J. JACKSON (Hg.), Rhetorical Criticism. Essays in Honor of James Muilenberg (PThMS 1), Pittsburgh 1974, 1–17, darin 1f.; J.T. WALSH, Genesis 2:4b–3:24. A Synchronic Approach, JBL 96 (1977) 161–177. In zahlreichen Arbeiten wird der methodische Ansatz der Sache nach vertreten, ohne dass der Begriff „Synchronie“ appliziert wird. So spricht man von „Total-Interpretation“ bzw. „Struktur-Analyse“ (M. Weiss, siehe unten Anm. 154) oder „Stilanalyse“ (vgl. u.a. L. ALONSO-SCHÖKEL, Erzählkunst im Buche der Richter, Bib. 42 [1961] 143–172) oder „Rhetorical Criticism“ (vgl. z.B. die Beiträge in JACKSON, Rhetorical Criticism). Zur synchronen Analyse von alttestamentlichen Erzählungen vgl. im Übrigen auch S. TALMON, # , Jerusalem 19653 und J. LICHT, Storytelling in the Bible, Jerusalem 1978.
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in beiden Fragestellungen eigenständige methodische Ansätze mit deutlich unterschiedenen Frageinteressen zu sehen.146 M.E. wäre es jedoch nicht gerechtfertigt, „Diachronie“ und „Synchronie“ als Chiffren für unter|schiedliche exegetische Zielsetzungen zu verwenden, die dann womöglich auf das Banner verschiedener „Schulen“ geschrieben werden könnten. Dagegen spricht nicht nur die methodische Interferenz beider Ansätze, wie sie in einem kleinen Ausschnitt auch in dieser Arbeit deutlich wurde, es lässt sich vielmehr zeigen, dass dabei von vornherein eine Engführung der begrifflich-inhaltlichen Unterscheidung vorausgesetzt ist.147 Gleichwohl scheint mir die Gegenüberstellung Diachronie – Synchronie sinnvoll im Blick auf eine methodologische Strukturierung der exegetischen Fragestellungen. Abschließend sollen deshalb einige der hier zu bedenkenden Aspekte angesprochen werden.25–26 Im Blick auf synchrone Frageansätze sehe ich zunächst die Notwendigkeit, diese nach dem jeweils vorausgesetzten Kontext zu differenzieren. Setzt man ein Textmodell voraus, in das Autor(en) und Rezipient(en) als für die Sinnkonstitution des Textes wesentliche „Komponenten“ eingebunden sind, ergeben sich zumindest folgende Abgrenzungsmöglichkeiten für den synchronen Kontext eines (Einzel-)Textes: a) Der Einzeltext als sein eigener Kontext. b) Der Einzeltext als Teil eines größeren sprachlichen Kontextes.148 c) Der Text als Element seines pragmatischen/situativen Kontextes (seiner Kommunikationssituation).149 26 146 Vgl. FOKKELMAN zur Überlieferungsgeschichte: „… an independent object of research“ (Narrative Art [Anm. 55], 2, Anm. 7). Walsh (Genesis 2:4b–3:24 [Anm. 145], 161, Anm. 1) sieht eine Komplementarität: „Diachronic and synchronic exegesis must not be opposed as rivals but coordinated as complements“. Etwas eingehender reflektiert ALONSO-SCHÖKEL den Zusammenhang zwischen dem, was er „Stilanalyse“ und „Quellenkritik“ nennt (Erzählkunst [Anm. 145], 167ff.). 147 Was natürlich darin begründet ist, dass zuerst die entsprechende interpretatorische Fragestellung „da war“ und hernach mit dem Begriff „synchron“ belegt wurde. Allerdings wird sich zeigen, dass auch der inhaltliche Ansatz selbst schon in wesentlicher Hinsicht eine Verkürzung darstellt. 148 Genaugenommen wäre in diesem Fall anstatt von „Einzeltext“ von „Teiltext“ oder „Textabschnitt“ zu reden. 149 Die Einbettung des Textes in eine spezifische Kommunikationssituation wird v.a. in der Linguistik thematisiert, soweit sie die pragmatische Dimension in das zu entfaltende Textmodell aufnimmt. Aus der umfangreichen Literatur wären etwa U. MAAS / D. WUNDERLICH, Pragmatik und sprachliches Handeln (ASL 2), Frankfurt/Main 1972 und S.J. SCHMIDT, Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation (UTB 202), München 1973, zu nennen. E. GÜLICH / W. RAIBLE, Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten (UTB 130), München 1977, bieten eine Einführung in mehrere bisher vorgelegte texttheoretische Entwürfe. Schmidts texttheoretisches Modell, in dem die Kategorie des „Kommunikativen Handlungsspiels“ eine grundlegende
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d) Der Text (mit Produzenten und Rezipienten) innerhalb seines zeitgeschichtlichen Kontextes (Sozialgeschichte, politische Geschichte, Religionsgeschichte usw.). Es liegt auf der Hand, dass a) bis d) zwar jeweils verschiedene Bedeutungsaspekte des Textes thematisieren, gleichwohl sachlich, und damit methodisch, notwendig aufeinander bezogen sind. Dies folgt allein schon daraus, dass jeder der aufgezählten Kontexte in dem nachfolgenden enthalten ist, bzw. umgekehrt der jeweils umfassendere Kontext als Basis des spezifischeren zu sehen ist. In unserem Textbeispiel etwa ließ sich die Bedeutungsstruktur der Einzelszene erst von den Sinnzusammenhängen des Kontextes her genauer beschreiben: In mancher Hinsicht musste die Aus-
Rolle spielt, ist von C. HARDMEIER (Texttheorie und biblische Exegese. Zur rhetorischen Funktion der Trauermetaphorik in der Prophetie [BEvTh 79], München 1978) im Blick auf die Exegese alttestamentlicher Texte rezipiert und für die Auslegung prophetischer Texte fruchtbar gemacht worden. Zweifellos liegt bei diesem Textbereich eine entsprechende Fragestellung besonders nahe, da Prophetenworte oft in hohem Maße situationsspezifisch sind und von daher eine methodisch reflektierte Frage nach Sprecher/Autor und den jeweiligen Adressaten sowie deren Voraussetzungssituation verlangen. Zugleich ermöglicht diese Situationsgebundenheit auch in entsprechendem Maße den Rückschluss vom Text auf Elemente der Kommunikationssituation. Gerade derartige Rückschlüsse sind aber etwa bei Erzähltexten weit schwieriger. In ihnen wird das dargestellte Geschehen in jedem Fall von der Sprecher-Origo zeitlich (u.a. erkennbar an der temporalen Deixis), oft aber auch in der personalen und lokalen Deixis abgesetzt, sie sind also entsprechend situationsunspezifisch. Nicht zuletzt daraus resultiert wohl auch die grundsätzliche Wiederholbarkeit vieler Erzählungen bei verschiedenen Gelegenheiten. So liegt es nahe, bei Erzählungen zunächst nach grundlegenden Konstituenten ihrer Kommunikation zu fragen: mündlich oder schriftlich (Kriterien wären aus der empirischen Erzählforschung zu gewinnen)? fiktional oder nicht-fiktional (vgl. dazu im Folgenden)? usw. Im Übrigen scheint es mir für das Gros der alttestamentlichen Erzähltexte ausgeschlossen, den Bezug des Textes auf eine primäre, definierbare und einmalige Kommunikationssituation beschreiben zu können. Zumeist wird bestenfalls eine Erarbeitung des zeitgeschichtlichen Kontextes (siehe Punkt d) und der Textbedeutung in diesem Kontext für bestimmte Rezipienten möglich sein. (Bezeichnenderweise unternimmt Hardmeier den Versuch einer Einbeziehung der Textpragmatik in die Auslegung eines alttestamentlichen Erzähltextes bei einer in ihrem geschichtlichen Kontext relativ gut greifbaren Prophetenerzählung [Jes 7,1–9], in C. HARDMEIER, Gesichtpunkte pragmatischer Erzähltextanalyse. „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ – ein Glaubensappell an schwankende Anhänger Jesajas, WuD 15 [1979] 33–54). Von daher dürften übrigens auch einige der Schwierigkeiten der bisherigen Gattungsanalyse alttestamentlicher Erzähltexte zu verstehen sein: Die klassische Frage nach dem „Sitz im Leben“ konnte, soweit sie auf typische Kommunikationssituationen zielt, zumeist nur sehr wenige konkrete Ergebnisse zeitigen. Dies dürfte über die bekannten Probleme einer historisch-kritischen Rekonstruktion hinaus eben auch in der mehr oder weniger ausgeprägten Situationsabstraktheit der Erzählungen und – damit zusammenhängend – der nur vage zu bestimmenden Konstanz situativer Elemente begründet sein.
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legung zudem defizient bleiben, weil eine Erarbeitung des zeitgeschichtlichen Kontextes hier nicht möglich war. | 26–27 Festzuhalten ist jedenfalls, dass nach diesem Verständnis synchrone Fragestellungen sozusagen definitionsgemäß auf einen jeweils anzugebenden Kontext im engeren oder weiteren Sinn bezogen sind. Dies bedeutet nun aber (jedenfalls für den Bereich alttestamentlicher Texte) zugleich, dass eine ausweisbare synchrone Textanalyse als Bedingung ihrer Möglichkeit eine diachrone Abgrenzung ihres (zunächst: sprachlichen) Kontexts voraussetzt,150 es sei denn, man beschränkt sich willkürlich auf einen so umfassenden Kontext wie den Kanon. Eine synchrone Auslegung, welche diese grundlegende Voraussetzung außer acht lässt, wird methodisch beliebig, insofern die elementare, bedeutungskonstitutive Relation der Textelemente untereinander und zur jeweiligen Text„totalität“ in Ermangelung einer „Definition“ dieser Totalität nicht einmal präzise erfragt werden kann. Nehmen wir wieder die Pnuel-Szene als Beispiel, so liegt auf der Hand, dass sich die Deutung dieses Textabschnitts verändern wird, je nachdem, ob man das Gebet 32,10–13 zu seinem Kontext rechnet, oder nicht. Wieder andere Konsequenzen werden sich aus der Einbeziehung des folgenden Kontexts, etwa der Umbenennung Jakobs in 35,9ff. ergeben. Dem könnte man nun entgegenhalten, dass als Argument und Kriterien für die (diachrone) Textabgrenzung zumeist gerade in synchroner Perspektive gewonnene Einsichten in innere Textzusammenhänge (Verweisungen, Wiederaufnahmen, Strukturbeziehungen usw.) eine wesentliche Rolle spielen. Dies ist zweifellos richtig, doch wird damit „lediglich“ eine Variante des wohlbekannten hermeneutischen Zirkels aufgedeckt. Dieser verbietet es freilich, bei der eben beschriebenen Abhängigkeit synchroner Interpretationen von diachron-exegetischen Urteilen stehenzubleiben. Die Abhängigkeit ist offenbar gleichermaßen im umgekehrten Sinn gegeben, und zwar im Blick auf die wechselseitig sich bestätigenden, korrigierenden usw. Fragestellungen und Argumente.151 150 Vgl.
auch ALONSO-SCHÖKEL, Erzählkunst (Anm. 145), 167. sorgfältige Beobachtung und methodische Reflexion der argumentativen Relation zwischen Textbefunden, die aus unterschiedlichen Fragestellungen gewonnen sind, ist ein Desiderat der Exegese, sofern sie ihr Heil weniger in der Suggestivkraft ihrer Argumentationszusammenhänge als deren Durchsichtigkeit sucht. Die Schwierigkeiten ergeben sich u.a. aus der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit der Einzelphänomene. So ist damit zu rechnen, dass Strukturbezüge nicht primär, sondern ein Resultat der Überlieferungsgeschichte sind: Andererseits ist thematische Komplexität keineswegs ein zuverlässiges Indiz für diachrone Schichtung usw. Wichtig scheint mir v.a., die Implikationen und Präsuppositionen der Fragestellungen bewusst zu machen. So implizieren zweifellos Literarkritik und Strukturanalyse jeweils eine spezifische Heuristik mit entsprechenden Konsequenzen für die Analyse: Während die Kriterien der Literarkritik („unvereinbare Spannungen“, „störende Wiederholungen“ [vgl. G. FOHRER u.a., Exegese des Alten 151 Die
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Da die Diachronie eines Textes für den Exegeten immer nur in der Rekonstruktion geschichtlich aufeinanderfolgender Überlieferungsstadien beschreibbar ist, die je für sich eine synchron zu beschreibende Sinntotalität bilden, bleibt eine diachrone | Analyse, die nicht ebenso viel Mühe auf die Erarbeitung der synchronen Bedeutungszusammenhänge wie auf die der diachronen Schichtungen usw. verwendet, darüber hinaus schlicht unvollständig (ganz abgesehen davon, dass ihre Überprüfbarkeit wesentlich gemindert wird). 27–28 Beginnt man also, das Verhältnis synchroner und diachroner Ansätze bei einem Textbereich wie dem AT zu überdenken, wird man sogleich auf deren notwendige Interdependenz geführt. Selbstverständlich waren auch in der bisherigen exegetischen Arbeit in der Regel beide Fragehinsichten gegeben, freilich mit unterschiedlichen Gewichtungen. Dies lässt sich etwa an der traditionellen Pentateuchexegese demonstrieren. Die Rekonstruktion der sogenannten „Quellen“, also geschlossener sprachlicher Kontexte, die sich vom vorliegenden Textzusammenhang ganz wesentlich unterscheiden, stellt die mit der Dichotomie Diachronie – Synchronie angezeigten Probleme mit besonderer Deutlichkeit. Umso charakterisierender ist es, dass in der klassischen Zeit der Literarkritik alle Fragestellungen und Beobachtungen, also auch Hypothesen über deren vermeintliches Vokabular oder charakteristische theologische Haltungen, nahezu ausschließlich im Dienst der diachronen Abgrenzung der „Quellen“ standen. Erst mit den Arbeiten von Rads beginnt in größerem Umfang eine konsequente synchrone Analyse der „Quellen“ mit einem besonderen Interesse an ihrer Theologie152 (was zugleich freilich eine Engführung darstellte). Überhaupt sind die verstärkten Bemühungen um redaktionsgeschichtliche Fragestellungen in der neueren Exegese mit einer bewussteren Konzentration auf synchrone Aspekte der Texte verbunden. Trotz solcher sich verstärkender Tendenzen war (und ist) die Kritik an der vorherrschenden Exegese, dass sie in ihrer Fixierung auf die Frage Testaments. Einführung in die Methodik [UTB 267], Heidelberg 1973, 48ff.]) eindeutig der Uneinheitlichkeit des Textes nachspüren, wird in der Strukturanalyse unter Vorgabe der Einheitlichkeit gefragt, worin die Einheit besteht und wie sie zu beschreiben ist. – Etwas vereinfacht: Literarkritik fragt nach der Uneinheitlichkeit, Strukturanalyse nach der Einheitlichkeit der Texte. 152 Vgl. G. VON RAD, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs (BWANT 78), Stuttgart 1938 (= DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament [ThB 8], München 1958, 9–86; aber auch Arbeiten wie H.W. WOLFF, Das Kerygma des Jahwisten, EvTh 24 (1964) 73–98 (= DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament [ThB 22], München 19732, 345–373) und DERS., Zur Thematik der elohistischen Fragmente im Pentateuch, EvTh 29 (1989) 59–72 (= DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament [ThB 22], München 19732, 402–417. Zur Stellung dieses Ansatzes in der Pentateuchforschung und seiner Kritik vgl. RENDTORFF, Problem (Anm. 9), 2ff.103ff.
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nach dem Werden eines bestimmten Textes die Möglichkeiten literaturwissenschaftlicher Ansätze zur Struktur- und Bedeutungsanalyse nicht realisiert habe, berechtigt.153 28–29 Besonders M. Weiss hat diese Kritik in aller Deutlichkeit vorgetragen.154 Er plädiert für eine „Total-Interpretation“ (bzw. „Struktur-Analyse“) der biblischen Texte, bei welcher der Text als eine Sinneinheit (in seiner Inhaltsund Ausdrucksseite) | verstanden wird, deren Verstehen methodisch durch das Erkennen und Beschreiben der verschiedenen Einzelelemente in ihrer Funktion für das Textganze möglich wird: „Aus dem Wesen dieser Methode folgt die Folgerung: genaueste Beobachtung jedes Wortes, der Wortfolge, der rhetorischen Figuren, der syntaktischen Erscheinungen und der Fügung der Sätze, des Auftaktes der literarischen Einheit wie ihres Schlußakkords, ihres Gefälles vom Beginn bis am Ende, kurz – der Struktur … durch Befragung jedes sprachlichen und strukturalen Elements auf seine Funktion innerhalb des Ganzen, durch Beantwortung der Frage, wie alles Einzelne gleichsam umgeschmolzen ist in die gestalthafte Einheit des Ganzen“.155 Weiss erhebt für diesen Ansatz zwar keinen Ausschließlichkeitsanspruch, sondern stellt ihn neben die „philologisch-kritische Erforschung“ der Schrift – jedoch in einer eindeutigen Zuordnung: Für ihn ist die Strukturanalyse methodische „Vorbedingung“ für die diachrone Forschung.156 Nach den bisherigen Ausführungen ist das Recht dieser methodischen Bemerkung nicht zu bestreiten, doch ist in gleichem Maße auf ihre Umkehrung, nämlich die diachrone Definition der „Totalität“ als Bedingung der Möglichkeit einer Strukturanalyse hinzuweisen, mithin auf die schon skizzierte Interdependenz der Fragestellungen. Aber auch in anderer Hinsicht stellt Weiss’ Ansatz eine deutliche Verkürzung dar: Weiss orientiert sich ganz wesentlich an dem Konzept des „autonomen Kunstwerks“, wie es in den literaturwissenschaftlichen Schulen des New Criticism bzw. der Werkinterpretation157 vorausgesetzt wird/wurde. Verbunden ist mit diesem Kon153 Freilich mit Ausnahmen – so ist auf zahlreiche wichtige Beobachtungen und Auslegungen etwa in den Genesis-Kommentaren GUNKELs (Anm. 46) und VON RADs (Anm. 14) hinzuweisen. 154 Vgl. u.a. M. W EISS, (The Bible and Modern Literary Theory), Jerusalem 19672, v.a. 9–27; DERS., Wege der neueren Dichtungswissenschaft in ihrer Anwendung auf die Psalmenforschung, Bib. 42 (1961) 255–302; DERS., Einiges über die Bauformen des Erzählens in der Bibel, VT 13 (1963) 456–475; DERS., Die Methode der „Total-Interpretation“. Von der Notwendigkeit der Struktur-Analyse für das Verständnis der biblischen Dichtung, in: P.H.B. DE BOER u.a. (Hg.), Congress Volume Uppsala 1971 (VT.S 22), Leiden 1972, 88–112. 155 W EISS, Methode (Anm. 154), 93. 156 W EISS, a.a.O., 94f. 157 Vgl. z.B. R. W ELLEK / A. W ARREN, Theory of Literature, New York 1955; W. KAYSER, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1948, 1960 ; H. ENDERS (Hg.), Die Werkinterpretation (WdF 36), Darmstadt 1967.
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zept die Ausschließung oder zumindest Unterordnung aller historischer, literatursoziologischer usw. Fragestellungen. Für die Interpretation maßgebend ist danach allein das in sich ruhende, als Totalität zu verstehende Kunstwerk. 29–30 Nun ist schon in der neueren Literaturwissenschaft dieser Ansatz als eine Engführung der Textinterpretation erkannt und durch Versuche abgelöst worden, die zentrale Rolle von (Autor und) Leser bei der Bedeutungskonstitution eines Textes ernst zu nehmen.158 Aber auch ganz abgesehen von dieser wichtigen methodologischen Diskussion im Bereich der Literaturwissenschaft muss|te die Übertragung des Konzepts vom „autonomen Kunstwerk“ auf biblische Texte von Anfang an fragwürdig bleiben, und zwar weil die biblische „Literatur“ in einem wesentlichen Aspekt nicht mit dem Gegenstandsbereich der „Werkinterpretation“ zu vergleichen ist:159 Ist 158 In
der Literaturwissenschaft wird dies v.a. unter dem Stichwort „Rezeptionsästhetik“ diskutiert, vgl. R. WARNING (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis (UTB 303), München 1975; W. ISER, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636), München 1976; eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept des „autonomen Zeichens“ bzw. des „autonomen Kunstwerks“ in Formalismus und New Criticism von einer textpragmatisch orientierten Literaturwissenschaft her findet sich in L. FIETZ, Funktionaler Strukturalismus. Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 22), Tübingen 1976. Rezeptionsästhetische Ansätze in der Literaturwissenschaft verweisen auf die wesentliche Leserbezogenheit gerade auch fiktionaler Texte. Sie ist darin zu sehen, dass der Autor bei der Textproduktion den intendierten Leser antizipiert und über bestimmte Textstrategien (perspektivische Darstellungen, Evaluationen, Unbestimmtheitsstellen usw.) eine dem Text implizite Rezipientenrolle aufbaut (den „impliziten Leser“). Das Verstehen eines Textes erfordert demnach eine Art Interaktion zwischen Text und Rezipient, in deren Verlauf dieser „die Textbedeutung generiert“. Dabei wird er – soweit er dazu von seinen geschichtlichen, gesellschaftlichen, biographischen Voraussetzungen in der Lage ist – der textimpliziten Regie folgend die Rolle des impliziten Rezipienten besetzen und damit zugleich den Wirklichkeitsentwurf realisieren, der durch den Text repräsentiert wird. So sieht W. ISER die spezifische pragmatische Funktion fiktionaler Texte in der Konfrontation der Sinnentwürfe von Text (Autor) und Rezipienten, insbesondere in der „imaginäre(n) Bewältigung defizitärer Realitäten“ (ISER, Akt, 143). Zum Rezeptionsprozess bei Erzähltexten vgl. auch C. KAHRMANN / G. REIß / M. SCHLUCHTER, Erzähltextanalyse. Eine Einführung in Grundlagen und Verfahren, Bd. 1, Kronberg 1977, v.a. 55ff. 159 Nicht treffend scheint mir freilich der kritische Einwand bei K. KOCH, Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese, Neukirchen-Vluyn 1967, 20: „Diese Art von Stilkritik stößt allerdings gegenüber biblischen Büchern … auf ihre Grenzen; denn die vorausgesetzte, in sich geschlossene Individualität eines dichterischen Werks ist hier nirgends zu finden“. Nun ist zwar nicht ganz eindeutig, was unter „geschlossener Individualität“ zu verstehen ist, jedenfalls aber wird man zahlreichen Texteinheiten kaum eine spezifische, individuelle Gestalt abstreiten können (man denke z.B. an Gen 22 oder auch Gen 1 oder die Josephsgeschichte). WEISS (Methode [Anm. 154], 95f.) trennt zu Recht die Individualität eines Textes von der Frage der Traditionsgebundenheit seiner Elemente.
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für diesen konstitutiv, dass die Texte als fiktionale Texte rezipiert werden (d.h., als solche, deren „dargestellte“ Wirklichkeit durch den Text selbst aufgebaut wird, also nur im Medium des Textes „existiert“, folglich in ihrer Übereinstimmung mit der Erfahrungswelt des Hörers auch nicht einklagbar ist),160 so ist bei der Rezeption der biblischen Texte durch den intendierten Leser/Hörer die Textwelt nicht als „imaginär“ aus der Erfahrungswelt ausgrenzbar, in ihrer (geglückten) Rezeption wird sie vielmehr zu einem integralen Teil der Wirklichkeit des Hörers/Lesers.161 Noch selbstverständlicher als bei „Literaturwerken“ sollte es deshalb im Blick auf biblische Texte sein, dass ein synchrones Verstehen der Texte, welches deren konkrete Bedeutung für Autor und Hörer/Leser und ihre Erfahrungswirklichkeit nicht einbezieht, notwendig defizient bleiben muss. Eine Auslegung in umfassender synchroner Perspektive ist auch von daher unlösbar mit einer diachronen Exegese verknüpft,162 welche letztlich auf die Ge160 Eine überzeugende Bestimmung von „Fiktionalität“ im Rahmen eines texttheoretischen Ansatzes bietet S.J. SCHMIDT (Ist „Fiktionalität“ eine linguistische oder eine texttheoretische Kategorie? in: E. GÜLICH / W. RAIBLE [Hg.], Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht [Athenäum-Skripten Linguistik 5], Frankfurt/Main 1972, 59–71), der angesichts der Ausgrenzbarkeit der literarisch-ästhetischen Kommunikation innerhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation „Fiktionalität“ primär als sozio-kommunikative Kategorie, näherhin als eine bestimmte Erwartungshaltung des Rezipienten beschreibt, gemäß der ein fiktionaler Text „nichtbehauptend“ (d.h. ohne dass ihm ein „Wahrheitswert“ im engeren erkenntnistheoretischen Sinn zugeschrieben wird) zu rezipieren ist. Als materiales, textimmanentes Korrelat zu dieser kommunikativen Funktion der Fiktionalität deutet Schmidt die für „literarische“ Texte typische Polyvalenz der Textkonstituenten (z.B. die „strukturelle Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von Objekt- und Zeichenqualitäten der Textkonstituenten“ [a.a.O., 68]). Schon die Polyvalenz des literarischen Kunstwerks schließt es aus, dass seine Bedeutung durch die Referenz auf eine spezifische Kommunikationssituation vereindeutigt wird. Der fiktionale Text erweist sich damit als wesentlich situationsabstrakt – was wiederum der beschriebenen Rezeptionshaltung entspricht (oder auch durch sie konstituiert wird). 161 Als fiktional intendierter Erzähltext dürfte allein das Buch Jona in Frage kommen. Etwas anders als bei Erzählungen stellt sich die Frage der Fiktionalität z.B. bei Psalmen, insofern sie primär gar nicht Wirklichkeit abbilden wollen, sondern im weitesten Sinne Appellcharakter haben. In jedem Fall aber sind sie, sofern sie Gebete mit konkreten und eindeutigen Adressaten (Gott, die Gemeinde) darstellen, als nicht-fiktionale Texte anzusehen. Als Kontrast lässt sich etwa ein Psalm oder die Nachbildung eines Psalms in einer Gedicht-Anthologie vorstellen: In diesem Zusammenhang wird der Text zweifellos fiktional rezipiert werden. 162 Selbstverständlich folgt dieser methodische Zusammenhang von Diachronie und Synchronie letztlich daraus, dass ich den in die Interpretation einzubeziehenden „Hörer/Leser“ stillschweigend als den intendierten Rezipienten interpretiert habe, womit schon begrifflich die geschichtliche Perspektive impliziert ist. Doch sehe ich hierzu keine echte Alternative: Mit der Konstruktion eines abstrakten, sozusagen zeitlosen Rezipienten begäbe man sich der Möglichkeit, den Text in seiner/n konkreten Bedeutung/en zu verstehen. Ginge man sogleich von einem gegenwärtigen Leser aus, wäre die entsprechende
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schichte der alttestamentlichen Überlieferung in ihrer Einbettung in die Sozialgeschichte, Religionsgeschichte usw. Israels zielen sollte. Allerdings folgt aus der bekannten Schwierigkeit, dass uns – wenn überhaupt – das Wirklichkeitsbild der Hörer und ihre geschichtlichen Voraussetzungen in keinem Fall unabhängig von den auszulegenden Texten gegeben sind, das besondere Gewicht einer sorgfältigen textimmanenten Bedeutungs- analyse als Einstieg in den hermeneutischen Zirkel, bei der die methodische und heuristische Bedeutung der Fragestellungen einer strukturalen Analyse163 außer Frage stehen dürfte.164 30 Dabei wird auch der Umstand zu seinem interpretatorischen Recht kommen, dass nicht nur poetische Texte, Prophetenworte u.ä. eine bewusste, kunstvolle Gestaltung aufweisen, sondern – mit anderen Mitteln – auch die meisten Erzähltexte der hebräischen Bibel, deren Aussageintention in der Regel durch eine von der Autoreflexivität der sprachlichen Zeichen geprägte Erzählstruktur vermittelt und gesteigert ist. Wie vereinbart sich aber
Sinnkonstruktion kaum mehr methodisch auszuweisen, insofern ihre eigene Geschichtlichkeit ausgeblendet bliebe (ganz abgesehen von der Frage, welch ein Zeitgenosse vorausgesetzt werden sollte!). 163 Eine Selbsttäuschung ist es freilich, wenn Ausleger die Strukturanalyse gegenüber diachronen Analysen damit anpreisen, dass Strukturanalysen am „Text selbst“ (so z.B. FOKKELMAN, Narrative Art [Anm. 55], 1) orientiert seien, während Überlegungen zur Geschichte des Textes immer hypothetisch blieben. Zwar ist diese Einschätzung in gewisser Weise verständlich angesichts der oft mehrfach potenzierten Forschungshypothesen, doch ist selbstverständlich auch eine synchrone Deutung der Textzusammenhänge alles andere als voraussetzungslos. Schon die Beschreibung von Strukturzusammenhängen setzt eine Abstraktion, mithin Selektion und Wertung durch den Ausleger voraus, erst recht die inhaltliche Deutung struktureller Beziehungen, zumal aus einer beträchtlichen geschichtlichen Distanz. Die Rückbindung an die Intentionalität des Textes (im Sinn der alttestamentlichen Autoren/Tradenten bzw. Rezipienten) als methodische Zielvorgabe kann auch vor allzu schöpferischen und unkontrollierten Sinnkonstruktionen bewahren. (Der naheliegende Einwand, dass Dichter bekanntlich nicht immer die besten Interpreten ihrer eigenen Werke seien, wäre nur diskutabel, falls man diese Texte in der Tat als fiktionale Dichtungen zu goutieren beabsichtigte). 164 Freilich repräsentieren die hier angedeuteten Strukturen schon eine relativ „hohe“ Ebene der Textgestaltung. Sie setzen elementare Aspekte der Textkohärenz voraus (bzw. schließen sie ein), wie sie bei jedem Textzusammenhang gegeben sind (anaphorische und kataphorische Textverweisungen durch Pronominalisierungen, Substitutionen, Wiederaufnahmen usw.; semantische Kohärenz durch Isotopie-Ebenen usw.). Vgl. dazu u.a. W. KALLMEYER, Lektürekolleg zur Textlinguistik (2 Bde.) (Fischer-Athenäum-Taschenbücher 2050/2051), Frankfurt/Main 1974. Derartige theoretische Ansätze werden mit alttestamentlichen Beispielen vorgestellt von F. SCHICKLBERGER, Biblische Literarkritik und linguistische Texttheorie. Bemerkungen zu einer Textsyntax von hebräischen Erzähltexten, ThZ 34 (1978) 65–81; vgl. auch K. BERGER, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung (UTB 658), Heidelberg 1977, 11ff. In FOHRER, Exegese (Anm. 151), wird diese Ebene der Textanalyse offenbar im Anschluss an RICHTER, Exegese als Literaturwissenschaft (Anm. 144), unter der Überschrift „Strukturanalyse“ thematisiert.
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mit diesem Tatbestand die oben betonte Unterscheidung biblischer Texte vom fiktionalen literarischen Kunstwerk, das nicht zuletzt durch solche Strukturen charakterisiert ist? Spätestens hier wird | sichtbar, dass eine „einfache“ Zuordnung zur binären Opposition „fiktional :: nichtfiktional“ der Mehrzahl der alttestamentlichen Erzählungen wohl nicht gerecht wird.165 Gleichwohl kann die Fiktionalität als Beschreibungskategorie dienlich sein, wobei sich freilich ein komplexeres Bild ergibt. Dies sei hier knapp skizziert, wobei ich mich auf die thetische Aufführung der drei in meiner Sicht wesentlichen Aspekte beschränke:30–31 a) Zum einen kann die Rezeption der angesprochenen Texte durch die intendierten Hörer/ Leser nicht als fiktional bezeichnet werden, insofern die Texte für diese zweifellos referentielle Wirklichkeit abbilden und diese Wirklichkeit zumindest durch geschichtliche Kontinuität auf die Kommunikationssituation bezogen ist. b) Zum anderen spricht einiges dafür, dass sich ihre Rezeption durch die intendierten Hörer/Leser gleichwohl von der (anderer) nicht-fiktionaler Texte unterscheidet, insofern die potentielle Überprüfbarkeit der „empirischen Verlässlichkeit“ des Mitgeteilten keine erkennbare kommunikative Rolle spielt.166 c) Schließlich zeigen diese Texte für den neuzeitlichen Ausleger typische Merkmale fiktionaler Texte: v.a. polyfunktionale Vertextung (insbesondere: Autoreflexivität der Textelemente) und/oder Nichtübereinstimmung von Textwelt und Erfahrungswelt.167 M.E. könnte es sich bewähren, der Gruppe solcherart zu beschreibender Erzähltexte den Gattungsbegriff „Sage“ zuzuordnen. Jedenfalls scheint mir diese Bestimmung am ehesten geeignet, den größten Teil der oft in Thematik und Erzählweise so verschiedenen Texte,168 die üblicherweise als „Sagen“169 bezeichnet werden, zu umfassen. Hervorzu165 Auch
FOKKELMAN (Narrative Art [Anm. 55], 6f.) sieht hier offenbar ein Problem, doch scheint es mir wenig ratsam, nach seinem Vorgang für das Alte Testament einen eigenen Begriff der „Fiktionalität“ zu postulieren, der einschließe, was das alte Israel „meant by historicity“. 166 Damit dürfte ein Unterscheidungsmerkmal etwa zur „Geschichtsschreibung“ gegeben sein. Auf den ersten Blick scheint b) nun doch auf eine fiktionale Rezeption hinauszulaufen, besonders wenn man wie S.J. Schmidt das Merkmal [+ Fiktionalität] mit [- einklagbarer Wahrheitswert] gleichsetzt (SCHMIDT, „Fiktionalität“ [Anm. 160], 64, vgl. auch 70). Ergibt sich dann nicht ein Widerspruch zwischen a) und b)? – Freilich nur unter der Voraussetzung, dass sprachliche Äußerungen allein dann als „Behauptungen“/ „Aussagen“ zu qualifizieren sind, wenn bei den Kommunikationspartnern ein grundsätzliches und kommunikativ wirksames Interesse an deren (empirischer) Verifizierbarkeit gegeben ist. Für diese Voraussetzung sprechen sicherlich darin aufgenommene Bemühungen um sprachlogische Definitionen von „Urteil“, „Behauptung“ usw., doch ist mir fraglich, ob sie sich bei der Beschreibung sprachlicher Kommunikationsbedingungen durchhalten lässt (vgl. jede Art von autoritativ „begründeten Glaubensaussagen“ u.Ä.m.). Wer für die linguistische Metasprache die sprachlogisch definierte Begrifflichkeit nicht antasten möchte, müsste ersatzweise wohl die binäre Opposition „fiktional“ :: „nichtfiktional“ auflösen und erweitern. 167 Genauer: die Unvereinbarkeit der jeweiligen Wirklichkeitsbilder. 168 Die ganz erheblichen inhaltlichen und erzählerischen Unterschiede z.B. zwischen Genesis-Erzählungen und europäischen Volkssagen, v.a. aber auch innerhalb dieser Gruppen, lassen es mehr als fraglich erscheinen, ob die Bestimmung distinktiver Merkmale von Sagen gerade bei Eigentümlichkeiten der Erzählweise einsetzen kann (vgl. z.B.
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heben ist außerdem, dass in dieser Definition der bisher zumeist implizit vorausgesetzte geschichtliche Standort des Auslegers explizit markiert ist. „Sage“ in diesem Sinne ist also definitionsgemäß eine „analytische“ Kategorie.31–32
Die vorstehenden Überlegungen zu Synchronie und Diachronie in der alttestamentlichen Exegese lassen sich nun dahingehend zusammenfassen, dass zwischen beiden Fragedimensionen weit mehr als eine Relation der „Komplementarität“ besteht: Zum ersten stehen sie in einer unbezweifelbaren methodischen Interdependenz. Zum zweiten zielen beide Perspektiven, sofern sie nicht willkürlich verkürzt werden, notwendig auf den gleichen umfassenden Bezugsrahmen der Textinterpretation. In Analogie zur Differenzierung der synchronen Kontextbereiche wird man sinnvollerweise auch die diachronen Fragestellungen nach dem jeweils vorausgesetzten (geschichtlichen) Kontext zu unterscheiden haben (so etwa im Sinne der üblichen Differenzierungen von „Überlieferungsgeschichte“ des Textes, „Traditionsgeschichte“ der in ihm aufgenommenen Themen, Motive usw.170). Der Begriff des Kontex|tes wird damit natürlich noch einmal ausgeweitet, doch bietet er sich insofern an, als seine Verwendung die in der hermeneu-
KOCH, Formgeschichte [Anm. 159], 182f.). So „gelten“ schon die immer wieder genannten „Gesetze“ (Olrik) der Dreizahl der handelnden Personen sowie der „szenischen Zweiheit“ für zahlreiche Genesiserzählungen nicht (z.B. Gen 2/3; 12,10–20; 18,1–16; 19; 20; 23; 24; 27 u.a.m.). 169 W ESTERMANN s Bedenken (Genesis [BK I/2], Neukirchen-Vluyn 1977ff., 40f.) gegen die Verwendung der Gattungsbezeichnung „Sage“ für die Vätergeschichten der Genesis kann ich aus zwei Gründen nicht teilen: Erstens ist im üblichen (deutschen) Sprachgebrauch „Sage“ keineswegs „fast oder ganz identisch“ mit „Heldensage“, weder in der Umgangssprache noch gar in der allgemeinen Sagenforschung, die sich nur zum kleineren Teil mit so etwas wie Heldensagen befasst (vgl. etwa L. PETZOLDT [Hg.], Vergleichende Sagenforschung [WdF 152], Darmstadt 1969 und L. RÖHRICH, Sage und Märchen, Erzählforschung heute, Freiburg/Brsg. 1976). Zweitens ist es heute nicht mehr möglich, die Vätergeschichten in den Nachfolge Jolles’ dem Typus nach mit den Isländer-Sagas zusammenzustellen, um hier Belege für den Erzählungstyp „Familienerzählungen“ zu finden, da die neuere Forschung zu den „Sagas“ überwiegend davon ausgeht, dass diese ursprünglich rein fiktionale Literatur darstellten (vgl. W. BAETKE [Hg.], Die Isländersaga [WdF 151], Darmstadt 1974, VIIff.). (Im Übrigen sehe ich hier einen Beleg [dessen es freilich nicht bedurft hätte] dafür, dass der unmittelbare Rückschluss von der „erzählten Welt“ (Welt = Familie) auf die „Welt der Erzähler“ („Väterzeit“) (vgl. WESTERMANN, Genesis, 89f.) die erstere unzulässig hypostasiert.) 170 Die Zuordnung der unter „Formgeschichte“ laufenden Frage nach der Gattung des Textes zu einem Kontextbegriff ist komplizierter und differiert in zweierlei Hinsicht: 1. Im Unterschied zu bisher angesprochenen syntagmatischen Kontexten ist der Text als Gattungsexemplar auf einen paradigmatischen „Kontext“ bezogen. 2. Gattungsstrukturen selbst können als virtuelle und abstrakte Normen der Kommunikation (vgl. HARDMEIER, Texttheorie [Anm. 149], 260f.) – analog zu Sprachsystemen – sowohl synchron als auch diachron (Gattungsgeschichte) analysiert werden.
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tischen Diskussion171 formulierte, elementare Einsicht in die Kontextgebundenheit jedes partikularen Sinnverstehens aufnimmt. Der „umfassende Bezugsrahmen“ der Auslegung wird von daher durch das Ganze der vielfältigen Kontexte konstituiert, die – bildlich gesprochen – in jeder Überlieferungsstufe des Textes wie in einem Schnittpunkt zusammentreffen.32 Ist die hier skizzierte Sicht der Dinge im Grundsatz sinnvoll, wird sich – um zum Anfang dieses Abschnitts zurückzukehren – jede Tendenz zu einer letztlich arbeitsteiligen Exegese als inadäquat erweisen.
171 Vgl.
den Überblick bei W. PANNENBERG, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/Main 1973, 157ff. (Kap. 3).
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus Ein Gespräch mit neueren Endredaktionshypothesen Der Auflösungsprozess der herkömmlichen Urkundenhypothese und insbesondere der „jahwistischen Quellenschrift“ im Pentateuch vollzieht sich seit drei Jahrzehnten in zunehmender Intensität, wenn auch nicht immer zielstrebig und mit einer eher verwirrenden Vielfalt divergierender Problemstellungen und Hypothesen. Zu einem guten Teil mag dies mit der Komplexität des Gegenstands zusammenhängen, und nicht von ungefähr waren bereits die ersten (wirksamen) Anstöße zur neueren Pentateuchdebatte1 von durchaus unterschiedlichen Frageinteressen geleitet: Während für J. Van Seters und H.H. Schmid seinerzeit die relative Spätdatierung der vermeintlich alten Quellentexte im Vordergrund stand, stellte R. Rendtorff vorrangig den literarischen Bestand von „J“ selbst in Frage. Die (zögerlich, aber zunehmend akzeptierten) Spätdatierungen stützten sich primär auf traditionsgeschichtliche Verortungen des nichtpriesterlichen Pentateuchmaterials. Dessen literargeschichtliche Genese konnte dabei weitgehend offen bleiben (H.H. Schmid) oder im Sinne eines relativ einfachen Autorenmodells erklärt werden (Van Seters). 119–120 Rendtorffs Auflösung des „Jahwisten“ stützte sich demgegenüber auf G. von Rads und M. Noths überlieferungsgeschichtliche Annahmen eigenständiger „Pentateuchthemen“ und setzte deren Genese und Zusammenwachsen nicht vor bzw. in den herkömmlichen Pentateuchquellen an, sondern an deren Stelle. Dies führte ihn zu einem Blockmodell der „größeren Einheiten“: Urgeschichte, Vätergeschichte, Israel in Ägypten, Sinaiperikope, Israel in der Wüste, Landnahme im Ostjordanland, die jeweils ihre separate Geschichte | hatten und erst relativ spät durch übergreifende „Bearbeitungen“ verknüpft wurden.2 1 Vgl. J. VAN S ETERS, Abraham in History and Tradition, New Haven/London 1975; H.H. SCHMID, Der sogenannte Jahwist. Beobachtungen und Fragen zur Pentateuchforschung, Zürich 1976; R. RENDTORFF, Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch (BZAW 147), Berlin/New York 1976. 2 Dabei schrieb Rendtorff der „priesterlichen Bearbeitung“ zunächst eine geringere Reichweite (und zeitliche Priorität) im Vergleich mit seiner „deuteronomischen“ zu; s. RENDTORFF, Problem (Anm. 1), 160ff.
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Meine eigene Analyse wurde methodisch nicht von (dem frühen) v. Rad und Noth angeregt, sondern von H. Gunkels Beobachtungen zu den Erzählkreisen in der Genesis. Gunkel – dem Anspruch nach – „vom Kopf auf die Füße gestellt“ führt nicht in eine mündliche Vorgeschichte der Sagenüberlieferung, sondern auf die Literargeschichte narrativer Kompositionen. Dieser Zugang bestätigte die eigenständige Genese der Textsubstanz der Vätergeschichte (Gen *12–50)3 und legte als Grundlage von *Ex(ff.) eine die Vita Moses umfassende Erzählung nahe.4 Beide Komplexe wurden erst in frühpersischer Zeit durch die „D-Komposition (KD)“ verknüpft, wobei die Zäsur zwischen Väter- und Exodusgeschichte sich noch im kompositionellen Profil von KD deutlich abzeichnet.5 120–121 Andere Neuanalysen gingen demgegenüber weniger von den narrativkompositionellen Bögen und Zäsuren aus, als von dem Modell durchlaufender Schichten, sei es in einer Quelle oder in mehreren redaktionellen Strata. Dabei meinte man – aus welchen Gründen auch immer – zugleich an den herkömmlichen Siglen der Urkundenhypothese festhalten zu sollen, ein Umstand, der nicht unbedingt zur Klärung beitrug. Jedenfalls kommen die Versuche, so etwas wie einen „Jahwisten“ zu erhalten, im Licht der Quellenhypothese(n) jeweils einer Neuerfindung des „J“ gleich.6 Und die Vorschläge reichen hier von der Zuschreibung des Materials der vormaligen „J“- und „E“-Quellen zu einem Yahwist, der am ehesten einem Historiker wie Hero|dot zu vergleichen sei (Van Seters)7, über redaktionsgeschichtliche 3 E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn 1984. Eine ähnliche Sicht entwickelte M. KÖCKERT, Vätergott und Väterverheißungen (FRLANT 142), Göttingen 1988; vgl. sodann bes. D. CARR, Reading the Fractures of Genesis, Louisville 1996. Zur Eigenständigkeit der Urgeschichte grundlegend: F. CRÜSEMANN, Die Eigenständigkeit der Urgeschichte. Ein Beitrag zur Diskussion um den Jahwisten, in: Die Botschaft und die Boten (FS H.W. Wolff), hg. von J. Jeremias und L. Perlitt, Neukirchen-Vluyn 1981, 11–29. 4 E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin/New York 1990, 215ff. 5 In Gen 12ff. beschränkt sich KD selbst auf punktuelle Bearbeitungen, in *Ex/*Num hat sie z.T. in die vorgegebene Erzählsubstanz transformierend eingegriffen. Entsprechend lassen sich in Gen 12ff. die Konturen der Überlieferungsgenese noch sehr viel deutlicher nachzeichnen. 6 In klarerer Abgrenzung präsentiert sich dagegen das sog. „Münsteraner Modell“, das eine Kombination aus Erzählkreis-, Quellen- und Redaktionsmodell anstrebt. Darin wird zwar ein von Gen 12 bis Jos 24 reichendes vorexilisches Werk (das „Jerusalemer Geschichtswerk“) angesetzt, doch kennt dieses zum einen keine Ausgrenzung eines „E“-Fadens, zum anderen gehören ehedem klassische „J“-Texte wie Gen 12,1–3 (und die Urgeschichte) nicht dazu; vgl. E. ZENGER u.a., Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1/1), Stuttgart u.a. 19953, 119ff.162ff. 7 J. VAN S ETERS, Prologue to History. The Yahwist as Historian in Genesis, Zürich 1992; DERS., The Life of Moses. The Yahwist as Historian in Exodus–Numeri, Kampen 1994.
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Aufgliederungen („frühes J-Material“ – „E-Redaktion“ – „späte J-Redaktion“, H.-C. Schmitt)8 bis zu einer fortlaufenden Redaktionsschicht im Dickicht zahlreicher Fortschreibungen, einer Schicht, die in Ex/Num freilich kaum mehr als eine Schwundstufe des alten „J“ darstellt (C. Levin)9. 121 In rezenten Analysen scheint dagegen wieder die Sicht kräftigen Zuspruch zu finden, wonach mit einer primären literargeschichtlichen Eigenständigkeit der (vorpriesterlichen) Urgeschichte,10 der Vätergeschichte (K. Schmid)11 bzw. der Exodus-Mose-Geschichte (Schmid u. J.C. Gertz)12 zu rechnen ist. Sollte sich dies weiter bewähren, bedeutet es in der Tat den endgültigen „Abschied vom Jahwisten“.13 Die erste literarische Verknüpfung der Komplexe wird dabei mit einer nachpriesterlichen Redaktion identifiziert, welche das vorpriesterliche Material und die eigenständige „Priesterschrift“ zusammengearbeitet habe; bevorzugt wird dafür der Begriff der „Endredaktion“ gebraucht.14 Demgegenüber hatte ich in meinem Erklärungsmodell die Priorität bei dieser Verknüpfung „KD“ zugeschrieben. Nun böte die relative Zuordnung von KD und KP in zeitlicher Hinsicht keine weitreichende Alternative, da beide Kompositionen im Wesentlichen kontemporär angesetzt sind.15 8 Vgl. beispielsweise die zusammenfassende Darstellung eines solchen auf F.V. Winnett, J. Van Seters (Abraham) und O. Kaiser zurückgehenden Ansatzes in H.-C. SCHMITT, Die Hintergründe der „neuesten Pentateuchkritik“ und der literarische Befund der Josefsgeschichte Gen 37–50, ZAW 97 (1985) 161–179. 9 C. LEVIN, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen 1993. 10 CARR, Reading (Anm. 3), 233ff.; M. WITTE, Die biblische Urgeschichte. Redaktionsund theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1–11,26 (BZAW 265), Berlin/ New York 1998; N.C. BAUMGART, Die Umkehr des Schöpfergottes. Zu Komposition und religionsgeschichtlichem Hintergrund von Gen 5–9 (HBS 22), Freiburg 1999. 11 K. SCHMID, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments (WMANT 81), Neukirchen-Vluyn 1999, vgl. davor bereits CARR, Reading (Anm. 3). 12 J.C. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch (FRLANT 186), Göttingen 2000. 13 Diese Nomenklatur wird denn auch bei K. Schmid und Gertz vermieden. Der Gebrauch von „E“ für eine „Grundschrift“ in Ex und von „J“ für die in Gen bei R.G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments (UTB 2157), Göttingen 2000, (zur Begründung a.a.O., 288f.) treibt dagegen das Etikettenspiel auf die Spitze. 14 So jedenfalls Witte und Gertz; E. Otto spricht vom „Pentateuchredaktor“. Der Einfachheit halber wird im Folgenden unter „Endredaktionshypothesen“ auch das Modell von K. Schmid subsumiert, obschon er den Begriff nicht zu benutzen scheint. 15 BLUM, Studien (Anm. 4), 5.339ff. Schmids Versuch, meine Sicht sowie die von Van Seters (nicht-P in Gen–Num geht auf einen Autor zurück) und Levin (J als Redaktion, die substantiell vor allem in *Gen zu erkennen ist) ihrer Grundstruktur nach gleichzusetzen (z.B. SCHMID, Erzväter [Anm. 11], 190), setzt eine ausgeprägte Vogelperspektive voraus. In dieser wäre dann freilich auch sein Modell analog einzuordnen; vgl. sein Resümee (a.a.O., 373) mit der Formulierung oben bei Anm. 5. Im Übrigen enthält Schmids ältester
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Sobald | es aber um die konkrete Deutung geht, schlägt die diachrone Relationierung auf das spezifische Sachprofil der jeweiligen Kontexte durch. Allein schon aus diesem Grund lohnt es sich, die Problematik der literarischen Verbindung der Genesis- und Exoduskomplexe in Auseinandersetzung mit den jüngsten Analysen neu zu bedenken. In Verbindung mit anderen, neu beleuchteten „Mosaiksteinen“ wird sich dabei die Notwendigkeit einer (partiellen) Revision meines bisherigen Bildes von KD ergeben. 121–122 Aus verschiedenen Gründen kommt der Sicht von Ex 3–4 (wie schon für der Urkundenhypothese, so auch) für unseren Fragehorizont eine Schlüsselrolle zu. Dieser Textbereich soll deshalb – im Gespräch vor allem mit den wichtigen Arbeiten von Schmid und Gertz – zunächst im Mittelpunkt stehen. Vorab muss betont werden, dass es in den folgenden Überlegungen zur Verbindung von Erzeltern- und Exodusüberlieferung allein um die literarhistorische Verknüpfung geht, nicht um traditionsgeschichtliche Zusammenhänge. Insbesondere J. Van Seters, Th. Römer und A. de Pury haben die vielbeachtete These ausgearbeitet, wonach Vätertradition und Exodustradition bis in die Exilszeit als verschiedene, ja konkurrierende Ursprungstraditionen Israels zu gelten hätten.16 Wie immer es damit in älteren Zeiten gestanden haben mag, für keinen der einschlägigen biblischen Belege erscheint es mir nachweisbar oder auch nur wahrscheinlich, dass Väter(Jakob)- und Exodustraditionen kognitiv als alternative Ursprungsgeschichten gesehen worden wären. Insbesondere der von de Pury angeführte locus classicus Hos 12 scheint mir exakt das Gegenteil zu erweisen: Wenn Hos 12 die Israeliten als „Jakob“ und zugleich als aus Ägypten Heraufgeführte anspricht und wenn es ihnen dabei die alternative paradigmatische Orientierung entweder an Jakob oder am prophetisch geleiteten „Mose-Israel“ vorhält, dann setzt es die kognitive Geltung beider Ursprungserzählungen voraus!17 Auch ihre konzeptionelle („geschichtliche“) Zuordnung ergab sich für Gruppen, die daran ein Interesse hatten, „von selbst“ – aus dem einfachen Grund, weil es dafür nur eine Möglichkeit gibt. Dass die konzeptionelle von der literarischen Verbindung strikt zu unterscheiden ist, zeigt sich darüber hinaus (u.a.) an Befunden der Erzelterngeschichte: (a) Die Josepherzählung, auch als selbständige „story“, setzt die Abfolge von Väter- und Ägyptenzeit konzeptionell voraus. (b) Die Abraham-
‚tetrateuchischer Ordnungsfaden‘ in Gen (und Ex 3f.) keine anderen Texte als die, welche KD (oder später) zugeordnet sind. 16 J. VAN SETERS, Confessional Reformulation in the Exilic Period, VT 22 (1972) 448–459; TH. RÖMER, Israels Väter. Untersuchungen zur Väterthematik im Deuteronomium und in der deuteronomistischen Tradition (OBO 99), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 1990; A. DE PURY, Le cycle de Jacob comme légende autonome des origines d’Israel, in: J.A. EMERTON (Hg.), Congress Volume Leuven 1989 (VT.S 43), Leiden u.a. 1991, 78–96, bes. 88ff.95f.; DERS., Osée 12 et les implications pour le débat actuel sur le Pentateuque, in: P. HAUDEBERT (Hg.), Le Pentateuque (LecDiv 151), Paris 1992, 175–207; aufgenommen z.T. bei SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 75–89. 17 Vgl. im Einzelnen E. BLUM, Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22, in: Rethinking the Foundations (FS J. Van Seters [BZAW 294]), hg. von S.L. McKenzie und Th. Römer (Hg.), Berlin/New York 2000, 33–54, darin 44–48.
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Sara-Erzählung Gen 12,10ff. ist bekanntlich als Präfigu|ration des Exodus gezeichnet18; sie ist gleichwohl in einer literarisch selbständigen Vätergeschichte zu verorten. (c) Entsprechendes gilt für kompositionelle Bezugnahmen darauf in Gen 26,1f.; 46,1ff.19 122–123
1. Die Moseberufung in Ex 3–4 und die Endredaktionshypothesen Die Berufung des Mose in Ex 3f. bildet den ersten großen Programmtext im Exodusbuch, der nicht nur den eigentlichen Exodus in seinem Ablauf vorankündigt und deutet (bes. 3,18–22), sondern darüber hinaus dessen Ziel, die Landgabe (3,8.17), mit dem Gottesberg als Zwischenstation (3,12). Innerhalb der KD-Hypothese ist diese profilierte kompositorische Stellung in diachroner Perspektive mit der These verbunden, dass der Abschnitt insgesamt eine kompositionelle Bildung darstellt innerhalb und für die Komposition, welche erstmals die zuvor eigenständigen Erzväter- bzw. Moseüberlieferungen literarisch miteinander verknüpfte. Strukturanalog ist die Verortung des Textes in den Endredaktionshypothesen von Schmid und Gertz, allerdings mit dem Unterschied, dass hier die (endredaktionelle) Schicht von Ex 3f. darüber hinaus mit der Redaktion identifiziert wird, welche die älteren Überlieferungen und eine eigenständige „Priesterschrift“ ineinander gearbeitet habe. Solchen kompositions- bzw. redaktionsgeschichtlichen Profilierungen von Ex 3f. ist die offenbar zunehmend konsensfähige Beobachtung günstig, dass die gesamte Berufungsepisode in Ex 3,1–4,18 (mit dem „P“-Stück 2,23a–25) einen (in sich mehrschichtigen) Einschub in die ältere Erzähllinie darstellt, in der 4,19 unmittelbar an 2,23a anschließt.20 Nimmt man die LXX-Lesart in 4,19, welche die Notiz von 2,23a wiederholt, als lectio difficilior ernst, dann war der Einschub ursprünglich sogar noch durch die Wiederaufnahme markiert. So sperrig dieser Befund für jede These durchlaufender „Quellen“ in diesem Bereich bleibt, lässt er einen breiten Raum für unterschiedliche Spielarten redaktions- oder kompositionsgeschichtlicher Analysen, insbesondere hinsichtlich der literarischen Einheitlichkeit und der Verhältnisbestimmungen gegenüber der priesterlichen Schicht in Ex 2,23a–25 etc. |
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BLUM, Komposition (Anm. 3), 309f. mit älterer Lit. BLUM, a.a.O., 298ff.; vgl. CARR, Reading (Anm. 3), 178; SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 114. Zu Gen 46,1ff. s.u. 1.2. 20 Vgl. BLUM, Studien (Anm. 4), 20ff. mit detaillierter Argumentation und den entsprechenden Einzelstimmen in der älteren Lit. Für die neuere Rezeption vgl. bspw. SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 189 (mit Anm. 112.114); GERTZ, Tradition (Anm. 12), 255ff. KRATZ, Komposition (Anm. 13), 289 mit Anm. 78, hält umgekehrt 4,19 für sekundär, ohne aber zu erklären, weshalb „die in V. 18 geäußerte Absicht Moses nachträglich auf den Befehl Jhwhs zurück[geführt]“ werden sollte, wenn (bei ihm) 4,18 unmittelbar auf 3,1–8.21–22 folgte. 19
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1.1 Ex 3–4 – ein ganz oder teilweise nachpriesterlicher Abschnitt? Die in neuerer Zeit vorgestellten Endredaktionshypothesen stehen und fallen mit der Annahme, dass Ex 3f. zu wesentlichen Teilen (d.h. nicht allein in Ex 4) neben nicht-priesterlichen Überlieferungen auch die priesterliche Textschicht voraussetzt und sich darauf bezieht.21 Da für diese Verhältnisbestimmung zu P die innere Schichtung in Ex 3f. methodisch keine tragende Rolle spielt, können wir letztere Frage (zumindest für Kap. 3) zunächst noch zurückstellen. Dagegen sollen die zugunsten einer Abhängigkeit von P vorgetragenen Gründe genauer geprüft werden, zunächst mit Blick auf Ex 3. Hierbei ist zu beachten, dass die Argumente in den einschlägigen Arbeiten durchaus nicht einmütig vertreten werden; sehr grob lassen sich drei Argumentationslinien unterscheiden: 124 (1) Von grundlegender Art ist die These bei Schmid, in Ex 3,1ff. sei der P-Abschnitt Ex 2,23a–25 erzählerisch vorausgesetzt. Danach verweist die Rede vom „Schreien“ der Israeliten in 3,7.9 „der Sache nach auf Ex 1f., der Sprache nach aber deutlich auf Ex 2,23a ( $ ) zurück, von einem Notgeschrei der Israeliten verlautet in Ex 1f. sonst nichts“22. Nun bildet „der Sprache nach“ die Formulierung mit dem bei weitem geläufigsten Ausdruck kaum einen so „deutlich“ markierten Verweis auf einen Abschnitt, der neben $ Ausdrücke wie nif. und aufweist, dass sich daraus diachrone Folgerungen ableiten ließen.23 Aber auch der Sache nach repräsentieren die Aussagen in 3,7.9 im nichtpriesterlichen narrativen Zusammenhang von Ex 1–3 keine Leerstelle, die erst durch 2,23a–25 geschlossen würde: Es ist die in 1,11f. berichtete Unterdrückung durch Zwangsarbeit, die in 3,7.9 sachlich und sprachlich ( pi. / ) aufgenommen wird; dabei sind die in 3,7.9 thematisierten Klagen der Unterdrückten für die Leser mit der Notschilderung24 sachlich präsupponiert. Tatsächlich wurden zu unserer Stelle bereits alttestamentliche Analogien benannt, die
21 Aus verschiedenen Perspektiven wurde diese Sicht m.W. erstmals von H.-C. SCHMITT, Redaktion des Pentateuch im Geiste der Prophetie, VT 32 (1982) 170–189, darin 186, vertreten, dann von E. OTTO, Die nachpriesterschriftliche Pentateuchredaktion im Buch Exodus, in: M. VERVENNE (Hg.), Studies in the Book of Exodus (BEThL 126), Leuven 1996, 61–111, darin 101ff.; SCHMID, Erzväter (Anm. 11); GERTZ, Tradition (Anm. 12). 22 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 193. Vgl. auch OTTO, Pentateuchredaktion (Anm. 21), 107. 23 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 285, möchte im Nebeneinander der Verben , und in 2,24f und 3,7, das erst mit einer „endredaktionellen“ Ergänzung in 3,7b komplettiert worden sei, einen spezifische Aufnahme sehen. Nun handelt es sich aber bei diesen Ausdrücken um die hebräischen Grundlexeme für „Wahrnehmung“; das spezifische $ in 2,24 (mit !) hingegen hätte sich dieser Redaktor als intratextuellen Verweis entgehen lassen! S. auch u. vor Anm. 55. 24 Dazu gehört auch Ex 2,11; in gewisser Weise aber auch 3,7b.9b selbst.
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den Lesern vergleichbare | Rückschlüsse zumuten; so verweisen R. Kessler25 auf Gen 18,20f.; 19,13 und Gertz auf Gen 16,11.26 124–126 (2) Des Weiteren werden von Schmid und Gertz – man möchte sagen, erwartungsgemäß – Sprachgebrauchsargumente in Anschlag gebracht, näher besehen handelt es sich freilich nur um eine27 Formulierung: die Wendung in 3,4b, die – so in Aufnahme einer Deutung von B. Jacob – in 3,4b als Vorwegnahme nicht nur von Ex 19,3, sondern auch von Lev 1,1 gestaltet sei;28 Gertz verweist des Weiteren auf Ex 24,16b.29 Nun bildet aber zum einen Lev 1,1 keine genaue Parallele, insofern die Ortsangabe hier mit dem Reden Gottes ( ) verbunden ist. Zum anderen ist für das in Ex 3,4b zugrunde liegende Syntagma „Ortsangabe + PN + “ auf Belege wie Gen 21,17 und 22,11 zu verweisen: ^ " ^ ( ) ^ ( ) #
Gen 21,17 Gen 22,11 Ex 3,4b
Diese Belege unterstreichen nur, was auf Grund der schlicht elementaren sprachlichen Struktur gar nicht anders zu erwarten ist: „Jemanden anrufen von irgendwo her“ bildet – auch mit Gott als Subjekt und einem Menschen als Objekt – weder ein Spezifikum priesterlicher Sprache noch einer anderen „Schicht“. Das Vorkommen in einigen Mosetexten (Ex 3,4b; 19,3; 24,16b) kann von daher sowohl eine – zum Teil oder ganz – von den Erzählzusammenhängen (s. wieder Gen 21; 22) induzierte Koinzidenz darstellen als auch – zum Teil oder ganz – auf genetische Bezüge/Abhängigkeiten zurückgehen; Art und Richtung solcher Bezüge lassen sich aber aus der Formulierung selbst | nicht herleiten. Davon ist unbenommen, dass auf 25 R. KESSLER, Die Querverweise im Pentateuch. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchung der expliziten Querverbindungen innerhalb des vorpriesterlichen Pentateuchs, Diss. theol. (masch.) Heidelberg 1972, 183 (referiert bei SCHMID, Erzväter [Anm. 11], 193, Anm. 142). Über die Feststellung in der Gottesrede von Gen 18,20f. hinaus sind keine Vorgaben für die Leser zu erkennen außer der Notiz in 13,12 über die Bosheit der Sodomiter und – vermutlich – ein generelles „Vorwissen“ zum Thema „Sodom und Gomorra“. 26 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 286f. Sein Resümee: „Die Aussage, Jahwe habe das Leiden erhört, bedarf demnach nicht notwendig einer vorhergehenden Klageschilderung …“ 27 GERTZens Hinweis (a.a.O., 285) zu , dass „die Wurzel im Hexateuch nur bei P vorkommt“ – mit Gen 34,25(!) als einzigem Beleg – kann ja wohl nicht im Sinne eines Sprachgebraucharguments gemeint sein. 28 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 203 mit Verweis auf B. JACOB, MGWJ 1922, 17; GERTZ, Tradition (Anm. 12), 280f. 29 Mit Verweis auf H. UTZSCHNEIDER, Das Heiligtum und das Gesetz. Studien zur Bedeutung der sinaitischen Heiligtumstexte (Ex 25–40; Lev 8–9) (OBO 77), Freiburg/ Schweiz u. Göttingen 1988, 96f., der hier freilich eine umgekehrte Dependenz mit der „genau modifizierende(n) Übernahme von Elementen der Szene Ex 3 in die Szene Ex 24,16ff“ sieht.
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der Ebene des kanonischen Endtextes alle Vorkommen der Wendung für intratextuelle Midraschim zur Verfügung stehen. 126–127 (3) Darüber hinaus sieht K. Schmid in Ex 3 noch diverse Bezugnahmen auf priesterliche Texte. So würden mit Ex 3,1f. die Gottesoffenbarungen in Ex 3 und 6 als Entsprechung zu der für Abraham in Gen 17,1 gestaltet.30 Doch kommt eine solche Entsprechung allenfalls bei einer atomisierenden Filterung der Texte in den Blick. Ohne einen solchen Filter beschränkt sich die Parallele auf die Wendung nif. + Gottesbezeichnung o.Ä. + …, zu der freilich auch auf Gen 18,1; Ri 6,12 etc. zu verweisen wäre. Die Deutung des Auftrags in 3,10 sodann, wonach dieser „nicht den Auszug selbst vor[bereite], sondern vielmehr dessen erstes Scheitern und damit die nachfolgende solenne Verheißung in Ex 6,6: Gott selbst, nicht Mose, wird das Subjekt des Exodus’ sein“31, widerspricht nicht nur dem Kontext in Ex 3, der ein eigenverantwortetes Handeln Moses gar nicht kennt,32 sondern unterstellt eine der gesamten Tradition fremde Alternative (vgl. nur Ex 6,13 neben 6,6 und die späten Resümees Num 20,16; 1 Sam 12,8). Die These schließlich, Ex 3,13–16 habe von Ex 6,2ff. das Konzept einer ersten Kundgabe des JHWH-Namens übernommen und sei in gewisser Weise auf den priesterlichen Programmtext hin gestaltet,33 muss erst die entscheidende Voraussetzung eintragen, die Annahme nämlich, in der Perspektive des Erzählers von Ex 3 habe auch Israel den JHWH-Namen nicht gekannt.34 Für 3,13 hätte dies die merkwürdige Implikation, die Israeliten in Ägypten hätten zwar gewusst, dass „der Gott ihrer Väter“ einen Namen hatte, aber nicht (mehr?) welchen, und sie würden Mose, der sich als Gesandter ihres Gottes vorstellte, als erstes nicht nach dem Inhalt seiner Sendung fragen, sondern den (nach Ex 2 ihnen unbekannten) Mann zunächst um Information über den Namen ihre Gottes bitten. Zu Zeiten, in denen man dazu neigte, in biblischen Überlieferungen Ahnungen religionsgeschichtlicher Zusammenhänge wie der Vätergotthypothese gespiegelt zu finden, mochte dergleichen seinen Reiz haben; als Logik einer traditionalen Erzählung (sei sie auch „redaktionell“) ist es abwegig.35 Demgegenüber ergibt der Zusammenhang einen schlüssigen Sinn, wenn Mose danach fragt, wie er sich vor den Israeliten | als Gesandter „ihres“ Gottes ausweisen kann; schließlich hatte sich dieser Gott ihm selbst bisher „lediglich“ als der Gott seines Vaters vorgestellt (3,6). Geht es also aus der Sicht Moses hier 30
SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 203. SCHMID, ebd. 32 Vgl. 3,8.11 (in der von Mose übermittelten Gottesrede an das Volk).19f. (JHWHs Handeln führt den Exodus herbei) und die exklusive Zeichnung Moses als Gesandter JHWHs. 33 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 187.206ff. 34 SCHMID, a.a.O., 187. 35 Die Theorie der gestuften Selbstkundgabe Gottes in (K)P ist damit – gerade hinsichtlich der narrativen Logik – nicht zu vergleichen. 31
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um seine Autorisierung gegenüber Israel, dann setzen er und der Erzähler die Kenntnis des Gottesnamens bei den Israeliten36 notwendig voraus.37 Ausweislich 3,14 geht es dem Erzähler freilich zugleich um die inhaltliche Selbstdeutung JHWHs als dem, der unverfügbar, aber verlässlich mit Mose und Israel „sein“ will. V. 15 gibt sich demgegenüber als Nachtrag ( ) zu erkennen, dem – unter Aufnahme von Ps 135,13 – an einer direkteren Formulierung für die Leser liegt; so mit Schmid38 (und einer langen Forschungstradition) gegen Gertz.39 Auch ohne V. 15 ergeht im Übrigen die Antwort auf Moses Frage von 3,13 eindeutig, wenn auch in zwei Schritten, schließlich folgt auf die kontextbezogene theologische Interpretation des Namens (3,14) der Sendungsauftrag in 3,16 mit der „unverhüllten“ Namensnennung: „… und sag ihnen: ‚JHWH, der Gott eurer Väter, ist mir erschienen …‘.“40 127–128
Alles in allem bleibt in Ex 3 kein einziges Indiz, das eine diachrone Abhängigkeit des Textes von der priesterlichen Pentateuchüberlieferung tragen oder auch nur wahrscheinlich machen könnte. Ein deutlich anderer Befund ergibt sich im Blick auf Ex 4,1–17, und „[d]iese Einschätzung ist … für Teile aus Ex 4 nicht neu.“41 Letzteres gilt vor allem für den Schlussteil 4,(10.)13–16 mit der Einführung Aarons als | ‚Sprachrohr‘ für Mose.42 Zunächst fällt die weitgehende Parallelführung mit der priesterlichen Darstellung in 6,12.30; 7,1f. auf: Als Reaktion auf 36 Wie viel Mose selbst von dem israelitischen Gott weiß, ist kein Thema. Bei seiner kontextuellen Zeichnung als ägyptisch sozialisierter „Außenseiter“ (2,1–14), der seinen Sohn nicht beschneidet (4,24f.), käme Moses Unkenntnis aber wahrlich nicht überraschend. 37 SCHMIDs Replik auf diese Erklärung (Erzväter [Anm. 11], 187, Anm. 101) deutet auf ein grundlegendes Missverständnis. Offenbar ist die Differenzierung zwischen der Handlungsebene (Mose und seine Adressaten) und der Ebene des Tradenten und seiner Adressaten übersehen. Der darauf basierende Einwand einer „theorieimmanent“ begründeten Interpretation ließe sich im Übrigen leicht umkehren. 38 SCHMID, a.a.O., 207f. 39 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 294ff. Sein Argument, dass ohne V. 15 „im vorliegenden Textzusammenhang die V. 16–22 keine Redeeinleitung hätten“ (295), sticht nur unter Voraussetzung des (empirisch widerlegbaren) Axioms, dass in Überarbeitungsprozessen der Textbestand der Vorlage gänzlich unangetastet bleibt. Dagegen wäre nach dem sonstigen Usus hebräischer Erzählungen auch im Übergang von V. 15 zu 16 (mit seiner neuen Redeperspektive) eine Redeeinleitung zu erwarten; deren Fehlen findet gerade mit einer Einfügung von V. 15 eine diachrone Erklärung. 40 Von einer „geheimnisvolle(n)“ Antwort im „Vorblick auf Ex 6“ kann also keine Rede sein (zu SCHMID, Erzväter [Anm. 11], 206). 41 SCHMID, a.a.O., 190, Anm. 120, mit Verweis auf V AN SETERS, Life (Anm. 7), 53, Anm. 55; vgl. insbes. H.-C. SCHMITT, Redaktion (Anm. 21), 184; DERS., Tradition der Prophetenbücher in den Schichten der Plagenerzählung Ex 7,1–11,10, in: Prophet und Prophetenbuch (FS O. Kaiser [BZAW 185]), hg. von V. Fritz u.a., Berlin/New York 1989, 196–216, darin 213. 42 H. VALENTIN , Aaron. Eine Studie zur vor-priesterlichen Aaron-Überlieferung (OBO 18), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 1978, 82ff.; BLUM, Studien (Anm. 4), 27f., mit Lit. Zuletzt eingehend GERTZ, Tradition (Anm. 12), 315ff.
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Moses Einwand, ihm fehle die Redegewandtheit, wird in KP Aaron als „Prophet“ Moses eingesetzt, und dieser dem Pharao gegenüber als „Gott“. In 4,10ff. wird Moses Hinweis auf seine Schwerzüngigkeit zunächst unter Verweis auf JHWHs Schöpfermacht und mit der Zusage des Beistandes und der konkreten Weisung zurückgewiesen. Die erneuerte Verweigerung Moses bewirkt nicht nur JHWHs Zorn, sondern die Einsetzung Aarons zum Sprecher Moses, der hier Aaron als „Gott“ ( ) vorgeordnet wird. Bei all dem geht es in Ex 4 um die Sendung zu den Israeliten, in dem priesterlichen Abschnitt hingegen um die Sendung zu Pharao. 128–129 Die weitgehende Strukturparallele (und auch sprachliche Bezüge) sprechen deutlich für literarische Dependenz. Dabei wirkt der Abschnitt in Ex 4 in mancher Hinsicht als eine Übertragung von der priesterlichen Überlieferung her. Dies gilt insbesondere für die Rolle Aarons als Assistent Moses, die im Blick auf die priesterliche Erzählüberlieferung schlüssig erscheint, tritt darin doch Aaron rekurrent als Akteur neben Mose auf. In der nichtpriesterlichen fehlt hingegen – bis auf den unmittelbaren Nahkontext in 4,27ff. – die narrative Durchführung. Ebenso begrenzt und ohne nachhaltige Umsetzung erscheint die Fokussierung der Verweigerung Moses und der „Sprachrohr“-Thematik in Ex 4 auf den Wortauftrag gegenüber Israel, während in Ex 6f. die zentrale Sendung zu Pharao im Blick ist.43 Generell scheint es bei der Einführung Aarons in eine Mittlerfunktion neben Mose um eine Verhältnisbestimmung in Reaktion auf priesterliche Positionen zu gehen; darauf deutet die singuläre Kennzeichnung Aarons als (4,14) (wie auch Bezüge zu Ex 1844): Man kann hier am ehesten das Bestreben sehen, „zwischen den durch Aaron repräsentierten Priestern und den Leviten eine Brücke zu schlagen, und zwar aus levitischer Perspektive (‚auch Aaron ist ›Levit‹‘)“45. An dieser Stelle ist ein Vorgriff auf diachrone Fragen innerhalb von Ex 3–4 angezeigt. Denn gerade im Blick auf die Rolle Aarons ist – wie an anderer Stelle begründet – eine stratigraphische Unterscheidung zwischen der Hauptlinie der Berufung Moses in Kap. 3 und (zumindest) 4,13–17 (sowie *4,27ff.; 5,1a*.20*) unumgänglich, insofern die „Inkongruenz zwischen dem Auftrag in 3,18, wonach Mose mit den Ältesten zu Pharao gehen soll, und 5,1ff., | wo (anstelle der Ältesten) Aaron mit Mose auftritt“46 anders nicht erklärbar wäre.47 Einerseits fügt sich dies zu dem in der Verhältnis43 Für eine eingehendere Argumentation sei auf die Darlegungen von SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 205f., und GERTZ, Tradition (Anm. 12), 315–327, verwiesen. 44 Dazu BLUM, Studien (Anm. 4), 153ff.361f., sowie unten 2.1. 45 BLUM, a.a.O., 362; vgl. auch GERTZ, Tradition (Anm. 12), 321ff. 46 BLUM, Studien (Anm. 4), 27. 47 Zum Einwand von OTTO, Pentateuchredaktion (Anm. 21), 101f., Anm. 175, s. GERTZ, Tradition (Anm. 12), 309, Anm. 350.
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bestimmung zu „P“ völlig anderen Befund in Ex 3, andererseits stellt sich hier die Frage nach dem Umfang der – sowohl gegenüber Ex 3 wie gegenüber der priesterlichen Schicht – jüngeren Fortschreibung. 129–130 In meiner eigenen Analyse hatte ich diese Fortschreibung tentativ auf 4,13–17 beschränkt, ohne zu verhehlen,48 dass der postulierten Nahtstelle zwischen 4,12 und 13 gewichtige Argumente zugunsten der Einheit von 4,1–17 entgegenstehen.49 Belehrt durch die neuere Diskussion scheint sich mir nun diese Scheidung zu erübrigen, da der vorausgehende Abschnitt 4,1–12 in seinem eigenen diachronen Profil durchaus mit dem von 4,13–16 kongruiert. So lassen sich das erste und dritte der Beglaubigungszeichen, die Mose in 4,1ff. verliehen werden, mit Schmid und Gertz schlüssig als Entlehnungen aus dem priesterlich erweiterten Plagenzyklus (Ex 7,8–13. 19.21b) erklären.50 Darüber hinaus steht die Thematisierung des Unglaubens/Glaubens der Israeliten in 4,1ff. (mit 4,30f.) bekanntlich in einem Kontrastbezug zu 6,9.12, der eine Strukturparallele in der Abfolge von Gen 15 (Abrahams Glaube) und Gen 17 (Abrahams Unglaube) hat. Unter Voraussetzung der herkömmlichen zeitlichen Nachordnung der priesterlichen Texte liegt es nahe, darin jeweils einen „korrigierenden“ Akzent der P-Überlieferung zu sehen.51 Nun wird aber diese Relationierung nicht nur im Blick auf Gen 15 und 17 noch zu hinterfragen sein, sondern auch in der Moseüberlieferung spricht die eigentümliche Durchführung in einer ausführlichen ‚präventiven‘ Thematisierung eher für Ex 4 als rezipierende Tradition: „Man gewinnt den Eindruck, dass Ex 3f die Probleme, die sich in Ex 6 nach der dortigen heilsgeschichtlichen Offenbarung an Mose ergeben haben – ‚Mose sagte dies den Israeliten, aber sie hörten nicht auf Mose …‘ (Ex 6,9) –, in die Berufungsszene selbst integriert | hat: Mose thematisiert in Ex 4,1ff das Nichthören der Israeliten, ohne zuvor überhaupt mit den Israeliten gesprochen zu haben …“52 48 Vgl. die einschränkenden Formulierungen in BLUM, Studien (Anm. 4), 27f. (mit Anm. 99) und 362. 49 Vgl. insbesondere W.H. SCHMIDT, Exodus (BK II/3), Neukirchen-Vluyn 1983, 188ff.; GERTZ, Tradition (Anm. 12), 307ff. Gewichtig ist neben den engen Entsprechungen zwischen V. 12 und 15 vor allem die Überlegung, ob Moses Hinweis auf sein mangelndes Redetalent nicht „von vornherein zur Einführung des Sprechers Aaron“ (SCHMIDT, a.a.O., 191) diente. Hinzu kommt, dass andernfalls für die Strukturkongruenz mit 6,30; 7,1f. in 4,10–17 eine mehr oder weniger zufällige Anschlussmöglichkeit zu postulieren wäre. 50 Der Verweis auf SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 203ff., und GERTZ, Tradition (Anm. 12), 312ff., kann hier genügen (vgl. schon OTTO, Pentateuchredaktion [Anm. 21], 104f.). Für das Zeichen der aussätzigen Hand in 4,6f. erinnert Schmid zu Recht an Num 12,9ff. Den für die Mose-Zeichen daraus abgeleiteten „konkreten Hintersinn bezüglich eines möglichen Unglaubens in Israel“ würde ich allerdings eher der Kategorie Midrasch zuschreiben. 51 BLUM, Studien (Anm. 4), 236f., mit Verweis auf das kritische Geschichtsbild in Ez 20. 52 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 199f.
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Zusammengefasst ergibt die bisherige Fragestellung für Ex 3–4 ein differenziertes Bild: Im Blick auf Ex 3 hat sich die These einer von priesterlichen Pentateuchtexten abhängigen Überlieferung(sschicht) an keinem der dafür benannten Textbefunde bestätigt. Demgegenüber verdichten sich im zweiten Teil der Berufungsperikope die Indizien, dass nicht nur Ex 4,13– 16, sondern der gesamte, literarisch geschlossene Zusammenhang 4,1–17 eine Fortschreibung der nicht-priesterlichen Überlieferung von Ex 3* darstellt, die sich zugleich auf priesterliche Pentateuchzusammenhänge bezieht. Den Konturen und Konsequenzen dieses diachronen Ausgangsbefundes wird im Folgenden noch nachzugehen sein. 1.2 Ex 3 – ein Brückentext zwischen „Genesis“ und „Exodus“? Zunächst ist jedoch eine weitere, vermeintlich triviale Grundannahme all jener Hypothesen zu prüfen, die Ex 3(f.) bei der Bildung eines Erzväterund Moseüberlieferung umgreifenden literarischen Werkes eine tragende Rolle zuschreiben: die Annahme, dass die nicht-priesterliche Moseberufung in der einen oder anderen Weise als Brückentext zwischen diesen Erzählkomplexen fungiert, jedenfalls aber die Erzelterngeschichte als literarischen Vorkontext voraussetzt. Zumal in der letzteren, sehr elementaren Form scheint diese Annahme in der gesamten Pentateuchdiskussion – von den diversen Urkundenhypothesen bis zu den neueren Modellen der letzten Dekaden – eine kaum ernsthaft hinterfragte Selbstverständlichkeit darzustellen. Dabei fällt bei einer kritischen Durchsicht rasch ins Auge, dass der Textzusammenhang explizite Rückbezüge auf spezifische Vätertexte oder -themen durchgehend vermissen lässt. Namentlich erscheinen die Väter zwar in den Gottesbezeichnungen in 3,6.15.16 (4,5), doch ist damit nicht mehr als eine generelle Kenntnis der Erzvätertrias vorausgesetzt (von der noch zu erörternden Frage nach der literargeschichtlichen Zuordnung der betreffenden Wendungen vorerst einmal abgesehen). Dieser Befund wiegt deshalb so schwer, weil die Selbstkundgabe JHWHs gegenüber Mose (und dem Israel der Exodusgeneration) in Ex 3 implizit just von solchen Themen/Anliegen handelt, die in der Vätergeschichte, vor allem in den kompositionellen Gottesreden als Verheißungen/Bundeszusagen rekurrent und nachhaltig entfaltet werden: Gottes Mitsein und die Zuweisung bzw. Zusage des Landes.130–131 Selbstverständlich ergeben sich von daher Rückfragen auch an die KDHypothese, in der sowohl die Genesistexte mit der Landverheißung als Eid | (Gen 15 etc.) wie auch Ex 3 als kompositionelle Bildungen der gleichen ‚Hand‘ zugeschrieben werden. Als theorieimmanente Lösung mochte sich hier die Deutung als kompositorische Profilierung nahe legen, in dem Sinne, dass „gerade damit die Herausführung als eine zweite eigengewichtige Fundierung der Gottesbindung an Israel profiliert wird: Die Befreiung aus Ägypten wird eben nicht einfach abgeleitet aus der vorlaufenden Ver-
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pflichtung Gottes, sondern betont als erneute Zuwendung Jhwhs zu dem bedrängten Israel (3,7ff.16) eingeführt – vergleichbar der freien Zuwendung zu Abraham in dessen präfigurierender ‚Herausführung‘ (Gen 12,1ff.; 15,7).“53 Methodisch setzt eine solche synchrone Erklärung freilich die Triftigkeit der textanalytischen Grundlage voraus und mag aus anderer Perspektive eher als Not, die zur Tugend gemacht wird, gesehen werden. Nicht ohne Grund hat denn auch J.-L. Ska gerade an dieser Stelle eine Schwierigkeit der Gesamthypothese angemahnt.54 In verschärftem Maße trifft diese Problematik nun freilich die diversen Endredaktionshypothesen, die Ex 3* einer nach-priesterlichen Pentateuchschicht zuschreiben: Bei einer Redaktion, die mit Ex 3 das P-Stück Ex 2,23a–25 weiterführen und auf Ex 6,2ff. (P) hinleiten will, wäre selbst die für KD skizzierte inhaltliche Deutung nicht mehr möglich. Darüber hinaus ergäben sich eminente hypotheseninterne Ungereimtheiten. Insbesondere böte sich das Bild einer Traditionsbildung, die vermeintlich (s.o.!) um jeden Preis einen Widerspruch mit der abgestuften Offenbarung des Gottesnamens in P zu vermeiden sucht (obwohl sie in der Vätergeschichte – so Schmid – mit Gen 15 einen neu formulierten Programmtext mit bedenkenlosem Gebrauch des Tetragramms Gen 17 voranstellte), zugleich aber jeden Anklang an die in eben diesen P-Texten so zentrale berît-Konzeption unterlässt, und dies, obwohl ihr „wichtigste[r] Brückentext zwischen Erzvätern und Exodus in Gen, Gen 15,“55 „den Abrahambund von Gen 17“ „verdoppelt“56 hat. Ist mit alldem eine Konzeption von Ex 3 als programmatisch angelegtem Brückentext zwischen Erzvätern und Exodus, noch dazu im Horizont von nicht-priesterlicher und priesterlicher Überlieferung, so gut wie auszuschließen, bleibt gleichwohl zu prüfen, ob der Abschnitt möglicherweise indirekt in ein Beziehungsgeflecht eingebunden ist, das auf die Vätergeschichte als literarischem Vorkontext verweist. Gertz meint in der Tat eine solche Querverbindung zwischen Elementen in Ex 3,4b–12 und Gen 46,2.3a.4 zu finden.57 | 131–132 Näher besehen beschränkt sich aber die tatsächliche Parallele58 auf die Abfolge „(a) Anrede mit (doppelter) Namensnennung – (b) Antwort mit – (c) Selbstvorstellung Gottes als 53
BLUM, Studien (Anm. 4), 190. J.L. SKA‚ Un nouveau Wellhausen?, Bib. 72 (1991), 253–263, darin 258. 55 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 186. 56 SCHMID, a.a.O., 209. 57 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 277ff. mit einer Synopse 278. Bei Letzterer ist allerdings zu beachten, dass darin aus Ex 3,8–12, d.h. aus einem Bereich von 5 Versen, zwei für sich genommen wenig spezifische Textmoleküle gefiltert werden. Für die Erkennbarkeit intertextueller Bezüge ist jedoch auch deren Dichte bedeutsam, vor allem wenn ein individueller Signalcharakter kaum besteht. 58 Die ‚Entsprechung‘ von „heraufführen“ ( hif., Gen 46,4a; Ex 3,8) war von Ex 3 her kaum zu vermeiden; in Gen 46,4 ist ^" auf die persönliche Geschichte Jakobs 54
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‚Gott des Vaters‘“. Davon bilden (a)+(b) ein narratives Idiom, das auch in Gen 22,11 oder 1 Sam 3,4–1059.16 begegnet; das Fehlen einer Selbstvorstellung Gottes hat in beiden Fällen kontextuelle Gründe.60 Somit bleibt die Selbstvorstellung (Gen 46,3) bzw. (…) (Ex 3,6a). Die Rede vom „Gott deines Vaters“ verdient Beachtung, ist aber aus dem Aussageprofil des jeweiligen Kontextes heraus begründet:61 Bei Mose fügt sie sich präzise in das Gefälle des Gesamtgesprächs und zur Situation des zu berufenden Außenseiters (s.u. 2.1). In Gen 46,1ff. ist ein spezifischer Zusammenhang mit dem Isaak-Text Gen 26,2f.* grundlegend, der unter anderem mit der Gottesbezeichnung (46,1b.4a) evoziert wird.62 132–133
Es bleibt mithin festzuhalten: Weder „setzt“ Ex 3,4ff. einen Text wie Gen 46,2f. „sachlich“ „voraus“, noch ist Gen 46,*1–5a „auf einen Brückenkopf in Ex 3 angewiesen“63. Vielmehr beruhen die sprachlichen Berührungen auf Koinzidenzen der Idiomatik und (differenter) Sachzusammenhänge. | Anders verhält es sich mit dem auf wörtlicher Entsprechung beruhenden Text-Text-Bezug zwischen Ex 3,16 und Gen 50,24.64 Der klare Befund schließt in diachroner Hinsicht zwar die herkömmliche quellenkritische Aufteilung auf E (Gen 50,24) bzw. J (Ex 3,16) (Gen 50) bezogen. Ähnliches gilt für die Mit-Sein-Zusage (46,4a; Ex 3,12), die in der Form von Ex 3 schon mit dem ‚Berufungsformular‘ vorgegeben ist (vgl. Ri 6,16; Jer 1,8). 59 Die Nachholung in 3,10 („wie jedes Mal“) impliziert die doppelte Namensanrede bei allen Anrufen. 60 In 1 Sam 3 ist die Identität der sprechenden Gottheit mit dem Handlungsort (JHWH-Tempel) schon vorgegeben. In Gen 22,2 bzw. 11 unterbleibt die (namentliche) Selbstvorstellung aus inhaltlichen bzw. erzähldramatischen Gründen. Für die Abfolge „namentliche Anrede – Antwort – Selbstvorstellung“ vgl. aber z.B. Gen 31,11.13. 61 Gegen einen intendierten Rückverweis von Ex 3 auf Gen 46 spricht im Übrigen der Umstand, dass gerade die spezifische Formulierung (gegen GERTZ, Tradition [Anm. 12], 274.278: nicht „ich bin der El“, sondern „ich bin der Gott“), die in Gen 46,3 einen intertextuellen Signalbezug auf Gen 31,13 darstellt (BLUM, Komposition [Anm. 3], 247.298–301), in Ex 3 ohne Entsprechung ist. 62 Dazu BLUM, Studien (Anm. 4), 298ff. 63 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 280. Die Gottesrede in Gen 46,1ff. geht in ihren literarischen Bezügen nicht über den Horizont der Vätergeschichte (Gen 12–50) hinaus. Selbstverständlich implizieren die Stellung innerhalb der Josephgeschichte und die Verheißung der Volkwerdung in Ägypten einen „Wissenszusammenhang“, der die Exodustradition einschließt. Wie auch schon im Fall der eigenständigen Josepherzählung setzt dies aber nicht per se einen entsprechenden literarischen Zusammenhang voraus. Umso signifikanter ist es also, dass mit der Zusage der Heraufführung – ausweislich ihrer Einbettung in V. 4 – allein das persönliche Geschick Jakobs thematisiert wird; gegen BLUM, Studien (Anm. 4), 247, Anm. 21; D. CARR, Genesis in Relation to the Moses Story. Diachronic and Synchronic Perspectives, in: A. WÉNIN (Hg.), Studies in the Book of Genesis (BEThL 155), Leuven 2001, 274–295, darin 281f.; GERTZ, a.a.O., 277, Anm. 204 (die figura etymologica betrifft die Intensität der Zusage, nicht das Objekt des Heraufführens), mit SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 62f. Eine sog. „Endredaktion“ hätte sowohl in Gen 46 als auch in Ex 3 alle Möglichkeiten gehabt, ihre literarischen Verknüpfungen zu explizieren. 64 BLUM, Studien (Anm. 4), 398, mit Verweis auf K ESSLER, Querverweise (Anm. 25), 189f.
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aus, ist aber ansonsten offen sowohl für die Zuschreibung zu ein und derselben Schicht65 als auch für eine literarische Abhängigkeit in der einen oder anderen Richtung. Wie noch auszuführen sein wird, deuten manche Details wie auch die Koordinaten des Gesamtbildes auf eine Abhängigkeit der Formulierung in Gen 50 von der in Ex 3,16 (s. im Folgenden). Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch das Glaubensmotiv erwähnt, das bekanntlich nicht nur in Ex 4,1ff.31 und dem folgenden Kontext (14,31; 19,9) begegnet, sondern auch schon in Gen 15,7. Wir werden darauf zurückkommen (s.u. 3.). In jedem Falle ist aber mit Ex 4,1ff. ein literargeschichtlicher Kontext betroffen, der bereits aus verschiedenen Gründen von dem des Haupttextes in Ex 3 zu unterscheiden war.
Zusammengefasst ergibt sich für den literarischen Zusammenhang von Ex 3 mit der Erzvätergeschichte ein Befund, der insbesondere mit den „Endredaktionshypothesen“ unvereinbar erscheint, aber auch für die bisherige Beschreibung von KD erhebliche Probleme aufgibt. 133–134
2. Ex 3–4 und die KD-Hypothese 2.1 Eine diachrone Tour d’Horizon im Umfeld von Ex 3–4 Die oben skizzierte literarhistorische Differenzierung innerhalb der Moseberufung, wonach der zweite Teil, in dem es um die Beglaubigung Moses gegenüber Israel und die Einbeziehung Aarons geht (4,1–17), eine jüngere, nachpriesterliche Fortschreibung des ‚eigentlichen‘ Berufungsberichts in Kap. 3* darstellt, bringt für die diachrone Reliefstruktur der Exodusgeschichte und z.T. darüber hinaus zwangsläufig weitergehende Konsequenzen mit sich, denen nun ein Stück weit nachgegangen werden soll.66 Im vorliegenden Rahmen soll sich diese erneute Überprüfung auf eine Art „Tour d’Horizon“ beschränken, in der bereits eingehend dargestellte Textbefunde und Argumente nicht erneut ausgebreitet werden müssen; es geht vorrangig um die Zuordnungen und Konsequenzen. Des Näheren bietet es sich an, der | diachronen Differenzierung zwischen Ex 3* und 4* im Blick auf das kompositionelle/redaktionelle Bezugsgeflecht in Ex 3ff. nachzugehen und sich dabei zunächst von den Konnexionen mit 4,1–17 leiten zu lassen. Von Ex 4,1–17 lässt sich Ex 4,27–31 nicht trennen, ein summarischer Ausführungsbericht, der in der Hauptsache vom zweiten Teil der Berufungsgeschichte her gestaltet ist. Es geht primär um die Einsetzung Aarons und um das „Glauben“ ( hif.) der Volksvertreter bezogen auf die Worte und die Zeichen. Die Zusammenführung von Mose und Aaron just „am Gottesberg“ (4,27) (auf dem Rückweg Moses von Midian nach Ägypten) 65
So BLUM, Studien (Anm. 4), 35.102 u.ö. Die dabei zu erwartende Revision der KD-Hypothese ist bereits in E. BLUM, Esra, die Mosetora und die persische Politik, Trumah 9 (2000) 9–34, darin 19, Anm. 37, angedeutet. 66
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hat selbstverständlich den Zweck, auch Aaron am Ort der Gottesoffenbarung partizipieren zu lassen.67 Gleichwohl bleibt Aaron – entsprechend 4,15f. – auf die Mittlerschaft Moses angewiesen. Diachron ist der Abschnitt in seiner vorliegenden Gestalt also ganz der Schicht von 4,1ff. zuzuordnen. Zu dieser Linie gehören sodann die Vorkommen Aarons in Ex 568 sowie die Komponenten in der ersten Plage (7,15b.17b.20ab), die über Moses Stab auf 4,1–17 zurückverweisen,69 des Weiteren der Rahmen der Passavorschriften in Ex 12,21–27, der in Korrespondenz zu 4,29–31 gestaltet ist,70 sowie die Notiz vom „Glauben/Vertrauen“ ( hif.) der Israeliten angesichts des Schilfmeerwunders (14,31b); in dieser Linie ist schließlich noch Ex 19,9 zu sehen. 134–135 Bezeichnenderweise lassen sich nun bei allen genannten Elementen Indizien ausmachen, die mit mehr oder weniger großer Stringenz die Möglichkeit einer literarischen Fortschreibung anzeigen. Für „Aaron“ in Ex 5 ist dies andernorts schon erläutert worden,71 ebenso für Ex 7,15b.17b. 20ab.72 Die Aussage in Ex 14,31b ( ) wiederholt inhaltlich 14,31a ( ) und ergänzt sprachlich das Element des „Glaubens“ und den Bezug auf Mose, die in 4,1ff. eingeführt worden waren.73 Bei Ex 19,9 hat | bereits A. Toeg V. 9b als „Wiederaufnahme“ von V. 8b bestimmt;74 grundsätzlich kann diese ein erzähltechnisches Mittel darstellen, sie kann freilich auch eine redaktionelle Fügung widerspiegeln. Einen für unseren Zusammenhang besonders gewichtigen Befund liefert der Passa-Abschnitt in Ex 12,21–27. Neuere Untersuchungen dieser ritu67
Vgl. SCHMIDT, Exodus (Anm. 49), 238. BLUM, Studien (Anm. 4), 27f. 69 Auch 4,20b, die Ausführung zu 4,17, ist hier einzuordnen. Demgegenüber dürfte die an 4,1ff. und 11,9–11 orientierte Prolepse in 4,21–23 einen späteren midraschartigen Eintrag (angeregt u.a. durch 4,24–26) darstellen. 70 BLUM, Studien (Anm. 4), 16f. 71 BLUM, a.a.O., 28, Anm. 95. 72 Dazu BLUM, Esra (Anm. 66), 19, Anm. 37. Das wesentliche Indiz bildet die harte literarkritische Fuge zwischen V. 17a (KD) und 17b. 73 Für sich betrachtet rechtfertigt eine solche Redundanz noch keine literarkritischen Schlüsse. Entscheidend ist am Ende das diachrone Gesamtbild, das wesentlich von den Querbezügen zu analytisch „klaren“ Abschnitten bestimmt ist. Im vorliegenden Fall ist immerhin noch darauf hinzuweisen, dass die signifikante Parallele zum Deutungsrahmen von Ex 14 in 1 Sam 12 an der entsprechenden Stelle lediglich einen Satz hat, formuliert mit ^ (allerdings neben JHWH auch bezogen auf Samuel). 74 A. TOEG, Lawgiving at Sinai. The Course of Development of the Traditions Bearing on the Lawgiving at Sinai within the Pentateuch, with a Special Emphasis on the Emergence of the Literary Complex in Exodus xix–xxiv (hebr.), Jerusalem 1977, 34; W. OSWALD, Israel am Gottesberg. Eine Untersuchung zur Literargeschichte der vorderen Sinaiperikope Ex 19–24 und deren historischem Hintergrund (OBO 159), Freiburg/ Schweiz u. Göttingen 1998, 97.229f. 68
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ellen Bestimmungen haben einige Textbefunde (neu) herausgearbeitet, die m.E. nahe legen, dass hier literarisch eine bereits nach-priesterliche Überlieferung vorliegt,75 auch wenn darin möglicherweise ältere Traditionen, die im Widerspruch zu P-Konzeptionen stehen (Hausschlachtung etc.), repristiniert werden.76 Zu dieser Verortung fügen sich nun bündig die Bezüge des szenischen Rahmens in 12,21.27b zu Ex 4,1ff. (über 4,29ff.) und dessen Bestimmung als Fortschreibung sowohl von priesterlicher wie von nicht-priesterlicher Überlieferung. Alles in allem ergibt sich aufgrund der genannten Befunde die Notwendigkeit, innerhalb der bisher KD zugeschriebenen (kompositionellen) Texte zwischen einer „Hauptschicht“ (repräsentiert durch Ex 3; 5* etc.) und einer jüngeren, nachpriesterlichen Fortschreibung (repräsentiert durch Ex 4,1–17 etc.) zu unterscheiden. Auf der einen Seite wird damit das kompositionell-narrative Geflecht innerhalb der D-Komposition in Ex 1– 14 um einige Kompo|nenten reduziert,77 auf der anderen Seite wird die Hypothese von mehreren komplizierenden Annahmen entlastet, die an den Texten nicht unmittelbar ausweisbar waren. 135–136 Dazu gehört einmal, wie schon erläutert, die bisherige tentative diachrone Abgrenzung von Ex 4,13–16 gegenüber dem Vorkontext. Des Weiteren öffnet sich so der Weg zu einer deutlich konturierten und unkomplizierten Erklärung der Relation zwischen Ex 3–4 und Ex 18. 75
Zum einen sind Elemente des Sprachgebrauchs zu nennen; dazu rechne ich allerdings nicht „technische“ Ausdrücke wie &, $, &, @#, @ , die ansonsten mehr oder weniger zufällig in P vorkommen (dazu BLUM, Studien [Anm. 4], 39, Anm. 149), wohl aber die Formulierung in V. 25a (dazu S. BAR-ON [GESUNDHEIT], Zur literarkritischen Analyse von Ex 12,21–27, ZAW 107 [1995] 18–31, darin 24 mit Anm. 34) und die Affinität der Wendung in V. 24b zu priesterlichen Ausdrücken. Zum anderen inhaltliche Übereinstimmungen mit „P“ gegen die nicht-priesterliche Erzählung (das Augenmerk für die folgenden Aspekte verdanke ich dem Gespräch mit S. Gesundheit): (a) Nach 12,22 erfolgte der Auszug – wie nach 12,10 – am Tage, im Gegensatz zu 12,30ff.; Dtn 16,1; (b) nach 12,23.27a wohnen die Israeliten – wie nach 1,7; 12,13 – unter den Ägyptern, im Gegensatz zu 8,18; 9,26 (dazu schon J. WELLHAUSEN, Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments, Berlin 18993, 73, Anm. 1). 76 Vgl. zum Ganzen auch S. GESUNDHEIT (BAR-ON), Festival Legislation in the Torah. A Literary-Historical Study of Exod. 12:1–20, 21–28; 23:14–19; 34:18–26; Deut 16:1–8 (hebr.), Diss. phil. Jerusalem 1999, 90ff. Allerdings rückt Gesundheit den Abschnitt m.E. zu nahe an P selbst heran – in Verbindung mit einer unnötig komplizierten entstehungsgeschichtlichen Hypothese (21,22–27a als ursprüngliche Fortsetzung von 12,1–11). Nach GERTZ, Tradition (Anm. 12), 54f. wird hier die Schlachtung des Passa in den Privathäusern als dauerhafter Ritus gerade ausgeschlossen. 77 „Scheidet“ man die bisher eruierten Bearbeitungstexte „aus“, bleibt in dem älteren Erzählzusammenhang lediglich an einer Stelle eine Lücke, insofern nach *3,1–2; 4,19– 20a.24–26 und vor *5,1ff. ein Ausführungsbericht zu 3,16ff. zu erwarten ist. Man darf vermuten, dass eine entsprechende Mitteilung in 4,29ff. von der Ex *4-Bearbeitung überlagert und transformiert wurde.
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Die Moseberufung am Gottesberg in Ex 3f. und die Episode vom Besuch Jethros bei Mose am Gottesberg in Ex 18,1–12 weisen, wie schon länger beobachtet, vielfältige Übereinstimmungen und Berührungen auf: (a) Nur hier lautet der Name von Moses Schwiegervater „Jethro“. (b) Ort der Begebenheit ist jeweils der „Gottesberg“ jenseits (3,1) oder in der Wüste (4,27; 18,5). Dabei signalisiert dieser Ort auch die tiefgreifende Veränderung bei Mose zwischen Ex 3 und 18: Kam Mose in 3,1 sozusagen im Dienst Jethros an den Berg, so sucht Jethro ihn in Ex 18 ebenda auf, nachdem die in Ex 3 angesagte Rettung Israels aus der Hand der Ägypter (3,8: hif.; passim in Kap. 18) vollendet ist. (c) Wie W.H. Schmidt78 herausgearbeitet hat, bestehen mehrere Affinitäten zwischen Moses Begegnung mit Aaron in 4,27f. und der Begegnung mit Jethro in Kap. 18: Beide Male wird Mose am gleichen Ort: in der Wüste am Gottesberg aufgesucht (erzählt in übereinstimmendem narrativem Idiom79), beide Male berichtet Mose von zuvor Geschehenem, in Kap. 18 treten neben Mose (und Jethro) auch Aaron und die Ältesten auf – wie in 4,27ff. Einer einfachen Zuordnung von Ex 18 zum narrativen Faden auf der Ebene der D-Komposition steht jedoch die sperrige kompositionelle Einbindung des Kapitels entgegen, die darüber hinaus eine nach-priesterliche Einfügung nahe legt.80 Die Komplexität des Befundes81 gab den Anstoß zu einer relativ komplizierten Hypothese, wonach hinter Ex 3f.; 18 „die Umrisse einer separaten | zusammenhängenden Moseüberlieferung sichtbar [werden], die auszugsweise … von KD aufgegriffen (Ex 3f.), zu einem anderen Teil aber erst in einer späteren Bearbeitung nachgetragen wurde (Ex 18).“82 Diese Komplizierung erübrigt sich unter den veränderten Gesamtkonstellationen: Wie sich uns ergeben hat, ist nicht allein Ex 18 in einem nach-P-Kontext zu verorten, sondern auch Ex 4,1–17 und vor allem auch 4,27ff., die Parallelszene zu 18,1ff. Von daher spricht nichts gegen eine Zuweisung zu ein und derselben „Hand“, der narrativ an Ex 3 (KD) anschließenden nachpriesterlichen Fortschreibung von Ex 4 etc. 136–137 78
SCHMIDT, Exodus (Anm. 49), 236. Ex 4,27; 18,7: „entgegen gehen“, „küssen“; vgl. Gen 29,13; 33,4 etc. 80 BLUM, Studien (Anm. 4), 153ff. 81 In BLUM, a.a.O., 156 hatte ich dazu auch eine Überlegung von M. Greenberg, R. Kessler u.a. aufgenommen, wonach 4,18 einen älteren Erzählungsfaden reflektieren könnte, in dem Mose eine (zeitweilige) Entlassung ersuchen, ohne Frau und Kind(er) mitnehmen zu wollen. Näher liegt jedoch die Erklärung aus der Fügung des vorliegenden Kontextes in Ex 3–4 heraus: Bei der Einfügung der Berufungsepisode von Ex 3 war vor der Gottesrede in 4,19 ein szenischer Abschluss entsprechend 4,18, in dem Mose die Konsequenz aus seiner Berufung zieht, erforderlich. Vor 4,19 hätte andererseits ein breiter formuliertes Ersuchen (Freigabe von Frau und Kindern etc.) die kompositionsgeschichtliche Fuge zwischen 4,18 und 4,19 unnötig profiliert. 82 BLUM, Studien (Anm. 4), 156. 79
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Unter dieser Voraussetzung lässt sich zudem das diachrone Profil dieser Bearbeitung in einem weiteren, wesentlichen Aspekt schärfen: gleich, nach welchem Modell man sich die Zusammenarbeitung von priesterlichem und nicht-priesterlichem Material auch vorstellen mag, aufgrund des Befundes bei Ex 18, insbesondere der kompositionellen Vorschaltung der Episode vor die mit Ex 19 eröffnete „Sinaiperikope“, ist auszuschließen, dass unsere Bearbeitung (Ex 4* etc.) mit einer Redaktion, die „P“ und „nicht-P“ verknüpft hätte, identifiziert werden kann. Vielmehr hat der Bearbeitung bereits eine aus priesterlichem und nicht-priesterlichem Material gebildete Komposition vorgelegen. Auch für die in neueren Arbeiten recht großzügig verteilte Prädikation „Endredaktion“ bietet der Befund im Exodusbuch noch keine Grundlage. Zum Abschluss dieser kurzen „tour d’horizon“ gilt es noch einmal einen Blick auf das diachrone Profil von Ex 3 zu werfen. Gegen die sich mehrenden Voten, welche im Hauptbestand des Kapitels keine hinreichenden Gründe für eine literarkritische Schichtenanalyse erkennen,83 hat jüngst wieder J.C. Gertz eine säuberliche Scheidung in Grundbestand und redaktionelle Erweiterungen vorgeschlagen. Ein solche Analyse scheint mir weder dem Textbefund im Einzelnen noch im Blick auf den Gesamtcharakter der Episode als kompositionelle/redaktionelle Hinführung auf eine im Wesentlichen bereits vorgegebene Exodusgeschichte gerecht zu werden. 137–138 Eine eingehende Diskussion, die der umsichtigen und verzweigten Analyse von Gertz gerecht würde, ist an dieser Stelle nicht möglich. Freilich geht es letztlich um in der Forschung schon mehrfach hin und her gewendete Beobachtungen und Deutungen. Dabei deutet Gertz i.W. bekannte literarkritische Urteile (der Quellenscheidung) in einem redaktionsgeschichtlichen Modell. Einige kommentierende Bemerkungen zu wichtigen Beispielen müssen genügen. So werden V. 4b und 6a als redaktionelle Einfügungen ausgeschieden.84 „Was V. 6a anbelangt, so fällt nach V. 5a zunächst die wiederholte Redeeinführung in einer fortlaufen|den Rede auf, wobei V. 6a keine inhaltliche oder sprachliche Verbindung zur vorangehenden Gottesrede in V. 5 erkennen lässt.“ – Gerade weil V. 6a eine gegenüber V. 5 neue Information gibt, ist die erneute Redeeinführung hier nicht „auffällig“, sondern geradezu gefordert.85 – „Darüber hinaus unterbricht V. 6a den guten Zusammenhang von V. 5 und
83 S. W ELLHAUSEN, Composition (Anm. 75), 70f.; BLUM, Studien (Anm. 4), 22ff., zuletzt SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 190ff. mit Lit. 84 Zum Folgenden s. GERTZ, Tradition (Anm. 12), 270f. 85 Die begleitende Argumentation ebd., Anm. 167 ist mir letztlich nicht ganz verständlich. Gertz gesteht hier die Möglichkeit solcher Neueinsätze in der narrativen Präsentation direkter Reden (mit „gliedernde[r] Funktion“) zu, will dies dann aber auf Fälle eingeschränkt wissen, in denen „ein und de[m]selben Gedankengang“ „ein neuer Gesichtspunkt des bereits Gesagten hinzugefügt wird“. Nun haben wir einerseits auch Fälle, in denen nicht einmal ein „neuer Gesichtspunkt“ neu eingeleitet wird, sondern eine bloße Wiederholung von bereits Gesagtem (z.B. Gen 20,9f.). Andererseits möchte man meinen, dass einer einfachen Logik nach im Falle eines neuen Gedankens der Neueinsatz umso mehr zu erwarten ist! Oder soll das Argument (unausgesprochen) besagen, dass mehr als
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V. 6b, weshalb es näher liegt, V. 6b direkt an V. 5 anzuschließen.“ – Der postulierte Zusammenhang ist insofern nicht „gut“, sondern defizient, als Mose nach V. 6b sich fürchtet „die Gottheit anzuschauen“, aber die Information, dass ein „Gott“ mit ihm spricht, ihm ohne V. 6a nicht gegeben wäre. M.a.W., erst die Ausscheidung von V. 6a schafft ein literarkritisches Problem. – V. 4b „stört“ nach Gertz als „retardierende Anrufung Moses“ den „engen Zusammenhang zwischen V. 4a und V. 5“ und sei „insbesondere deswegen als sekundärer Einschub verdächtig, weil das identische Subjekt der beiden aufeinanderfolgenden Sätze in V. 4a und V. 4b ausdrücklich genannt wird, wobei die Gottesbezeichnung von Jahwe in V. 4a zu Elohim in V. 4b übergeht.“ – Wie der sehr viel drängendere Vorgang in Gen 22,10–12 belegt, stellt die Retardation selbst dort keine Auffälligkeit dar. Die in der Tat auffällige Explikation des Subjekts in V. 4b nach V. 4a wiederum ist nicht ohne den Zusammenhang mit V. 6b zu sehen: ( ) bildet hier eine Inclusio um das szenische Geschehen, in dem der erscheinende Gott als solcher in die Perzeption Moses tritt (deshalb auch und nicht !86).87 138–139 Zu 3,7–10 weist Gertz die quellenkritische Analyse ab, sieht aber V. 9f. als auf den Zusammenhang hin gebildeten Eintrag. Das Argument (sachliche „Konkurrenz zu der Durchführung in V. 16f.“88) ist freilich nur nachvollziehbar, wenn man weiß, dass die postulierte Grundschicht der Exoduserzählung (mit 3,7f.) keinen Kontakt mit dem Pharao vor dem Auszug enthalten soll. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist jedoch die Zuweisung von 3,12a–15 zur „endredaktionellen“ Schicht. Das tragende literarkritische Argument beruht auf der Diagnose, die Ansage des Zeichens markiere „einen deutlichen Neueinsatz, ohne dass sie und die folgende Angabe über das Signifikat des Zeichens ‚dass ich selbst dich gesandt habe‘ (…) eine innere Verbindung zum Einwand Moses und zur Beistandszusage in V. 11.12a erkennen ließen. … Vielmehr soll das Zeichen V. 12a zufolge die Identität des Beauftragenden bezeugen.“89 – M.E. impliziert bereits diese Beschreibung selbst die vermisste „innere Verbindung“: Die Mitseinzusage stellt nur dann eine tragfähige Antwort auf Moses Einwand dar, wenn diesem Ich Autorität und Wirkmacht zukommt. Eben darauf bezieht sich | das Zeichen – analog zu dem von Gideon geforderten Zeichen in Ri 6,17ff.!:90 Es wird den Beauftragenden als „die Gottheit“91 erweisen, die das Volk aus Ägypten herauszuführen vermochte. Alle weiteren Argumente setzen im Übrigen die Prämisse einer alten Exoduserzählung-Grundschicht in Ex 3 voraus, sie entfallen mithin, wenn der Gesamttext kompositionell auf einen größeren Kontext hin
ein „Gedanke“ in einer direkten Rede nicht sein kann? Etwa auch dann, wenn die (nicht einmal sehr komplizierte) Szenerie dies erfordert (s. im Folgenden)? 86 Die Erläuterungen zum Gebrauch der Gottesbezeichnungen in der Episode (GERTZ, Tradition [Anm. 12], 270, Anm. 166) sind insofern nicht präzise. 87 Vgl. zum Ganzen schon BLUM, Studien (Anm. 4), 25. Den Bezug zwischen V. 4b und V. 2a übergehe ich hier, weil Gertz V. 2a (m.E. nicht schlüssig) ebenfalls als Eintrag ausscheidet. 88 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 290. 89 GERTZ, a.a.O., 292. 90 Vgl. BLUM, Studien (Anm. 4), 34. GERTZ verweist auf die Gideon-Parallele (Tradition [Anm. 12], 292, Anm. 268), ohne die methodische Konsequenz zu ziehen. 91 Von daher gibt auch die Rede von Gott in der 3. Person (in Gottesreden alles andere als selten) an dieser Stelle einen guten Sinn. Andere „grammatische Unebenheiten“ (GERTZ, Tradition [Anm. 12], 293) vermag ich schon gar nicht zu erkennen. Insbesondere der Plural in 12b ist nach der Nennung des Volkes im vorausgehenden Satz nicht nur unproblematisch, sondern sachlich gefordert.
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angelegt ist.92 Die Zuordnung von 3,13–15 zur Endredaktion schließlich ruht allein auf der entsprechenden vorgängigen Zuweisung von 3,6a (s.o.) und 3,12ab.93
Unabhängig davon besteht Anlass, mit vereinzelten punktuellen Ergänzungen zu rechnen. Dazu gehört, wie oben notiert, zunächst der eingeschobene Vers 3,15. Neben dem gleichsam mit liturgischer Emphase explizierten JHWH-Namen begegnet hier die Selbstbezeichnung Gottes als . Die genau entsprechende Formulierung findet sich daneben noch in dem Fortschreibungstext in Ex 4,5, außerdem in 3,6, hier allerdings mit einer auffälligen Inkongruenz zwischen dem singularischen Ausdruck und der anschließenden Nennung der drei Erzväter.94 Dabei ist die singularische Formulierung nicht als Übernahme von Gen 46,3a zu erklären (Gertz)95 (bei einer intertextuellen Aufnahme wäre zu erwarten), sondern aus der Dynamik der Episode: Mit der Selbstvorstellung als „Gott deines Vaters“ identifiziert sich die erscheinende | Gottheit zugleich als persönlicher Gott Moses und als Gott der Israeliten.96 Die Identifikation mit dem JHWH-Namen kann damit im weiteren Verlauf des Dialogs thematisch entfaltet werden (3,13ff.). Der inkongruente Anschluss der Vätertrias dürfte von daher auf eine Ergänzung derselben Hand wie in 3,15 und/oder 4,5 zurückgehen. 139–140 Die namentliche Nennung der Väter begegnet außerdem noch in 3,16a, hier allerdings in der bündigeren Formulierung . Zuletzt hat Gertz diesen Ausdruck als „nachklappende und zwischen und ungut eingefügte Bestimmung Jahwes“ diagnostiziert und seiner „End92 Das „unbefriedigende“ Zeichen (es lässt sich im Gesamtkontext durchaus befriedigend deuten, vgl. BLUM, Studien [Anm. 4], 34.53) und vermeintliche sprachliche „Unebenheiten“ (s. vorstehende Anm.) als Argumente für redaktionelle Herkunft der Verse (GERTZ, Tradition [Anm. 12], 293) funktionieren im Übrigen nur unter dem literarkritischen Axiom, wonach minderes Niveau eo ipso auf einen Redaktor verweist. – No comment. 93 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 294: „So ist die V. 13 zugrunde liegende Vorstellung, dass Mose sich nach seiner Berufung zuerst an die Israeliten wendet, zwar durchaus sinnvoll, doch wird dies im Berufungsbericht weder gefordert noch vorbereitet. Lediglich die Zeichenforderung in V. 12 schafft einen Übergang, insofern sie im Gegensatz zu V. 10f. die Sendung Moses im Hinblick auf den Adressaten nicht näher bestimmt und das Zeichen ausdrücklich auch auf die Israeliten bezieht.“ Und: Die Bezeichnung „Gott eurer Väter“ „setzt … nach dem bisherigen Verlauf der Berufungsszene die endredaktionelle Selbstvorstellungsformel in V. 6a voraus“. 94 In der Textüberlieferung ist dies z.T. durch eine pluralische Formulierung geglättet, insbesondere im Samaritanus. Die einzige mir bekannte Parallele für eine solche Inkongruenz findet sich in Gen 31,42; allerdings kann man auch da fragen, ob und nicht aus 31,53 eingetragen wurden. 95 So GERTZ, Tradition (Anm. 12), 279 (s. schon oben bei Anm. 61). 96 Vgl. die sachgemäße Aufnahme als „Gott eurer Väter“ in der (vorgestellten) Rede Moses an die Israeliten in 3,13. Eine Formulierung , die man sich theoretisch als Alternative vorstellen mag, ist alttestamentlich gar nicht belegt.
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redaktion“ zugeschrieben.97 Nun ist dieses vermeintliche „ungute“ „Nachklappen“ für hebräisches Sprachempfinden wohl gerade die elegantere Formulierungsmöglichkeit,98 gleichwohl könnte man im Analogieschluss zu 3,6 etc. auch hier eine Ergänzung vermuten, allerdings rät die abweichende Formulierung mit nicht wiederholtem zur Vorsicht. Die Frage muss demnach unentschieden bleiben. 2.2 KD-Texte in der Genesis? Wie in 1.2 ausgeführt, wäre auch eine ursprüngliche Nennung der Erzväter in 3,16 ohne direkte Bedeutung für die Frage einer literarischen Konnexion von Vätern und Exodus, die zumindest auf der Ebene von Ex 3 weder nachweisbar noch auch dem Textprofil nach wahrscheinlich ist. Eben diese Frage der Verbindung der Überlieferungskomplexe (und deren Stratigraphie) soll nun mit einem Ausblick auf die Verhältnisse in der Genesis beleuchtet werden. Da auf der Ebene der priesterlichen Überlieferung diese Verbindung als solche bislang (und mit Recht) außer Frage steht, können wir uns fürs erste auf diejenigen Texte konzentrieren, die dafür – nach der gegenwärtigen Diskussionslage99 – am ehesten in Frage kommen: die in meinem Erklärungsmodell bisher der D-Komposition zugeschriebenen Abschnitte in der Vätergeschichte. Reduziert auf den „harten Kern“ substantieller Einheiten/Komponenten, die im Blick auf die Verbindung mit der Exodus/Mosegeschichte von Be- | deutung sein können, handelt es sich in erster Linie um folgende Texte: Gen 15; 22,15–18; 24; 26,3b–5; 50,24f.(?).100 140–141 Die literarische Konnexion dieser Belege über die Genesis hinaus ist z.T. offenkundig. So werden die als Schwur JHWHs formulierten Verheißungen von 22,15ff. und deren Aufnahme in 26,3bff. in der Fürbitte Moses in Ex 32,13 im Wortlaut zitiert. Dazu gehört in Ex 32,13 auch die Landverheißung als Eid (vgl. Ex 13,5a; 33,1b etc.); deren Basistext bildet Gen 15 mit der Landverheißung als Inhalt der berît JHWHs mit Abraham, die wohl in Gen 24,7 zum ersten Mal zitiert wird.101 Darüber hinaus über97
GERTZ, Tradition (Anm. 12), 295. Vgl. Beispiele wie Gen 15,13 oder Ex 18,6. 99 S. zuletzt vor allem SCHMID , Erzväter (Anm. 11). 100 SCHMID, a.a.O., 110f., möchte offenbar die Zuordnung dieser Belege zu einer Gruppe in Frage stellen, so im Blick auf Gen 22,15ff.; 26,3f. Dann zählt er aber doch 26,3f. mit Gen 15 u.a. zu den Schichten, „die mehr als Gen überblicken“, übersieht dabei freilich, dass 22,15ff. und 26,3f. schlechterdings nicht zu trennen sind. Seine Schwierigkeiten mit dem Siglum „D“ für diese Gruppe scheint mit einem zeitlich enggefassten und monolithischen „Deuteronomismus“-Begriff zusammenzuhängen (anders a.a.O., 296f.). Zu Gen 15 s. die folgende Anm. 101 Die Möglichkeit, auf eine b erît-Zusage als Schwur/Eid Gottes zurückzuverweisen, beruht darauf, dass die berît eine eidliche Verpflichtung impliziert. Das belegen nicht allein 98
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schaut Gen 15,13–16 in einer Prolepse den weiteren Geschichtsverlauf bis zu Auszug und Rückkehr ins Land. Unmittelbar am Übergang von Gen zu Ex zitiert Joseph in 50,24 wiederum die Landverheißung als Eid in Verbindung mit einer Ankündigung, die Ex 3,16 vorwegnimmt (s.o.). Die Auflistung dieser Textstücke (selbst wenn sie sich hier und da um diverse Verse ergänzen lässt) bietet das Bild einer eher punktuellen und – von Gen 15 und 24 abgesehen – wenig substantiellen Ergänzungsschicht, deren Umfang selbst gegenüber der in Gen 12ff. schmalen priesterlichen Schicht zurücksteht. Die bisherige KD-Hypothese ging von einer grundsätzlich vor-priesterlichen Verortung dieser Texte, die eine vielfältige Affinität zur deuteronomistischen Überlieferung aufweisen, aus. Eben diese Verortung steht inzwischen aufgrund jüngerer Analysen und Beobachtungen in mancher Hinsicht zur Disposition. | 141–142 Besonders deutlich erscheint der Befund zunächst im Blick auf Gen 24. Für diese Erzählung hat vor allem A. Rofé nicht nur aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen eine relative Spätdatierung in die Perserzeit begründet, sondern auch eine Abhängigkeit von P-Texten vertreten. Als Indiz benennt er insbesondere das Zitat der Abraham-Rede in V. 40 ( ^ ), welche die paränetische Eröffnung der Gottesrede an Abraham in Gen 17,1 aufnimmt und den Erzvater damit als Gerechten im Sinne dieses Programmtextes zeichnet;102 auch auf die Entsprechung zwischen 24,3b und 28,6.8 (P) ist hier zu verweisen. Ist mit einer Einschreibung der Erzählung in den bereits priesterlich edierten *Pentateuch zu rechnen,103 „dtr“ Belege, sondern bspw. auch die Äquivalenz der „Bundeszusage“ (Ex 6,4) und des „Schwures“ (Ex 6,8 [zur entsprechenden Bedeutung von s. Ez 36,7]) in P (vgl. zum Ganzen BLUM, Komposition [Anm. 3], 376f. mit Lit.; zum Sprachgebrauch auch M. WEINFELD, Art. , ThWAT I, 784f., mit Verweis auf hendiadystische Ausdrücke in der Umwelt wie adê mamite oder "#). Dieser semantische Zusammenhang ist für die Genesisbelege vorauszusetzen, unabhängig davon, ob ihre Autoren zuvor Belege wie Dtn 4,31; 7,12; 8,18 etc. gelesen hatten oder nicht (zu SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 295f.). Entgegen der Unterstellung bei Schmid rechne ich im Übrigen ausdrücklich (BLUM, Komposition [Anm. 3], 376; DERS., Studien [Anm. 4], 173 mit Anm. 327) mit Gestaltungen der Väterverheißungen als Eid ohne entsprechende Bezugsstellen. Zumindest für Gen 22,15ff. etc. reicht diese Erklärung jedoch nicht, wie die genaue Abstimmung mit Gen 15 zeigt (BLUM, Komposition [Anm. 3], 389f.). 102 A. ROFÉ, An Enquiry into the Betrothal of Rebekah, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), hg. von E. Blum u.a., NeukirchenVluyn 1990, 27–39, darin 34. Vgl. des Weiteren die Entsprechung von 24,36b und 25,5 (P). Nicht aufgenommen ist in Gen 24 allerdings die priesterliche Periodisierung der Gottesbezeichnungen. 103 Widerständig bleibt freilich in mancher Hinsicht der Schluss der Erzählung, in dem (der schon in 24,1 „hochbetagte“) Abraham nicht mehr erscheint, dafür jedoch nach dem Wortlaut in V. 67a Isaaks Mutter Sara („Isaak brachte sie in das Zelt zu Sara, seiner Mutter“); beides würde sich in einen vor-P-Kontext fügen (unter Voraussetzung einer priesterlichen Retouche in V. 67b; s. App. BHK3). Alternativ bleiben die Möglichkeiten
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eröffnet sich für ihre Datierung zudem ein zusätzlicher Spielraum in die Perserzeit hinein, wie er aufgrund ihres thematischen Profil nur geboten erscheint: Die Komplexität, in der hier das Problem „legitimer“ endogamer Heiratsbeziehungen und des Verbleibs im Land (bzw. der Abwanderung in die Diaspora) als Zielkonflikt behandelt wird, wäre in einem frühnachexilischen Kontext kaum zu verstehen, wohl aber vor dem Hintergrund längerer, Generationen übergreifender Erfahrung. 142–143 Im Falle von Gen 15 hat sich in jüngster Zeit ein gewisser Forschungstrend herausgebildet, wonach dieses Kapitel bereits die priesterliche Überlieferung mit der Abraham-berît in Gen 17 voraussetzt.104 Tatsächlich dürfte es zumindest in seiner ‚kanonischen‘ Gestalt zu den jüngsten Genesistexten zählen. Darauf deutet zunächst die Eröffnung in 15,1f., die unverkennbar auf die vorausgehende Episode von Gen 14 hin gestaltet ist – sachlich (die Frage des | „Lohnes“ [] für Abraham stellt sich nach seinem überlegenen Verzicht in 14,21ff.) und in offenen (" in 14,20; 15,1) wie versteckten105 Anspielungen.106 Auf diese Weise wird die programmatische Verheißungserzählung nicht nur in Jerusalem verortet, sondern Israels Ahnvater wird zugleich als prophetisch-königlich-priesterliche107 Gestalt dem Jerusalemer Priesterkönig Melchisedek kontrastiert und vorgeordnet. In diachroner Perspektive scheint die vorliegende Einleitung allerdings einer jüngeren transformierenden Überarbeitung zu verdanken zu sein; darauf deuten „literarkritisch“ die Doppelung zwischen V. 2 und 3 sowie die Inkongruenz zwischen der Kennzeichnung als „Vision“ (V. 1a) und der (a) einer abweichenden Aufsprengung der Konstruktusverbindung (regulär ) oder (b) textgeschichtlicher Korruption (z.B. als Glosse). Nicht eindeutig ist sodann die diachrone Erklärung der Verortung von Isaak bei in 24,62 und 25,11b. Dass 25,11 neben 25,18 wohl eine Abgrenzung gegenüber Ismael (unter Kenntnis der Hagar/Ismael-Überlieferung von Gen 16) intendiert und Isaaks Verortung in 24,62 nicht weiter motiviert erscheint, könnte immerhin für eine Abhängigkeit auf Seiten von Gen 24 sprechen. – Mit der Einschreibung von Gen 24 mag schließlich auch das genealogische Stück in 22,20 bis 24 zusammenhängen; vgl. 24,15 mit 22,22f. 104 Th. RÖMER, Genesis 15 und Genesis 17. Beobachtungen und Anfragen zu einem Dogma der „neueren“ und „neuesten“ Pentateuchkritik, DBAT 26 (1989/90) 32–47; SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 172ff. mit Anm. 22. 105 Mit der Gematria von „Elieser“ (15,2), die bekanntlich mit der Zahl von Abrahams Knechten in 14,14 übereinstimmt. 106 Zuletzt SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 176f. In BLUM, Komposition (Anm. 3), 464, Anm. 5, hatte ich – etwas zu einfach – die Abhängigkeit nur auf Seiten von Gen 14 postuliert. Inwiefern in 15,16 eine „Ersetzung des dekalogischen “ sein soll/kann und von daher als „Anknüpfung“ an 14,18 zu sehen wäre (RÖMER, Genesis 15 [Anm. 104], 41), ist mir unklar. 107 Vgl. (a) die Gotteserscheinung in einem $ mit einer detaillierten Vorschau über die Zukunft seiner Nachkommenschaft, (b) das „königliche“ Heilsorakel (15,1b), (c) die kultische Handlung in 15,9ff.
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Darstellung in V. 5ff. Die Möglichkeit einer weiteren Fortschreibung kann man – mit der älteren Forschung – im Bereich der Vorschau auf die Heilsgeschichte in V. 13–16 erwägen. Allerdings erweist sich auch dieser Teil als narrativ subtil vorbereitet und eingebunden,108 und der Hinweis auf die Rezeption priesterlicher Überlieferungen in diesen Versen109 erscheint insofern (in einem problematischen Sinne) zirkulär, als eine gewisse priesterliche Kolorierung auch im Vorkontext, in V. 7, kaum zu verkennen ist:110 Die Herausführung aus „Ur Kasdim“ korrespondiert Gen 11,28ff. (P),111 und die Formulierung von 15,7b insgesamt hat ihre nächste Parallele in Lev 25,38. 143–144 Alles in allem bleibt das Urteil über das diachrone Profil von Gen 15 eine Abwägungsfrage. Komplexere Sachverhalte – insbesondere im Blick auf | Überarbeitungen – sind nicht auszuschließen.112 Beim gegenwärtigen Stand der Beobachtungen erscheint es aber eine sinnvolle Hypothese, mit einem kompositionellen Text zu rechnen, der gleichermaßen nicht-priesterliche wie priesterliche Überlieferung in der Genesis (und darüber hinaus) fortschreibt. Unter dieser literarhistorischen Voraussetzung ist dann natürlich auch die intratextuelle Beziehung zwischen Gen 15 und 17 entsprechend zu konturieren: Insbesondere die Aussage vom „Glauben“ Abrahams (in Reaktion auf die Mehrungsverheißung), der ihm als (Erweis von) zedaqa angerechnet wird, bildet in dieser Perspektive ein proleptisches Gegenbild zum Lachen Abrahams angesichts der Ankündigung eines Sohnes für Sara in 17,17. Im diachronen Relief betrachtet wäre demnach die Bemerkung von 17,17 in ihrem primären Kontext noch ohne theologisches Gewicht gewesen und hätte neben einer Hervorhebung des Wunderbaren lediglich einer impliziten Ätiologie des Isaak-Namens gedient. Für Gen 15 könnte sie dann aber zum Anstoß für eine eigenständige und korrigierende Thema108 Vgl. die Diskussion in BLUM, Komposition (Anm. 3), 377ff., mit Bezug auf einschlägige Beobachtungen von Y. Zakovitch. Die Beobachtung einer gewissen Zweigipfligkeit der vorliegenden Erzählung in 15,7ff., die für meine damalige Annahme einer redaktionellen Erweiterung letztlich ausschlaggebend war, relativiert sich doch erheblich, wenn man einen primär kompositionell-interpretierenden Abschnitt wie Gen 15 eher an den Stringenzmaßstäben diskursiver denn narrativer Texte misst. Auch die ebd. beschriebene „Wiederaufnahme“ von V. 12 in V. 17 kann in diesem Sinne als ‚primäres‘ Gestaltungsmittel gesehen werden. 109 BLUM, Komposition (Anm. 3), 379, mit Lit. 110 Vgl. J. HA, Genesis 15. A Theological Compendium of Pentateuchal History (BZAW 181), Berlin/New York 1989, 102. 111 Meine Überlegung (Komposition [Anm. 3], 379, Anm. 122), „auch die D-Überlieferung [könnte] eine entsprechende Tradition gekannt haben“, wird von SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 181 Anm. 64, nicht ohne Berechtigung als „spekulative ad-hoc-Hypothese“ qualifiziert. 112 Relative Textkohärenz bleibt im Blick auf die Frage der Einheitlichkeit/Uneinheitlichkeit letztlich ein argumentum e silentio, hier wie auch andernorts.
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tisierung des Glaubens Abrahams geworden sein113 – entstehungsgeschichtlich durchaus eine plausible Möglichkeit, deren theologische Dimensionen allerdings sorgfältig zu prüfen sein werden.114 Mit der hier skizzierten Verortung von Gen 15 verändern sich die Koordinaten auch für die übrigen Texte in Gen, die von Verheißungseiden für die Väter sprechen. In der Genesis gilt dies insbesondere für 22,15–18 und 26,3b–5.115 Zwar sind die Erzählung von Gen 24116 (mit ihren spezifischen Anliegen) und – wie wir gleich sehen werden – vor allem Gen 50,24f. kom-| positionell nicht ohne weiteres mit der Linie von Gen 15 zu identifizieren, doch wird man sie historisch nicht sehr weit davon abrücken können. Vor einer weiterreichenden kompositionsgeschichtlichen Auswertung bedarf freilich die entscheidende „Nahtstelle“ zwischen Gen und Ex einer genaueren Überprüfung. 144–145 2.3 Der Übergang von Genesis zu Exodus Die letzten eingehenden Analysen des Übergangs von Gen zu Ex durch Schmid und Gertz arbeiten mit eingeführten redaktionsgeschichtlichen Verfahren, welche gleichsam über eine Subtraktion bzw. ein „Ausschaben“ mutmaßlich jüngerer Elemente die älteren Strata übergreifender Redaktionen und vorgegebener Texteinheiten freizulegen suchen. Zu den axiomatischen Voraussetzungen dieses Verfahrens gehört die Annahme, dass die entsprechenden „Vorstufen“ vollständig oder doch in den erhaltenen Elementen unverändert konserviert sind. Eine solche Annahme ist – insbesondere im Blick auf die älteren Textanfänge und -schlüsse – a priori nicht gerade wahrscheinlich. Transformierende Eingriffe in den Text oder auch 113 RÖMER, Genesis 15 (Anm. 104), 41, verweist auf eine entsprechende Deutung bereits bei B.D. Eerdmans; vgl. zuletzt SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 182. 114 Dies gilt insbesondere für das Gewicht und die Tragweite, welche der Gemeinschaftstreue Abrahams in Gen 15 bzw. darüber hinaus zugeschrieben werden. Beim inhaltlichen Verständnis in Gen 15,7 scheint mir im Übrigen immer noch die herkömmliche syntaktische Zuordnung (JHWH als Subjekt von ) am angemessensten (zur Diskussion M. OEMING, Der Glaube Abrahams. Zur Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 in der Zeit des zweiten Tempels, ZAW 110 [1998] 16–33; SCHMID, Erzväter [Anm. 11], 184f., Anm. 90). Unbeschadet dessen sollte man sich (in historischer Exegese) vor einer christlichen Relecture im Sinne einer „Gerechtsprechung Abrahams aus Glauben“ hüten. Im historischen Kontext alttestamentlicher Theologie dürfte sich rasch zeigen, dass hier letztlich kein anderes zedaqa-Verständnis zum Ausdruck kommt als in Dtn 6,25 (zu SCHMID, a.a.O., 174.369); vgl. vorläufig BLUM, Komposition (Anm. 3), 369f., und die nächste Anm. 115 Vgl. o. Anm. 100. Auch Abrahams Glaube in Reaktion auf das Verheißungswort in Gen 15 und die Verheißungen als Antwort auf seinen Gehorsam gegenüber dem Gottesgebot in 22,15ff. bzw. 26,3–5 zeigen nicht unterschiedliche „Theologien“ an: beide, Glaube und Tat im Gehorsam, sind Erweis seiner zedaqa, d.h. Bewährung seiner „Gemeinschaftstreue“. 116 Vgl. aber die Beziehung zwischen Gen 24,60b und 22,17b.
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Auslassungen (welcher Größenordnung auch immer) sind in der Analyse gleichsam nicht vorgesehen, weil sie sich der methodischen Kontrolle entziehen. Gleichwohl ist mit solchen Möglichkeiten zu rechnen. Insofern muss jede Analyse dieser Art unter einem methodischen Vorbehalt stehen. Dies gilt auch für die folgenden Überlegungen. Orientiert an der zu Ri 2,8.10 parallelen Epochenüberleitung in Ex 1,6.8 hatte ich in meiner Pentateucharbeit gemeint, mit Gen 50,24 + Ex 1,6.8 einen „in jeder Hinsicht bündigen Übergang“ auf vorpriesterlicher Ebene isolieren zu können.117 Schmid und Gertz bestreiten jedoch diese „Bündigkeit“ aus unterschiedlichen Gründen. Schmid hält den Übergang für lückenhaft, weil „ohne Ex 1,7 (‚P‘) … der Sachgrund für die Befürchtung Pharaos Ex 1,9 [fehlt].“118 Der Einwand ist bedenkenswert, aber nicht zwingend: Zum einen verweist D. Carr mit Recht darauf, dass ein Erzähler die Möglichkeit hat, Informationen auch im Munde handelnder Personen mitzuteilen;119 zum anderen ist zu fragen, ob 1,7 in toto als priesterlich zu sehen ist (dazu gleich). Gertz dagegen bestreitet zum einen den Sinn einer literarhistorischen Scheidung innerhalb der sorgfältig aufeinander abgestimmten Verse Gen 50,24–26(a). Zum anderen schließt s.E. „Ex 1,6 wesentlich besser an Ex 1,1–5 als an Gen 50,24“ an. „Denn die Mitteilung vom Tod Josephs und seiner Brüder sowie dieser ganzen Generation in Ex 1,6 setzt doch deren Auflistung in Ex | 1,1–5 voraus … Dagegen entbehrt – wörtlich genommen – die postulierte unmittelbare Textfolge von Gen 50,24 (Joseph kündigt den Brüdern seinen Tod und ihre Herausführung aus Ägypten an) und Ex 1,6 (Joseph und seine Brüder sterben) nicht einer gewissen Tragikomik.“120 Vor allem letztere Beobachtung lässt die von mir seinerzeit postulierte Textfolge in der Tat fraglich erscheinen. 145–146 Bei Schmid und Gertz hängen an dem genannten Argument, wonach die Pharaorede in Ex 1,9 den Vers 7 („P“) literarisch voraussetze, die weitergehenden Thesen, dass in Ex 1 insgesamt (Schmid) bzw. in 1,1–10 (Gertz) nichts Vorpriesterschriftliches zu finden sei.121 Vorpriesterliches Material der Exodusgeschichte setzt für Gertz (ohne überlieferte Einlei-
117 BLUM,
Studien (Anm. 4), 102f. Erzväter (Anm. 11), 152f. 119 CARR, Genesis (Anm. 63), 291. 120 GERTZ, Tradition (Anm. 12), 360ff., die Zitate 360. Vgl. bereits die Argumentation bei H.-C. SCHMITT, Die Josephsgeschichte und das deuteronomistische Geschichtswerk. Genesis 38 und 48–50, in: Deuteronomy and Deuteronomic Literature (FS C.H.W. Brekelmans [BEThL 138]), hg. von M. Vervenne und J. Lust, Leuven 1997, 391–405, darin 393. 121 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 152ff.; GERTZ, Tradition (Anm. 12), 365ff. Inwiefern „V. 10b.12 den priesterschriftlichen Sprachgebrauch, von dem auch 1,7 abhängig ist, voraus[setzen]“ soll (KRATZ, Komposition [Anm. 13], 287), erschließt sich mir nicht. 118 SCHMID,
112
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus
[146–147]
tung) mit 1,11 ein;122 Schmid hingegen findet einen alten Erzählungseinsatz in Ex 2,1ff. 146–147 Die Schwierigkeit, dass der vorliegende Text die Verfolgung durch Pharao nach Ex 1 voraussetzt, löst sich s.E. dadurch, dass nach der ursprünglichen Intention der Geburtsgeschichte „Mose … ein uneheliches Kind einer gewaltsamen Vereinigung eines Leviten mit der Tochter Levis war“.123 Diese gewagte Neulesung ergibt sich für Schmid aus dem Wortlaut von Ex 2,1 und werde durch weitere Erzählungszüge gestützt, bildet aber m.E. gleich aus mehreren Gründen eine Eisegese: (1) allein kann mit Bezug auf eine Frau elliptisch für „zur Frau nehmen“ gebraucht werden (vgl. Gen 38,2), eine entsprechende Ellipse für „gewaltsame Vereinigung“ gibt es bezeichnenderweise nicht.124 (2) Bereits die Tradenten, die Moses Genealogie konkretisierten (Ex 6,20ff.), sahen offenbar keine Veranlassung, die Ellipse in 2,1 vereindeutigend aufzulösen. (3) Dabei ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Formulierung „die Tochter Levis“ überhaupt erst auf einen transformierenden Eingriff von | P-Tradenten (im Blick auf die Genealogie gemäß 6,20) zurückgeht.125 Die vorpriesterliche Eröffnung der Episode entzieht sich in diesem Falle einer Rekonstruktion. (4) Schmids Argument, dass bei seiner Lesung die Psychologie der Aussage in 2,2b („sie sah, dass er gut/schön war“) plausibler würde,126 beruht auf einer Verkürzung der narrativen Funktion der Feststellung der „Schönheit“ des Kindes: Auf der Handlungsebene geht es nicht nur um das Verhalten der Mutter, sondern – vom dramatischen Höhepunkt der Episode her gesehen – zugleich um das der Tochter Pharaos, die ebenfalls das Kind „sieht“ und deren Mitleid gerade nicht selbstverständlich ist (V. 6); auf der Leserebene geht es um die ‚Besonderheit‘ des Neugeborenen, die sich eben von Anbeginn abzeichnet. (5) Weshalb bei Schmids Lesung die Feststellung der Prinzessin in V. 6 („dies ist eines der Hebräerkinder“) verständlicher werden soll, bleibt unklar; das Gegenteil scheint mir richtig zu sein. Die Einschätzung jedenfalls, wonach dies „in keiner Weise erzählerisch mit der Anordnung des Kindermordes aus Ex 1 in Verbindung gebracht“ werde, verkennt eklatant die dramatische Pointe des narrativen Plots, der auf die Entsprechung zwischen 1,22 und 2,5f. angelegt ist: Zwischen dem Befehl Pharaos an sein ganzes Volk(!) („Jeden neugeborenen Knaben, in den Nil sollt ihr ihn werfen!“) und 122 Die im Anschluss an ältere Quellenscheidung vorgebrachten Hilfsargumente, der Plural in 1,11a und der Sprachgebrauch in 1,8b bzw. 1,12, wirken freilich gesucht: Der Plural ( ) ist nach der an das Volk gerichteten Aufforderung von 1,10 ganz natürlich, und die kleine lexematische Variation zwischen den nominalen Ausdrücken in 1,9b und den Verben in 1,12a wird einem hebräischen Erzähler wohl noch erlaubt sein. 123 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 155. 124 Zum Beleg verweist S CHMID auf Gen 6,2 und 24,67 (Erzväter [Anm. 11], 154, Anm. 601). In Gen 6,2 heißt es jedoch von den „benê ha’ælohîm“ (!): … , und in Gen 24 geht es bekanntlich um eine Eheschließung; Es handelt sich mithin um ein Gegenbeispiel. Auch in 2 Sam 11,4 bezeichnet nicht alleinstehendes eine Vergewaltigung (ebd., Anm. 602); vielmehr heißt es hier: . Die angeblich „engste Parallele zu Ex 2,1f.“ schließlich, Hos 1,2f. (a.a.O., 155), liefert ebenfalls nicht den gewünschten Beleg, weil die Folge der Kinder in 1,3–8 zumindest so etwas wie eine nachhaltige Beziehung präsupponiert. 125 Für eine Alternative vgl. BLUM, Studien (Anm. 4), 231, Anm. 12. 126 Im Übrigen ist die unterstellte Handlung einer „geplanten Beseitigung eines unehelichen Kindes“ weder als Einzelfall noch als Handlungsmuster für das alte Israel belegt. Überlieferte Lösungsmuster für Fälle außerehelicher Beziehungen sind anderer Art (vgl. Ex 22,15f.; 2 Sam 11 etc.).
[147–148]
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus
113
der Szene mit Pharaos eigener Tochter, die im/am Nil steht und einen Hebräerknaben in der Hand hat … (6) Der Vergleich mit der Sargonlegende ist bekanntlich in vieler Hinsicht bedeutsam, kann jedoch methodisch nicht das individuelle Sinnprofil erheben.127 147–148
Nicht allein die Geburtsgeschichte Moses erweist sich jedoch auf den Zusammenhang mit Ex 1 hin gestaltet,128 sondern auch die in 2,11 vorausgesetzte Situation der Israeliten bliebe ohne Ex 1 narrativ unvorbereitet. Damit stellt sich erneut die Frage nach dem Anfang dieser Erzähllinie. Da Ex 1,1–8 in irgendeiner Weise auf größere Zusammenhänge bezogen sind, 1,9 aber einen Vorkontext voraussetzt (ebenso wie Gertzens Anfang in 1,11), ist ein absoluter Erzählanfang in Ex 1–2 nicht (mehr) zu erkennen. Dies kann freilich nicht erstaunen – es sei denn, man rechnet mit exklusiv additiven Traditionsprozessen nach Art fossiler Ablagerungen (s.o.).129 Jeder Versuch einer Rekonstruktion wäre unseriös; allenfalls mag man vermuten, dass in der Erzähleinleitung u.a. von der Vermehrung der Israeliten in Ägypten die Rede war. Zumindest hat die bei Schmid und Gertz behauptete einseitige Abhän|gigkeit der Aussagen in 1,9–10 von dem priesterlichen Vers 1,7 alle Wahrscheinlichkeit gegen sich. Entscheidend ist der Vergleich der Formulierung in Ex 1,7 mit sonstigen priesterlichen Texten einerseits und mit 1,9 andererseits. Dabei gilt es folgende Beobachtungen zu erklären: (a) Die Häufung der Mehrungsaussagen in 1,7 geht über das sonst in P übliche Maß hinaus (vgl. Gen 8,17b; 9,7). (b) Neben typisch priesterlichen Ausdrücken findet sich darunter der Ausdruck , der hier mit ein Wortpaar bildet. Dieses ist im AT relativ häufig belegt, 130 nur nicht in der gesamten P-Literatur (mit ihren formelhaften Phrasen). (c) Just dieses Wortpaar kehrt wieder in der Erzähllinie von 1,9ff.131 Dieser Befund erlaubt es nicht, 1,7 undifferenziert als „klassischen ‚P‘-Text“ auszugeben (Schmid)132; auch die Annahme einer punktuellen Besonderheit in „P“ (Gertz)133 befriedigt nicht. 127 Zu SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 156f. Die erneute Reproduktion der angeblichen „Spannung zwischen Fronarbeit und Kindermord“ (nach Gressmann u.a.) (SCHMID, a.a.O., 157; GERTZ, Tradition [Anm. 12], 371) verwundert angesichts des doch recht eindeutigen Zusammenhangs von 1,9–12, der belegt, dass der Gedanke einer Dezimierung durch Zwangsarbeit keine Erfindung des 20. Jh.s darstellt. 128 Vgl. dazu auch GERTZ, a.a.O., 374f. 129 Vgl. etwa SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 152: „… Ex 1,9f bezieht sein Subjekt aus 1,8, und Ex 1,11 ist unpersönlich formuliert, zudem kann weder mit Ex 1,9 oder 1,11 eine Erzählung einsetzen.“ 130 Vgl. Gen 18,18; Num 14,13; Dtn 4,28; 7,1; 9,1.14; 11,23; 26,5; Jos 23,9; Jo 2,2; Mi 4,3 u.a. Die Mehrzahl der Belege weist Affinitäten zur Literatur des Deuteronomismus oder seines Erbes auf. 131 Im Falle von Ex 1,20b ist eine jüngere Erweiterung nicht auszuschließen; vgl. BLUM, Art. , ThWAT VII, 306f.; zuletzt GERTZ, Tradition (Anm. 12), 373 mit Lit. 132 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 70. 133 In seiner ausführlichen Diskussion (Tradition [Anm. 12], 366ff.) trägt GERTZ einerseits der Konvergenz der Befunde nicht wirklich Rechnung, andererseits scheint er hier nur mit der Möglichkeit mechanisch-additiver Überlieferungsbildung zu rechnen; s. gleich im Folgenden.
114
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus
[148–149]
Vielmehr bleibt eine der folgenden Möglichkeiten:134 (1) KP nimmt bewusst den nicht-PKontext in Ex 1,9ff. auf. (2) KP integriert eine vorgefundene Einleitung der Exodusgeschichte. (3) Ein P-Redaktor hat hier P und nicht-P-Material verschränkt. Bei jeder dieser Möglichkeiten ist davon auszugehen, dass die ansonsten in (K)P übliche Paarung von und hier aufgesprengt wurde, um mit Blick auf 1,9 die Zusammenstellung von
und zu erreichen;135 dabei lag die Voranstellung von vor die ganze Reihe aus semantischen Gründen nahe.136 Eine Entscheidung zwischen Alternative (1) und (2) entzieht sich der Analyse. Die Alternative zwischen (1)/(2) und (3) hängt am vorausgesetzten Gesamtmodell zu „P“. 148–149 Dabei bietet übrigens gerade Ex 1,7 eine kaum beachtete Schwierigkeit für die gängige „Priesterschrift“-Hypothese: Das in der Aussage von V. 7b implizierte Bedrohungspotential aus der Perspektive der Ägypter („das Land wurde voll von ihnen“ – in Analogie zum „Füllen der Erde“ in Gen 1 und 9), findet in dem postulierten P-Faden (1,7*.13f.) kein Echo.
Auch wenn die eigentliche Erzählsubstanz in Ex 1 mithin nicht als nach-P ausgewiesen werden kann, bestätigt sich aber – unter dem oben benannten Vorbehalt137 – die nach-P-Verortung der nicht-priesterlichen Überleitungsele|mente an der Nahtstelle von Gen und Ex bei Schmid und Gertz:138 (1) Weder Gen 50,24 + Ex 1,6.(7*.)8 bilden einen narrativ schlüssigen Übergang (s.o.) noch Gen 50,24–26 + Ex 1,6.7*.8 (so Van Seters)139. (2) Für Gen 50,24–26 empfiehlt sich aus mehreren Gründen ein nachpriesterlicher Kontext (dazu im Folgenden). Zugleich lässt sich freilich (gegen Schmid, Gertz) wahrscheinlich machen, dass diese nicht-P-Elemente die Verknüpfung von Väter- und Exodusgeschichte nicht konstituiert haben, sondern bereits voraussetzen.
134 Vgl.
auch W.H. Schmidt, Exodus (BK II/1), Neukirchen-Vluyn 1974, 11f. diesem Grund ist auch die Möglichkeit einer nachträglichen Angleichung innerhalb des vorliegenden Zusammenhangs von Ex 1,7ff. eher unwahrscheinlich. 136 Zu GERTZ, Tradition (Anm. 12), 366f. mit Anm. 76. 137 Zu Beginn von Abschnitt 2.3. Eine Alternative zum Folgenden, die sich an der überlieferten Textsubstanz ebenfalls imaginieren ließe, wäre etwa, dass Ex 1,6 (ohne ) + eine Mehrungsnotiz (mit ) + 8 unmittelbar an den Schluss der vorpriesterlichen Josephgeschichte anschloss – als Verknüpfung einer eigenständigen (und nicht auf Ex ff. hin bearbeiteten) Vätergeschichte mit der Mose-Exodus-Geschichte. Es liegt freilich in der Struktur dieser Denkmöglichkeit, dass sie am Text nicht weiter zu belegen ist (weshalb sie nicht falsch sein muss). Den disziplinären Spielregeln zufolge fällt damit aber ins Gewicht, dass es (1.) eine Alternative gibt (s. gleich zu KP) und (2.) die Imitation von Ri 2,6.8 gerade im Kontext der Jos 24-Linie eine eigene Plausibilität hat (s.u. bei Anm. 149). 138 Dies und die weiteren Überlegungen stehen freilich unter dem Vorbehalt (s.o.), dass an dieser Stelle keine tiefgreifenderen, am überlieferten Text nicht mehr erkennbaren Eingriffe vorgenommen wurden. 139 VAN S ETERS, Life (Anm. 7), 16ff. Eine direkte Abfolge der beiden Todesnotizen für Joseph in Gen 50,26 und in Ex 1,6 erscheint kaum möglich. 135 Aus
[149–150]
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus
115
Den ersten – nahezu lückenlos erhaltenen – literarischen Zusammenhang konstituiert die P-Komposition140 mit Gen 50,22f.141; Ex 1,1–5a.7. 9ff.: 149–150
@# @# @# ^ ^ " @# 142
$ " ^ ^ \ ^ 143[ ]
50,22 50,23 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,7 1,9 | Mit dieser maßgeblich priesterlich geprägten Überleitung gelingt eine bis in die Details durchgebildete Darstellung von Kontinuität und Veränderung beim Übergang von der Großfamilie Jakobs (Gen 50,22f.; Ex 1,1–5a) zum „Volk der Israeliten“ (Ex 1,9). Sie knüpft in 50,22 an die Josephgeschichte an und bringt diese narrativ zu einer Abrundung: Joseph und die Familie seines Vaters halten sich nun in Ägypten auf; die Angabe von Josephs Lebensalter nimmt das Ende dieser Generation in den Blick, 50,23 darüber hinaus die Weiterführung der Linie Josephs in (den Stämmen) Ephraim und Manasse. Hier schließt sich sachgemäß die Aufzählung der erst mit Jakob nach Ägypten gelangten Söhne an, die als Söhne von Jakob/ Israel zugleich die Stämme des Volkes Israel repräsentieren. Es ist die damit gegebene Identität in der Veränderung, welche die Doppelaussage in Ex 1,1 markiert: Im Folgenden werden die Ahnväter Israels (deshalb hier
140 Bei Voraussetzung einer eigenständigen Priesterschrift wäre ein entsprechender PRedaktor (nicht identisch mit den Hexateuch-/Pentateuchredaktoren von Schmid und Gertz!) zu postulieren. An dieser Stelle ist ein übriges Mal auf der kategorialen Differenz zwischen der P-Komposition (à la Blum) und P als Redaktion (à la Van Seters, Rendtorff u.a.) zu insistieren. Anlass dazu geben Argumentationen wie die folgende: „Wenn aber die außerpriesterlichen Brückentexte … jünger als die P-Stücke … sind, bedeutet dies, dass ‚P‘ mit ihrer Abfolge von Erzvätern und Exodus nur als ursprünglich selbständige Quelle sinnvoll vorzustellen ist: Wenn es vor ‚P‘ keinen nichtpriesterlichen Zusammenhang von *Gen und *Ex(ff) gegeben hat, dann kann ‚P‘ auch nicht redaktionell diesem Zusammenhang eingeschrieben worden sein.“ (SCHMID, Erzväter [Anm. 11], 372). 141 Allerdings ist hier mit späteren Transformationen des Wortlauts zu rechnen. So steht sonst nur bei einem Lebensabschnitt (vgl. bes. Gen 47,28 und 11,11ff.), und auch die Zahlenangabe dürfte auf 50,26 hin angeglichen sein; vgl. vorläufig BLUM, Studien (Anm. 4), 364, Anm. 14; CARR, Reading (Anm. 3), 109f.; GERTZ, Tradition (Anm. 12), 360, jeweils mit Lit. 142 Vgl. u. Anm. 145. 143 Die Auslassung des Subjekts ist mit der späteren Einfügung von V. 8 zu erklären.
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[150–151]
„schon“ 144) genannt,145 die mit ihren Familien und als Teil der Großfamilie Jakobs nach Ägypten (d.h. zu dem zuvor genannten Joseph und seiner Familie) gekommen sind. Dieser Ursprung in der Familiengeschichte Jakobs wird durch Ex 1,5a inkludierend abgerundet und bildet – absichtsvoll pointiert durch die Gesamtzahl der 70 „Seelen“146 – die Kontrastfolie zu der in 1,7 notierten grundlegenden Veränderung: Aus der Großfamilie ist das „Volk der bene jisrael“ geworden, wie es der Ägypter erstmals auf den Begriff bringt (1,9). 150–151 In diesen Epochenübergang innerhalb der P-Komposition ist nun mit Gen 50,24–26 und Ex 1,5b.6.8 eine zusätzliche „Überleitung“ eingeschrieben, die (a) den Einschnitt in Richtung einer „Büchergrenze“ vertiefend markiert,147 (b) über den priesterlichen Pentateuch hinaus einen Hexateuchhorizont im | Blick hat und (c) sich in mancher Hinsicht am Übergang von Jos zu Ri als Vorbild orientiert. Alle drei Aspekte stehen zudem in einem direkten Zusammenhang. Der erste (a) resultiert vor allem daraus, dass der Tod Josephs nunmehr in Gen 50,26 und in Ex 1,6 mitgeteilt wird. Dadurch gewinnt Ex 1,1ff. den Charakter eines „Neueinsatzes“. Aspekt (b), die bis Jos 24 reichende Perspektive, ist für Gen 50,25f. schon andernorts aufgewiesen worden.148 Da sich für Gen 50,24 keine von V. 25f. unab144 Die Argumentation mit einem „Bedeutungswechsel von ‚Söhne Israels‘ in V. 1a und V. 7.13f“ (GERTZ, Tradition [Anm. 12], 354, nach dem Vorgang anderer) verkennt in elementarer Weise die hier (und nicht nur in der priesterlichen Tradition) vorausgesetzte ursprungsgeschichtliche Identität „Israels“. 145 Mögliche punktuelle Wortlautveränderungen wie eine sekundäre Erweiterung eines … zu … entziehen sich der Analyse (s.o.). 146 Da die Angabe sich nicht auf die mit nach Ägypten Gekommenen bezieht, sondern auf die Nachkommen Jakobs, umschließt sie auch Joseph und seine Nachkommen, bindet also Gen 50,22f. mit ein. Demgegenüber ist in Gen 46,26–28 der Versuch mit Händen zu greifen, diese summarische Angabe in Ex 1,5 (vgl. zur Tradition auch Dtn 10,22) zu korrigieren und zu präzisieren. Überhaupt stellt Gen 46,8ff. eine sekundäre proleptische Entfaltung von Gen 50,22f.; Ex 1,1–5 dar, die vermutlich in Zusammenhang mit der „Verselbständigung“ des Genesisbuches steht. Auf Gen 46 gestützte Zuweisungen von Ex 1,1–5 an „Ps“ (zuletzt GERTZ, Tradition [Anm. 12], 354ff. mit Lit.) sind von daher im Ansatz verfehlt. 147 Zum Buchübergang zwischen Gen und Ex vgl. die weiter gefassten Überlegungen bei M. MILLARD, Die Genesis als Eröffnung der Tora. Kompositions- und auslegungsgeschichtliche Annäherungen an das erste Buch Mose (WMANT 90), Neukirchen-Vluyn 2001, 51ff. 148 Vgl. u.a. BLUM, Studien (Anm. 4), 363ff.; DERS., Der kompositionelle Knoten am Übergang von Josua zu Richter. Ein Entflechtungsvorschlag, in: VERVENNE/LUST, Deuteronomy (Anm. 120), 181–212, darin 194ff; CARR, Reading (Anm. 3), 167, Anm. 40, stellt die Zugehörigkeit von V. 26 in Frage, weil die „Lade“ in Ex 13,19 mehr nicht begegnet. H. AUSLOOS, The Deuteronomist and the Account of Joseph’s Death (Gen 50,22– 26), in: WÉNIN, Studies (Anm. 63), 381–395, will keinen kompositionellen Zusammenhang mit Jos 24,32 sehen, weil Joseph in Gen 50 den Landkauf Jakobs (33,19) nicht erwähne.
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117
hängige kompositionelle Linie abzeichnet und da 50,24 und 25, wie schon mehrfach beschrieben, strukturell aufeinander bezogen sind, liegt es nahe, auch 50,24 mit seiner Prolepse von Ex 3,16 dieser nachpriesterlichen Redaktion zuzuschreiben. Eben diese Hexateuchbearbeitung, die mit einer Transformation der dtr Epochenüberleitung von Ri 2,7ff. den Ausklang ihres Gesamtwerkes in Jos 24,29ff. gestaltete,149 hat nun außerdem die Vorlage von Ri 2,7ff. für die Epochenüberleitung am Anfang von Ex rezipiert und umgestaltet: Ex 1,6.8. 151–152 Dabei lassen sich die Nachahmung auf Seiten von Ex 1,6.8 ebenso wie die Abhängigkeit von der priesterlichen Komposition im Detail zeigen. So ist die als Überleitung zu Ex 1,6 erforderliche Notiz von 1,5b an dieser Stelle erst narrativ sinnvoll geworden durch die Einfügung von Gen 50,24–26 zwischen 50,22f. und Ex 1,1.150 Des Weiteren nimmt die Formulierung @# in Ex 1,6 die vorausgehende Auflistung der Jakobsöhne auf.151 Schließlich erweist sich Ex 1,8 in zweifacher Hinsicht als deutliche Nachahmung von Ri 2,10: in der asymmetrischen Fortführung („jene Generation – ein neuer König“ vs. „jene Generation – eine andere Generation“) und in dem aus Ri 2,10 entlehnten, in Ex 1,8 aber unidiomatischen Gebrauch von .
3. Eine Revision der KD-Hypothese Unsere kritische Durchsicht einschlägiger nicht-priesterlicher Überlieferungen in den Anfangskapiteln des Exodusbuches (Ex 3f.; 12; 14; 18), in der Vätergeschichte (Gen 15 etc.) und der Texte an der Nahtstelle von Gen und Ex führte zumindest auf einige konvergierende Befunde und Koordinaten. | Dazu gehört nicht zuletzt der „negative“ Befund, wonach auf vorpriesterlicher Ebene eine literarische Verknüpfung zwischen Gen und Ex bzw. Vätergeschichte und Exodusgeschichte nicht nachzuweisen ist. Insofern hat sich uns eine zentrale These der Analysen von Schmid und Gertz bestätigt. Nicht bestätigt haben sich jedoch andere Grundkomponenten der von mir so genannten „Endredaktionshypothesen“: – Nachpriesterliche Bearbeitungen, wie sie in der Vätergeschichte, am Übergang von Gen zu Ex oder in Ex 4 etc. erkennbar wurden, gehören nicht zu einer nicht-P und P verknüpfenden Redaktion, sondern setzen eine „priesterliche Ausgabe“ des Pentateuch bereits voraus. – Der für die Endredaktionen reklamierte Zentraltext Ex 3* setzt weder die priesterliche Überlieferung voraus, noch kommt ihm die Funktion eines „Brückentextes“ zwischen Vätergeschichte und Exodus zu.
149 BLUM,
Knoten (Anm. 148), 184.206. ist das Urteil in BLUM, Studien (Anm. 4), 239, Anm. 39, zu revidieren. 151 Mit SCHMITT, Geschichtswerk (Anm. 120), 393. 150 Insofern
118
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[152–153]
– Nach-P-Bearbeitungen haben sich auch an anderen Stellen in Ex nicht in dem postulierten Umfang bestätigt (s.o. zu Ex 1).152 – Darüber hinaus sind innerhalb der nachpriesterlichen Fortschreibungen kompositionell und konzeptionell deutlich verschieden profilierte Linien zu unterscheiden, die eben nicht in einer (End)Redaktion aufgehen. Den letzteren Aspekt gilt es abschließend noch etwas genauer zu skizzieren, bildet er doch die Voraussetzung für eine differenzierte Neuformulierung der fortgeschrittenen Phasen der Pentateuchgenese (auf der Ebene von KD und später). K. Schmid hat als Elemente seiner nachpriesterlichen Hauptredaktion einige programmatische Texte aufgeführt, unter denen Gen 15; Ex 3f. und Jos 24 eine besonderes zentrale Rolle zukommen.153 Aus schon genannten Gründen muss jedoch zunächst einmal Ex 3* aus dieser diachronen Auffädelung herausgenommen werden; der Abschnitt ist weder nachpriesterlich noch ein Baustein im Horizont von Gen 15. Darüber hinaus lassen sich aber auch Gen 15 und Jos 24 nicht in dieser Weise einander zuordnen: Nicht nur bestehen zwischen diesen Programmtexten weder explizite noch implizite Querverweise (sollte man in der Nacherzählung von Jos 24 nicht wenigstens einen Rückverweis auf ein so grundlegendes Datum wie die berît mit Abraham erwarten dürfen?), sie differieren in ihrem jeweiligen konzeptionellen Profil so sehr, dass die Zugehörigkeit zu ein und derselben Redaktion ausgeschlossen werden kann. 152–153 Einige Beispiele müssen genügen. So sprechen zwar beide Texte (in unterschiedlicher Terminologie) von der Herausführung Abrahams aus Mesopotamien, für Jos 24 ist dabei jedoch der Gedanke der vormaligen Fremdgötterverehrung wichtig, welcher die Forderung der Alleinverehrung JHWHs gegenübergestellt wird. Das Konzept der „Götter, welchen die Väter | jenseits des Stromes dienten“ (Jos 24,2.15), ist in einer Art Midrasch aus der Jakoberzählung (Teraphim Labans) heraus entwickelt und eben dort durch Einschreibungen (mit einer exemplarischen Prolepse zu Jos 24) verankert (Gen 31,21a;154 35,1ff.). In Gen 15 findet sich davon keine Spur (wie überhaupt das Erste Gebot hier kein Thema ist)155. Umgekehrt zielt Gen 15 auf die feierliche Übereignung des Landes an Abrahams Nachkommen in einer maximalen territorialen Festlegung vom Nil bis zum Euphrat (15,18). Jos 24 impliziert hier ein völlig anderes Konzept, das sich selbst von den Problemstellungen im Jos-Ri-Kontext („noch nicht erobertes Land“ etc.) deutlich absetzt.156 Des Weiteren haben die beiden Geschichtsüberblicke in Gen 15,13–16 bzw. Jos 24 keine signifikanten Elemente gemeinsam; so ist zwar hier wie da vom Amoriter die Rede, doch hat der in Gen 15,16 exponierte Gedanke der „Schuld des Amoriters“, die 152 Ein entsprechender Nachweis für den Plagenzyklus und Ex 14 wird an anderer Stelle zu führen sein. 153 SCHMID, Erzväter (Anm. 11) bes. 241ff. 154 Dazu BLUM, Komposition (Anm. 3) 41.129f. 155 Unabhängig davon, ob man in Gen 15 Dekaloganspielungen finden will (s. RÖMER, Genesis 15 [Anm. 104], 35f.). 156 Dazu BLUM, Knoten (Anm. 147), 200f.
[153–154]
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus
119
erst voll werden müsse, in Jos 24 wiederum keinen Platz. Von Schmid aufgelistete Gemeinsamkeiten zwischen Gen 15, Ex 3f. und Jos 24 gehören überwiegend zum gängigen Repertoire spät- bzw. postdeuteronomistischer157 Texte158, andere behauptete Charakteristika wie eine „königskritische Ausrichtung“159 sind durchaus zweifelhaft.160
Innerhalb des hier besprochenen mutmaßlich nachpriesterlichen Materials sind von daher wenigstens zwei Linien zu unterscheiden: Zum einen (1) die Jos 24-Linie bzw. „Hexateuch-Bearbeitung“, zu der nach dem derzeitigen Stand wenigstens folgende Elemente zu rechnen sind: Gen (31,21a) 33,19; 35,1–7*; 48,21f.161; 50,24–26; Ex 1,5b.6.8; 13,19; Jos 24,1–32. Bemerkenswert erscheint, dass in dieser Reihe die Landverheißung (als Schwur) lediglich in Gen 50,24 begegnet. 153–154 Zum anderen (2) zwei Textgruppen, die wir jeweils mit Ex 4,1–17.27ff. bzw. mit Gen 15 verbinden konnten. Ersterer haben wir auf Grund verschiedener Leitmotive bisher Ex 7,15b.17b.20ab; 12,21–27; 14,31b; 18,1– | 12(.13–27?); 19,9 zugeordnet.162 Zur zweiten Gruppe von Gen 15 sind zuvörderst die Verheißungstexte in Gen 22,15–18; 26,3b–5.(24b*) zu zählen, dann jedenfalls auch deren Zitat durch Mose in Ex 32,(9–)13, möglicherweise des weiteren Gen 24 sowie andere Vorkommen des Landgabeschwurs (Ex 13,5.11; 33,1b etc.). Als Indiz für die redaktionsgeschichtliche Zusammengehörigkeit dieser „Textgruppen“ mag vorläufig das erstmals in Gen 15 erscheinende Glaubensmotiv genügen, zumal es hier wie in Ex 4 kontrastiv vor den Paralleltexten in P zu stehen kommt. 154–155 Kaum dezidiert zu beurteilen ist die diachrone Relation zwischen (1) und (2), nicht zuletzt wohl deshalb, weil zwischen beiden Textlinien bislang keine unmittelbaren Kontaktstellen zu erkennen sind. Der Umstand, dass nur die Hexateuch-Bearbeitung den Übergang von *Gen zu *Ex textlich ausgestaltet, hat jedenfalls nichts zu sagen, da (2) auch in die durch KP verknüpfte Überlieferung eingeschrieben sein kann. Der Verweis auf das 157 Zu
diesem Begriff s. BLUM, a.a.O., 212. gehören das „hexateuchische Geschichtsbild“, unterschiedliche „Listen der Vorbewohner“ des Landes oder die prophetische Zeichnung von Mose (und Abraham). 159 SCHMID, Erzväter (Anm. 11), 246. Wenn man Jos 24 als „Königswahl“ sehen will, dann geht es um die Alternative zwischen JHWH und anderen Göttern. Eine „fundamentale Königskritik“ ist darin ebenso wenig impliziert wie in den königlichen Zügen Abrahams in Gen 15. (Nicht einmal in „P“ bedeutet das Bild des königlichen Menschen in Gen 1 eine fundamentale Kritik am Königtum – vgl. Gen 17,6; 35,11.) 160 Auch dass Gen 15 in einem mit Ex 3 vergleichbaren Sinne eine „Sinaiprolepse“ darstelle, erscheint mir fraglich. Die Theophanie- und Bundesbegrifflichkeit in Gen 15 sind nicht exklusiv oder gar ursprünglich sinaitisch. 161 Vgl. die Entsprechung zwischen V. 21 und Gen 50,24 (dazu KESSLER, Querverweise [Anm. 25], 177; BLUM, Komposition [Anm. 3], 257) sowie die Bezüge zwischen V. 22 und Jos 24 („Sichem“ und 24,12). 162 Die Linie kann hier nicht weiter verfolgt werden. Vorläufig sei nur auf Num 14,11ff.* verwiesen. 158 Dazu
120
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus
[154–155]
den Vätern zugeschworene Land in Gen 50,24 könnte für die Nachordnung von (1) sprechen, falls der Schwur in der Tat spezifische Bezugstexte voraussetzt und nicht nur eine Steigerung der „einfachen“ Verheißungszusagen darstellt.163 Die Texte der Linie von Gen 15/Ex 4 etc. zählten in meiner bisherigen Gesamthypothese überwiegend zur „D-Komposition“. Löst sich diese damit gleichsam auf? – Bereits K. Schmid hat für den Bereich Ex–Dtn mit Recht bemerkt, dass sich „die meisten ‚KD‘-Texte als Kompositionselemente innerhalb einer Mose-Exodus-Geschichte verstehen“ lassen, „die nicht durch Gen eingeleitet wurde“.164 Dem korrespondiert in gewisse Weise der bereits erwähnte Befund, dass die D-Komposition bisher schon von einer internen Asymmetrie geprägt war, insofern sich ihre kompositionellen Anteile in Gen 12ff. auf wenige punktuelle Einfügungen beschränkten, innerhalb von *Ex und *Num dagegen die Überlieferungssubstanz mitgestalten, unter anderem auch durch die Umgestaltung einer älteren Moseerzählung. Für den Bestand und die Konturen von KD in diesem Bereich sind grundlegend: der Zusammenhang der – kompositionell durch Ex 3 etc. ausgebauten – Exodusgeschichte in Ex *1–14 mit der theologischen „Höhenlinie“ in Ex 19–24; 32–34 und mit dem in Ex 33 einsetzenden Ohel-MoedProphetie-Syndrom (in Ex 33,7ff.; 34*; Num 11*; 12*; Dtn 31,14f.23; 34,10). Letzteres zeigt zudem – kompositionsgeschichtlich höchst bedeutsam – die „sekundäre“ Verklammerung dieser erweiterten Mose-Exodus-Geschichte mit dem Ende des auf Jos(ff.) hin gestalteten Deuteronomiums. Die tragenden Elemente dieses „Ganzen“ scheinen mir an keiner Stelle substantiell auf die be|schriebenen redaktionellen Linien, die *Gen umgreifen, angewiesen zu sein (umgekehrt sehr wohl).165 Damit legt sich eine Neubegrenzung der – vorpriesterlichen166 – „D-Komposition“ nahe: Ihr Handlungs- und Darstellungsraum deckt sich mit der Geschichte Moses zwischen Ex 1 und Dtn 34; sie umfasst eine Verfassung Israels und deren Grundlegung im geschichtlichen Handeln JHWHs an Is163 Dazu
oben Anm. 101. Erzväter (Anm. 11), 369. 165 Innerhalb der (bisherigen) KD-Hypothese blieb beispielsweise auffällig, dass vor allem der Landverheißungsschwur ab Ex nicht in dem zu erwartenden Maße auftrat. In der hier zu KD gerechneten Schicht reduzieren sich die Vorkommen noch einmal auf Num 11,12b und Dtn 31,23. Davon erweist sich der erste Beleg in seinem Kontext als inkohärent – sowohl im Blick auf die Redestruktur als auch auf das Bild in V. 12a. Die Formulierung von Dtn 31,23 ( ) schließlich ist ohne Parallele in *Gen etc. 166 Diese kompositionelle (nicht in jeder Hinsicht „konzeptionelle“) Verortung wäre vor allem im Blick auf die neuere Debatte zur Sinaiperikope (vgl. zuletzt die Beiträge in: M. KÖCKERT / E. BLUM [Hg.], Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10 [VWGTh 18], Gütersloh 2001) im Einzelnen erneut zu begründen. Dies kann hier nicht geleistet werden. 164 SCHMID,
[155–156]
Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus
121
rael, beides vermittelt durch Mose, den unvergleichbaren Propheten. Unter Einschluss des Deuteronomiums repräsentiert sie gleichsam ein „komplettiertes“ „Torabuch Moses“.167 Die Traditionsbildung im *Pentateuch ging freilich nicht nur nach KD, sondern auch nach der großen priesterlichen Neuedition wohl über längere Zeit und in verschiedenen Kreisen weiter.168 Nach den vorstehenden Überlegungen ist die Bandbreite dieser jüngeren Fortschreibungen noch zu erweitern (auch wenn sich uns die extensiven Ausdehnungen nachpriesterlicher Redaktionen in neueren Analysen nicht bestätigt haben). Auffällig bleibt aber bei den skizzierten Bearbeitungen die Primärorientierung an nicht-PTexten und -Traditionen. Dies mag für eine nicht zu unterschätzende Traditionskontinuität in diversen Bildungs- und Trägerkreisen der Pentateuchüberlieferung in persischer Zeit sprechen. Traditionsamalgame wie Num 32,6ff.; 33,50ff. | oder Jos 20MT sind offenbar schon unter anderen Voraussetzungen entstanden. 155–156
167 Die verschiedentlich debattierte Frage, ob nicht eher unter Einschluss von *Jos– *Reg so etwas wie ein großes (dtr) Geschichtswerk anzunehmen wäre, soll anderweitig aufgenommen werden. Hier seien vorläufig nur drei Aspekte genannt, die vor kurzschlüssigen Folgerungen bewahren sollten: (a) Der Umstand, dass Jos in narrativer Kontinuität mit Dtn steht, besagt per se noch wenig für einen „Werk“-Zusammenhang. Immerhin liegt in MT hier die Zäsur zwischen „Tora“ und „Nebiim“. (b) Sowohl der kanonische Pentateuch als auch ältere Vorstufen bzw. Vorläufer sind als „Torabuch“ in den anschließenden Büchern potentiell eine zitable Größe (s. Jos 1,8) und bilden insofern (jeweils) einen geschlossenen Text. (c) Selbst redaktionsgeschichtliche Zusammenhänge oder Affinitäten erlauben keine unmittelbaren Rückschlüsse darauf, ob bzw. in welchem Sinne Buchzusammenhänge intendiert bzw. rezipiert wurden. Dies gilt für in der Tat erkennbare Einschreibungen ‚auf der Linie‘ von KD in Jos (insbes. Jos 2 und 7) ebenso wie für solche ‚auf der Linie‘ der Hexateuch-Bearbeitung von Jos 24 in Ri (vgl. Ri 6,7–10!) oder für priesterliche Elemente in Jos bis Reg. 168 Vgl. (stellvertretend) bereits BLUM, Studien (Anm. 4), 361ff.
Zippora und ihr Ruth und Erhard Blum Wenn ein Text trotz aller exegetischen Bemühungen sogar in elementaren Verständnisfragen so strittig bleibt wie Ex 4,24–26,1 wüsste man gern, woran das liegen mag: an den (Sehgewohnheiten der) Interpreten oder am Text oder auch am unüberwindlichen geschichtlichen Graben zwischen beiden. Letztere Möglichkeit wird die professionelle Exegese ungern akzeptieren. Für die zweite hingegen hat sie eine Reihe verschiedener Techniken entwickelt, die alle darauf hinauslaufen, dass in diachroner Perspektive der Text für die Interpretation „neu“ gebildet wird. Sie reichen – gerade auch bei Ex 4,24–26 – von einer Isolierung gegenüber dem Kontext über überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktionen2 bis hin zu textkritischen Konjekturen.3 1
Anstelle einer Auflistung der umfänglichen Literatur kann hier der Hinweis auf die Bibliographie und die Diskussion der wichtigen Arbeiten bei W.H. SCHMIDT, Exodus (BK 2/1), Neukirchen-Vluyn 1988, 216ff.; DERS., Exodus, Sinai und Mose. Erwägungen zu Ex 1–19 u. 24 (EdF 191), Darmstadt 1983, 118ff.155f., genügen. Als neuere Arbeiten sind zu nennen: B.J. DIEBNER, Ein Blutsverwandter der Beschneidung. Überlegungen zu Ex 4,24–26, DBAT 18 (1984) 119–126; B.P. ROBINSON, Zipporah to the Rescue: A Contextual Study of Exodus iv 24–6, VT 36 (1986) 447–461. Die Prager Dissertation von G. SCHNEEMANN, Deutung und Bedeutung der Beschneidung nach Ex 4,24–26, Prag 1976 (vgl. das Referat in ThLZ 105 [1980] 794) war uns nicht zugänglich. Zur frühen Auslegungsgeschichte s. G. VERMÈS, Circumcision and Exodus IV 24–26. Prelude to the Theology of Baptism, in: DERS., Scripture and Tradition in Judaism. Haggadic Studies (StPB 4), Leiden 1961, 178–192; C. HOUTMAN, Exodus 4:24–26 and its Interpretation, JNSL 11 (1983) 81–105. 2 Dabei dienen mitunter die Einzelzüge des Textes nur noch als Versatzstücke, die zu einem neuen Bild zusammengesetzt werden. So z.B. in der verbreiteten Version von H. GREßMANN (Mose und seine Zeit. Ein Kommentar zu den Mose-Sagen [FRLANT 18], Göttingen 1913, 56ff.). Danach handelte es sich ursprünglich um die Geschichte von einem Nachtdämon, der in der Hochzeitsnacht das ius primae noctis beansprucht und das Leben des Mannes bedroht, aber von der Frau getäuscht wird: Sie berührt das Glied des Dämons mit der blutigen Vorhaut des Mannes und erklärt sich zu seiner Frau. Dazu und zu anderen Rekonstruktionen vgl. den kritischen Überblick bei SCHMIDT, Exodus (Anm. 1), 220ff.; DERS., Exodus, Sinai (Anm. 1), 119f. 3 Für entsprechende Vorschläge (die hier nicht diskutiert werden können) vgl. z.B. J. HEHN, Der „Blutsbräutigam“ Ex 4,24–26, ZAW 50 (1932) 1–8; S. TALMON, ,
124
Zippora und ihr
[41–43]
So legi|tim, ja vielfach notwendig solche geschichtlichen Analysen sind, scheint doch gerade bei einem so schwierigen Abschnitt die Konsensfähigkeit mit jeder „Änderung“ eher abzunehmen. Wir wollen es deshalb noch einmal mit einer anderen Leseperspektive versuchen, die sich bewusst auf die gegebene Textgestalt und ihren Kontext einlässt.4
I Zunächst könnte man freilich meinen, das kleine Textstück hätte es selbst auf „Dunkelheit“ oder – anders gewendet – auf Vieldeutigkeit angelegt; die Unbestimmtheiten springen ins Auge: Namentlich werden nur JHWH und Zippora (jeweils einmal) aufgeführt. Dazu ist in V. 25 von „ihrem (sc. Zipporas) Sohn“ die Rede. Ansonsten werden die Personen nur durch ProFormen bezeichnet, zumal das Opfer des Überfalls und die (identische? verschiedene?) von Zippora berührte und angesprochene Person. Dennoch erscheint auf dieser Ebene keine Mehrdeutigkeit intendiert. Wer aufmerksam genug ist, kann die Orientierungshilfen nicht übersehen. So liegt auf der Hand, dass die Referenz der Suffixe in V. 24b und 26a identisch ist: JHWH sucht „ihn“ – nennen wir ihn vorläufig „X“ – zu töten und lässt am Ende von „ihm (X)“ wieder ab. Ein Detail verrät zudem, dass „X“ nicht Zipporas Sohn ist.5 Der Sohn wird in V. 25 ausdrücklich eingeführt, nachdem zuvor schon unbestimmt von „X“ die Rede war. Somit kommt nach Lage der Dinge als Opfer des Angriffs nur noch Mose infrage. Der Blick auf den Kontext bestätigt dies vollends.641–43 Bleibt also die Frage nach der Referenz der Verweisformen in V. 25: „seine Füße“, „du“. Zunächst einmal erhellt aus dem Zusammenhang, dass beide dieselbe Person bezeichnen. Denn wenn Zippora mit der (blutigen[!]) Vorhaut7 „seine Füße“ berührt und deklaratorisch8 sagt: | „ein [!]
EI 3 (1954) 93–96; W. DUMBRELL, Exodus 4:24–26: A Textual Re-examination, HTR 65 (1972) 285–290; H-.F. RICHTER, Geschlechtlichkeit, Ehe und Familie im Alten Testament und seiner Umwelt. Ergänzungsband (BETh 10), Frankfurt/Main u.a. 1978, 20ff. 4 Dies entspricht einer Fragehinsicht, die Rolf Rendtorff – wie kaum ein anderer im deutschsprachigen Bereich – zunehmend ins Zentrum seiner exegetischen Arbeit gerückt hat. 5 Vgl. zuletzt SCHMIDT, Exodus (Anm. 1), 221.229. 6 Zwar ist in V. 21–23 noch von anderen Personen die Rede, aber in der Gottesrede an Mose, nicht auf der Ebene des Erzählers. Auf der kommt kein anderer Bezug als auf Mose in V. 20 infrage. 7 Das ergibt sich unzweideutig aus der in V. 25a dargestellten Handlungssequenz, auch dank der un-technischen Formulierung mit (anstelle von ). Diese hat also eine erzählerische Funktion und kann kaum als Indiz für eine Altersbestimmung der Überlieferung dienen (zu SCHMIDT, Exodus [Anm. 1], 227). DIEBNER, Blutsverwandter
[43–44]
Zippora und ihr
125
bist du mir“, dann sind beide, Applikation und Sprechakt, nichts anderes als Teil einer komplexen Handlung. Als Bezugsobjekt stehen, da JHWH doch wohl ausscheidet.9 das Kind bzw. Mose zur Wahl. Gegen den Sohn spricht freilich schon die Handlungslogik: Nicht einzusehen wäre, weshalb der soeben Beschnittene noch einmal mit der Vorhaut berührt wird.10 Für Mose fällt zudem die Sequenz von V. 25ab.26a ins Gewicht: An wem Zippora handelt, von dem lässt JHWH ab. Unsere Lesung bedeutet schließlich, dass für die „Auflösung“ der unbestimmten Suffixformen die einfachste Hypothese genügt: Alle Suffixe der 3. Pers. Sing. meinen ein und dieselbe Person, die auch als einzige nicht explizit eingeführt wird: Mose. Nach dieser Vorklärung, die sich im Übrigen wohl mit dem Mehrheitsverständnis trifft, stehen dem Blick auf die Textstruktur keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr im Wege. Von der eröffnenden Ort- bzw. Zeitangabe in V. 24a und der abschließenden Anmerkung des Erzählers in V. 26b abgesehen.11 gliedert sich die Kurzepisode in zwei Erzähllinien: V. 24b markiert den Anfang einer Handlung, die in 26a zu ihrem Ende, genauer: ihrem Abbruch, kommt. Dies sind die beiden äußeren Standbeine des Spannungsbogens, die zugleich strukturell als eine Klammer das Mittelstück umfassen: V. 25 mit dem Geschehen, welches die „Entspannung“ von 26a herbeiführt. Beide Teile, das Mittelstück und der Rahmen, heben sich denkbar deutlich von einander ab: Ist hier JHWH das (logische und grammatische) Subjekt (eingeführt im ersten Satz und im Narrativ der 3. P. m. weitergeführt), so dort Zippora (ebenfalls im ersten Satz eingeführt und in der Reihe von Narrativen der 3. P. f. augenfällig als Handelnde ausgewiesen). Ist im Rahmen die Darstellung aufs äußerste, bis zur begrifflichen Abstraktion gerafft, so wird die Aktion der Zippora in einer gewissen Anschaulichkeit entfaltet | bis hin zur (einzigen) direkten Rede in 25b, die 43–44
(Anm. 1), 123f., findet in dem Ausdruck einen Anklang an und darüber an das „Bundeszeichen“ von Gen 17,11b. 8 In ihrer syntaktischen Struktur entspricht die Aussage recht genau den „deklaratorischen Formeln“, wie sie R. Rendtorff in priesterlichen Texten herausgearbeitet hat (DERS., Die Gesetze in der Priesterschrift. Eine gattungsgeschichtliche Untersuchung [FRLANT 62], Göttingen 1954, 74f.). 9 So zuletzt noch W. BELTZ, Religionsgeschichtliche Marginalie zu Ex 4,24–26, ZAW 87 (1975) 209–211: Zippora schließt hier „mit dem Gott die Ehe und bringt zugleich ihr Kind, ihren Sohn, in die Ehe ein“. Er setzt dabei voraus, dass der Sohn von JHWH bedroht war (dazu aber i.F.). Ist dagegen Mose der Bedrohte, muss man sich auf Konstruktionen à la GREßMANN (Mose [Anm. 2]) einlassen. 10 Siehe SCHMIDT, Exodus (Anm. 1), 229. 11 Die jeweils letzten Wörter bzw. lassen sich vielleicht vom Klang her auf einander beziehen (vgl. H. GUNKEL bei GREßMANN, Mose [Anm. 2], 58, Anm. 4; zuletzt auch ROBINSON, Zipporah [Anm. 1], 458, Anm. 18; DIEBNER, Blutsverwandter [Anm. 1], 122.). Dann wäre so etwas wie ein äußerer Rahmen angezeigt. Weitere (deutlichere) Beispiele für Wortanklänge: [ ]" // ; //.
126
Zippora und ihr
[44–45]
offenbar so etwas wie ein Deuteelement enthält. Hier liegt mithin der erzählerische/inhaltliche Schwerpunkt. Dem korrespondiert die Dominanz der Person Zippora, nicht nur als (neben JHWH) einzig Handelnder: das Kind wird als „ihr Sohn“ (25a) bezeichnet, und sie setzt in ihrer erlösenden Handlung den bedrohten Mose betont in Beziehung zu sich ( in Endstellung, 25b). Dass Mose, wie gesagt, gar nicht explizit genannt oder bezeichnet wird, unterstreicht wirkungsvoll die Funktion der Frau als Zentrum der Dreiergruppe der menschlichen Akteure. Unbeschadet dieser klaren Struktur bleiben die drei Verse gegenüber der inhaltlichen Interpretation widerständig. Das beginnt mit der Frage, weshalb JHWH Mose zu töten sucht. Der „Rahmen“ (V. 24b.26a), der das göttliche Vorhaben in dürren Worten mitteilt, gibt dafür keinerlei direkte Verstehenshilfe an die Hand, ebensowenig der Kontext.12 Es ist aber auch nicht einfach als selbstverständlich vorauszusetzen, etwa in dem Sinne, dass eine unverhoffte Gottesbegegnung eben tödliche Folgen haben könne.13 Denn immerhin erzählt der Text davon, weshalb JHWH schließlich von Mose ablässt – und das impliziert dann eine Antwort auch auf die erste Frage. 44–45 Damit sind wir wieder auf den Mittelteil (V. 25) verwiesen, in dem Zippora im Mittelpunkt steht. Weshalb fällt ihr in der Geschichte von einem lebensbedrohenden Gottesangriff auf Mose die Hauptrolle zu? Sie wird nur mit ihrem Namen eingeführt, demnach ist ihre Stellung zu Mose den Adressaten offenbar bekannt. Darüber hinaus auch ihre nicht-israelitische Herkunft. Ja, unser Text evoziert gerade dieses Hintergrundwissen mit dem auffälligen Sachverhalt, dass Moses Sohn bis dato unbeschnitten war! Zippora holt denn auch in einem ersten Schritt die Beschneidung des Sohnes nach. Der zweite besteht in einer komplexen symbolischen Handlung an Mose, die nicht etwa auf die Applikation des Blutes reduziert werden darf, so dass dessen apotropäische Wirkung als Erklärung hinreichte.14 Vielmehr gehört die interpretie|rende Aussage Zipporas wesentlich dazu. Danach konstituiert sie mit ihrem ganzen Vorgehen eine (neue) Beziehung zwi-
12
Im Gegenteil, immer ist als Problem empfunden worden, weshalb JHWH gerade seinen eigenen Gesandten überfällt. Auch der Erklärungsversuch ROBINSONs, Zipporah (Anm. 1), 456f., JHWHs Zorn treffe hier den säumigen Mose, trägt das Entscheidende ein, insofern der mangelnde Eifer Moses gerade in 4,19ff. kein Thema ist. 13 Für einen anderen Hergang vgl. etwa die Begegnung mit dem in Gen 32,2f. 14 Vgl. etwa E. KUTSCH, Art. htn, ThWAT III (1982) 288–296, darin 295, der (in der Sache durchaus mit einigem Recht, s.u. bei Anm. 38) zum Vergleich auf den Blutritus beim Passa (Ex 12,22f.) verweist. Diese Reduktion auf die apotropäische Wirkung (neben dem Verweis auf Gen 32,25; 38,7; 2 Sam 24,1) erlaubt es ihm auch, die Frage nach dem Sinn des Überfalls auszuklammern.
[45–46]
Zippora und ihr
127
schen sich und Mose („ein bist du mir“).15 Hier wird mithin ein inhaltliches Problem verhandelt, und es liegt nahe, dieses bei der Person Zippora und ihrem „fremden“ Hintergrund zu suchen. In der Tat lässt sich die Episode in dieser Perspektive kohärent lesen – ohne dabei freilich ihre Mehrdeutigkeit ganz preiszugeben. Es ist jedenfalls möglich, wie nun vorgeführt werden soll, zwei begründete Hypothesen über den Text zu formulieren, mit zwei in sich stimmigen Sinnkonstitutionen. Immerhin verlaufen beide Lesarten in der grundlegenden Zielrichtung gleichsinnig, so dass noch zu bedenken sein wird, ob bzw. inwiefern tatsächlich eine Alternative vorliegt.
II Unsere Texthypothese A besagt: Zippora konstituiert mit der Beschneidung des Sohnes und der symbolischen Handlung an Mose eine Art „Blutsverwandtschaft“ mit Mose (über die Heirat hinaus), eine Zugehörigkeit zu seinem Verwandtschaftsverband (damit zu Israel). In der Binnenperspektive der Handlung gibt JHWH daraufhin seine Tötungsabsicht auf – was den Rückschluss erlaubt, dass eben die „ungeordneten“ Familienverhältnisse Moses den Grund für den Angriff darstellten. Aus der Perspektive der israelitischen Leser impliziert dies eine Legitimierung der Ehe Moses mit einer Nicht-Israelitin. | 45–46 Über die zuvor genannten Indizien hinaus lässt sich diese Deutung am besten anhand des (einzigen) Deuteelementes im Text selbst entfalten: der Deklaration Zipporas in V. 25. Dabei geht es um die alte Crux des Textes, den Ausdruck . 15 Auf dieser Struktur der Aussage ist gegenüber allen Interpretationen zu insistieren, welche die rettende Veränderung bei Mose allein suchen. Nach einer recht häufigen Version (J. WELLHAUSEN, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin/Leipzig 19276, 338f.; B. BAENTSCH, Exodus-Leviticus-Numeri [HK 1/2], Göttingen 1903, 35f.; u.a.) war Mose unbeschnitten (deshalb der Überfall!), und Zippora vollzieht an ihm mit der Vorhaut des Sohnes eine stellvertretende Beschneidung, was insgesamt als Herleitung des Ritus an Kleinkindern (anstatt an Erwachsenen) zu sehen sei. Dem steht freilich schon entgegen, dass der (Kon-) Text danach den entscheidenden Punkt (Mose!) ausgespart hätte. Überdies hat der Gedanke einer Vikariatsbeschneidung in der israelitisch-jüdischen Tradition keine Stütze. Diese Dinge sprechen ebenso gegen die Interpretation von DIEBNER, Blutsverwandter (Anm. 1). Danach wird hier Mose (als Repräsentant der ägyptischen Diaspora) durch eine symbolische Beschneidung in „Israel“ aufgenommen. Zippora, die die Handlung vollzieht, steht für „die ‚Beschneidung‘ selbst …, d.h. die wahre _``{}~ _` } _}“ (a.a.O., 125). Letzteres ergibt sich für ihn aus dem Namen „Zippora“ (=„Vogel“), in dem über „Kralle“ (vgl. ), „kratzen“ (*) assoziativ die Beschneidung anklinge (a.a.O., 122). Mit dieser erstaunlichen Assoziation steht und fällt dann freilich auch die gesamte Deutung.
128
Zippora und ihr
[46–47]
bezieht sich in allgemeinen Vergleichen oder geprägten Wendungen zur Hochzeitsfreude und zumeist (Ausnahme: Ps 19,6) in Parallele zu auf den „Bräutigam“.16 Dieser Gebrauch für den Hochzeiter scheint abgeleitet von der Grundbedeutung, in der einen „angeheirateten“ Verwandten17 bezeichnet, in erster Linie den „Schwiegersohn“, in 2 Kön 8,27 darüber hinaus wohl generell den „Verschwägerten“.18 Hält man sich an diese Grundbedeutung, dann ist die singuläre Verbindung mit E. Kutsch als „Blutverschwägerter“ zu übersetzen.19 Doch was meint das dann in unserem Kontext? Wie oben schon angemerkt, erhellt aus dem ganzen Zusammenhang zunächst dies, dass Zippora mit ihrer Erklärung eine neue Qualität der Beziehung zwischen den Ehepartnern anzeigt. Bringt also die Verbindung „Blutverschwägerter“ hier eine gesteigerte Bindung zum Ausdruck, so liegt es nahe, der Paraphrase von W.H. Schmidt zu folgen: „Bisher war Zippora ihm nur durch Heirat, nicht durch Blut verbunden; jetzt ist gleichsam eine Blutsverwandtschaft entstanden.“20 Diese Interpretation wird nicht unwesentlich dadurch gestützt, dass eine Verbindung der Beziehung zwischen Mann und Frau mit den Kategorien der (Bluts-) Verwandtschaft sich im israelitischen Kontext auch sonst belegen lässt. 46–47 Einschlägig ist kein geringerer Text als die Menschenschöpfung in Gen 2: Hier kann die Gemeinschaft von Mann und Frau geradezu als die Blutsverwandtschaft schlechthin vorgestellt werden, die in der Erschaffung der Frau aus dem Gebein des Mannes ihren ursprungsmythischen „Grund“ hat und in Adams Jubelruf mit der sog. „Verwandtschaftsformel“21 auf den Begriff gebracht wird: „Die ist endlich Bein aus meinem Bein und Fleisch aus meinem Fleisch“ (Gen | 2,23). Wenn der Erzähler in 2,24 dann erläutert: „Darum verlässt ein Mann seinen Vater und seine Mutter und hangt seiner Frau an, und sie werden ein Fleisch“, dann besagt das nichts anderes, als dass die scheinbar außerhalb der Verwandtschaftskategorien stehende Ehe von Mann und Frau in Wahrheit, nämlich vom Ursprung des Menschen her, das engste Verwandtschaftsverhältnis ( ) überhaupt darstellt, hinter dem sogar das mit Vater und Mutter zurücksteht.
16
Jes 61,10; 62,5; Joël 2,16 sowie Jer 7,34; 16,9; 25,10; 33,11 in der Wendung
. 17 Um ein durch Heirat begründetes Verwandtschaftsverhältnis geht es bei allen von der Wurzel 0=% abgeleiteten Wortbildungen; dazu und zu den Belegen in anderen semitischen Sprachen vgl. KUTSCH, 0=% (Anm. 14), 289ff., speziell zu 0= % a.a.O., 291f. 0= % und 0= % im Besonderen behandelt die Einzeluntersuchung von T.G. MITCHELL, The Meaning of the Noun htn in the Old Testament, VT 19 (1969) 93–112. 18 Ahasja von Juda gilt hier als . Zu den Problemen der Stelle vgl. MITCHELL, a.a.O., 97f. 19 KUTSCH, 0=% (Anm. 14), 296. 20 SCHMIDT, Mose, Sinai (Anm. 1), 121, Hervorhebung von uns; vgl. DERS., Exodus (Anm. 1), 223. 21 Vgl. W. REISER, Die Verwandtschaftsformel in Gen. 2,23, ThZ 16 (1960) 1–4.
[47–48]
Zippora und ihr
129
In Ex 4,24ff. geht es freilich gerade nicht um diesen allgemein-menschlichen Horizont, also nicht, wie W.H. Schmidt vermutet,22 um die „‚Blutsverwandtschaft‘ der Verheirateten“ im Allgemeinen, sondern im Besonderen um Zippora und Mose! Deren Verhältnis gewinnt erst mit der symbolischen Handlung der Frau eine besondere „verwandtschaftliche“ Qualität bzw. verliert – nach dem Ergehen Moses zu urteilen – ein Defizit. Worin bestand dieses „Defizit“? – Ohne Zweifel in der schon mit V. 25a evozierten (s.o.) fremden Herkunft Zipporas, wurde doch das mit der Herkunft gegebene Problem der Zugehörigkeit/Identität zuvörderst in „verwandtschaftlichen“ Kategorien begriffen. So hat der Israelit, der eine (fremde) Kriegsgefangene zur Frau nimmt, nach Dtn 21,10– 14 die Auflage, ihr einen Monat Trauerzeit zu gewähren, in dem sie „ihren Vater und ihre Mutter“ beweinen soll. Dabei geht es, wie die generelle Formulierung anzeigt, primär nicht um einen eventuellen „realen“ Tod der Eltern,23 sondern um einen symbolischen, „sozialen“: Die Frau trennt sich mit dieser Handlung vor der Eheschließung mit dem Israeliten von ihrem bisherigen Verwandtschaftsverband. Ein ähnliches Ansinnen wird in Ps 45 an die fremde (V. 13: ) Braut des Königs gerichtet mit der Aufforderung (V. 11b): .24 47–48
Vor diesem Hintergrund bedeutet die Beschneidung des Sohnes durch Zippora und die symbolisch-reale Konstitution der „Bluts“verwandtschaft mit Mose die Zugehörigkeit von Frau und Sohn zur Gemeinschaft des Mannes. Und dem entspricht präzise der „Ort“ des Geschehens: Es ereignet sich auf dem „Weg“ (V. 24) der Familie von Zipporas „Vaterhaus“ zu Moses ! Die soweit entwickelte Deutung muss sich nun allerdings einen gewichtigen sprachlichen Einwand gefallen lassen: Im Biblischen Hebräisch ist der Gebrauch von / für die Bezeichnung der „Bluts|verwandtschaft“ gerade nicht idiomatisch.25 Anstelle von „mein Fleisch und Blut“ sagt man (wie auch Adam in Gen 2) „mein Gebein und Fleisch“ ( ).26 Beruht also die hier unterlegte Bedeutung lediglich auf deutschem Sprachgefühl? – So einfach ist der Befund wiederum nicht. Immerhin lässt sich ein entsprechender Sprachgebrauch sowohl im Buch Judith (Jud 9,4)27
22
SCHMIDT, Exodus (Anm. 1), 223: „Wie entsteht aber die ‚Blutsverschwägerung‘ bzw. ‚Blutsverwandtschaft‘ der Verheirateten? Will die Geschichte nicht eben dies erzählen?“ 23 So C. S TEUERNAGEL, Das Deuteronomium (HK 1/3), Göttingen 19232, 129, u.a. 24 Erinnert sei auch an Ruths bekenntnishaft-deklaratorische Zuwendung zu Israel noch vor ihrer Heirat mit einem Judäer (Ruth 1,15.16). 25 Siehe B. KEDAR-KLOPFENSTEIN, Art. dm, ThWAT II (1977) 248–266, darin 255. 26 Siehe o. bei Anm. 23. 27 G. DALMAN, Aramäisch-Neuhebräisches Handwörterbuch zu Targum, Talmud und Midrasch, Göttingen 1938, notiert unter auch die Bedeutung „Blutsverwandter“; entsprechende Belege konnten wir allerdings bisher nicht verifizieren.
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[48–49]
als auch in anderen semitischen Sprachen belegen.28 Auch ist zu bedenken, was oben im Blick auf den Grundgedanken der Blutsverwandtschaft von Mann und Frau anzuführen war. Es stützt die Möglichkeit, dass diese metaphorische Verwendung von (), obschon nicht vertrauter Sprachgebrauch, so doch im konkreten Fall für Israeliten wenigstens nachvollziehbar sein konnte. Soviel wird in Hypothese A allerdings vorausgesetzt. Gleichwohl bleibt die Frage, weshalb in dem Deutewort (V. 25b) zur Artikulation der neuen „Qualität“ der Verwandtschaft überhaupt ein Ausdruck gebraucht wird, der dafür offenbar nicht idiomatisch ist. Eine mögliche Antwort hat zwei Aspekte: Zunächst wird schon lange und mit Recht angenommen, dass der Text mit einen ihm bereits vorgegebenen Ausdruck aufgreift (dazu gleich i.F.). Die daraus resultierende Selbstbindung der Erzählung hat aber zugleich ihren guten Sinn, ermöglicht doch erst die Ausrichtung auf den Ausdruck das szenisch darstellbare Syndrom der bedeutsamen Elemente Beschneidung, Berührung mit dem (Beschneidungs-)Blut und deklaratorischer Sprechakt Zipporas, der sich auf ihre „Verwandtschaft“ mit Mose (!) bezieht. Die Bezeichnung bildet so gesehen einerseits den Integrationspunkt für die Motivik des erzählerischen Kernstücks; andererseits wird ihre spezifische Bedeutung allein durch und für diesen Textzusammenhang konstituiert. 48–49 Wenn als vorgegebenes Material bei der Gestaltung der Episode diente, erklärt dies noch einen weiteren Aspekt, den man Lesart A entgegenhalten könnte: Geht es in der Episode, wie hier behauptet, wesentlich um die Zugehörigkeit von Moses Frau zu Israel, müsste man dann im Deutewort Zipporas nicht eher eine andere Struktur erwarten, nicht …, sondern …? Schließlich sollte | sich Zippora dem Verwandtschaftsverband Moses zuordnen und nicht umgekehrt. – Auch hier liegt jedoch auf der Hand, dass der Ausdruck und die komplexe symbolische Handlung Zipporas im Grunde die vorliegende Formulierung bedingen.29 28 Zum Akkadischen vgl. die Belege s.v. damu in CAD D, 79b; zur Verbindung von Blut und verwandtschaftlicher Beziehung bei den vorislamischen Arabern s. KEDARKLOPFENSTEIN, (Anm. 25), 253. 29 Mit etwas Phantasie könnte man natürlich auch den Spieß umdrehen und das Ganze als eine (ursprünglich) midianitische Überlieferung lesen, welche Mose als „Blutverschwägerten“ an die midianitische Sippe Zipporas binden möchte. Eine entsprechende Genealogie der Überlieferung war in der Forschungsgeschichte immer wieder virulent (s. SCHMIDT, Exodus [Anm. 1], 226). Schließlich bietet der Text dafür einige Anhaltspunkte, jedenfalls wenn man ihn im Kontext der Midianiter-/Keniterhypothesen liest. Vermutlich lag der Reiz solcher Erklärungen nicht zuletzt darin, dass sie sowohl die zumeist empfundene „Fremdartigkeit“ der Episode als auch die Rede von JHWH und die Bedeutung der Beschneidung zu integrieren schienen. Ja, die Midianiter konnten dabei nicht nur zu den Vermittlern der JHWH-Verehrung für Mose/Israel, sondern auch der Beschneidung avancieren. Zusätzliche Kombinationen musste der Umstand provozieren, dass atana im
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III Die zuletzt diskutierten Einwände und Fragen beschweren unsere Texthypothese B nicht. Nicht anders als nach Lesung A geht es auch danach letztlich um die Herleitung/ Legitimierung der Zugehörigkeit von Moses Frau und Sohn zu Israel. Der Unterschied steckt im Detail. 49–50 Die Weichen werden mit der Deutung von gestellt: Legt man die schon genannte Verwendung von als Bezeichnung für den Hochzeiter zugrunde, dann bleibt es bei der traditionellen Übersetzung „Blutbräutigam“. Klingt „ein (Blut-) Bräutigam bist du mir“ im Munde Zipporas nicht auch in gewisser Weise „natürlicher“ als „(Blut-) Verschwägerter“?30 Und steht Mose, nachdem ihn Zippora mit der Vorhaut berührt hat, nicht tatsächlich da wie ein „ “, wie ein Bräutigam, der das Blut der Vereinigung in der Hochzeitsnacht an sich trägt? Wurde in der Exegese der Ausdruck in diesem (naheliegenden) Sinne verstanden,31 dann allerdings im Zusammenhang mit eingreifenden Revisionen des Textes. Schließlich hat die Szenerie der Episode (Zippora mit Mann und Kind unterwegs an einer Raststätte) nichts, aber auch gar nichts mit einer Hochzeit oder Hochzeitsnacht zu tun! Dennoch erweist sich eine Textänderung oder -rekonstruktion als | völlig überflüssig, wenn man nur die Aktion Zipporas als das nimmt, was sie ist: eine komplexe symbolische Handlung. Zwar ist die Berührung mit der Vorhaut konkret, und Mose ist tatsächlich an seinem Glied blutig, doch erst Zipporas Erklärung lässt ihn damit zum „Blutbräutigam“ werden. Genauer sollte man sagen, sie lässt ihn noch einmal dazu werden; es geht um eine erneute, symbolisch unter anderen Vorzeichen wiederholte Hochzeit! Ähnlich wie oben in Erklärung A kann diese zeichenhafte Neukonstitution ihrer Beziehung zu Mose nur einen Sinn und dann auch Wirkung auf den Angreifer haben, wenn damit ein Defizit der bisherigen Beziehung korrigiert wird. Worin das Defizit liegt, das zeigt präzise die entscheidende Differenz an, die zwischen dieser erneuerten „Hochzeit“ und der ersten besteht: Das Blut am ist dieses Mal nicht das der Braut, sondern das Beschneidungsblut des Sohnes! Es versteht sich mit dem soeben Gesagten von selbst, sei aber noch einmal betont: Das gefährliche Defizit besteht nicht allein in dem Unbeschnittensein des Kindes. – Um dies zu beheben, hätte die Beschneidung und eventuell die (schützende) Berührung des Angegriffenen – nicht notwendig an dieArabischen „beschneiden“ bedeutet (vgl. WELLHAUSEN, Prolegomena [Anm. 15]; KOSMALA, Bloody Husband [Anm. 38]). 30 „Verschwägert“ ist der Mann ja in erster Linie aus der Sicht der angeheirateten Familie. 31 S. H. GUNKEL, Das Märchen im Alten Testament, Frankfurt/Main 19872 (1921), 85, der im Wesentlichen der Deutung von GREßMANN, Mose (Anm. 2), folgt.
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sem Körperteil!32 – ausgereicht. Indem Zippora ihr Handeln zu einer zeichenhaften „Wiedervermählung“ mit Mose ausgestaltet, bezieht sie vielmehr sich selbst in die „Korrektur“ mit ein. Das Fehlen der Beschneidung ist nicht Ausdruck nachlässiger ritueller Observanz (wäre das überhaupt plausibel?), sondern ist (sichtbarer) Ausdruck der Nicht-Zugehörigkeit von Mutter und Sohn zu Israel, der Gemeinschaft des Mose. Auch der Schluss in V. 26b hat in diesem Zusammenhang eine klar bestimmbare Bedeutung. Wie allgemein gesehen, handelt es sich bei der mit $ angeschlossenen Aussage um eine kommentierende Erläuterung des Erzählers. Nach der u.E. wahrscheinlichsten Übersetzung33 heißt es hier: „Damals sagte sie ‚ ‘ mit Bezug auf die Beschneidung.“ Dieser Satz gibt implizit eine Reihe interessanter Auskünfte über den Text selbst: Er besagt zunächst, dass man auch „mit Bezug auf“ anderes sagen konnte. Er gibt damit weiterhin zu erkennen, dass der Ausdruck den Adressaten nicht nur/erst von unserem Text her bekannt war/zu sein brauchte. Und nicht zuletzt markiert | er die Distanz zwischen Darstellung (Autor/ Adressaten) und Dargestelltem. Denn entgegen einem verbreiteten Missverständnis zielt er nicht auf eine ätiologische Feststellung, sondern ist, wie B.S. Childs trefflich herausgearbeitet hat,34 deren genaues Gegenteil: Weit davon entfernt, einen Aspekt der Handlung in die Gegenwart hinein zu verlängern, beschränkt er die Verwendung von durch Zippora auf den einen erzählten Vorfall. Dabei – und darum geht es primär – kontrastiert er diesen einmaligen Gebrauch mit dem „üblichen“ Verständnis des Ausdrucks: „Zippora sagte ‚Blutbräutigam‘ [, allerdings nicht bezogen auf die prima nox, sondern] mit Bezug auf die Beschneidung [deren Blut sie Mose applizierte]“. Wie es sich für einen guten Kommentar gehört, hebt er damit präzise den Differenzpunkt heraus, welcher auf den Sinn der symbolischen Neuvermählung durch Zippora führt. 50–51
32 Dass " hier für „Genitalien“ steht, ist unseres Wissens unstrittig. In Texthypothese A ist gerade deren Berührung nicht mit der gleichen erzählerischen Notwendigkeit motiviert. 33 Zu + in der Bedeutung „mit Bezug auf“ vgl. GES.-K. §119u und die Kommentare. Das Hapax legomenon =YK/ ist am einfachsten als ein Abstraktplural „Beschneidung“ zu verstehen. Angesichts der guten Analogien (vgl. Ges.-K. §124f) braucht man nicht auf der Bedeutung „Beschneidungen“ zu insistieren, um dann für deren Inkongruenz zum Kontext eine Lösung anzubieten (vgl. SCHMIDT, Exodus [Anm. 1], Textanm. c und e zu V. 26, mit Lit.). 34 B.S. CHILDS, Exodus. A Commentary (OTL), London 1974, 100f.
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*** Vergleicht man nun die beiden Texthypothesen miteinander, so dürfte die zweite aufs Ganze gesehen doch etwas enger an die Konturen des Textes anschließen. Sie ist auch einfacher, insofern es sich erübrigt, un-idiomatische bzw. nicht ganz bündige Formulierungen mit der Bindung an den (in welcher sonstigen Bedeutung auch immer) vorgegebenen Ausdruck zu erklären (s.o.). Falls A und B als strenge Alternativen gelten müssen, hätte man sich deshalb wohl für die zweite zu entscheiden. 51–52 Nun darf man allerdings nicht übersehen, dass beide Interpretationen sich in dem grundlegenden Aussageziel des Textes treffen. Geht es doch nach beiden um die gelungene soziale-religiöse „Integration“ von Moses Frau und Kind. Die Stärke von Hypothese A besteht darin, dass sie diese Problematik auf das für eine traditionale Gesellschaft fundamentale soziale System der „Verwandtschaft“ bezogen sehen kann. Ihre Hauptschwäche ist die nicht direkt zu belegende Voraussetzung, dass die Blutsymbolik des Textes für die Adressaten ohne weiteres auf die Kategorie „Blutverwandtschaft“ hin transparent sein konnte/war. Falls aber eine solche Transparenz tatsächlich gegeben war, ist nicht einzusehen, weshalb neben dem Verständnis von als „Blutbräutigam“ (Hypothese B) nicht auch der skizzierte Gedanke des „Blutverschwägerten“ Mose mit seinen konzeptionellen und erzählerischen Implikationen mitgehört worden sein sollte. |
IV Fragen wir abschließend, ob unser Verständnis der Episode auch einer Einbeziehung des Kontextes standhält. Eine isolierende Analyse gerade dieser drei Verse (wie die soeben vorgelegte) ist ja in der Forschung so selbstverständlich, dass eine bewusst kontextuelle Auslegung beinahe der Rechtfertigung bedarf. Doch wie immer gibt es Ausnahmen. Und so fehlt es auch nicht an (neueren) Untersuchungen, die den Blick für die recht verschiedenartigen Kontextbindungen der Zippora-Episode geschärft haben, z.T. in der Aufnahme von Beobachtungen traditioneller Auslegungen.35 Schon der Einsatz des Abschnitts in V. 24: „Unterwegs an einer Übernachtungsstätte traf ihn JHWH …“, erweist sich mit jedem zweiten Wort 35 Vgl. zunächst M. GREENBERG, Understanding Exodus (HBI 2/1), New York 1969, 110ff. (mit Rezeption der jüdischen Auslegungstradition); HOUTMAN, Exodus (Anm. 1); als Programm dann bei ROBINSON, Zipporah (Anm. 1); vgl. auch J. BLENKINSOPP, Prophecy and Canon. A Contribution to the Study of Jewish Origins (University of Notre Dame Center for the Study of Judaism and Christianity in Antiquity 3), Notre Dame u.a. 1977, 10f.
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als Fortführung, nicht als selbständiger Neueinsatz. Und die Referenz der mit „ihn“ bezeichneten Person bliebe ohne den Vor-Text überhaupt ohne Auflösung. Noch tiefer in die Substanz reicht die Szenerie: Mose, seine Frau Zippora und sein Sohn unterwegs auf einer mehrtägigen Reise – ist diese Konstellation nicht ganz und gar abhängig vom vorausgehenden Text (2,21f.: Zippora und Geburt eines Sohnes; 4,19f: der Aufbruch mit der Familie36 nach Ägypten)? In eben diesen Zusammenhang führt eine weitere, verschiedentlich beobachtete Bezugskette: Nach 1,15 „suchte“ Pharao Mose zu töten (" ), der daraufhin nach Midian flieht; dort erhält er die Aufforderung JHWHs zurückzukehren, da alle Leute, die ihm nach dem Leben trachteten, gestorben seien ( ) (4,19); aber auf der Rückreise „sucht“ ihn JHWH selbst zu töten ( ) (4,24). Eine Verbindung mit dem folgenden Nahkontext kann man eventuell in der Aufnahme des " (4,24) bei der Begegnung mit Aaron in 4,27 sehen.37 Jedenfalls aber die belangreiche Beziehung zur Passa-Erzählung in Ex 12,2lff. ist, da die Episoden nun einmal in dem selben Erzähldiskurs stehen, unabweisbar:38 Beide Male wird die nächtliche | Bedrohung von Menschenleben durch JWHW mit der Applikation von Blut, formuliert mit " Hif., abgewendet. Geschützt werden muss dort Israel, hier der Führer des Volkes; dieses Geschehen steht vor der Ankunft des Retters, mit jenem endet die Bedrückung in Ägypten. Allerdings löst auch diese partielle Korrespondenz zur Passa-Nacht das eigentliche Skandalon von Ex 4,24–26 in seinem Kontext nicht auf: Den von JHWH beauftragten Retter, der in seiner Mission unterwegs ist, sucht JHWH selbst zu töten! 52–53 Man mag hierzu an die verbreitete Motivik erinnern, wonach der Held selbst große Gefahren zu bestehen hat, bevor er seine Aufgabe erfüllen kann. Oder im Alten Testament an Jakob, der vor der Konfrontation mit dem Bruder die noch größere Herausforderung durch den göttlichen Gegner erfährt. Doch ist für den spezifischen Sinn unseres Textes damit nur wenig gewonnen. Denn zum einen ist es recht besehen nicht Mose, sondern Zippora, welche die Krise „bewältigt“, zum anderen bleibt die Frage nach der „Logik“ im Handeln JHWHs.
36
Der isolierte Plural in 4,20 ist seit langem als Angleichung an Ex 18,2ff. erkannt. So U. CASSUTO, A Commentary on the Book of Exodus (Publications of the Perry Foundation for Biblical Research in the Hebrew University of Jerusalem), Jerusalem 1967, 59. ROBINSON, Zipporah (Anm. 1), 451f., findet (nach dem Vorgang anderer) in der Abfolge: gefährliche Begegnung mit Gott – Begegnung mit dem Bruder eine Entsprechung zu Jakobs Begegnung mit Esau, welcher der Kampf am Jabbok vorausgeht. 38 Zu diesem Zusammenhang vgl. schon IBN ESRA z.St.; HÄZQUNI (13. Jh.) z.St.; dann u.a. H. KOSMALA, The „Bloody Husband“, VT 12 (1962) 14–28, darin 23f.; ROBINSON, Zipporah (Anm. 1), 452f.; zum Folgenden s. besonders: GREENBERG, Understanding (Anm. 35). 37
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Legen wir unser Textverständnis (nach beiden Lesarten) zugrunde, ist es nun aber gerade das Paradox der Abfolge von Sendung und Bedrohung, welches die inhaltlichen Konturen der Zippora-Episode deutlicher ins Licht rückt. Danach widerfährt Mose weder eine unbegründete Destruktivität des Gottes noch auch die übermäßige Ahndung einer Nachlässigkeit bei der Beschneidung des Sohnes.39 Vielmehr geht es darum, dass ausgerechnet der (beauftragte) Befreier Israels mit seiner engsten Familie gar nicht ungeteilt Israel angehört. Ein Umstand, der just da JHWH zu seinem tödlichen Widersacher werden lässt, wo Mose aus dem Bereich Midians zu Israel übergeht – in Begleitung seiner midianitischen Frau und „deren“ Sohn. Die Lösung des Problems durch das entschiedene Handeln der Zippora bewirkt in diesem Gefälle somit nicht allein die „Rettung des Retters“, sondern erst dessen vollständige Zurüstung für seine Sendung. – Es ist der Bezug auf die Ausnahmegestalt Mose in dieser spezifischen Situation, welcher die anstößig dramatische Zuspitzung des Geschehens erst begründet erscheinen lässt. Man kann nicht nur, sondern muss wohl das Ganze im Kontext der Moseerzählung lesen. 53 Spätestens an dieser Stelle sind die überlieferungsgeschichtlichen Implikationen dieser synchronen Interpretation nicht mehr zu übersehen.40 – Aber 39 Vgl. die Midraschauslegungen der Stelle, die hier überwiegend ein Paradigma der Bedeutung der Beschneidung finden und im Übrigen bemüht sind, das Versäumnis Moses zu minimieren. 40 Das gängige Bild der (ur)alten in sich ruhenden Einzelüberlieferung, die sich von ihrer jetzigen Umgebung immer noch als eine Art Fremdkörper abhebe, ist im Übrigen nicht nur von dem kontextbezogenen Skopus her zu hinterfragen. Schon die durchgehende Anlehnung der Verse an eine vorausgehende Erzählung (s.o.) und – in deren Licht auch – die Leitwortverkettung („nach dem Leben trachten“) mit den Midian-Episoden (s.o.) schließen im Grunde eine „Eigenexistenz“ der vorliegenden Textgestalt aus. Da darüber hinaus, wie angedeutet, auch die Grundkomponenten des Handlungsgerüsts sich komplett aus dem Vorkontext ergeben, muss sogar offen bleiben, inwieweit hier überhaupt eine ältere „Vorlage“ verarbeitet wurde. Die vielleicht noch interessantere Frage, für welchen literarischen Zusammenhang die Szene formuliert wurde, kann schon deshalb hier nicht fundiert behandelt werden, weil sie sogleich die Koordinaten einer übergreifenden Pentateuchtheorie tangiert. Nur einige kompositionelle Beobachtungen seien stichwortartig notiert: Einer der profiliertesten diachronen Befunde (dazu s. demnächst E. BLUM, Studien zum Pentateuch [BZAW 189], Berlin/New York 1990) im vor-priesterlichen Exodusbuch ist der, dass die große „Dornbusch-Berufung“ in 3,1–4,18 eine jüngere (Kompositions-) Schicht (wir nennen sie „DKomposition“) repräsentiert, die in einen ihr vorgegebenen Erzählungszusammenhang eingefügt ist. Zu letzterem gehört insbesondere die Sequenz der Midian-Episoden von 2,15–22; 4,19f. Eben an diese Erzähllinie, und nur an diese, schließen 4,24–26 an: In ihr werden die beteiligten Personen und das hinter 4,24ff. stehende Problem eingeführt, und 4,20 erzählt den Aufbruch nach Ägypten, an den 4,24 nahtlos anschließt. (Auch der nächste deutliche Bezugstext, der Passa-Blut-Ritus in 12,21ff.*, gehörte wohl zu derselben Überlieferungsschicht.) Dem korrespondiert, dass die Zippora-Episode keine Prägung durch
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die Textgenese ist hier nicht unser Thema; uns lag ledig|lich daran zu zeigen, dass diese Überlieferung mit all ihren fremd anmutenden Zügen ein kohärentes kontextuelles Verständnis zulässt. Sollte sich wenigstens eine unserer Lesehypothesen bewähren, dann geht es bei JHWHs bedrohlicher Intervention und bei Zipporas entschiedenem Handeln im Kern um das große Thema von Fremdheit und Zugehörigkeit in Israel. Freilich eröffnen da Zippora und Mose mit ihrer Geschichte nur die lange Reihe verschiedener Lösungen unter ganz verschiedenen Umständen. 53–54
die D-Komposition erkennen lässt. Stand sie also „schon“ in einer dieser vorgegebenen Moseerzählung? Die Verse 21–23, die sich zwischen 4,20 und 24 schieben (s. schon HÄZQUNI z.St.) und als summarische Prolepse die weiteren Geschehnisse umreißen, reden betont von Israel als dem Erstgeborenen JHWHs und von der Tötung von Pharaos Erstgeborenem. Von daher wird verschiedentlich ein sachlicher Zusammenhang mit 4,24–26 vermutet (vgl. u.a. CASSUTO, Commentary [Anm. 37] z.St.). In der Tat könnte ein assoziativer Anschluss vorliegen (was auch die Position von 4,21–23 erklärte), dessen Logik allerdings implizierte, dass in V. 24ff. das Kind bedroht ist. Dann wäre die Erweiterung 4,21–23 der erste Zeuge einer bestimmten Auslegung unseres Abschnitts.
Die Feuersäule in Ex 13–14 – eine Spur der „Endredaktion“? Neben der Sintflutgeschichte der Genesis bildet die Erzählung vom Meerwunder in Ex 13–14 eines der (wenigen) Beispiele, in denen die literargeschichtlichen Analysen in relativ großer und stabiler Übereinstimmung zwei ineinander verflochtene Erzählungslinien unterscheiden. Allerdings ist auch in diesem Falle der Konsens keineswegs komplett, wie allein schon die gewichtige Stimme des Exoduskommentators C. Houtman belegt.1 An dieser Stelle brauchen gleichwohl die bekannten Argumente für die Annahme zweier, konzeptionell durchaus verschiedener Erzählungsvarianten nicht erneut ausgebreitet zu werden.2 Vielmehr soll es im Folgenden in erster Linie um elementare Textprobleme im Zusammenhang mit der „Wolken- und Feuersäule“ in Ex 14 gehen, in zweiter Linie um weiterreichende redaktionsgeschichtliche Hypothesen, die in neuerer Zeit von diesen und anderen, tatsächlichen oder vermeintlichen Schwierigkeiten aus entwickelt wurden.
I Noch vor der Erzählung des eigentlichen Meerwunders wird in Ex 13,21–22 eine Wolken- bzw. Feuersäule eingeführt, mit/in der JHWH das Volk nach der Herausführung aus Ägypten bei Tag bzw. Nacht führte. Narrativ spielt dieses Element aber nur im anschließenden Schilfmeerwunder eine Rolle (Ex 14,19b–20.24). In diachronen Analysen wird es hier zumeist der vorpriesterlichen Haupterzählung zugeordnet. Zwei der Belege, Ex 14,20 und 24, bieten freilich sprachlich und inhaltlich elementare Verstehensschwierigkeiten. | 1 C. HOUTMAN, Exodus. Vol. 2 (HCOT), Kampen 1996. Unbeschadet der von ihm referierten diachronen Analysen (z.B. a.a.O., 234f.) zieht Houtman dessen Lesung als „coherent unit“ vor (a.a.O., 233; vgl. auch 235, Anm. 18; 270). 2 Zu meiner eigenen Sicht vgl. E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin/New York 1990, 256–262, dort auch Verweise auf ältere Literatur. Mein Verständnis hat sich in den Grundzügen nicht geändert; einige Modifikationen werden gegen Ende angedeutet.
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Die Feuersäule in Ex 13–14
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Die bisher deutlichste Profilierung dieser Schwierigkeiten ist einem Beitrag von W. Groß zu verdanken.3 Seine Beobachtungen und Folgerungen stützen sich dabei entscheidend auf sprachliche und sachliche Anstöße in 14,24: 24a ^ @ b Wie W. Groß nachweist, wird der Ausdruck in der Regel – gegen die Vorlage – determiniert übersetzt. Dies stellt eine zumeist unbewusst oder stillschweigend vorgenommene Glättung dar, da bei einem Rückbezug auf eine bereits eingeführte Größe (wie die Wolken- und Feuersäule, vgl. 13,21!) grundsätzlich eine Determination zu erwarten wäre. Nach Groß steht demnach der „fehlerhaft formuliert[e]“ hebräische Text in einer „Spannung zum vorausgehenden Kontext“.4 Wird der sprachliche Befund nicht – wie üblich – bagatellisiert,5 verbinde er sich rasch mit sachlichen Auffälligkeiten, die rein textgeschichtliche Lösungen verböten und stattdessen eine literargeschichtliche Erklärung verlangten. So ist nur an dieser Stelle gleichzeitig von „Feuer“ und „Wolke“ die Rede, und dies bezogen auf die Nacht, in der gemäß 13,21a aber allein die „Feuersäule“ in Erscheinung trat. Darüber hinaus sind Wolke und Feuer in 13,21–22 nach der Lesung von Groß zwei verschiedenen Säulen zugeordnet, so dass 14,24 erst recht in eine offene Spannung zu diesen Versen treten würde. Hinzu kommen weitere Differenzen zwischen dem in 13,21–22 gezeichneten Bild und der anschließenden Erzählung6 sowie die Beobachtung, dass die in 13,21–22 generell vorgestellte Konstellation in der weiteren PentateuchÜberlieferung, insbesondere der nicht-|priesterlichen, nicht mehr aufgenommen wird.7 Des Weiteren ließen sich davon die diversen Schwierigkeiten in 14,20 nicht trennen.8 118–119 3 W. GROß, Die Wolkensäule und die Feuersäule in Ex 13+14. Literarkritische, redaktionsgeschichtliche und quellenkritische Erwägungen, in: Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel (FS N. Lohfink SJ), hg. von G. Braulik OSB u.a., Freiburg/ Brsg. 1993, 142–165. 4 GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 145. 5 Seltener sind die Versuche von ad-hoc-Erklärungen; vgl. die Aufstellung bei GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 147f. 6 So hätten nach 13,21–22 die Säulen eine Funktion beim Zug der Israeliten, in Ex 14 bewegten sich die Israeliten aber in der Nacht gar nicht (14,9b) (GROß, Wolkensäule [Anm. 3], 146: „B5“). Eine weitere Spannung beträfe speziell die Feuersäule (ebd.: „B6“): „Nach 13,21.22 soll die Feuersäule jeweils die Nacht erhellen. Weder die Ägypter in 14,27 noch die Israeliten – sie erblicken nach 14,30 erst am Morgen die Leichen der Ägypter – sehen aber etwas in der Nacht“. 7 GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 146 („B4“): „Im Gegensatz zu 14,19.24 formulieren 13,21.22 einen generellen Sachverhalt, der somit auf die gesamte Wüstenzeit Israels zutreffen müsste: Jeweils am Tag und jeweils zur Nacht ermöglicht die jeweilige Säule
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Die Feuersäule in Ex 13–14
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Die genannten Spannungen sucht Groß in einer von ihm Schritt für Schritt entwickelten redaktionsgeschichtlichen Hypothese zu lösen. Danach spielte (a) allein die Wolkensäule in der „vorP-Version“ eine Rolle. Vielmehr hätte (b) der Redaktor, der vorP und P zusammenfügte, die Feuersäule geschaffen, da erst bei dieser Zusammenfügung eine Lichtquelle für den nächtlichen Durchzug der Israeliten durch das Meer vonnöten geworden wäre.9 Schließlich (c) ließen sich bei einer nach-P-Redaktion auch die allgemeinen Aussagen zur (Wolken- und) Feuersäule in Ex 13,21–22 von den sonstigen Pentateuchvorkommen einer Wolke(nsäule) her erklären; dazu gehören in nicht-P: Ex 33,9.10; Num 12,5; Dtn 31,15, in „PG“: Ex 24,15b– 18b; 40,34.35; in „Ps/RP“: Num 9,16.17.10 Die Ausgangsschwierigkeit der fehlerhaften Indetermination der Säule in 14,24 löst sich innerhalb der hier nur knapp referierten Hypothese mit der zusätzlichen Annahme, dass „ den Artikel bei sich hatte und ihn erst bei der späteren Hinzufügung von verlor“.11 Auch in 14,20 ergebe sich ein sinnvoller Zusammenhang, wenn „und erleuchtete die Nacht“ (20c12) als redaktionell gelten kann. Nach Abzug der postulierten redaktionellen Erweiterungen bleibt somit folgender Grundbestand der vor-PAussagen zur Wolkensäule in Ex 13–14:13 | 119–120 13,21a ( aI) # 14,19c d 14,20b ^ $^ $ d 14,24a < > ^ @ b c Israel das Weiterziehen. Jedoch tauchen diese beiden Säulen an keiner Stelle innerhalb des vorP-Materials auf, insbesondere wird nirgends erzählt, Israel ziehe nachts weiter“. 8 Vgl. dazu u. bei Anm. 27. 9 Dabei nimmt er einen Gedanken von F. KOHATA, Die Endredaktion (RP) der Meerwundererzählung, AJBI 14 (1988) 10–37, auf. In der für sich gelesenen P-Version kann man ohne weiteres an einen Durchzug bei Tage denken; für vorP rechnet Groß (mit vielen Auslegern) nicht mit einem Durchzug, sondern lediglich mit einem Untergang der Ägypter im Meer. Vgl. die ausführliche Nachzeichnung der redaktionellen Vorgehensweise von „RP“ (GROß, Wolkensäule [Anm. 3], 152). 10 Vgl. die ausführliche Diskussion in GROß , Wolkensäule (Anm. 3), 153–157. Num 14,14 und Dtn 1,33 setzen dagegen nach Groß „RP“ bereits voraus (a.a.O., 158–161). 11 GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 150. 12 Zur Notierung der Sätze innerhalb der Verse vgl. den Text im Anhang und u. Anm. 25. 13 Nach GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 149.
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Die Feuersäule in Ex 13–14
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Die weiterreichenden pentateuchkritischen Implikationen dieser Hypothese liegen auf der Hand. So widerspricht der Befund einer P und nicht-P vermittelnden, von beiden Traditionen aber konzeptionell differierenden Redaktion der Sicht von P als einer Redaktion/Bearbeitung, er wäre aber auch – wie Groß zu Recht herausstellt – mit dem von mir vertretenen Modell einer zwar literarisch separat konzipierten, aber nie eigenständig „publizierten“ P-Überlieferung kaum zu vereinbaren, insofern in diesem Modell literarische Konzeption und Redaktion lediglich zwei „Produktionsphasen“ einer umfassenden priesterlichen Neuedition eines Proto-Pentateuch darstellen. Allerdings ist die vorgeschlagene redaktionsgeschichtliche Erklärung auch nicht ohne innere Schwierigkeiten, zumal wenn man sie an der zugespitzten Problembeschreibung von Groß selbst misst: (1) So ergibt sich nach dieser Hypothese, dass der Redaktor in einem Fall (14,24) „sprachlich fehlerhaft formuliert“, in einem anderen Fall (14,20) einen „kaum mehr verständliche(n) Text“ produziert hätte.14 – Beides aber näher besehen ohne Not. Denn weshalb sollte ein des Hebräischen kundiger Tradent bei seiner Ergänzung in 14,24 ausgerechnet die ihm vorgegebene(!) Determination in tilgen und so einen sprachlich grob abweichenden Text bilden?15 Und weshalb sollte er in 14,20 nicht einen halbwegs verständlichen Zusammenhang produzieren können, etwa mit der Explikation des Subjekts in dem von ihm angeblich neu gebildeten Satz 20c: „Da | erleuchtete die Feuersäule die Nacht“? Der angenommene Befund bleibt insbesondere bei einem Redaktor rätselhaft, dem ansonsten ein subtil durchdachter, geradezu schriftgelehrter Umgang mit dem vorgegebenen Pentateuchmaterial zugetraut wird.120–121 (2) Des Weiteren wäre zu konstatieren, dass die Redaktion – wiederum ohne Not – die vorgegebene generelle Formulierung in 13,21* mit V. 22 in einer Weise weitergeführt hätte, die allen vorgegebenen Pentateuchüberlieferungen zur Gegenwart Gottes in der „Wolke“ konzeptionell widersprechen, sie also gerade nicht integrierend vorwegnehmen würde. Die Formulierung: „Nicht wich (Iterativ!) die Wolkensäule bei Tag und die Feuersäule bei Nacht vor dem Volk“ (14,22) steht hinsichtlich der Präsenz in Spannung16 mit der je und je auf das Orakelzelt herabkommenden bzw. wieder aufsteigenden „Wolkensäule“ in Ex 33; Num 11; 12; Dtn 31 und hinsichtlich ihres Ortes mit der „priesterlichen“ Wolke, die über dem Heiligtum in der Mitte des Lagers ruht (Num 9). 14
GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 145 bzw. 152. Vgl. auch T. KRÜGER, Erwägungen zur Redaktion der Meerwundererzählung (Exodus 13,17–14,31), ZAW 108 (1996) 519–533, hier 525, Anm. 30. 16 Vgl. aber unten vor Anm. 24. 15
[121–122]
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Ist demgegenüber eine Erklärung denkbar, die ohne solche Schwierigkeiten auskommt, ohne aber hinter die Großschen Problembeschreibungen zurückzufallen? – Im Folgenden soll ein entsprechender Versuch unternommen werden.17 Nach meiner Überzeugung ist eine kohärente Lesung von Ex 14,24 und – mit einer gewissen Einschränkung – auch von 14,20 möglich, sofern diese Verse – zunächst nur! – im narrativen Profil der nicht-PErzähllinie in Ex 13–14 gelesen werden und sofern darüber hinaus – abweichend von W. Groß – folgende Annahmen zu Ex 13,21.22 zutreffen: (1) Die Notiz 13,21.22 führt nicht zwei verschiedene „Säulen“ ein, eine Wolkensäule und eine Feuersäule, sondern eine einzige, die bei Tag als Wolke, bei Nacht als Feuersäule erscheint. – Die sprachliche Formulierung lässt gewiss beide Möglichkeiten zu. Zwar bildet die eine, in ihrer Erscheinung mutierende „Säule“ wohl das einfachere Verständnis,18 doch entscheidend ist, dass sie ein schlüssigeres | Gesamtverständnis erlauben wird. Im Übrigen ist die Vorstellung der in der Dunkelheit als Feuer erscheinenden Wolke mit Num 9,15–16 alttestamentlich belegt und dürfte ihrerseits auf entsprechende Naturerfahrungen zurückgehen.19 121–122 (2) Der Notiz 13,21.22 kommen kontextuell mehrere Funktionen zu. Einerseits gehört sie zur Hinführung auf das Schilfmeerwunder, andererseits ist sie als allgemeine „Hintergrundinformation“ gestaltet, und zwar ist sie sowohl als Nachholung zum nächtlichen Auszug (Ex 11,4–8+*12,29–37) 17
Wie sehr sich die folgenden Überlegungen – auch im Widerspruch – der luziden Analyse von W. Groß verdanken, mag allein schon daran deutlich werden, dass meine eigene publizierte Exegese der Episode in dieser Hinsicht noch ohne jedes Problembewusstsein war (BLUM, Studien [Anm. 2], 256ff.). Wesentlich profitiert habe ich zudem von der Möglichkeit, erste Überlegungen der folgenden Analyse in einem gemeinsam mit W. Groß und A. Reichert im Sommersemester 2002 veranstalteten Tübinger Oberseminar diskutieren zu können. 18 Jedenfalls stellen sich Fragen, wie die Ersetzung der einen durch die andere „Säule“ vorzustellen sei, von vornherein gar nicht. Anders in der traditionellen jüdischen Auslegung, die zumeist mit zwei verschiedenen Säulen rechnet; so findet sich bei Raschi u.a. zu 13,22 die Auskunft, die jeweils bestehende Form der Säule sei nicht verschwunden, bevor die andere gebildet war. Für 14,24 impliziert dies die Vorstellung zweier hintereinander stehender Säulen. 19 Gern zitiert wird hierzu ein Bericht von H. GRESSMANN: „Als im Winter 1905 der Vesuv kurz vor seinem großen Ausbruch stand, hing des Tags über dem Berge eine dichte, unbewegliche Rauchwolke, die sich des Nachts durch den glühenden Feuerschein im Innern des Kraters zu einer Feuersäule verwandelte. Und viele Meilen weit wußte man, des Tags durch die Rauchwolke, des Nachts durch die Feuersäule genau, wo der Vesuv zu suchen war“ (Mose und seine Zeit. Ein Kommentar zu den Mose-Sagen [FRLANT 18], Göttingen 1913, 112f.). Allerdings empfiehlt sich Gressmanns Rückschluss, die Feuerund Wolkensäule müsse „zu dem ältesten Bestandteil der Sagenüberlieferung gehören“ (a.a.O., 113, Hervorhebung im Orig.), schon aufgrund der geologischen Befunde in der weiteren Region nicht. Vielmehr ist mit – woher auch immer vermittelten – Wissenselementen zu rechnen (vgl. auch die Pindarverse bei GRESSMANN, a.a.O., 112, Anm. 3).
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[122–123]
zu lesen wie auch als „Vororientierung“ zur Wüstenwanderung. Für die Meerwundererzählung kann sie eben damit als Hintergrundfolie fungieren, vor der sich das besondere Geschehen am Schilfmeer umso wirkungsvoller abhebt: Die Wolkensäule bleibt – entgegen dem in 13,22 hervorgehobenen Regelfall – nicht vor dem Volk, sondern stellt sich zu seinem Schutz20 hinter es, zwischen Ägypter und Israeliten (14,19b.20a).21 122–123 (3) Die Notiz 13,21.22 fungiert im Blick auf den größeren Kontext als einmalige generelle „Information“, deren Wiederaufnahme entsprechend der Ökonomie hebräischer Erzählungen im Folgenden nicht zu erwarten ist, es sei denn, dies wäre in spezifischer Weise gefordert.22 Weitere Beispiele für solche einmaligen Ausführungen bei der Ersteinrichtung einer Institution oder eines regelhaften Procedere bilden Ex 33,7–11 (Einrichtung des prophetischen Ohel Moed und das | Verfahren bei einer Gottesbefragung23) oder Num 10,35–36 mit dem Ladezeremoniell. In der kompositorisch-konzeptionellen Logik des größeren Kontextes dürfte allerdings die ständige Gottesgegenwart, wie sie durch die Wolkensäule in Ex 13–14 repräsentiert wird, in der Tat terminiert sein, nämlich durch den Bruch der Gottesbeziehung von Ex 32. Jedenfalls erscheint (determiniert!) ab Ex 33,9 – „lediglich“ – als das je und je sich herablassende Zeichen der Gottesgegenwart, und die Formulierung der Beständigkeit ( […] + Präpositionalausdruck) von Ex 13,22 wird in 33,11 nicht mehr von der Wolkensäule ausgesagt, sondern von der exklusiven Präsenz Josuas im Orakelzelt neben Mose.24 Liest man unter diesen Voraussetzungen die nicht-P-Überlieferung in ihrem primären Zusammenhang25 synchron, so fällt sogleich ins Auge, dass die 20 Konzeptionell lassen sich Schutz- und Führungsfunktion nicht gegeneinander ausspielen. Begleitende Gegenwart Gottes bedeutet immer auch Schutz. 21 Von daher ist mir fraglich, ob die als „B5“ bei W. Groß notierte Spannung (GROß, Wolkensäule [Anm. 3], 146) die narrative Zuordnung von 13,21.22 und 14,*19–24 trifft. 22 Zur Beobachtung „B4“ in GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 146. 23 Zwar kehrt dieses Ohel Moed bei diversen Haupt- und Staatsaktionen wieder (Num 11; 12; Dtn 31), doch werden die in Ex 33,7–11 (im Iterativ!) beschriebenen Umstände nicht immer wieder erzählt. 24 Bezeichnenderweise geht es im Gesamtkontext von Ex 33 primär um das Ringen um die führende Gegenwart Gottes auf dem Weg des Volkes ins Land. Vgl. zum Ganzen schon BLUM, Studien (Anm. 2), 140f.; den Hinweis auf Num 14,14 (ebd.) würde ich heute noch stärker relativieren: Das Fürbittgebet Moses in Num 14 scheint mir späte und späteste Bearbeitungen erfahren zu haben. 25 Zur Abgrenzung sei auf den im Anhang gegebenen Text verwiesen. Am fraglichsten ist die Einzelabgrenzung im Bereich von Ex 14,7–10, doch braucht dies hier nicht diskutiert zu werden. Syntaktische Gliederung und Notation folgen W. RICHTER, Biblia Hebraica transcripta. 2. Exodus (ATS 33.2), St. Ottilien 1991. Zur Unterscheidung von der üblichen Versgliederung nach den Akzenten werden die Kennzeichnungen der Sätze in den Versen hier kursiv gedruckt (a, b etc.).
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Nacht des Meerwunders, welche der Exodusnacht (13,29–37) folgt, entsprechend der Abfolge des Geschehens zeitlich markiert und strukturiert wird: Beide feindlichen Lager kommen „die ganze Nacht über“ einander nicht näher (14,20), statt dessen führt JHWH „die ganze Nacht über“ (14,21) einen starken Ostwind herbei, der das Meer trockenlegt; „in der Morgenwache“ (14,24) bringt JHWH über die Ägypter Panik, und „beim Anbruch des Morgens“ (14,27) finden diese im zurückkehrenden Meer ihr Ende. Doch wo setzt die Nacht ein? In 14,20(c/d) ist sie da, also „muss hier [sc. in V. 20, E.B.] der Übergang von Nacht zu Tag gemacht werden“.26 Wellhausen schlägt eine entsprechende Konjektur des Textes, den er für entstellt hält, vor. | 123–124 Tatsächlich gibt 14,20 eine Reihe von Problemen auf, die auch textgeschichtlich auf der Basis anderer Textzeugen nicht zu lösen sind.27 Hauptschwierigkeiten bilden die sprachlich und sachlich unklare Einführung von „der Wolke“ und „der Finsternis“ in V. 20b und das nicht spezifizierte Nebeneinander von Finsternis und Erhellung der Nacht in V. 20b und c, wobei in 20c auch das Subjekt nicht völlig eindeutig erscheint. Die traditionelle jüdische Auslegung28 – von den Targumen bis zu den mittelalterlichen Kommentatoren – erkennt hier ein Szenario, in dem die Wolke die Ägypter in der Dunkelheit befangen hält, während für Israel die Nacht durch die Feuersäule erleuchtet wird. Unter den Neueren hält auch C. Houtman diese Lesung für möglich und übersetzt: „Then (on the one side) it took the shape of a dark cloud-bank, but (on the other side) it lit up the night, so that during the entire night the one host could not come near the other.“ Tatsächlich will die überlieferte masoretische Textgestalt – zumal, wenn man dabei Jos 24,7 vor Augen hat – wohl am ehesten in diesem Sinne rezipiert werden. Die primär intendierte Lesung wird dies gleichwohl nicht sein, denn sie gelingt nur, wenn das Entscheidende – die Verteilung von Licht und Dunkel auf die beiden Lager – ergänzt wird;29 dabei zeigen Targum Onkelos oder Peschitta, mit welch geringem sprachlichen Aufwand alles klar hätte gesagt werden können. Von daher drängt sich die Vermutung auf, dass der Vers im Bereich von Satz b einen oder mehr verändernde Eingriffe erfahren hat, und man könnte sich Wellhausen anschließen, der als ursprüngliche Lesung vorschlägt: ( ) , also „Es wurde dunkel. Da erhellte sie (sc. die [Wolken-]Säule) die Nacht“. Eerdmans30 liefert zusätzlich eine Erklärung, wie es zur vorliegenden Lesung gekommen sein könnte – unter der Voraussetzung, dass das Subjekt des zweiten Satzes (wie nun auch in V. 20c) nicht expliziert war: Ein Leser habe als Hilfe an den Rand geschrieben. Als die Glosse an verkehrter Stelle in den Text geriet, sei die Formulierung im Sinne von V. 20b geändert worden. So könnte es gewesen sein.
26 J. W ELLHAUSEN, Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments, Berlin 18993 (Nachdruck Berlin 1963), 77. 27 So mit GROß, Wolkensäule (Anm. 3), 146f., und anderen. 28 Vgl. die Hinweise zur Stelle bei HOUTMAN, Exodus (Anm. 1). 29 Vgl. z.B. schon B. BAENTSCH, Exodus-Leviticus-Numeri (HKAT I,2), Göttingen 1903, 125. 30 B.D. EERDMANS, Alttestamentliche Studien. III. Das Buch Exodus, Gießen 1910, 43, Anm. 1.
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Denkbar wäre aber auch, dass in 20b der Ausdruck am Anfang stand, zu lesen freilich als Verbform: „Perf. cons.“ zu hif. in der Bedeutung „dunkel werden“. Das Perfectum consecutivum lässt sich in einem solchen Kontext als Ausdruck der Gleichzeitigkeit zum Hauptgeschehen interpretieren, oder herkömmlicher formuliert: Es bildete einen Umstandssatz.31 Als Ausgangstext ergibt sich dann: | 124–126 (19c/d) Da brach die Wolkensäule von der Stelle vor ihnen auf und stellte sich hinter sie. (20a) Sie trat (also) zwischen das Lager der Ägypter und das Lager Israels; (b*) dabei wurde es dunkel ( ). (c) Da erhellte sie die Nacht. Die weitere Textgeschichte resultierte aus einer Alternativlesung eben dieses Wortlauts, wobei das Verbum (sprachlich möglich) nicht intransitiv, sondern transitiv aufgefasst wurde (vgl. sachlich wieder Jos 24,7). Zugleich oder in einem späteren Schritt wurde der verursachende Gegenstand zur Verdeutlichung noch einmal aufgeführt: (20a) Sie trat zwischen das Lager der Ägypter und das Lager Israels. (b) Da war (also) die Wolke und bewirkte Dunkelheit ( ). (c) Und sie erhellte (zugleich) die Nacht. Wie die alten Übersetzungen und die masoretische Punktation zeigen, konnte der Konsonantentext des letzten Ausdrucks in 20b dann leicht nominal aufgefasst werden, ohne dass sich der Grundgedanke dieser Auslegung im Rahmen der Textgeschichte änderte. Entsprechend diesem Gedanken hätte die Wolkensäule als Zwitter fungiert: für die Ägypter als Finsternis verbreitende Wolke, für die Israeliten als Leuchte in der Nacht.
Wie auch immer die textgeschichtlichen Prozesse abgelaufen sein mögen, alles spricht in der Tat dafür, dass sich hinter 14,20b eine ältere Aussage über den Einbruch der Dunkelheit verbirgt. Werden Wolken- und Feuersäule – entsprechend der oben explizierten Deutung – als zwei von der Tageszeit abhängige Erscheinungsformen der selben Größe verstanden, dann ist auch die Aussage von 14,20c in ihrem primären Kontext transparent: Mit Einbruch der Nacht leuchtet die Feuersäule, und zwar für Israeliten und Ägypter, die sich gleichwohl wegen des sie trennenden Feuers (20a+c) einander nicht nähern (20d).32 Die Peripetie des nächtlichen Dramas wird durch den auch formal stärksten Zeitmarker der Erzählung in V. 24a eingeleitet: . Diese „Morgenwache“ darf in der Logik der Erzählung nicht in Stunden umgerechnet werden;33 dagegen spricht schon die vorausgehende Angabe, wonach der Ostwind „die ganze Nacht über“ das | Meer zurückschob und zu 31 Zu dieser Verwendung des „Perf. cons.“, das hier wie auch in anderer Hinsicht mit dem „Langimperfekt“ bedeutungsäquivalent ist, vgl. bes. M. WEIPPERT, Die Petition eines Erntearbeiters aus Mesad Hšavyh und die Syntax althebräischer erzählender Prosa, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), hg. von E. Blum u.a., Neukirchen-Vluyn 1990, 449–466. 32 Dazu BAENTSCH, Exodus (Anm. 29), 125 (der sich im Übrigen Wellhausens Konjektur anschließt): „Die die Nacht erhellende Feuerlohe wird die Aegypter wahrlich nicht ermutigt haben, die Israeliten anzugreifen“. 33 Zu KRÜGER, Erwägungen (Anm. 15), 525, Anm. 32.
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trockenem Land machte (21b/c); dieses Geschehen ist für V. 24a aber bereits abgeschlossen. Mit anderen Worten, die Angabe „in der Morgenwache“ steht hier für das bevorstehende Ende der Nacht. So vollzieht sich denn auch die sogleich in 25d/e mit der Selbstaufforderung der Ägypter einsetzende Flucht „beim Anbruch des Morgens“ (27b/c). Wie ordnet sich nun in diesen Zusammenhang die Formulierung von V. 24b ein, deren Auffälligkeiten von W. Groß so klar herausgearbeitet wurden? Liest man sie streng bezogen auf den markierten zeitlichen Kontext, dann erscheint eine den sprachlichen Gegebenheiten entsprechende Lesung durchaus möglich: (24a/b) In der Morgenwache blickte JHWH zum Lager der Ägypter aus einer Säule von Feuer und Wolke.
Der Sache nach kann dann mit dieser Beschreibung nur gemeint sein, dass die Feuersäule am Übergang von der Nacht zum Morgen dabei ist, wieder in eine Wolkensäule zu mutieren. Eben dieses Verständnis erwägt denn auch schon C. Houtman in seiner Kommentierung: „possibly there is a connection between the formulation and the moment in time: at daybreak the pillar has two components, fire and clouds, but when it gets light the fire component disappears.“ 34
In dieser Perspektive wird jedenfalls verständlich, dass von „Feuer und Wolke“ – in dieser Reihenfolge! – die Rede ist und dass undeterminiert bleibt: Die von einer Erscheinungsform zur anderen mutierende Wolkensäule stellt per se eine flüchtige Übergangsgröße dar, die vorher noch nicht eingeführt war (und in dieser Mutationsrichtung auch gar nicht eingeführt werden konnte). Bilden bei dieser | Deutung also weder die sprachlichen noch die sachlichen Besonderheiten (Feuer und Wolke) eine Schwierigkeit, dann stellt sich freilich immer noch die Frage, weshalb hier diese Beschreibung eines doch recht spezifischen „Sachverhaltes“ eingeführt wird.126–127
34 HOUTMAN, Exodus (Anm. 1), 272; allerdings präferiert er für die Übersetzung eine determinierte Wiedergabe. Vgl. auch KRÜGER, Erwägungen (Anm. 15), 525, der auf der Ebene der von ihm angenommenen Redaktion aber eine „außergewöhnliche Gleichzeitigkeit beider Erscheinungen vor dem Übergang von der Nacht zum Tag“ für wahrscheinlicher hält; zu seinen Gründen vgl. aber bei Anm. 33; darüber hinaus ist auf der Ebene seiner Redaktion nicht nachvollziehbar, weshalb diese exzeptionelle Zwittergestalt der Wolkensäule hier eingefügt sein soll. Dass sie erschreckender gewesen sein sollte als eine lodernde Feuersäule ist kaum nachzuvollziehen, und die angeblichen Sichtbehinderungen (vgl. auch oben Anm. 6) bilden weder in der vor-P-Erzählung noch in der Endgestalt ein Problem: die Ägypter handeln in Panik, und von den Israeliten kann allein schon aus dramaturgischen Gründen nur am Ende gesagt werden, dass sie der toten Feinde und ihrer Rettung im Licht des Morgens gewahr werden.
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[127–128]
Der narrative Sinn dieser Darstellung dürfte – neben dem strukturierenden Effekt der Wiederaufnahme der Wolkensäule – vor allem in Zweierlei bestehen: Zum einen markiert die mutierende Feuer/Wolkensäule noch einmal die Übergangszeit zwischen Nacht und Morgen, in der die Entscheidung herbeigeführt wird, und dies deutlich präziser als die Angabe in 24a. Zum anderen können auf diese Weise JHWH und die Ägypter sogleich in räumlicher Unmittelbarkeit miteinander konfrontiert werden. Es ist eine Konfrontation, in der Israel buchstäblich zurückstehen kann und die mit dem „Schauen“ JHWHs, der in der Feuer/Wolkensäule gegenwärtig ist, eingeleitet wird. Die Ägypter, deren Vorrücken mit dem Ende der Nacht zu erwarten ist35, können von da an nicht mehr aus eigener Initiative agieren, sie sind dem Handeln JHWHs bis zu ihrem Untergang ausgeliefert. Dieses Handeln besteht primär darin, dass er einen Schrecken über das ägyptische Kriegslager kommen lässt ( ). Dabei wird der panische Schrecken nicht durch eine beängstigende Wirkung der Feuer/Wolkensäule hervorgerufen36 – dafür fehlt jedes sprachliche Indiz –, sondern durch die in V. 25a/b berichteten Vorgänge: „JHWH lenkte die Räder seiner [sc. des ägyptischen Lagers] Streitwagen ab und ließ sie (nur) mühsam fahren“; gemeint ist: Die Räder der Wagen liefen in „falsche“ Richtungen,37 weshalb die Wagen nicht mehr zu | manövrieren und nur mühsam zu bewegen waren. In ihrer ohnmächtigen Hilflosigkeit erkennen die Ägypter daran das göttliche Ein1 2 7 –1 2 8
35
Dies suggeriert – die Verfolgungssituation vorausgesetzt – jedenfalls 14,20d: „Keiner näherte sich dem anderen die ganze Nacht hindurch“. 36 So neben anderen auch HOUTMAN, Exodus (Anm. 1), 271: „So he terrified Egypt’s host“. Sehr anschaulich schon der mittelalterliche Kommentator J. Bechor Schor z.St.: „Während die Feuersäule sich entfernte, kam die Wolkensäule, und sie vermengten sich. Die Ägypter waren nicht gewohnt, (sie) so zu sehen; und als sie sahen, erschraken sie und gerieten in Verwirrung …“ (Zum Grund dieser Verwirrung vgl. aber schon den Einwand oben in Anm. 34.) 37 # hif. bedeutet gewöhnlich „beseitigen o.ä.“ Da dies nur schlecht in den Zusammenhang passt, ziehen es viele vor, im Anschluss an den Samaritanus und die Septuaginta hier # zu lesen mit der Bedeutung „er band = er hemmte“. Der Befund in den alten Textzeugen ist bei HOUTMAN, Exodus (Anm. 1), 272, umfassend aufgeführt. Er selbst übersetzt (a.a.O., 271): „He caused the wheels of their chariots to run crooked, making it hard for them to keep moving …“ und erklärt (a.a.O., 272): „likely what is meant is that some chariots lost their wheels, while others, though not totally disabled, were very much damaged“. M.E. liegt es näher, das Hif‘il hier als Kausativ zur Grundbedeutung „von der Richtung abbiegen“ (HALAT s.v.) aufzufassen; dann ergibt sich für V. 25a/b der oben skizzierte schlüssige Geschehenszusammenhang. Allerdings darf man das Verb nicht von seinem konkreten Bezugsobjekt () ablösen und den Zusammenhang dann so deuten, dass „Jahwe die Ägypter beim Durchzug von der Strecke abkommen“ ließ. Auch meint der nächste Satz nicht, dass er „sie in Schwierigkeiten (…) lenkt“; denn bedeutet „Schwere“, nicht „Schwierigkeit(en)“, und ist adverbiell. (Zitate aus GERTZ, Tradition [u. Anm. 39], 221, der dabei KRÜGER, Erwägungen [Anm. 15], 526, Anm. 33, aufnimmt.)
[128–129]
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greifen und entschließen sich zur Flucht, aber eben kopflos-panisch dahin, wo JHWH sie haben will – auf den freigelegten Meeresboden, um dort unterzugehen. Die Abfolge von allgemeiner (24c) und spezifischer (25) Darstellung entspricht gut belegtem Erzählstil.38 Scheidet man dagegen die Sätze 25a/b aus, um sie der (End)Redaktion zuzuweisen, wie es zuletzt T. Krüger und J.C. Gertz vorgeschlagen haben39, bleibt die Erzählfolge in der verbleibenden nicht-P-Erzählung defizient,40 es sei denn man destilliert wie Krüger aus 24b eine schreckenerregende „Feuersäule“ heraus, die hier freilich als Deus ex machina erscheinen würde, da in seiner Rekonstruktion davor nur von einer Wolkensäule die Rede war.41 Das Verständnis, wonach die „technischen“ Probleme von 25a/b die Streitwagen der Ägypter in voller Fahrt träfen, ergibt sich nur bei einer Lesung zusammen mit den P-Elementen. In nicht-P handelt es sich um ein Geschehen im Ägypterlager, das sich der Handlungslogik nach42 gegen Ende der Nacht zum Aufbruch anschickt. In der gottgewirkten Konfusion wendet es sich zur Flucht Richtung Meer, das aufgrund des nächtlichen Windes vom Festland nicht mehr zu unterscheiden ist. |
Kurzum, nach der hier vorgeschlagenen Lesung fügen sich die Angaben zur Wolken- und Feuersäule gerade in ihren sachlichen und sprachlichen Differenzierungen nahtlos in den Plot und in die Erzählstruktur der nichtpriesterlichen Episode vom Schilfmeerwunder.128–129
II Anknüpfend an W. Groß, in der Sache aber weit darüber hinausgehend haben zuletzt T. Krüger und J.C. Gertz eine umfangreiche Redaktionsschicht in der Meerwundererzählung postuliert, die nicht nur die P- und nichtP-Überlieferung miteinander verknüpfe, sondern darüber hinaus eigene, von beiden Vorlagen abweichende Konzepte eintrage. Für den größeren 38 Für z.T. subtilere Beispiele vgl. J.L. SKA, Sommaires proleptiques en Gn 27 et dans l’histoire de Joseph, Bib. 73 (1992) 518–527; DERS., Quelques exemples de sommaires proleptiques dans les récits bibliques, in: J.A. EMERTON (Hg.), Congress Volume Paris 1992 (VT.S 41), Leiden 1995, 315–326; E. BLUM, Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottähnlichkeit. Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung, in: G. EBERHARDT / K. LIESS (Hg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart 2004, 9–29, hier 18, Anm. 36. 39 KRÜGER, Erwägungen (Anm. 15), 525f.; J.C. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch (FRLANT 186), Göttingen 2000, 221. 40 Im Unterschied zu den sonstigen Belegen mit , in denen der Gottesschrecken zumeist nur konstatiert wird, ist er hier szenisch entfaltet, wie auch 25c–e zeigen, und darin besonders 25e, dem eine Konkretion vorausgehen muss. 41 Zu weiteren Anfragen vgl. oben Anm. 34. Zudem bliebe die Einführung dieser Feuersäule als Ort, von dem JHWH zum Lager der Ägypter „blickt“, narrativ isoliert. 42 S. oben bei Anm. 35.
148
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[129–130]
Zusammenhang dieser Redaktion denkt Krüger an ein von Gen bis 2 Kön reichendes „Geschichtswerk“, Gertz an seine „Endredaktion“ des Pentateuch. Dabei schließt sich Gertz den Krügerschen Abgrenzungen43 in diesem Textbereich weitgehend44 an, bemüht sich aber innerhalb des „redaktionellen“ Materials um weitere diachrone Differenzierungen.45 Die literarkritisch begründete Ausgrenzung der „redaktionellen“ Textelemente in Ex 13–14 ruht auf zwei tragenden „Säulen“: auf den Anstößen, welche das Erzählelement der Wolken- und Feuersäule zu bieten scheint, und auf Beobachtungen zu den Ortsangaben und Itineraren. Nachdem erstere bereits ausführlich diskutiert wurden, ist nun auch ein Blick auf die – sachlich weniger diffizilen – Itinerare zu werfen.129–130 Wie die intensiven Diskussionen über die Lokalisierung des Meerwunders hinlänglich verdeutlicht haben, finden sich in der Überlieferung in Ex 13–14 hierzu wenigstens zwei verschiedene Versionen.46 Die Ortsangaben der P-Tradition in 14,2 sind unstrittig | mit dem Gebiet des Sirbonischen Sees an der Mittelmeerküste zu verbinden, die sachlich zusammenhängenden Itinerare in Ex 12,37 („die Israeliten brachen von Ramses auf nach Sukkot“) und 13,20 („sie brachen von Sukkot auf und lagerten in Etham am Rand der Wüste“) deuten dagegen auf einen Weg, der durch das Wadi et-Tumelat zur Sinaihalbinsel hin in den Bereich der dortigen Binnenseen zu führen scheint. Mit Krüger kann man den überlieferten Text kaum anders lesen, als dass die Israeliten zwar zunächst von Ramses nach Südosten zur Sinaiwüste ziehen, dann aber mit dem Befehl in 14,2 „umzukehren“ ( ) zum Gebiet zwischen Migdol und dem Meer gegenüber Baal Zaphon (am Westende des Sirbonischen Sees, nicht weit von Pelusium) geleitet werden, dem Schauplatz des Meerwunders. Krüger meint nun, dieser komplizierte Weg der Israeliten, der sich redaktioneller Kombination verdanke, sei von der verknüpfenden Redaktion in 13,17f. „vorweg begründet“ worden.47 Diese
43 Als (end- oder nachend-)redaktionell gelten dabei ([] nur bei KRÜGER, Erwägungen [Anm. 15]): Ex 13,17–19.21a*([ohne ] und ab ).22; 14,2b.5b.7.8[a* „König von Ägypten“]b.9*(außer … " ). 11–12.16a*.19a. 20a[ohne ]. 24*[ohne ]. 25a.31. 44 In der Frage der Wolken- und Feuersäule (bes. in 14,24) folgt Gertz allerdings der Hypothese von Groß; vgl. GERTZ, Tradition (Anm. 39), 213. 45 Als „Erweiterungen des endredaktionellen Textes“ gelten ihm Ex 14,7.19a. Des Weiteren rechnet er hier und da mit „Zusätzen in P“. 46 An dieser Stelle mag der Verweis auf die umsichtige Darstellung bei H. DONNER, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen (ATD.E 4/1), Göttingen 1984, 93ff., genügen. 47 KRÜGER, Erwägungen (Anm. 15), 524; zustimmend GERTZ, Tradition (Anm. 39), 209.
[130–131]
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These, die leider nicht näher ausgeführt wird, ist freilich nur schwer nachzuvollziehen: Ex 13,17.18a bieten eine gleichsam direkt an die Leser gerichtete Information, Gott habe die Israeliten nach ihrem Auszug nicht auf dem direkten Weg ins Philisterland geführt, also nicht über die (durch ägyptische Stationen gut kontrollierte) Küstenstraße, die vom östlichen Delta über Pelusium nach Gaza führte. Vielmehr habe er das Volk „abschwenken lassen auf den Wüstenweg zum Schilfmeer“ (13,18a). Darüber hinaus wird in 17d–e die Vermeidung des direkten Weges mit der Überlegung Gottes begründet, das Volk könnte den Auszug bereuen, wenn es mit Krieg konfrontiert würde,48 und sogleich wieder nach Ägypten zurückkehren. Nun lässt sich der in 13,18a erläuterte „Schwenk“ tatsächlich gut mit dem Weg von 13,20 über Sukkot nach „Etham am Rand der Wüste“ verbinden. Die Begründung von 13,17 schließt dann aber einen erneuten Schwenk ans Mittelmeer (à la „P“) schlichtweg aus, führt dieser doch geradewegs zur | Küstenstraße, also zu dem nach V. 17 zu vermeidenden direkten Weg nach Kanaan.130–131 Kurzum, die Erläuterung von Ex 13,17f. nennt zwar – abgesehen von dem nicht näher bestimmten „Schilfmeer“ – keine Ortsangaben, ist dafür aber ohne weiteres mit dem Itinerar von 13,20 vereinbar.49 Dagegen steht sie in offenem Widerspruch zum vorliegenden Zusammenhang des „Endtextes“. Eine ausgleichende (End-)Redaktion kann hier demnach gar nicht vorliegen.50 48 Gewöhnlich denkt man dabei an Angriffe der kriegstüchtigen Philister. Oder ist an die zahlreichen „fortified stopping-places which lay along the route between the Egyptian frontier and Gaza …“ (D.B. REDFORD, An Egyptological Perspective on the Exodus Narrative, in: A.F. RAINEY [Hg.], Egypt, Israel, Sinai. Archaeological and Historical Relationships in the Biblical Period, Tel Aviv 1987, 137–161, hier 143), gedacht? Dafür wären freilich entsprechende Sachkenntnisse nicht nur bei den Tradenten, sondern auch bei den Adressaten zu unterstellen. 49 Bezeichnenderweise kann DONNER, Geschichte Israels (Anm. 46), 93f., seine Interpretation von 13,17f. als einer von drei Darstellungen der Lokalisation des Meerwunders nicht aus den sachlichen Angaben herleiten, sondern nur aus der vorgängigen traditionellen Quellenhypothese, in der 13,17f. zu „E“ gerechnet wurden: „Verbirgt sich dahinter eine alte Tradition oder wollte E eine ihm bekannte Überlieferung, nach der das Volk tatsächlich die Küstenstraße benutzt hatte, ausschließen, um das Meerwunder wie J lokalisieren zu können? Denn eben das ist anscheinend der Fall …“ (a.a.O., 94). 50 Diese Konsequenz hat wiederum Rückwirkungen für eine Argumentationslinie, von der her Gertz seine Zuordnung von 13,17–19 zur „Endredaktion“ begründet (GERTZ, Tradition [Anm. 39], 207f.). Dabei spielt zunächst der direkte Anschluss von 13,20 an 12,37a eine Rolle, wobei dieser von den Versen 17f. gerade auf Grund ihres Charakters als sozusagen „dazwischen geschaltete“ Information keineswegs gestört wird. Auch „das Fehlen der expliziten Nennung des Subjekts in 13,20“ bildet bei einem Anschluss an 13,18 kein Problem. Dann ist für Gertz aber entscheidend, dass der Anfang von 13,17 sich auf die Entlassung des Volks durch den Pharao in 12,31f. zurückbezieht, aus deren angeblich „endredaktioneller“ Herkunft dann auch die Zuordnung von 13,17f. zur „End-
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Vielmehr bilden 13,17f. ein Element der vorpriesterlichen Erzählung, das – hält man sich an den überlieferten Textbestand – für diese allein schon deshalb unabdingbar ist, weil im vor-P-Kontext einzig in 13,18a das (Schilf-)Meer, der Schauplatz des Hauptgeschehens, als (vorläufiger) Zielpunkt eingeführt wird.51 131–132 Schließlich wird eine redaktionell ausgleichende Funktion auch noch für 14,5c–fI vertreten: „V. 5b stellt einen Ausgleich her zwischen der ‚jahwistischen‘ Version des Exodus als Flucht der ‚beurlaubten‘ Israeliten und der priesterschriftlichen Darstellung einer offiziellen ‚Entlassung‘ aus dem Dienstverhältnis“.52 Hier stehen freilich schon die Voraussetzungen zur Diskussion: Eine „offizielle ‚Entlassung‘ aus dem Dienstverhältnis“ vermag ich im priesterlichen Vorkontext nirgendwo zu erkennen. Dagegen bildet die Forderung an Pharao, das Volk zu „entlassen“ ( pi.), einen Cantus firmus in der vorpriesterlichen Erzählung, von | Ex 5 über die vor-P-Plagenepisoden (7,14.16 etc.) bis 12,33; 13,17. Die für 14,5 spezifische Formulierung: ^ zielt nicht auf genau definierte Rechtsverhältnisse, sondern hat ihre Pointe in dem (theologischen) Gegensatz zur rekurrenten Forderung innerhalb des vor-P-Plagenzyklus (7,16.26; 8,16; 9,1.13; 10,4.7 etc.): . Die Rede von der „Flucht“ () in 14,5 wiederum ist im Kontext bekanntlich singulär, vertritt hier aber nicht eine eigene literarische oder gar historische Version des Exodus, sondern ist, wie M. Vervenne53 gezeigt hat, aus dem narrativen Zusammenhang heraus zu verstehen.54 Noch weniger vermögen hier m.E. die herkömmlichen Sprachgebrauchsargumente zu tragen.55
redaktion“ abgeleitet wird (a.a.O., 208). Wenn – wie oben gezeigt – das Profil von 13,17f. aber einen nachpriesterlich redaktionellen Charakter geradezu ausschließt, dann müsste dies im Umkehrschluss nun auch für 12,31f. gelten – mit eminenten Konsequenzen für die Analyse der Plagenerzählung bzw. für Gertzens Endredaktionshypothese in diesem Bereich. 51 Die Alternative, dass die Angabe „Etham am Rand der Wüste“ für die Adressaten das Meer selbstverständlich implizierte, hat wenig für sich. 52 KRÜGER, Erwägungen (Anm. 15), 526. 53 M. VERVENNE, Exodus Expulsion and Exodus Flight. The Interpretation of a Crux Critically Re-assessed, JNWSL 22 (1996) 45–58; vgl. auch HOUTMAN, Exodus (Anm. 1), 261f. 54 Entscheidend erscheint mir, dass als Sicht der Ägypter formuliert ist (mit der von Vervenne zu Recht herausgestellten Verfolgungsperspektive). Abgesehen davon lässt sich kaum auf eine enge Semantik von „Flucht“ einschränken; dies zeigen Belege wie Jes 48,20 (mit Kontext!) oder Am 7,12; vgl. analog dt. „abhauen, sich davon machen“. 55 Worin sollte die „semantische [! E.B.] Unausgeglichenheit des Wechsels vom „König Ägyptens“ in V. 5a zum „Pharao und seinen Höflingen“ in V. 5b“ (GERTZ, Tradition [Anm. 3], 214) bestehen? Weshalb sollte in V. 8 „mlk msrym neben dem priesterschriftlich vorgegebenen pr‘h die terminologische Differenz zwischen „J“ (14,5*: mlk msrym) und P (pr‘h) aus[gleichen]“ (KRÜGER, Erwägungen [Anm. 15], 527), wenn im Vorkontext „Pharao“ auch in der nicht-P-Erzählung dominiert und im „rein“ priesterlichen Zusammenhang Ex 6,2–30 viermal die Verbindung „Pharao, König der Ägypter“ belegt ist? Noch grundsätzlicher: Worauf gründet sich die Voraussetzung einer selbstverständlichen diachronen Signifikanz des Gebrauchs synonymer Ausdrücke (vgl. z.B. auch Ex 3,11 neben 3,18, 5,4 neben 5,1–3.5)?
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Zusammengefasst ergab die Diskussion neuerer Untersuchungen zu Ex 13– 14 den „negativen“ Befund, dass sich die Annahme einer P und nicht-P verbindenden und ausgleichenden Redaktion „dritter Hand“ nicht schlüssig ausweisen lässt, weder in punktuellen Ergänzungen zum Motiv der Wolkensäule noch im größeren Maßstab einer umfassenden „Endredaktion“. „Positiv“ ergaben sich – angestoßen durch die diachronen Hypothesen – Indizien für eine auch im Detail komplexe narrative Kohärenz der vorpriesterlichen Meerwundererzählung, einschließlich solcher Erzähltechniken wie Nachholungen, Erzählerkommentare, differenzierte szenische „Inszenierungen“ der Handlung etc.132–133 Dieser Gesamtbefund impliziert freilich nicht, dass innerhalb des nichtP-Materials redaktionelle, darunter auch nach-priesterliche Eintragungen auszuschließen wären. Im Gegenteil, vielfach in Übereinstimmung mit T. Krüger und J.C. Gertz rechne ich auf Grund literarkritischer Indizien und/oder weiter greifender redaktions|geschichtlicher Zusammenhänge mit einer Reihe punktueller Einschreibungen, überwiegend in die bereits priesterlich edierte Überlieferung. Dazu gehören beispielsweise die Notiz von der Mitnahme der Gebeine Josephs in 13,19, die im Horizont einer Hexateuch-Bearbeitung56 zu lesen ist, oder die Einführung der Gestalt des Führungsengels in 14,19a/b parallel zur Wolkensäule (als Korrektur/Interpretation/Ergänzung?)57 oder die Fortschreibung der abschließenden Notiz von 14,31a durch 14,31b. Unter der Voraussetzung, dass sich die hier begründete Bestreitung einer „P“ und „nicht-P“ literarisch verknüpfenden Redaktion bewährt, bleibt zum Abschluss die Frage, ob damit – für den hier betrachteten Textbereich – das diachrone Profil der priesterlichen Schicht bereits definitiv geklärt ist. 56 Dazu BLUM, Studien (Anm. 2), 363–365; differenzierter: DERS., Der kompositionelle Knoten am Übergang von Josua zu Richter. Ein Entflechtungsvorschlag, in: Deuteronomy and Deuteronomic Literature (FS C.H.W. Brekelmans [BEThL 133]), hg. von M. Vervenne und J. Lust, Leuven 1997, 181–212, hier 194–206. 57 Vgl. BLUM, Studien (Anm. 2), 365–377; DERS., Der kompositionelle Knoten (Anm. 56), 189–194; GERTZ, Tradition (Anm. 39), 219f. Die unverkennbare Aufnahme der Formulierungen von 14,19c/d und 13,21a in 14,19a/b macht die Annahme einer quellenhaft eigenständigen Erzählüberlieferung im Sinne der Elohisten-Hypothese von vornherein unwahrscheinlich. In dieser Frage hat auch der breit angelegte Versuch einer Verteidigung der herkömmlichen Quellenhypothese in Sachen „E“ bei A. Graupner keine neuen Gesichtspunkte erbracht. So kann etwa die These, dass in den literarkritisch isolierten Elementen 14,5a.7ab.19a.25a „umrißhaft eine dritte Fassung der Meerwundererzählung greifbar“ werde, über eine komplettierende Paraphrase hinaus nicht am Text nachgewiesen werden; vgl. A. GRAUPNER, Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte (WMANT 97), Neukirchen-Vluyn 2002, 86. Im Übrigen spielen die hier im Anschluss an W. Groß diskutierten Textprobleme bei Graupner keine wesentliche Rolle.
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Dies ist nicht der Fall. So bleibt durchaus vorstellbar, dass ein Redaktor, der eine priesterliche und nicht-priesterliche „Quelle“ redaktionell vereinen wollte, in der Weise vorging, wie es H. Donner58 gerade für Ex 13–14 (in Analogie zu Tatians Evangelienharmonie) postuliert hat: ohne eigene Zutaten, allein über die möglichst verträgliche Verflechtung möglichst aller Komponenten seiner Vorlagen. Mindestens ebenso bündig lässt sich der Befund freilich auch mit einem Zweiphasenmodell für die priesterliche Komposition verbinden. Dieses rechnet damit, dass das priesterliche Material in einem ersten („auktoriellen“) Schritt weitgehend separat literarisch konzipiert (ohne abschließende | Ausarbeitung) wurde, jedoch nicht für eine eigenständige Publikation bestimmt war59, sondern in einem zweiten („redaktionellen“) Schritt mit vorgegebenen nicht-priesterlichen Überlieferungen zusammengearbeitet wurde (in unserem Textbereich rechne ich dafür mit einem frühnachexilischen Werk, dessen Plot von der Geburt Moses bis zu seinem Tod gereicht haben dürfte). Mit diesem komplexeren Modell lässt sich in Ex 13–14 gut vereinbaren, dass die wenigen, überaus sparsamen ausgleichenden Textelemente sämtlich innerhalb der P-Überlieferung bleiben.60 133–134 In meinen Studien zur Komposition des Pentateuch hatte ich noch die Notwendigkeit gesehen, dieses Bild deutlich zu komplizieren.61 Den Anstoß dazu bildete die Schwierigkeit, für JHWHs tadelnde Frage an Mose in 14,15a einen schlüssigen Anknüpfungspunkt zu finden, und zwar sowohl im Endtext wie in einer isolierten priesterlichen Erzähllinie. Von daher hatte ich für die Meerwunderepisode zusätzlich die Rezeption einer bereits ausformulierten Überlieferung der priesterlichen Tradentenkreise postuliert. Die mit 14,15a gegebene „Leerstelle“ ist tatsächlich nicht wegzudiskutieren, doch scheint sie mir inzwischen auch mit dem damaligen Vorschlag bestenfalls vage erklärbar zu sein. Stattdessen rechne ich mit einer frühen „Verlesung“ oder Textverderbnis, die naturgemäß nicht mehr schlüssig aufzuklären sein wird.62
Die Erklärungskraft der diversen Modelle kann demnach nur unter Einbeziehung des Gesamtkontextes und der Gesamtbefunde abgewogen werden. Einen Bereich, dessen Befunde aus meiner Sicht deutlich das Modell einer in zwei Phasen edierten P-Komposition nahe legen, bildet etwa der Plagen58
H. DONNER, Der Redaktor. Überlegungen zum vorkritischen Umgang mit der Heiligen Schrift, Henoch 2 (1980) 1–30. 59 Und deshalb technisch auch nicht notwendigerweise über „Einzelblätter“ hinaus zusammengefasst wurde. 60 Dazu rechne ich – im Anschluss an oben referierte Überlegungen von T. Krüger (KRÜGER, Erwägungen [Anm. 15]), – das von 14,2b und, falls in 14,9b ein nicht-PElement bewahrt sein sollte, die priesterlichen Spezifikationen der ägyptischen Truppen und der Ortslage im zweiten Teil des Satzes. 61 BLUM, Studien (Anm. 2), 260f. 62 Als mögliche minimale Störung wäre beispielsweise an die singularische Lesung/ Schreibung eines ursprünglichen zu denken.
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zyklus im unmittelbaren Vorkontext von Ex 13–14. Dabei geht es nicht zuletzt um die Einschätzung von Plagenelementen, die in der Urkundenhypothese teilweise „E“, teilweise „P“ zugeschlagen wurden, die aber einen deutlich unselbständigen Charakter und ein kompositionelles Profil aufweisen. Zugleich sind sie mit der priesterlichen Schicht von Ex 14 über enge Konnexionen verbunden63, werden aber in neuerer Zeit der – auch in | Ex 13–14 vermuteten – „Endredaktion“ zugeschrieben. Eine eingehende Diskussion solcher weiterführender Fragen muss freilich anderen Zusammenhängen vorbehalten bleiben.64 | 134–135
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Vgl. BLUM, Studien (Anm. 2), 249f. Vgl. vorläufig BLUM, Studien (Anm. 2), 242–256; für eine andere Sicht: GERTZ, Tradition (Anm. 39), 74–186. 64
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Anhang: Die vorpriesterliche Erzählung in Ex 13–1465136 Ex 13 ^ \ ^ ^
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