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German Pages 379 [380] Year 1992
T E X T E ZUM UNIVERSALIENSTREIT BAND
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TEXTE ZUM UNIVERSALIENSTREIT BAND 1 Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik Lateinische, griechische und arabische Texte des 3.-12. Jahrhunderts Übersetzt und herausgegeben von Hans-Ulrich Wöhler
Akademie Verlag
Dr. Hans-Ulrich Wöhler Technische Universität Dresden Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften Mommsenstr. 13 0-8027 Dresden
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Texte zum Universalienstreit / übers, und hrsg. von Hans-Ulrich Wöhler. - Berlin: Akad.-Verl. NE: Wöhler, Hans-Ulrich [Hrsg.] Bd. 1. Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik: lateinische, griechische und arabische Texte des 3.-12. Jahrhunderts. - 1992 ISBN 3-05-001792-9
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1992 Erschienen in der Akademie Verlag GmbH, 0-1086 Berlin (Bundesrepublik Deutschland), Leipziger Str. 3-4 Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, W-2844 Lemförde; Druck: GAM MEDIA, W-1000 Berlin 61; Bindung: D. Mikolai, W-1000 Berlin 10; Umschlaggestaltung: E. Steiner, 0-1144 Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
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TEXTE 1. Porphyrios: Isagoge (Einfuhrungsschrift zu Aristoteles' „Kategorien") 2. Anicius Manlius Severinus Boethius: Kommentar zur „Isagoge" des Porphyrios. Erste Ausgabe, Buch I, Kapitel 10 3. Anicius Manlius Severinus Boethius: Kommentar zur „Isagoge" des Porphyrios. Zweite Ausgabe, Buch I, Kapitel 10 und 11; Buch III, Kapitel 6 und 7 4. Anicius Manlius Severinus Boethius: Kommentar zu den „Kategorien" des Aristoteles, Buch I (Auszüge) 5. Anicius Manlius Severinus Boethius: Kommentar zu Aristoteles' „Peri hermeneias". Zweite Ausgabe, Buch II, Kapitel 7 (Auszüge) 6. Anicius Manlius Severinus Boethius: Inwiefern die Trinität ein Gott und nicht drei Götter ist, Kapitel 2 7. Anicius Manlius Severinus Boethius: Gegen Eutyches und Nestorios, Kapitel 1-7 8. Roscelin von Compiegne: Brief an Petrus Abaelard (Auszüge) 9. Anselm von Canterbury: Brief über die Fleischwerdung des Wortes. Engültige Fassung, Kapitel 1-16 10. Adelard von Bath: Von Demselben und dem Verschiedenen (Auszüge) 11. Anonymus („Pseudo-Gauslenus"): Über die Genera und Spezies 12. Petrus Abaelard: Die Logica „Ingredientibus". Glossen zu Porphyrios (Auszüge) 13. Petrus Abaelard: Die Logica „Ingredientibus". Glossen zu Aristoteles' „Kategorien" (Auszüge)
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Inhalt
14. Petrus Abaelard: Die Logica „Nostrorum petitioni sociorum". Glossen zu Porphyrios (Auszüge) 15. Gilbert de la Porree: Kommentar zu Boethius' Buch I über die Trinität, Kapitel 2 und 3 (Auszüge) 16. Gilbert de la Porree: Kommentar zu Boethius' „Gegen Eutyches und Nestorios", Kapitel 3-5 (Auszüge) 17. Johannes von Salisbury: Metalogicon, Buch II, Kapitel 17 und 20 18. Ibn Sina (Avicenna): Das Buch der Genesung der Seele. Die Metaphysik, V. Abhandlung, 1.-7. Kapitel 19. Ibn Sina (Avicenna): Das Buch des Wissens. Metaphysica, Kapitel 12 . 20. Ibn Ruschd (Averroes): Die Epitome der Metaphysik, Kapitel 2 (Auszüge) Anmerkungen zu den Texten
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ANHANG Nachwort: Zur Geschichte des Universalienstreites. Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik Siglen und Zeichen Literaturverzeichnis Sach- und Terminiverzeichnis Namenverzeichnis
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Vorwort
Das erklärte Anliegen der hier vorliegenden Ausgabe von Texten zum Universalienstreit ist es, einem nicht nur die Spezialisten umfassenden Publikum den historischgenetischen Werdegang eines der grundlegenden Probleme der Philosophiegeschichte nach seinen antiken Wurzeln und seiner klassischen Ausformung im Mittelalter zu erschließen, aufzuhellen und darzustellen. Zwar sind der Universalienstreit bzw. die Versuche zur Lösung des Universalienproblems und seine historiographische Darstellung schon seit der Antike einander ständige Begleiter gewesen. Die antike Doxographie, mittelalterliche Chroniken, Textkommentare, Gelehrtenvorträge sowie Entwicklungsdarstellungen der Philosophiegeschichte in der Neuzeit bis hin zu Lexikonartikeln haben jenes Problem aus historiographischer Sicht behandelt. Die Autoren dieser Schriften gingen und gehen jedoch in ihren Wertungen über die jeweiligen Lösungsansätze, Richtungen, Strömungen und Schulen in der Geschichte des Streites um die „Universalien" weitgehend auseinander. Jacob Thomasius, der sich als einer der ersten in der Neuzeit mit der historischen Darstellung des Universalienproblems beschäftigte, stellte die Situation des damaligen Historikers des Universalienstreites so dar: „Die Natur der Universalien ist ein tiefer Abgrund: je stärker und je länger du die Augen anstrengst, desto dichtere Schatten entstehen davor."1 Erst im 19. und 20. Jahrhundert ist die Geschichtsschreibung auf Grund umfangreicher Studien der Originalschriften und des gewachsenen Interesses an einer historisch objektivierten Darstellung und Wertung mittelalterlicher Philosophie, aber auch durch das Wiederaufflammen des Universalienstreites in einzelnen Wissenschaften wesentlich in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte des Universalienstreites vorangekommen.2 Der ständig an Umfang zunehmende Fundus von Quellentexten stand bislang aber vor allem dem mit der Originalsprache der Autoren vertrauten Spezialisten zur Verfugung. Nur ein geringer Teil davon wurde einem breiteren Kreis von Interessierten durch Übersetzung oder Darstellung zugänglich gemacht. Es wird uns daher hier darauf ankommen, durch eine repräsentative Textauswahl und eine möglichst textnahe Übersetzung ein getreues
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Vorwort
und in all ihrer Kompliziertheit verständliches Bild der Problemstellungen und Lösungsansätze zu vermitteln, die in diesem historisch wie auch aktuell so bedeutsamen philosophischen Grundlagenstreit einander gegenüberstanden. Die hier im ersten Band der Chrestomathie abgedruckten Texte dokumentieren dabei die unterschiedlichen Positionen, Richtungen und Dimensionen des Streites um die „Universalien" von der Spätantike bis in das 12. Jahrhundert. Das Universalienproblem erweist sich als auf das engste verknüpft mit einem der großen philosophischen Probleme überhaupt, der Frage nach dem Verhältnis von allgemeinen Bewußtseinsinhalten, Sprachstrukturen und extramentaler („objektiver") Realität. Antikes und mittelalterliches Philosophieren haben es jedoch nicht darauf beschränkt, sondern von Anfang an mehrdimensional behandelt. Neben vielem historisch Vergänglichem und Überholtem sind in dieser Zeit auch die klassisch gewordenen Positionen entwickelt worden, mit Langzeitwirkung bis heute. Die folgende Fragestellung ist dabei als das philosophische Substrat des Universalienproblems anzusprechen: Worin bestehen Wesen, Existenz und die innere Struktur des Allgemeinen, d. h. des Gemeinsamen, das sämtliche Dinge von bestimmter Beschaffenheit zu einer Einheit zusammenführt? Dem hierbei thematisierten „Allgemeinen" entspricht terminologisch das lateinische „universale". „Universalien" diesem ihrem historischen Ursprung nach sind so nicht einfach synonym mit „Allgemeinöegnjffe«". Man könnte besser von „Allgemeinbestimmungen" sprechen, doch sind auch die Kategorien „Allgemeinbestimmungen", und diese wurden in der antiken und mittelalterlichen Philosophie nicht selbstverständlich unter die Universalien subsumiert. 3 Man faßte das Allgemeine in der Gestalt der „Universalien" hier vor allem als Genera (Gattungen) und Spezies (Arten) bestimmter Gesamtheiten oder als sprachliche und geistige Entitäten auf. Immer aber ging es den Beteiligten am Universalienstreit um das Verhältnis des Allgemeinen bzw. der „Universalien" zum Einzelnen, Individuellen und Besonderen. Und insofern impliziert das oben präzisierte Universalienproblem immer auch die Frage nach dem Wesen und der Existenz von Individualität und Singularität unter der Voraussetzung des Daseins des Allgemeinen: das Universalienproblem ist immer auch Individuenproblem. In Abhängigkeit davon, wie im konkreten Fall „Allgemeines" und „Einzelnes" bzw. „Universale" und „Individuum" verstanden wurden, läßt sich die in der Antike und dem Mittelalter stattgefundene Diskussion der Universalienfrage nach folgenden Dimensionen unterscheiden: a) logisch-gnoseologische Dimension: die Frage, in welche Klassen alle möglichen Prädikattermini eingeteilt werden können und inwieweit diesen Klassen und den ihnen angehörenden Termini rein sprachliche, rein gedankliche oder/und objektiv-reale Repräsentanz zukommt. b) naturphilosophische Dimension: die Frage, ob es in der natürlichen Beschaffenheit aller Dinge, darunter insbesondere der Lebewesen, liegt, in Genera und Spezies geteilt zu sein oder ob alle Dinge bzw. Substanzen real lediglich Individuen
Vorwort
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sind. Im weiteren Sinne: die Frage nach dem Verhältnis von abstrakt-allgemeinen wissenschaftlichen Begriffen zur Erfassung der Naturwirklichkeit und dieser Wirklichkeit selbst (ζ. B. „Bewegung", „Raum", „Zeit", „Materie" usw.). c) ontologische Dimension: die Frage nach der Art und Weise des Daseins der Universalien, als auch die Frage nach den Stufen des hierarchischen Aufbaus der Welt. d) theologische Dimension: die Frage nach der Singularität oder/und Universalität einer höchsten göttlichen Instanz im Verhältnis zur übrigen Welt und dem Menschen als Gattungswesen und Individuum. e) ethisch-sozialphilosophische Dimension: die Frage nach der Herkunft und Geltungsweise der allgemeinen Normen und Werte, nach dem Wesen sozialer Institutionen als Repräsentanten partikularer bzw. universaler Interessen und nach dem Wesen der personalen Individualität des Menschen. Die Multidimensionalität der Universalienproblematik, wie sie in Antike und Mittelalter mit sicherlich jeweils unterschiedlicher Wichtung in den einzelnen Stadien des Universalienstreites zur Ausfaltung kam, ist heute einer weitgehenden Reduktion auf die logisch-gnoseologische Ebene gewichen, „Universalien" und „AllgemeinbegrifTe" gelten weithin als identisch.4 Der Universalienstreit ist einer der wesentlichen Inhalte der Philosophie des medium aevum, besitzt jedoch seine spezifischen Wurzeln in der antiken Philosophie. Die hier ausgewählten Texte aus der Zeit der Formierung seiner unterschiedlichen und oft entgegengesetzten Positionen und Richtungen sind im weiteren Verlauf des Streites immer wieder kontrovers diskutiert und kommentiert worden. Neben den Schriften Piatons und Aristoteles' selbst ist in der Frühphase vor allem die berühmte „Isagoge" des Porphyries (um 232-nach 300), Einführungsschrift zu den „Kategorien" des Aristoteles, von Einfluß. Diese war von den ersten Anfängen der lateinischen Aristotelesrezeption an integraler Bestandteil des logischen Lehrkanons und hat vor allem durch die einleitende Fragestellung und das hierarchische Schema der Genera und Spezies („Baum des Porphyrios") den Universalienstreit jahrhundertelang entscheidend mitgeprägt. Eine sicher noch größere Bedeutung kommt weiterhin Boethius (um 480-524) zu, dessen Werke in der lateinischen Philosophie des Mittelalters klassischen Wert besaßen und der wohl einer der letzten Lateiner gewesen ist, der noch in vollem Umfang über die griechische Bildung verfügte. Er war es, der durch seine Aristoteles-Übersetzungen und -Kommentare die aristotelische Logik dem Westen bekannt gemacht hat. Unsere Ausgabe enthält von ihm die entscheidenden Texte, in denen er zu den unterschiedlichen Dimensionen des Universalienproblems Stellung bezieht: Passagen und Kapitel aus den Kommentaren zur „Isagoge" des Porphyrios, zu den „Kategorien" des Aristoteles, zu „Peri hermeneias" von Aristoteles, und ferner Kapitel aus zwei theologischen Schriften („Inwiefern die Trinität ein einziger Gott und nicht drei Götter ist", „Gegen Eutyches und Nestorios").
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Im Anschluß an die Texte der beiden genannten spätantiken Autoren folgen wichtige Zeugnisse des Universalienstreites aus dem 11. und 12. Jahrhundert innerhalb der lateinischen Philosophie des Mittelalters. In dieser Zeit formierten sich die einander entgegengesetzten Grundrichtungen des Universalienrealismus (Universalien werden als außersprachliche bzw. außermentale Realitäten anerkannt, die dem Menschen vorgegeben sind) und des Universaliennominalismus (das Dasein der Universalien wird wesentlich auf die Sprache und das Denken der Menschen zurückgeführt). Unsere Ausgabe bietet Texte von Anselm von Canterbury (10331109), Roscelin von Compiegne (um 1050-1125), Adelard von Bath (um 1070-nach 1146), Petrus Abaelard (1079-1142), Gilbert de la Porree (um 1070-1154) und Johannes von Salisbury (1118-1180). Ferner enthält sie den anonomen Traktat „De generibus et specibus" („Über die Genera und Spezies") aus dem 12. Jahrhundert. Von den bedeutenden arabischen Philosophen, die sich an dem Streit um die Universalien beteiligten, sind Texte Ibn Sinas (Avicenna, 980-1037) und Ibn Ruschds (Averroes, 1126-1198) in unserer Ausgabe enthalten. Genauso, wie bei den zuvor erwähnten Autoren, sind auch die Texte dieser beiden Philosophen ihrem Charakter nach eine Mischung aus Textauslegung, polemischer Auseinandersetzung und dem Versuch einer selbständigen Problemlösung. Diese Eigenart mittelalterlichen Philosophierens gilt es bei der Lektüre zu berücksichtigen.5 Der Textauswahl folgt ein Nachwort, in dem versucht wird, die Hauptentwicklungslinien des Universalienstreites bis in das 12. Jahrhundert nachzuzeichnen. In diesem Nachwort sind auch Interpretationen und Erklärungen zu den ausgewählten Texten selbst enthalten. Als Textgrundlage des vorliegenden Bandes dienen Editionen und Übersetzungen von Werken griechischer, lateinischer und arabischsprachiger Philosophen. Die griechischen und lateinischen Texte werden in der Übersetzung des Herausgebers geboten. Im Fall der arabischsprachigen Autoren wurden bereits gedruckte Übersetzungen in das Deutsche bzw. Englische herangezogen. Leider konnte die ursprüngliche Absicht von Herausgeber und Verlag, die griechischen und lateinischen Texte auch im Original abzudrucken, ökonomischer Notwendigkeit geschuldet, nicht verwirklicht werden. Am Schluß des Bandes findet sich neben dem Quellenund Literaturverzeichnis sowie dem Personenregister ein zweisprachiges Verzeichnis der wichtigsten Sachtermini. Die hier bis in das 12. Jahrhundert reichende Textauswahl soll in einem weiteren Band fortgesetzt werden, der das Universalienproblem bzw. den Universalienstreit bis in das ausgehende 15. Jahrhundert zum Gegenstand hat. Für mannigfaltige Unterstützung und kritische Hinweise sowohl hinsichtlich der Gestaltung der Ausgabe, der Übersetzung wie auch des Darstellungsteiles bin ich den Herren Professoren Ernst Werner, Siegfried Wollgast, Fritz Jürß, Helmut Seidel und Günter Schenk zu besonderem Dank verpflichtet. Der hilfreichen Unterstützung bei der Beschaffung der Primär- und Sekundärliteratur durch die Sächsische
Vorwort
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Landesbibliothek Dresden (insbesondere durch Frau Fügner und Herrn Sarfert) verdanke ich wesentlich das Gelingen dieses Bandes. Auch Herrn G. Müller, Lektor des Akademie Verlages, möchte ich für sein Engagement danken. Dresden, im Sommer 1988
Hans-Ulrich Wöhler
Anmerkungen zum Vorwort 1
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Thomasius, J.: Oratio XII. De secta Nominalium (gehalten am 28. 1. 1658), in: M. lacobi Thomasi Orationes, Leipzig 1683, S. 248. Besondere Verdienste haben sich hier durch ihre umfangreichen Quellenstudien V. Cousin, B. Haureau und C. Prantl erworben (vgl. Literaturverzeichnis). Die von ihnen getroffenen Wertungen sind jedoch heute nicht mehr voll akzeptabel bzw. zu präzisieren. Unsere Übersetzung gibt daher das lateinische „universalia" bzw. im Singular „universale" mit „Universalien" bzw. „Universale" wieder. Auf die ursprüngliche Mehrdimensionalität der Universalienfrage und deren schließliche Reduktion auf eine erkenntnistheoretische Problematik in der gegenwärtigen Philosophie machte u. a. Kolakowski aufmerksam, der im universalienstreit dogmatische (theologische), metaphysische, soziologische und erkenntnistheoretische Probleme voneinander unterschied (Kolakowski, L.: Aktualnosc sporn ο powszechniki, in: Mysl filozoficzna, Warszawa 1956, Nr. 2, S. 3-32). Maioli äußerte sich in ähnlicherWeise und unterschied den linguistischsemantischen vom logischen, epistemologischen und metaphysischen Aspekt der Universalienproblematik (Maioli, B.: Gli Universali. Storia antologica del problema da Socrate al XII secolo, Roma 1974, S. XV). Vgl. dazu und zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der genannten Autoren - Wöhler, H.-U.: Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, Berlin 1990.
TEXTE
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PORPHYRIOS Isagoge (Des Phönikers Porphyrios, Schülers des Plotin aus Lykopolis, Einführungsschrift [zu den „Kategorien" des Aristoteles] )* Da man, mein Chrysaorios, für Aristoteles' Lehre von den Kategorien wissen muß, was Genus, Differenz, Spezies, Proprium und Akzidens sind, schaffe ich für dich eine kurze Darstellung über diese Begriffe, wobei ihre Untersuchung auch für die Aufstellung von Definitionen wie für die Lehre über die Einteilung und den Beweis nützlich ist; ich werde in dieser Darstellung versuchen, mit wenigen Worten - im Sinne einer Einführungsschrift - die betreffenden Auffassungen der Alten darzulegen, wobei ich die tieferen Probleme übergehe, mich den einfacheren jedoch in angemessener Weise widme. So werde ich es vermeiden, über das folgende Problem zu sprechen, da es sehr tief geht und einer größeren Nachforschung an anderer Stelle bedarf: sind die Genera und Spezies wirklich da oder befinden sie sich nur in den bloßen Gedanken; wenn sie wirklich da sind, sind sie dann Körper oder unkörperlich; sind sie von den Sinnendingen losgetrennt oder existieren sie wirklich in ihnen und in bezug auf sie? Jetzt aber werde ich versuchen, dir zu zeigen, wie die Alten, unter ihnen vor allem die Vertreter des Peripatos, diese und die zuvor genannten Begriffe unter mehr logischem Aspekt aufgefaßt haben. Über das Genus Es scheint aber weder das Genus noch die Spezies auf einfache Weise ausgesagt zu werden. Denn als Genus wird auch eine Ansammlung von Dingen bezeichnet, die sich auf bestimmte Weise zu einem Eins und untereinander verhalten. Entsprechend diesem Begriffsinhalt spricht man von dem Genus der Herakliden wegen der auf ein Eins - nämlich Herakles - bezogenen Anordnung und wegen der Menge derjenigen, die durch jenen auf bestimmte Weise untereinander eine Verwandtschaft besitzen, wobei diese Menge zum Zwecke der Unterscheidung von den * ΠΟΡΦΥΡΙΟΥ 'ΕΙΣΑΓΩΓΗ ΤΟΥ ΦΟΙΝΙΚΟΣ ΤΟΥ ΜΑΘΗΤΟΥ ΠΛΩΤΙΝΟΥ TOY ΛΥΚΟΠΟΛΙΤΟΥ. - Textgrundlage: Porphyrii Isagoge et in Aristotelis Categories Commentarium, hg. v. A. Busse, CAG IV, 1, Berlin 1887, S. 1-22.
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Texte
anderen Genera so genannt wurde. Als Genus wird nun aber auch der Ursprung der Abstammung eines jeden ausgesagt, sei es mit Bezug auf den Erzeuger oder mit Bezug auf den Ort, wo jemand geboren ist. Dementsprechend sagen wir, daß Orestes vom Genus des Tantalos und Hyllos vom Genus des Herakles sei, und Pindaros wieder vom Genus Thebaner, Piaton aber Athener sei, denn auch die Vaterstadt ist ja ein Ursprung der Abstammung eines jeden, genauso wie der Vater. Dies scheint auch der geläufige Inhalt des Begriffes zu sein; denn unter den HeraWiden versteht man die aus dem Genus des Herakles, und unter den Kekropiden die aus dem Genus des Kekrops Herkommenden und Anverwandten. Zunächst einmal wurde als Genus der Ursprung der Abstammung eines jeden bezeichnet, dementsprechend dann die Menge der einem einheitlichen Ursprung, wie zum Beispiel Herakles, Entstammenden, und diese Ansammlung als ganze nannten wir unter Hervorhebung und Absonderung von den anderen das Genus der Herakliden. Unter Genus versteht man aber auch dasjenige, dem eine Spezies untergeordnet wird und das ähnlich den zuvor genannten Verwendungsweisen ausgesagt wird, denn ein so beschaffenes Genus ist wohl auch ein gewisser Ursprung für das ihm selbst Untergeordnete und scheint auch die gesamte Menge des ihm selbst Untergeordneten zu umfassen. Wenn nun von Genus im dreifachen Sinn gesprochen wird, so ist bei den Philosophen im dritten Sinne von Genus die Rede. Indem sie diesen Sinn beschreibend kennzeichneten, formulierten sie, daß ein Genus dasjenige sei, was über mehreres, sich der Spezies nach Unterscheidendes in Hinsicht auf das Was ausgesagt wird, wie zum Beispiel „Lebewesen". Die Prädikabilien werden nämlich teils nur über ein Einzelnes ausgesagt, wie die Individuen - zum Beispiel Sokrates, Dieser, Dieses -, teils aber über mehreres, so die Genera, die Spezies, die Differenzen, die Propria und die Akzidentien, welche gemeinsam und nicht in individueller Weise den Dingen zukommen. Genus ist zum Beispiel das Lebewesen, Spezies zum Beispiel der Mensch, Differenz ist zum Beispiel das Vernunftbegabte, Proprium ist zum Beispiel das Zum-Lachen-Fähige, Akzidens ist zum Beispiel das Weiß, das Schwarz, das Sitzen. Die Genera unterscheiden sich von den nur einem Einzelnen zukommenden Prädikabilien dadurch, daß sie über mehreres in bestimmter Bedeutung ausgesagt werden; jedoch unterscheiden sie sich innerhalb der mehrerem zukommenden Prädikabilien von den Spezies, weil die Spezies zwar über mehreres ausgesagt werden, dieses aber sich nicht der Spezies, sondern der Zahl nach unterscheidet. Die Spezies „Mensch" wird nämlich über Sokrates und Piaton ausgesagt, die sich voneinander nicht der Spezies nach, sondern der Zahl nach unterscheiden; hingegen wird das Genus „Lebewesen" über den Menschen, das Rind und das Pferd ausgesagt, die sich voneinander auch der Spezies nach und nicht nur der Zahl nach unterscheiden. Von dem Proprium unterscheidet sich das Genus nun dadurch, daß das Proprium nur über eine einzelne Spezies, deren Proprium es ist, sowie über die der Spezies
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angehörenden Individuen ausgesagt wird - wie etwa das zum Lachen Fähige nur über den Menschen und die Menschen als einzelne ausgesagt wird; hingegen wird ein Genus nicht [nur] über eine einzelne Spezies, sondern über mehrere sich voneinander unterscheidende ausgesagt. Von der Differenz und den gemeinschaftlich den Dingen zukommenden Akzidentien unterscheidet sich das Genus wiederum dadurch, daß die Differenzen und die den Dingen gemeinschaftlich zukommenden Akzidentien - selbst wenn sie über mehreres, sich der Spezies nach Unterscheidendes ausgesagt werden - nicht im Hinblick auf das Was ausgesagt werden. Denn haben wir die Frage danach gestellt, in welcher Beziehung dieses ausgesagt wird, so sagen wir, daß diese nicht hinsichtlich des Was, sondern eher hinsichtlich einer Qualitätsbestimmung ausgesagt werden. Denn auf die Frage: „von welcher Beschaffenheit ist der Mensch?", antworten wir, daß er vernunftbegabt ist; wird gefragt: „von welcher Beschaffenheit ist der Rabe?", antworten wir, daß er schwarz ist. Das Vernunftbegabte ist hier eine Differenz, das Schwarz aber ein Akzidens. Sind wir nun aber gefragt worden: „was ist der Mensch?", so antworten wir: „ein Lebewesen"; denn das Genus des Menschen war das Lebewesen. Daher unterscheidet das Genus von dem, was nur über die einzelnen Individuen ausgesagt wird, das Ausgesagtwerden über mehreres; von den im Sinne von Spezies oder Propria auftretenden Prädikabilien unterscheidet das Genus hingegen das Ausgesagtwerden über sich der Spezies nach Unterscheidendes. Das Ausgesagtwerden im Hinblick auf das Was trennt das Genus wiederum von den Differenzen und den gemeinschaftlich den Dingen zukommenden Akzidentien; denn diese werden sämtlich nicht im Hinblick auf das Was, sondern im Sinne einer Qualitätsbestimmung oder eines Sich-Verhaltens über das jeweils Betroffene ausgesagt. Die dargelegte Begriffsbeschreibung des Genus enthält somit weder zuviel noch zu wenig. Über die Spezies Einmal spricht man von der Spezies als der Gestalt eines jeden, wie ein Ausspruch lautet: Der (rang-)ersten Spezies (Schönheit) gebührt das Herrscheramt. 1 Ferner wird die Spezies aber auch als das einem genannten Genus Zugehörige ausgesagt; so pflegen wir den Menschen einmal als Spezies des Lebewesens zu bezeichnen, wobei das Lebewesen das Genus ist; während wir das Weiß als Spezies der Farbe und das Dreieck als Spezies der Figur bezeichnen. Hatten wir nun bei der Beschreibung des Genus die Spezies erwähnt, indem wir es als das bezeichneten, was über mehreres, sich der Spezies nach Unterscheidendes im Hinblick auf das Was ausgesagt wird, und nennen wir die Spezies das einem genannten Genus Zugehörige, so gilt es zu wissen, daß Genus und Spezies wechselseitig in ihren jeweiligen Definitionen Verwendung finden müssen, da das je einzelne Genus von etwas Bestimmtem Genus ist und die je einzelne Spezies von etwas Bestimmtem Spezies ist. Man kennzeichnet die Spezies nun auch folgendermaßen: die Spezies ist das, was einem
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Texte
Genus untergeordnet ist und worüber ein Genus im Hinblick auf das Was ausgesagt wird. Eine weitere Kennzeichnung lautet folgendermaßen: die Spezies ist das, was über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes im Hinblick auf das Was ausgesagt wird. Diese letzte Kennzeichnung dürfte wohl auf die unterste Spezies zutreffen, die ausschließlich Spezies ist, während die anderen auch auf die Spezies zutreffen dürften, die nicht zu den untersten gehören. Das Gesagte dürfte auf folgende Weise klar werden. Für jede Kategorie gibt es oberste Genera und andererseits unterste Spezies sowie das andere, was zwischen den obersten Genera und den untersten Spezies ist. Oberstes Genus ist dasjenige, über dem nicht mehr ein darüber hinausgehendes Genus wäre; unterste Spezies aber ist diejenige, unter der es keine tieferliegende Spezies mehr gäbe. Zwischen dem obersten Genus und der untersten Spezies gibt es anderes, was gleichermaßen Genus wie auch Spezies ist, natürlich in jeweils anderer Hinsicht. Das Dargelegte soll nun anhand einer einzelnen Kategorie klar werden. Substanz ist doch wohl von sich aus Genus; ihr untergeordnet ist der Körper; dem Körper untergeordnet ist der beseelte Körper; diesem untergeordnet ist das Lebewesen; dem Lebenwesen untergeordnet ist das vernunftbegabte Lebewesen; diesem ist der Mensch untergeordnet; dem Menschen untergeordnet sind Sokrates, Piaton und die einzelnen besonderen Menschen. Substanz ist nun von dem Genannten das oberste Genus und nichts weiter als Genus, während der Mensch die unterste Spezies und nichts weiter als Spezies ist; hingegen ist der Körper einerseits Spezies der Substanz und andererseits Genus des beseelten Körpers. Aber auch der beseelte Körper ist einerseits Spezies des Körpers und andererseits Genus des Lebewesens; das Lebewesen ist wiederum einerseits Spezies des beseelten Körpers, andererseits Genus des vernunftbegabten Lebewesens; das vernunftbegabte Lebewesen ist einerseits Spezies des Lebewesens, andererseits aber Genus des Menschen; der Mensch aber ist Spezies des vernunftbegabten Lebewesens, hingegen nicht auch Genus der partikulären Menschen, vielmehr ist er lediglich Spezies; denn alles, was [in der Ordnung] unmittelbar vor den Individuen ausgesagt wird, ist doch wohl nur eine Spezies nicht aber auch Genus. Genauso, wie also Substanz am höchsten steht, weil ihr keinerlei Genus vorgeordnet ist, so daß sie das oberste Genus bildet, bildet auch der Mensch, da er eine Spezies ist, auf die keine andere folgt und die ohne die Voraussetzungen einer Aufspaltung in Spezies ist, nur eine Spezies für die Individuen (Individuum ist Sokrates, Piaton und ein ganz bestimmtes Weißes), die unterste Spezies oder - wie wir sagten - das Speziellste. Hingegen stellen die mittleren Bestimmungen die Spezies der ihnen vorgeordneten, und andererseits die Genera der ihnen nachgeordneten Bestimmungen dar. Somit besitzen sie zwei Lagebeziehungen - sowohl die Beziehung auf die ihnen vorgeordneten Bestimmungen, wonach man sie als die Spezies von diesen bezeichnet, als auch die Beziehung auf die ihnen nachgeordneten Bestimmungen, wonach man sie als die Genera von diesen bezeichnet. Hinge-
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gen besitzen die obersten Bestimmungen nur eine einzige Lagebeziehung - denn das oberste Genus besitzt zwar als das höchste aller Genera eine Lagebeziehung auf das ihm Nachgeordnete, aber keine auf das ihm Vorgeordnete, da es wie ein Erstes Prinzip am höchsten steht und es über ihm nach unserer Formulierung kein darüber hinausgehendes Genus mehr gibt. Auch die unterste Spezies besitzt eine einzige Lagebeziehung, nämlich die auf das ihr Vorgeordnete, dessen Spezies sie ist; hingegen besitzt sie keine andersgeartete auf das ihr Nachgeordnete, sondern wird auch für die Individuen als Spezies bezeichnet. Hinsichtlich der Individuen spricht man von Spezies jedoch im Sinne eines diese Umfassenden, hingegen hinsichtlich des ihr Vorgeordneten im Sinne eines von diesem Umfaßten. Das oberste Genus definiert man demgemäß wie folgt: „was Genus ist, ohne Spezies zu sein"; und weiter: „vor dem kein darüber hinausgehendes Genus mehr sein kann". Die unterste Spezies definiert man aber so: „was Spezies ist, ohne Genus zu sein"; und: „was Spezies ist, ohne daß wir es weiter in Spezies unterteilen könnten"; und: „was über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes im Hinblick auf das Was ausgesagt wird". Hingegen nennt man die in der Mitte zwischen den Extremen liegenden Bestimmungen die subalternen Genera und Spezies, und jede von ihnen gilt sowohl als Spezies wie auch als Genus, natürlich in jeweils anderer Hinsicht. Denn die den untersten Spezies vorgeordnet sind und bis zum obersten Genus aufsteigen, werden doch als Genera, Spezies und subalterne Genera prädiziert, wie zum Beispiel Agamemnon sowohl ein Atride, ein Pelopide, ein Tantalide und endlich ein Sohn des Zeus heißt. Während man bei den Stammbäumen den Ursprung in der Regel jedoch auf Einen zurückfuhrt - so zum Beispiel Zeus -, verhält es sich bei den Genera und Spezies nicht so. Denn weder ist das „Seiende" das gemeinschaftliche einheitliche Genus von allem, noch ist alles in bezug auf ein einziges höchstes Genus miteinander verwandt, wie Aristoteles sagt.2 Sollen nun - wie in den „Kategorien" verlautet - die ersten zehn Genera im Sinne der zehn Ersten Prinzipien gelten; obgleich man wohl alles „Seiendes" nennt, wird man dies doch im homonymen, und nicht im synonymen Sinne so nennen, wie er sagt.3 Denn wäre das „Seiende" das einheitliche gemeinschaftliche Genus von allem, würde alles im synonymen Sinne „Seiendes" genannt werden. Da aber die ersten Genera zehn an der Zahl sind, erstreckt sich die Gemeinschaftlichkeit lediglich auf den Namen, nicht aber auf den zum Namen gehörenden Begriff. Die obersten Genera sind also zehn an der Zahl, die untersten Spezies sind auch in einer bestimmten, nicht unbegrenzten Anzahl da, während die Individuen, d. h. die auf die untersten Spezies unmittelbar folgenden Bestimmungen, von unbegrenzter Anzahl sind. Daher gebot Piaton, daß man beim Hinabsteigen von den obersten Genera bei den untersten Spezies aufhört, und daß man durch die in der Mitte liegenden Bestimmungen hinabsteigt und sie mittels artbildender Differenzen unterteile; die unbegrenzt vielen Individuen aber solle man unbeachtet lassen,
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da es wohl unmöglich ist, daß es über sie ein gesichertes Wissen gibt.4 Um zu den untersten Spezies hinabzusteigen, muß man mittels der Einteilung durch eine Vielheit hindurchgehen; während man eine Vielheit zu einer Einheit zusammenfassen muß, um zu den obersten Genera hinaufzusteigen. Eine Spezies und noch mehr ein Genus ist ein Zusammenbringendes [eine Vereinigung] von vielem zu einer einheitlichen Natur; demgegenüber teilt das viele Partikuläre und Einzelne immer ein Eins in eine Vielheit ein. Denn auf Grund der Teilhaberschaft an der Spezies sind die vielen Menschen nur einer, durch die partikulären aber ist der eine und gemeinschaftliche Mensch viele. Das je Einzelne ist nämlich immer etwas, das ein Vermögen zur Einteilung besitzt, während das Gemeinschaftliche etwas ist, das ein Vermögen zur Zusammenfassung hat und vereinigt. Nachdem das Was von Genus und Spezies angegeben wurde und wenn man voraussetzt, daß Genus nur eines ist, die Spezies aber viele sind (denn ein Genus wird grundsätzlich in mehrere Spezies aufgespalten), so gilt: das Genus wird immer über eine Spezies ausgesagt und alle darüber liegenden über die darunter liegenden; eine Spezies wird hingegen weder über das unmittelbar benachbarte Genus, noch über die darüber liegenden ausgesagt; denn eine Umkehrung gilt hier nicht. Denn entweder muß Gleiches über Gleiches ausgesagt werden - wie das zum Wiehern Fähige über Pferd, oder Größeres über Geringeres - wie das Lebewesen über den Menschen; hingegen wird Geringeres nicht von Größerem ausgesagt: denn daß das Lebewesen ein Mensch sei, könntest du nicht ebenso sagen wie daß der Mensch ein Lebewesen sei. Worüber nun aber die Spezies ausgesagt wird, darüber wird notwendig auch das Genus dieser Spezies, als auch das Genus dieses Genus bis einschließlich des obersten Genus ausgesagt werden. Denn wenn es richtig ist, Sokrates einen Menschen zu nennen, den Menschen aber ein Lebewesen und das Lebewesen eine Substanz, dann ist es auch richtig, Sokrates ein Lebewesen sowie eine Substanz zu nennen. Da nun immer die oberen über die unteren Bestimmungen ausgesagt werden, wird die Spezies über das Individuum, das Genus über die Spezies und über das Individuum, das oberste Genus jedoch über ein Genus bzw. die Genera - wenn die mittleren subalternen Genera eine Vielzahl ausmachen - sowie über die Spezies und das Individuum ausgesagt werden. Das oberste Genus wird nämlich hinsichtlich aller ihm selbst untergeordneten Genera, Spezies und Individuen ausgesagt; das vor der untersten Spezies stehende Genus wird hinsichtlich aller unterster Spezies und Individuen ausgesagt; was aber nur Spezies ist, wird hinsichtlich aller Individuen ausgesagt; vom Individuum aber spricht man nur in bezug auf ein ganz bestimmtes Einzelding. Als Individuum bezeichnet man: Sokrates; dieses ganz bestimmte Weiß; dieser da Herkommende, der Sohn des Sophroniskos, falls er ausschließlich Sokrates zum Sohn hätte. Derlei wird als Individuen bezeichnet, weil jedes sich aus Eigentümlichkeiten zusammensetzt, deren Gesamtheit bei nichts anderem als dieselbe wiederkehrt. So würden die Eigentümlichkeiten von Sokrates bei keinem anderen Individuum als dieselben wiederkehren. Dagegen würden die
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Eigentümlichkeiten des Menschen, d. h. des allgemeinen, bei einer Vielzahl als dieselben wiederkehren, oder besser noch bei allen individuellen Menschen, insofern sie Menschen sind. Das Individuum ist nun in der Spezies, die Spezies aber in dem Genus enthalten. Denn das Genus ist ein Ganzes, das Individuum ein Teil und die Spezies sowohl Ganzes als auch Teil; nun gehört der Teil zu einem anderen, das Ganze aber gehört nicht einem anderen, sondern ist im anderen, nämlich in den Teilen. Somit ist über das Genus und die Spezies; das Wesen des obersten Genus und der untersten Spezies; über das, was in einem sowohl Genus als auch Spezies ist; über die Individuen und darüber, in wievielfachem Sinne man von dem Genus und der Spezies spricht, gesprochen worden. Über die Differenz Von der Differenz sei nun im allgemeinen, im engeren und im eigentlichsten Sinne gesprochen. Im allgemeinen bedeutet das voneinander Differieren die irgendwie geartete Verschiedenheit auf Grund einer anderen Beschaffenheit - entweder auf sich selbst oder auf ein anderes bezogen; denn Sokrates differiert von Piaton durch eine andere Beschaffenheit und selbst differiert er dadurch, daß er Kind ist und dann Mann wurde, etwas schafft und dann geruht hat sowie fortwährend auf Grund der Verschiedenheiten des jeweiligen Verhaltens. Im engeren Sinne spricht man vom voneinander Differieren, wenn eines vom anderen durch ein nichtabtrennbares Akzidens differiert. Ein nicht-abtrennbares Akzidenz ist zum Beispiel die Blauäugigkeit, die Krummnasigkeit und die verhärtete Narbe einer Wunde. Im eigentlichsten Sinne aber spricht man vom voneinander Differieren, wenn eines vom anderen durch eine spezifische Differenz differiert, wie zum Beispiel der Mensch vom Pferd durch die Eigenschaft des Vernunftbegabten als spezifischer Differenz differiert. Ganz allgemein bewirkt jede Differenz etwas anders Beschaffenes, wenn sie zu etwas Bestimmtem hinzukommt. Die Differenzen im allgemeinen und im engeren Sinne machen es zu einem anders Beschaffenen, die Differenzen im eigentlichsten Sinne aber zu einem Anderen. Denn teils schaffen die Differenzen ein anders Beschaffenes, teils ein Anderes. Die ein Anderes bewirkenden Differenzen werden als „spezifische" bezeichnet, die ein anders Beschaffenes bewirkenden heißen einfach „Differenzen". Die zum Lebewesen hinzugekommene Differenz des Vernunftbegabten bewirkt ein Anderes, die Differenz des Sichbewegens aber bewirkt nur ein anders Beschaffenes im Vergleich zum Ruhenden, so daß die eine Differenz ein Anderes, die andere aber nur ein anders Beschaffenes bewirkt. Aus den ein Anderes bewirkenden Differenzen entstehen auch die Einteilungen der Genera in die Spezies und nach ihnen werden auch die Definitionen aufgestellt, die aus dem Genus und den so gearteten Differenzen bestehen. Hingegen ergeben sich aus den
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ein anders Beschaffenes bewirkenden Differenzen lediglich qualitative Verschiedenheiten und die Veränderungen des jeweiligen Verhaltens. Von neuem beginnend ist nun festzustellen, daß die Differenzen teils abtrennbar, teils unabtrennbar sind; denn das Sich-Bewegen, das Ruhen, das Gesundsein und das Kranksein und ähnliches ist abtrennbar; krummnasig, stumpfnasig, vernunftbegabt, nicht-vernunftbegabt aber sind nicht-abtrennbar. Die nicht-abtrennbaren Differenzen existieren teils an sich, teils akzidentiell; denn „vernunftbegabt", „sterblich" und „aufnahmefähig für das Wissen sein" kommt für sich dem Menschen zu; „stumpfnasig sein" oder „krummnasig sein" kommt ihm jedoch akzidentiell, aber nicht an sich zu. Die an sich existierenden Differenzen werden im Begriff des Wesens erfaßt und bewirken ein Anderes; die akzidentiell existierenden Differenzen werden jedoch weder im Begriff des Wesens erfaßt noch bewirken sie ein Anderes, sondern ein anders Beschaffenes. Die an sich existierenden Differenzen lassen kein Mehr oder Weniger zu; hingegen sind die akzidentiellen Differenzen fähig, Steigerung und Verminderung aufzunehmen, obgleich sie nicht-abtrennbar sind. Denn das Genus wird nicht mehr oder minder über etwas ausgesagt, wovon es Genus wäre, noch auch die Differenzen des Genus, nach denen es eingeteilt wird. Letztere komplettieren nämlich den Begriff einer jeden Sache; das Sein ist aber für jede Sache ein Eines und Identisches, was weder Verminderung noch Steigerung zuläßt; „krummnasig", „stumpfnasig" oder „irgendwie gefärbt sein" jedoch wird gesteigert oder verringert. Indem nun drei Spezies von Differenzen in Betracht gezogen werden und die einen abtrennbar, die anderen nicht-abtrennbar sind, und von den nicht-abtrennbaren die einen an sich, die anderen akzidentiell da sind, so gibt es wieder von den an sich existierenden Differenzen einerseits solche, nach denen wir die Genera in die Spezies unterteilen, und andererseits solche, nach denen das Unterteilte als Spezies dargestellt wird. Wenn zum Beispiel alle folgenden an sich existierenden Differenzen von Lebewesen sind: beseelt, wahrnehmungsfähig, vernunftbegabt, nicht-vernunftbegabt, sterblich, unsterblich -, so ist die Differenz des Beseelten und des Wahrnehmungsfähigen konstitutiv für die Substanz des Lebewesens; denn das Lebewesen ist eine wahrnehmungsfähige beseelte Substanz. Die Differenzen des Sterblichen und Unsterblichen, sowie des Vernunftbegabten und Nicht-Vernunftbegabten hingegen bewirken die Einteilung des Lebewesens, da wir durch sie die Genera in die Spezies einteilen. Diese einteilenden Differenzen der Genera aber sind zugleich auch die komplettierenden und konstitutiven Differenzen der Spezies; das Lebewesen differenziert sich nämlich auf Grund des Unterschiedes von vernunftbegabt und nicht-vernunftbegabt, sowie von sterblich und unsterblich. Die Differenz des Sterblichen und die des Vernunftbegabten sind beide konstitutiv für den Menschen; die Differenz des Vernunftbegabten und die des Unsterblichen sind beide konstitutiv für Gott; die Differenz des Nicht-Vernunftbegabten und die des Sterblichen sind beide konstitutiv für die nicht-vernunftbegabten Lebewesen.
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Wenn die einteilenden Differenzen für die an erster Stelle stehende Substanz sind: beseelt und unbeseelt, wahrnehmungsfähig und nicht-wahrnehmungsfähig, so bilden beseelt und wahrnehmungsfähig zusammen mit Substanz das Lebewesen, während beseelt und nicht-wahrnehmungsfähig die Pflanze bilden. Wenn nun dieselben Differenzen einmal als konstitutiv und einmal als einteilend erscheinen je nachdem, wie sie aufgefaßt werden -, so heißen doch alle spezifische. Gerade sie werden auch am meisten für die Einteilungen der Genera und die Definitionen gebraucht; das trifft jedoch nicht für die nicht-abtrennbaren akzidentiellen Differenzen und noch weniger für die abtrennbaren zu. Man definiert diese aber auch und sagt dann: „eine Differenz ist, wodurch die Spezies das Genus übertrifft". Der Mensch übertrifft das Lebewesen durch den Besitz des Vernunftbegabten und des Sterblichen; denn das Lebewesen ist nichts von diesen - woher hätten sonst die Spezies die Differenzen? Das Lebewesen besitzt aber auch nicht alle entgegengesetzten Differenzen, da dann ein und dasselbe Entgegengesetztes besäße; vielmehr besitzt es - wie man annimmt - alle ihm untergeordneten Differenzen der Möglichkeit nach, jedoch keine in der Wirklichkeit. Damit entsteht nichts aus Nicht-Seiendem, noch existiert Entgegengesetztes zugleich an ein und demselben Ding. Man definiert die Differenz auch folgendermaßen: „die Differenz ist das über mehreres, sich der Spezies nach unterscheidendes im Sinne einer Qualitätsbestimmung Prädizierte". Das „Vernunftbegabte" und „Sterbliche" wird doch vom Menschen im Sinne seiner Qualitätsbestimmung und nicht im Hinblick auf das Was ausgesagt. Auf die Frage: „was ist der Mensch?", sagen wir passend: „ein Lebewesen"; werden wir gefragt, was für ein Lebewesen er sei, so geben wir passend zur Antwort: „ein vernunftbegabtes und sterbliches". Da die Dinge aus Materie und Form bestehen oder eine Zusammensetzung in Analogie zu Materie und Form besitzen - wie sich zum Beispiel eine Statue aus Erz als der Materie und der Gestalt als der Form zusammensetzt so besteht auch der Mensch, das heißt der allgemeine Mensch und die Spezies Mensch, aus dem Genus als Analogon der Materie und aus der Differenz als Analogon der Form, und das Ganze: „vernunftbegabtes sterbliches Lebewesen" ist der Mensch, wie im anderen Beispiel die Statue. Man bezeichnet solche Differenzen auch folgendermaßen: „eine Differenz ist dasjenige, was natürlicherweise die ein und demselben Genus nachgeordneten Bestimmungen voneinander trennt". Denn das Vernunftbegabte und das NichtVernunftbegabte trennt den Menschen und das Pferd voneinander, welche zu demselben Genus Lebewesen gehören. Man gibt aber auch folgende Darstellung: „die Differenz ist dasjenige, wodurch sich jegliches unterscheidet". Denn Mensch und Pferd sind hinsichtlich des Genus nicht verschieden: sowohl wir als auch das Nicht-Vernunftbegabte sind Sterbliches und Lebewesen; sobald jedoch das Vernunftbegabte hinzugefügt worden ist, trennt es uns von jenen. Vernunftbegabte sind wir und auch die Götter; sobald jedoch das
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Sterbliche hinzugefugt worden ist, trennt es uns von jenen. Bei einer weitergehenden Betrachtung zur Differenz wird jedoch festgestellt, daß nicht jedes Beliebige, was die demselben Genus nachgeordneten Dinge voneinander lostrennt, eine Differenz ist, sondern daß dies nur für dasjenige zutrifft, was zum Sein beiträgt und was ein Teil dessen ist, was die Wesenheit eines Dinges ausmacht. Die natürliche Anlage, zur See zu fahren, ist nämlich keine Differenz des Menschen, obgleich sie ein Proprium des Menschen ist. Wir würden zwar sagen, daß die einen Lebewesen die natürliche Anlage zur Seefahrt haben, die anderen jedoch nicht, indem wir sie voneinander trennen; die natürliche Anlage zur Seefahrt kann jedoch kein Wesen komplettieren oder ein Teil des Wesens sein, vielmehr ist sie nur eine Befähigung an ihm, da sie anders beschaffen ist als die im eigentlichen Sinne als spezifisch bezeichneten Differenzen. Es dürften folglich genau so viele Differenzen spezifische sein, wie jeweils eine andere Spezies hervorbringen und im Sinne dessen aufgefaßt werden, was die Wesenheit ausmacht. Soviel nun also zur Differenz. Über das Proprium Das Proprium unterteilt man auf vierfache Weise: erstens, was akzidentiell nur einer einzigen Spezies zukommt, obgleich nicht unbedingt der gesamten: wie dem Menschen, daß er die Heilkunst praktiziert oder Geometrie betreibt; zweitens, was der gesamten Spezies akzidentiell zukommt, wenn auch nicht unbedingt ihr allein: wie dem Menschen der Besitz zweier Füße; drittens, was nur einer Spezies allein, insgesamt und zu einer bestimmten Zeit zukommt: wie jedem Menschen das Ergrauen im Alter. Viertens schließlich, wo das „ihr ganz allein", „ihr insgesamt" und „ihr immer" zusammengenommen für eine Spezies gilt: wie dem Menschen das Zum-Lachen-Fähige zukommt; denn wenn er auch nicht immer lacht, so wird er doch auch nicht wegen des ständigen Lachens, sondern wegen des natürlichen Vermögens dazu als „zum Lachen Fähiges" bezeichnet; denn dies kommt ihm immer als Angeborenes zu, genauso wie dem Pferd die Fähigkeit zum Wiehern. Diese Beschaffenheiten werden auch in erster Linie und vor allem als Propria bezeichnet, da hier auch eine Umkehrung gilt: wenn Pferd, so zum Wiehern Fähiges; und wenn zum Wiehern Fähiges, so Pferd. Über das Akzidens Akzidens ist das, was in Erscheinung tritt und verschwindet, ohne daß das Zugrundeliegende vergeht. Man unterteilt es in zwei: das eine Akzidens ist nämlich vom Zugrundeliegenden abtrennbar, das andere jedoch nicht-abtrennbar. So ist das Schlafen ein abtrennbares Akzidens, das Schwarzsein hingegen kommt dem Raben und dem Äthiopier akzidentiell unabtrennbar zu; es ist jedoch möglich, sich einen weißen Raben und einen Äthiopier, der seine Farbe verliert, vorzustellen, ohne daß dabei das Zugrundeliegende vergeht. Man definiert es aber auch folgendermaßen:
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„Akzidens ist das, was ein und demselben der Möglichkeit nach entweder zukommt oder nicht zukommt"; oder: „was weder Genus, noch Differenz, noch Spezies, noch Proprium ist, jedoch immer in einem Zugrundeliegenden vorhanden ist". Nachdem alle zur Untersuchung anstehenden Begriffe definiert wurden, das heißt Genus, Spezies, Differenz, Proprium und Akzidens, muß nun dargelegt werden, was an Gemeinsamem und was an Eigenem sie haben. Über das Gemeinschaftliche der fünf Worte Gemeinschaftlich ist für alle doch nun das Ausgesagtwerden über mehreres. Nun aber wird Genus und ebenso die Differenz sowohl über die Spezies als auch die Individuen ausgesagt; hingegen wird die Spezies über die ihr angehörenden Individuen ausgesagt; das Proprium aber über die Spezies, dessen Proprium es ist, sowie über die der Spezies angehörenden Individuen; das Akzidens wieder wird über die Spezies und die Individuen ausgesagt. Das Lebewesen wird nun sowohl über die Pferde als auch die Rinder ausgesagt, die Spezies sind, wie auch über dieses bestimmte Pferd und dieses bestimmte Rind, die Individuen sind. Das NichtVernunftbegabte wird über die Pferde und die Rinder und die je einzelnen von ihnen ausgesagt. Die Spezies, wie zum Beispiel der Mensch, wird freilich nur über die Einzeldinge ausgesagt. Das Proprium hingegen - wie zum Beispiel „zum Lachen Fähiges" - wird sowohl über den Menschen als auch die je einzelnen ausgesagt. Das „Schwarz" wieder, insoweit es ein unabtrennbares Akzidens ist, wird sowohl über die Spezies der Raben, als auch über die je einzelnen ausgesagt. Das „Sich-Bewegen" schließlich wird, insoweit es ein abtrennbares Akzidens ist, sowohl über den Menschen als auch das Pferd ausgesagt - in erster Linie freilich über die Individuen, im sekundären Sinne jedoch auch über das die Individuen Umfassende. Über das Gemeinschaftliche von Genus und Differenz Das Gemeinsame von Genus und Differenz ist das Umfassen von Spezies. Denn auch die Differenz umfaßt Spezies, wenn auch nicht alle, welche die Genera umfassen. Obgleich zum Beispiel das Vernunftbegabte nicht das Nicht-Vernunftbegabte umfaßt - so wie es das Lebewesen tut - , umfaßt es dennoch den Menschen und Gott, die Spezies sind. Alles, was über ein Genus als Genus ausgesagt wird, wird auch über die ihm angehörenden Spezies ausgesagt; und alles, was über eine Differenz als Differenz ausgesagt wird, wird auch über die aus ihm entspringende Spezies ausgesagt werden. Insofern Lebewesen ein Genus ist, wird „Substanz" und „Beseeltes" über es als Genus ausgesagt; beides wird aber auch über alle dem Lebewesen angehörenden Spezies bis hin zu den Individuen ausgesagt. Insofern „Vernunftbegabtes" eine Differenz ist, wird über es als eine Differenz „Sich-derVernunft-Bedienen" ausgesagt; nicht allein jedoch über „Vernunftbegabtes", sondern auch über die dem Vernunftbegabten angehörenden Spezies wird „Sich-derVernunft-Bedienen" ausgesagt werden. Ein Gemeinsames besteht auch darin, daß
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bei der Aufhebung des Genus oder der Differenz auch die ihnen angehörenden Bestimmungen aufgehoben werden; gibt es zum Beispiel kein Lebewesen mehr, so gibt es auch kein Pferd oder keinen Menschen mehr; und wenn es kein Vernunftbegabtes mehr gibt, so wird es ebenso kein Lebewesen mehr geben, das sich der Vernunft bedient. Über die Verschiedenheit von Genus und Differenz Das Genus zeichnet sich dadurch aus, daß es über eine größere Anzahl ausgesagt wird, als die Differenz, die Spezies, das Proprium und das Akzidens; denn „Lebewesen" wird über Mensch, Pferd, Vogel und Schlange ausgesagt; „Vierfüßiges" wird aber nur über die Dinge ausgesagt, die vier Füße besitzen; und „Mensch" wird nur über die Individuen ausgesagt; „zum Wiehern Fähiges" wird nur über Pferd und die Pferde im einzelnen ausgesagt und auch das Akzidens wird über weniger ausgesagt. Man muß hier aber die Differenzen heranziehen, durch die das Genus zerlegt wird, nicht aber die das Wesen des Genus komplettierenden Differenzen. Das Genus enthält ferner die Differenz der Möglichkeit nach: denn dem Lebewesen gehört einerseits das Vernunftbegabte und andererseits das Nicht-Vernunftbegabte an. Sodann sind die Genera früher als die ihnen angehörenden Differenzen, so daß die Genera diese mit aufheben, jedoch selbst nicht mit aufgehoben werden: denn ist das Lebewesen aufgehoben, wird auch gleichzeitig das Vernunftbegabte und das NichtVernunftbegabte aufgehoben. Die Differenzen aber heben nicht auch die Genera mit auf; denn werden sie auch alle aufgehoben, so bleibt doch die Vorstellung von einem wahrnehmungsfähigen beseelten Wesen, was gerade das Lebewesen darstellt. Ferner wird das Genus im Hinblick auf das Was, die Differenz aber im Sinne einer Qualitätsbestimmung ausgesagt, wie gesagt. Ferner gibt es für jede Spezies nur ein einziges Genus, wie zum Beispiel „Lebewesen" für den Menschen; die Differenzen aber bilden eine Vielzahl, wie zum Beispiel „vernunftbegabt", „sterblich" und „aufnahmefähig für Einsicht und Wissen", wodurch sich der Mensch von den anderen Lebewesen unterscheidet. Das Genus gleicht ferner der Materie, die Differenz aber der Form. Obgleich es noch weitere Gemeinsamkeiten und Eigentümlichkeiten für das Genus und die Differenz gibt, möge das Gesagte genügen. Über das Gemeinschaftliche von Genus und Spezies Wie gesagt, ist die gemeinsame Eigenschaft von Genus und Spezies, daß sie über mehreres ausgesagt werden. Spezies soll aber als Spezies und nicht als Genus begriffen werden, wenn auch [einmal] Spezies und Genus ein und dasselbe sind. Sie haben auch gemeinsam, daß sie früher sind als das, worüber sie ausgesagt werden, sowie daß jedes etwas Ganzes ist.
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Über die Verschiedenheit von Genus und Spezies Ein Unterschied besteht insofern, als das Genus die Spezies umfaßt, die Spezies aber umfaßt werden und nicht die Genera umfassen, denn das Genus erstreckt sich weiter als die Spezies. Ferner müssen die Genera zuvor da sein und nach der Gestaltung durch die spezifischen Differenzen die Spezies hervorbringen. Darum sind die Genera auch von Natur aus früher da. Sie heben auch mit auf, ohne mit aufgehoben zu werden. Und wenn eine Spezies da ist, so ist sicher auch das Genus da; wenn aber ein Genus da ist, braucht keineswegs auch die Spezies da zu sein. Ferner werden die Genera über die ihnen untergeordneten Spezies im synonymen Sinne ausgesagt, die Spezies jedoch nicht über die Genera. Ferner ragen die Genera dadurch heraus, daß sie die ihnen angehörenden Spezies umfassen, während die Spezies die Genera durch die je eigenen Differenzen überragen. Außerdem könnte eine Spezies nicht oberstes Genus und ein Genus nicht unterste Spezies sein. Über das Gemeinschaftliche von Genus und Proprium Genus und Proprium haben gemein, daß sie mit den Spezies verknüpft sind. Denn wenn Mensch ist, ist Lebewesen; und wenn Mensch ist, ist zum Lachen Fähiges. Gemeinsam ist ihnen auch, daß das Genus über die Spezies und das Proprium über die an ihm teilhabenden Individuen gleichrangig ausgesagt wird; denn Mensch und Rind sind gleichermaßen Lebewesen, wie auch Anytos und Meietos gleichermaßen zum Lachen fähig sind. Fener ist ihnen gemeinsam, daß das Genus über die ihm eigenen Spezies und das Proprium über das, von dem es Proprium ist, im synonymen Sinne ausgesagt wird. Über die Verschiedenheit von Genus und Proprium Ein Unterschied besteht insofern, als das Genus früher und das Proprium später ist: denn Lebewesen muß zunächst da sein, um es dann mittels der Differenzen und Propria zu unterteilen. Ferner wird das Genus über eine Vielzahl von Spezies ausgesagt, das Proprium aber nur von einer einzigen Spezies, von der es das Proprium ist. Ferner werden das Proprium und das, dessen Proprium es ist, wechselseitig voneinander ausgesagt, während das Genus nichts hat, was über dieses ausgesagt wird und zugleich umgekehrt. Denn es gilt weder: „wenn Lebewesen ist, so ist Mensch"; noch gilt: „wenn Lebewesen ist, so ist zum Lachen Fähiges". Hingegen gilt: „wenn Mensch ist, so ist zum Lachen Fähiges", und umgekehrt. Ferner kommt das Proprium der ganzen Spezies ausschließlich und immer zu, deren Proprium es ist. Hingegen kommt das Genus der ganzen Spezies, deren Genus es ist, zwar immer zu, nicht aber auch ihr ausschließlich.
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Werden sodann die Propria aufgehoben, so heben sie nicht die Genera mit auf; hingegen heben die Genera, wenn sie aufgehoben werden, die Spezies mit auf, zu denen die Propria gehören. Werden also die Träger der Propria aufgehoben, so werden diese mit aufgehoben. Über das Gemeinschaftliche von Genus und Akzidens Wie gesagt, haben Genus und Akzidens gemein, daß sie über mehreres ausgesagt werden, gleichgültig, ob es um Abtrennbares oder Nicht-Abtrennbares geht. Denn sowohl das „Sich-Bewegen" wird über mehreres ausgesagt, als auch das „Schwarz" über die Raben, die Äthiopier und gewisse unbeseelte Wesen. Über die Verschiedenheit von Genus und Akzidens Genus und Akzidens unterscheiden sich dadurch, daß das Genus den Spezies vorhergeht, während die Akzidentien den Spezies nachfolgen. Auch wenn man ein nicht-abtrennbares Akzidens nimmt, ist dasjenige, dem dieses Akzidens zukommt, früher als das Akzidens. Ferner hat das, was an dem Genus teilhat, gleichrangig an ihm teil, am Akzidens aber nicht. Denn die Teilhabe an den Akzidentien läßt eine Steigerung und Verminderung zu, die Teilhabe an den Genera hingegen nicht. Ferner existieren die Akzidentien in erster Linie an den Individuen, während die Genera und Spezies von Natur aus früher als die individuellen Wesen sind. Ferner werden die Genera im Hinblick auf das Was über die ihnen angehörenden Bestimmungen ausgesagt, während die Akzidentien im Sinne einer Qualitätsbestimmung oder eines bestimmten Verhaltens ausgesagt werden. Denn auf die Frage, wie beschaffen ein Äthiopier sei, wird man antworten: „schwarz"; und auf die Frage, wie Sokrates sich verhält, wird man antworten: „er sitzt oder er geht umher". Worin sich das Genus von den anderen vier Bestimmungen unterscheidet, ist nun dargelegt worden; doch auch den anderen kommt es zu, daß sich jede von den übrigen vier unterscheidet. Wenn sie also fünf an der Zahl sind und sich jedes von jedem der übrigen vier unterscheidet, so ergeben sich insgesamt vier multipliziert mit fünf, das heißt zwanzig Unterschiede. So verhält es sich jedoch nicht. Denn da die Bestimmungen immer in der Reihenfolge aufgezählt werden und bei [Reihe] zwei ein Unterschied weggelassen wird, da er schon erfaßt wurde, bei [Reihe] drei zwei, bei [Reihe] vier drei und bei [Reihe] fünf vier, ergibt sich schließlich eine Gesamtzahl von zehn Unterschieden, nämlich die Summe von vier, drei, zwei und eins. Denn das Genus unterscheidet sich von der Differenz, der Spezies, dem Proprium und vom Akzidens, und das macht vier Unterschiede aus. Auf welche Weise sich die Differenz von dem Genus unterscheidet, ist dargelegt worden, da zuvor gesagt wurde, wie sich das Genus von ihr unterscheidet. Was noch übrig bleibt - nämlich wie sich die Differenz von der Spezies, dem Proprium und dem Akzidens unterscheidet - , wird noch auszuführen sein, so daß sich drei Unterschiede ergeben. Wie sich nun wieder
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die Spezies von der Differenz unterscheidet, wurde gesagt, indem ausgeführt wurde, wie sich die Differenz von der Spezies unterscheidet; wie sich aber die Spezies von dem Genus unterscheidet, wurde gesagt, indem ausgeführt wurde, wie sich das Genus von der Spezies unterscheidet. Was noch übrig bleibt - nämlich wie sich die Spezies von dem Proprium und vom Akzidens unterscheidet -, wird noch auszuführen sein, und dies sind eben zwei Unterschiede. Es wird aber noch anzugeben sein, wie sich das Proprium vom Akzidens unterscheidet; denn wie es sich von der Spezies, der Differenz und dem Genus unterscheidet, ist zuvor durch deren Unterschied gegenüber ihm erläutert worden. Somit werden vier Unterschiede des Genus gegenüber den anderen Bestimmungen, drei der Differenz, zwei der Spezies und einer des Proprium gegenüber dem Akzidens erfaßt, so daß sich eine Gesamtzahl von zehn ergibt. Hiervon haben wir die vier Unterschiede, die es zwischen dem Genus und den anderen Bestimmungen gab, zuvor schon nachgewiesen. Über das Gemeinschaftliche von Differenz und Spezies Differenz und Spezies haben nun gemein, daß an ihnen auf gleichrangige Weise teilgehabt wird; die je einzelnen Menschen haben nämlich auf gleichrangige Weise teil am Menschen und an der Differenz des Vernunftbegabten. Sie haben aber auch gemein, daß sie an dem, was an ihnen teilhat, immer vorhanden sind: denn Sokrates ist immer vernunftbegabt, und Sokrates ist immer ein Mensch. Über die Verschiedenheit von Spezies und Differenz Kennzeichnend für die Differenz ist, daß sie als Qualitätsbestimmung ausgesagt wird; kennzeichnend für die Spezies ist, daß sie im Hinblick auf das Was ausgesagt wird. Denn wenn man den Menschen auch als Qualität auffaßt, so wäre er doch wohl nicht im einfachen Sinne eine Qualität, sondern insofern, wie die zum Genus hinzukommenden Differenzen eine Qualität konstituieren. Ferner wird eine Differenz oft bei mehreren Spezies festgestellt, wie zum Beispiel das Vierfüßige bei sehr vielen der Spezies nach verschiedenen Lebewesen; eine Spezies hingegen steht nur in Bezug auf die zur Spezies gehörenden Individuen. Ferner ist die Differenz früher als die zu ihr gehörende Spezies; denn sobald das Vernunftbegabte aufgehoben wird, hebt es den Menschen mit auf; sobald hingegen der Mensch aufgehoben wird, hat er nicht das Vernunftbegabte aufgehoben, da es ja einen Gott gibt. Ferner wird die eine Differenz mit einer anderen verbunden, wie zum Beispiel das Vernunftbegabte und das Sterbliche zum beständigen Sein des Menschen verbunden werden. Hingegen verbindet sich eine Spezies nicht mit einer Spezies, so daß sie eine andere Spezies hervorbrächte; denn zwar verbindet sich ein Pferd mit einem Esel zur Erzeugung eines Maultieres, doch würde das Pferd schlechthin durch eine Verbindung mit einem Esel wohl nicht ein fertiges Maultier hervorbringen.
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Differenz und Proprium haben gemein, daß das Teilhabende gleichrangig an ihnen teilhat; denn das Vernunftbegabte ist gleichrangig Vernunftbegabtes, und das ZumLachen-Fähige ist gleichrangig Zum-Lachen-Fähiges. Sie haben ferner gemein, daß sie dem Betreffenden immer und ganz beiwohnen; denn wenn ein Zweifüßiger verstümmelt wurde, so gilt doch wegen der natürlichen Anlage das „immer", da auch das Zum-Lachen-Fähige wegen der natürlichen Anlage das „immer" besitzt, nicht aber wegen des ständigen Lachens. Über die Verschiedenheit von Proprium und Differenz Für die Differenz ist nun charakteristisch, daß sie oft für mehrere Spezies gilt, wie zum Beispiel das Vernunftbegabte sowohl für Gott als auch den Menschen gilt; hingegen gilt das Proprium nur für eine einzige Spezies, deren Proprium es ist. Ferner folgt die Differenz jenen Bestimmungen, deren Differenz sie war, nicht aber auch umgekehrt. Hingegen werden die Propria und das, dessen Propria sie sind, wechselseitig voneinander ausgesagt, auf Grund des Umkehrens. Über das Gemeinschaftliche von Differenz und Akzidens Differenz und Akzidens haben gemein, daß sie über mehreres ausgesagt werden. Hinsichtlich der nicht-abtrennbaren Akzidentien aber haben sie gemein, daß sie immer und ganz beiwohnen: denn sowohl „Zweifüßiges" kommt immer allen Raben zu, wie auch „Schwarz". Über die chrakteristischen Eigenschaften von Differenz und Akzidens Sie unterscheiden sich voneinander dadurch, daß die Differenz umfaßt, jedoch nicht umfaßt wird; denn das Vernunftbegabte umfaßt den Menschen; hingegen umfassen die Akzidentien in bestimmter Hinsicht, weil sie in mehrerem sind, und werden in bestimmter Hinsicht umfaßt, weil die zugrundeliegenden Dinge nicht nur für ein einziges Akzidens aufnahmefähig sind, sondern für mehrere. Ferner ist die Differenz weder Steiger- noch verminderbar; hingegen lassen die Akzidentien das Mehr und das Minder zu. Ferner sind die einander entgegengesetzten Differenzen nicht vermischbar, während man einander entgegengesetzte Akzidentien wohl vermischen kann. Von so großer Anzahl sind also die Gemeinsamkeiten und die charakteristischen Eigenheiten der Differenz und der anderen Bestimmungen. Wie sich nun die Spezies von dem Genus und der Differenz unterscheidet, wurde an der Stelle erläutert, wo wir davon sprachen, wie sich jeweils das Genus und die Differenz von den anderen Bestimmungen unterscheiden.
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Über das Gemeinschaftliche von Spezies und Proprium Spezies und Proprium haben gemein, daß sie voneinander im Wechsel ausgesagt werden: wenn nämlich Mensch ist, so ist zum Lachen Fähiges; und wenn zum Lachen Fähiges ist, so ist Mensch. Daß das zum Lachen Fähige aber im Sinne einer natürlichen Anlage zum Lachen zu verstehen ist, ist wiederholt gesagt worden. Ferner sind die Spezies und die Propria gleichrangig in dem, was an ihnen teilhat. Über die Verschiedenheit von Spezies und Proprium Die Spezies unterscheidet sich von dem Proprium dadurch, daß die Spezies von anderen Dingen auch Genus sein kann, während das Proprium nicht Proprium von anderen Dingen sein kann. Ferner ist die Spezies früher als das Proprium da, während das Proprium zur Spezies hinzukommt; denn es muß einen Menschen geben, damit zum Lachen Fähiges sein kann. Ferner kommt die Spezies dem Zugrundeliegenden immer der Wirklichkeit nach zu, während das Proprium bisweilen auch der Möglichkeit nach diesem zukommt; denn Sokrates ist immer der Wirklichkeit nach Mensch, lacht aber nicht immer, obgleich er die Anlage hat, zu lachen. Femer ist das, was verschiedene Definitionen hat, selbst auch verschieden. Die Definition von Spezies lautet aber: „das, was einem Genus angehört und was über mehreres, sich der Zahl nach unterscheidendes im Hinblick auf das Was ausgesagt wird" usw. Die Definition des Proprium aber lautet: „das, was nur einem einzigen, immer und ganz beiwohnt". Über das Gemeinschaftliche von Spezies und Akzidens Spezies und Akzidens haben gemein, daß sie über viele Dinge ausgesagt werden. Darüber hinaus gibt es wenig mehr Gemeinsamkeiten, weil das Akzidens und das, wofür es Akzidens ist, am weitesten voneinander entfernt sind. Über die Verschiedenheit beider Die charakteristischen Eigenheiten von jedem sind folgende: für die Spezies ist eigentümlich, daß sie im Hinblick auf das Was über das ausgesagt wird, dessen Spezies sie ist; für das Akzidens ist eigentümlich, daß es im Sinne einer Qualitätsbestimmung oder eines Sich-Verhaltens ausgesagt wird. Ferner gilt, daß jedes Wesen an nur einer Spezies, jedoch an mehreren Akzidentien, sowohl abtrennbaren als auch nicht-abtrennbaren, teilhat. Ferner werden die Spezies auch früher als die Akzidentien gedacht, auch wenn letztere nicht-abtrennbar sind: denn zunächst muß ein Zugrundeliegendes da sein, damit dann etwas zu ihm hinzukommt. Die Akzidentien sind aber ihrer natürlichen Anlage nach später entstanden und besitzen episodisch eine Natur.
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Ferner ist die Teilhabe an der Spezies gleichrangig, die am Akzidens jedoch nicht, auch wenn es nicht-abtrennbar ist; denn der eine Äthiopier kann doch wohl gegenüber dem anderen eine Haut mit mehr oder weniger Schwärze haben. Es muß jetzt noch über das Proprium und das Akzidens gesprochen werden. Wie sich das Proprium von der Spezies, der Differenz und dem Genus unterscheidet, ist bereits gesagt worden. Über das Gemeinschaftliche von Proprium und nicht-abtrennbarem Akzidens Das Proprium und das nicht-abtrennbare Akzidens haben gemein, daß dasjenige, woran man sie feststellt, nicht ohne sie bestehen kann. So besteht zum Beispiel ein Mensch nicht ohne die Fähigkeit zum Lachen und ein Äthiopier nicht ohne die schwarze Hautfarbe. Genauso, wie das Proprium einem ganz und immer zukommt, so auch das nicht-abtrennbare Akzidens. Über die Verschiedenheit beider Sie unterscheiden sich aber, weil das Proprium nur einer einzigen Spezies zukommt wie zum Beispiel „zum Lachen Fähiges" dem Menschen während ein nichtabtrennbares Akzidens - wie zum Beispiel „Schwarz" - nicht nur dem Äthiopier, sondern auch dem Raben, der Kohle und dem Ebenholz und einigen anderen Dingen zukommt. Daher wird das Proprium und das, dessen Proprium es ist, wechselseitig voneinander ausgesagt, und es ist es auf gleichrangige Weise; hingegen wird ein nichtabtrennbares Akzidens nicht im Wechsel ausgesagt. Ferner erfolgt die Teilhabe an den Propria auf gleichrangige Weise, hingegen an den Akzidentien mehr oder minder stark. Die besprochenen Bestimmungen haben zwar noch weitere Gemeinsamkeiten und Eigentümlichkeiten, doch die genannten genügen auch schon zu ihrer Unterscheidung und zum Nachweis der Gemeinschaftlichkeit.
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ANICIUS MANLIUS SEVERINUS BOETHIUS Kommentar zur „Isagoge" des Porphyrios Erste Ausgabe*
1.10. Porphyrios, nicht Victorinus,1 hat also versprochen, diese Dinge [d. h. Genus, Differenz, Spezies, Proprium und Akzidens] kurz und bündig zu erklären. Denn die Aufgabe einer Einleitung wäre nicht erfüllt, wenn er uns dasjenige, wofür diese so klare Einleitung geschaffen wird, gleich zu Anfang als vorgegeben hinstellte. Die hochgelehrte Kürze des Untersuchens wahrt also das Maß einer Einleitung, um dem Weg der Anfänger zu den äußerst dunklen Geheimnissen der Dinge gewissermaßen durch das Licht einer Unterweisung die Orientierung zu geben. Er weist nämlich auf eine tiefe, bei den Alten abgehandelte Frage hin, die er selbst jetzt kurz zusammenfaßt. Was aber nun von diesen alten Gelehrten der Philosophie ausgeführt wurde, berührt er nur kurz und geht weiter. Fabius: Worum handelt es sich dabei? Ich: Das, was er völlig übergehen will, ist, ob die Genera und Spezies tatsächlich bestehen oder lediglich im Verstand und im Geist vorkommen, ob sie körperlich oder unkörperlich sind und ob sie gesondert von den sinnlichen Dingen oder mit ihnen verbunden sind. Er versprach darüber zu schweigen, weil hierüber eine tiefere Untersuchung [nötig] wäre; wir aber wollen bescheiden, mit dem Zügel der Mäßigung, eben das berühren. Von denjenigen Fragen also, an welchen er vorbeizugehen und die er auszulassen versprach, ist die erste, ob die Genera und Spezies wirklich existieren oder lediglich als bloße, leere Gedankendinge erdacht werden. Diese Frage hat folgende Bedeutung. Die Seele der Menschen ist vielgestaltig. Denn sie erkennt durch die Qualität der Sinne die Dinge, die Gegenstand der Sinneswahrnehmung sind, und bereitet sich von ihnen aus durch eine bestimmte begriffliche Betrachtung * Anicii Manlii Severini Boethii In Isagogen Porphyrii Commentorum Editio prima. - Unser Auszug: Buch I, Kap. 10, in: Anicii Manlii Severini Boethii In Isagogen Porphyrii Commenta, hg. v. S. Brandt, CSEL 48, Wien-Leipzig 1906, S. 23-30. - Zitiert als: In Isagogen ed. prim.
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den Weg zu den unkörperlichen Dingen, die erkannt werden sollen, damit ich, wenn ich einzelne Menschen sehe, auch weiß, daß ich diese gesehen habe, und kundtue, daß ich erkannt habe, daß sie Menschen sind. Hierauf erhebt sich also die so in Bewegung gesetzte und durch die Kenntnis der sinnlichen Dinge gleichsam gestärkte Vernunft mittels eines verfeinerten theoretischen Gedankens und begreift bereits die Spezies Mensch selbst, die dem [Genus] Lebewesen angehört und von der man annimmt, daß sie die einzelnen Menschen umfaßt; und die Seele erkennt jenes Unkörperliche, wovon sie zuvor die entsprechenden körperlichen Teile in den einzelnen wahrzunehmenden und zu begreifenden Menschen erfaßt hatte. Denn diesen speziesmäßigen Menschen, der uns alle innerhalb des Umfangs seines Namens umschließt, darf man nicht als körperlich bezeichnen, da wir ihn ja lediglich mit dem Geist und dem Verstand erfassen. Derart wird also der Geist, der nach den Urgründen der Dinge strebt, durch einen tieferen und unvergleichlichen Verstand emporgehoben. Daher ist die Seele nicht nur fähig, die unkörperlichen Dinge mittels der Wahrnehmungsgegenstände zu begreifen, sondern auch selbst etwas zu fingieren und zu erdichten. Deshalb hat der Verstand für sich aus der Form des Pferdes und des Menschen die unwirkliche Spezies der Zentauren gewonnen. Diese Betrachtungen des Geistes also, die von der sinnlichen Wahrnehmung der Dinge zum Verstand vorrückten und entweder begriffen oder wenigstens ersonnen werden, nennen die Griechen φαντασίαι, von uns können sie „Vorstellungen" [visa] genannt werden. So untersucht man also jetzt die Genera, Spezies und so weiter, ob sie als tatsächlich Bestehendes und in gewisser Hinsicht als Wesen und Beständigkeit begriffen werden, wie wir die aus den körperlichen Einzeldingen tatsächlich und unverdorben abstrahierte Spezies Mensch erkennen, oder ob sie vielmehr durch eine Einbildung der Seele erzeugt werden, wie denn jener Vers des Horaz lautet: „Wenn mit dem menschlichen Haupt der Maler einen Pferdehals verbinden will."2 Dies existiert weder, noch wird es sein können; vielmehr wird es allein durch eine irreale Spekulation des Geistes gemalt. Eine sehr scharfsinnige Untersuchung wird auch am meisten der Sache nutzen! Denn man muß wissen, ob diese Dinge wirklich sind, und es ist keine Untersuchung und Betrachtung über sie nötig, wenn sie nicht existieren. Wenn du aber die Wirklichkeit und Gesamtheit der Dinge berücksichtigst, dann gibt es keinen Zweifel, daß sie tatsächlich existieren. Denn weil alle Dinge, die tatsächlich existieren, ohne diese fünf nicht sein können, wirst du keinen Zweifel hegen, daß eben diese fünf Dinge richtig begriffen wurden. Sie sind jedoch mit allen Dingen fest verhaftet und verbunden und in sie eingefügt. Warum hätte Aristoteles denn auch die ersten zehn Ausdrücke, die die Genera der Dinge bezeichnen, erörtert oder deren Differenzen und Propria zusammengestellt und grundsätzlich die Akzidentien abgehandelt, wenn er diese nicht als den Dingen eingeprägte und gewissermaßen mit ihnen vereinte betrachtet hätte? Da es sich nun so verhält, gibt es keinen Zweifel, daß sie tatsächlich existieren und durch eine bestimmte Betrachtung der Seele begriffen
2. Boethius: In Isagogen ed. prim.
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werden. Das wird auch durch die Zustimmung von Porphyrios selbst bewiesen. Denn nachdem er gewissermaßen schon bewiesen und entschieden hat, daß diese tatsächlich bestehen, zögert er nicht, ein neues Problem anzuschließen, wenn er sagt: „ob diese unkörperlich oder körperlich sind." Es wäre eine allzu leichtfertige und absurde Fragestellung, ob sie körperlich wären, wenn nicht zuvor ihr Sein feststünde. Auch diese Untersuchung ist von nicht geringem Wert und sie wird zu folgender Lösung gefuhrt: daß sie unkörperlich sind, da sie ja durch keinen der Sinne erfaßt werden; doch durch die Betrachtung des Geistes lassen sie erhellen, wie sie beschaffen sind. Denn weil die unkörperlichen Dinge die primäre Natur haben, kann ein unkörperliches Ding in gewisser Weise Elter [parens] für ein körperliches sein. Die körperlichen Dinge können jedoch gegenüber den unkörperlichen nicht primär sein. Denn die Substanz ist Genus, Körperliches und Unkörperliches aber sind die Spezies der Substanz, also kann Körperliches nicht Genus sein, so daß das Unkörperliche der Substanz als dem Genus zugeordnet wird. Denn wäre das Körperliche Genus, so könnte man niemals eine in ihm enthaltene unkörperliche Spezies annehmen. Sei also nun hierfür so aufmerksam, wie du noch nie für etwas gewesen bist! Da das Genus Spezies besitzt, die Spezies sich jedoch durch die Differenzen voneinander unterscheiden und durch die eigentümlichen Beschaffenheiten gestaltet werden, und es ja bestimmte Spezies gibt, die wegen einer konträren Einteilung in einem Genus konträre Funktionen innehaben - wie Lebewesen das Vernunftbegabte und Nicht-Vernunftbegabte als konträres Paar umfaßt, zum Vernunftbegabten Sterbliches und Unsterbliches gehört und diese ebenfalls zueinander konträr sind -, so wird folgendes Problem aufgeworfen: wenn das Lebewesen seinem isolierten Begriff nach weder vernunftbegabt noch nicht-vernunftbegabt ist, woher stammen dann diese Differenzen in den Spezies, die zuvor in dem Genus nicht vorhanden waren? Wenn das Genus „Lebewesen" aber beiderlei Dinge in sich hat, so daß es sowohl vernunftbegabt als auch nicht-vernunftbegabt ist, dann ist in Demselben zueinander Konträres enthalten, was ausgeschlossen ist. Ich werde das Problem also kurz angehen und sagen, daß das Genus nicht jedes von beiden ist, das heißt vernunftbegabt oder nicht-vernunftbegabt oder was sonst die Spezies mittels Konträrem untereinander abteilen; vielmehr umfaßt das Genus dies durch seine eigene Kraft und sein eigenes Vermögen, das Genus selbst aber ist nichts davon. Somit ist das Genus also derart beschaffen, daß es selbst weder körperlich noch unkörperlich ist, jedoch beides aus sich heraus hervorbringen kann, was im zweiten Buch besser klar werden wird. Die Spezies ist einmal körperlich, andermal unkörperlich. Denn wenn du den Menschen der Substanz zuordnest, dann nimmst du eine körperliche Spezies an, wenn du aber Gott der Substanz zuordnest, dann eine unkörperliche. So ist es auch bei den Differenzen. Denn wenn sie die Einteilung in körperliche und unkörperliche Spezies bewirken, dann werden sie einmal unkörperlich und zu anderer Zeit körperlich sein. Wenn du zum Beispiel im Unterschied zum Zweifüßigen „vierfußig" sagst, dann liegt eine körperliche
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Differenz vor; wenn du aber von vernunftbegabt gegenüber dem Nicht-Vernunftbegabten sprichst, dann liegt eine unkörperliche Differenz vor. Und die Propria verhalten sich ganz genauso. Denn das Proprium ist ein Äquivalent der Spezies: wenn diese körperlich ist, so wird das Proprium körperlich sein; wenn sie unkörperlich ist, so wird ihr Unkörperliches eignen. Ebenso auch das Akzidens. Denn wenn zu unkörperlichen Dingen etwas als Akzidens hinzukommt, so liegt es auf der Hand, daß es unkörperlich ist - wie das Wissen ζ. B. ein Akzidens in der Seele ist, die selbstverständlich unkörperlich ist; was aber als Akzidens zu körperlichen Dingen hinzukommt, ist natürlich körperlich - so ζ. B. wenn jemand sagt, daß ich als Akzidens krauses Haar habe. Wenn das Genus für sich selbst also nichts von beiden ist, sondern beide Dinge aus sich heraus hervorbringen kann, so werden Spezies, Differenz[en], die Propria und die Akzidentien, so wie sie in die konträren Spezies aufgenommen wurden, anschließend als Körperliches oder Unkörperliches bezeichnet. Aber es gibt solche, für die das Genus in der Einheit seiner Teile betrachtet werden kann, und sie definieren dies als Unkörperliches. Es steht fest, daß diejenigen, die sich so äußern, das Genus nicht in bezug darauf betrachten, was ein jedes Ding auf Grund seiner eigenen Natur darstellt, sondern in Hinsicht darauf, daß es Genus ist. Wenn die Substanz Genus ist, wird sie daher nicht in Hinsicht darauf betrachtet, daß sie Substanz ist, sondern in Hinsicht darauf, daß sie Spezies unter sich hat. Desgleichen wird eine Spezies, wenn sie Körperliches oder Unkörperliches darstellt, nicht im Hinblick darauf betrachtet, was man als Gott oder Mensch bezeichnet, sondern im Hinblick darauf, daß sie einem Genus angehört. In gleicher Weise werden die Differenzen nicht in der Hinsicht betrachtet, was Zweifüßiges oder Vierfüßiges ist, sondern in der Hinsicht, was Differenz ist. Denn ein Vierfüßiges als solches stellt keinerlei Differenz dar, wenn es kein Zweifüßiges gibt, von dem es sich unterscheidet. Daher wird auch nicht das Vierfüßige oder Zweifüßige berücksichtigt, sondern dasjenige, was das Mittlere im Zweifüßigen und Vierfüßigen ist, das heißt die Differenz. So ist es auch bei dem Proprium. Denn dasjenige, was jeweils für ein Ding das Proprium ist, wird insofern als Proprium betrachtet, als es einzig der Spezies zukommt, von der gesagt wird, daß es deren Proprium sei. Denn „zum Lachen fähig" ist nicht als das Lachen ein Proprium des Menschen, sondern insofern, als allein ein Mensch lachen kann. Es ist ohne Zweifel, daß dieses natürlich unkörperlich ist. Schließlich sind die Akzidentien so beschaffen, wie dasjenige, zu dem sie hinzukommen, wie weiter oben gesagt wurde. Diese scheinen dies aber als die Meinung von Porphyrios selbst zu halten. Denn dieser sagt, als ob er es schon für bewiesen hält, daß sie unkörperlich sind: „und ob sie getrennt von den sinnlichen Dingen oder mit ihnen verbunden sind". Denn wenn sich erst einmal herausgestellt hätte, daß sie körperlich sind, wäre es absurd zu fragen, ob die unkörperlichen Dinge abgetrennt von den sinnlichen Dingen sind oder mit ihnen vereinigt, da die sinnlichen Dinge ja selbst Körper sind.
2. Boethius: In Isagogen ed. prim.
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Das Problem ist nun aber dieses: es gibt doch gewisse unkörperliche Dinge, die unter keinen Umständen Körper dulden, wie der Geist [animus] oder Gott; aber auch solche, die ohne Körper nicht sein können, wie die sich den Grenzbestimmungen 3 [der Dinge] anschließende erste Unkörperlichkeit; jedoch auch solche, die in den Körpern existieren und zugleich erlauben, daß sie außerhalb der Körper sind, wie die Seele - es wird also gefragt, von welcher Gattung der Unkörperlichkeit diese fünf Dinge herkommen, ob sie zu denjenigen Dingen gehören, welche völlig vom Körper getrennt werden, oder zu denen, die nicht von den Körpern getrennt werden können, oder zu denen, die bald mit ihnen verbunden, bald von ihnen getrennt werden. Es hat nun aber den Anschein, daß sie sich sowohl abtrennen als auch verbinden lassen. Denn wenn die Unterteilung der körperlichen Dinge über die Genera in die Spezies erfolgt und deren Propria und Differenzen benannt werden, dann gibt es keinen Zweifel, daß dies in bezug auf sinnliche, das heißt körperliche Dinge geschieht. Wenn der Traktat jedoch von unkörperlichen Dingen handelt und durch die fünf Dinge dasjenige unterteilt wird, was körperlich ist, so beziehen die fünf Dinge sich auf die unkörperlichen Dinge. Wenn es sich aber so verhält, dann gibt es keinen Zweifel, daß diese fünf ein und demselben Genus angehören; ebenso, daß sie sowohl getrennt von den Körpern existieren, als auch mit den Körpern verbunden werden können - jedoch derart, daß sie, wenn sie erst einmal mit den Körpern verbunden worden sind, untrennbar von ihnen sind, wenn sie aber mit unkörperlichen Dingen verbunden sind, daß sie dann niemals von ihnen getrennt werden und sie haben jede von beiden Möglichkeiten in sich. Denn wenn sie mit den körperlichen Dingen verbunden werden, dann sind sie so beschaffen, wie jene sich den Grenzbestimmungen anschließende erste Unkörperlichkeit, die sich niemals vom Körper trennt; wenn sie aber mit unkörperlichen verbunden werden, dann sind sie so beschaffen, wie ein Geist, der nie mit einem Körper verknüpft wird.
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ANICIUS MANLIUS SEVERINUS BOETHIUS Kommentar zur „Isagoge" des Porphyrios Zweite Ausgabe*
1.10. Porphyrios aber erwähnt nun, daß er eine Einleitung schreibt, und er dehnt den Traktat auch nicht weiter aus, als es der Charakter einer Unterweisung zuläßt. Er sagt, er wolle von den Schwierigkeiten der tieferen Fragen Abstand nehmen, die einfacheren jedoch mit angemessener Überlegung kurz und bündig durchgehen. Welche die schwierigen Fragen nun sein sollen, die er zurückzustellen versprach, bringt er so zum Ausdruck: „So werde ich es vermeiden, über das folgende Problem zu sprechen, da es sehr tief geht und einer größeren Nachforschung an anderer Stelle bedarf: sind die Genera und Spezies wirklich da oder befinden sie sich nur in den bloßen Gedanken; wenn sie wirklich da sind, sind sie dann Körper oder unkörperlich; sind sie von den Sinnendingen losgetrennt oder existieren sie wirklich in ihnen und in bezug auf sie?"1 Die tieferen Fragen, so sagt er, übergehe ich, um den Leser nicht zur Unzeit mit solchen Fragen zu behelligen und so bei seinen anfänglichen Bemühungen zu verwirren. Um ihn jedoch unter keinen Umständen zur Unachtsamkeit zu verführen und damit der Leser nichts außer dem, was er selbst gesagt hat, weiterhin für unklar hält, hat er gerade das zuvor erwähnt, dessen Problematik er nicht behandeln will. Er fügte es hinzu, um die möglichst deutliche und gründliche Abhandlung dieser Fragen sowie den Leser keinerlei Unklarheit auszusetzen, vielmehr soll der Leser, durch das Wissen sicherer geworden, erkennen, was zu Recht noch als Problem gelten darf. Es handelt sich nun aber um sehr nützliche und im Verborgenen liegende Fragen, die zwar von vielen Gelehrten untersucht, aber von den wenigsten gelöst worden sind, welche er mit Schweigen zu übergehen versprach. Die erste von ihnen ist * Anicii Manlii Severini Boethii in Isagogen Porphyrii Commentorum Editio secunda. - Unser Auszug: B u c h l , Kap. 10-11; Buch III, Kap. 6-7, in: Anicii Manlii Severini Boethii in Isagogen Porphyrii Commenta, hg. v. S. Brandt, CSEL 48, Wien-Leipzig 1906, S. 158-167; 216-225. - Zitiert als: In Isagogen ed. sec.
3. Boethius: In Isagogen ed. sec.
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zum Beispiel diese: alles das, was die Seele begreift, ist entweder in der Natur der Dinge verankert und wird von ihr begrifflich erfaßt und rational beschrieben, oder ist nicht vorhanden und wird von ihr als leeres Phantasieprodukt selbst entworfen; also wird nach der Idee [intellectus] des Genus und des übrigen gefragt, danach, von welcher Art es ist, ob wir also die Spezies und Genera als das begreifen können, was da ist und durch das wir eine wahre Erkenntnis [verum intellectum] gewinnen, oder ob wir uns selbst zum Narren halten, wenn wir uns durch leere Einbildung der Seele Dinge konstruieren, welche nicht da sind. Wenn nun aber ihr Sein [esse] feststünde und wir sagten, daß ihre Erkenntnis aus den Dingen gewonnen wird, die da sind, dann bereitet eine neue, gewichtigere und schwierigere Frage Bedenken, da sich die außerordentliche Schwierigkeit des Beurteilens und Erkennens der Natur des Genus herausstellt. Denn da es notwendig ist, daß alles, was ist, entweder körperlich oder unkörperlich ist, müssen Genus und Spezies zu einer von diesen Bestimmungen gehören. Wie also wird das beschaffen sein, was als „Genus" bezeichnet wird, körperlich oder aber unkörperlich? Denn was es ist, kann nicht genau ausgemacht werden, wenn man nicht erkennt, zu welcher von jenen Bestimmungen man es zu zählen hat. Aber auch wenn dieses Problem gelöst wäre, ist noch nicht alle Unklarheit ausgeräumt. Wenn man nämlich sagt, daß Genus und Spezies unkörperlich sind, dann würde den Intellekt die Frage bedrängen und nach Beantwortung verlangen, ob sie bei den Körpern selbst existieren oder ob sie außerhalb der Körper existierende unkörperliche Subsistenzen sind. Denn es gibt ja zweierlei Formen von unkörperlichen Dingen, die teils außerhalb der Körper existieren können und getrennt von ihnen in ihrer Unkörperlichkeit fortbestehen wie Gott, Geist [mens] und Seele [anima]; teils, obwohl sie unkörperlich sind, dennoch nicht außerhalb der Körper existieren können - wie die Linie, die Fläche, die Zahl oder einzelne Qualitäten, die, wenngleich wir sie als unkörperlich beurteilen, da sie sich keineswegs in drei Dimensionen ausdehnen, dennoch derart in den Körpern sind, daß sie von diesen nicht losgerissen oder abgetrennt werden können oder unter keinen Umständen weiter bestehen, wenn sie von den Körpern abgetrennt worden sind. Wenn es auch schwierig ist, derlei Probleme zu lösen, wo sich doch selbst Porphyrios das versagt hat, so will ich es dennoch versuchen, um weder den Leser in einem beklemmenden Gefühl zu lassen noch selbst Zeit und Mühe mit Dingen zu verschwenden, die außerhalb der eigentlichen Aufgabe aufgegriffen wurden. Zuerst aber möchte ich einiges über die Mehrdeutigkeit des Problems sagen, danach werde ich die Verwicklung der Problematik zu beseitigen und zu entwirren versuchen. Entweder gibt es Genera und Spezies und sie existieren wirklich, oder sie werden durch den Intellekt und das bloße Nachdenken gebildet, aber sein [esse] können Genera und Spezies nicht. Das begreift man aus Folgendem: alles, was zu gleicher Zeit vielen Dingen gemeinsam ist, wird nicht ein Einziges sein können; denn was etwas Gemeinsames ist, gehört vielen Dingen an, wo noch dazu ein und dasselbe Ding zur gleichen Zeit als ganzes in vielen [Dingen] ist. Denn wieviele Spezies es
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auch geben mag, so ist doch in allen das Genus nur ein einziges; und es ist nicht so, daß die einzelnen Spezies von ihm gewissermaßen bestimmte Teile abpflücken; vielmehr besitzen die einzelnen Spezies zur gleichen Zeit das gesamte Genus. Daraus ergibt sich, daß das gesamte Genus in den vielen einzelnen [Spezies] nicht zu gleicher Zeit als ein Eins existieren kann. Denn es kann nicht sein, daß es, wenn es in vielen zur gleichen Zeit als ganzes ist, selbst ein zahlenmäßiges Eins ist. Wenn das aber so ist, dann wird ein Genus nicht ein Eins sein können, woraus folgt, daß es überhaupt Nichts ist: denn alles, was existiert, ist darum, weil es Eins ist. Dies trifft auch auf die Spezies zu. Wenn nun aber ein Genus wie auch eine Spezies als Vieles und nicht als ein zahlenmäßiges Eins da ist, so wird dies nicht ein höchstes Genus sein, sondern ein weiteres übergeordnetes haben, was diese Vielheit durch einen einzelnen ihm eigenen Namen einschließt. Z u m Beispiel gibt es eine gewisse Menge von Lebewesen, die sich in etwas ähnlich sind, ohne jedoch miteinander identisch zu sein: auf Grund ihrer Ähnlichkeit untereinander sind dann ihre Genera zu bestimmen. Analog hat auch das sich auf eine bestimmte Menge beziehende Genus, was als solches vielerlei ist, einen dazugehörigen Ähnlichkeitsbezug [similitudo]; als Genus aber ist es nicht ein [zahlenmäßiges] Eins, da es sich ja auf eine bestimmte Menge bezieht. Zu diesem Genus ist wiederum das entsprechende Genus zu ermitteln; und wenn es gefunden worden ist, dann wird wieder aus dem gleichen Grund wie oben ein drittes Genus aufgespürt. Somit geht die Überlegung notwendig bis ins Unendliche, da es keine Begrenzung des Lehrsystems gibt. Wenn das Genus aber ein zahlenmäßiges Eins ist, so kann es nicht das Gemeinsame [commune] für eine bestimmte Menge sein. Ein ganz bestimmtes Ding ist nämlich - insofern es ein gemeinsames ist - entweder durch Teile und dabei nicht als ganzes gemeinsam, sondern Teile von ihm sind einzelnen Dingen zugehörig; oder es geht mit der Zeit in den Gebrauch von Besitzenden über, u m Gemeinsames zu sein, wie etwa ein gemeinsamer Sklave oder ein Pferd; oder aber es ist zu derselben Zeit ein allen Gemeinsames, jedoch nicht derart, daß es für diejenigen, denen es gemein ist, die Substanz bildet, also etwa wie dies eine Bühne oder ein Schauspiel ist, das für alle Zuschauer ein Gemeinsames ist. Ein Genus kann jedoch auf keine der genannten Weisen ein den Spezies Gemeinsames sein. Denn es muß derart ein Gemeinsames sein, daß es sowohl als Ganzes zu derselben Zeit in den Einzeldingen ist, als auch für diejenigen Dinge, denen es gemein ist, die Substanz darzustellen und zu bilden imstande ist. Insofern es weder ein Einzelnes ist, da es ein Gemeinsames ist, noch Vieles, da ja zu seiner Vielheit ein weiteres Genus zu ermitteln ist, wird es folglich den Anschein haben, daß das Genus überhaupt nicht existiert. Zu dem gleichen Ergebnis muß man auch beim Übrigen kommen. Wenn die Genera und Spezies usw. als bloße Gedanken [intellectus] aufgefaßt werden, ja aber jeder Gedanke entweder aus einem zugrundeliegenden Ding so zustande kommt, daß er diesem adäquat ist, oder aber so, daß er ihm nicht adäquat ist - denn ein Gedanke kann nicht ohne jede Grundlage entstehen - , und wenn die
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Kenntnis von dem Genus, der Spezies und dem Übrigen nun von dem zugrundeliegenden Ding herkommt, und zwar genauso, wie das Ding beschaffen ist, welches erkannt wird, dann sind sie nicht mehr nur im Verstand gegeben, sondern bestehen auch in der Wirklichkeit der Dinge. Andererseits muß untersucht werden, welches ihre Natur ist, denn dies war weiter oben als Problem gestellt worden. Wenn nun zuvor die Kenntnis von dem Genus und dem Übrigen von einem Ding hergenommen wird, jedoch nicht dem Ding adäquat, welches der Kenntnis zugrundeliegt, dann muß der Gedanke, der freilich aus dem Ding gewonnen wird, jedoch nicht auf adäquate Weise, notwendig verkehrt sein. Denn falsch ist dasjenige, das anders, als das Ding ist, begriffen wird. Da die Spezies und das Genus weder sind, noch die Kenntnis von ihnen wahr ist, sobald sie nur gedanklich erfaßt werden, gibt es also keinen Zweifel, daß alle diese Sorgfalt im Erörtern dieser fünf vorliegenden Gegenstände aufzugeben ist, da nun einmal weder ein Ding, das da ist, noch ein Ding, von dem etwas Wahres [unmittelbar] begriffen oder geäußert werden könnte, untersucht wird. I.ll. Darin liegt aber jetzt das Problem hinsichtlich der vorliegenden Gegenstände, das wir, mit Alexander [von Aphrodisias] übereinstimmend, durch folgende Beweisführung lösen werden. Wir sagen nämlich nicht, daß jeder Gedanke, der zwar ausgehend von einem zugrundeliegenden Gegenstand, jedoch nicht so, wie dieser sich selbst verhält, zustande kommt, offenbar notwendig falsch und leer ist. Vielmehr kommt allein in denjenigen Gedanken eine falsche Auffassung und Unsinniges vor, die durch Zusammensetzung entstehen. Denn wenn jemand im Geiste das zusammensetzt und verbindet, was die Natur zu verbinden nicht gestattet, dann wird jeder wissen, daß das falsch ist; so zum Beispiel, wenn jemand in der Einbildung ein Pferd und einen Menschen verbindet und einen Zentauren gestaltet. Wenn dies nun aber durch Teilung und Abstraktion entsteht, dann verhält sich die Sache zwar nicht so, wie der Gedanke ist, jener Gedanke aber ist durchaus nicht falsch. Es gibt nämlich eine Menge von Dingen, die in anderen ihr Sein [esse] haben, von denen sie entweder überhaupt nicht getrennt werden können, oder die, wenn sie getrennt würden, auf keine Weise von wirklicher Existenz sind. Und um uns das mit einem weitverbreiteten Beispiel zu vergegenwärtigen: eine Linie in einem Körper ist natürlich etwas, und das, was sie ist, verdankt sie dem Körper, das heißt, sie erhält ihr Sein durch den Körper. Das wird folgendermaßen gelehrt: wenn sie vom Körper getrennt ist, dann existiert sie nicht wirklich; denn wer hat jemals mit irgendeinem Sinn eine vom Körper getrennte Linie wahrgenommen? Wenn der Geist [animus] jedoch ungeordnete und vermischte Dinge von den Sinnen her in sich aufgenommen hat, dann unterscheidet er diese mit eigener Kraft und Überlegung. Denn das Wahrnehmungsvermögen überträgt uns alle solche unkörperlichen Dinge, die ihr Sein in Körpern besitzen, mit ebendiesen Körpern.
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Der Geist aber, der das Vermögen hat, sowohl Getrenntes zusammenzusetzen als auch Zusammengesetztes aufzulösen, unterscheidet dasjenige, was an Ungeordnetem und mit den Körpern Verbundenem von den Sinnen übermittelt wird, derart, daß er die unkörperliche Natur für sich und ohne die Körper, in welchen sie ihren festen Bestand hat, reflektiert und anschaut. Es gibt nämlich verschiedene Eigenheiten der mit den Körpern vermischten unkörperlichen Dinge, wenngleich sie vom Körper getrennt werden. Die Genera, Spezies und so weiter findet man also in den unkörperlichen Dingen oder in denen, die körperlich sind, vor. Und wenn der Geist sie in den unkörperlichen Dingen entdeckt, dann hält er sofort das Unkörperliche für den Begriff des Genus. Hat er wiederum die Genera und Spezies der körperlichen Dinge genau erkannt, dann trennt er üblicherweise die Natur der unkörperlichen Dinge von den Körpern ab und betrachtet sie für sich allein und rein, so, wie die Form an sich selbst ist. Wenn der Geist daher dieses mit Körpern Vermischte aufnimmt, dann betrachtet und untersucht er das viele Unkörperliche gesondert. Es darf also von niemandem als falsch bezeichnet werden, daß wir in Gedanken eine Linie bilden, indem wir sie so im Geiste erfassen, als ob sie getrennt von den Körpern existiert, wobei sie jedoch nicht getrennt von den Körpern sein könnte. Denn nicht jeder Gedanke, der aus zugrundeliegenden Dingen anders gewonnen wird, als die Dinge sich selbst verhalten, muß für falsch gehalten werden. Vielmehr ist - wie oben schon gesagt wurde - eben deijenige falsch, der dies in [Form] einer Zusammensetzung macht, wie dann, wenn er einen Menschen und ein Pferd vereinigt in der Meinung, daß ein Zentaur existiert. Der dies jedoch in [Form von] Einteilungen, Abstraktionen und Annahmen, ausgehend von den diese tragenden Dingen, macht, ist nicht nur nicht falsch, sondern er allein kann das entdecken, was wirklich in einer Eigenschaft da ist. Solche Dinge sind also in körperlichen und sinnlichen [Dingen], sie werden jedoch getrennt von den sinnlichen begriffen, damit ihre Natur durchschaut und ihre Eigenschaft erfaßt werden kann. Wenn daher Genera und Spezies gedacht werden, dann wird aus den Einzeldingen, in denen diese sind, deren gegenseitige Ähnlichkeit [similitudo] erfaßt und herausgehoben [colligitur], wie zum Beispiel die Ähnlichkeit des Menschentums aus den untereinander verschiedenen einzelnen Menschen erfaßt und herausgehoben wird; und diese durch den Geist gedachte und richtig durchschaute gegenseitige Ähnlichkeit stellt eine Spezies dar; und andererseits verursacht die aus verschiedenen Spezies erkannte gegenseitige Ähnlichkeit, die nur in den Spezies selbst oder in den dazugehörigen Individuen sein kann, ein Genus. Diese sind somit freilich in den Einzeldingen, die Universalien aber werden durch das Denken hervorgebracht; und daher darf man eine Spezies für nichts anderes halten, als einen Gedanken [cogitatio], der aus der substantiellen Ähnlichkeit von sich der Zahl nach unterscheidenden Individuen erschlossen wurde, ein Genus aber als einen Gedanken, der aus der Ähnlichkeit der Spezies erschlossen wurde.2 Diese Ähnlichkeit aber wird sinnlich wahrnehmbar, insofern sie in den Einzeldingen ist, und sie wird begreifbar, insofern
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sie in den Universalien ist; und in gleicher Weise ist sie in den Einzeldingen gegeben, insofern sie sinnlich wahrnehmbar ist, und insofern sie begriffen wird, wird sie allgemein. Sie bestehen also relativ zu den sinnlichen Dingen, werden aber getrennt von den Körpern begriffen. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß zwei Dinge von verschiedener Bedeutung in ein und demselben Zugrundeliegenden enthalten sind, wie etwa eine krumme und eine gebogene Linie; diese Dinge werden, wenngleich sie durch verschiedene Definitionen bestimmt werden und auch ihr Begriff ein verschiedener ist, dennoch in ein und demselben Zugrundeliegenden aufgefunden, denn genau dieselbe Linie, die gebogen ist, ist auch krumm. Die Genera und Spezies, das heißt die Einzelheit [singularitas] und die Allgemeinheit [universalitas], haben genauso nur ein einziges Zugrundeliegendes; jedoch ist es unter dem einen Aspekt ein Universale, insofern es gedacht wird, und unter dem anderen ein Einzelding, insofern es in den Dingen wahrgenommen wird, in denen es sein Sein besitzt. Mit diesen Bestimmungen ist meines Erachtens das gesamte Problem gelöst. Denn unter dem einen Aspekt bestehen die Genera und Spezies wirklich, unter dem anderen aber werden sie begriffen; und sie sind unkörperlich, bestehen aber wirklich in Verbindung mit den sinnlichen Dingen in den sinnlichen Dingen. Sie werden jedoch als für sich selbst Bestehendes begriffen, das nicht in anderen sein Sein hat. Piaton meint nun, daß Genera, Spezies und so weiter nicht nur als Universalien begriffen werden, sondern daß sie auch wirklich da sind und neben den Körpern existieren. Artistoteles glaubt hingegen, daß sie als unkörperliche sowie allgemeine Dinge gedacht werden, jedoch in den sinnlichen Dingen wirklich existieren. Ich halte es nicht für angebracht, über deren Auffassungen ein entscheidendes Urteil zu fällen, denn das geht die höhere Philosophie an. Dennoch sind wir intensiver der Auffassung des Aristoteles gefolgt, j edoch nicht darum, weil wir diese am meisten gutheißen, sondern darum, weil dieses Werk über die „Kategorien" geschrieben wurde, deren Autor Aristoteles ist.
III.6. „Demgemäß bestimmt man das oberste Genus so: ,was Genus ist, ohne Spezies zu sein', und weiter: ,vor dem es kein darüber hinausgehendes Genus mehr gibt'. Die unterste Spezies bestimmt man so: ,was Spezies ist, ohne Genus zu sein', und: ,was Spezies ist, ohne in Spezies geteilt zu werden', und: ,was über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes im Hinblick auf das Was prädiziert wird'. Das Mittlere aber zwischen den Extremen nennt man die subalternen Spezies und Genera und jede von ihnen gilt sowohl als Spezies wie als Genus, natürlich in jeweils anderer Hinsicht. Denn die den untersten Spezies vorgeordnet sind und bis zum obersten Genus aufsteigen, werden sowohl als Genera, Spezies wie auch als subalterne Genera prädiziert - wie zum Beispiel Agamemnon sowohl ein Atride, ein Pelopide, ein Tantalide und ein endlich ein Sohn des Zeus heißt." 3
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Nachdem er die Natur und den Unterschied der Genera und Spezies gezeigt hat, bespricht er die Ordnung ihrer Definition und Beschreibung. Zuerst fuhrt er natürlich den Terminus des „obersten Genus" an, und sagt, daß das oberste Genus das sei, was Genus ist und dabei kein übergeordnetes Genus besitzt, das bedeutet, welches keine Spezies ist; und weiter: „vor dem es kein darüber hinausgehendes Genus mehr gibt". Denn wenn es ein weiteres Genus hätte, dann könnte es überhaupt nicht als „oberstes Genus" bezeichnet werden. Die unterste Spezies bestimmt er jedoch so: „was Spezies ist, ohne Genus zu sein"; er bestimmt sie durch das genaue Gegenteil, da man die Teile eines Gegensatzes mitunter durch das jeweilige Gegenteil beschreibt. Da die Überordnung der Unterordnung entgegengesetzt ist - ein Genus aber übergeordnet, eine Spezies jedoch untergeordnet wird -, und wenn es deshalb ein erstes Genus geben wird, weil es derart vorangestellt wird, daß es überhaupt nicht untergeordnet wird, so wird es deshalb auch eine letzte Spezies geben, weil sie so untergeordnet wird, daß sie nicht mehr übergeordnet werden kann. Somit wurde die Definition von Teilen eines Gegensatzes richtig durch das jeweilige Gegenteil gewonnen. Wiederum gibt es auch eine andere Beschreibung: „was Spezies ist, ohne in Spezies eingeteilt zu werden", das heißt, was nicht Genus sein kann. Denn wenn jedes Genus ein Genus von Spezies ist, und wenn etwas nicht in Spezies eingeteilt wird, dann wird es nicht Genus sein können. Es gibt aber auch noch eine andere Definition: „was über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes im Hinblick auf das Was prädiziert wird." Von dieser Definition ist weiter oben des öfteren die Rede gewesen. Jetzt gilt es, seine Aufmerksamkeit auf folgendes zu richten: Wenn, wie eben gesagt wurde, ein einziges Individuum Zugrundeliegendes für eine Spezies sein kann - wie für den Phönix 4 sein eigenes Individuum, für die Sonne dieser strahlende Körper und wie für die Welt und den Mond, deren Spezies [lediglich] ihren einzelnen Individuen übergeordnet werden -, wie kann es dann stimmen, wenn man sagt, daß eine Spezies dasjenige ist, was über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes in Hinsicht auf das Was ausgesagt wird? Es gibt nämlich Spezies, die überhaupt nicht von Dingen ausgesagt werden, die sich der Zahl nach unterscheiden, wie der Phönix, die Sonne, der Mond und die Welt. Für sie gilt jedoch jene Überlegung, von der wir auch weiter oben schon einiges wiedergegeben haben und die die Schwierigkeit des Problems unter nur geringer Abwandlung sehr bequem auflöst. Alles, was den untersten Spezies zugeordnet ist, ist entweder unendlich viel oder von begrenzter Zahl oder ein Einzelnes. Solange es nur ein Individuum ist, bleibt die Spezies ewig fortbestehen, und auch durch die Verminderung [der Anzahl] der Individuen wird die Spezies nicht vernichtet, solange nur irgendeines verbleibt. Denn, wie schon gesagt wurde, werden Individuen, auch wenn sie mehrere sind, keine substantiellen Differenzen besitzen. Das kann jedoch nicht für das Genus gesagt werden, das demjenigen übergeordnet ist, was voneinander durch eine substantielle Differenz geschieden ist; denn es ist den Spezies übergeordnet, welche von unterschiedlichen Differen-
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zen geprägt werden. Verschwände nur eine einzige von ihnen und würde der Daseinsgrund auf die Einzigkeit einer Spezies reduziert, dann könnte es kein Genus sein, da es ja über das prädiziert wird, was sich hinsichtlich der Spezies unterscheidet. Nicht so bei den Spezies. Wenn die Natur aller Individuen vernichtet wäre und die Prädikation der übergeordneten Spezies sich auf die Singularität eines Individuums reduzierte, so existiert die Spezies dennoch und besteht auch weiter fort. Diejenigen, welche verschwinden und fehlen, sind nämlich genauso beschaffen, wie dasjenige, was weiter fortbesteht und die Basis bildet. Wenn wir jedoch sagen, daß eine Spezies über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes prädiziert wird, dann wird das zutreffend auf zweierlei Weise seine Erklärung finden: einmal, weil es bei weitem mehr Spezies gibt, die über zahlreiche Individuen prädiziert werden, als solche, denen anscheinend nur ein einziges Individuum untergeordnet ist; dann darum, weil vieles als Möglichkeit ausgesprochen wird, weil es aktuell nicht immer so ist - wie der Mensch als lachend bezeichnet wird, auch wenn er gar nicht lacht; denn er kann ja lachen. In dieser Weise also wird die Spezies über zahlenmäßig Verschiedenes prädiziert, und nichtsdestoweniger würde „Phönix" über mehrere Phönikes prädiziert werden, wenn es mehrere gäbe, als jetzt, wo man sagt, daß es nur einen einzigen gäbe. Genauso wird die Spezies der Sonne jetzt über die eine Sonne prädiziert, die wir kennen; wenn im Geist und im Gedanken jedoch mehrere Sonnen ausgedacht werden, dann wird der Name „Sonne" nichtsdestoweniger über mehr Sonnenindividuen prädiziert werden, als über diese einzige. Deshalb sagt man also, daß Spezies über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes prädiziert werden, wenn es auch einige gibt, die [nur] über einzelne Individuen prädiziert werden. Die als „subaltern" bezeichneten Genera kann man folgendermaßen definieren: ein subalternes Genus ist dasjenige, was sowohl Genus als auch Spezies sein kann; das stimmt mit den Verhältnissen in den Familien überein, die zeugen und gezeugt werden, wie es auch das angegebene Beispiel zeigt: „wie zum Beispiel Agamemnon sowohl ein Atride, ein Pelopide, ein Tantalide und endlich ein Sohn des Zeus heißt." Atreus als Sohn des Pelops und damit gleichsam eine Spezies von diesem ist gewissermaßen das Genus des Agamemnon. Ferner ist Agamemnon ein Pelopide und Tantalide, weil Pelops im Vergleich zu Tantalos und Tantalos im Vergleich zu Zeus gewissermaßen Spezies und Tantalos für Pelops, wie Pelops für Atreus offenbar Genera zu sein scheinen, wobei Zeus die Rolle des obersten Genus für sie spielt. III.7. „Aber bei den Stammbäumen führt man den Ursprung in der Regel auf Einen - zum Beispiel auf Zeus - zurück, bei den Genera und Spezies verhält es sich jedoch nicht so. Denn das ,Seiende' ist nicht das gemeinsame einheitliche Genus von allem, noch gehört alles zu ein und demselben Genus mit Bezug auf ein höchstes Genus, wie es auch Aristoteles sagt. Sollen nun - wie in den,Kategorien' verlautet - die ersten zehn Genera als die zehn Ersten Prinzipien gelten; obgleich
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man alles,Seiendes' nennt, so wird man sie - so sagt er - im homonymen und nicht im synonymen Sinne so nennen. Denn wäre das,Seiende' das einheitliche gemeinsame Genus von allem, so würde alles im synonymen Sinne ,Seiendes' genannt werden. Da aber die ersten Genera zehn an der Zahl sind, so erstreckt sich die Gemeinschaftlichkeit [zwischen ihnen] nur auf den Namen, nicht aber auch auf den zum Namen gehörenden Begriff."5 Als er über die subalternen Genera sprach, gebrauchte er das Beispiel eines bestimmten Stammbaumes, der von Agamemnon bis Zeus geht, den er aus Ehrfurcht für die Gottheit als höchsten angenommen hat. Nach den älteren Theologen wird Zeus (Jupiter) jedoch auf Saturn, Saturn auf Caelus und Caelus wieder auf den uralten Ophion zurückgeführt, 6 der keinen weiteren Ursprung hat. Damit man nun nicht glaubt, daß dasjenige, was bei den Stammbäumen gilt, auch bei den Dingen so sei, so daß alle Dinge auf einen einzigen Ursprung für ihren Namen zurückgehen könnten, deshalb sagt er mit Bestimmtheit, daß das bei den Genera und Spezies nicht so sein kann; denn es kann nicht für alle Dinge ebenso einen einzigen Ursprung geben, wie für jeden beliebigen Stammbaum. Es gab nämlich manche, die an dieser Meinung festhielten und glaubten, daß es ein einziges Genus für alle existierenden Dinge gebe, das sie „Seiendes" nannten, abstrahiert von dem, was wir als „ist" bezeichnen. Denn alles ist und über alles wird das Sein prädiziert. Daher ist die Substanz, und auch die Qualität ist, wie weiter von der Quantität und vom Übrigen gesagt wird, daß es ist. Von diesen wäre nun aber auch keines behandelt worden, wenn nicht feststünde, daß das, was man die „Kategorien" nennt, existiert. Deshalb haben jene angenommen, daß das „Seiende" das letzte Genus von allem sei, daß es nämlich über alles prädiziert wird. Sie haben jedoch, von dem ausgehend, was wir als „ist" bezeichnen, das Partizip gebildet und es lateinisch „ens" genannt nach dem griechischen Wort „öv". Aristoteles, der beste Sachkenner, widerspricht jedoch dieser Auffassung und hält es nicht für möglich, alle Dinge auf einen einzigen Urgrund zurückzuführen. Er ist vielmehr der Meinung, daß es in den Dingen zehn Genera gibt, die ebendarum, weil sie von sich aus voneinander verschieden sind, auf keinen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden können. Als diese zehn Genera aber hat er angegeben: die Substanz, die Qualität, die Quantität, das „in bezug a u f , das „Wo", „Wann", die Lage, das Wirken, das Leiden und das Haben. Was sich jedoch ergab, nachdem von ihnen allen das Sein prädiziert worden ist - denn von allen oben aufgezählten Genera wird gesagt, daß sie sind -, hat er mit der Bemerkung zurückgewiesen, daß nicht jeder allgemeine Name auch ein allgemeines Wesen bildet und man nicht meinen darf, ein allgemeines Genus müsse deshalb existieren, weil über gewisse Dinge ein allgemeiner Name prädiziert wird.7 Diejenigen Dinge, auf die eine Definition mit gemeinsamem Namen zutrifft, werden auf Grund des gemeinsamen Namens als Spezies angesehen werden und über sie wird dieses Wort synonym prädiziert; für diejenigen aber, auf die das nicht zutrifft, ist nur das Wort gemeinsam, ein Wesen jedoch nicht. Das wird aber in
3. Boethius: In Isagogen ed. sec.
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folgender Weise besser durch Beispiele klar: Wir können voraussetzen, daß Lebewesen sowohl Genus des Menschen als auch des Pferdes ist; folglich können wir auch die Definition des Lebewesens angeben, welche lautet: „wahrnehmungsfähige, beseelte Substanz"; wenn wir sie auf den Menschen anwenden, so wird der Mensch eine „wahrnehmungsfähige beseelte Substanz", ohne daß die Definition mit irgendwelcher Falschheit befleckt würde. Wenn wir sie aufs Pferd anwenden, dann wird das Pferd eine „wahrnehmungsfähige beseelte Substanz", und auch das ist wahr. Diese Definition trifft also sowohl auf das Lebewesen zu, welches Mensch und Pferd gemein ist, wie auch auf das Pferd und den Menschen, die als Spezies des Lebewesens gelten. Hieraus folgt, daß sowohl Mensch als auch Pferd synonym als „Lebewesen" bezeichnet werden. Wenn aber jemand einen gemalten und einen lebenden Menschen mit dem gemeinsamen Namen „Lebewesen" bezeichnet, so mag er nach Belieben das Lebewesen in der Weise definieren, daß es ein „beseeltes und auch empfindsames Wesen" sei. Diese Definition trifft zwar auf den Menschen zu, der lebendig ist, auf den aber, der gemalt ist, mitnichten. Denn dieser ist kein beseeltes Wesen. Auf den lebendigen und den gemalten Menschen, die eine gemeinsame nominelle Definition haben, das heißt die des Lebewesens, kann das also nicht zutreffen: Lebewesen ist kein gemeinsames Genus, sondern nur ein gemeinsames Wort, und der Name „Lebewesen" wird für den lebendigen und den gemalten Menschen auch nicht als Genus, sondern als ein Wort ausgesagt, das mehreres bezeichnet; ein Wort, das mehreres bezeichnet, nennt man aber „homonym", wie andererseits dasjenige Wort, das ein Genus anzeigt, als „synonym" bezeichnet wird. Daher wird das, was als „Seiendes" bezeichnet wird, wenngleich es von allen Kategorien ausgesagt wird, deshalb, weil von ihm trotzdem keine Definition gefunden werden kann, die auf alle Kategorien zutreffen kann, nicht synonym über die Kategorien prädiziert - das heißt als Genus -, sondern homonym - das heißt als ein Wort, das mehreres bezeichnet. Daß das „Seiende" kein Genus der Kategorien sein könne, wird auch durch den folgenden Beweis unwiderlegbar klar. Von einem einzigen Ding kann es nämlich nicht zwei Genera geben, wenn nicht das eine dem anderen untergeordnet ist, wie sowohl Lebewesen als auch Beseeltes ein Genus des Menschen ist, da das Lebewesen dem Beseelten als Spezies untergeordnet wird. Wenn sich zwei einander jedoch derart gleich sind, daß das eine nicht dem anderen untergeordnet werden kann, dann können diese beiden nicht für ein und dieselbe Spezies Genera sein. Es kann also weder das „Seiende" dem „Eins", noch das „Eins" dem „Seienden" untergeordnet werden; und man kann auch das „Seiende" nicht als Genus des „Eins" bezeichnen, und ebenso auch nicht das „Eins" als Genus dafür, was wir als „Seiendes" bezeichnen. Denn was man als „Seiendes" bezeichnet, ist Eins, und was man als „Eins" bezeichnet, ist Seiendes; Genus und Spezies wandeln sich jedoch keineswegs ineinander um. Wenn „Seiendes" also über alle Kategorien prädiziert wird, dann auch das „Eins". Denn die Substanz ist Eins, ebenso die Qualität, die Quantität
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und auch das Übrige. Wenn es also so ist, dann wird das „Sein", da es ja über alles prädiziert wird, das Genus von allem sein, und ebenso das „Eins", da es ja über alles prädiziert wird. Wie aber nachgewiesen wurde, werden „Eins" und „Seiendes" einander nicht übergeordnet - es gibt also für die einzelnen Kategorien zwei gleiche Genera, was nicht sein kann. Weil sie also so sind, hat Porphyrios jenes mit Entschiedenheit verkündet, als er sagte, daß in den Dingen nicht so, wie in den Stammbäumen, alles auf einen einzigen Ursprung zurückgeführt werden kann und es auch kein gemeinsames Genus für alle Dinge geben könne, wie es auch Aristoteles meint: „Sollen nun", so sagt er, „wie in den ,Kategorien' verlautet, die ersten zehn Genera als die zehn Ersten Prinzipien gelten." Das heißt, daß man danach keinem weiteren Grund nachgehen soll, daß wir vielmehr im Vertrauen auf die Autorität des Aristoteles glauben mögen, daß diese zehn Genera keinem anderen Genus untergeordnet sind. Wenn jemand diese als „Seiende" bezeichnet, dann bezeichnet er sie homonym, nicht synonym. Und es kann auch von ihnen allen keine einzige Definition mit Rücksicht auf einen gemeinsamen Namen nachgewiesen werden. Dies bedingt, daß über sie nichts synonym prädiziert wird. Denn würde etwas synonym prädiziert werden, so wäre ihr gemeinsamer Name ein Genus, das über alle prädiziert wird; und wenn es ein Genus wäre, dann träfe die Definition des Genus auf die Spezies zu. Weil es dies aber nicht gibt, ist dieses ihnen Gemeinsame, was wir als „Seiendes" bezeichnen, ein Wort mit der Funktion eines Namens und nicht mit der Bedeutung einer Substanz.
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ANICIUS MANLIUS SEVERINUS BOETHIUS Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien"*
BUCH Ι [...] Und es besteht auch kaum ein Zweifel, auf welchen Teil der Philosophie die Intention dieses Werkes zielen soll, da ja deqenige, der die Bedeutung tragenden Wörter behandelt, sodann auch in gewissem Maß die Dinge behandeln wird. In der Tat sind das Ding und die Bezeichnung der Dinge verbunden; vorrangiger wird jedoch die Darlegung sein, welche die sprachlichen Ausdrücke betrifft, an zweiter Stelle aber wird jene gesetzt, die den Zusammenhang der Dinge betrifft. Darum, weil jede logische Kunst die Rede betrifft, wird auch in diesem Werk prinzipiell von den Wörtern gehandelt - wenngleich es eine Beziehung dieses Werkes auch zu anderen Teilen der Philosophie geben mag. Dennoch wird es grundsätzlich auf die Logik bezogen, über deren einfache Elemente, d. h. die Ausdrücke, ich hier bereits grundsätzliche Darlegungen gemacht habe. [.. ,]1 Als Problem verbleibt der Titel [des Werkes von Aristoteles], der verschieden gewesen ist. Die einen nämlich wählten den Titel „Von den Dingen", die anderen jedoch „Von den Genera der Dinge", es hat sie aber ein und derselbe Fehler in Verwirrung gebracht. Denn - wie wir verkündet haben - liegt in diesem Werk keine Abhandlung über die Genera der Dinge, noch über die Dinge vor, sondern eine über die Ausdrücke [sermones], welche die Genera der Dinge bezeichnen. Das hat Aristoteles aber auch selbst verkündet, wenn er sagt: „Jegliches von demjenigen, was ohne irgendeine Verknüpfung gesagt wird, bezeichnet entweder eine Substanz, eine Quantität,.. ."2 Hätte er eine Einteilung von Dingen gebracht, so hätte er nicht gesagt „bezeichnet", denn ein Ding wird bezeichnet, bezeichnet selbst jedoch nicht. Das gewichtigste Argument dafür, daß Aristoteles nicht die Dinge, sondern die sprachlichen Ausdrücke betrachtet, die die Dinge bezeichnen, ist das, was er im folgenden sagt: „Nichts von dem Genannten wird also von sich aus in einer Aussage * Anicii Manlii Severini Boetii In Categorias Aristotelis libri quatuor. - Unser Auszug: Buch I (teilw.), in: PL 64, Paris 1847, Sp. 161C-D; 162 A - D ; 169 B-175 B; 182 C-184 B. - Zitiert als: In Categorias.
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gesagt, jedoch entsteht durch eine gegenseitige Verknüpfung von ihnen eine Aussage."3 Wenn die Dinge nämlich verbunden werden, so bringen sie auf keine Weise eine Aussage [affirmatio] zustande, denn eine Aussage kommt in der Rede [oratio] vor. Daher behandelt eine Darstellung der Kategorien nicht die Dinge, sondern die Worte, insofern verknüpfte Kategorien eine Aussage erzeugen - eine Aussage aber existiert ausschließlich in der Rede; bei demjenigen aber, was verbunden wird, damit eine Aussage da ist, handelt es sich um die bezeichnenden Worte für die Dinge. Man hat also fälschlich die Überschriften „Von den Dingen" oder „Von den Genera der Dinge" gebraucht. Andere bemerkten, daß dieses Werk vor der „Topik" gelesen werden muß, was völlig abwegig ist. Denn warum nicht viel eher von der „Physik"? Wäre aber der Nutzen dieses Werkes in der „Physik" etwa geringer, wo ja die „Erste Analytik" vor der „Topik" gelesen wird und vor der „Ersten Analytik" das Werk „Peri hermeneias" zur Kenntnis des Anfängers gelangt, und warum betitelt man dieses Werk nicht viel mehr mit „Vor Peri hermeneias" oder „Vor der Ersten Analytik"? Darum ist auch diese Auffassung über den Titel abzuweisen und es ist folgendes festzustellen: da es zehn erste Genera der Dinge gibt, muß es auch zehn einfache Worte geben, die über die zugrundeliegenden Dinge ausgesagt werden können; denn alles, was bezeichnet, wird über das Ding ausgesagt, das es bezeichnet; folglich mußt das Werk mit dem Titel „Über die zehn Kategorien" versehen werden. Jemand mag aber entgegenhalten: wenn diese Darstellung die die Dinge bezeichnenden Worte betrifft, warum erörtert sie dann eben diese Dinge? Hierzu muß gesagt werden: da die Dinge immer mit einer eigenen Bezeichnung verbunden sind, wird alles, was die Dinge betrifft, genauso auch in den Wörtern für die Dinge vorgefunden. Deshalb setzt jemand, der die Wörter behandelt, ganz zu Recht die Eigenheit der bezeichnenden Wörter in Bezug zu den Objekten, die bezeichnet wurden, das heißt zu den Dingen. [...] „Vom Seienden wird das eine über ein Zugrundeliegendes ausgesagt, ist aber in keinem Zugrundeliegenden, wie zum Beispiel,Mensch' zwar über ein Zugrundeliegendes - einen bestimmten Menschen - ausgesagt wird, jedoch in keinem Zugrundeliegenden ist; das andere aber ist zwar in einem Zugrundeliegenden, wird aber über kein Zugrundeliegendes ausgesagt. Unter ,Sein in einem Zugrundeliegenden' aber verstehe ich, was in etwas, nicht aber als dessen Teil ist, dabei jedoch unmöglich ohne das sein kann, worin es ist - wie eine gewisse Grammatik zwar in einem Zugrundeliegenden - in der Seele - ist, jedoch nicht über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird. Und auch ein bestimmtes Weiß ist zwar in einem Zugrundeliegenden, das heißt in einem Körper (denn jede Farbe ist in einem Körper), wird jedoch über kein Zugrundeliegendes ausgesagt. Anderes wieder wird sowohl über ein Zugrundeliegendes ausgesagt, wie es auch in einem Zugrundeliegenden ist: wie Wissenschaft in einem Zugrundeliegenden - der Seele - ist, und über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird, wie ζ. B. über die Grammatik. Anderes wieder ist weder in einem Zugrundeliegenden, noch wird es über ein Zugrundeliegendes ausgesagt,
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wie zum Beispiel irgendein Mensch und irgendein Pferd: nichts dergleichen ist in einem Zugrundeliegenden oder wird über ein Zugrundeliegendes ausgesagt. Schlechthin werden aber die Individuen und das zahlenmäßig Eine über kein Zugrundeliegendes ausgesagt. Dem, daß einige davon in einem Zugrundeliegenden sind, steht aber nichts entgegen, denn eine bestimmte Grammatik gehört zu dem, was in einem Zugrundeliegenden ist, jedoch über kein Zugrundeliegendes ausgesagt wird."4 Hier faßt Aristoteles die Anzahl aller Ausdrücke in einer kleinsten Einteilung zusammen. Da er die Wörter für die Dinge in zehn Kategorien aufgeteilt hat, kann eine größere Einteilung als diese nicht gefunden werden. Denn es kann nichts geben, was dieser Einteilung als elftes hinzugefügt werden könnte. Jegliches Ding ist nämlich entweder Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Wirken, Leiden, Zeit, Raum, Haben oder Lage. Deshalb wird es auch genauso viele Ausdrücke geben, die dieses bezeichnen, und dies ist die größte Einteilung, zu der nichts mehr hinzugefügt werden kann. Die kleinste aber ist diejenige, welche aus vier Teilen besteht, das heißt Substanz, Akzidens, Universales und Partikuläres. Denn jedes Ding ist entweder Substanz, Akzidens, universal oder partikulär. Wie also zu den zehn oberen nichts hinzugefügt werden konnte, so kann von diesen vier nichts weggenommen werden. Denn es kann weder irgendeine kleinere Einteilung als in diese vier geben, noch können die Kategorien einen Umfang über die Grenze von zehn hinaus erhalten. Warum nun aber die Einteilung in diese vier gemacht worden ist, werde ich ein wenig erläutern. Die erste Einteilung aller Dinge ist natürlich die in Substanz und Akzidens. Eine Substanz kann aber nur ausgesagt werden, wenn sie universal oder partikulär begriffen wird - denn wenn ich „Mensch" sage, habe ich ein universales Ding [res universalis] ausgesprochen, weil dieser Begriff über viele Individuen ausgesagt wird; wenn ich aber „Sokrates" oder „Piaton" sage, dann habe ich ein partikuläres Ding [res particularis] ausgesprochen, da „Sokrates" lediglich von einem einzigen Zugrundeliegenden ausgesagt wird. Ebenso auch das Akzidens - denn wenn ich „Wissenschaft" sage, so habe ich ein universales Ding erwähnt, weil „Wissenschaft" sowohl über die Grammatik, Rhetorik als auch alle anderen [Disziplinen] prädiziert wird, die ihr untergeordnet sind; wenn ich aber „Piatons Wissen" gesagt habe, dann nenne ich ein partikuläres Wissen, da ja jedes Akzidens, was Individuen betrifft, selbst ein Individuum wird und Piatons Wissen wie auch Piaton selbst ein partikuläres [Ding] ist. Es wurde also die Einteilung in vier zu Recht gemacht, da ja die Substanz und auch das Akzidens immer nur dann ausgesagt werden können, wenn sie in ihrem Begriff über die Kraft der Universalität oder Partikularität verfügen, als ob gleichsam jedes Ding entweder Substanz oder Akzidens ist und es von diesen entweder ein universales oder ein partikuläres gibt. Aus diesen vier entstehen also die Verknüpfungen. Denn wenn die Universalität zur Substanz hinzukommt, entsteht eine universale Substanz [universalis substantia], wie zum Beispiel „Mensch"
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oder „Lebewesen". Das Universale aber ist dasjenige, was geeignet ist, über vieles prädiziert zu werden.5 Das Partikuläre wieder ist dasjenige, was nicht über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird. Folglich gibt es eine Verknüpfung der Universalität und der Substanz, d. h. die universale Substanz. Wenn aber die Partikularität mit der Substanz verbunden wird, ergibt sich eine partikuläre Substanz [substantia particularis], wie ζ. B. Sokrates oder Piaton und alles das, was sich von der Substanz her als Individuum erweist. Und wenn die Universalität mit dem Akzidens vereinigt wird, entsteht das universale Akzidens [accidens universale], wie ζ. B. die Wissenschaft, die - wenngleich sie ein Akzidens ist und auch nicht neben der Seele, zu der sie hinzukommt, existieren kann - dennoch universal ist, da sie über die Grammatik bzw. eine andere Spezies [von Disziplinen] als Zugrundeliegendem ausgesagt werden kann. Wenn aber die Partikularität mit einem Akzidens verbunden wird, entsteht ein partikuläres Akzidens [accidens particulare], wie zum Beispiel Piatons oder Aristoteles' Wissen. Es gibt somit vier Verknüpfungen: die universale Substanz, die partikuläre Substanz, das unversale Akzidens und das partikuläre Akzidens. Es kann jedoch nicht sein, daß ein Akzidens zur Natur der Substanz oder eine Substanz zum Akzidens wird; wohl tritt ein Akzidens zur Substanz hinzu, jedoch nicht mit der Folge, daß es zur Substanz wird, denn wenn eine Farbe, die ein Akzidens darstellt, zur Substanz hinzutritt, so ist die Farbe deswegen noch nicht eine Substanz. Und eine Farbe wird auch dadurch nicht zur Substanz, daß eine Substanz die Farbe aufnimmt. Darum wird weder eine Substanz zur Natur eines Akzidens, noch ein Akzidens zur Natur einer Substanz. Aber auch die Partikularität und die Universalität verwandeln sich nicht ineinander. Denn die Universalität kann über die Partikularität prädiziert werden - wie etwa das Lebewesen über Sokrates oder Piaton -, und die Partikularität nimmt die Universalität an, jedoch nicht mit der Folge, daß die Universalität Partikularität ist, wie auch nicht umgekehrt, d. h. daß das, was ein Partikuläres ist, zur Universalität wird. Indem Aristoteles also vier Verknüpfungen aufzustellen beabsichtigt, d. h. universale Substanz, universales Akzidens, partikuläre Substanz und partikuläres Akzidens, gibt er nicht deren begriffliche Bezeichnungen, sondern deren Umschreibungen an. Und da man ja von den obersten Genera keine Definitionen ermitteln konnte, bediente er sich der folgenden Umschreibungen: er sagt, daß die Substanz dasjenige sei, was nicht in einem Zugrundeliegenden wäre, das Akzidens aber dasjenige, was in einem Zugrundeliegenden wäre. Denn jegliches Akzidens ist in einem Zugrundeliegenden, wie die Farbe im Körper, das Wissen in der Seele, und jedes Akzidens besitzt eine zugrundeliegende Substanz. Wenn nämlich jemand die Substanz aufhebt, dann wird es kein Akzidens geben. Deshalb ist die Substanz gewissermaßen ein bestimmter Ort, wo es der Natur des Akzidens möglich ist, zu bestehen. Die Substanz selbst aber besteht durch sich selbst. Daher wird sie auch als „substantia" („Bestand") bezeichnet. Ferner ruht sie auch nicht auf irgendeinem anderen Zugrundeliegenden, sondern ist für alles selbst „der Bestand". Andernfalls
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wäre die Substanz ein Akzidens, wenn sie in irgendeinem Zugrundeliegenden sein könnte. Denn jedes Akzidens ist in einem Zugrundeliegenden, und alles, was in einem Zugrundeliegenden ist, ist ein Akzidens. Hieraus folgt, daß eine Substanz, wäre sie in irgendeinem Zugrundeliegenden, sofort zum Akzidens würde; jedoch kann eine Substanz kein Akzidens sein, wie wir weiter oben gezeigt haben. Darum, weil ein Akzidens in einem Zugrundeliegenden ist, eine Substanz aber kein Akzidens ist, ist also eine Substanz nicht in einem Zugrundeliegenden. Die Umschreibung der Universalität aber ist „über ein Zugrundeliegendes prädiziert werden". Denn jede Universalität wird über partikuläre zugrundeliegende Dinge prädiziert. Da ja „Lebewesen" oder „Mensch" ein Universale ist, wird es über Sokrates und Piaton prädiziert. Denn Sokrates wird als „Lebewesen" und „Mensch" bezeichnet. Und weil die Wissenschaft ein universales Akzidens ist, wird sie über die Grammatik als Zugrundeliegendem prädiziert; denn die Grammatik ist eine Wissenschaft. Die Partikularität aber wird über kein Zugrundeliegendes prädiziert, da sie ja das Äußerste von den Dingen ist und es für sie kein Zugrundeliegendes gibt. Denn da die Universalität über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird, die Partikularität aber keine Universalität ist, wird die Partikularität nicht über ein Zugrundeliegendes prädiziert werden. Denn wo sich die Dinge unterscheiden, wird auch die Definition verschieden sein. So auch bei diesen: da ja Substanz und Akzidens verschieden sind, werden auch die Definitionen von ihnen verschieden sein. Und da ein Akzidens in einem Zugrundeliegenden ist, wird die Substanz in einem Zugrundeliegenden sein; da ferner die Universalität über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird, die Partikularität jedoch von der Universalität verschieden ist, wird sie auch nicht über ein Zugrundeliegendes prädiziert. Solcherart Umschreibung hat Aristoteles also in der folgenden Weise vereint, wenn er sagt: „Vom Seienden wird das eine über ein Zugrundeliegendes ausgesagt, ist aber in keinem Zugrundeliegenden", und er will damit die universale Substanz vorführen. Denn was er „wird über ein Zugrundeliegendes ausgesagt" nennt, ist das Universale, was er jedoch mit „ist in keinem Zugrundeliegenden" sagt, ist eine Substanz; wenn er also sagt, daß etwas über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird, aber in keinem Zugrundeliegenden ist, dann will er eine universale Substanz vorführen; wie ja des öfteren gesagt wurde, daß dasjenige, was über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird, ein Universale ist, und dasjenige, was in keinem Zugrundeliegenden ist, eine Substanz ist. Dieses verbunden, d. h. „über ein Zugrundeliegendes ausgesagt werden" und „in keinem Zugrundeliegenden sein", fuhrt es die universale Substanz vor. Auf die universale Substanz folgend hat er das partikuläre Akzidens gesetzt, indem er sagt: „Anderes aber ist zwar in einem Zugrundeliegenden, wird aber über kein Zugrundeliegendes ausgesagt." Was er „ist in einem Zugrundeliegenden" nennt, zeigt das Akzidens an; was er aber hinzugefügt hat, d. h. „wird aber über kein Zugrundeliegendes ausgesagt", zeigt das Partikuläre an. Denn ein Akzidens ist in einem Zugrundeliegenden und eine Partikularität wird
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über kein Zugrundeliegendes prädiziert. Mag ein Ding also in einem Zugrundeliegenden sein; wenn es jedoch über kein Zugrundeliegendes prädiziert wird, dann ist es ein partikuläres Akzidens - wie zum Beispiel eine bestimmte Grammatik, d. h. die des Aristarch oder die individuelle Grammatik irgendeines Menschen: denn da sie einem einzelnen Menschen angehört, ist sie selbst auch einzeln und partikulär geworden. Da eine bestimmte Grammatik also in der Seele ist, ist sie ein Akzidens, und weil sie über kein Zugrundeliegendes prädiziert wird, ist sie eine partikuläre. Genauso, wie nämlich Aristarch über kein Zugrundeliegendes ausgesagt wird, wird auch seine Grammatik über kein Zugrundeliegendes prädiziert. Das besagt jedoch nicht, daß die Grammatik selbst partikulär ist, sondern eine bestimmte Grammatik, d. h. die Grammatik eines einzelnen Menschen, an der ein partikulärer Mensch durch sein eigenes Wesen festhält. Und weil er ein unkörperliches Akzidens gebraucht hat, welches der Seele „zufällt", d. h. die Grammatik, die in der Seele sein soll, wählte er noch ein anderes Beispiel mit einem körperlichen Akzidens, denn er sagt: „und auch ein bestimmtes Weiß ist in einem zugrundeliegenden Körper, denn jede Farbe ist in einem Körper". Hier sagt er aber auch nicht, daß jedes Weiß partikulär ist, sondern, daß das Weiß zu einem einzelnen Körper hinzukommt. Daß ein partikuläres Weiß in einem Zugrundeliegenden ist, wird nun in folgender Weise bewiesen: die Farbe, die das Genus des Weiß bzw. irgendeines bestimmten Weiß ist, ist im Körper sowie auch in einem Zugrundeliegenden; darum ist dasjenige, dessen Genus in einem Zugrundeliegenden ist, selbst auch in einem Zugrundeliegenden. Alle Spezies bzw. Individuen sind in ihrem eigenen Genus enthalten und besitzen dessen Natur. Da man jedoch unter mehreren Gesichtspunkten vom „Sein in etwas" spricht, so werde ich ein wenig klarlegen, was Aristoteles mit dem „Sein in einem Zugrundeliegenden" zeigen wollte. Unter neun Gesichtspunkten wird nun gesagt, daß etwas in einem anderen sei: wir sagen doch, daß etwas an einem Ort sei, wie ζ. B. auf dem Markt oder im Theater; ebenfalls sagen wir, daß etwas in einem anderen als in einem Gefäß sei, wie zum Beispiel der Weizen in einem Scheffel; ebenso wird das „Sein in etwas" im Sinne vom Teil in einem Ganzen ausgesprochen, d. h. wie etwa die Hand im Körper; ferner wird das „Sein in etwas" im Sinne vom Ganzen in den Teilen ausgesagt, wie etwa der Körper in allen seinen Teilen; andererseits wie die Spezies in dem Genus - wie ζ. B. der Mensch im Lebewesen -, bzw. wie das Genus in seinen Spezies; ebenso sprechen wir das „Sein in etwas" auch in dem Sinne aus, daß etwas in seinem Zweck ist, wie ja ζ. B. der Zweck eines guten Lebens die Glückseligkeit ist, und wenn jemand glückselig ist, dann ist er in seinem Zweck, d. h. dem des guten Lebens; ebenso sagen wir „Sein in etwas" wie in einem Mächtigen, wie ζ. B. im Herrscher die Lenkung des Staates ist; ebenfalls sagen wir es in dem Sinne, wie die Form in der Materie ist, wie ζ. B. das Ebenbild von Achilles in der Bronze oder im Marmor ist. Auf neunfache Weise wird also gesagt, daß etwas in einem anderen ist, d. h. so wie
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an einem Ort, wie in einem Gefäß, wie der Teil im Ganzen, wie das Ganze in den Teilen, wie die Spezies in dem Genus, wie das Genus in den Spezies, wie in einem Zweck, wie in einem Herrscher und wie die Form in der Materie.6 Von ihnen nun erwähnt Aristoteles lediglich drei, zwei davon jedoch in eins verbunden, das andere davon getrennt. Denn er sagt: „Unter ,Sein in einem Zugrundeliegenden' aber verstehe ich, was in etwas, nicht aber als dessen Teil ist, dabei jedoch unmöglich ohne das sein kann, worin es ist." Der Sinn davon ist folgender: ich sage, so meint er, daß dasjenige ein Akzidens ist, was in einem Zugrundeliegenden ist, das heißt was derart in etwas anderem ist, daß es kein Teil von ihm ist und ohne ein bestimmtes Zugrundeliegendes nicht sein kann - wie etwa die Farbe, obwohl im Körper, kein Teil des Körpers ist; wenn aber die Farbe vom Körper getrennt würde, dann gibt es überhaupt keine Farbe. Denn jede Farbe ist ausschließlich im Körper. Folglich ist dasjenige ein Akzidens, was immer derart in einem Zugrundeliegenden ist, daß es nicht dessen Teil ist und daß es zu nichts vergeht, sobald es von dem getrennt wird, in dem es ist, und was nicht für sich ohne ein bestimmtes Zugrundeliegendes sein kann. Insofern er nun sagt, daß es nicht als ein Teil da ist, so hat er den Unterschied zu jenem Sinn von „Sein in etwas" darlegen wollen, nach dem wir sagen, daß die Teile im Ganzen sind. Denn ein Zugrundeliegendes ist nicht so beschaffen, daß sein Akzidens ein Teil von ihm ist. Wenn er aber sagt, daß es unmöglich ohne das sein kann, in dem es ist, dann grenzt er es offenbar von jener Bedeutung ab, welche das Sein von etwas in einem Gefäß oder an einem Ort meint. Denn was in einem Gefäß oder an einem Ort ist, läßt sich vom Gefäß oder Ort abtrennen - wie ja Weizen, der in einem Scheffel ist, vom Scheffel getrennt werden kann, und ein Mensch sich vom Theater entfernen kann. Ein Akzidens jedoch kann von demjenigen, in dem es ist, nicht losgetrennt werden. Deshalb hat er lediglich drei Bedeutungen verwendet, das heißt nach denen man sagt, daß etwas in einem Gefäß, oder an einem Ort ist und wonach ein Teil im Ganzen ist. Das „wie in einem Gefäß" und „wie an einem Ort sein" hat er jedoch als nur eine einzige Auffassungsweise gezählt, wenn er sagt, daß es [das Akzidens] unmöglich ohne das sein kann, in welchem es ist. Vielleicht mag aber jemand die Meinung äußern, daß die Definition nicht wahr sei, daß „dasjenige in einem Zugrundeliegenden ist, was derart in etwas anderem ist, daß es nicht Teil ist und ohne dasjenige, in dem es ist, nicht sein kann". Denn obwohl Sokrates oder ein beliebiger Mensch kein Akzidens sei, sei er dennoch immer an einem Ort und könne ohne Ort nicht sein. Hierauf muß geantwortet werden, daß Sokrates die Orte wechseln kann und außerhalb des Ortes sein kann, an dem er gewesen ist; und wenn wir ihn schließlich durch den Verstand erfassen, dann besteht er für sich - Akzidentien aber bestehen nicht für sich. Aber auch, wenn jemand entgegnete, daß Akzidentien den Ort wechseln können, wie doch die Hand, wenn etwas Schlechtes in der Hand gehalten wird, mit schlechtem Geruch erfüllt wird, eben weil der Geruch, der ein Akzidens darstellt, in ein anderes Zugrundeliegendes überwechseln kann - so hat Aristoteles ja nicht gemeint, daß ein Akzidens den Ort nicht wechseln kann; und
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er hat nicht etwa gesagt „daß es unmöglich ohne das sein kann, in dem es war", sondern „ohne das, in dem es ist" - dies nämlich bedeutet den Ort zuvor verändern können, jedoch nicht ohne ein Zugrundeliegendes bestehen zu können. Deshalb ist es die richtige und vollkommene Definition dessen, was in einem Zugrundeliegenden ist, daß es in einem anderen nicht als ein Teil ist und daß es unmöglich ist, daß es ohne dasjenige existiert, in dem es ist. Dieses ist nun aber demjenigen Sinn entsprechend bestimmt worden, dem zufolge wir sagen, daß eine Form in der Materie ist. Denn eine Form besteht auf keinen Fall für sich selbst, wenn sie in der Materie ist. Nachdem er also das Was des partikulären Akzidens dargestellt hat, indem er sagt, daß es in einem Zugrundeliegenden ist und über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert wird, führt er auch die Definition eines in einem Zugrundeliegenden existierenden Dinges aus und sagt: „dasjenige, was in etwas, nicht aber als dessen Teil ist, dabei jedoch unmöglich ohne das sein kann, worin es ist". Mit einer anschließenden Erörterung wendet er sich dem universalen Akzidens zu, was er in der folgenden Weise definiert. Nach der Definition des Dinges, das in einem Zugrundeliegenden ist und nach den Beispielen für ein paktikuläres Akzidens hat er nämlich den Übergang zum universalen Akzidens gemacht und sagt, daß es anderes gibt, was sowohl in einem Zugrundeliegenden ist als auch über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird, was eben das universale Akzidens kennzeichnet: denn weil es über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird, ist es ein Universale, weil es in einem Zugrundeliegenden ist, ein Akzidens; „in einem Zugrundeliegenden sein" und „über ein Zugrundeliegendes prädiziert werden" weist also auf ein universales Akzidens hin. Er führt auch passende Beispiele für diese Verknüpfung an. Er sagt nämlich, daß die Wissenschaft in einem Zugrundeliegenden ist, in der Seele. Denn wenn es keine Seele gibt, in welcher sie ist, dann gibt es auch keine Wissenschaft; darum, weil die Wissenschaft ein Akt der Seele ist; denn die unbeseelten Dinge wissen nichts. Hierauf folgt die Darlegung der partikulären Substanz, welche er so erklärt, daß sie weder in einem Zugrundeliegenden ist, noch über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird; denn was nicht in einem Zugrundeliegenden ist, ist eine Substanz, und was über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert wird, ist eine Partikularität. Beides zusammen - „über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert werden" und „nicht in einem Zugrundeliegenden sein" - bildet die partikuläre Substanz. Vier Dinge also mit der jeweils eigentümlichen Verknüpfung, ohne Verwendung ihrer speziellen Bezeichnungen, sondern mit Hilfe der ihnen eigenen Wesenscharakteristika und Definitionen, hat er zusammengefügt. Denn für „universale Substanz" gebraucht er die Formulierung „was nicht in deinem Zugrundeliegenden ist und über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird"; für „partikuläres Akzidens" sagte er „was in einem Zugrundeliegenden ist und über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert wird". Ein universales Akzidens jedoch kennzeichnet er damit, daß er sagt: „was sowohl in einem Zugrundeliegenden ist, als auch über ein Zugrundelie-
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gendes ausgesagt wird." Als „partikuläre Substanz" fügt er dasjenige ein „was weder in einem Zugrundeliegenden ist, noch über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird: schlechthin aber wird dasjenige, was Individuum und zahlenmäßiges Eins ist, über kein Zugrundeliegendes ausgesagt, es besteht jedoch kein Hindernis dafür, daß sie in einem Zugrundeliegenden sind, denn eine bestimmte Grammatik ist in einem Zugrundeliegenden." Jegliche Partikularität ist entweder Substanz oder Akzidens: denn wenn ich „Sokrates" sage, dann habe ich eine individuelle und partikuläre Substanz benannt; und wenn ich „eine bestimmte Grammatik" sage, dann habe ich ein individuelles und partikuläres Akzidens benannt. Individuen sind nun diejenigen, welche weder in verschiedene Spezies unterteilt werden können, noch auch in verschiedene Individuen. Denn so, wie „Lebewesen" in Spezies eingeteilt wird, in „Mensch" und „Pferd", und „Mensch" in einzelne Menschen, d. h. in Sokrates, Piaton usw., werden Piaton und Sokrates nicht weiter unterteilt. Das kann auch von den Akzidentien gesagt werden: denn wie die Wissenschaft in Spezies eingeteilt wird, ζ. B. in Grammatik und Rhetorik, und die Grammatik in partikuläre Grammatiken, welche eben von den partikulären Menschen gewußt werden, wird nicht auch die partikuläre Grammatik in partikuläre Grammatiken zerteilt. Es handelt sich also bei allem, was zahlenmäßig eins ist, um Individuen, die nicht in weitere Mengen von Spezies oder Individuen eingeteilt werden. Jedes Individuum wird, da es ja etwas Partikuläres ist, über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert; alles, was nun aber über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert wird, ist entweder Substanz - wie Piaton - oder Akzidens - wie eine bestimmte Grammatik; von diesem Partikulären, d. h. der Substanz und dem Akzidens, die über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert werden, ist also die Substanz auch nicht in einem Zugrundeliegenden, das Akzidens aber ist in einem Zugrundeliegenden. Daher konnten die Individuen, welche Substanzen sind, nicht in einem Zugrundeliegenden sein; die anderen jedoch, die in bezug auf die Natur des Akzidens ausgesagt werden, hindert nichts daran, in einem Zugrundeliegenden zu sein. Und genau das sagt er: „Schlechthin aber wird dasjenige, was Individuum und zahlenmäßiges Eins ist, über kein Zugrundeliegendes ausgesagt; nichts steht aber entgegen, daß einige von den Individuen in einem Zugrundeliegenden sind. Eine bestimmte Grammatik ist nämlich in einem Zugrundeliegenden, wird jedoch über kein Zugrundeliegendes ausgesagt." Er will nämlich insbesondere nachweisen, daß ein gemeinsamer Zug der partikulären Akzidentien und Substanzen darin besteht, daß sie über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert werden. Denn folgendes sagte er: „Schlechthin aber werden die Individuen und zahlenmäßiges Eins über ein Zugrundeliegendes nicht ausgesagt." Dabei hört man mit:,seien es Substanzen oder Akzidentien'. Jedoch sind nicht alle Individuen nicht in einem Zugrundeliegenden. Denn es steht nichts im Weg, daß die akzidentellen Individuen in einem Zugrundeliegenden sind. Eine bestimmte Grammatik nämlich ist in einem Zugrundeliegenden, d. h. in der Seele, obwohl sie individuell ist und
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über ein Zugrundeliegendes nicht prädiziert wird. Um es aber zusammenfassend zu sagen, ist der Sinn folgender: ausnahmslos alle Individuen werden über ein Zugrundeliegendes nicht ausgesagt, jedoch sind nicht alle nicht in einem Zugrundeliegenden. Obwohl eine partikuläre Substanz wie Piaton nicht in einem Zugrundeliegenden ist, ist ein partikuläres Akzidens, wie eine bestimmte Grammatik, durchaus in einem Zugrundeliegenden, d. h. in der Seele. Nun gilt es, mit besonderer Aufmerksamkeit zu beachten, welche Anordnung das Gesagte hat. Denn weil es vier Verknüpfungen gibt, die aus vier Dingen entstanden sind, von denen zwei sich in der Natur unterscheiden - nämlich Substanz und Akzidens - und zwei in der Quantität - wie die Partikularität und die Universalität -, hat er durch Verbindung und Zusammensetzung aller vier eine sich in den Seiten widerstreitende Anordnung aufgestellt. Denn zuerst hat er die universale Substanz gesetzt, indem er sagte, „was nicht in einem Zugrundeliegenden ist und über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird". Nach dieser ersten Setzung schließt er eine Sache an, die in allen Dingen abweicht, d. h. das partikuläre Akzidens, was in einem Zugrundeliegenden sein soll und nicht über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird. Denn wenn er „Akzidens" sagt, dann unterscheidet er diese Sache von der Substanz; indem er „partikuläres" hinzufügt, unterscheidet er sie vom Universale. Von der anderen Seite her ordnet er wiederum in der Einteilung das universale Akzidens an, wenn er sagt: „was in einem Zugrundeliegenden ist und über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird". Und zuletzt nennt er die partikuläre Substanz, die konträr zum darüber liegenden Akzidens ist und weder in einem Zugrundeliegenden ist, noch über ein Zugrundliegendes prädiziert wird, indem er die Partikularität der Substanz der Universalität des Akzidens entgegenstellt. [...] Die „ersten Substanzen" sind also die partikulären, die „zweiten" die universalen. Die individuellen Substanzen bezeichnet er deswegen als „Substanzen im eigentlichen Sinne", weil wir den Menschen und zugleich die Spezies Mensch und das Lebewesen, das ein Genus ist, ausschließlich durch die Erkenntnis der Individuen erfassen und herausheben. Da also die Universalität durch die Wahrnehmungen der einzelnen Dinge begriffen worden ist, werden mit Recht die Individuen und das viele Einzelne als „eigentliche Substanzen" bezeichnet. Die individuellen Substanzen wurden hauptsächlich darum so genannt, weil jedes Akzidens zuerst zu den Individuen und danach zu den zweiten Substanzen hinzutritt. Denn weil Aristarch ein Grammtiker ist, Aristarch aber auch ein Mensch ist, ist er ein grammatisch gebildeter Mensch: in diesem Sinne gehört jedes Akzidens zunächst zum Individuum, jedoch kommt man dann zu der Auffassung, daß es in zweiter Linie auch zu den Spezies und Genera der Substanzen hinzutritt. Mit Recht wird also hauptsächlich dasjenige als Substanz bezeichnet, was früher zugrundeliegt. Die erste Substanz wird aber vor allem deswegen so bezeichnet, weil dasjenige, was den anderen Dingen vor allem zugrundeliegt, auch vor allem als Substanz bezeichnet werden kann; vor allem zugrundeliegend aber ist die erste Substanz; alles nämlich wird über
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die ersten Substanzen ausgesagt oder wohnt den ersten Substanzen inne, wie die Genera und Spezies. Denn sowohl die Genera als auch die Spezies werden über die eigenen Individuen prädiziert - zum Beispiel werden „Lebewesen" und „Mensch" über Sokrates prädiziert, das heißt die zweiten Substanzen über die ersten. Wenn es sich jedoch um Akzidentien handelt, dann sind sie in erster Linie in den ersten Substanzen. Da also die Akzidentien primär in den ersten Substanzen sind und die zweiten Substanzen über die ersten Substanzen prädiziert werden, liegen die ersten Substanzen den zweiten Substanzen und den Akzidentien zugrunde. Da diese also am meisten sowohl der Subsistenz der Akzidentien als auch der Prädikation von zweiten Substanzen zugrunde gelegt sind, werden sie auch als „am meisten" Substanzen bezeichnet. Er bezeichnet jedoch nicht jede Spezies und auch nicht alle Genera als „zweite Substanzen", sondern nur diejenigen, die die ersten Substanzen umfassen können - wie zum Beispiel „Mensch" und „Lebewesen". Denn „Mensch" umfaßt Sokrates, d. h. eine individuelle Substanz. „Lebewesen" jedoch umfaßt sowohl Individuum als auch Spezies, d. h. Mensch und auch einen bestimmten Menschen. Darum hält er die Genera und Spezies, die über die ersten Substanzen prädiziert werden, für zweite Substanzen. Das drückt er folgendermaßen aus: „Als zweite Substanzen bezeichnet man nun die Spezies, in denen die als primär bezeichneten Substanzen enthalten sind; daneben aber auch die Genera von diesen Spezies."7 Im Anschluß hierzu gibt er einige passende Beispiele an, als wollte er sagen: ,Ich meine nicht alle Genera und auch nicht alle Substanzen, sondern nur diejenigen Spezies, in denen jene Individuen, d. h. die ersten Substanzen, enthalten sind; ebenso auch die Genera von diesen Spezies, d. h. von denen, die die ersten Substanzen umfassen.' Das scheint aber aus dem Grund gesagt worden zu sein, daß niemand die Farbe, die ein Genus ist, oder das Weiß, das eine Spezies ist, für zweite Substanzen hält; denn diese umfassen keine ersten Substanzen. Es könnte aber jemand die Frage stellen, wieso die individuellen Substanzen die ersten sind, wo doch alles das, was vorhergeht, bei seiner Vernichtung dasjenige aufhebt, was später ist, und doch bei der Vernichtung des Späteren das Vorhergehende nicht untergeht? Denn wenn der Mensch [im allgemeinen] untergeht, so wird sofort auch Sokrates untergehen; wenn jedoch Sokrates untergeht, dann wird nicht auch sofort der Mensch [im allgemeinen] untergehen. Wenn also bei Aufhebung der Genera und Spezies die Individuen vernichtet werden und bei Aufhebung der Individuen die Genera und Spezies fortbestehen, dann wäre es angemessen, eher die Spezies und Genera als „erste Substanzen" zu bezeichnen. In dieser Weise wird jedoch die Natur der Individuen nicht richtig erfaßt. Denn die gesamte Substanz der Individuen ist weder in dem einen Sokrates, noch in einem beliebigen einzelnen Menschen, sondern in sämtlichen einzelnen Menschen. Die Genera und Spezies sind nämlich auch nicht aus einem einzigen, sondern aus sämtlichen einzelnen Individuen erkannt und nach Maßgabe des Verstandes begriffen worden. Ferner meinen wir stets, daß dasjenige, was den
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Sinnen näher ist, auch zu allererst durch die Worte ausgedrückt werden muß. Denn wer als erster „Mensch" gesagt hat, hat nicht denjenigen erfaßt, welcher sich aus den einzelnen Menschen zusammensetzt, sondern im Geiste einen ganz bestimmten einzelnen im Sinne gehabt, dem er die begriffliche Bezeichnung „Mensch" beilegte. Wenn die einzelnen Menschen also aufgehoben werden, dann bleibt der Mensch [im allgemeinen] nicht zurück, und wenn die einzelnen Lebewesen aufgehoben werden, dann wird das Lebewesen [im allgemeinen] zugrundegehen. Darum und weil in diesem Werk eine Abhandlung über die Bedeutung der Wörter vorliegt, hat er diejenigen, denen die Worte zuerst beigelegt worden sind, mit Recht als „erste Substanzen" bezeichnet; die Worte sind aber demjenigen zuerst zugewiesen worden, was zuerst den Sinnen begegnen konnte; als erstes aber stellen sich den Sinnen die Individuen entgegen; folglich hat er diese in der Einteilung an die Spitze gesetzt. Auf die gleiche Weise wird auch jene Frage gelöst, die lautet: Wo doch von Natur aus die vernünftig faßbaren Substanzen die ersten sind - wie Gott und die Seele warum hat er dann nicht diese als „erste Substanzen" bezeichnet? Da es sich hier um eine Abhandlung über begriffliche Bezeichnungen [nomina] handelt und begriffliche Bezeichnungen zuerst denjenigen Dingen beigegeben worden sind, die primär Gegenstände für die Sinne sind, und für sekundär in den einzusetzenden Bezeichnungen alles das gehalten wird, was sich auf die intelligible Unkörperlichkeit bezieht, und weil ja in diesem Werk primär von den begrifflichen Bezeichnungen gehandelt wird, über die individuellen Substanzen jedoch, die zunächst Gegenstand der Sinne sind, zuerst Wörter [vocabula] ausgesagt werden, werden darum auch mit Recht in einem Werk über Wörter die einzelnen und sinnlich wahrnehmbaren Substanzen als „erste Substanzen" bezeichnet. Da es nun aber drei Substanzen gibt - Materie, Form und das, was sich aus jedem von beiden zusammensetzt, d. h. die von beiden Seiten her zusammengesetzte und zusammengefügte Substanz -, hat er sich hier weder allein über die Form, noch allein über die Materie, sondern über beide zugleich als verbundene und zusammengesetzte geäußert. Die Teile der Substanz jedoch sind unzusammengesetzt und einfach, und aus ihnen, das heißt Form und Materie, ergibt sich eben die Substanz; diese benennt er später noch nebenbei, indem er sagt, daß die Teile der Substanz selbst wieder Substanz sind. Soweit dieses. [...]
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ANICIUS MANLIUS SEVERINUS BOETHIUS Kommentar zu Aristoteles' „Peri hermeneias" Zweite Ausgabe*
II. 7. „Da von den Dingen dieses [alles] allgemein [universal], jenes aber einzeln ist Allgemeines [Universale] aber nenne ich, was über mehreres prädiziert zu werden pflegt, Einzelnes aber, was nicht wie Mensch wohl ein Allgemeines [Universale] ist, Piaton jedoch zu dem vielen Einzelnen gehört, und notwendigerweise ausgesagt wird, daß etwas bald einem zukommt, das zum Allgemeinen [den Universalien] zählt, bald einem, das zu dem vielen Einzelnen zählt, oder daß es diesem nicht zukommt,.. ,"1 Jede Aussage erhält die Eigentümlichkeiten ihrer Bedeutung von den [in ihr] vorhandenen Gedanken. Da es aber notwendig ist, daß die Gedanken Ebenbilder der Dinge sind, hängt die Bedeutung der Aussagen [durch die Gedanken] mit den Dingen zusammen. Und wenn wir also etwas bejahen oder verneinen wollen, dann wird das auf die Gedanken und die Qualität des Begreifens bezogen. Denn was wir durch die Vorstellung und den Verstand erfassen, das bejahen und verneinen wir, indem wir es entweder in Form einer Bejahung oder Verneinung ausführen. Ferner erhalten die Aussagen die Bedeutung und die Eigentümlichkeit zwar primär vom Intellekt [intelligentia], an zweiter Stelle erlangen sie diese jedoch von den Dingen, durch die die Gedanken selbst notwendig existieren. Daher kommt es, daß eine Aussage sowohl an der Quantität, als auch an der Qualität teilhat: an der Qualität natürlich durch das Aussprechen der Bejahung und Verneinung selbst, die jemand auf Grund des eigenen Urteils äußert; an der Quantität jedoch durch die zugrundeliegenden Dinge, welche die Gedanken erfassen. Wir sehen nämlich, daß es einerseits Qualitäten von der Art in den Dingen gibt, die nur irgendeiner einzelnen und partikulären Substanz zukommen können; denn die eine Qualität ist singulär wie * Anicii Manlii Severini Boetii Commentariorum in librum Aristotelis ,Peri hermeneias' Editio secunda. - Unser Auszug: Buch II, Kap. 7, in: Anicii Manlii Severini Boetii Commentarii in librum Aristotelis ,Peri hermeneias', hg. v. C. Meiser, 2. Teil, Leipzig 1880, S. 135140. - Zitiert als: In Peri hermeneias ed. sec.
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die Qualität Piatons oder von Sokrates; die andere ist mit Mehrerem in Verbindung und zeigt sich als ganze sowohl in den einzelnen Dingen wie auch in allen zusammen, wie zum Beispiel das Menschentum. Dieses nämlich ist eine Qualität von der Art, welche als ganze sowohl in den einzelnen als auch in allen Dingen ist. Denn jedes Mal, wenn wir solches im Geiste betrachten, fuhren wir es durch die Verstandestätigkeit mittels des Namens nicht auf eine beliebige einzelne Person zurück, sondern auf alle die, welche irgendwie Anteil an der Definition des Menschentums haben. Daraus ergibt sich, daß diese letzte Qualität allen gemein ist, jene erste zwar nicht auf alle übertragbar, jedoch einem einzelnen Ding eigentümlich ist. Wenn es erlaubt wäre, einen Namen willkürlich zu prägen, dann könnte ich jene bestimmte einzelne Qualität, die auf keine andere Subsistenz übertragbar ist, mit ihrem willkürlich geprägten Namen bezeichnen, damit die Form des Gesagten klarer wird. So soll denn zum Beispiel diese nicht übertragbare Eigenschaft des Piaton als „Platonität" bezeichnet werden. Denn wir könnten in genau der Weise diese Qualität durch ein erdachtes Wort als „Platonität" bezeichnen, wie wir die Qualität des Menschen als „Menschentum" bezeichnen. Diese „Platonität" also gehört nur einem einzigen Menschen, und nicht irgendeinem, sondern nur Piaton; das Menschentum gehört Piaton und allen anderen, welche durch dieses Wort umfaßt werden. Es folgt daraus, daß der Geist von jemand, der den Namen Piatons hört, diesen auf eine einzige Person und auf eine partikuläre Substanz beziehst, da ja die Platonität auf einen einzigen Piaton zutrifft. Wenn er jedoch „Mensch" hört, dann bezieht er das Wort auf mehrere, auf die er auch den Gedanken bezieht und von denen er weiß, daß sie alle im Menschentum enthalten sind. Und da das Menschentum sowohl allen Menschen gemeinsam ist, als auch als ganzes in den einzelnen Menschen ist gleichermaßen nämlich bewahren sämtliche Menschen das Menschentum wie auch der einzelne Mensch, denn wenn das nicht so wäre, käme niemals die Definition der Spezies Mensch der Substanz eines partikulären Menschen zu -; da es sich also so verhält, wird der Mensch als ein „Universale", die Platonität jedoch wie auch Piaton als „Partikuläres" bezeichnet. Aus dieser Darstellung und daraus, daß diese universale Qualität sowohl im Sinne aller als auch im Sinne der einzelnen [Menschen] prädiziert werden kann, folgt, daß es mehrdeutig ist, wenn wir „Menschen" sagen, und man kann im Zweifel sein, ob die Rede von der Spezies oder von einem partikulären Menschen ist; und zwar darum, weil die Bezeichnung „Mensch" sowohl über alle ausgesagt werden kann, als auch von beliebigen einzelnen, welche in der einzigen Spezies des Menschentums enthalten sind. Darum ist es unbestimmt, ob das, was wir als „Mensch" aussprechen, von allen ausgesagt wurde, oder über eine einzelne und partikuläre Substanz des Menschen. Diese Qualität des Menschentums ist also zu bestimmen, wenn wir die Gedanken von der Mehrdeutigkeit befreien wollen, und sie muß entweder zu einer Vielheit ausgeweitet werden, oder auf eine zahlenmäßige Einheit reduziert werden. Denn wenn wir „Mensch" sagen, ist es unbestimmt, ob wir alle meinen oder einen einzelnen. Wenn der Zusatz
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Jeder" hinzukommt, so daß die Formulierung Jeder Mensch" bzw. „ein gewisser Mensch" erscheint, dann handelt es sich um eine Distribution und Determination der Allgemeinheit [universalitas]; und die Bezeichnung „Mensch", welche ein Universale ist, sprechen wir in allgemeiner Weise aus, wenn wir Jeder Mensch" sagen, oder in partikulärer, wenn wir „ein gewisser Mensch" sagen; denn Jeder" ist eine die Allgemeinheit anzeigende Bezeichnung. Wenn daher Jeder", was ein Universale anzeigt, mit „Mensch", was selbst ein Universale ist, vereinigt wird, so wird ein allgemeines Ding, nämlich der Mensch, in allgemeiner Weise in bezug darauf prädiziert, daß ihm eine quantitative Bestimmung beigegeben wird. Wenn aber „ein gewisser Mensch" gesagt wird, so wird ein Universale, welches der Mensch ist, unter Hinzufügung der Partikularität - vermittels des Zusatzes „ein gewisser" in partikulärer Weise ausgesprochen, und man sagt ein universales Ding aus, was in partikulärer Weise vorgebracht wird. Wenngleich die Prädikation „ein gewisser Mensch" partikulär ist und ebenso die Prädikation von Piaton partikulär ist - denn sowohl „ein gewisser Mensch" als auch „Piaton" wird über ein Einzelnes ausgesagt so werden beide jedoch nicht in ein und derselben Hinsicht als partikuläre bezeichnet. Denn „Piaton" verweist auf eine einzelne und ganz bestimmte Substanz und eine Eigentümlichkeit, die auf etwas anderes nicht zutreffen kann. „Ein gewisser Mensch" aber, was im Sinne einer Partikularität ausgesagt wird, bestimmt zwar gerade einen allgemeinen Namen, wenn aber „ein gewisser" fehlte, so wäre das, was wir mit „Mensch" aussprechen, ein Universale, und damit bliebe das Mehrdeutige bestehen; wenn wir aber „Piaton" sagen, so könnte das auf keinen Fall ein Universale sein. Denn auch dann, wenn der Name „Piaton" mehreren beigegeben würde, wird er deswegen dennoch nicht zum Universale. Das Menschentum wiederum, das aus den Naturen der einzelnen Menschen zusammengefaßt wurde, wird in gewisser Weise auf einen einzigen Begriff und eine einzige Natur zurückgeführt. Der Name „Piaton" jedoch könnte vielleicht als Wort den Anschein haben, vielem gemeinsam zu sein; dennoch könnte auf niemanden jene Eigenschaft Piatons zutreffen, welche die Beschaffenheit oder Natur von eben dem Piaton besaß, der Hörer des Sokrates war - sollte er auch mit ein und demselben Wort bezeichnet worden sein. Das aber ist deshalb so, weil das Menschentum natürlich ist, ein Eigenname jedoch der Satzung [positio] unterliegt.2 Es wird hier jedoch nicht behauptet, daß der Name [Piaton] nicht über mehrere ausgesagt werden kann, sondern daß das für die Eigenschaft Piatons der Fall ist. Diese Eigenschaft wird nämlich nicht so, wie die des Menschen, von Natur aus über mehrere ausgesagt, und darum ist - wie gesagt - die Eigenschaft „Platonität" eine unübertragbare; übertragbar jedoch ist eine allgemeine Eigenschaft, welche sowohl in mehreren Dingen als auch in den einzelnen Dingen ist. Daher kommt es, daß ich, wenn ich Jeder Mensch" sage, eine Aussage hinsichtlich der Zahl mache; wenn ich jedoch „Sokrates" oder „Piaton" sage, dann will ich keine Aussage mit Rücksicht auf die Zahl machen, sondern ich möchte die Qualität und Eigenschaft eines Einzelnen in der Einzigkeit ihres individuellen und
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einzelnen Wesens festmachen und ausdrücken. Deswegen unterscheiden sich auch jene beiden Partikularitäten „ein gewisser Mensch" und „Piaton" vor allem darin, daß ich dann, wenn ich „Piaton" sage, genau den Menschen durch das Wort bezeichne, den ich genannt haben wollte, und ebenso die Eigenschaft des jeweiligen Einzelnen, den ich nenne; wenn ich aber „ein gewisser Mensch" sage, so habe ich lediglich die Zahl außer Acht gelassen und den Ausdruck auf die Einzelheit zurückgeführt, über wen ich jedoch sprechen werde, enthüllt mir diese Partikularität nicht. Denn „ein gewisser Mensch" kann Sokrates, Piaton, Cicero und jeder einzelne von denjenigen Individuen sein, deren Eigenschaften untereinander sowohl nach der Bedeutung der Einzelheit als auch in ihrer Natur verschieden sind. Deshalb hat Theophrast auch sehr passend derartige partikuläre Sätze, wie: „ein gewisser Mensch ist gerecht" als „partikuläre unbestimmte" bezeichnet. Denn er hebt einen Teil [der Spezies] Mensch heraus, das heißt von einem Universale dem Wort bzw. der Natur nach [universale vel vocabulo vel natura]. Er entscheidet und bestimmt jedoch nicht, welcher Teil im einzelnen gemeint ist und durch welche Eigenschaft er gekennzeichnet ist. Daher bezeichnet er das als Universale, was natürlicherweise über mehreres prädiziert wird - jedoch nicht genau so, wie der Name Alexanders sowohl für einen Trojaner, als auch den Sohn Philipps von Makedonien als für eine Vielzahl verwendet wird. Denn dieser wird durch Satzung von Mehrerem ausgesagt, jenes aber von Natur aus.
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ANICIUS MANLIUS SEVERINUS BOETHIUS Inwiefern die Trinität ein Gott und nicht drei Götter ist*
II Wollen wir also beginnen und alles im einzelnen genau untersuchen, insofern es verstanden und erfaßt werden kann; denn wie es am besten ausgedrückt zu sein scheint: dem gebildeten Menschen obliegt es, danach zu streben, von allem so, wie es ist, zuverlässige Kunde zu erhalten. 1 Die theoretische Wissenschaft besteht ja nun aus drei Teilen,2 wobei die „Naturwissenschaft" zunächst bewegungsbezogen und nicht abstrakt bzw. άνυπεξαίρετος [unabtrennbar] ist, denn sie betrachtet die Formen der Körper mit der Materie zusammen; diese Formen können aktuell nicht von den Körpern getrennt werden und die Körper selbst sind in Bewegung - wie sich die Erde nach unten und das Feuer nach oben bewegt -, und die mit der Materie verbundene Form besitzt auch eine Bewegung. Die „mathematische" Wissenschaft betrachtet nicht die Bewegung und ist nicht abstrakt: sie beobachtet nämlich die Formen der Körper ohne Materie und damit ohne Bewegung; weil diese Formen in der Materie sind, können sie von den Körpern nicht getrennt werden. Die „theologische" Wissenschaft betrachtet nicht die Bewegung und ist abstrakt und abgetrennt: denn die Substanz Gottes entbehrt sowohl der Materie als auch der Bewegung. In der Betrachtung der Naturdinge wird man also verstandesgemäß-rational, in der Betrachtung der mathematischen Dinge lehrmäßig-systematisch und in der Betrachtung der göttlichen intellektmäßig (vernunftgemäß) vorgehen müssen und sich nicht zu Einbildungen verfuhren lassen dürfen, sondern vielmehr muß man die Form selbst untersuchen, die tatsächlich eine Form und kein Schattenbild und die das Sein selbst ist und aus der das Sein ist. Alles Sein kommt nämlich aus der Form:
* Anicii Manlii Severini Boetii liber Quomodo trinitas unus deus ac non tres dii. (De trinitate.) - Unser Auszug: Kap. 2, in: The theological tractates and the Consolation of Philosophy, hg. u. übers, v. Η. F.Stewart u. Ε. K. Rand, London-New York 1926, S. 8-12.-Zitiert als: De trinitate.
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eine Statue wird nämlich nicht hinsichtlich der Bronze, die Materie ist, sondern hinsichtlich der Form, durch die ein Abbild eines Lebewesens in die Bronze eingeprägt worden ist, als „Statue" bezeichnet; ebenso wird auch die Bronze nicht in Hinsicht auf die Erde, welche ihre Materie ist, sondern im Hinblick auf die Gestalt der Bronze als Bronze bezeichnet. Die Erde selbst wird nicht im Hinblick auf die όποιος" υλη [ungestaltete Materie] als Erde bezeichnet, sondern im Hinblick auf Trockenheit und Schwere, welche Formen sind. Nichts wird also im Hinblick auf die Materie als existierend bezeichnet, sondern im Hinblick auf die eigene Form. Die göttliche Substanz aber ist eine Form ohne Materie und ist demzufolge Eins und das, was ist. Das Übrige ist nämlich nicht das, was ist. Ein jedes hat nämlich sein Sein von dort, woraus es ist, das heißt aus seinen Teilen; und es ist dieses und dieses, das heißt seine verbundenen Teile, jedoch nicht dieses oder dieses für sich genommen: da zum Beispiel ein irdischer Mensch aus Seele und Leib besteht, ist er Leib und Seele, nicht aber teils Leib, teils Seele. Somit ist es nicht das, was ist. Was jedoch nicht aus dem und dem ist, sondern nur dieses ist, das ist tatsächlich das, was ist; und es ist das Herrlichste und Stärkste, weil es ja nichts benötigt. Darum ist das wirklich Eins, worin keine Zahl und nichts außer dem, was ist, ist; aber auch ein Zugrundeliegendes kann es nicht sein: denn es ist eine Form; zugrundeliegende Formen aber können nicht existieren. Denn obgleich die übrigen Formen, wie etwa das Menschentum, den Akzidentien zugrunde liegen, nimmt das Menschentum jedoch die Akzidentien nicht deshalb auf, weil es selbst existiert, sondern insofern ihm eine Materie zugrunde liegt. Denn während die dem Menschentum zugrundeliegende Materie ein jedes Akzidens aufnimmt, hat es den Anschein, als ob das Menschentum selbst dies tut. Eine Form aber, die ohne Materie ist, kann nicht Zugrundeliegendes sein, noch einer Materie innewohnen: denn sie wäre keine Form, sondern ein Schattenbild [imago]. Die Formen, die in der Materie sind und den Körper bilden, sind nämlich aus denjenigen Formen gekommen, die außerhalb der Materie sind. Denn die übrigen, die in den Körpern sind, entstellen wir, wenn wir sie „Formen" nennen, wo sie doch Schattenbilder sind: sie werden nämlich denjenigen Formen nachgebildet, die nicht an Materie gebunden sind. In ihm [d. h. Gott] gibt es also keine Verschiedenheit, keine aus der Verschiedenheit herrührende Vielheit, keine von den Akzidentien bedingte Vielzahl und darum auch keine Zahl.
7.
ANICIUS MANLIUS SEVERINUS BOETHIUS Gegen Eutyches und Nestorios*
ι
„Natur" kann nun aber entweder allein über die Körper ausgesagt werden oder aber allein über die Substanzen, d. h. die körperlichen und unkörperlichen, oder aber über sämtliche Dinge, von denen in irgendeiner Weise gesagt wird, daß sie existieren. Wenn „Natur" also in dreifacher Weise ausgesagt werden kann, dann muß sie ohne Zweifel auch auf dreierlei Art definiert werden. Denn wenn es stimmt, daß „Natur" über sämtliche Dinge ausgesagt wird, dann wird eine solche Definition angegeben werden, die alle Dinge umfassen kann, die sind. Folgendermaßen wird sie also sein: „Die Natur gehört zu denjenigen Dingen, welche, weil sie sind, durch den Verstand in irgendeiner Weise erfaßt werden können." In dieser Definition werden nun also sowohl Akzidentien als auch Substanzen definiert, denn sie können beide durch den Verstand erfaßt werden. „In irgendeiner Weise" ist hinzugefügt worden, da ja Gott und Materie nicht durch einen abgeschlossenen und vollkommenen Gedanken verstanden werden können, sondern vielmehr in einer anderen Weise durch Weglassung der übrigen Dinge erfaßt werden. „Welche, weil sie da sind" haben wir aber deswegen hinzugefugt, weil auch „nichts" etwas bezeichnet, jedoch keine Natur. Denn es bezeichnet nicht, daß etwas existiert, sondern eher, daß es nicht existiert; jede Natur aber existiert. Wenn es stimmt, daß „Natur" gewissermaßen über sämtliche Dinge ausgesagt wird, dann lautet die Definition der Natur genauso, wie wir sie weiter oben angegeben haben. Wenn aber „Natur" nur über die Substanzen ausgesagt wird und da ja alle Substanzen entweder körperlich oder unkörperlich sind, geben wir folgende Definition der Natur, welche Substan* Anicii Manlii Severini Boetii liber Contra Eutychen et Nestorium. - Unser Auszug: Kap. I bis VII, in: The theological tractates and the Consolation of Philosophy, hg. u. übers, v. H. F. Stewart u. Ε. K. Rand, London-New York 1926, S. 76-121. - Zitiert als: Contra Eutychen et Nestorium.
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zen bezeichnet: „Natur ist das, was wirken oder erleiden kann" - das heißt sowohl erleiden als auch wirken kann, wie alles Körperliche und die Seele des Körperlichen, denn diese wirkt und erleidet im Körper und durch den Körper; oder aber allein wirken kann, wie Gott und das übrige Göttliche. Du hast nun also auch die Definition für die Bedeutung von „Natur", welche nur auf Substanzen zutrifft. Darum ist zugleich auch die Definition der Substanz gegeben worden. Denn wenn das Wort „Natur" auf eine Substanz verweist, dann ist, sobald wir die Natur näher umschrieben haben, auch die Substanz mitbezeichnet worden. Wenn das Wort „Natur" unter Ignorierung der unkörperlichen Substanzen ausschließlich auf körperliche Dinge weist, so daß anscheinend nur körperliche Substanzen eine Natur besitzen - wie das Aristoteles und andere sowie die Anhänger seiner und anderer Philosophenschulen glauben - , dann würden wir „Natur" ebenso definieren, wie diejenigen, die meinen, daß es nur in den Körpern eine Natur gibt. Ihre Definition lautet dann folgendermaßen: „Die Natur ist das Prinzip der Bewegung, und zwar durch sich selbst und nicht akzidentiell." Ich habe sie nun deshalb als „Prinzip der Bewegung" bezeichnet, weil jeder Körper seine eigene Bewegung besitzt, wie das Feuer nach oben und die Erde nach unten. Ferner habe ich gesagt, daß die Natur „durch sich selbst" und nicht „akzidentiell" „Prinzip der Bewegung" sei; und dies ist so, da ja auch ein hölzernes Bett sich mit Notwendigkeit nach unten bewegt, nicht jedoch akzidentiell. Denn weil es Holz ist, das Erde ist, wird es durch Gewicht und Schwere hinabgeführt; denn nicht darum, weil es ein Bett ist, sondern darum, weil es Erde ist, das heißt weil es der Erde zukommt, ein Bett zu sein, fällt es nach unten. Daher kommt es, daß wir sagen, daß das Holz auf natürliche Weise existiert, das Bett jedoch auf künstliche. Es gibt aber auch noch eine weitere Bedeutung von „Natur", deretwegen wir sagen, daß die Natur von Gold und Silber verschieden ist, wobei wir damit auf die Eigenschaft der Dinge verweisen wollen. Diese Bedeutung von „Natur" wird folgendermaßen definiert: „Die Natur ist die spezifische Differenz, welche ein jegliches Ding gestaltet." Während also die Natur auf so viele Weisen ausgesagt oder definiert wird, setzen sowohl die Katholiken als auch Nestorios mit Rücksicht auf die letzte Definition fest, daß es in Christus zwei Naturen gibt, da ja Gott und Mensch nicht ein und dieselben Differenzen zukommen.
II Am meisten kann man im Zweifel sein, welche Definition man von „Person" aufstellen kann. Denn wenn jede Natur eine Person besitzt, dann ist es ein unauflösliches Problem, welchen Unterschied es zwischen „Natur" und „Person" geben mag. Wenn die Person der Natur aber nicht gleichgesetzt wird, sondern die Person innerhalb der Grenze und des Bereiches der Natur besteht, dann ist es schwer zu sagen, auf genau welche Naturen sich eine Person bezieht, das heißt welchen Naturen eine Person zukommt und welchen der Name „Person" vorenthalten
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werden muß. Denn es liegt wohl auf der Hand, daß der Person die Natur zugrunde liegt und außerhalb der Natur keine Person prädiziert werden kann. Folgendes aber müssen die nach einer Lösung Suchenden erkennen. Da es außerhalb der Natur keine Person geben kann und die einen Naturen Substanzen, andere akzidentiell sind und da wir sehen, daß eine Person nicht auf Akzidentien gegründet werden kann (denn wer würde sagen, daß es eine Person der Weißheit, der Schwärze oder der Größe gibt), bleibt also übrig, daß Person richtig im Sinne von Substanzen ausgesagt wird. Von den Substanzen aber gibt es einerseits körperliche, andererseits unkörperliche; von den körperlichen jedoch einerseits lebende, andererseits nicht-lebende; von den lebenden sind die einen zur Sinneswahrnehmung befähigt, die anderen nicht; von den zur Sinneswahrnehmung befähigten aber sind die einen vernunftbegabt, die anderen ohne Vernunft. Desgleichen gibt es bei den unkörperlichen Substanzen einerseits vernunftbegabte, andererseits solche ohne Vernunft, wie zum Beispiel die Tierseelen; von den vernunftbegabten aber ist die eine Substanz von Natur aus unveränderlich und unfähig zu leiden - wie Gott -, die andere aber ist durch die Schöpfung veränderlich und fähig zum Leiden es sei denn, daß sie dank der leidensunfähigen Substanz in den unveränderlichen Zustand der Leidensunfähigkeit umgewandelt wird, wie etwa in den der Engel und der Seele. Aus allem ergibt sich ganz klar, daß weder behauptet werden kann, daß eine Person in nichtlebenden Körpern ist - denn niemand behauptet, daß es eine Person des Steines gäbe -, noch daß es bei denjenigen lebenden Körpern eine Person gibt, die der Sinneskraft entbehren - denn es gibt auch keinerlei Person eines Baumes -, noch daß es bei dem eine Person gibt, was ohne Verstand und Vernunft ist - denn es gibt keinerlei Person eines Pferdes oder Rindes oder der übrigen Tiere, die stumm und ohne Verstand allein durch die Sinne ein Leben führen. Wir behaupten aber, daß es eine Person des Menschen, eine Gottes und eine vom Engel gibt. Wiederum sind die Substanzen teils universal, teils partikulär. Universale sind diejenigen, die über einzelnes prädiziert werden - wie ζ. B. Mensch, Lebewesen, Stein, Holz und das übrige dieser Art, was entweder Genera oder Spezies sind. Denn „Mensch" wird über einzelne Menschen, „Lebewesen" über einzelne Lebewesen und „Stein" und „Holz" über einzelne Steine und Hölzer ausgesagt. Partikuläre Dinge aber sind diejenigen, die nicht über anderes prädiziert werden - wie „Cicero", „Piaton", „dieser Stein, aus dem diese Statue des Achilles gemacht wurde", und „dies Holz, aus dem dieser Tisch angefertigt wurde". In all dem kann die Person nicht in der Funktion von Universalien ausgesagt werden, sondern nur in der Funktion von Einzeldingen und Individuen; denn es gibt keinerlei Person des Lebewesens oder des allgemeinen Menschen, sondern die einzelnen Personen werden nach Cicero, Piaton oder den einzelnen Individuen benannt.
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III Wenn es nur eine Person in den Substanzen gibt, und dann nur in den vernunftbegabten, wenn jede Substanz eine Natur ist, jedoch die Person nicht in den Universalien, sondern in den Individuen existiert, so muß die ermittelte Definition der Person also folgendermaßen lauten: „Die Person ist die individuelle Substanz einer vernunftbegabten Natur." Mit dieser Definition haben wir aber nun genau dasjenige bestimmt, was die Griechen als ύπόστασις bezeichnen. Denn das Wort „Person" ist anscheinend von anderswoher gekommen. Ich meine damit die „Personen" (Masken), welche in den Komödien und Tragödien die Menschen repräsentieren, um die es sich in ihnen handelt. „Persona" jedoch kommt [im Lateinischen] von „personare" („durchtönen"), was auf der vorletzten Silbe betont wird. Wenn es aber auf der vorvorletzten Silbe betont wird, dann kommt es offensichtlich von „sonus" (Ton). Es kommt deswegen von „sonus", weil es notwendig ist, daß ein stärkerer Ton durch die Maskenhöhlung hervorgebracht wird. Die Griechen nennen diese „Personen" auch πρόσωπα [Masken], weil sie im Gesicht getragen werden und dieses vor den Blicken verbergen: παρά τοϋ προς τους ώπας τίθεσθαι [von: „vor das Gesicht setzen"]. Weil aber, wie gesagt, die Schauspieler die einzelnen Menschen, die in der Tragödie oder Komödie vorkamen, durch aufgesetzte Masken darstellten, das heißt Hekabe, Medea, Simon oder Chremes, haben die Lateiner und Griechen auch die übrigen Menschen, die entsprechend der ihnen eigenen Form sicher erkannt würden, als „persona" bzw. πρόσωπα bezeichnet. Weit genauer aber haben jene [die Griechen] die individuelle Subsistenz einer vernunftbegabten Natur durch das Wort ύπόστασις bezeichnet. In Ermangelung von charakteristischen Namen behalten wir jedoch die übertragene Benennung bei, indem wir das, was jene ύπόστασις nennen, als „Person" bezeichnen. Das besser mit den Ausdrücken vertraute Griechenland bezeichnet mit ύπόστασις jedoch die individuelle Subsistenz; und um die griechische Sprache in Dingen zu gebrauchen, welche durch die Griechen erörtert und ins Lateinische übertragen wurden: αί ούσίαι έν μεν τοις καθόλου είναι δύνανται- έν δέ τοις άτόμοις και κατά μέρος μόνοις υφίστανται. Das bedeutet: „Die Substanzen können zwar in den Universalien sein, von wirklicher Existenz aber sind sie nur in den Individuen und partikulären Dingen." Die Idee der universalen Dinge ist nämlich von den partikulären gewonnen worden. Weil die Subsistenzen in den Universalien ein Dasein haben, in den partikulären Dingen aber die wirkliche Existenz gewinnen, hat man zu Recht Subsistenzen, die partikulär existieren, als υποστάσεις bezeichnet. Für jemanden, der genauer und intensiver hinschaut, wird es nun aber auch nicht den Anschein haben, daß Subsistenz und Substanz ein und dasselbe sind. Denn das, was die Griechen ούσίωσις oder ούσιώσθαι nennen, das bezeichnen wir als „Subsistenz" oder „Subsistieren"; was jene jedoch als ύπόστασις bzw. ύφίστασΟαι bezeichnen, das übersetzen wir mit „Substanz" bzw. „wirklich existieren" [substare]. Dasjenige subsistiert, was dazu, daß es sein kann, der Akzidentien nicht
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bedarf; dasjenige aber existiert wirklich, was verschiedenen Akzidentien eine gewisse Grundlage verschafft, damit sie sein können; denn es liegt ihnen zugrunde, insofern es für die Akzidentien eine Grundlage darstellt. Darum subsistieren die Genera und Spezies auch nur, denn Akzidentien haften nicht an den Genera oder Spezies. Die Individuen aber subsistieren nicht nur, sondern existieren auch wirklich. Denn auch sie bedürfen keiner Akzidentien, um zu sein; sie sind schon durch die Propria und spezifischen Differenzen geprägt worden und sind den Akzidentien, damit diese existieren können, behilflich, da sie ja Existenzgrundlagen sind. Deshalb wird είναι und ούσιώσϋαι als „sein" und „subsistieren", ύφίστασϋαι aber als „wirklich existieren" begriffen. Griechenland ist nämlich nicht arm an Worten, wie Marcus Tullius in leichter Anspielung sagt,1 sondern gibt „Wesen" [essentia], „Subsistenz", „Substanz" und „Person" mit ebensoviel Namen wieder: es nennt das Wesen ούσία, die Subsistenz ούσίωσις, die Substanz ύπόστασις, die Person πρόσωπον. Die Griechen haben deshalb die individuellen Substanzen als υποστάσεις bezeichnet, weil sie dem übrigen zugrunde liegen und für bestimmte Akzidentien tragend und zugrundeliegend sind. Darum bezeichnen wir aber auch diejenigen Substanzen als gewissermaßen tragende, welche sie υποστάσεις nennen; und weil sie dieselben Substanzen auch πρόσωπα nennen, können wir sie auch als Personen bezeichnen, ούσία ist also dasselbe, was Wesen ist, ούσίωσις dasselbe, was Subsistenz, ύπόστασις dasselbe, was Substanz und πρόσωπον dasselbe, was Person ist. Der Grund dafür, daß ein Grieche Lebewesen, die nicht mit Vernunft begabt sind, nicht mit ύπόστασις bezeichnet, wir hingegen über sie den Namen „Substanz" prädizieren, ist der, daß dieser Name auf Besseres angewendet worden ist, um das, was vollkommener ist, hervortreten zu lassen - wenn auch nicht mittels einer Kennzeichnung der Natur entsprechend dem, was ύφίστασϋαι und „wirklich existieren" besagt, dann aber gewiß durch die Wörter ύπόστασις bzw. „Substanz". Der Mensch hat also ein Wesen (ούσία), eine Subsistenz (ούσίωσις), eine ύπόστασις (Substanz), ein πρόσωπον (Person); eine ούσία oder Wesen, weil er ist; eine ούσίωσις oder Subsistenz, weil er nicht in einem Zugrundeliegenden ist; eine ύπόστασις oder Substanz, weil er anderem zugrunde liegt, das nicht Subsistenz (ούσίωσις) ist; πρόσωπον oder Person, weil er ein vernunftbegabtes Individuum ist. Auch Gott ist ούσία bzw. Wesen, denn er ist und ist in höchstem Maß er selbst, von dem alles Sein ausgeht. Er ist eine ούσίωσις, d. h. eine Subsistenz, denn er subsistiert und benötigt dazu nichts; und ebenfalls ist er ein ύφίστασϋαι, da er wirklich existiert. Daher sagen wir auch, daß es eine einzige ούσία bzw. ούσίωσις, d. h. Wesenheit oder Subsistenz der Gottheit [deitas] gibt, aber drei ύποστάσεις, d. h. drei Substanzen. Und dementsprechend sprach man von einem Wesen der Trinität, drei Substanzen und drei Personen. Würde nicht der kirchliche Sprachgebrauch gegen die Annahme von drei Substanzen in Gott sein, dann könnte Gott anscheinend mit dem Terminus „Substanz" bezeichnet werden; zwar nicht deshalb, weil er für die übrigen Dinge gewissermaßen als Zugrundeliegendes vorausgesetzt werden
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könnte, vielmehr darum, weil er genauso, wie er alles lenkt, auch als Prinzip den Dingen zugrunde liegen kann, insofern er ihnen allen das ούσιώσθαι bzw. Subsistieren verschafft. IV Das alles sollte deshalb gesagt werden, um die Differenz von Natur und Person, d. h. von ούσία und ύπόστασις, zu veranschaulichen. Mit welchem Namen nun aber jedes bezeichnet werden muß, soll dem Urteil des kirchlichen Sprachgebrauchs überlassen werden. Indessen kann als erwiesen gelten, was wir oben gesagt haben: daß sich Natur und Person unterscheiden. Denn die Natur ist die spezifische Eigenschaft jeder Substanz, die Person aber die individuelle Substanz einer vernunftbegabten Natur. Für letztere ist Nestorios 2 der Auffassung, daß sie in Christus doppelt ist, wobei er dem Irrtum unterliegt zu glauben, man könne in allen Naturen eine Person sehen. Dies nämlich vorausgesetzt, bekennt er, weil er meinte, daß es in Christus eine doppelte Natur gibt, daß auch die Person eine doppelte ist. Worin sein Irrtum besteht, beweist eindeutig zwar schon die obengenannte Definition, besonders aber auch der folgende Beweisgang: wenn es von Christus nicht [nur] eine einzige Person gibt und es auf der Hand liegt, daß es zwei Naturen gibt - die des Menschen und die Gottes (so unverständig aber ist keiner, daß er jede von beiden grundsätzlich aus der Überlegung ausschließt) -, so folgt daraus, daß es anscheinend zwei Personen gibt denn die Person ist die individuelle Substanz einer vernunftbegabten Natur, wie schon gesagt wurde. Welche Verbindung also von Mensch und Gott ist zustande gekommen? Etwa so, daß, indem zwei Körper sich zueinander fügen, sie nur örtlich verbunden sind und nichts an Qualität von einem zum anderen gelangt? Solcherart Verbindung nennen die Griechen κατά ποφάϋεσιν [in Nebeneinanderstellung]. Wenn aber das Menschentum derart mit der Göttlichkeit verbunden ist, dann kommt aus ihnen beiden zusammen nichts zustande, und dadurch ist Christus ein Nichts. Der bloße Name [von Christus] bezeichnet freilich auf Grund der Individualität des Wortes ein bestimmtes Eins. Wenn nun aber die Verbindung aus den Naturen von der Art, wie wir sie weiter oben nannten - bei Erhaltung der beiden Personen - erfolgt ist, dann konnte aus beiden nicht ein Eins bewirkt werden: denn aus zwei Personen kann grundsätzlich nichts entstehen. Nestorios zufolge ist Christus also nicht Eins und damit überhaupt nichts, denn was nicht Eins ist, kann auch überhaupt nicht existieren. Existieren [esse] und Eins sind nämlich ineinander umwandelbar, und alles, was Eins ist, existiert. Auch das, was aus mehrerem vereint ist, ist Eins - Eines wie ein Haufen, ein Chor. Wir bekennen jedoch offen und wahrhaftig, daß Christus existiert, und sagen also, daß Christus Eins ist. Wenn das aber so ist, dann existiert ohne Zweifel auch notwendig eine einzige Person von Christus: denn wären zwei Personen (da), so könnte er nicht eins sein; nun aber zu behaupten, daß es zwei Christus gibt, ist nichts anderes als der Wahnsinn eines ruinierten Geistes. Denn wieso wagt
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er überhaupt von zwei Christus zu sprechen und den einen als Mensch und den anderen als Gott zu bezeichnen? Oder warum nennt er den, der ein Gott ist, Christus, wenn er ebenfalls denjenigen, der ein Mensch ist, Christus nennen will, wo sie doch nichts Ähnliches und nichts aus einer Vereinigung herrührendes Gemeinsames besitzen? Warum benutzt er fälschlicherweise einen gleichen Namen für äußerst verschiedene Naturen, da er doch, wenn er veranlaßt wird, Christus zu definieren, für beide Christus - wie er selbst sagt - nicht die eine Substanz der Definition hinzuziehen kann? Denn wenn die Substanz Gottes und des Menschen verschieden ist, aber für beide nur der eine Name Christi gilt, und wenn nicht angenommen wird, daß eine Verbindung von verschiedenen Substanzen eine Person erzeugen kann, dann ist der Name Christi homonym und kann von keiner Definiton erfaßt werden. In welchen Schriften aber wird der Name von Christus jemals in Verdoppelung aufgeführt? Was ist denn neu, das durch die Ankunft des Erlösers bewirkt worden ist? Denn für die Katholiken steht sowohl die Wahrheit des Glaubens als auch die Seltenheit des Wunders fest. Wie groß ist es aber doch und wie unerhört neu, was nur einmal, nicht aber in irgendeinem anderen Jahrhundert auftreten kann, daß die Natur dessen, der einzig Gott ist, mit der menschlichen Natur, die von ihm so verschieden wie nur möglich war, zusammenkam und so aus voneinander entfernten Naturen durch Vereinigung eine einzige Person wurde! Was ist dann nun aber Nestorios zufolge neu? „Menschentum und Göttlichkeit bewahren", so sagt er, „ihre jeweils eigentümlichen Personen." Wann aber hat es denn keine jeweils eigene Person der Göttlichkeit und des Menschentums gegeben? Wann wird es sie nicht geben? Oder was geschieht in der Geburt von Jesus mehr, als in der eines beliebigen anderen, wenn bei Trennung von beiden Personen auch verschiedene Naturen vorhanden sind? Bei Erhaltung der Personen konnte es dabei somit keinerlei Verbindung von Naturen geben; wie es auch bei jedem beliebigen Menschen ist, dessen Natur, insofern seine eigene Person subsistiert, keinerlei Göttlichkeit besitzt, die mit jener über alle Maßen vollkommenen Substanz verbunden ist. Vielleicht aber will er Jesus, das heißt die Person eines Menschen, darum „Christus" nennen, weil durch sie eine gewisse wunderbare Göttlichkeit verwirklicht worden sein soll. Es sei! Warum will er jedoch Gott selbst mit der Benennung „Christus" versehen? Warum aber wagt er es nicht, auch die Elemente mit dem gleichen Wort zu benennen, durch welche Gott in den tagtäglichen Bewegungen Wunderbares tut? Etwa deshalb, weil die nicht mit Vernunft begabten Substanzen keine Person besitzen können, durch die sie den Namen „Christus" annehmen könnten? Erkennt man denn nicht auch bei den heiligen und durch Frömmigkeit auffallenden Menschen klar das Wirken Gottes? Denn es ist kein Grund dafür gegeben, daß er nicht auch die heiligen Männer der gleichen Benennung für würdig halten kann, wenn bei der Annahme [assumptio] des Menschentums [durch Christus] keine einheitliche Person aus der Vereinigung hervorgeht. Vielleicht aber wird er sagen: „Ich räume ein, daß auch jene als Christus bezeichnet werden, jedoch in
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Hinsicht auf ein Ebenbild zum wahren Christus." Wenn es aber keine aus Mensch und Gott vereinte Person gibt, dann werden wir alle für wahre Christus halten wie den, von dem man glaubt, er sei von der Jungfrau geboren. In ihm ist freilich keine aus der Verbindung von Gott und Mensch entstandene einheitliche Person; und ebensowenig bei denen, die im Geiste Gottes über den kommenden Christus predigten, auf Grund dessen auch sie „Christus" genannt werden. Hieraus folgt jedoch direkt, daß bei Wahrung der Personen in keiner Weise geglaubt werden kann, daß das Menschentum durch die Göttlichkeit angenommen wurde. Denn völlig verschieden sind diejenigen Dinge, welche gleichermaßen als Personen wie als Naturen voneinander getrennt sind - sie sind kurz gesagt unvereinbar; und Menschen und Ochsen sind nicht mehr voneinander geschieden, als die Göttlichkeit und das Menschentum in Christus voneinander getrennt sind, wenn die Personen erhalten bleiben. Freilich werden Ochsen und Menschen durch die Gemeinsamkeit, Lebewesen zu sein, miteinander verbunden, denn sie besitzen hinsichtlich des Genus eine gemeinsame Substanz und mit der Zusammenfassung [collectio] durch eine Allgemeinheit [universalitas] ein und dieselbe Natur. Was aber wird denn überhaupt bei Gott und Mensch auf Grund ihrer Verschiedenheit nicht verschieden sein, wenn man glaubt, daß bei Verschiedenheit der Natur auch die Trennung der Personen erhalten bleibt? Das Menschengeschlecht ist also nicht erlöst worden; uns wurde kein Heil durch die Geburt von Christus zuteil, und die Schriften der Propheten haben das gläubige Volk betrogen. Alle Autorität des Alten Testaments wird verachtet, durch die der Welt mit der Geburt von Christus das Heil versprochen wird. Es liegt auf der Hand, daß das Heil nicht gekommen ist, wenn in der Person genau dieselbe Verschiedenheit gegeben ist, wie in der Natur. Denn freilich hat er eben denjenigen erlöst, den er [in dessen Natur] nach dem Glauben angenommen hat; es kann aber keine Annahme [des Menschen] erkannt werden, wenn die Trennung sowohl der Natur als auch der Person bestehen bleibt. Der also durch die Erhaltung der Person nicht angenommen werden konnte, hat offensichtlich durch die Geburt von Christus nicht gerettet werden können. Es gibt durch die Geburt von Christus also keine erlöste Natur der Menschen, was zu glauben eine Sünde ist. Obgleich es sehr vieles geben mag, was diese Ansicht angreifen und vernichten könnte, soll aus der Fülle der Argumente dies fürs erste als Auswahl genügen. V Nun ist zu Eutyches 3 überzugehen, der, da er von der Bahn der Alten abgewichen war, zum entgegengesetzten Irrtum kam, indem er behauptet, daß es insofern abwegig ist, anzunehmen, in Christus sei eine doppelte Person, als in ihm eine doppelte Natur nicht unterstellt werden muß. Er sagt daher, daß der Mensch so angenommen wurde, daß bei der Vereinigung mit Gott die menschliche Natur nicht erhalten blieb. Sein Irrtum besitzt dieselbe Quelle wie der des Nestorios. Denn er
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glaubt genauso wie Nestorios, daß es eine doppelte Natur nicht geben kann, ohne daß auch die Person eine doppelte ist; und wie dieser annahm, daß in Christus eine doppelte Natur ist und demzufolge glaubte, daß auch die Person eine doppelte ist, hielt es auch Eutyches für unmöglich, daß eine doppelte Natur ohne die Verdoppelung der Person existieren kann; und weil er nicht sagte, daß die Person eine doppelte ist, urteilte er folgerichtig, daß es offenbar nur eine einzige Natur gibt. Wenn somit Nestorios richtig behauptet, daß es in Christus eine doppelte Natur gibt und glaubenswidrig sagt, daß es zwei Personen gibt, dann glaubt Eutyches demgegenüber richtig, daß es eine einzige Person gibt, jedoch falsch und gottlos, daß es auch nur eine Natur gibt. Er, der durch die Klarheit der Tatsachen widerlegt wurde da nun einmal auf der Hand liegt, daß die eine Natur zum Menschen und eine andere zu Gott gehört -, bekennt, daß es in Christus vor der Vereinigung zwei Naturen gibt, nur eine einzige jedoch nach der Vereinigung. Diese Äußerung spricht jedoch seine Absicht nicht unverhüllt aus. Um dennoch seinen Wahnsinn zu erkennen: diese Vereinigung erfolgte entweder zur Zeit der Geburt oder zur Zeit der Auferstehung Christi; wenn sie aber zur Zeit der Geburt erfolgte, dann scheint er zu glauben, daß es auch vor der Geburt menschliches Fleisch gab, welches nicht von Maria kam, sondern in irgendeiner anderen Weise vorbereitet wurde; hierbei betrachtet er die Jungfrau Maria nur als Beiwerk und als eine Gebärerin von Fleisch, das nicht von ihr sein kann; jenes Fleisch jedoch, was davor war, soll von der Substanz der Göttlichkeit verschieden und getrennt sein; sobald er von der Jungfrau geboren wurde, soll er mit Gott vereinigt sein, so daß anscheinend eine einheitliche Natur entstanden ist. Wenn dies vielleicht aber nicht seine Meinung ist, dann vielleicht jene - insofern er sagt, daß vor der Vereinigung zwei, nach der Vereinigung eine Natur da ist, sobald die Vereinigung mit der Geburt vollzogen ist -, daß Christus zwar den Körper von Maria empfangen hat, jedoch vor dessen Annahme die Natur der Göttlichkeit und des Menschentums verschieden gewesen ist; daß nach der Annahme der Natur jedoch eine einzige entstand und die Natur des Menschen in der Substanz der Göttlichkeit aufging. Wenn er aber denkt, daß diese Vereinigung nicht bei der Geburt, sondern bei der Auferstehung Christi vollzogen wurde, dann wird man sich das wiederum auf zweierlei Weise vonstatten gehen denken: entweder wurde Christus geboren und hat den Körper nicht von Maria empfangen oder aber er hat das Fleisch von ihr empfangen, so daß es bis zu seiner Auferstehung gewissermaßen zwei Naturen gegeben hat, die danach vereint wurden. Hieraus entsteht jene Alternativfrage, die wir so stellen: Hat Christus, der von Maria geboren wurde, von ihr menschliches Fleisch erhalten oder nicht? Wenn er nicht sagt, daß er es von ihr erhalten hat, so soll er sagen, in Gestalt welches Menschen er hergekommen ist - ob in Gestalt dessen, der durch sündhaften Ungehorsam gefallen war, oder in Gestalt eines anderen? Wenn in Gestalt dessen, aus dessen Samen der Mensch überhaupt hervorging, so soll er sagen, wen die
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Göttlichkeit bekleidete. Denn wenn das Fleisch, aus dem er entstand, nicht aus dem Samen Abrahams, Davids und zuletzt auch Marias entstand, so mag Eutyches zeigen, aus dem Fleisch welches Menschen er abstammen soll: denn nach dem ersten Menschen wird doch wohl alles menschliche Fleisch vom menschlichen Fleisch hervorgebracht. Welchen Menschen er aber nennen mag, von dem die Geburt des Erlösers sein soll - außer der Jungfrau Maria - , so wird er durch einen Irrtum in Verwirrung gebracht, und er wird selbst der Betrogene sein, wenn er der höchsten Gottheit das Zeichen der Lüge anhängt: denn was Abraham und David in den heiligen Weissagungen versprochen wird - daß aus ihrem Samen das Heil für die gesamte Welt entsteht - , das weist er anderen zu: denn besonders, wenn das menschliche Fleisch bereits empfangen wurde, kann es doch von niemand anderem mehr empfangen werden, als von dem, durch den es auch geboren wurde. Wenn der menschliche Körper Christi also nicht von Maria kommt, sondern von irgend jemand anderem, und dennoch durch Maria das erzeugt worden ist, was durch Ungehorsam vernichtet worden war, dann wird Eutyches durch das weiter oben genannte Argument widerlegt. Wenn Christus aber nicht in den Menschen gekleidet war, der zur Strafe für die Sünde den Tod erlitt, dann tritt ein, daß der nicht aus dem Samen eines Menschen geboren werden konnte, der frei war von der Strafe der Erbsünde. Solch ein Fleisch kommt also von niemandem, so daß eintritt, daß es anscheinend ursprünglich und neuartig gebildet wurde. Erweckt dieses Fleisch nun vor den A u g e n der Menschen einen solchen Eindruck, daß der Körper für menschlich gehalten wurde, was er in Wirklichkeit gar nicht sein konnte, da er doch keiner ursprünglichen Strafe unterworfen war; oder ist vielmehr zeitweilig eine wirklich neue menschliche Natur gebildet worden, die jedoch nicht der Strafe der Erbsünde unterliegt? Wenn ein wirklicher menschlicher Körper nicht dagewesen ist, dann wird unverhüllt die Göttlichkeit als betrügerisch bezeichnet, die den Menschen einen Körper vorgetäuscht hätte, der kein wirklicher ist, wodurch dann alle betrogen werden würden, welche ihn für einen wahren hielten. Wenn aber ein neues und wirkliches, nicht vom Menschen stammendes Fleisch gebildet wurde - wozu dann eine solche Tragödie der Geburt? Wozu der Umweg der Passion? Ich meinerseits kann selbst beim Menschen nur für töricht erachten, was unnütz getan wurde. Welchem Nutzen aber soll solch eine erfolgte Erniedrigung der Göttlichkeit dienen, wenn der Mensch, der verloren ging, nicht durch die Geburt und die Passion von Christus erlöst worden ist, weil die Annahme der Menschengestalt verweigert wurde? W i e also der Irrtum des Eutyches seinen Anfang aus der gleichen Quelle schöpfte, wie der des Nestorios, so wird er auch zum gleichen Ende kommen, so daß auch nach Eutyches das Menschengeschlecht nicht erlöst worden ist, da ja der, welcher krank war und der Erlösung und Sorge bedürfte, nicht von der Gottheit angenommen wurde. Diesen Schluß hat er offenbar gezogen, vorausgesetzt, daß er sich in der Weise irrte, daß er glaubte, der Körper von Christus sei nicht wirklich vom Menschen gekommen, sondern von außerhalb und im Himmel gebildet worden, da
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man ja glaubt, daß er mit ihm in den Himmel gelangte. Es bedeutet dies folgendes: „es gelangt nur der in den Himmel, der vom Himmel herabkommt." VI Zu der Annahme, daß der Körper, den Christus empfangen hat, nicht von Maria stammt, scheint genug gesagt worden zu sein. Wenn er aber von Maria empfangen ist und keine vollkommene menschliche wie göttliche Natur erhalten bleibt, dann kann das auf dreierlei Art erwirkt werden: entweder wurde die Göttlichkeit in das Menschentum oder das Menschentum in die Göttlichkeit übertragen oder aber beide sind untereinander so abgestimmt und vermischt, daß keine von beiden Substanzen ihre eigene Form behielt. Wenn aber die Göttlichkeit in das Menschentum übertragen wurde, dann tritt ein - was zu glauben eine Sünde ist -, daß das Menschentum in seiner unveränderlichen Substanz bleibt und die Göttlichkeit sich wandelt und daß das, was natürlicherweise als leidensfähig und veränderlich existiert, eben das Unveränderliche bliebe, während das, was man natürlicherweise für unveränderlich und nicht leidend hält, in eine veränderliche Sache verwandelt würde. Das kann also überhaupt nicht sein. Vielleicht aber scheint die menschliche Natur in die Göttlichkeit verwandelt zu sein. Wie aber ist das möglich, wenn bei der Geburt von Christus die Göttlichkeit sowohl eine menschliche Seele als auch einen Körper annimmt? Denn es kann nicht jedes Ding in jedes Ding verwandelt und umgewandelt werden. Da es von den Substanzen einerseits körperliche und andererseits unkörperliche gibt, kann weder die körperliche in eine unkörperliche, noch die unkörperliche in die, welche ein Körper ist, verwandelt werden. Die unkörperlichen vertauschen aber auch nicht untereinander ihre eigenen Formen; denn es können einzig diejenigen Dinge untereinander vertauscht und umgewandelt werden, die die gemeinsame Existenzgrundlage einer einheitlichen Materie besitzen aber auch nicht sie alle, sondern nur die, die untereinander sowohl wirken als auch leiden können. Das wird nun so bewiesen: denn weder kann Bronze in Stein verwandelt werden noch auch dieselbe Bronze in Gras, noch kann ein Körper in einen beliebigen anderen umgeformt werden, wenn nicht die Materie der ineinander übergehenden Dinge ein und dieselbe ist und sie von sich aus sowohl wirken als auch leiden können - etwa so, wie Wein und Wasser beschaffen sind, wenn sie vermischt sind, die Wirken und Leiden gemeinsam haben. Die Qualität des Wassers kann nämlich von der Qualität des Weines etwas erleiden, und ebenso kann auch die Weinqualität etwas von der Wasserqualität erleiden. Wenn viel Wasser und wenig Wein da war, so werden sie deshalb nicht als vermischt bezeichnet, sondern eins wird durch die Qualität des anderen vernichtet. Denn wenn jemand Wein ins Meer schüttet, so ist dem Meer kein Wein beigemischt worden, sondern er ist im Meer vernichtet worden, weil die Qualität des Wassers durch den Umfang seiner Masse nichts von der Qualität des Weins erlitten hat, sondern eher die Qualität des Weins
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durch den eigenen Umfang zu Wasser verändert hat. Wenn es aber abgewogene und einander gleiche oder geringfügig ungleiche Naturen sind, die von sich aus leiden und wirken können, dann vermischen sie sich und werden untereinander durch die in einem ausgewogenen Verhältnis stehenden Qualitäten beherrscht. Dies ist nun nicht bei allen Körpern gegeben, sondern nur bei denen, die - wie gesagt - sowohl wirken als auch leiden können und die gleiche Materie zur Existenzgrundlage haben. Jeder Körper, der durch Entstehen und Vergehen subsistiert, hat anscheinend eine gemeinsame Materie [mit anderen]; nicht jeder aber kann von jedem bzw. in jedem etwas erwirken oder erleiden. Körperliches aber kann auf keinen Fall in Unkörperliches verwandelt werden, da sie ja keinen Anteil an einer gemeinsamen zugrundeliegenden Materie haben, die sich nach der Aufnahme von Qualitäten in eine von beiden verwandeln könnte. Keine Natur einer unkörperlichen Substanz benötigt nämlich die Zugrundelegung einer Materie, und andererseits gibt es keinen Körper, der keine zugrundeliegende Materie besäße. Weil das so ist und weil freilich auch dasjenige, was natürlicherweise eine gemeinsame Materie besitzt, ineinander nur übergeht, wenn es über die innere und gegenseitige Fähigkeit des Wirkens und Leidens verfügt, dann werden sich diejenigen Dinge um so weniger ineinander verwandeln, die nicht nur keine gemeinsame Materie haben, sondern sich auch so verhalten, daß die eine Sache die Zugrundelegung einer Materie benötigt - wie zum Beispiel ein Körper -, während die andere die Grundlage einer Materie nicht nötig hat - wie etwa das Unkörperliche. Es kann also nicht geschehen, daß ein Körper in eine unkörperliche Art verwandelt wird, oder daß sich das Unkörperliche durch eine Vermischung ineinander verwandelt. Denn was keine gemeinsame Materie hat, kann auch nicht ineinander verwandelt und umgewandelt werden. Nun gibt es aber für die unkörperlichen Dinge keine Materie; folglich können sie sich nicht ineinander verwandeln. Mit Recht aber hält man die Seele und Gott für unkörperliche Substanzen; die menschliche Seele ist also nicht in die Göttlichkeit, von der sie angenommen wurde, verwandelt worden. Wenn aber weder der Körper noch die Seele in Göttlichkeit umgewandelt werden konnten, dann konnte es unmöglich geschehen, daß das Menschentum in Gott verwandelt wurde. Noch viel weniger aber läßt sich glauben, daß sich beides ineinander vermischt, da ja weder die Unkörperlichkeit in einen Körper noch umgekehrt der Körper in die Unkörperlichkeit übergehen kann, weil es nun einmal für sie keine gemeinsame zugrundeliegende Materie gibt, die sich zu einer von beiden Qualitäten der Substanzen verändern würde. Daher meinen die Anhänger des Eutyches auch, daß Christus zwar aus beiden herrührt, jedoch nicht aus beiden Naturen besteht. Sie orientieren sich dabei freilich darauf, daß dasjenige, was aus zweierlei herrührt, so zu einem Einheitlichen werden kann, daß das, woraus es herrühren soll, nicht erhalten bleibt: so zum Beispiel bleiben weder Honig noch Wasser erhalten, wenn sie vermischt werden, sondern das, was durch die Verbindung mit dem anderen vernichtet wurde, hat etwas Drittes
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erwirkt. Daher wird freilich gesagt, daß dasjenige, was als Drittes aus Honig und Wasser entstand, aus jedem von beiden herrührt, jedoch wird verneint, daß es aus beiden besteht - denn es könnte nicht aus beiden bestehen, da doch die Natur von beiden nicht fortbesteht. Es kann gleichwohl aus beiden herrühren, wenn auch dasjenige, woraus es zusammengesetzt ist, durch die jeweils andere Qualität vernichtet wurde. Es wird aber nicht aus zweierlei von dieser Art bestehen können, da ja das, was sich ineinander ergoß, nicht erhalten bleibt; und beides, woraus es dem Anschein nach besteht, existiert nicht, da es aus zweierlei herrührt, was sich durch Veränderung der Qualitäten ineinander verwandelt hat. Die Katholiken bekennen jedoch vernünftigerweise beides: daß Christus sowohl aus beiden Naturen herrührt als auch aus beiden besteht [consistere ex utrisque et in utrisque naturis]. Mit welcher Begründung das gesagt wird, werde ich wenig später erklären. Zunächst ist erwiesen, daß die Auffassung des Eutyches namentlich dadurch widerlegt wurde, daß ungeachtet dessen, daß eine einzige Natur auf dreierlei Weise aus zweien herrühren kann - indem die Göttlichkeit in das Menschentum oder das Menschentum in die Göttlichkeit übertragen oder beide vermischt worden sind -, dennoch nichts davon wirklich geschehen kann. Das erhellt aus dem oben angeführten Beweisgang. VII Es bleibt zu zeigen, in welcher Weise der katholische Glaube sagt, daß Christus sowohl aus beiden Naturen besteht als auch aus beiden Naturen herrührt. Daß etwas aus zwei Naturen herrührt, bedeutet zweierlei: Einmal, wenn wir sagen, daß sich etwas so aus zwei Naturen zusammensetzt, wie Honig und Wasser. Das bedeutet nun aber, daß von irgendwie vermischten Dingen - mag das eine in das andere verwandelt werden oder mögen sich beide ineinander vermischen beide unter keinen Umständen erhalten bleiben. In eben diesem Sinne sagt Eutyches, daß Christus aus beiden Naturen herrührt. Die andere Möglichkeit für das Bestehen aus zweierlei aber ist, daß etwas so aus zweierlei zusammengesetzt ist, daß dieses, woraus es zusammengesetzt sein soll, erhalten bleibt und sich auch nicht in eines von beiden verwandelt - wie wir zum Beispiel sagen, daß eine Krone aus Gold und Edelsteinen zusammengesetzt ist: hier ist weder das Gold in die Edelsteine übertragen worden, noch ein Edelstein in Gold verwandelt, vielmehr bleiben beide bestehen und geben nicht ihre eigene Form auf. Wir sagen also, daß solches aus gewissen Dingen Entstandenes aus dem besteht, woraus es laut Prädikation herrührt. Denn wir können dann sagen, daß eine Krone durch Edelsteine und Gold existiert: Edelsteine und Gold sind es nämlich, woraus eine Krone besteht. Im ersten Fall aber sind es nicht Honig und Wasser, aus denen das, was sich aus beiden zusammensetzt, besteht. Wenn also der katholische Glaube bekennt, daß beide Naturen in Christus erhalten bleiben, daß sie als vollkommene
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fortbestehen und daß die eine nicht in die andere verwandelt wird, dann verkündet er zu Recht, daß Christus sowohl aus beiden besteht, als auch aus beiden herrührt: aus beiden besteht, weil beide erhalten bleiben, und aus beiden herrührt, weil durch die Vereinigung aller beider fortbestehenden eine einzige Person von Christus entsteht. Nicht aber in dem Sinne behauptet der katholische Glaube, daß Christus aus beiden Naturen zusammengesetzt ist, in dem es Eutyches verkündet. Denn dieser gebraucht einen solchen Sinn der Verknüpfung aus beiden Naturen, daß er nicht zu bekennen braucht, daß Christus aus beiden besteht, noch daß sie beide erhalten bleiben; ein Katholik aber gebraucht den Sinn von „herrühren aus beiden", der demjenigen am nächsten kommt und den er verteidigt, welcher bedeutet, daß er aus allen beiden besteht. „Aus beiden herrühren" ist also etwas Homonymes, das eher etwas Zweideutiges und bei doppelter Bedeutung Verschiedenes anzeigt: in der einen Bedeutung, daß die Substanzen nicht fortbestehen, aus denen das zusammengesetzt sein soll, was verknüpft wurde; in der anderen Hinsicht, daß beides so zusammengesetzt ist, daß auch beides fortbesteht. Nachdem nun also das Problem der Homonymität und Zweideutigkeit gelöst wurde, gibt es nichts mehr, was gegen den Inhalt des sicheren und wahren katholischen Glaubens eingewendet werden könnte: daß ein und derselbe Christus vollkommener Mensch und Gott ist, und daß eben derselbe, der vollkommener Mensch und Gott ist, zugleich Gott und Sohn Gottes ist; daß aber auch keine Vierheit neben der Dreiheit aufgestellt wird, sobald der Mensch zum vollkommenen Gott hinzugefügt wird, sondern nur eine einzige Person die Dreizahl Vollmacht, so daß, obwohl das Menschentum gelitten hat, dennoch von Gott gesagt wird, er habe gelitten; was nicht heißt, daß die Göttlichkeit zum Menschentum wurde, sondern daß es von der Göttlichkeit angenommen wurde. Ferner wird der, der Mensch ist, als Gottes Sohn bezeichnet - und zwar nicht durch die Substanz der Göttlichkeit, sondern des Menschentums, welche dennoch in natürlicher Einheit mit der Göttlichkeit verbunden ist. Und obgleich diese derart durch die Vernunft getrennt und vereint werden, soll dennoch ein und derselbe sowohl vollkommener Mensch als auch Gott sein Gott deshalb, weil er aus der Substanz des Vaters entstanden ist, Mensch jedoch, weil er von der Jungfrau Maria geboren wurde. Ferner ist der, welcher Mensch ist, dadurch, daß er von Gott angenommen wurde, Gott; und der, welcher Gott ist, ist dadurch, daß er mit dem Menschen bekleidet ist, Mensch. Obgleich in ein und derselben Person zum einen die Göttlichkeit ist, welche [das Menschentum] angenommen hat, und zwar zum anderen das von ihr angenommene Menschentum, ist dennoch ein und derselbe Gott und Mensch. Denn wenn du an den Menschen denkst, dann ist ein und derselbe Mensch und Gott, da er ja Mensch von Natur und Gott durch Annahme ist. Wenn du aber an Gott denkst, so ist ein und derselbe Gott und Mensch, da er ja von Natur Gott und durch Annahme Mensch ist. In ihm besteht eine doppelte Natur und eine doppelte Substanz, da er ja Mensch-Gott ist,
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und eine einzige Person, da derselbe Mensch und Gott ist. Und dies ist auch der mittlere Weg zwischen zwei Häresien, wie ebenfalls die Tugenden die Mitte halten. Jede Tugend besteht nämlich in der in der Mitte der Dinge liegenden Schicklichkeit, weil sie ja aufhörte Tugend zu sein, würde sie mehr oder weniger sein als sich geziemt: die Tugend hält also die Mitte. Wenn die folgenden vier Aussagen aber weder mehr noch weniger [begründet] sein können - daß in Christus nämlich entweder zwei Naturen und zwei Personen seien, wie Nestorios sagt, oder eine Person und eine Natur, wie Eutyches sagt, oder zwei Naturen, aber eine Person, wie es der katholische Glaube vertritt, oder eine Natur und zwei Personen - und da wir in der Antwort, die wir Nestorios gaben, widerlegt haben, daß es sich um zwei Naturen und zwei Personen handelt, und ebenfalls nachwiesen, daß trotz der Äußerung von Eutyches nicht eine Person und eine Natur da sein können (es aber auch bis jetzt niemanden gegeben haben soll, der absurderweise angenommen hätte, daß in ihm eine Natur, aber zwei Personen sind), - bleibt übrig, daß die Meinung richtig ist, welche der katholische Glaube vertritt, daß nämlich eine doppelte Substanz, jedoch nur eine einzige Person existiert. [...]
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ROSCELIN VON COMPIEGNE Brief an Petrus Abaelard*
[...] Man muß wissen, daß in der Substanz der Heiligen Trinität irgendwelche Namen nichts voneinander Verschiedenes bezeichnen - ob in bezug auf etwaige Teile oder in bezug auf etwaige Qualitäten; vielmehr bezeichnen sie dieselbe einzige Substanz, die keine Teile hat und keine qualitativen Veränderungen erfahren hat. Wir bezeichnen also mit „Person" nicht etwas anderes als mit „Substanz", wenngleich wir auf Grund einer bestimmten Sprachgewohnheit die Person, nicht die Substanz, zu verdreifachen pflegen; entsprechend pflegen die Griechen die Substanz zu verdreifachen. Man darf jedoch nicht behaupten, daß sie hinsichtlich des Trinitätsglaubens irrten, wenn sie die Substanz verdreifachen; denn obgleich sie sich anders als wir ausdrücken, glauben sie dennoch dasselbe. Wie wir bereits feststellten, bezeichnen nämlich „Person", „Substanz" oder „Wesen" in Gott unmittelbar ein und dasselbe. Nur in der Ausdrucksweise gibt es eine Verschiedenheit, im Glauben aber eine Einheit. Andernfalls gäbe es bei den Griechen keine Kirche mehr. Wenn sie aber mit dieser Ausdrucksweise das Richtige sagen, dann sehe ich nicht, warum wir lügen sollen, sobald wir dasselbe sagen. Über die Verschiedenheit der göttlichen Substanz hinsichtlich der Qualitäten oder der Bestandteile sprechen der heilige Ambrosius im Werk „De fide" und der heilige Augustinus im Werk „De trinitate" in folgender Weise. Ambrosius sagt: ,„Gott' ist ein Name einer einfachen Substanz, nicht einer zusammengefugten oder zusammengesetzten Substanz; zu ihr kann nichts hinzukommen, sondern sie kann nur das in ihrer Natur haben, was göttlich ist."1 Augustinus sagt: „Alles, was scheinbar unter Bezug auf Qualitäten ,Vater' heißt, muß der Substanz nach oder dem Wesen nach begriffen werden."2 Und ebenso sagt er: „Es sind vier Namen, aber nur ein einziges Ding."3 Wenn wir * Roscelini Compendiensis Epistola ad Abaelardum. - Unser Auszug: in: J. Reiners, Der Nominalismus in der Frühscholastik. Ein Beitrag zur Geschichte der Universalienfrage im Mittelalter. Nebst einer neuen Textausgabe des Briefes Roscelins an Abaelard, Beiträge VIR,5 (1910), S. 72-77.
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diese Namen also wechseln - gleichgültig, ob sie in der Einzahl oder in der Mehrzahl genannt werden so tun wir das nicht deshalb, weil der eine Name etwas anderes als der andere bezeichnen würde, sondern weil das dem Wunsche der Sprechenden entspricht, die an einem solchen Sprachgebrauch Gefallen gefunden haben. Existierten in der Trinität nämlich verschiedenartige Bestandteile, so daß der eine als „Person", ein anderer Teil als „Substanz" bezeichnet werden könnte, so gäbe es vielleicht einen Grund dafür, das eine in der Einzahl und das andere in der Mehrzahl auszudrücken - wie wir zum Beispiel beim Menschen, dessen einer Bestandteil der Körper, der andere die Seele ist, von einer einzigen Seele, aber aufgrund der verschiedenartigen Teile des Körpers von mehreren Körpern sprechen. Mit „Person" wird jedoch keine andere Qualität bezeichnet, als mit „Substanz" oder „Wesen", da ja, wie bereits gesagt, in Gott keinerlei Qualität existiert. Aus dieser großen Zahl von heiligen Schriften erkennt der geneigte Leser also, daß die Heiligen, die diese niederschrieben, unter Gott niemals eine derartige Singularität verstanden haben, daß lediglich ein einzelnes Ding und eine einzelne Substanz durch jene drei Namen benannt worden wäre, um nicht mit einer solchen Auffassung von Gott in jene Sabellianische Ketzerei4 zu verfallen. Denn offenbar ergeben sich aus der Sabellianischen Singularität viele Ungereimtheiten. Das, was ich sagte, habe ich aber auch nicht deshalb gesagt, um jemanden zu belehren, sondern eher deshalb, um, wenn ich die heiligen Schriften nicht richtig verstehe, zu lernen; denn in allem bin ich zu lernen bereiter als zu lehren, und ich ziehe es vor, einen Lehrer zu hören, denn als Lehrer gehört zu werden. Hierin fühle ich mich eins mit dem heiligen Augustinus, wenn dieser zum heiligen Hieronymus sagt: „Obgleich es schöner ist, wenn ein Greis lehrt, als daß er lernt, ist dennoch für mich kein Alter zu hoch, um zu lernen." 5 Es trifft durchaus zu, wenn du sagst, daß ich nur eine singuläre Substanz der Heiligen Trinität anerkenne - nicht jedoch jene Sabellianische Singularität, in deren Gestalt nur ein einziges Ding, nicht aber mehrere, mit Hilfe jener drei Namen benannt wird. Vielmehr geht es mir um eine solche Singularität, die eine dreifache oder dreigliedrige Substanz mit einer solchen Einheit darstellt, wie keine drei Dinge sie jemals besitzen könnten. Denn keine drei Dinge sind in einem solchen Grade singulär und gleich, wie geschrieben worden ist: „In dieser Trinität ist nichts Früheres oder Späteres, nichts Höheres oder Geringeres, sondern alle drei Personen sind gleich-ewig und ebenbürtig." 6 Obgleich das Gesetz sagt, daß Jedes Wort durch den Leumund von zwei oder drei Zeugen bestehen kann",7 wollen wir dennoch einen fünften und sechsten hinzufügen, nachdem wir den dreien schon einen vierten hinzugefügt hatten. Mit deren Zeugnissen wollen wir anstelle einer Mißbilligung der singulären Einheit ebendiese unter Zugrundelegung der bekräftigten Auffassung von der Einheit als Ähnlichkeit und Gleichheit beweisen. Dies tun wir, um nicht den Anschein zu erwecken, als strebten wir mit der Anzahl der Zeugen und kraft berühmter Männer danach, einer Begründung heimlich zu entgehen, und als wagten wir es nicht, den Kampf aufzu-
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nehmen. Sage also, heiliger Athanasius, du Verteidiger der göttlichen Substanz gegen die Arianer, was deine Meinung über diese Substanz ist! Und so, wie du die Arianer besiegt hast, die diese Substanz nach Graden [gradus] diversifizierten, so kannst du auch die Sabellianer besiegen, die die Personen vermischen. Sage: „Man soll weder die Personen vermischen noch die Substanz aufspalten."8 Die Personen vermischt deijenige, der den Vater als Sohn und den Sohn als Vater bezeichnet. Es muß das notwendig der sagen, dessen Überzeugung es ist, daß jene drei Namen nur ein einziges singuläres Ding bezeichnen. Denn alle Namen eines ganz bestimmten singulären Dinges werden wechselseitig voneinander prädiziert. Somit ist also der Vater Fleisch geworden und hat gelitten, weil er selbst der Sohn ist, der dies alles erlitten hat: Beachte, wie sehr dies einem gesunden Glauben entgegensteht! Es folgt: „ . . . noch soll man die Substanz aufspalten." Aufmerksam muß untersucht werden, ob er in jeder oder nur in gewisser Hinsicht verbietet, daß die Substanz der göttlichen Trinität aufgespalten wird. Denn inwiefern wird sie nicht aufgespalten, wenn sie derart eine einheitliche Substanz ist, daß auch mehrere existieren könnten, wie es die griechische Kirche verkündet? Denn alle in der Mehrzahl auftretenden Dinge werden durch das Gesetz der Vielheit aufgespalten; denn es ist gesagt worden, daß jede Differenz in der Vielheit nicht übereinstimmender Dinge besteht. Um was für eine Differenz es sich also bei dieser von uns behaupteten Vielheit von Personen und andererseits bei der von den Griechen behaupteten Vielheit der Substanzen handelt, wollen wir nun untersuchen. Die Substanz des Vaters ist nun gewiß nichts anderes als der Vater, und die Substanz des Sohnes ist nichts anderes als der Sohn; genauso wie die Stadt Rom Rom ist und ein Geschöpf aus Wasser Wasser ist. Da also der Vater den Sohn gezeugt hat, hat die Substanz des Vaters die Substanz des Sohnes gezeugt. Und da die eine die Substanz des Erzeugenden und die andere die gezeugte Substanz ist, ist die eine von der anderen verschieden. Das Erzeugende und das Gezeugte sind immer mehrere Dinge und nicht ein einziges, jenem Ausspruch des heiligen Augustinus zufolge, daß „es keinerlei Ding gibt, das sich selbst erzeugen kann."9 Es ist nämlich die zeugende Substanz ungezeugt, die gezeugte aber ist die einzig geborene. Das Ungezeugte und das Einziggeborene sind jedoch mehrere Dinge, analog zu dem, was Augustinus über die Trinität sagt: „Der Sohn verdankt es dem Vater, daß er diese Substanz ist"; 10 das heißt, daß er eine Substanz ist, hat er vom Vater und von dessen Substanz. Wir können es also nicht gänzlich verhüten, in der Substanz der göttlichen Trinität eine Aufspaltung vorzunehmen. Es verbleibt somit, daß Athanasius in gewisser Weise eine Aufspaltung verbietet. Welcher Art diese sein soll, zeigt er, wenn er erklärt: „In dieser Trinität ist nichts Früheres oder Späteres, nichts Höheres oder Geringeres." Dies hat er natürlich gegen Arius gesagt, der in der Substanz der göttlichen Trinität eine Verschiedenheit im Sinne der Ungleichheit annahm, in dem er den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist nach dem Grad ihrer Würdigkeit unterschied. 11 Darum sagt er also: „Alle drei Personen sind gleich-ewig und ebenbürtig." Denn sind sie gleich-ewig, so
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gibt es nichts Früheres oder Späteres; und sind sie ebenbürtig, dann gibt es nichts Höheres oder Geringeres. Athanasius verbietet also diese Arianische Aufspaltung, gegen die er sich gewandt hatte, nämlich in bezug auf die Unterscheidung von Graden. Denn er untersagt nicht jegliche Aufspaltung, wenn er diese Personen als gleich-ewig und ebenbürtig bezeichnet. Denn sind sie ebenbürtig, dann sind sie auch gleich. Eine Gleichheit existiert aber immer zwischen mehreren Dingen. Nichts ist nämlich sich selbst gleich, um dem zu folgen, was der heilige Ambrosius feststellt: „Niemand ist mit sich selbst gleich." 12 Insoweit er in der Substanz der göttlichen Trinität eine Gleichheit und Gleich-Ewigkeit annimmt, unterstellt er natürlich in ihr eine Aufspaltung im Sinne einer Vielheit. Die Grade des Vorhergehens oder Nachfolgens hat er mit dem Wort „gleich-ewig", die Grade des Geringerseins und Größerseins durch das Wort „ebenbürtig" ausgelöscht. Daß er aber die einheitliche Substanz nicht singulär verstehen will, sondern unter Zugrundelegung der Ähnlichkeit und Gleichheit sie als solche bezeichnet, beweist er klar, wenn er sagt: „Eine Göttlichkeit, gleich in der Herrlichkeit, gleich in ewiger Majestät." 13 Denn hätte er nicht, nachdem er „eine" sagte, hinzugesetzt: „gleich in der Herrlichkeit, gleich in ewiger Majestät", so hätten wir aus Gewohnheit unter der einen eine singuläre [Göttlichkeit] verstanden. Das schließt er aber direkt aus, wenn er sagt: „gleich in der Herrlichkeit" - und macht deutlich, daß er das Eine mit Rücksicht auf die Gleichheit versteht. Genauso, wie wir gezeigt haben, daß er bei seiner Abhandlung der Aufspaltung der Substanz nicht die Aufspaltung überhaupt gemeint hat, sondern nur jene Arianische, das heißt die Aufspaltung mittels der Unterscheidung von Graden, muß auch folgendem ganz besonders nachgegangen werden: weist er mit der Feststellung „nicht drei Ewige, sondern nur ein Ewiger" 14 kategorisch jegliche Vervielfachung der Ewigkeit zurück oder tut er das nur in bestimmter Hinsicht? Denn verneint er generell, daß man von mehreren ewigen Dingen sprechen kann, so widerspricht er sich selbst: er sprach nämlich von drei ewigen Personen und bezeichnete sie als gleich-ewige. Sind sie gleich-ewige, dann sind sie auch ewige. Wieso sind es also nicht drei ewige, wenn jene drei Personen ewige sind? Auch der heilige Augustinus nennt in seinen Abhandlungen „De doctrina Christiana" und „De agone Christiano" die ewigen in der Mehrzahl, indem er sagt: „Von sämtlichen Dingen sind es also allein jene, die wahrhaften Genuß schenken, welche wir als ewige und unveränderliche bezeichnen." 15 Zuvor hatte er nämlich gesagt: „Die Dinge, die uns wahren Genuß schenken, sind Vater, Sohn und Heiliger Geist." 16 Ebenso heißt es im Werk „De agone Christiano": „Wir glauben an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist; diese sind ewige und unveränderliche [Wesen]."17 Wenn Athanasius also mehrere ewige Dinge verneint, so widerspricht er gewiß ebenso sich selbst wie auch Augustinus. Man muß also feststellen, daß es ewige Dinge in der Mehrzahl gibt und in gewisser Hinsicht nicht gibt. Als der Erlöser den Johannes einen Propheten nannte und dieser bestritt ein Prophet zu sein, 18 ging es
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analog. Damit aber kein Verkünder der Wahrheit als Lügner dasteht, ist hinzuzusetzen: in dieser Hinsicht bestritt es jener, in der anderen Hinsicht behauptete es dieser. Er verneinte nämlich nicht generell, Prophet zu sein, sondern nur, daß er ein einfacher Prophet sei, da er mehr als ein Prophet gewesen ist, wenn er nachweist, was er voraussagte. Somit ist also jetzt festzustellen, daß Athanasius nicht generell verneint hat, daß drei ewige [Dinge] existieren, sondern nur in der Beziehung, in der Arius das behauptete, der das Maß der Ewigkeit in den Personen veränderte. Sie waren nämlich ewige in der Mehrzahl, ähnlich wie mehrere ewige Dinge; und sie waren nicht ewige in dem Sinne, daß sich die Ewigkeit in ihnen veränderlich gezeigt hätte. Wer es kann, der versuche, es besser zu sagen. Ich kann es nicht besser, verteidige aber auch nicht bedingungslos, was ich sage. Verkünde auch du, heiliger Isidor, Lehrmeister der Kirchen ganz Spaniens, was du zur verbindlichen Lehrmeinung über die Substanz der heiligen Trinität erklärt hast: „Trinität heißt das, was ein einheitliches Ganzes aus dreierlei Bestimmtem bilden kann." 19 Und ebenso: „Vater, Sohn und Heiliger Geist sind eine Trinität und eine Einheit; eine Einheit auf Grund der Gemeinsamkeit der Majestät; eine Trinität auf Grund der Eigenheit der Personen; sie sind ein gleich-einfaches und gleichunveränderliches Gutes und Gleich-Ewiges. Allein der Vater stammt nicht von einem anderen her und wird darum allein ,ungezeugt' genannt. Allein der Sohn ist vom Vater geboren worden. Die Göttlichkeit wird nicht verdreifacht; denn sobald sie verdreifacht wird, führen wir eine Vielheit von Göttern ein. Das Prädikat,Götter' wird Engeln und heiligen Menschen deshalb in der Mehrzahl verliehen, weil sie nicht zu Recht gleiche sein könnten. Es erweist sich, daß auf Vater, Sohn und Heiligen Geist wegen der einen und gleichen Göttlichkeit nicht das Prädikat,Götter', sondern ,Gott' zutrifft. Bei den Griechen ist der Glaube in der folgenden Weise ausgedrückt: eine ousia - wie wenn man sagte: eine Natur oder ein Wesen -, drei Hypostasen - was in der lateinischen Übersetzung drei Personen oder drei Wesen heißt." 20 Du hast gehört, daß die Trinität wegen der Gemeinsamkeit der Majestät eine einheitliche ist, nicht wegen der Singularität der Würde; denn was etwas Singuläres ist, ist auf keine Weise etwas Allgemeines [commune], und was etwas Allgemeines ist, kann kein Singuläres sein. Wie kann also die Majestät in der Trinität, da sie ja eine allgemeine ist, eine singuläre sein? Du hast auch gehört, daß „Gott" auf Grund der gleichen Göttlichkeit in der Einzahl über die Trinität ausgesagt wird, damit man sich keine Ungleichheit der Göttlichkeit einbildet, wenn man ihn in der Mehrzahl aussagt. Die Göttlichkeit in der Trinität findet aber außerhalb von sich keine gleiche Göttlichkeit. In der Trinität selbst findet also die gleiche Göttlichkeit eine gleiche Göttlichkeit. Ich sehe jedoch nicht, auf welche Weise ein einzelnes und einheitliches Ding mehrere gleiche Wesen darstellen kann. Damit also das Schiff des christlichen Glaubens, das zwischen den beiden Klippen dahineilt, unbeschadet hindurchgelangt, muß man sich vor allem davor hüten, an den Stein der Sabelliani-
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sehen Singularität zu stoßen, bei der man notwendigerweise bekennen muß, daß Gott-Vater Fleisch geworden ist und gelitten hat; ebenso muß man sich davor hüten, in die Gefahr der Arianischen Pluralität zu geraten, indem man die Substanz durch die Bestimmungen „früher" und „später" sowie „höher" und „geringer" wandelbar macht und vermittels der Ungehörigkeit einer Wandelbarkeit eine Vielheit von Göttern einfuhrt. Der Trinität ist die Ein-Zahl Gottes nämlich ausschließlich deswegen vorbehalten worden, damit diese in Gestalt der Trinität selbst und zwischen deren Personen eine gänzliche Gleichheit anzeigt. Den Menschen wird dieses Prädikat hingegen deswegen in der Mehrzahl beigegeben, um zu zeigen, daß hier weder ein und dasselbe Verdienst [mehrfach] noch der Besitz derselben Würde [mehrfach] existiert; so zum Beispiel in den Aussprüchen: „Ich habe gesagt: ihr seid Götter" und „Höre Israel, der Herr, dein Gott, ist ein einiger Gott." 21 Wenn wir also über die Einheit der göttlichen Substanz uneinig zu sein scheinen, so deshalb, weil du - durch die Vermessenheit deines kleinen Talents - dieser Substanz die Einsamkeit der Singularität zuschreibst, ich jedoch durch die Wappnung mit den Urteilen der göttlichen Schriften die Einheit in Gestalt der Ähnlichkeit und Gleichheit verteidigte. Dennoch stimmen wir darin überein, daß wir Gott, der einzig und dreifach ist - wie auch immer das zu begreifen wäre - einmütig darum bitten, daß er die Schatten der Unwissenheit in uns mit Licht erfülle bzw. den Schandfleck der Ungläubigkeit abwasche, unserem Denken die Erkenntnis seiner Wahrheit einflöße und daß uns Jesus Christus, unser Herr, gestatte, daß wir dieses nach Beschwichtigung der Streitsucht gemeinsam als unsere Meinung vertreten. Amen. [...]
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ANSELM VON CANTERBURY Brief über die Fleischwerdung des Wortes Endgültige Fassung*
i. [...] Da also alle angehalten sind, so behutsam wie möglich an die Fragen der Heiligen Schrift heranzugehen, sind nun besonders jene zeitgenössischen Dialektiker, die fürwahr Ketzer der Dialektik sind, ohne Umschweife von der Erörterung geistlicher Fragen auszuschließen.1 Sie halten nämlich die universellen Substanzen nur für einen stimmlichen Hauch, die Farbe können sie nur als Körper begreifen und die Weisheit des Menschen nur als Lebenshauch. In deren Seelen ist dann auch der Verstand, der Herr und Richter über alles sein muß, was im Menschen ist, derartig in körperliche Vorstellungen eingehüllt, daß er sich aus ihnen nicht befreien kann und auch nicht von diesen körperlichen Vorstellungen das zu trennen vermag, was für sich allein und rein betrachtet werden muß. Wer nun nicht einmal begreift, auf welche Weise mehrere Menschen in einer Spezies ein einziger Mensch sein können, wie kann er dann erfassen, in welcher Weise in jener entlegensten und höchsten Natur mehrere Personen, von denen jede einzelne vollkommener Gott ist, ein einziger Gott sein können? Wessen Geist nun für das Unterscheiden seines Pferdes und dessen Farbe unfähig ist, wie sollte er den Unterschied zwischen einem einzigen Gott und dessen vielen Relationen bestimmen? Und wer endlich den Umstand, daß etwas Mensch ist, nur so verstehen kann, daß es ein Individuum ist, wird unter „Mensch" nur eine menschliche Person verstehen. Denn jeder individuelle Mensch ist eine Person. Wie kann dieser also verstehen, daß vom Wort der Mensch und nicht eine Person angenommen wurde,2 das heißt eine vom Wort verschiedene Natur und nicht eine von ihm verschiedene Person angenommen wurde? * Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Epistola de incarnatione Verbi. - Unser Auszug: Kap. 1-16, in: S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Opera omnia. Tom. I, Vol. II, hg. v. F. S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, S. 9-35. - Zitiert als: De incarnatione.
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Ich habe dies vorausgeschickt, damit niemand die höchsten Glaubensfragen zu erörtern wagt, bevor er dazu in die Lage versetzt ist; bzw. damit ihn, wenn er es bereits gewagt hat, keine theoretische Schwierigkeit oder Widersinnigkeit von der Wahrheit, der er durch den Glauben anhängt, abbringt. Nunmehr muß an das gegangen werden, dessentwegen wir begonnen haben. II. Wie ich vernommen habe, sagt jener, dem man die Behauptung zuschreibt, daß die drei Personen [in Gott] wie drei Engel oder wie drei Seelen existieren, folgendes: „Die Heiden verteidigen ihr Gesetz, die Juden verteidigen ihr Gesetz. Folglich müssen auch wir Christen unseren Glauben verteidigen." Wollen wir hören, wie dieser Christ seinen Glauben verteidigen will. „Wenn", so sagt er, „drei Personen nur ein einziges Ding sind, aber nicht getrennt voneinander drei Dinge sind - wie etwa drei Engel oder drei Seelen -, vielmehr in der Weise, daß sie im Willen und Vermögen ein und dasselbe sind: dann ist also der Vater und der Heilige Geist zusammen mit dem Sohn Fleisch geworden." Seht, was dieser Mensch sagt, in welcher Weise dieser Christ seinen Glauben verteidigen will. Offensichtlich will er sich zu drei Göttern bekennen oder er weiß nicht, was er sagt. Wenn er sich aber zu drei Göttern bekennt, ist er kein Christ. Wenn er aber behauptet, was er nicht versteht, so darf man ihm nicht glauben. Diesem Menschen muß man nicht mit der Autorität der Heiligen Schrift antworten, weil er entweder nicht an sie glaubt oder sie in verkehrtem Sinn auslegt. Denn was verkündet die Heilige Schrift klarer, als daß es einen einzigen und alleinigen Gott gibt? Es ist also durch die Vernunft, mittels derer er sich verteidigen will, sein Irrtum nachzuweisen. Um das nun einfacher und kürzer zu machen, möchte ich nur über den Vater und den Sohn sprechen, da diese beiden Personen offensichtlich durch ihre Eigennamen als voneinander verschiedene bezeichnet werden. Denn der Name des Heiligen Geistes ist für den Vater und den Sohn nicht fremd, da jeder von beiden sowohl Geist als auch heilig ist. Was wir aber im Vater und dem Sohn von der Einzigkeit der Substanz bzw. der Vielheit der Personen finden werden, das werden wir in den dreien ohne Zweifel wiedererkennen. Seine Behauptung lautet also: „Wenn Vater und Sohn zwei Personen sind, so sind sie aber nicht zwei Dinge." Zuerst wollen wir untersuchen, was hier „zwei Dinge" bedeuten soll. Denn wir glauben, daß eine jede Person das ist, was beiden gemeinsam ist, sowie das, was [nur] ihr eigen ist. Die Person des Vaters nämlich ist sowohl Gott - was er als Gemeinsames [commune] mit dem Sohn hat - als auch Vater - was [nur] ihm eigen ist. Analog ist die Person des Sohnes sowohl Gott - was er als Gemeinsames mit dem Vater hat - als auch Sohn - was ausschließlich über diese eine Person ausgesagt wird. In diesen zwei Personen gibt es also ein Gemeinsames, nämlich Gott, und zwei Propria, nämlich Vater und Sohn. Was immer sie nämlich
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an Gemeinsamkeiten besitzen - wie allmächtig, ewig -, wird allein durch dieses Gemeinsame verstehbar. Und was die je einzelnen an Propria besitzen - wie der Vater das Proprium des Schöpfers bzw. Erzeugers und der Sohn das Proprium des Wortes bzw. des Gezeugten -, wird durch die beiden Namen „Vater" und „Sohn" bezeichnet. Wenn er also sagt, daß diese beiden Personen zwei Dinge seien, dann frage ich, was hier „zwei Dinge sein" besagt: bedeutet es das, was jenen gemeinsam ist, oder das, was die einzelnen an einzelnen Propria besitzen. Wenn er mit „zwei Dinge sein" die beiden Propria meint, das heißt den Vater und den Sohn - wobei trotzdem das ihnen Gemeinsame nicht mehrere Dinge, sondern nur ein einziges ist -, so ist seine Meinung überflüssig. Denn kein Christ bekennt, daß der Vater und der Sohn hinsichtlich dieser beiden Propria ein einziges Ding sind, sondern er bekennt, daß sie zwei sind. Denn für gewöhnlich pflegen wir das als „Ding" anzusprechen, von dem wir in bestimmter Hinsicht sagen, daß es etwas Bestimmtes sei. Wer nun Gott als Vater oder Sohn bestimmt, sagt etwas Bestimmtes über ihn aus. Alle wissen aber auch, daß in Gott der Vater nicht der Sohn und der Sohn nicht der Vater ist, wenngleich in Gestalt eines einzelnen Menschen der Vater Sohn und der Sohn Vater sein kann, sobald ein und derselbe Mensch Vater und Sohn ist. Das kommt daher, daß man in Gott „Vater" und „Sohn" im einander ausschließenden Sinne aussagt; bei einem einzelnen Menschen werden sie nun nicht wechselseitig übereinander ausgesagt, sondern in bezug auf den Sohn wird er „Vater" und in bezug auf den von diesem verschiedenen Vater wird er „Sohn" genannt. Es gibt also in dieser Hinsicht keinerlei Verbot, von zwei Personen, dem Vater und dem Sohn, zu sagen, daß sie zwei Dinge sind, unter der Bedingung, daß verstanden wird, welcher Art von Dingen sie angehören. Denn Vater und Sohn sind nicht insofern zwei Dinge, daß darunter die Substanz von Vater und Sohn zu verstehen wäre, sondern insofern, als darunter deren Relationen zu fassen sind. Gleichwohl gibt jener durch den Zusatz, den er macht, offen zu erkennen, daß er es nicht im genannten Sinne meint, daß zwei Personen nur ein einziges Ding sind. Denn nachdem er sagt: „Wenn drei Personen nur ein einziges Ding sind und nicht drei Dinge - " schließt er sofort an: „- getrennt voneinander." Denn anscheinend redet er von einer solchen Trennung, die verhindern würde, daß Vater und Sohn in Gestalt eines und desselben Menschen zugleich da sind. Denn er glaubt, daß der Vater sich allein durch diese Trennung von der Gemeinsamkeit der Fleischwerdung mit dem Sohn freimachen kann. Denn jene Trennung, durch die das Vatersein das eine und das andere das Sohnsein ist - denn Vaterschaft und Sohnschaft sind voneinander unterschieden -, und wenn er annimmt, daß der Gott, der Vater und Sohn ist, nur ein einziger und alleiniger ist, ist ihm nicht Grund genug, daß Vater und Sohn so getrennt werden können, damit sie nicht in Gestalt eines und desselben Menschen zugleich da sind. Entweder spricht er von einer anderen Trennung der Personen des Vaters und des Sohnes als derjenigen, in der Vater und Sohn hinsichtlich der Propria voneinander verschieden sind - denn bei Annahme dieser
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Trennung begreift er nicht, daß die Fleischwerdung dem Vater fremd ist, vielmehr ist er der Meinung, daß dann, wenn Vater und Sohn zugleich da sind, folgt, daß der Vater mit dem Sohn ein Teilhaber der Fleischwerdung ist. Oder aber er spricht gerade von dieser, dann hat er sich vergeblich gemüht, wie ich schon sagte; denn der christliche Glaube versteht es in genau dieser Hinsicht, daß Vater und Sohn zwei Dinge sind. Wenn er sagt: „- wie etwa drei Engel oder drei Seelen sind -", so zeigt er offen, daß er nicht über jene Vielheit oder Trennung spricht, die in jenen Personen hinsichtlich ihrer Propria existiert. Natürlich werden über kein einzelnes und der Zahl nach identisches Ding „zwei Engel" oder „zwei Seelen" so ausgesagt, noch wird „der Zahl nach einzelnes Ding" über zwei Engel oder zwei Seelen so ausgesagt, wie wir über den der Zahl nach einzigen Gott „Vater" oder „Sohn" aussagen und „der Zahl nach einziger Gott" über den Vater und den Sohn aussagen. Wir glauben nämlich und sagen aus: Gott ist Vater und Gott ist Sohn, und umgekehrt: der Vater ist Gott und der Sohn ist Gott. Und dennoch glauben wir weder, noch sagen wir aus, daß es mehrere Götter gibt, sondern daß es sowohl der Zahl nach als auch der Natur nach einen einzigen Gott gibt, wiewohl der Vater und der Sohn nicht einerlei, sondern zweierlei sind. „Engel" und „Seele" sagen wir nämlich mit Bezug auf eine Substanz aus, nicht mit Bezug auf eine Relation. Wenngleich der Name „Engel" die Bedeutung eines Amts hat - denn mit einem Engel meint man einen,Boten' -, wird doch der Engel genauso wie die Seele als eine Spezies der Substanz aufgefaßt. Daß er das selbst so versteht, beweist er, wenn er unmittelbar nacheinander sagt: „- wie etwa drei Engel oder drei Seelen sind -". Er verweist also auf eine solche Vielheit und Trennung, wie sie mehrere Engel oder Seelen, das heißt wie sie mehrere Substanzen besitzen. Dies scheint er dann ganz offen zu beweisen, wenn er hinzufugt: „vielmehr in der Weise, daß sie im Willen und Vermögen ein und dasselbe sind". So nämlich versteht er den Willen und das Vermögen in diesen mehreren Dingen, wie er sie in mehreren Engeln oder Seelen auffaßt. Das kann man nicht begreifen, wenn diese mehreren Dinge in der Art von Eigenheiten von Personen existieren sollen und nicht in bezug darauf gesehen werden, daß sie gemeinsam ausgesagt werden. Denn es gibt keinerlei Willen oder Vermögen des Vaters und des Sohnes im Sinne von Eigenheiten, das heißt im Hinblick auf die Vaterschaft oder die Sohnschaft, wohl aber im Hinblick auf die Substanz der Gottheit, welche sie gemeinsam haben. Wenn er mithin sagt, daß die drei Personen drei Dinge gerade im Hinblick auf die Propria sind, dann ist offenbar, wie überflüssig seine Äußerung und wie ungereimt sie ist, wenn er hinzufügt: „- wie etwa drei Engel oder drei Seelen sind -".
III. Und wenn er behauptet, daß eben dieselben Personen zwei Dinge sind in Hinsicht auf das, was ihnen gemeinsam ist, das heißt in Hinsicht darauf, daß jede einzelne
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Person und mehrere zugleich der einzige und vollkommene Gott ist, so frage ich zuerst, ob er ein Christ ist. Wie ich annehme, wird er antworten, daß er einer ist. Folglich glaubt er daran, daß es einen einzigen Gott gibt und dieser drei Personen ist, das heißt der Vater, der Sohn und der Heilige Geist; und er glaubt daran, daß einzig die Person des Sohnes Fleisch geworden ist, jedoch unter Mitwirkung der beiden anderen. Wer in dieser Weise glaubt, der bekundet, daß derjenige kein Christ ist, der irgend etwas gegen einen der genannten Sätze behaupten will. Wenn er also in dieser Weise glaubt, verneint er, daß der ein Christ sei, der hiergegen polemisierte. Wir wollen nun sehen, ob er selbst diesen Glauben zu zerstören trachtet. Wenn er also meint - um über zwei Personen wie zu Anfang das auszusagen, was für die drei gemeint sein soll -, daß dann, wenn zwei Personen ein einziges Ding und nicht zwei sind, das heißt nicht wie zwei Engel oder zwei Seelen sind, folgt, daß auch der Vater Fleisch geworden ist, sobald der Sohn Fleisch geworden ist, so nehme ich an, daß er in der folgenden Weise gedacht hat: Wenn der Zahl nach ein und dasselbe Ding Gott ist und genauso Vater ist und ebenso Sohn, wie kann dann, wenn der Sohn Fleisch geworden ist, der Vater nicht Fleisch geworden sein? Von ein und demselben Ding ist natürlich nicht zugleich die Bejahung und die Verneinung wahr; nichts aber verbietet, von dem einen Ding etwas zu behaupten und genau dasselbe von einem anderen zu verneinen. Denn ein und derselbe Petrus ist nicht sowohl Apostel und kein Apostel. Wenn aber für ein und denselben unter dem einen Namen „Apostel" als Prädikat bejaht und unter dem anderen negiert wird - wie: „Petrus ist Apostel" und „Simon ist kein Apostel" so ist nicht jede von beiden Aussagen wahr, sondern eine von ihnen ist falsch. Daß aber Petrus Apostel ist und Stephanus kein Apostel ist, kann wahr sein, da Petrus und Stephanus verschieden sind. Wenn also der Vater ein und dasselbe, nicht unterschiedene Ding wie der Sohn ist, so ist nicht wahr, daß etwas für den Sohn bejaht und für den Vater negiert werden muß, bzw. für den Vater bejaht und für den Sohn negiert werden muß. Alles, was der Vater ist, ist also auch der Sohn; und was vom Sohn ausgesagt wird, darf nicht vom Vater negiert werden. Der Sohn ist nun Fleisch geworden. Folglich ist auch der Vater Fleisch geworden. Wenn sie auch wohlüberlegt ist, so ist diese Schlußfolgerung doch tatsächlich die Ketzerei des Sabellius.3 Wenn nämlich alles, was von der einen Person ausgesagt wird, auch von der anderen ausgesagt wird - da ja die beiden Personen ein einziges Ding sind dann wird wie über den Sohn so auch über den Vater „Sohn", „Wort" und „Gezeugter" ausgesagt. Und ebenso wie der Vater sowohl „Vater", „Erzeuger" und „Ungezeugter" ist, muß dies auch über den Sohn ausgesagt werden. Wenn es sich nun wirklich so verhält, so ist der Vater nicht vom Sohn und der Sohn nicht vom Vater unterschieden. Deshalb sind sie nicht zwei, sondern eine einzige Person. Sie werden nämlich aus dem Grunde als zwei Personen bezeichnet, weil man glaubt, daß Vater und Sohn voneinander verschieden sind, wobei dennoch Gott Vater und Sohn sein wird. Denn immer ist ein Vater der Vater von jemandem und ein Sohn der
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Sohn von jemandem; niemals aber ist ein Vater der Vater seiner selbst oder ein Sohn der Sohn seiner selbst. Vielmehr ist der Vater der eine und ein anderer ist der, dessen Vater er ist; und ebenso ist der eine der Sohn und ein anderer ist der, dessen Sohn er ist. Wenn also in Gott nicht der eine der Vater ist und ein anderer der ist, dessen Vater er ist, und wenn ebensowenig der Sohn der eine ist und ein anderer der ist, dessen Sohn er ist, dann wird Gott fälschlich als „Vater" oder „Sohn" bezeichnet. Denn wenn in Gott deijenige, zu dem der Vater gehören soll, vom Vater nicht unterschieden ist, dann kann es keinen Vater geben. Und wenn ebenso in ihm deijenige, zu dem der Sohn gehören soll, vom Sohn nicht unterschieden ist, so kann es keinen Sohn geben. Somit wird die Grundlage dafür fehlen, daß man von jenen beiden Personen in Gott reden kann. Denn man spricht ja deshalb von ihnen, weil Gott Vater ist und weil Gott Sohn ist und immer der eine der Vater und der andere der Sohn ist. Seht ihr also, wie unser Glauben infolge der Ansicht dessen zerstört werden würde, der annimmt, daß daraus, daß die vielen Personen in Gott ein einziges und nicht mehrere Dinge sind, folgte, daß der Vater mit dem Sohn Fleisch geworden ist? Denn wenn diese seine Schlußfolgerung wahr ist, dann würde nicht nur das, was ich vom Vater und dem Sohn gesagt habe, folgen; sondern in allen drei Personen ergäbe sich eine derartige Vermengung, daß alles, was über die einzelnen als nur ihnen eigen ausgesagt wird, über alle gemeinsam auszusagen wäre. Deshalb würde die Grundlage dafür fehlen, daß der Vater, der Sohn und der von dem Vater und dem Sohn ausgehende Heilige Geist voneinander unterschieden sein können, wie ich bereits im Falle des Vaters und des Sohnes nachgewiesen habe. Darum würde es dort auch keinerlei Relation geben, die dort nur deshalb gegeben ist, weil sie voneinander unterschieden sind. Also gibt es auch nicht mehrere Personen. Vorausgesetzt, daß die drei Personen ein einziges Ding sind, dann wird das, was er sagt, entweder nicht folgen, oder aber es wird alles das zugleich folgen, was ich eben gesagt habe. Denn in allen liegt die gleiche Schlußkraft. Weshalb widmet er sich also dem Problem der Fleischwerdung, als ob es lediglich um sie ginge, und sagt nicht vielmehr: wenn drei Personen ein einziges Ding sind, so sind es nicht drei Personen? Denn diese Frage kann ebensogut vor als nach der Fleischwerdung behandelt werden.
IV. Wenn er aber nur behaupten will, daß die drei Personen, insofern eine jede von ihnen Gott ist, nicht ein einziges Ding, sondern drei völlig selbständige Dinge sind analog der Existenzweise von drei Engeln -, dann ist ohne jeden Zweifel klar, daß er damit die Existenz von drei Göttern behauptet hat. Vielleicht hat er aber gar nicht gesagt „analog der Existenzweise von drei Engeln oder drei Seelen", sondern der, welcher mir dessen Fragestellung übergab, hat von sich aus diese Analogie aufge-
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stellt.4 Jener hingegen behauptet vielleicht nur, daß die drei Personen drei Dinge sind, ohne den Zusatz einer Analogie zu machen. Warum wird hier also ein Fehler begangen bzw. begeht er einen Fehler in der Verwendung des Terminus „Ding", wenn doch dasselbe im Sinn des Terminus „Gott" angezeigt wird? Er wird doch entweder verneinen, daß Gott jenes Ding ist, in dem wir drei Personen enthalten glauben, ja sogar daß es selbst drei Personen sei; oder wenn er das nicht verneint, dann folgt: genauso, wie er behauptet, daß drei Personen nicht ein einziges Ding, sondern drei Dinge sind, würde er auch behaupten, daß dieselben Personen nicht ein einziger, sondern drei Götter sind. Wie gottlos diese Behauptungen sind, mögen die Christen beurteilen. Er wird aber entgegnen: Es ist nicht notwendig, daß ich mit dem Ausdruck „drei Dinge" drei Götter bekenne, da ja jene drei Dinge zusammen ein Gott sind. Und wir sagen: also ist jedes einzelne Ding von jenen dreien, das heißt jede einzelne Person, nicht Gott, sondern Gott setzt sich aus drei Dingen zusammen. Der Vater ist also nicht Gott, der Sohn ist nicht Gott und der Heilige Geist ist nicht Gott, da ja Gott weder über die einzelnen noch über zwei, sondern ausschließlich über die drei gleichzeitig Genannten auszusagen ist; auch das ist gottlos. Denn wenn es so ist, dann ist Gott keine einfache Natur, sondern eine aus Teilen zusammengesetzte. Wenn er aber einen einfachen und nicht von einer Vielzahl von Traumbildern erdrückten Verstand besitzt, dann erkennt er auch, daß alles Einfache [simplicia] dem Zusammengesetzten [composita] vorausgeht, insofern es Einfachheit und Zusammensetzung als solche betrifft. Denn alles Zusammengesetzte kann notwendig entweder tatsächlich oder in Gedanken zerlegt werden, was von keinem Einfachen einzusehen ist. Wovon nämlich keine Teile gedacht werden können, das kann kein Intellekt in die Bestandteile auflösen. Wenn Gott also aus drei Dingen zusammengesetzt ist, so gibt es entweder keinerlei einfache Natur, oder es gibt eine andere Natur, die in etwas vortrefflicher als die Natur Gottes ist. Wie falsch jedes von beiden ist, ist nicht verborgen. Und wenn dieser nun zu jenen modernen Dialektikern gehört, die allein das fur existent halten, was durch bildhafte Vorstellungen erfaßt werden kann, und er auch die Existenz von etwas für nicht möglich hält, in dem es keinerlei Teile gibt, so wird er nicht verneinen, daß, wenn es etwas gäbe, was weder tatsächlich noch in Gedanken aufgelöst werden könnte, dieses bedeutender als das wäre, was wenigstens in Gedanken auflösbar ist. Wenn jegliches Zusammengesetzte wenigstens durch das Denken aufgelöst werden kann und er behauptet, daß Gott etwas Zusammengesetztes ist, so behauptet er also, etwas Bedeutenderes als Gott erkennen zu können. Sein Intellekt geht also über Gott hinaus, was kein Intellekt zu tun imstande ist.
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V. Wollen wir jedoch sehen, was er zur Beseitigung des Widerspruchs hinzufugt, der zu entstehen scheint, wenn jene drei Personen drei Dinge sind: „Vielmehr in der Weise", sagt er, „daß diese drei Dinge einen einzigen Willen und ein einziges Vermögen [potestas] haben." Hier ist die Frage zu stellen, ob jene drei Dinge unter dem Aspekt ihrer gegenseitigen Trennung betrachtet werden, oder unter dem ihres gemeinsamen Willens und Vermögens, oder ob sie weder allein unter dem Aspekt dessen betrachtet werden, was sie getrennt besitzen, noch unter dem Aspekt, was ihnen gemeinsam ist, sondern ob sie unter beiden zugleich göttliche Naturen sind. Wenn sie natürlich unter dem Aspekt betrachtet werden, daß sie die Gottheit in bezug darauf besitzen, was sie getrennt sind, dann werden sie drei Götter sein; und als dasselbe können sie auch ohne einen Willen und ein Vermögen verstanden werden. Die Propria werden nämlich immer getrennt von den Gemeinsamkeiten [communia] und die Gemeinsamkeiten getrennt von den trennenden Unterschieden [discreta] begriffen. Die göttliche Natur kann aber keinesfalls ohne einen Willen oder ohne ein Vermögen begriffen werden. Was aber, wenn sie sowohl als einzelne, wie zu zweit, als auch als drei zugleich in Abhängigkeit von einem einzigen und gemeinsamen Willen und Vermögen Gott sind? - Welche Rolle spielen dann dort jene drei uneinigen Dinge, die nur vermöge von etwas Anderem zur Einigkeit des Gottseins zusammenkommen können und weder zur Vollkommenheit noch zur Unterstützung der Existenz Gottes etwas beizutragen vermögen? Denn wenn ein einziger Wille und ein einziges Vermögen zur Vollkommenheit Gottes ausreicht, um was für Dinge handelt es sich dann bei jenen drei, die Gott braucht oder wozu benötigt er sie? Wir glauben doch, daß es Gott an nichts ermangelt. Jene drei Dinge in Gott werden also umsonst gedacht. Und auch wenn weder jene drei Dinge allein, noch der Wille und das Vermögen allein, sondern dies alles zugleich Gott ausmacht, sage ich, daß Gott dann trotzdem zusammengesetzt ist und sich Gott aus dem ergäbe, was nicht selbst schon Gott ist oder was Götter sind. Wenn er sagt: jene drei Dinge führen den Namen Gottes auf Grund eines Vermögens und eines Willens in genau dem Sinne, in dem ein Mensch auf Grund königlicher Macht als König bezeichnet wird: dann wäre „Gott" kein Name einer Substanz. Jene unbestimmten drei Dinge würden vielmehr akzidentiell in eben dem Sinne als „drei Götter" bezeichnet, in dem auch drei Menschen, die die gleiche königliche Macht besitzen, als „drei Könige" bezeichnet werden. Drei Menschen können nämlich unmöglich ein einziger König sein. Es muß nicht ausgesprochen werden, wie gottlos das ist. Ein großes Buch müßte angefüllt werden, wollte ich die Absurditäten und Gottlosigkeiten aufschreiben, die sich ergeben, wenn es wahr ist, daß infolge der Fleischwerdung einer einzigen Person Gottes auch die beiden übrigen Fleisch geworden sind, auf Grund dessen, daß jene drei Personen ein einziges Ding in Hinsicht darauf sind, was wir gemeinsam von den drei aussagen; oder wenn sie drei getrennte Dinge
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sind, wie jener annimmt, gegen den ich dies gesagt habe; denn allein der Sohn ist ja Fleisch geworden. Es ist also offenkundig, wie wenig er zum Streitgespräch über fundamentale Dinge geeignet sein muß, und vor allem über jene, in denen man sich nicht ohne gefährliche Folgen irrt. VI. Vielleicht wird er aber zu mir sagen: So wie du annimmst, daß sich das, was du sagst, sofort und notwendigerweise ergibt, sobald meine Behauptung bis zum Schluß verfolgt wird, so erscheint mir auch meine eigene Schlußfolgerung als notwendig. Weise also nach, daß nicht schlüssig ist, was ich sage, und ich werde gemeinsam mit dir bekennen, daß kein logischer Widerspruch folgt, wenn tatsächlich nur der Sohn Fleisch geworden ist oder wenn die drei Personen ein einziges Ding sind. Wenn du aber vor diesem Nachweis ausweichst, dann löst du das Problem nicht, sondern bekräftigst es, indem du selbst gemeinsam mit mir anerkennst, daß aus den genannten Annahmen unzählige logische Widersprüche entstehen. Wenn diese vermieden werden sollen, so müssen wir beide sofort den Schluß ziehen, daß die drei Personen nicht ein einziges Ding sind, wenn allein der Sohn Fleisch geworden ist; oder wenn sie ein einziges Ding sind, daß dann alle ohne Unterschied Fleisch geworden sind. Es gilt also nachzuweisen, worin dieser sich geirrt hat und inwiefern aus der Fleischwerdung allein des Sohnes nicht folgt, daß die drei Personen drei getrennte Dinge sind; oder wenn die drei Personen ein einziges Ding sind, nicht folgt, daß sie alle Fleisch geworden sind. Daß Gott ganz gewiß eine einzige, alleinige, unteilbare und einfache Natur sowie drei Personen ist, ist durch die unwiderlegbaren Begründungen der heiligen Väter als auch vor allem des heiligen Augustinus im Gefolge der Apostel und Evangelisten dargelegt worden. Aber auch, wenn jemand meine beiden kleinen Werke, das „Monologion" und das „Proslogion" nämlich, zu lesen geruhen würde, die hauptsächlich zu dem Zweck geschrieben wurden, daß das, was wir hinsichtlich der göttlichen Natur und ihrer drei Personen außer der Fleischwerdung fest glauben, mit zwingenden Gründen ohne die Autorität der Schrift nachgewiesen werden kann - wenn diese also jemand lesen will, so glaube ich, daß er auch dort etwas darüber finden wird, was er weder widerlegen können noch verachten wollen wird.5 Wenn in ihnen etwas vorkommt, was ich anderswo entweder nicht gelesen habe oder mich nicht erinnere gelesen zu haben, so führe ich es dennoch nicht so aus, daß ich lehre, was unsere Lehrer nicht gewußt haben, oder berichtige, was sie nicht gut formuliert haben, sondern indem ich sage, was sie vielleicht verschwiegen haben und was dennoch von ihren Lehren nicht abweicht, sondern ihnen entsprechen würde. Ich habe jenes ausgeführt, um für unseren Glauben gegen jene zu antworten, die unwillig sind, zu glauben, was sie nicht einsehen, und die Gläubigen auslachen; bzw. habe ich es zur Unterstützung des religiösen Studiums derer ausgeführt, die ergeben nach der Einsicht dessen streben, was sie ganz
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fest glauben. Ich meine nicht, daß ich darum getadelt werden müßte. Um aber den Lesern dieses Aufsatzes die Mühe des Suchens nach anderen Schriften zu ersparen, und damit sie nicht nur im Glauben, sondern auch durch einleuchtenden Vernunftbeweis [evidenti ratione] erkennen, daß die drei Personen nicht drei Götter, sondern nur ein einziger Gott sind, ohne jedoch aus der Fleischwerdung Gottes hinsichtlich einer Person auf die notwendige Fleischwerdung desselben Gottes hinsichtlich der anderen Personen zu schließen - füge ich an dieser Stelle etwas an, das nach meiner Überzeugung zur Zurückweisung der Meinung jenes vermeintlichen Verteidigers unseres Glaubens ausreichend ist. Er ist offenkundig der Meinung, daß entweder der Vater und der Heilige Geist gemeinsam mit dem Sohn Fleisch geworden sind, oder daß jene drei Personen drei getrennte Dinge sind. Diese Trennung hält er für derartig, daß weder der Vater noch der Heilige Geist im Sohn enthalten sind. Denn wenn die anderen beiden Personen im Sohn und der Sohn im Menschen ist, dann sind jene auch im Menschen enthalten. Deshalb glaubt er, daß folgender Schluß gilt: wenn die drei Personen ein einziges Ding sind, so kann die Person des Sohnes - da ja die drei Personen zugleich in demselben Menschen sind - keinesfalls in einem Menschen Fleisch werden ohne die anderen beiden Personen. Er verneint jedoch nicht, daß es sich um drei Personen handelt und auch nicht, daß der Sohn Fleisch geworden ist. Da bereits weiter oben nachgewiesen wurde, daß dann, wenn die drei Personen drei getrennte Dinge sind, folgt, daß es entweder drei Götter gibt, oder daß andere Unmöglichkeiten, über die bereits gesprochen wurde, eintreten, werde ich jetzt mit der Hilfe des alleinigen Gottes erstens kurz nachweisen, daß auch im Falle der Existenz von drei Göttern jene nichts zur Bewahrung des Vaters und des Heiligen Geistes vor der Fleischwerdung nützen - wo jener doch annahm, daß diese Bewahrung ohne die Voraussetzung einer Vielheit von Göttern nicht gelingen könne. Zum zweiten weise ich nach, daß nicht mehrere Götter existieren, sondern nur ein einziger. Drittens werde ich nachweisen, daß, obgleich der einzige Gott drei Personen ist, dennoch nicht notwendig aus der Fleischwerdung einer einzigen Person auch die Fleischwerdung der anderen folgt, daß dies vielmehr ausgeschlossen ist.
VII. Die göttliche Natur hat nun gewiß in solchem Maße ein immerwährendes und überall gegebenes Sein, daß nichts jemals oder irgendwo ohne die Gegenwart dieser Natur existieren kann. Sonst wäre sie keinesfalls überall und immer im Besitze der Macht; und was nicht überall und immer im Besitze der Macht ist, kann nicht Gott sein. Wenn er nämlich sagt, daß nicht die göttliche Substanz selbst, sondern deren Macht immer und überall ist, so wird er trotzdem nicht verneinen, daß Gott entweder eine akzidentielle oder substantielle Macht zukommt. Eine akzidentielle Macht kommt Gott gewiß nicht zu; denn mag auch jedes Zugrundeliegende
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[subiectum] ohne Akzidens entweder existieren oder erkannt werden können, so kann Gott ohne Macht weder existieren noch erkannt werden. Wenn Gott aber eine substantielle Macht zukommt, so ist sie entweder ein Teil seines Wesens oder sie ist selbst sein gesamtes Wesen. Ein Teil aber ist sie nicht; denn wie oben schon gesagt wurde, ist das, was Teile hat, entweder aktuell oder durch den Verstand auflösbar; das aber ist für Gott völlig ausgeschlossen. Gottes Sein und das Sein seiner Macht sind also dasselbe. So, wie Gottes Macht immer und überall ist, ist daher auch alles, was Gott ist, überall und immer. Wenn also der besagte vermeintliche Verteidiger unseres Glaubens behauptet, es gäbe drei Götter, so vermag er nicht nachzuweisen, wie sie auf Grund der Trennung getrennt sein sollen, durch die er den Vater und den Heiligen Geist von der Fleischwerdung befreien zu können glaubt. Für ihn kann also eine Vielheit von Göttern keine Unterstützung für die Bewahrung des Vaters und des Heiligen Geistes vor der Fleischwerdung sein. Denn durch eine Vervielfachung von Göttern kann jene Verschiedenheit nicht herausgefunden werden, ohne die er diese Bewahrung für ausgeschlossen hält. VIII. Daß es aber nur einen einzigen Gott gibt und nicht viele, kann ausgehend davon leicht nachgewiesen werden, daß Gott entweder nicht das höchste Gute [summum bonum] ist, oder es mehrere höchste Güter gibt, oder es nicht mehrere Götter gibt, sondern nur ein einziger Gott existiert. Niemand aber bestreitet, daß Gott das höchste Gut ist; denn was auch immer geringer als etwas Anderes ist, kann nicht Gott sein; und was auch immer kein höchstes Gut ist, ist geringer als etwas Anderes, denn es ist ja geringer als das höchste Gut. Unzweifelhaft läßt das höchste Gut nicht eine Vielheit seiner selbst zu, so daß es mehrere höchste Güter gäbe. Gäbe es nämlich mehrere höchste Güter, so wären sie gleiche. Ein höchstes Gut ist aber das, was alles andere Gute derart überragt, daß es nichts Gleiches oder Überragenderes hat. Folglich ist das höchste Gut einzig und alleinstehend [unum et solum]. Es gibt also nicht mehrere Götter, sondern Gott ist einzig und alleinstehend, wie auch das höchste Gut einzig und alleinstehend ist, und wie ebenso die höchste Substanz, das höchste Wesen bzw. die höchste Natur, über die mit der gleichen Begründung wie beim höchsten Gut der Nachweis geführt wird, daß sie unmöglich in der Mehrzahl ausgesagt werden können. IX. Obgleich dieser einzige alleinige Gott drei Personen ist, nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist, ist es dennoch nicht notwendig - wie aber jener Disputant meint -, daß wegen der Fleischwerdung des Sohnes auch die anderen Personen Fleisch geworden sind; es ist im Gegenteil unmöglich. Er bestreitet nämlich nicht, daß es mehrere Personen sind, weil sie ja voneinander verschieden sind. Denn wären sie
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voneinander nicht verschieden, so wären sie nicht mehrere. Um aber kürzer und leichter auszufuhren, was ich will, werde ich wie oben nur über den Vater und Sohn sprechen, da durch sie klar werden wird, zu welcher Einsicht über den Heiligen Geist man kommen muß. Vater und Sohn sind hinsichtlich der Substanz nicht mehrere und auch nicht voneinander verschieden, da sie nicht zwei Substanzen sind und nicht der Vater die eine Substanz und der Sohn die andere Substanz ist; Vater und Sohn sind vielmehr eine und dieselbe Substanz. Hinsichtlich der Person hingegen sind sie mehrere und voneinander verschieden; denn der Vater und der Sohn sind nicht eine und dieselbe Person, sondern zwei voneinander verschiedene Personen. Er behauptet nun also: Wenn der Sohn Fleisch geworden ist und er kein anderes, sondern ein und dasselbe Ding wie der Vater ist, dann folgt zwangsläufig, daß auch der Vater Fleisch geworden ist. Es ist nämlich unmöglich, daß ein und dasselbe Ding in demselben Menschen zugleich Fleisch geworden und nicht Fleisch geworden ist. Ich sage dazu: Wenn der Sohn Fleisch geworden ist, und er nicht ein und dieselbe Person wie der Vater ist, sondern eine andere, so folgt deshalb nicht zwangsläufig, daß auch der Vater Fleisch geworden ist. Denn es ist möglich, daß die eine Person in einem Menschen Fleisch geworden ist, ohne daß die andere zugleich in demselben Menschen Fleisch geworden ist. Er entgegnet: Wenn Gott-Sohn Fleisch geworden ist und Gott, welcher Sohn ist, nicht von Gott, welcher Vater ist, verschieden, sondern ununterscheidbar mit ihm identisch ist, so scheint es doch trotz der verschiedenen Personen von Vater und Sohn eher notwendig zu sein, daß auch der Vater mit dem Sohn auf Grund der Einheitlichkeit und Gemeinschaftlichkeit [propter unitatem] der Gottheit Fleisch geworden ist, als daß er wegen der Verschiedenheit der Personen nicht gleichzeitig Fleisch geworden wäre. Seht doch, wie einer, der dies behauptet, in der Erklärung der Fleischwerdung von Gottes Sohn auf beiden Beinen hinkt. Denn wer dessen Fleischwerdung richtig begreift, der glaubt, daß er den Menschen nicht im Hinblick auf die Gemeinschaftlichkeit und die Einheitlichkeit der Natur [beider], sondern im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Person angenommen hat. Jener aber faselt, daß der Mensch von Gottes Sohn eher im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Natur als die Einheitlichkeit der Person angenommen wurde. Denn wäre er nicht dieser Meinung gewesen, so würde er nicht behauptet haben, daß es eher notwendig ist, daß der Vater mit dem Sohn Fleisch geworden ist, weil Vater und Sohn eine Einheit sind, als daß es möglich ist, daß jener nicht gleichzeitig Fleisch geworden ist, da sie mehrere Personen sind. Auf beiden Beinen, das heißt in beiden Teilen, hinkt also seine Erklärung der Fleischwerdung von Gottes Sohn, der mit dem Vater eine einzige Natur ist und eine vom Vater verschiedene Person. Denn jeder, der annimmt, daß diese Fleischwerdung sich hinsichtlich der Einheitlichkeit der Natur so vollzieht, daß der Sohn nicht ohne den Vater Fleisch werden kann, begreift auch nicht, daß sie
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sich hinsichtlich der Einheitlichkeit der Person so vollzieht, daß der Vater nicht mit dem Sohn Fleisch werden kann. Denn Gott hat den Menschen natürlich nicht so angenommen, daß die Natur Gottes und des Menschen ein und dieselbe wäre, sondern in dem Sinne, daß die Person Gottes und des Menschen ein und dieselbe ist. Dies kann nur in einer einzigen Person Gottes der Fall sein. Denn es läßt sich nicht verstehen, wie verschiedene Personen mit ein und demselben Menschen eine identische Person bilden sollen. Denn wenn ein einziger Mensch mit mehreren einzelnen Personen eine einzige Person bildet, dann ist es notwendig, daß mehrere voneinander verschiedene Personen ein und dieselbe Person sind; das ist aber unmöglich. Darum ist es ausgeschlossen, daß Gott, wenn er in bezug auf eine beliebige einzige Person Fleisch geworden ist, auch hinsichtlich einer anderen Person ebenfalls Fleisch geworden ist. X. Warum hat nun Gott den Menschen eher in die Einheit mit der Person des Sohnes als in die Einheit irgendeiner der anderen Personen aufgenommen? Obgleich das in diesem Aufsatz nicht unser Thema gewesen ist, so halte ich es dennoch für angebracht, eine Begründung für diese Sache anzugeben, da sie nun erwähnt worden ist. Wäre der Heilige Geist genauso wie der Sohn Fleisch geworden, dann wäre der Heilige Geist des Menschen Sohn. Es existierten also zwei Söhne in der göttlichen Trinität, nämlich Gottes Sohn und des Menschen Sohn. Hieraus entstünde eine Verwirrung, sobald wir über Gott-Sohn sprächen. Denn jeder von beiden wäre Gott und Sohn, wenngleich der eine Sohn Gottes und der andere Sohn des Menschen. Es entstünde auch eine gewisse Nichtübereinstimmung unterschiedlicher Personen hinsichtlich ihrer möglichen Eigenschaft, Söhne zu sein, obwohl sie völlig gleich sein müssen; denn der eine Sohn ragte durch die Würde des bedeutenderen Elternteiles heraus, der andere würde durch die Niedrigkeit des geringeren Elternteiles unterliegen. Denn um wieviel die Natur Gottes bedeutender ist als die des Menschen, um so würdiger ist es, Gottes Sohn als des Menschen Sohn zu sein. Wenn der Heilige Geist also durch die Jungfrau geboren worden wäre, so ergäbe sich folgende Widersinnigkeit: da nur Gottes Sohn die bedeutendere Herkunft besäße, die von Gott kommt, und der Heilige Geist nur eine geringere, die vom Menschen käme, so wäre die eine Person gegenüber der anderen hinsichtlich der Würde der Herkunft bedeutender bzw. geringer. Und wenn der Vater den Menschen nun in die Einheit seiner eigenen Person aufgenommen hätte, dann hätte die Vielheit der Söhne in Gott dieselben Widersinnigkeiten bewirkt und außerdem noch eine andere. Denn wäre Gott-Vater ein Sohn der Jungfrau, dann hätten in der Trinität zwei Personen den Namen eines Enkels angenommen: denn sowohl der Vater wäre ein Enkel der Eltern der Jungfrau, wie auch der Sohn ein Enkel dieser Jungfrau wäre, obwohl er nichts von der Jungfrau besäße. Da aber jede
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noch so kleine Widersinnigkeit in Gott unmöglich ist, hat keine andere Person Gottes als der Sohn Fleisch werden müssen. Denn aus seiner Fleischwerdung folgt keinerlei Widersinnigkeit. Und obgleich der Sohn infolge des Menschentums als geringer als der Vater und der Heilige Geist bezeichnet wird, werden jene beiden Personen darum jedoch nicht den Sohn überragen, da auch der Sohn dieselbe Hoheit besitzt, wegen der die anderen bedeutender als das Menschentum des Sohnes sind und wegen der er selbst mit jenen gemeinsam sein eigenes Menschentum überragt. Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, daß die Fleischwerdung mehr dem Sohn als einem anderen zukommt. Denn wer Fleisch werden sollte, der war der zukünftige Fürbitter des Menschengeschlechts. Und der menschliche Geist hält es für sehr viel passender, daß der Sohn beim Vater als daß ein anderer bei einem anderen bittet, wenngleich diese Fürbitte nicht von der Göttlichkeit ausgeht, sondern vom Menschentum zur Göttlichkeit geht. Diese Fürbitte tut der Sohn Gottes deshalb, weil der Mensch vermittels der Einheit der Person Sohn Gottes ist. Weiter: Wer den Menschen annehmen sollte, der sollte ein Kämpfer gegen den Teufel und - wie ich es ausgedrückt habe - ein Vermittler zum Wohle des Menschen sein. Sie beide, nämlich der Teufel und der Mensch, wollten sich durch Raub zu gottgleichen Wesen machen, indem sie sich des eigenen Willens bedienten. Und da sie es durch Raub erreichen wollten, konnten sie es nur durch Falschheit, da nur auf ungerechte Weise machen. Es ist nämlich der eigene Wille eines Engels oder eines Menschen, der gegen den Willen Gottes gerichtet ist. Will jemand etwas erreichen, was Gott zu verlangen verbietet, so ist der Urheber seines Willens nur er selbst; folglich ist es sein eigener Wille. Denn obgleich der Mensch seinen Willen manchmal dem Willen eines anderen Menschen unterstellt, ist es dennoch der eigene Wille, wenn er gegen Gott gerichtet ist. Denn er unterstellt ihn nur, um das zu erreichen, was er will; demzufolge ist er selbst der Urheber für die Unterstellung seines Willens unter einen anderen. Darum ist der eigene Wille derjenige, welcher keinem anderen Untertan ist. Nur Gott allein kommt aber das Besitzen eines eigenen Willens zu, das heißt eines solchen, der niemandem Untertan ist. Es stellt sich also klar heraus, daß jeder, der sich seines eigenen Willens bedient, durch Raub zur Gottähnlichkeit [similitudo dei] strebt und danach trachtet, Gott der eigenen Würde und einzigartigen Herrlichkeit zu berauben - insoweit ein eigener Wille in ihm ist. Sobald es nämlich noch einen anderen Willen gibt, der niemandem Untertan ist, wird Gottes Wille nicht ausnahmslos allem vorangestellt; und er wird auch nicht der einzige sein, über dem kein anderer mehr ist. Von den drei Personen Gottes ist also die, „die sich selbst entäußerte und Knechtgestalt annahm", 6 am geeignetsten zur Besiegung des Teufels und zur Vermittlung zum Wohle des Menschen, welche beide durch Raub sich eine falsche Gottähnlichkeit anmaßten: keine ist also geeigneter dafür als der Sohn, der - ein Abglanz des ewigen Lichtes und ein wahres Abbild [imago] des Vaters, „es nicht als einen Raub erachtete, Gott
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gleich zu sein"7 - durch wahre Gleichheit und Ähnlichkeit wahrheitsgemäß sagte: „Ich und der Vater sind eins."8 Und: „Wer mich sieht, der sieht den Vater."9 Denn keiner bestraft oder bezwingt einen Angeklagten mit mehr Recht bzw. erbarmt sich seiner mehr oder tritt mehr für ihn ein, als derjenige, dem erwiesenermaßen besonders Unrecht geschah; und nichts kann der Falschheit zu ihrer Vertreibung passender entgegengestellt oder aber zu ihrer Heilung passender beigegeben werden, als die Wahrheit. Sie haben offensichtlich durch jene Anmaßung einer falschen Gottähnlichkeit sich besonders gegen den versündigt, der für das wahre Ebenbild Gott-Vaters gehalten wird. Er hat den Menschen aber deshalb in die Einheit der Person aufgenommen - wie gesagt wurde -, damit zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, eine einzige Person sind. XI. Obwohl wir ganz fest glauben, daß diese personale Einheit nicht aus zwei Personen in Christus besteht, erscheint es mir nicht unzweckmäßig, etwas über sie zu sagen. Denn es kann die Meinung aufkommen - weil es für oberflächlich Betrachtende so den Anschein haben kann -, daß Christus aus zwei und in zwei Personen existiert. Einige sagen nämlich: Warum sagen wir, daß es in Christus nicht ebenso zwei Personen gibt, wie zwei Naturen in ihm sind? Denn Gott war vor der Annahme des Menschen eine Person und hat es auch nicht aufgehört zu sein, nachdem er den Menschen annahm; und auch der angenommene Mensch ist eine Person, da in jedem individuellen Menschen eine Person erkannt wird. Aus diesem Grunde ist die Person Gottes, die vor der Fleischwerdung da war, von der Person des angenommenen Menschen verschieden. Insoweit Christus also Gott und Mensch ist, scheinen in ihm auch zwei Personen zu sein. Diese Überlegung scheint damit zu beweisen, daß in Christus zwei Personen sind, daß sowohl Gott eine Person ist als auch der angenommene Mensch. So verhält es sich aber nicht. Genauso, wie nämlich in Gestalt Gottes eine Natur mehrere Personen ist und mehrere Personen eine einzige Natur sind, ist auch in Gestalt von Christus eine einzige Person mehrere Naturen und sind mehrere Naturen eine einzige Person. Insoweit nämlich der Vater Gott ist und der Sohn Gott ist und der Heilige Geist Gott ist und es trotzdem nicht drei Götter, sondern nur einen einzigen Gott gibt, ist auch in Gestalt von Christus Gott eine Person und der Mensch eine Person, und dennoch stellt er nicht zwei Personen, sondern nur eine einzige Person dar. Denn in Christus ist die Person Gottes nicht verschieden von der des Menschen, obgleich Gott und Mensch verschieden sind: sondern ein und derselbe ist Gott, der auch Mensch ist. „Das Fleisch gewordene Wort" hat nämlich eine andere Natur, aber nicht eine andere Person angenommen. Denn wenn „Mensch" gesagt wird, dann wird nur eine Natur bezeichnet, die allen Menschen gemein ist. Sagen wir aber hinweisend „diesen oder jenen Menschen" bzw. mit einem eigenen
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Namen „Jesus" aus, dann deuten wir auf eine Person hin, die zusammen mit der Natur eine Ansammlung von Eigenheiten besitzt [collectio proprietatum], durch die der allgemeine Mensch [homo communis] ein einzelner wird und sich von anderen einzelnen unterscheidet. Denn wird in dieser Weise auf ihn hingedeutet, dann wird nicht jeder beliebige Mensch begriffen, sondern der, welcher durch den Engel angekündigt wurde, der Gott und Mensch, Sohn Gottes und Sohn der Jungfrau ist und was noch in bezug auf Gott oder in bezug auf den Menschen an Wahrem zu sagen ist. Denn weder kann Gottes Sohn in Person gekennzeichnet oder namentlich bezeichnet werden ohne des Menschen Sohn, noch des Menschen Sohn ohne Gottes Sohn; denn Gottes Sohn und des Menschen Sohn sind ein und derselbe, und auch die Ansammlung von Eigenheiten des Wortes und des angenommenen Menschen ist identisch. Hingegen ist es unmöglich, daß verschiedene Personen genau dieselbe Ansammlung von Eigenheiten haben, oder daß sie gegenseitig prädiziert werden. Denn Petrus und Paulus haben nicht dieselbe Ansammlung von Eigenheiten, und Petrus wird nicht als Paulus und Paulus nicht als Petrus bezeichnet. Indem also „das Wort Fleisch geworden ist", hat es die Natur angenommen, die nur durch den Namen „Mensch" bezeichnet wird und von der göttlichen Natur auf ewig verschieden ist; eine andere Person hat es dabei nicht angenommen, da es ja mit dem angenommenen Menschen dieselbe Ansammlung von Eigenheiten besitzt. Der Mensch und der vom Wort angenommene Mensch, das heißt Jesus, sind nämlich nicht identisch. Denn durch den Namen „Mensch", wird - wie schon festgestellt - allein eine Natur begriffen; durch „angenommener Mensch" oder den Namen „Jesus" wird mit der Natur, das heißt mit dem Menschen zusammen eine Ansammlung von Eigenheiten begriffen, die für den angenommenen Menschen und das Wort identisch ist. Darum sagen wir nicht, daß das Wort und der Mensch schlechthin ein und dieselbe Person sind, um nicht zu sagen, daß ein jeder beliebige Mensch dieselbe Person wie das Wort ist; vielmehr sagen wir es nur vom Wort und dem angenommenen Menschen, das heißt Jesus. Ebenso glauben wir nicht, daß eben dieser Mensch schlechthin mit Gott ein und dieselbe Person ist; vielmehr glauben wir nur, daß er mit jener Person identisch ist, die das Wort und der Sohn ist, um nicht den Anschein zu geben, als glaubten wir, dieser Mensch sei dieselbe Person wie der Vater oder der Heilige Geist. Da aber sowohl das Wort Gott ist als auch jener angenommene Mensch ein Mensch ist, ist es wahr, wenn man sagt, daß Gott und Mensch ein und dieselbe Person ist; in dem Namen „Gott" muß aber „das Wort" hinzugehört werden, und in dem Namen „Mensch" muß „der Sohn der Jungfrau" hinzugedacht werden. Von den Schriften dessen, dem ich in diesem Aufsatz antworte, konnte ich nur das sehen, was ich oben dargestellt habe. Ich nehme aber an, daß die Wahrheit aus dem von mir Gesagten so deutlich geworden ist, daß keinem Vernünftigen die Nichtigkeit dessen verborgen bleiben kann, was als Gegenargument geltend gemacht wurde.
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Wenn er nun eine Vielheit von Göttern widerrufen hat und zugleich beharrlich eine Vielheit von Personen in Gott verneint, so macht er das deswegen, weil er nicht weiß, wovon er spricht. Denn er denkt weder an Gott noch dessen Personen, sondern an eine Art Vielheit wie bei mehreren menschlichen Personen. Und da er sieht, daß ein einzelner Mensch nicht mehrere Personen sein kann, verneint er dasselbe auch von Gott. Denn man spricht nicht deshalb von den drei Personen [in Gott], weil es ebenso wie drei Menschen drei voneinander getrennte Dinge wären, sondern darum, weil sie eine gewisse Ähnlichkeit mit drei voneinander getrennten Personen besitzen. Wollen wir das beim Vater und dem Sohn untersuchen; und zu derselben Erkenntnis kann man auch in bezug auf den Heiligen Geist kommen. Nehmen wir also einen Menschen an, der nur Vater und nicht Sohn sein soll, und dessen Sohn, der nur Sohn und nicht Vater sein soll, das heißt Adam und Abel. Wir sprechen somit vom Vater Adam und vom Sohn Abel, da der Vater nicht ein Sohn und der Sohn nicht ein Vater ist; das heißt, daß Adam und Abel zwei Menschen und zwei voneinander getrennte Personen sind, und daß es niemanden gibt, dessen Sohn Adam oder dessen Vater Abel wäre. In eben diesem Sinne lautet unser Bekenntnis in bezug auf Gott, daß nämlich der Vater nicht Sohn oder der Sohn nicht Vater ist, wobei sie nicht zwei Götter sein sollen; denn der Vater hat keinen Vater und der Sohn keinen Sohn. In entsprechender Weise ist der Heilige Geist kein Vater oder Sohn, da es niemanden gibt, dessen Vater oder dessen Sohn er wäre. Da also Vater, Sohn und Heiliger Geist drei an der Zahl sind und jeweils voneinander verschieden, können sie nicht voneinander ausgesagt werden, wie wir es auch vom Vater und dem Sohn im Falle von unterschiedlichen Personen von Menschen nachgewiesen haben; sie werden somit nicht darum als drei Personen bezeichnet, weil sie drei voneinander getrennte Dinge wären. XIII. Leugnet er nun ferner, daß dreierlei über ein einziges und ein einziges über dreierlei ausgesagt werden kann, so daß dreierlei nicht so, wie wir es mit diesen drei Personen und dem einzigen Gott machen, voneinander ausgesagt werden kann, da er das bei anderen Dingen nicht feststellt und damit auch bei Gott nicht einsehen kann, so sei ihm folgendes gesagt: er möge etwas ertragen, wovon sein Verstand unter Umständen nicht zu begreifen vermag, daß es in Gott ist; ferner möge er auch nicht die über alles erhabene Natur, die frei von jedem Gesetz des Ortes, der Zeit und der Zusammensetzung aus Teilen ist, mit Dingen vergleichen, die in Raum und Zeit eingeschlossen werden oder sich aus Teilen zusammensetzen; vielmehr möge er überzeugt sein, daß in jener Natur etwas ist, was in diesen nicht sein kann, und er möge der christlichen Lehrmeinung Folge leisten und keine Streitgespräche gegen sie führen.
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Wir wollen trotzdem untersuchen, ob in den aus der Schöpfung hervorgegangenen Dingen, die sowohl dem Gesetz des Ortes, der Zeit als auch der Zusammensetzung aus Teilen gehorchen, in gewisser Hinsicht das gefunden werden könnte, was er für Gott verneint. Nehmen wir eine Quelle an, von der ein fließendes Gewässer seinen Anfang nehmen, seinen Lauf beginnen und sich später in einem See sammeln möge; sein Name soll „Nil" sein. Wir sprechen dann unterscheidend von Quelle, Fluß und See, indem wir die Quelle nicht einen Fluß oder einen See nennen, und auch den Fluß nicht eine Quelle oder einen See, und auch den See nicht eine Quelle oder einen Fluß nennen. Dennoch wird die Quelle als „Nil" bezeichnet, ebenso der Fluß und auch der See. Und es werden die Quelle und der Fluß, die Quelle und der See und auch der Fluß und der See als jeweils zweierlei zugleich als „Nil" bezeichnet. Ebenso werden auch Quelle und Fluß und See als dreierlei zugleich als „Nil" bezeichnet. Gleichwohl gibt es nicht den einen und dann einen anderen „Nil", sondern nur ein und denselben - ob nun jedes dieser Dinge einzeln, zu zweit oder zu dritt als „Nil" bezeichnet werden. Quelle, Fluß und See sind also drei, und ein einziger ist der „Nil", ein einziger ist der Strom, eine einzige ist die Natur, ein einziges ist das Wasser; und nichts kann als ein dreifaches Etwas bezeichnet werden. Denn es gibt nicht drei „Nile", oder drei Ströme, oder drei Wasser oder drei Naturen, noch gibt es drei Quellen, oder drei Flüsse oder drei Seen. Hier wird also ein einziges über dreierlei ausgesagt und dreierlei wird über ein einziges ausgesagt, jedoch werden drei nicht voneinander ausgesagt. Wenn er aber entgegnet, daß die Quelle, der Fluß oder der See weder als je einzelnes noch zu zweit ein vollkommener „Nil" sind, sondern Teile des „Nils", dann möge er folgendes bedenken: dieser „Nil" ist erst als ganzer, von seinem Ursprung bis einschließlich zu seinem Ende, sozusagen in seinem vollen Lebensalter; denn er ist weder ganz und auf einmal in Raum oder Zeit da, sondern anteilmäßig, noch wäre er vollkommen, bevor er sein Ende erreichte. Hierin besitzt er eine gewisse Ähnlichkeit mit der Rede, die nicht vollkommen ist, solange sie sozusagen aus der Quelle des Mundes hervortritt; und sobald sie vollendet ist, ist sie schon nicht mehr da. Wenn einer so dächte und sorgfältig überlegt, so wird er erkennen, daß der ganze „Nil" Quelle ist, daß der ganze „Nil" Fluß ist und daß der ganze „Nil" See ist; daß aber die Quelle nicht Fluß oder See ist, daß auch der Fluß nicht See oder Quelle ist und auch der See nicht Quelle oder Fluß ist. Denn die Quelle selbst ist nicht dasselbe Ding wie der Fluß oder der See, wenngleich der Fluß und der See genau dasselbe verkörpern, wie auch die Quelle: nämlich denselben „Nil", denselben Strom, dasselbe Wasser, dieselbe Natur. Hier wird also dreierlei über ein einziges Ganzes und Vollkommenes ausgesagt, und ein einziges Vollkommenes und Ganzes wird über dreierlei ausgesagt, diese drei selbst aber werden nicht voneinander ausgesagt. Gleichwohl ist dies in jener allereinfachsten und von jedem Gesetz des Ortes und der Zeit freiesten Natur sehr viel anders und vollkommener. Doch wenn dies offenbar bei einem Ding der Fall ist, das sich aus Teilen zusammen-
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setzt, örtlich und zeitlich bestimmt ist, dann ist es nicht völlig ausgeschlossen, daß dies vollkommen in jener am meisten freien Natur der Fall ist. An dieser Stelle muß auch beachtet werden, daß die Quelle nicht vom Fluß und auch nicht vom See abhängt, der Fluß aber nur von der Quelle und nicht vom See abhängt, der See aber von der Quelle und dem Fluß abhängt. So, wie nun der gesamte Fluß von der gesamten Quelle und der gesamte See von der gesamten Quelle und dem gesamten Fluß abhängt, sagen wir es analog in bezug auf den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Weiterhin muß beachtet werden, daß der Fluß auf die eine Weise von der Quelle abhängt und auf eine andere Weise der See von der Quelle und dem Fluß abhängt, so daß der See nicht als Fluß bezeichnet wird. Analog ist das Wort auf seine bestimmte Weise vom Vater abhängig und der Heilige Geist auf eine andere Weise vom Vater und dem Wort, so daß der Heilige Geist nicht zugleich Wort oder Sohn ist, sondern [vom Vater und Sohn] ausgeht. XIV. Hierzu will ich eine Feststellung treffen, die trotz ihrer möglichen großen Unangemessenheit dennoch eine gewisse Analogie zur Fleischwerdung des Wortes hat. Vielleicht weist sie deqenige, der sie liest, zurück. Ich möchte sie dennoch tun, da ich jemanden, der diese Feststellung träfe, durchaus nicht zurückwiese. Wenn ein Fluß nämlich durch ein Rohr von der Quelle bis zum See liefe, ist dann etwa nicht der Fluß allein - obwohl er kein anderer „Nil" als die Quelle und der See ist sozusagen „eingerohrt" worden, wie analog der Sohn allein Fleisch geworden ist, obgleich er kein anderer Gott als der Vater und der Heilige Geist ist? XV. Da diese irdischen Dinge sehr weit entfernt sind von der höchsten Natur, wollen wir den Geist mit ihrer Hilfe zu ihr erheben und in ihr irgendwie und kurz das betrachten, was wir meinen. Gott ist nichts anderes, als die einfache Ewigkeit [simplex aeternitas] selbst. Mehrere Ewigkeiten aber können nicht vernünftig gedacht werden. Angenommen, es gibt mehrere, dann existieren sie entweder nebeneinander oder ineinander. Nichts aber ist außerhalb der Ewigkeit. Folglich ist auch die Ewigkeit nicht außerhalb der Ewigkeit. Und wenn sie nebeneinander existieren, dann sind sie an verschiedenen Orten oder existieren zu verschiedenen Zeiten, was der Ewigkeit fremd ist. Also gibt es nicht mehrere Ewigkeiten nebeneinander. Sagt man aber, sie seien mehrere ineinander, dann muß man sich darüber klarwerden, daß ungeachtet dessen, wie oft eine Ewigkeit sich in einer Ewigkeit wiederholt, es nur eine einzige identische Ewigkeit gibt. Eine Natur, die sich in sich wiederholt hat und mit sich immer in vollkommenem Einklang existiert, ist würdiger als die, welche eine [unterschiedlich geartete] Vielheit ihrer selbst zuläßt. Denn wo es Vielheit gibt, dort gibt es auch Verschiedenheit. Und wo es Verschiedenheit
9. Anselm von Canterbury: De incarnatione
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gibt, dort gibt es keine vollkommene Übereinkunft [perfecta concordia]. Eine vollkommene Übereinkunft ist nämlich diejenige, die in einer einzigen Identität und derselben Einzigkeit besteht. Wenn also die vollkommene Übereinkunft besser ist, als die unvollkommene und es unmöglich ist, daß es im höchsten Guten, das heißt der Ewigkeit selbst, etwas Unvollkommenes gibt, dann ist es nicht möglich, daß die Natur der Ewigkeit eine Vielheit zuläßt. Wie oft sich auch die Ewigkeit in einer Ewigkeit wiederholen möge, so wird es deshalb immer nur ein und dieselbe und alleinige Ewigkeit geben. Dies kann in entsprechender Weise auch von vielem anderen gesagt werden. So ist die Allmacht in der Allmacht nur als eine einzige Allmacht. Und um ein Beispiel aus jenen Dingen auszuwählen, die keine göttliche Natur besitzen, in dem es sich ähnlich verhält: ein Punkt ist in einem Punkt nur als ein einziger Punkt. Ein Punkt, zum Beispiel der Mittelpunkt der Welt, und ein Zeitpunkt, etwa die gegenwärtige Zeit, hat nämlich einige Ähnlichkeit mit der Ewigkeit, die zur Betrachtung ebendieser Ewigkeit von nicht geringem Nutzen ist. Daher ist hierüber an anderer Stelle ausführlicher zu sprechen. So viel soll hier genügen, daß ein Punkt einfach, das heißt ohne Teile und unteilbar ist wie die Ewigkeit. Damit ist ein Punkt, der mit einem Punkt ohne Intervall zusammen ist, nur ein einziger Punkt - wie auch die Ewigkeit, die mit einer Ewigkeit zusammen ist, nur eine einzige Ewigkeit ist. Da Gott die Ewigkeit ist, gibt es also nicht mehrere Götter. Denn weder gibt es Gott außerhalb Gottes, noch fügt ein Gott in Gott diesem eine Zahl hinzu. Immer ist es also derselbe einzige und alleinige Gott. Sobald also ein Gott von einem Gott geboren wird, ist deshalb, weil das Geborene nicht außerhalb dessen ist, von dem es geboren wurde, der Sprößling im Elternteil und das Elternteil im Sprößling; ein und derselbe Gott ist nämlich Vater und Sohn. Und wenn Gott von Gott-Vater und dem Sohn ausgeht, dann geht er nicht aus Gott heraus: Gott, das heißt der Heilige Geist, bleibt in Gott, von dem er ausgeht; und Vater, Sohn und Heiliger Geist sind ein einziger Gott. Da diese Geburt und dieses Ausgehen ohne einen Anfang sind sonst besitzt die geborene Ewigkeit und die ausgehende Ewigkeit einen Anfang, was falsch ist - dürfen und können wir auf keinen Fall denken, daß Gott einmal angefangen hat, Vater oder Sohn oder Heiliger Geist zu sein. XVI. So, wie nun die göttliche Substanz eine ewige und einzigartige Einheit bewahrt, behält auch die Natur dieser Relativbestimmungen - nämlich „Vater" und „Sohn", „Ausgehender" und „von dem er ausgeht" - eine unabtrennbare Vielheit. Denn genauso, wie es notwendig ist, daß Gott immer ein und derselbe ist und nicht fortwährend ein anderer, ist auch der Vater niemals derselbe wie sein Sohn oder der, der ausgeht, derselbe wie der, von dem er ausgeht - und zwar unter Berücksichtigung der genannten Relationen. Vielmehr sind Vater und Sohn immer unterschie-
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den und ebenso der, welcher ausgeht, und der, von dem er ausgeht. Ebensowenig können sie jemals voneinander ausgesagt werden. Wenn Gott von Gott geboren wird oder Gott von Gott ausgeht und weder die Substanz die Einzigkeit [singularitas] noch die Relation die Vielheit verlieren kann, so ist hier also ein einziges dreierlei und dreierlei ist ein einziges, ohne daß jedoch die drei voneinander ausgesagt werden. Es muß aber auch nicht unvorstellbar sein, daß in der Natur, die alles überragt und ganz anders als alles andere ist, etwas existiert, dessen Nachbildung in anderen Dingen sich nicht als vollkommen erweisen könnte. Die Lateiner nennen diese drei nun „Personen", die Griechen aber „Substanzen". So wie wir nämlich die drei Personen in Gott als einheitliche Substanz bezeichnen, so bezeichnen jene die drei Substanzen als einheitliche Person, wobei sie mit „Substanz" dasselbe meinen, was wir unter „Person" verstehen; damit weichen sie in keiner Weise von uns im Glauben ab. Sowohl der heilige Augustinus hat im Werk „De trinitate"10 gleichsam „durch einen Spiegel in einem dunklen Wort"11 sorgfältig betrachtet, als auch ich habe, meinem Vermögen entsprechend, in meinem oben erwähnten „Monologion"12 auseinandergesetzt, wie der Sohn vom Vater geboren werden kann und der Heilige Geist vom Vater und dem Sohn ausgeht, ohne aber Sohn zu sein. Gleichwohl kann in diesem Leben nicht gesehen werden, „wie er ist".13 Möchte jemand wissen, warum bei dem höchsten Wesen das Elternteil eher als „Vater" denn als „Mutter" oder der Sproß eher als „Sohn" denn als „Tochter" bezeichnet wird, wo doch in ihm kein Geschlecht existiert, oder warum nur der Vater unerzeugt, nur der Sohn erzeugt und der Heilige Geist weder erzeugt noch unerzeugt ist, so wird er dies in demselben Aufsatz dargelegt finden.
10.
ADELARD VON BATH Von Demselben und dem Verschiedenen*
[...] Der beste Schöpfer der Dinge hat alles zu einem Gleichnis seiner selbst erkoren, insoweit es deren Natur zuläßt; so hat er die Seele mit der Vernunft geschmückt, welche die Griechen „nous" nennen.1 Diese [Seele], soweit sie in ihrer eigenen Reinheit besteht, macht, frei von äußerlicher Unruhe, von ihr ganz Gebrauch. Nicht nur die Dinge selbst, sondern auch deren Gründe [causae] und die Ursprünge dieser Gründe sind ihr vertraut, und aus dem Gegenwärtigen erkennt sie in großem Ausmaß das Zukünftige. Und sie begreift, was sie selbst ist, was die Vernunft [mens], mit der sie erkennt, und was der Verstand [ratio] ist, mit dem sie forscht. Diese Seele verliert durch ihre Umhüllung mit einem irdenen und schmutzigen Körpergefängnis keinerlei Teil ihres Wissens. Aber auch das niedere Stoffliche kann diese Zierde nicht völlig vernichten. Sie verlangt nämlich nach dem, was sie verloren hat; und wenn sie das Gedächtnis eingebüßt hat, bedient sie sich der Vermutung. Durch das höchste Wissen, das sie besitzt, gelangt sie zur Erkenntnis des Einzelnen, indem sie das Zusammengesetzte auf das zurückführt, woraus es zusammengefügt ist. Bilden die Teile eine bestimmte Zusammensetzung, so hält sie die Natur dieser Teile im Gleichgewicht und deutet sie dadurch; und findet sie schließlich die Einfachheit des Ursprungs, dann erblickt sie mit wunderbarer Genauigkeit die ursprüngliche Form. Umgekehrt geleitet sie diese Ursprünge [initia] auch in die Vielheit von sinnlich wahrnehmbaren Zusammensetzungen hinab, indem sie sie allmählich mit ihren Formen schmückt. Obgleich die Ursprünge von begrenzter Anzahl sind - denn ansonsten wären sie auch keine Ursprünge - und die Zusammensetzungen aus ihnen den Sinnen unterworfen sind, entstehen durch mein Vorgehen nicht unendlich viele Ungewißheiten, wenn nicht jemand deinen Verlockungen erlegen ist und für die Erhellung des Problems blind gemacht wird. * Adelardi Bathensis De eodem et diverso. - Unser Auszug: in: Des Adelard von Bath Traktat De eodem et diverso. Zum ersten Male herausgeg. u. histor.-krit. untersucht v. H. Willner, Beiträge IV,1 (1903), S. 9-14,17-19, 22. - Zitiert als: De eodem et diverso.
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Man darf sie [meine Fragestellungen] aber auch deshalb nicht als Spitzfindigkeiten bezeichnen, weil die Naturkraft sich vom Erkennen nicht soweit zurückhält, daß trotz der wahrgenommenen Außendinge die Seele allein für sich erörtert und in sich gekehrt definiert, was die Seele sein kann. Wenn du aber behauptest, meine Anhänger bettelten, so sollst du dir inzwischen - wenngleich ich deine Behauptung durch das Folgende ausführlicher widerlege dennoch darüber bewußt sein, daß sie sowohl in der wahren Betrachtung der Dinge nicht betrügen als auch von den Sorgen um Besitztümer befreit sind. Wenn sie darin verwickelt werden, so erkennen sie danach weder die Ihrigen noch sich selbst und hören auf, meine Anhänger zu sein, da sie durch dein übles Beispiel angesteckt wurden. Du bist jedoch schlau darauf bedacht, vor dem Publikum einen gebildeten Eindruck zu machen, indem du mich als Verursacher des Irrtums hinstellst, obwohl vielmehr du dessen Ursache bist, wenn sie aufhören, sich selbst zu erkennen, sobald sie mit dir in Berührung kommen. Daß du aber auf deine Art gegenüber den Häuptern meiner Gemeinschaft erglüht bist, ist nicht weniger als das übrige in Erschütterung zu bringen. Du nennst sie konträr in der Erforschung der Dinge. Das ist klug ausgedacht. Denn du willst sie gegenseitig aufeinanderprallen lassen, da du dir nicht sicher bist, daß du irgendeinen von ihnen eines eigenen Widerspruchs überführst. Freilich kann man sie leicht von dem Anwurf des [logischen] Widerspruchs befreien, wenn man den Kern der Meinungen von allen diesen Männern ohne jede Zutat begreift. Für den Einsichtigen möchte ich dies nun kurz näher ausführen. Stolz und kühn durch die Größe des Geistes und die Flügel, die er inständig bestrebt ist, sich anlegen zu lassen, hat der eine von ihnen durch das Ausgehen von den Urgründen selbst versucht, die Dinge und das, was sie sein könnten, noch bevor sie zu den Körpern übergingen, zu erkennen. Und zu sich selbst sprechend, nannte er ihre Definition: die urtypischen Formen der Dinge.2 Ein anderer hingegen, der die Kunst versteht, die als Verbündete betrachteten Leser mit einer Fertigkeit auszurüsten, machte den Anfang mit den sinnlich wahrnehmbaren und zusammengesetzten Dingen.3 Da sie sich auf demselben Weg einander begegnen, darf man sie nicht als Kontrahenten bezeichnen. Es liebt nämlich die Zusammensetzung die Einteilung, und die Einteilung liebt die Zusammensetzung, da jede von beiden der anderen die Treue gelobt. Wenn durch Multiplikation bei den Stäben und Zahlsteinen des Abacus etwas anwächst, so wird darum mittels der Division ebendieser Summe der Nachweis geführt, ob dies richtig erfolgte. Wenn nun der eine behauptet hat, daß diese [d. h. die Genera und Spezies] nur außerhalb der Sinnendinge [sensibilia] existieren, und der andere behauptete, daß sie nur in den Sinnendingen existieren, dann ist das folgendermaßen zu verstehen: Genus und Spezies - um sie geht es nämlich - sind auch Namen von zugrundeliegenden Dingen. Betrachtet man nämlich die Dinge, dann sind ein und demselben Wesen sowohl Genusnamen, Speziesnamen als auch Individuennamen beigegeben
10. Adelard von Bath: De eodem et diverso
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worden, aber in verschiedener Hinsicht. Wenn die Philosophen nämlich über die Dinge handeln wollen, insofern diese Gegenstand der Sinne sind, das heißt, insofern sie von einzelnen Worten benannt werden und zahlenmäßig verschieden sind, nennen sie Individuen, nämlich Sokrates, Piaton und weitere. Behandeln sie dieselben aber höher, das heißt nicht in der Hinsicht, daß sie sinnlich verschieden sind, sondern in der Hinsicht, daß sie von dem Wort „Mensch" benannt werden, dann nennen sie eine Spezies. Betrachten sie dann dieselben nur in der Hinsicht, daß sie von dem Wort „Lebewesen" benannt werden, dann nennen sie ein Genus. Bei einer Betrachtung hinsichtlich der Spezies heben sie jedoch die individuellen Formen nicht auf; vielmehr werden sie vergessen, da sie durch den Namen einer Spezies nicht angegeben werden; auch in der Betrachtungsweise hinsichtlich des Genus gelten die spezifischen Formen nicht als dargestellt, sondern die Philosophen lassen außer acht, daß sie enthalten sind, da sie sich ausschließlich mit der Bedeutung eines Genuswortes befassen. Das Wort „Lebewesen" benennt nämlich in jenem Ding eine Substanz mit Beseelung und Empfindsamkeit. Das Wort „Mensch" aber bezeichnet jenes Ganze obendrein mit Vernunftbegabung und Sterblichkeit. „Sokrates" aber bezeichnet eben jenes unter Hinzufugung einer zahlenmäßigen akzidentiellen Unterscheidung. Darum leuchtet den in der Lehre Uneingeweihten auch die am Individuum orientierte Betrachtungsweise ein; die Betrachtungsweise hinsichtlich der Spezies aber quält gewiß nicht nur die in die Wissenschaften Uneingeweihten, sondern auch diejenigen, die durchaus mit ihrem Geheimnis vertraut sind. Die es gewöhnt sind, die zu analysierenden Dinge durch Augenschein wahrzunehmen, sie nach ihrer jeweiligen Länge, Breite und Höhe zu betrachten und auch in einer sie enthaltenden umfassenden Ortsbeschreibung darzustellen, daß es ein einziges ist oder mehrere sind, werden durch diese Wirrnisse gefangengenommen. Denn sobald sie eine Spezies untersuchen wollen, können sie diese weder in ihrer bekannten Einfachheit betrachten, ohne eine zahlenmäßige oder umschreibende Unterscheidung anzustellen, noch zur einfachen Angabe eines Spezieswortes aufsteigen. Daher sagte einer, als er von den Universalien handelte, gebannt nach oben starrend: „Wer wird mir ihren Ort zeigen?" So bringt die Einbildung den Verstand in Verwirrung und stellt sich seiner Feinsinnigkeit mit einer gewissen Mißgunst entgegen. Doch das ist so bei den Sterblichen. Für den göttlichen Geist, der ebendiese Materie mit einer sowohl abwechslungsreichen, als auch feinen Decke von Formen bekleidet hat, ist es nämlich forderlich, sowohl die Materie ohne die Formen, als auch die einen Formen ohne die anderen präzise zu erkennen - ja vielmehr alles mit dem anderen ohne die Verstrickung durch die Einbildungskraft präzise zu erkennen. Denn ehe es verbunden gewesen war, war die Gesamtheit dessen, was du siehst, in diesem nous elementar einfach vorhanden. Auf welche Weise und aus welchem Grund sie in ihm gewesen war, muß jedoch eingehender untersucht werden und ist einer anderen Abhandlung vorzubehalten. Jetzt wollen wir aber zum Ausgangspunkt zurückkehren. Da also ein und das-
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selbe, was du siehst, sowohl Genus, Spezies als auch Individuum sein kann, hat Aristoteles zu Recht behauptet, daß dies ausschließlich in den Sinnendingen existiert. Es sind dies in der Tat selbst Sinnendinge, die gleichwohl schärfer betrachtet worden sind. Da sie jedoch niemand, insofern sie als „Genera" und „Spezies" bezeichnet werden, ohne Einbildungskraft direkt und rein zu Gesicht bekommt, hat Piaton gesagt, daß sie außerhalb der Sinnendinge, d. h. im göttlichen Geist, sowohl begrifflich als auch real existieren. Obgleich diese Männer in den Worten Gegner zu sein scheinen, sind sie offenbar dennoch in der Sache einer Meinung. Und dennoch will ich das nicht allzu wörtlich nehmen, um etwa sämtliche Worte von allen von dem Falschsein loszusprechen. Genauso, wie nämlich deine Wirrköpfe manchmal zur seltenen Wahrheit gelangen, haben sich auch einige von meinen Leuten geirrt und wurden eben dadurch meine Gegner. Nachdem bis hierher diese Irrtümer mit der Wurzel herausgerissen wurden, wollen wir nun auf das kommen, was du mittels des Sinnenurteils zum Ziel deiner Angriffe gemacht hast. Wenn ich mich erinnere, hast du, um die Sinne emporzuheben, den Verstand einen blinden Führer genannt. Wehe dieser durchtriebenen Verdrehung der Dinge, wo es doch nichts Sichereres als den Verstand und nichts Trügerischeres als die Sinne gibt! Erstens, weil die Sinne weder bei den größten noch bei den geringsten der Dinge über genügend Kraft verfugen. Denn wer hat jemals den gesamten Himmelsraum mit dem Auge erfaßt? Wer hat den Himmelsklang und die himmlische Harmonie in seinen Ohren gehabt? Wer hat desgleichen die Kleinheit eines Atoms mit dem Auge wahrgenommen? Wer hat den Klang, den diese Atome bei ihrem Zusammenstoß erzeugen, mit dem Ohr festgestellt? Wie man jedoch sagt: wir gehen mit plumper Weisheit zu Werke. - Wenn du von ferne die Gestalt von etwas Gekochtem erblickst, muß dies dann etwa etwas Gekochtes sein? Vielmehr gibt es auch anderes von ähnlicher Gestalt, was dennoch substantiell ganz verschieden ist. Und bedienst du dich dann der Berührung: es gibt auch andere Körper mit derselben Weichheit. Dann wendest du dich dem Geruchssinn zu. Dieses Ding konnte aber durch Berührung mit gekochten Dingen einen akzidentiellen Geruch angenommen haben. Somit bleibt dir nur noch, daß du die Zähne hineindrückst. Was für ein klares Argument, was eher einem Hund als einem Menschen ansteht! Aber auch diesem darf man nicht trauen, weil es sehr oft trügt. Denn was trügerisch ist, kann zwar zum Wahren gelangen, zu überzeugen aber vermag es nicht. Somit ist erwiesen, daß aus den Sinnen nicht Wissen, sondern Wähnen entsteht. Deshalb hat mein Diener Piaton die Sinne unvernünftig genannt. Zweitens: die Sinne erforschen nicht nur nicht das Wahre, sondern halten den Geist auch gewaltsam von der Erforschung des Wahren ab. Denn sobald die Seele einmal in einem Begriff eine scharfe Bestimmung erzielt hat, geschieht es, daß entweder in den Ohren ein lautes Geräusch dröhnt oder das Licht die Augen blendet oder sie durch eine derartige Erregung beunruhigt wird. Somit ermattet die Seele in ihrem Forscherdrang durch die von den Sinnen kommende Unruhe, die bis
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zum Sitz der Seele vordringt. Dies ist der Grund dafür, daß wir immer dann, wenn wir zum hohen Gericht gerufen werden, uns einen einsamen Ort suchen, wo wir weniger von den Sinnen behindert werden. Dies ist auch der Grund dafür, daß die Seele in den Träumen - weil sie dann in gewisser Hinsicht freier von der Sinnenqual ist - an Scharfsinn gewinnt, auch manchmal über die Zukunft Wahres oder Wahrscheinliches erfaßt und sich bei der Morgenröte weniger täuscht, da sie ja durch die bereits verdauten Speisen unbeschwerter ist. Wo somit die Sinne gebieten, erwürgen sie das Wahre. Darum sagt mein Piaton: „Dies ist ihr Wähnen, das angefüllt ist mit Irrtum und Falschheit und aus dem verderblichen Einfluß der Sinne erwuchs; und solch ein Herumziehen hat dann auch keinen sicheren Führer." 4 Da sie so sind, hat die Fürsorge des Schöpfers - mit der Absicht, sie zu heilen - ihnen den Verstand als ihren Führer und ihren Herrn mit dem Sitz im Gehirn vorangestellt. Entsprechend ihrer Definition ordnet er alles das, was von ihnen an Sünden begangen wird, und weist entweder substantiell durch Definition oder akzidentiell durch Beschreibung nach, was jegliches Ding ist. Die Sache hat sich also in das Gegenteil von deiner Auffassung verkehrt, das heißt, daß man es so auffassen muß, daß die Sinne stumpf sind und der Verstand Beherrscher ist. Und überhaupt: die Sinne können nicht wahrnehmen, wie sie selbst wahrnehmen und was sie sind. Das bereitet nicht dem Pöbel, der nicht überlegen kann, sondern nur den Philosophen wegen der Leitung durch den Verstand keinerlei Mühe. Ist es also nicht beschämend, daß du die Sinne so schamlos emporgehoben hast, wo sie nicht einmal wahrnehmen können, was sie selbst sind? Darum sind sie eher wert, verwünscht und gehaßt zu werden. [...] Zu mir gehören also sieben Jungfrauen 5 , deren Natur und Sitten ich einzeln darlege, damit du durch dein eigenes Urteil entscheiden kannst, welche von allen du vorziehst. Denn alle auf einmal zu umschlingen, wäre mehr, als deiner Begabung entspräche. Diese erste6, die du siehst, wie sie in der rechten Hand ein Rohr trägt und in der linken eine Handschrift, die mit zahllosen Verbesserungen verziert ist, zieht als einzige die in die freien Künste Eintretenden in ihrer Wiege auf und gibt ihnen zuerst Milch. Ohne ihre Aufzucht strebst du vergeblich nach der Weisheit: denn die sie nicht genossen haben, werden ungeachtet ihrer Begabung nicht zu Unrecht „Stammelnde" genannt. Du wirst nun aber nicht bezweifeln, daß diejenigen, die von ihr gefangen worden sind, ebenso sehr, wie die Menschen die Schafe durch das Geschenk des Verstandes übertreffen, die übrigen Menschen in der Kunst des vernünftigen Sprechens übertreffen. Als die Sterblichen anfangs zerstreut und wie Tiere, ohne gegenseitigen Meinungsaustausch und mit stummem Verstand umherstreiften, hätte auch niemand dem anderen mitteilen können, was er von sich und den bestehenden Dingen begriffen hat. Sie allerdings hat die Sterblichen mit der Ehre des gegenseitigen Ansprechens beschenkt, indem sie als erstes die einzelnen Dinge mit Namen versah. Wenn du überlegt herangehst, wirst
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du verstehen, um was für eine komplizierte Aufgabe es sich handelt. Da es unendlich viele Dinge gibt, müssen sie natürlich jeweils unterschiedlich genannt werden, je nachdem, ob sie für sich, ob sie in Form einer Verbindung, ob sie auf universelle Weise [universaliter] gedacht werden und ob sie als Gegenstand der Sinne Träger einer individuellen Eigenschaft sind. So wird zum Beispiel zwar das „Weißheit" genannt, was in einem bestimmten Körper Akzidens ist, und zwar im Hinblick darauf, daß es für sich wie eine bestimmte Substanz ohne Berücksichtigung eines Körpers begriffen wird; berücksichtigt man jedoch seine Existenz in einem Zugrundeliegenden, wird es mit dem Namen „Weißes" bezeichnet. Ebenso wird ein vernunftbegabtes Lebewesen, das du wahrnimmst, als Mensch betrachtet, sobald es gemäß der Universalität einer substantiellen Definition begriffen wird; es wird hingegen „Sokrates" genannt, sobald es durch die Vereinzelung einer Beschreibung abgehoben wird. Daher hat sie, nachdem die Dinge bereits mit Namen ausgestattet waren, diesen Namen weitere Namen zugeordnet, damit deren Differenz untereinander nicht im Verborgenen bleibt und jene vielfältige Unendlichkeit, die auf eine gewisse Anzahl zurückgeführt wurde, nicht ohne eine wissenschaftliche Erklärung bleibt. Mit bewundernswertem Scharfsinn hat sie also jene Gesamtheit der Anzahl Acht der Bestandteile der Rede 7 zugeordnet. Dabei ist sie so wenig von der Vollkommenheit der Zuordnung abgewichen, daß ein Wort sowohl ein Ding als auch ein Wort bezeichnen kann. Zum Beispiel verweist in der Rede „ein Mensch geht" das Subjektwort auf das Ding, das geht. Wenn ich aber die Aussage „Mensch ist ein Name" mache, dann bedeutet das Subjektwort kein Ding, sondern ein Wort. Ich bringe nämlich zum Ausdruck, daß dieses Wort „Mensch" die Eigenschaft eines Namens besitzt, sobald ich es für sich nenne. Hieraus entspringt auch jene Verwirrung, daß nämlich in Gestalt des Subjektes ein und dasselbe sowohl Bezeichnendes als auch Bezeichnetes ist, was einige später als „materiale impositum" 8 bezeichneten. [...] Diese dritte Jungfrau 9 hat die Gesamtheit aller sichtbaren Dinge mit feinem Spürsinn in zehn Naturen geteilt. Sie geht nämlich davon aus, daß die verschiedenen Dinge in der Natur insgesamt zehn Unterschiede [diversitates] besitzen. Diese zehn Unterschiede haben die Späteren auch „Kategorien"10 genannt. Den einzelnen Kategorien ordnet sie sowohl Genera, Spezies als auch Individuen zu; sie erklärt, daß es von diesen Genera einerseits oberste, andererseits subalterne, und desgleichen von den Spezies einerseits unterste, andererseits subalterne gibt. Dieses Höchste unterwirft sie wieder der Veränderung, um einmal - ausgehend von den Individuen und unter Raub bzw. Vergessen der besonderen Eigenschaften - über die mittleren Genera zum obersten aufzusteigen, und um ein anderes Mal ausgehend von dem obersten Genus mit demselben Grad - bis zu den Individuen hinabzusteigen, wobei sie die einzelnen Zwischenglieder wieder mit ihren eigenen Formen versieht. Indem sie diese universellen Naturen der Dinge mit der wunder-
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baren Feinheit des Lichtes streift, ist sie bestrebt, sie so zu Gesicht zu bekommen, wie sie im Geist des Schöpfers vor der Zeit erdacht wurden. Sie untersucht genau die Akzidentien ohne Rücksicht auf die Substanzen. Die Differenzen dieser Akzidentien sondert sie ab. Sie vertraut dabei natürlich auf diese Feinsinnigkeit, um andere wie eine Schlange in ihre eigenen herausfordernden Bedenken zu verstricken und die Wurfnetze der anderen mit einer sicheren Verteidigung des Untersuchungsergebnisses der Verachtung preiszugeben.
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ANONYMUS1 („PSEUDO-GAUSLENUS") Über die Genera und Spezies*
Mehrere haben auseinandergehende Meinungen. Die einen sind nämlich der festen Überzeugung, daß nur die Worte Genera und Spezies, universal und singulär sind; den Dingen aber sprechen sie keine dieser Bedeutungen zu. Andere hingegen sagen, die Dinge seien wie Genera und wie Spezies beschaffen, sie seien universal und singulär; doch unter diesen gibt es wieder auseinandergehende Meinungen. Einige sagen nämlich, die einzelnen Individuen seien Spezies und Genera, sowohl subalterne als auch oberste, nämlich die aufjeweils verschiedene Weise aufeinander bezogenen Individuen. Andere hingegen konstruieren gewisse universelle Wesen, von denen sie annehmen, daß sie als ganze wesenhaft [essentialiter] in den einzelnen Individuen sind. Wir wollen nun also untersuchen, ob von diesen Meinungen etwas vernünftig bestehen kann. Zuerst prüfen wir diejenige Auffassung, zu der die folgende Feststellung gehört: der Mensch ist eine bestimmte Spezies, wesentlich ein einheitliches Ding, zu dem bestimmte Formen kommen und im Ergebnis Sokrates hervorbringen; ebenjenes wesensmäßig bestimmte Ding gestalten auf dieselbe Weise Formen, die einen Piaton und die übrigen Individuen des Menschen zum Vorschein bringen; und in Sokrates gibt es nichts besonderes außer jenen Formen, die jene Materie gestalten, um einen Sokrates zum Vorschein zu bringen, ohne daß ein und dasselbe zu gleicher Zeit mit den Formen Piatons in Piaton gestaltet worden wäre. Und dies lassen sie für einzelne Spezies in bezug auf die Individuen und für die Genera in bezug auf die Spezies gelten. Wenn es sich aber nun tatsächlich so verhält, wer kann dann der Behauptung entgegentreten, daß Sokrates zu derselben Zeit sowohl in Rom als auch in Athen ist? Wo nämlich Sokrates ist, ist auch der universale Mensch [homo universalis], der in bezug auf seine gesamte Quantität durch die Sokratität * [„Pseudo-Gauslenus",] De generibus et speciebus. - Textgrundlage: Pseudo-Joscelin, De generibus et speciebus, in: P. O. King, Peter Abailard and the Problem of Universals, Ph. Diss., Princeton 1982, Append. S. 143*-185*. - Zitiert als: De generibus et speciebus.
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gestaltet ist. Denn alles, was ein allgemeines Ding [res universalis] aufnimmt, behält es mit der gesamten Quantität von sich. Wenn also ein allgemeines Ding, das durch die gesamte Sokratität geprägt wurde, auch in Rom als ganzes in Piaton ist, dann ist es unmöglich, daß dort zu derselben Zeit auch die Sokratität ist, die jenes Wesen als ganzes enthielt. Überall dort, wo die Sokratität im Menschen ist, ist Sokrates; denn Sokrates ist ja ein Sokratischer Mensch. Was hiergegen eingewendet werden könnte, hat keinen vernünftigen Sinn. Ferner: Gesundheit und Schlaffheit kommen in einem belebten Körper vor; die Weißheit und die Schwärze schlechthin in einem Körper. Wenn nun das ganze Lebewesen, das in Sokrates existiert, durch Schlaffheit gezeichnet wird, ist auch das Ganze - da es ausnahmslos alles, was es aufnimmt, mit der gesamten Quantität von sich aufnimmt - in demselben Augenblick keinesfalls ohne Schlaffheit; in Piaton ist aber ein und dasselbe vorhanden; folglich würde er dann auch erschlaffen; doch er erschlafft dann nicht. Dasselbe gilt hinsichtlich der Weißheit und Schwärze bei einem Körper. Sie sollten nicht eine solche Ausflucht nehmen, daß sie sagen, Sokrates erschlaffe, das Lebewesen erschlaffe nicht. Denn was meinen sie, wenn sie das Erschlaffen für Sokrates und in indirekter Weise für das Lebewesen bejahen, ohne es auf die Allgemeinheit [universalitas] zu beziehen, da sie ja leugnen, daß ebendas Lebewesen im allgemeinen erschlafft, was in indirekter Weise erschlafft. Sie meinen damit nicht, daß es nicht in jenem Akzidens erschlafft; dies könnten sie durchaus sagen, weil es ja nicht in der Einzelnheit [singularitas] erschlafft. Denn beziehen sie sich auf das Lebewesen in der Allgemeinheit, das heißt auf das universale Lebewesen, so unterliegen sie einem Irrtum, wenn sie meinen, daß es nicht erschlafft, wo es doch in indirekter Weise erschlafft; denn das universale Lebewesen und das in indirekter Weise verstandene sind identisch. Sie setzen hinzu: das universale Lebewesen erschlafft, jedoch nicht, insofern es ein Universale ist. Wenn sie sich nur anschauen könnten! Denn verstehen sie diese Behauptung: „das Lebewesen erschlafft nicht, insofern es ein Universale ist" so: „das, was ein Universale ist, läßt jenem nicht zuteil werden zu erschlaffen", dann könnten sie ebenso sagen: „insofern es ein Einzelnes ist, erschlafft es nicht, denn das, was ein Einzelnes ist, läßt ihm das Erschlaffen nicht zuteil werden". Sollten sie folgendes meinen: „insofern ein Universale da ist, erschlafft es nicht" - das heißt, daß das, was ein Universale ist, dies gerade ausschließt, dann erschlafft es niemals, da es ja immer ein Universale ist. Ich sage, daß das, was Universale ist, es ausschließt, insofern es Universale ist. Ebenso können sie sagen, daß das, was Einzelnes ist, es ausschließt, insofern es Einzelnes ist, da kein Einzelnes erschlafft, insofern es Einzelnes ist. Und damit haben wir zweimal ein „insofern", nämlich: insofern ein Universale da ist, erschlafft es nicht, insofern es Universale ist. Verlegen sie sich auf den „Status" und formulieren: „ein Lebewesen, insofern es ein Universale ist, erschlafft im universalen Status nicht" - dann mögen sie ausführen, wovon sie mit diesen Worten „im universalen Status" handeln wollten: ob von einer Substanz oder einem Akzidens.
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Handeln sie von einem Akzidens, dann räumen wir ein, daß in jenem Akzidens nichts erschlafft. Wird von einer Substanz gehandelt, so mögen sie ausführen, ob über eine belebte oder eine andere. Wenn über eine andere, räumen wir auch ein, daß ein Lebewesen in einer anderen Substanz von selbst nicht erschlafft. Wird über eine belebte Substanz gehandelt, dann ist es falsch, daß ein Lebewesen in einem allgemeinen Status nicht erschlafft, da doch das Lebewesen die Erschlaffung in sich hat. Auch hiermit sehe ich keinen Ausweg für sie. Ferner: Jede Differenz, die zu einem nächstliegenden Genus hinzukommt, erzeugt eine Spezies, wie zum Beispiel die Vernunftbegabung im Lebewesen. Sie verleiht also dem gesamten Lebewesen eine Form. Denn alles, was ein Genus aufnimmt, nimmt es mit der gesamten Quantität von sich auf. Auf dieselbe Weise und zu derselben Zeit verleiht aber die Vernunftlosigkeit dem gesamten Lebewesen eine Form. Somit sind zwei zueinander entgegengesetzte Eigenschaften in ein und demselben Ding in bezug auf dasselbe. Sie mögen aber auch nicht sagen: „es ist nicht ausgeschlossen, daß zwei zueinander entgegengesetzte Eigenschaften in ein und demselben Universale sind"; denn dagegen legt Porphyrios Widerspruch ein, indem er negiert, daß in ein und demselben Universale Entgegengesetztes ist, als er über das Genus sprach: „es besitzt aber auch nicht Entgegengesetztes, da dann ein und dasselbe zugleich Entgegengesetztes besitzen würde", und als Schluß formuliert er: „weder aus dem Nicht-Seienden entsteht etwas, noch existiert Entgegengesetztes [zugleich] an ein und demselben Ding".2 Sie mögen sich aber auch nicht darauf zurückziehen, daß sie sagen, Porphyrios hielte es dort nicht für ausgeschlossen, daß zwei zueinander entgegengesetzte Eigenschaften in ein und demselben Ding sind, solange sie nicht zum Akt der Konstituierung dessen gehören, in dem sie sind; im übrigen ist es nicht ausgeschlossen, daß die Weißheit und die Schwärze in ein und demselben Ding sind, die beide nicht dieses Ding konstituieren. Dies ist also von noch größerer Einfältigkeit, als was einige sagen, daß nämlich die Differenzen zwar zum Genus hinzukommen, jedoch nicht in dem Genus begründet sind. In dem Moment, in dem die Vernunftbegabung nämlich mit jener Natur, das heißt dem Lebewesen, in Berührung kommt, wird auch sogleich eine Spezies zum Vorschein gebracht und in ihr die Vernunftbegabung begründet. Weil sie durch sich selbst ein Zugrundeliegendes ist, wird sie auch als für sich Seiendes bezeichnet. Ich sage hingegen: eine Spezies ist aus einem Genus und einer substantiellen Differenz hervorgegangen; und wie die Bronze in einer Statue die Materie ist, die Gestalt aber die Form, so ist analog das Genus die Materie der Spezies und die Differenz ist die Form. Die Materie ist das, was die Form aufnimmt. Somit trägt das Genus die durch die Spezies selbst konstituierte Form. Denn auch nachdem sie konstituiert wurde, besteht sie aus Materie und Form, das heißt aus dem Genus und der Differenz. Und damit kehren wir wieder zu demselben zurück, daß die Differenz in dem Genus begründet ist. Sie setzen aber entgegen: „die Vernunftbegabung erhält zwar ihre Grundlage im Fleisch, das außerhalb einer Spezies ein Genus ist, jedoch nicht in der
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Spezies selbst." Hiermit lassen sie zwei Unmöglichkeiten zu: zum einen, daß ein Genus außerhalb einer Spezies und deren Individuen sein soll, obwohl Boethius sagt: „die gegenseitige Ähnlichkeit verschiedener Spezies, die nur in den Spezies und deren Individuen sein kann, schafft ein Genus"; 3 zum anderen, daß sie einräumen, daß jene Sache, die ein Genus außerhalb einer Spezies ist, etwas ist, das in einer Spezies existiert, und daß eben jenes erste insoweit kein Genus sei. Ferner: Wenn eine Form in einer Spezies begründet ist, so ist sie in etwas begründet, das sich aus ihr selbst und einem Genus zusammenfügt, so daß dieses Zusammengefügte die Existenzgrundlage für sie ist. Darum könnten mittels der Vernunft auch die Grundlage und die Form getrennt werden. Die Kraft des Geistes besteht nämlich darin, sowohl Getrenntes zu verbinden als auch Verbundenes zu trennen. Welcher Geist würde jedoch die Vernunftbegabung vom Menschen trennen, wo doch die Vernunftbegabung im Menschen enthalten ist? Femer: da die Vernunftbegabung etwas Bestimmtes ist, wird sie einem bestimmten Teil der Aristotelischen Einteilung angehören, die lautet: „Es wird entweder über ein Zugrundeliegendes ausgesagt und ist in keinem Zugrundeliegenden, usw."4 Ich glaube, sie werden sie diesem Teil der genannten Einteilung zuweisen: „Was über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird und in einem Zugrundeliegenden ist."5 Denn eine Vernunftbegabung wird über ein Zugrundeliegendes mit dieser bestimmten Vernunftbegabung ausgesagt. Sie ist aber im Menschen als dem Zugrundeliegenden. Und wenn sie im Menschen als in einem Zugrundeliegenden ist, dann ist sie dort nicht als ein gewisser Bestandteil usw.; denn in diesem Sinne wird hier das „Sein in einem Zugrundeliegenden" definiert; doch die Vernunftbegabung ist ein Formbestandteil des Menschen und damit ist sie ein Bestandteil; es muß also nach einem anderen Zugrundeliegenden für sie gesucht werden, von dem sie kein Teil sein soll. Doch sie werden entgegensetzen: „die Vernunftbegabung ist im Menschen wie in einem Zugrundeliegenden, jedoch nicht wie ein integraler Bestandteil [pars integralis], was allein Aristoteles negiert hat." Ich widerspreche dem jedoch. Das Lebewesen ist im Menschen wie in einem Zugrundeliegenden, jedoch nicht als ein integraler Bestandteil. Darauf würden sie dann antworten, daß der abschließende Teil jener Definition hierfür nicht paßt. „ . . . was unmöglich [ohne das] sein kann, [in dem es ist] usw."6 Denn es ist möglich, daß das Lebewesen, ohne den Menschen und andere untergeordnete Wesen existiert - „existieren" [esse] dabei im weiten, nicht im aktualen Sinne gefaßt. Doch eben dasselbe kannst du über die Vernunftbegabung sagen. Denn ihnen zufolge bliebe die Vernunftbegabung, auch wenn sie in keinem bestimmten Ding vorkommt, dennoch in der Natur bestehen. Ferner: Alles Stoffliche wird hinreichend aus seiner Materie und der Form konstituiert. Die Materie von Sokrates ist aber die Spezies Mensch, die Form von ihm jedoch die Sokratität, durch welche beide er hinreichend konstituiert wird. Und weiter besteht Sokrates aus Elementen, denn ein jeder Körper besteht aus vier Elementen. Wenn sie es bestreiten, dann können sie nicht sagen, wovon die
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Elemente in Sokrates zusammenkommen. Denn entweder wird es Materie oder ein Teil der Materie, oder aber Form oder ein Teil der Form sein. Wenn es dies aber nicht ist, dann sieht keine vernunftbegabte Natur, auf welche Weise Sokrates existieren könnte. Gleichfalls wird ein Haus aus der Wand, dem Dach, dem Boden und einer Form konstituiert; hinsichtlich ebendieser Zusammensetzung sagen wir auch, daß es aus Holz und Stein besteht. Dies kann darum so sein, weil Stein und Holz Teile von Teilen des Hauses sind. Ferner: Genera und Spezies sind entweder Schöpfer oder Geschöpf. Sind sie Geschöpf, so hat es früher als das Geschöpf seinen Schöpfer gegeben. Somit hat es früher als die Gerechtigkeit und Tapferkeit Gott gegeben, und man bezweifelt nicht, daß diese in Gott und verschieden von Gott sind. Und daher hat es zuvor Gott gegeben, bevor es einen Gerechten oder Tapferen hätte geben können. Nun gibt es aber solche, die bestreiten, daß die folgende Einteilung ausreichend ist, d. h.: „alles, was existiert, ist entweder Schöpfer oder Geschöpf, vielmehr müsse sie so lauten: „alles, was existiert, ist entweder gezeugt oder ungezeugt." Die Universalien hält man für ungezeugt und darum für gleich-ewig; und darum ist jenen zufolge, die das behaupten, ein Esel in nichts Gott unterworfen - was auszusprechen eine Sünde ist; der Esel soll ihnen zufolge immer gemeinsam mit Gott da gewesen sein und von nichts anderem seinen Anfang genommen haben, noch soll Gott der Schöpfer irgendwelcher Dinge sein. Denn Sokrates ist aus zweierlei mit Gott gleich-ewigen Dingen zusammengesetzt. Es hat also eine neue erstmalige Zusammensetzung gegeben und keine neue Schöpfung. Denn gleich der Materie ist auch die Form universal und damit gleich-ewig mit Gott - wie sehr dies von der Wahrheit abweicht, ist offenkundig. Aber auch folgendes begegnet: „wenn es ein und dasselbe Wesen ist, das zusammen mit der Vernunftbegabung einen Menschen und mit der Vernunftlosigkeit einen Esel ausmacht, woher kommt es, daß diese beiden Gegensätze aus einem einzigen Wesen zwei machen? Sollte es die Natur zulassen, daß in ein und demselben Finger gleichzeitig die Weißheit und die Schwärze vorhanden sind, so würden jedoch aus einem einzigen Finger nicht zwei Finger gemacht werden können." Es gibt vieles, was mit dieser Torheit unverträglich ist; wir werden es als Gegenargument anfuhren, wenn uns das oben Gesagte nicht schon genug zu sein scheint. Nun wollen wir uns mit jener Meinung befassen, die von der Indifferenz ausgeht. Zu ihr gehört die folgende These: „außer dem Individuum existiert überhaupt nichts; vielmehr ist das immer wieder auf andere Weise bezogene Individuum sowohl Spezies, als auch Genus, als auch oberstes Genus." Somit ist Sokrates deswegen in der Natur, in der er ein Gegenstand der Sinne ist - nämlich hinsichtlich der Natur, die die Sinneswahrnehmung genau ihm zuschreibt -, ein Individuum, weil diese Eigentümlichkeit so beschaffen ist, daß nichts anderes sie in ihrer Gesamtheit besäße. Durch die Sokratität ist von zwei Menschen immer nur einer gekennzeichnet. Es gibt manchmal von demselben Sokrates einen Begriff [intellectus], der
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nicht alles das beinhaltet, was das Wort „Sokrates" bezeichnet; vielmehr erfaßt er unter Vernachlässigung der Sokratität nur das von Sokrates, was durch das Wort „Mensch" bezeichnet wird, nämlich ein sterbliches vernunftbegabtes Lebewesen und in dieser Beziehung ist er eine Spezies, denn er ist über mehreres von einem ganz bestimmten Status in Hinsicht auf das Was prädizierbar. Klammert der Begriff die Vernunftbegabung und die Sterblichkeit aus und begreift er nur das in sich, was das Wort „Lebewesen" bezeichnet, so ist er in diesem Status ein Genus. Entledigten wir Sokrates aber jeglicher Formen und betrachteten wir ihn nur darin, was durch das Wort „Substanz" bezeichnet wird, so wäre er ein oberstes Genus. Dasselbe kannst du in jeder Beziehung von Piaton sagen. Nun kann aber die Meinung auftreten, daß die Eigenschaft von Sokrates, insoweit er ein Mensch ist, genausowenig in mehrerem enthalten ist, wie die Eigenschaft desselben Sokrates, insoweit er Sokrates ist; denn Sokrates' Mensch ist ebenso in keinem anderen außer in Sokrates, wie Sokrates selbst. Was sie zu bedenken geben, ist wahr; jedoch meinen sie den Beweis dafür so antreten zu müssen: „Sokrates, insoweit er Sokrates ist, besitzt ganz und gar kein indifferentes Merkmal, was in einem anderen Ding gefunden werden könnte; insoweit er jedoch ein Mensch ist, besitzt er mehrere indifferente Merkmale, die in Piaton und in anderen gefunden werden. Denn Piaton ist im gleichen Sinn Mensch wie Sokrates, wenngleich er wesensmäßig nicht ein und derselbe Mensch ist wie Sokrates. Dasselbe gilt für das Lebewesen und die Substanz." Einer solchen Auffassung widerspricht sowohl die überkommene Lehrmeinung als auch der Verstand. Zuerst wollen wir sehen, welchen überkommenen Lehrmeinungen sie entgegensteht. Porphyrios sagt: „Es gibt zehn oberste Genera und die untersten Spezies liegen auch in einer bestimmten, nicht einer unbestimmten Anzahl vor, hingegen gibt es unendlich viele Individuen." 7 Die Behauptung aus jener Auffassung war jedoch, daß die einzelnen Individuen einer Substanz, insoweit sie eine Substanz sind, oberste Genera sind. Somit gibt es gleichermaßen unendlich viele Individuen wie unendlich viele oberste Genera. Darauf geben jene jedoch zur Antwort, daß es unendlich viele oberste Genera in bezug auf Gegenstände, hinsichtlich der Indifferenz jedoch nur zehn gäbe; denn so viele Individuen der Substanz es gibt, genausoviele Substanzen des obersten Genus gibt es auch; dennoch werden alle diese obersten Genera als ein einziges oberstes Genus bezeichnet, weil sie indifferent sind. Insoweit Sokrates eine Substanz ist, ist er auf Grund des Substanzstatus gegenüber jeder beliebigen Substanz indifferent. Wenig später sagt Porphyrios weiter: „Eine Spezies ist nämlich ein Zusammenbringendes von vielem zu einer einzigen Natur, und um einiges mehr noch ist das ein Genus." 8 Dies kann auf sinnvolle Weise von Sokrates nicht gesagt werden. Sokrates überträgt nämlich nicht auf Piaton eine Natur, die er besitzt, da weder der Mensch, der Sokrates ist, noch das Lebewesen, [das Sokrates ist,] außerhalb von Sokrates in etwas ist. Diese entgegnen jedoch unter Ausweichen auf die Indifferenz,
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daß Sokrates dadurch, daß er ein Mensch ist, Piaton und einzelne Menschen mit sich in Verbindung bringt, da ja Piaton dem Menschen Sokrates gegenüber ein indifferentes Wesen [indifferens essentia] ist. Weiter sagt Porphyrios: „Ein Genus ist das, was über mehreres sich der Spezies nach Unterscheidendes in bezug auf das Was prädiziert wird; eine Spezies ist das, was über mehreres sich zahlenmäßig Unterscheidendes [in bezug auf das Was prädiziert wird]".9 Ist Sokrates im Status des Lebewesens ein Genus, dann wohnt er also mehreren sich unterscheidenden Spezies inne; ist er im Status des Menschen eine Spezies, so wohnt er mehreren sich zahlenmäßig unterscheidenden [Individuen] inne. Dies ist keinesfalls wahr. Denn das Lebewesen oder der Mensch, der Sokrates ist, wohnt keinem anderen als Sokrates inne. Aber auch sie sagen: „Sokrates wohnt in keinem Status jemandem inne, es sei denn, wesensmäßig sich selbst; doch im Status des Menschen soll er mehrerem innewohnen, da ja indifferente [Dinge] dem anderen innewohnen; und ebenso im Status des Lebewesens." Auch Boethius stellt sich dieser Auffassung an vielen Stellen in den Weg. Im zweiten Kommentar zu Porphyrios sagt er folgendes: „Eine Spezies ist für nichts anderes zu halten, als einen Gedanken, der aus der substantiellen Ähnlichkeit von sich der Zahl nach unterscheidenden Individuen erschlossen wurde, ein Genus aber als einen Gedanken, der aus der Ähnlichkeit der Spezies erschlossen wurde." 10 Das gilt nicht für eine solche Auffassung: „Insoweit Sokrates ein Mensch ist, ist er eine Spezies, die jedoch auf keine Weise aus mehrerem erschlossen wird, da sie nicht in mehrerem ist." Die sich auf die Indifferenz orientieren, äußern sich jedoch so: „Insoweit Sokrates ein Mensch ist, wird er aus sich, Piaton und den übrigen erschlossen; insoweit es ein Mensch ist, wird ein jegliches Individuum aus sich erschlossen." Wie lächerlich das ist, erhellt daraus, daß auf die gleiche Weise von jedem Beliebigen gesagt werden kann, daß er ein Mensch ist, weil er gegenüber jenem dort indifferent sei. Ferner äußert Boethius im Kommentar zu den „Kategorien": „Genera und Spezies sind nicht aus einem einzigen, sondern aus sämtlichen einzelnen Individuen nach Maßgabe des Verstandes erkannt und begriffen worden." 11 Hier bestätigt er offen, daß ein einheitliches Wesen wie zum Beispiel der Mensch nicht aus einem einzigen Sokrates erschlossen wurde, sondern daß es aus allen erschlossen wird. Diejenigen jedoch, die sagen, Sokrates sei darin, daß er ein Mensch ist, eine Spezies, erschließen eine Spezies allein aus einem Individuum. Wir wollen nicht die Mühe auf uns nehmen, sämtliche überkommenen Lehrmeinungen anzugeben, die diese Auffassung ablehnen. Nun wollen wir ermitteln, ob diese Auffassung in Übereinstimmung mit der Vernunft steht. Sie stellt fest, daß ein jedes menschliche Individuum, insoweit es ein Mensch ist, eine Spezies ist. Somit könnte von Sokrates durchaus behauptet werden: „dieser Mensch ist eine Spezies"; nun wird richtig gesagt: „Sokrates ist dieser Mensch"; somit kann nach einem Modus der ersten Figur 12 vernünftig geschlossen
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werden: „Sokrates ist eine Spezies". Wird nämlich etwas über etwas prädiziert und wird ein anderes dem Subjekt zugrundegelegt, dann wird das Subjekt vom Zugrundegelegten dem Prädikat des Prädizierten zugrunde gelegt.13 Dies wird niemand auf vernünftige Weise leugnen. Ich setzte fort: ist Sokrates eine Spezies, dann ist Sokrates ein Universale; ist er ein Universale, so ist er kein Einzelding; es folgt somit: er ist nicht Sokrates. Sie negieren die folgende Konsequenz: „ist er ein Universale, dann ist er kein Einzelding". Denn als Anwendung ihrer eigenen Meinung ergibt sich: Jedes Universale ist ein Einzelding, und jedes Einzelding ist nach verschiedenen Bezügen ein Universale". Und wenn entgegengesetzt wird: „eine Substanz ist entweder universal oder singulär" - so nehme ich an, daß niemand verneint, daß eine solche Einteilung akzidentiell ist. Wie Boethius nun aber im Werk „De divisione" sagt: „Für sie gibt es einen gemeinsamen Lehrsatz: ganz gleich, was von ihnen eingeteilt wird - es ist in Entgegengesetztes aufzuspalten." 14 Wenn wir zum Beispiel ein Zugrundeliegendes nach Akzidentien aufspalten, dann würden wir nicht sagen: „von den Körpern sind die einen weiß, andere süß" - denn sie sind nicht entgegengesetzt. Vielmehr: „von den Körpern sind die einen weiß, die anderen schwarz und wieder andere keines von beidem". Wir können also dann auf dieselbe Weise negieren, daß die folgende Einteilung keine akzidentielle ist: „eine Substanz ist entweder universal oder singulär". „Universale" und „Einzelding" sind nicht in stärkerem Maß zueinander entgegengesetzte Bestimmungen als „Weißes" und „Süßes". Jene sagen nun, daß die genannte Feststellung nicht sämtliche akzidentellen Einteilungen betrifft, sondern nur die regelmäßigen. Fragst du danach, welche die regelmäßigen sind, so sagen sie: „auf die jener Lehrsatz zutrifft". Seht doch, von wie großer Schamlosigkeit sie sein können! Was die überlieferte Lehrmeinung so unmißverständlich feststellt, als sie über die akzidentellen Einteilungen sprach („Für sie alle gibt es einen gemeinsamen Lehrsatz usw."), das halten sie verlogen für eine nicht allgemeingültige Feststellung. Doch damit werden sie sich nicht durchsetzen. Denn insbesondere hinsichtlich des Universale und des Einzeldings macht die überkommene Lehrmeinung die folgende negative Feststellung: „kein Universale ist ein Einzelding und kein Einzelding ist ein Universale". Boethius stellt im Kommentar zu den „Kategorien" fest - dort, wo er über die Einteilung in die universelle Substanz einerseits und die singuläre Substanz andererseits sprach: „es kann jedoch nicht sein, daß sich ein Akzidens in die Natur einer Substanz oder daß sich eine Substanz in die Natur eines Akzidens verwandelt. Aber auch die Partikularität und die Universalität verwandeln sich nicht ineinander. Freilich kann eine Universalität über eine Partikularität prädiziert werden - wie zum Beispiel Lebewesen' über,Sokrates' und,Piaton' -, und die Partikularität nimmt die Prädizierung der Universalität an; jedoch nicht so, daß eine Universalität eine Partikularität ist, noch daß Partikuläres zur Universalität wird."15 Daß man die Nomina „Universalität" und „Partikularität" als Universale und Partikuläres aufzufassen hat, verdeutlichen die
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Beispiele, wie die Prädizierung von „Lebewesen" über „Sokrates". Dagegen läßt sich vernünftigerweise nichts einwenden. Jene geben jedoch keine Ruhe und sagen: „kein Einzelding ist ein Universale, insoweit es ein Einzelding ist, und umgekehrt; und dennoch ist ein Universale ein Einzelding". Hiergegen wende ich mich mit den folgenden Worten: die Aussage „kein Einzelding [ist ein Universale], insoweit es ein Einzelding ist" scheint den folgenden Sinn zu haben: „kein Einzelding ist ein Universale, solange es ein Einzelding bleibt und solange das Universale ein Universale bleibt". Und das ist in jedem Falle falsch. Denn Sokrates, der Sokrates bleibt, ist ein Mensch, der ein Mensch bleibt. Ferner könnte sie den folgenden Sinn haben: „Keinem Einzelding wird durch das, was ein Einzelding ist, zuteil, ein Universale zu sein", oder: „für einen einzelnen Menschen ist es durch das, was ein Einzelding ist, ausgeschlossen, ein Universale zu sein." Doch das trifft auf das Verhältnis von Sokrates und Mensch überhaupt nicht zu. Denn in Sokrates verlangt das, was Sokrates ist, den Menschen, und für kein Einzelding ist es ausgeschlossen, ein bestimmtes Universale zu sein. Denn diesen zufolge ist ein jedes Einzelding ein Universale. Sagen sie nun: „Sokrates, insoweit er Sokrates ist - d. h. in Gestalt jener gesamten Eigentümlichkeit, die eindeutig durch das Wort,Sokrates' bezeichnet wird - ist nicht Mensch, insoweit er Mensch ist, d. h. insoweit er eindeutig durch das Wort,Mensch' bezeichnet wird" -, so ist auch das falsch. Denn „Sokrates" bezeichnet den Sokratischen Menschen und damit auch einen Menschen, nämlich das, was „Mensch" bezeichnet. Wenn sie sagen: „Sokrates ist in bezug jener ganzen Eigenschaft, auf Grund der er mit dem Terminus ,Sokrates' bezeichnet wird, nicht nur das, was der Terminus ,Mensch' bezeichnet", so ist das richtig in ihrem Sinne, denn es gibt überhaupt nichts, was ausschließlich Bezeichnungsgegenstand von „Mensch" wäre. Was könnten sie darüber hinaus meinen? Wenn es möglich wäre, so untersuche das ein anderer. Es ist des weiteren erwiesen, daß eine Spezies aus einem Genus und einer substantiellen Differenz besteht - wie zum Beispiel eine Statue aus Bronze und einer Gestalt nach der Meinung des Porphyrios.16 Und daher ist sowohl die Materie als auch die Differenz ein Teil der Spezies. Die Spezies hingegen ist das Ganze, worin sie ihre Bestimmung haben. Daher sind sie füreinander Relativbestimmungen und in diesem Sinne einander entgegengesetzt; und genauso, wie kein Vater ein Vater von sich selbst ist, sondern von einem anderen, so ist auch nichts Ganzes ein Ganzes von sich selbst, sondern von einem anderen. Ebenso ist es auch bei einem Teil. Daher ist dieses Ganze nicht ein Ganzes seiner selbst. Es gibt aber einen Teil von ihm selbst. Der Mensch und das Lebewesen als seine Materie aber sind dasselbe. Noch weit eher aber ist es ausgeschlossen, daß etwas ein Ganzes sowohl seiner selbst als auch eines anderen ist. Ferner: Sind die Spezies Mensch und das Lebewesen als dessen Genus dasselbe, so wohnt etwas sich selbst inne, da ja jedes Genus seiner Spezies innewohnt. Das
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kann nach dem Zeugnis des Boethius im Kommentar zum ersten Buch der „Topik" des Tullius jedoch nicht sein, wo es heißt: „daß nicht eingesehen werden kann, wie ein Identisches sich selbst anhaften kann, da ja nichts sich selbst innewohnt". 17 So weit hierzu. Nun wollen wir uns mit jener Auffassung beschäftigen, die geltend macht, daß nur die Worte Genera und Spezies, universal und partikulär, prädiziert und zugrundegelegt sind, nicht aber Dinge. Die geltende Lehrmeinung behauptet freilich fest, daß die Dinge Genera und Spezies sind, so auch Boethius im zweiten Kommentar zu Porphyrios: „und man darf auch eine Spezies für nichts anderes halten, als einen Gedanken, der aus der substantiellen Ähnlichkeit von sich der Zahl nach unterscheidenden Individuen erschlossen wurde, ein Genus aber als einen Gedanken, der aus der Ähnlichkeit der Spezies erschlossen wurde". 18 Daß er diese Ähnlichkeiten aber als Dinge bezeichnet, macht er kurz zuvor offenkundig: „Solche Dinge sind also in körperlichen und sinnlichen [Dingen], sie werden jedoch getrennt von den sinnlichen begriffen."19 Dasselbe sagt Boethius auch im Kommentar zu den „Kategorien": „Wenn es zehn erste Genera der Dinge gibt, so muß es auch zehn einfache Worte geben, die von den zehn einfachen Dingen ausgesagt werden können." 20 Diese geben jedoch als Interpretation von „Genera" „Abarten, Typen" [maneriae] an. In „Peri hermeneias" sagt Aristoteles, daß es universelle Dinge gäbe: „von den Dingen sind die einen universal, die anderen sind singulär".21 Diese geben jedoch als Interpretation von „den Dingen" „Worte" an. Und auch Boethius sagt im Kommentar zu den „Kategorien": „wenn ich,Lebewesen' sage, dann bezeichne ich eine solche Substanz, die über mehreres prädiziert wird".22 Diese Autorität bejaht, daß die Dinge universal sind, wenn sie äußert „über mehreres prädiziert werden", was die Definition eines Universale ist; und daß sie prädiziert werden, da sie sagt „über mehreres prädiziert werden". Daß es aber sowohl prädizierte als auch zugrunde gelegte Dinge gebe, sagt Boethius in „De syllogismo hypothetico" mit den folgenden Worten: „Daher erklärt eine prädikative Aussage, daß die Sache, die sie zum Subjekt macht, das Nomen des prädizierten Dinges annimmt." 23 Da sie nun nicht in der Lage sind, so unmißverständlichen geltenden Autoritätszeugnissen vernünftig entgegenzutreten, sagen sie entweder, daß die Autoren dieser Meinungen lügen, oder sie schneiden ihnen im Bemühen, es vorzuzeigen, das Fell ab, da sie das Abhäuten nicht verstehen. Ferner: die Worte sind weder Genera noch Spezies, weder universal noch singulär, weder prädiziert noch zugrunde gelegt, denn sie existieren überhaupt nicht. Denn daß aus dem, was durch Aufeinanderfolge entsteht, kein Ganzes besteht, nehmen die Vertreter dieser Auffassung mit uns gemeinsam als gewiß an. Wenngleich die Worte also tatsächlich weder Genera noch Spezies, weder allgemein noch einzeln, weder prädiziert noch zugrunde gelegt sind, so sagen diese [dennoch], daß in all diesem die überlieferte Lehrmeinung gefälscht worden, nicht jedoch fehlerhaft ist. Sodann: So, wie eine Statue aus Bronze als der Materie und einer Gestalt als der
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Form besteht, so besteht auch eine Spezies aus dem Genus als der Materie und der Differenz als der Form, was unmöglich den Wörtern zuzuschreiben ist. Denn während das Lebewesen das Genus des Menschen ist, ist auf keine Weise das eine Wort die Materie des anderen, denn es wäre weder in ihm noch von ihm. Von dem Wort „Lebewesen" ist nämlich nicht das Wort „Mensch", noch ist es in ihm. Sie sagen aber, daß die folgende Aussage ein sinnbildlicher Ausdruck sei: „das Genus ist die Materie der Spezies", was bedeutet: „das durch das Genus Bezeichnete ist das durch die Spezies Bezeichnete". Doch das ist ihnen zufolge kein Feststehendes. Denn nach ihrer Auffassung ist nichts außer den Individuen existent, und da diese sowohl von universalen als auch von singulären Wörtern bezeichnet werden sollen, wird natürlich „Lebewesen" und „Mensch" dasselbe bezeichnen. Somit kann umgekehrt zu Recht gesagt werden, daß das durch die Spezies Bezeichnete die Materie dessen ist, was durch das Genus bezeichnet wird. Sobald sie das einräumen - denn sie können es vernünftig nicht negieren -, werden sie durch Boethius' „De divisione" getroffen, der dort die Verschiedenheit der Einteilung eines Genus und eines Ganzen nachweist, daß nämlich ein Genus die Materie fur die Spezies, die Materie eines Ganzen aber die Bestandteile sind.24 Sind nun aber die Spezies im gleichen Sinne wie die Teile eines Ganzen die Materie der Genera, so unterscheiden sie sich darin eben nicht, sondern stimmen überein. Des weiteren: das durch das Genus Bezeichnete kann nicht die Materie dessen sein, was durch die Spezies bezeichnet wird, weil sie dann dasselbe sind, was einer Auffassung zufolge als „Indifferenz" bezeichnet wurde. Denn etwas nimmt keine Form in sich auf, um sich selbst das Dasein zu verschaffen. Vielmehr „geht ein Genus, nachdem es eine Differenz angenommen hat, in eine Spezies über", wie Boethius sagt.25 Etwas ist aber auch nicht Teil seiner selbst. Denn wäre ein und dasselbe für sich sowohl Ganzes als auch Teil, so wäre etwas sich selbst entgegengesetzt. So weit hierzu. Da wir nun die oben genannten Auffassungen mit vernünftigen eigenen Überlegungen und mittels gültiger Lehrmeinungen zurückgewiesen haben, wollen wir nun mit Gottes Einwilligung nachweisen, was uns vielmehr hinsichtlich dieser Problematik zu vertreten nötig scheint. Jegliches Individuum ist eine Zusammensetzung aus Materie und Form, wie ζ. B. Sokrates aus dem Menschen als der Materie und der Sokratität als der Form zusammengesetzt ist. Ebenso setzt sich Piaton aus einer gleichartigen Materie, nämlich dem Menschen, und einer andersartigen Form, der Platonität, zusammen. Analog ist es bei anderen einzelnen Menschen. Genauso, wie die Sokratität, die Sokrates in Hinsicht auf die Form die Existenz verleiht, niemals außerhalb von Sokrates ist, ist auch jenes konkrete Ding Mensch, das die Sokratität in Sokrates trägt, ausschließlich in Sokrates allein. So ist es bei den Einzeldingen. Eine Spezies nenne ich also nicht jenes konkrete Ding Mensch für sich allein, das in Sokrates ist oder in einem anderen Individuum, sondern eine Spezies nenne ich jene ganze
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Ansammlung [tota collectio] aus jenen Materien - gewissermaßen eine Schar [grex] von konkreten Menschen, die Sokrates trägt; dabei ist jene Ansammlung mit noch weiteren Individuen von derselben Natur verbunden. Obgleich diese gesamte Ansammlung wesensmäßig vieles ist, wird sie von den maßgebenden Autoren dennoch als „einheitliche Spezies", „einheitliches Universale", „einheitliche Natur" bezeichnet, wie auch ein Volk als ein einheitliches bezeichnet wird, wenngleich es sich aus vielen Personen zusammensetzt. Ferner besteht jedes einzelne konkrete Ding dieser Ansammlung, die als „Menschentum" bezeichnet wird, aus Materie und Form, das heißt aus dem Lebewesen als der Materie und nicht nur einer, sondern einer Vielzahl von Formen - der Vernunftbegabung, der Sterblichkeit, der Zweifüßigkeit und welche anderen substantiellen Formen ihm sonst noch angehören. Und genauso, wie hinsichtlich des Menschen gesagt wurde, daß dasjenige am Menschen, was die Sokratität trägt, wesensmäßig nicht die Platonität trägt, muß das auch vom Lebewesen gesagt werden. Denn dasjenige Lebewesen, das die Form des Menschentums trägt, das in mir ist, ist nicht wesensmäßig woanders, sondern ist dort indifferent in den einzelnen Materien der einzelnen Individuen des Lebewesens. Ich sage also, daß diese Vielheit [multitudo] von konkreten Lebewesen, die die Formen der einzelnen Spezies des Lebewesens trägt, als „Genus" zu bezeichnen ist, und sie sich darin von jener Vielheit, die eine Spezies erzeugt, unterscheidet. Letztere ist nämlich nur aus jenen einzelnen konkreten Dingen zusammengesetzt, die die Formen der Individuen tragen. Die Vielheit hingegen, die ein Genus ist, ist aus den konkreten Dingen zusammengefügt, die die substantiellen Differenzen der verschiedenen Spezies aufnehmen. Das ist auch der Sinn dessen, was Boethius im zweiten Kommentar zu Porphyrios mit den Worten sagte: „Und man darf auch eine Spezies fur nichts anderes halten usw."26 Ferner: um die Untersuchung bis zum ersten Prinzip weiterzuführen, ist zu beachten, daß die einzelnen konkreten Dinge jener Vielheit, die man als „Genus Lebewesen" bezeichnet, aus einem bestimmten konkreten Körper als Materie und substantiellen Formen, der Belebtheit und Empfindsamkeit, bestehen. Diese Formen sind wesensmäßig niemals woanders, wie schon bei der Behandlung des Lebewesens gesagt wurde, aber sie tragen die indifferenten Formen aller Spezies des Körpers. Und diese Vielheit von konkreten Körpern wird als „Genus" jener Natur bezeichnet, von der wir sagten, daß sie sich aus einer Vielheit von konkreten Lebewesen zusammensetzt. Die einzelnen konkreten Körper, was das Genus ist, bestehen nun wieder aus Materie, das heißt einer bestimmten Substanz, und einer Form, der Körperlichkeit. Die ihnen gegenüber indifferenten Dinge tragen die Unkörperlichkeit, eine Form und Spezies. Und die Menge solcherart Dinge wird als „oberstes Genus Substanz" bezeichnet. Diese ist jedoch noch nicht ein Einfaches [simplex], sondern besteht sozusagen aus dem unvermischten Wesen [mera essentia] als der Materie und der Aufnahmefähigkeit von gegensätzlichen Dingen [susceptibilitas contrariorum] als der Form. Ob dieses unvermischte Wesen ein Genus ist und warum
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es dies nicht ist, wird später auseinandergesetzt werden. Was nun zur Substanz gesagt wurde, kann analog auch für die anderen Kategorien nachgewiesen werden. N u n wollen wir betrachten, welche vernünftige Begründung bzw. welche gültige Lehrmeinung ein begründetes Urteil über diese Auffassung abgibt. Wir sagen, eine Spezies sei eine Vielheit untereinander ähnlicher konkreter Dinge, ζ. B. die Spezies Mensch. Die Spezies Mensch aber ist die Materie ihrer Individuen. Somit ist diese ganze Vielheit, die als „Menschentum" bezeichnet wird, die Materie von Sokrates und der [anderen] einzelnen Menschen. Materie aber ist, was eine Form aufnimmt. Daher nimmt die Spezies Mensch die Sokratität auf; doch das ist keineswegs richtig, denn - wie schon gesagt wurde - nur dasjenige vom Menschentum wird mit [der Form] der Sokratität versehen, was in Sokrates ist. Dies aber ist nicht die Spezies, sondern die Spezies ist dasjenige, was sich aus dem konkreten Ding Sokrates und weiteren ähnlichen Dingen zusammen ergibt. Beachte: Materie ist die ganze Spezies eines ihr angehörigen Individuums und sie nimmt dessen Form in sich auf jedoch nicht in der Weise, daß die einzelnen konkreten Dinge der Spezies mit ebenjener Form versehen werden; vielmehr wird nur ein einziges mit ihr versehen. Die maßgebenden Autoren sind jedoch davon ausgegangen, daß dieses konkrete Ding das, was es empfangt, von sich und von den übrigen konkreten Dingen empfängt, da es einer ähnlichen Zusammensetzung angehört, ja das, was es empfängt, mit allen anderen konkreten Dingen derselben Natur zusammenhängt. Sie haben ein bestimmtes Ding aus jener gleichgearteten Ansammlung nämlich nicht für verschieden von der gesamten Ansammlung erachtet, sondern für dasselbe nicht so, als ob dieses bestimmte Ding mit jenem identisch wäre, sondern weil dieses bestimmte Ding mit jenem in Materie und Form von ähnlicher Schöpfung war. Dies bestätigt auch der Sprachgebrauch. Denn beim Anblick einer eisernen Masse, aus der ein Messer und ein Schreibgerät gefertigt werden sollen, sagen wir: „das ist in Zukunft die Materie eines Messers und eines Schreibgerätes, wiewohl die ganze Materie niemals die Form eines von beiden annähme, vielmehr nimmt ein Teil die Form des Schreibgerätes, ein Teil die Form des Messers an." Eine Spezies ist ferner dasjenige, was über mehreres in bezug auf das „Was" prädiziert wird. Prädiziertwerden aber ist Innewohnen; jene Vielheit aber wohnt Sokrates nicht inne: Sokrates berührt nämlich ausschließlich ein einziges Ding von jener Vielheit. Höre und beachte: Man sagt zwar, Prädiziertwerden sei Innewohnen, diese Gewohnheit gibt es freilich, ich habe es aber keiner gültigen Lehrmeinung entnehmen können; ich räume es dennoch ein. Ich spreche vom Innewohnen des Menschentums in Sokrates jedoch nicht in dem Sinne, daß es in Sokrates insgesamt aufgebraucht wird; vielmehr wird nur ein einziger Teil von ihm durch die Form der Sokratität geprägt. In ähnlichem Sinne sagt man auch, ich berühre eine Wand: nicht, daß die einzelnen Teile von mir der Wand anhaften, sondern vielleicht nur eine Fingerspitze, so daß man durch ihr Anhaften sagt, ich berühre die Wand. In derselben Weise sagt man auch, ein Heer sitze an einer Mauer oder einem Ort fest
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[sei in Stellung gegangen]: nicht daß die einzelnen Personen des Heeres dort festsäßen [in Stellung gegangen seien], sondern einer aus dem Heer. In vergleichbarer Weise verhält es sich bei einer Spezies, obgleich die Identität von irgendeinem Ding dieser Ansammlung [der Spezies] mit dem Ganzen größer ist als die irgendeiner Person mit einem Heer: denn das eine ist mit seinem Ganzen identisch, das andere aber von ihm verschieden. Eine Spezies wird ferner in bezug auf das „Was" über ein Individuum prädiziert; Prädiziertwerden in bezug auf das „Was" aber ist - wie man sagt - Prädiziertwerden hinsichtlich des Wesens: Prädiziertwerden hinsichtlich des Wesens aber heiße, daß dieses jenes sei. Wird also gesagt: „Sokrates ist ein Mensch", so bedeutet das, da diese Spezies von Sokrates dem Wesen nach prädiziert wird: „Sokrates ist jene vielen Wesen", was offensichtlich falsch ist. Uns wird damit genau dieselbe Ungereimtheit vorliegen, wie in solchen Äußerungen, wie: „ein Einzelding ist ein Universale; denn Sokrates ist als Mensch jene Vielheit; Mensch aber ist eine Spezies; folglich ist ein Einzelding ein Universale". Höre aufmerksam zu: Prädiziertwerden, so sagt man, ist Prädiziertwerden hinsichtlich des Wesens; wenn man sagt, „Prädiziertwerden hinsichtlich des Wesens", so stimme ich dem zu; ich verneine aber, daß dieses jenes sei. Denn Boethius sagt, Prädiziertwerden hinsichtlich einer Substanz sei dasselbe, wie Prädiziertwerden über ein Zugrundeliegendes; Prädiziertwerden über ein Zugrundeliegendes sei Ausgesagtwerden des zu ihm gehörenden Wesens über ein Niederes. 27 Dies gilt allgemein für die Genera, Spezies und substantiellen Differenzen in bezug auf jene Dinge, denen sie das Wesen zusprechen. Denn sowohl „Mensch" als auch „Vernunftbegabung" werden gleichermaßen über Sokrates wie über ein Zugrundeliegendes und hinsichtlich der Substanz prädiziert. Hingegen sagt man nicht: „Sokrates ist Vernunftbegabung", sondern: „Sokrates ist vernunftbegabt", das heißt ein Ding, in dem Vernunftbegabung ist. Auf dieselbe Weise wird die Spezies Mensch über Sokrates der Substanz nach prädiziert. Man sagt jedoch nicht: „Sokrates ist jene Spezies Mensch", vielmehr heißt es: „Sokrates ist einer von denen, welchen jene Spezies innewohnt". Sie entgegnen jedoch: die Ähnlichkeit tritt nicht hervor. Denn „Vernunftbegabtes" ist zum einen ein Nomen von etwas, nämlich als Imposition von „Lebewesen"; und hiervon verschieden ist das, was es in erster Linie bedeutet, nämlich die Vernunftbegabung, die es prädiziert und zugrunde legt. „Mensch" hingegen bezeichnet oder bedeutet nichts anderes, als eben jene Spezies. Ich weise dies zurück. Vielmehr ist genauso, wie „Vernunftbegabtes" und „Mensch", auch jedes beliebige andere Universale ein substantivisches Nomen für etwas, freilich durch Imposition dessen, was es in erster Linie bedeutet. Zum Beispiel: „Vernunftbegabtes" oder „Weißes" steht für Sokrates oder ein anderes Sinnending, um sie auf Grund der Formen zu benennen, das heißt der Vernunftbegabung und der Weißheit, die in erster Linie ihre Bedeutung darstellen. Ebenso steht „Mensch" für ein beliebiges Ding, das materiell als Mensch besteht, um es gerade
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bezüglich der Materie der Menschen zu benennen, das heißt der Spezies, die in erster Linie die Bedeutung von „Mensch" darstellt. Wird somit gesagt: „Sokrates ist ein Mensch", dann hat dies den folgenden Sinn: „Sokrates ist ein einzelnes von den materiell durch den Menschen in ihrem Dasein begründeten Dingen"; oder um es so auszudrücken: „Sokrates ist ein einzelnes von den vermenschlichten Dingen." Analog ist es, wenn man sagt: „Sokrates ist vernunftbegabt." Der Sinn ist dann nicht: „das zugrundeliegende Ding ist das prädizierte Ding", sondern vielmehr: „Sokrates ist eines von den der Form,Vernunftbegabung' unterliegenden Dingen." Daß „Mensch" nun aber als Bezeichnung denjenigen Dingen beigegeben worden ist, die materiell vom Menschen im Dasein begründet werden, nämlich den Individuen, und nicht der Spezies, sagt Boethius mit folgenden Worten im Kommentar zu den „Kategorien": „Denn wer als erster ,Mensch' gesagt hat, hat nicht jenen im Geist gehabt, der sich aus vielen einzelnen zusammensetzt, sondern dieses Individuum und einen einzelnen Menschen, dem er das Nomen ,Mensch' beigelegt haben mag."28 Bedenke auch, daß nur diejenigen Nomina als „Substantive" bezeichnet werden, die zum Benennen eines Dinges auf Grund seiner Materie eingesetzt werden - wie „Mensch" und die übrigen substantivischen Universalien - oder auf Grund eines bereits voll ausgeprägten konkreten Dinges, wie „Sokrates". Denn „Sokrates" benennt und bedeutet dasselbe, nämlich eine Zusammensetzung aus dem Menschentum und der Sokratität. Als „Adjektive" aber werden jene bezeichnet, die Etwas auf Grund der Form beigegeben werden, die es primär anzeigt: so benennen „vernunftbegabt" und „weiß" jene Dinge, in denen die Vernunftbegabung und die Weißheit vorgefunden werden. Lächerlich bzw. sinnlos aber ist die verbreitete Formulierung, ein Adjektiv sei das, was ein Akzidens bezeichnet mit Rücksicht darauf, daß es etwas anfügt; und ein Substantiv sei das, was ein Wesen als Wesen bezeichnet. Denn wenn man sagt, „weiß" sei ein Adjektiv, weil es die Weißheit als etwas anfügende bezeichnet, dann ist der Sinn entweder so: „es bezeichnet die Weißheit, die etwas anfügt, und es kann als dasselbe wie die Weißheit bezeichnet werden"; oder der Sinn ist der: „es bezeichnet die Weißheit im Sinne einer Anfügung". Zu ihr wird wieder nach demselben gefragt: ob sie eine Anfügung als etwas anfügende bedeutet oder in anderer Hinsicht. Keines von beidem kann vernünftigerweise zugestanden werden. Man wird aber entgegensetzen: „Ist,Mensch' wirklich nur das Nomen von Sinnendingen, dann stimmt es nur mit den Wörtern in der Bedeutung überein, die im Sinne stofflicher Dinge vom Menschen handeln können; es befindet sich aber in enger Verknüpfung mit dem Wort,Spezies' oder,Universale', das mit den Nomina von Individuen in der Bedeutung nicht übereinstimmt." Es gilt also zu beachten: Wörter, welche für Dinge stehen, um etwas zu bezeichnen, was in erster Linie die Dinge betrifft, werden manchmal auch übertragen benutzt, um von der ersten und Hauptbedeutung [principalis significatio] zu handeln. So zum Beispiel wenn „vernunftbegabt" und auch „weiß" für Substanzen stehen und man dennoch in übertragener Weise sagt: „ Vernunftbegabt' ist eine Differenz" und
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„ ,weiß' ist die Spezies einer Farbe"; ich verstehe dann unter ihnen nichts anderes als „Vernunftbegabung" und „Weißheit". Ebenso wird auch „Mensch" manchmal übertragen benutzt, um von der Natur zu handeln, die er zuerst und hauptsächlich bedeutet, wenn nämlich gesagt wird: „Mensch ist eine Spezies." Man wird nachforschen, ob „Mensch" homonym sei, wenn er in der übertragenen Bedeutung einer Spezies benutzt wird. Es gibt nämlich zwei Genera von Bedeutungsübertragungen: die eine beruht auf der Zweckmäßigkeit, die andere auf Zwang. Durch Zweckmäßigkeit übertragen wir nämlich - angetrieben von höfischem Benehmen - auf ein Ding mit eigenem Nomen das Nomen eines anderen Dinges. Zum Beispiel, wenn ein Schiffslenker, obgleich er eigentlich „Schiffsherr" [nauta] genannt wird, auf Grund einer gewissen Ähnlichkeit des Amtes, als „Wagenlenker" [auriga] bezeichnet wird. Eine solche Bedeutungsübertragung bewirkt jedoch keine Homonymie. Auf Zwang beruht eine Bedeutungsübertragung, wenn wir durch das Nomen eines Dinges ein Ding bezeichnen, das kein Nomen besitzt. Zum Beispiel, wenn ein Gemälde „Mensch" genannt wird; in diesem Falle wird das Nomen „Mensch" homonym genannt. Ist dies so, dann scheint es ein homonymer Gebrauch zu sein, wenn „Mensch" in der übertragenen Bedeutung einer Spezies benutzt wird; denn die Bedeutungsübertragung bezieht sich nicht auf ein Ding mit eigenem Nomen. Es ist aber keine Homonymie, denn es handelt sich im folgenden um einen Sophismus der Synonymie, wie Boethius sagte: „der Mensch ißt", „der Mensch ißt nicht", insofern in der einen Aussage die Rede von einem Individuum und in der anderen die Rede von einer Spezies ist.29 Wir gestehen also zu, daß diese Bedeutungsübertragung auf Grund eines Zwanges geschieht. Jedoch meinen wir, daß nicht jede Bedeutungsübertragung, die durch Zwang erfolgt, eine Homonymie bewirkt, es sei denn, daß jenes Nomen mittels Imposition dauerhaft für [„Spezies"] steht. Im Kommentar zu den „Kategorien" sagt Boethius nämlich: „es gibt keine homonymen Wörter, wenn nicht die zugrundeliegenden Dinge mit eigenen und unveränderlichen Wörtern bezeichnet werden".30 Vielleicht hat es hier aber gar keine Imposition gegeben. Sondern dies ist genauso nur dahingesagt worden, wie in einer anderen Bedeutungsübertragung nicht jemand für „Schiffsherr" „Wagenlenker" gesagt hat, sondern vielmehr hinzugefügt hat: „der Wagenlenker führt ein Schiff, auf Grund der Ähnlichkeit des Amtes"; und man sieht so aus einem solchen Kontext, daß man unter „Wagenlenker" einen Schiffsherrn verstehen kann. Ferner wird als Gegenargument angeführt: „Bedeutet,Mensch' in erster Linie eine Spezies - da es ja ein Nomen für niederes ist - und ist eine Spezies nichts anderes als jene besagte Ansammlung von konkreten Dingen und bezeichnet ,Mensch' nun jene Vielheit, dann operiert die Seele von jemand, der das Wort ,Mensch' hört, auf begriffliche Weise mit jener Vielheit, indem er nur ein einziges konkretes Ding von dieser Ansammlung oder mehrere oder alle erfaßt; dies ist jeweils falsch. Denn hört jemand ,Mensch', so wendet er sich auf Grund dieses Nomen keinem konkreten Ding aus dieser Ansammlung zu." Ich lasse dies als
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wahr gelten. Denn oft haben wir eine bestimmte Vorstellung von einer bestimmten Menge Menschen, die wir von weitem erblickt haben und von der wir vielleicht niemanden erkennen; ohne daß wir uns gedanklich zu einem einzigen oder mehreren oder allen zuwenden, strengen wir uns dennoch an, die Menge als ganze zu erfassen. So ist es auch bei einer Anhäufung, die wir einmal gesehen haben, ohne jedoch unsere Aufmerksamkeit einem bestimmten konkreten Ding aus dieser Anhäufung zuzuwenden. Mir scheint erwiesen, daß Boethius genau dieses im zweiten Kommentar zu „Pen hermeneias" im Sinne hatte, wenn er sagt: „Wenn wir etwas so Beschaffenes mit dem Geist betrachten, dann steigen wir mittels der Verstandestätigkeit nicht zu einer beliebigen einzelnen Person herab, sondern richten die Aufmerksamkeit mittels des Nomen ,Mensch' auf alle, welche an der Definition des Menschentums Anteil haben." 31 Und an anderer Stelle heißt es: „Das Menschentum, das aus den Naturen der einzelnen Menschen zusammengefaßt wurde, wird auf bestimmte Weise auf einen einzigen Begriff und eine einzige Natur zurückgeführt." 32 Des weiteren hält man entgegen: ist eine Spezies nichts anderes als das, was sich aus vielen konkreten Dingen zusammenfügt, so wird sich eine Spezies genau so oft wie jene Zusammenfügung verändern. Diese verändert sich jedoch zu den einzelnen Zeiten. Nehmen wir ζ. B. an, das Menschentum bestünde nur aus zehn konkreten Dingen und es würde dann momentan ein Mensch geboren, so würde sich augenblicklich ein anderes Menschentum herausbilden. Ein Haufen, der aus elf konkreten Dingen besteht, ist nicht derselbe, wie der aus zehn bestehende; ferner werden die einzelnen Träger des Menschentums, die jene Spezies vor tausend Jahren ausmachten, jetzt ganz und gar untergegangen und es werden neue herangewachsen sein, die das Menschentum ausmachen, das heute die Spezies ist. Würde also zu den einzelnen Zeitpunkten die Bedeutung des Wortes „Mensch" nicht verändert werden, dann könnte nicht zweimal wahrheitsgemäß gesagt werden: „Sokrates ist ein Mensch". Denn hast du ein wiederholtes Mal gesagt „Sokrates ist ein Mensch", so ist dies falsch, wenn du sagst, dies sei auf das Menschentum bezogen, von dem du zuvor sprachst, da dieses bereits nicht mehr da ist. Beachte: Es stimmt zwar, daß das Menschentum, das es vor tausend Jahren gab oder gestern, nicht jenes ist, welches es heute gibt. Dennoch sind sie identisch, das heißt sie haben keinen verschiedenen Ursprung. Denn nicht jedwedes, was mit etwas anderem dasselbe ist, ist auch selbst jenes: Mensch und Esel sind dem Genus nach dasselbe, jedoch ist dieser nicht jener. Sokrates besteht als Mann aus mehr Atomen [atoma] als als Knabe und ist dennoch derselbe. Die Bedeutung eines Wortes verändert sich auch nicht, obgleich dieses nicht jenes ist, wie aus dem Wort „Caesar" erhellt, das trotz des bereits toten Caesar dasselbe bedeutet, wenngleich es nicht richtig ist zu sagen: „Caesar ist Caesar". Denn sagt man heute: „Caesar hat Pompeius besiegt", so handelt es sich um eine Vorstellung über genau dasselbe Ding, wie über einen lebenden Caesar. Dennoch ist heute Caesar nicht Caesar.
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Analog bezeichnet „Mensch" etwas vom Menschen, d. h. dem Menschentum, materiell Determiniertes; doch aus der Bedeutung des Wortes ist nicht ersichtlich, ob dieses Determinierte aus einem Menschentum mit zehn oder mehr [Angehörigen] besteht. Wenn man sagt: „Sokrates ist ein Mensch", dann ist das solange richtig, wie er vom Menschentum materiell determiniert ist, das aus beliebig vielen Trägern des Menschentums besteht. Eine Spezies ist ferner dasjenige, was über mehreres, sich der Zahl nach Unterscheidendes in bezug auf das ,Was' prädiziert wird, das heißt, was mehrerem materiell innewohnt. Wenn es umgekehrt auch zutrifft zu sagen, daß alles, was in diesem Sinne prädiziert wird, eine Spezies ist, so wird es dennoch nicht nur eine einzige Spezies Menschentum geben, sondern viele. Nehmen wir an, es gäbe nur zehn Träger des Menschentums, die diese Spezies ausmachen. Ich sage, daß fünf von ihnen die eine Spezies und fünf eine andere sind. Denn dieses aus fünf Zusammengesetzte wird prädiziert, das heißt wohnt materiell mehrerem, das heißt fünf Individuen inne, die von eben diesem materiell bestimmt werden; und in demselben Sinne ist es bei dem, was sich aus den fünf anderen ergibt. Du mußt nun wissen, daß die gültige Lehrmeinung nirgendwo klar sagt, was das Prädiziertwerden eigentlich sei. Wenn gewöhnlich gesagt wird, Prädiziertwerden sei Innewohnen, so handelt es sich um eine Gewohnheit, die aus keiner gültigen Lehrmeinung hervorgeht. Meines Erachtens ist Prädiziertwerden In-erster-Linie-eine-Bedeutung-erhalten-durch-ein-prädiziertes-Wort. Zugrundegelegtwerden hingegen ist In-erster-Linie-eine-Bedeutung-erhalten-durchein-zugrundegelegtes-Wört. Es hat den Anschein, daß ich das von Priscian habe, denn im Traktat über die Rede bezeichnet er die Präpositionen und Konjunktionen gegenüber dem Nomen vorzugsweise als „Synkategoremata", das heißt als Mitbedeutendes. 33 Wir wissen, daß „syn" bei den Griechen die Präposition „mit" und „categorare" „Prädiziertwerden" bedeutet. Daher bezeichnet man die „Kategorien" [im Lateinischen] auch als „praedicamenta". Sind also „Kategoremata" und „Ausdrücke mit Bedeutungsfunktion" [significantia] dasselbe, dann ist auch „Prädiziertwerden" dasselbe wie „In-erster-Linie-eine-Bedeutung-erhalten". Und nur diese Bedeutung hat Aristoteles gebraucht, wie durch folgende Formulierung veranschaulicht wird: „Das Weiße zeigt nämlich nichts anderes als eine Qualität an."34 Da „das Weiße" namentlich das Zugrundeliegende der Weißheit bezeichnet, hat Aristoteles nur diejenige Bedeutung berücksichtigt, in der mittels eines Wortes ein Gedanke begründet wird. Wollen wir nun wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren und untersuchen, ob jenes aus nur fünf konkreten Dingen Zusammengesetzte in bezug auf das „Was" über mehreres prädiziert wird, wie gesagt wurde. Sagt man nämlich: „Sokrates ist ein Mensch", so wird nur prädiziert, was sich aus einzelnen Trägern des Menschentums zusammensetzt. Das Nomen „Mensch" bezeichnet nämlich prinzipiell nichts anderes als eine Menge in ihrer Gesamtheit; ferner bezeichnet es auch nicht aktuell ein bestimmtes konkretes Ding und auch nichts aus mehreren konkreten Dingen aus dieser Menge Zusammengesetztes so wie das von Boethius als „Menschentum usw."
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Bezeichnete. In der Definition der Spezies ist das „aktuell Prädiziertwerden" auch nicht in diesem Sinne aufzufassen; denn sonst gäbe es für alle Schweigenden keinerlei Spezies, da nichts bezeichnet würde; vielmehr ist es etwas zum Prädizieren Geeignetes, d. h. zum In-erster-Linie-eine-Bedeutung-darsteüen-vermittels-eines-prädizierten-Wortes, was einer Ansammlung aus fünf konkreten Dingen zukommt. Es könnten nämlich zwei Nomina angenommen werden, von denen das eine eine Vorstellung über die eine Ansammlung und das andere eine Vorstellung über die andere verleiht; das ist jedoch falsch, denn durch kein Nomen erhielte man eine solche Vorstellung über jenes Verbundene, die es von dem anderen Verbundenen unterschiede. Denn es würde weder eine verschiedenartige Materie, noch eine verschiedenartige Form, noch eine Sache mit unterschiedlichen Wirkungen erfassen, so daß seine qualitative Bestimmung danach ausgesagt werden würde. Vielmehr würden diese beiden Nomina genauso wie „ensis" und „gladius" ein und dieselbe Vorstellung hervorbringen.35 Man kann ferner entgegenhalten: „Diese Zusammensetzung aus fünf konkreten Dingen ist geeignet, über mehreres prädiziert zu werden, da sie morgen vielleicht durch das Nomen,Mensch' gekennzeichnet werden wird. Es kann nämlich vorkommen, daß das Menschentum, das heute aus zehn konkreten Dingen besteht, sich morgen aus nur fünf konkreten Dingen zusammensetzt." - Dies ist falsch. Dies aus fünf konkreten Dingen Zusammengesetzte ist nicht geeignet, eine Vorstellung über das Menschentum zu liefern, solange es sich in der Verfassung eines Menschentums befindet, das aus einer größeren Anzahl besteht, wenngleich man wenig später zu solch einer Erkenntnis gelangen würde, sobald das Menschentum wieder auf die Zahl von fünf konkreten Dingen zurückgeführt sein wird. So, wie nämlich ein bestimmtes Wort vor seiner Imposition zwar dem Vermögen nach eine Bedeutung hat, jedoch zur Darstellung einer Bedeutung ungeeignet ist - wenngleich es nach der Imposition auch eine Bedeutung darstellen wird - und so, wie eine Feder vor der Beschneidung der Möglichkeit nach so beschaffen ist, daß mit ihr geschrieben wird, jedoch noch nicht dazu geeignet ist, verhält es sich analog auch bei jenem aus fünf konkreten Dingen Zusammengesetzten: solange es ein Teil des Menschentums bleibt, welches aus noch mehr Teilen besteht, ist es zwar der Möglichkeit nach so beschaffen, daß es durch ein Wort eine Bedeutung erhalten kann, doch ist es dazu solange ungeeignet, wie es ein Teil des Menschentums ist, welches aus noch mehr Teilen besteht. Wird Prädiziertwerden aber als Innewohnen aufgefaßt - was auch wir gelten lassen, da wir einen guten Brauch nicht abschaffen wollen -, dann muß man es so ausdrücken: jede Natur, die mehreren Individuen materiell innewohnt, ist eine Spezies. Setzt nun jemand entgegen: „also ist etwas, das aus fünf konkreten Dingen besteht, eine Spezies, denn es wohnt ja mehreren materiell inne" - so antworte nur: dies hat mit der Sache nichts zu tun, da es ja keine Natur ist und hier wird nur von Naturen gesprochen! Fragst du nun nach dem, was „Natur" genannt wird, so vernimm: als „Natur" bezeichne ich jegliches, das gegenüber allem, was nicht nicht dieses oder von
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diesem ist, eine verschiedene Herkunft [creatio] besitzt - wie ζ. B. Sokrates gegenüber allem, was nicht Sokrates ist, eine verschiedene Herkunft besitzt - und zwar ganz gleich, ob es sich um ein einzelnes Ding oder mehrere handelt. Ebenso hat auch die Spezies Mensch gegenüber allen Dingen, die nicht diese Spezies oder ein konkretes Ding aus dieser Spezies sind, eine verschiedene Herkunft. Doch trifft das nicht auf jede beliebige Ansammlung aus einer bestimmten Anzahl von menschlichen Wesen zu. Denn diese Ansammlung hat gegenüber den übrigen Dingen, die in dieser Spezies enthalten sind, keine verschiedene Herkunft. Ferner fragt man, ob es denn auf eine jede Spezies zutrifft, in bezug auf das „Was" prädiziert zu werden usw. Läßt man das zu, so sagt man, daß dies auch auf den Phönix zutrifft, der sich nicht aus mehreren konkreten Dingen zusammensetzt, vielmehr nur ein einziges konkretes Ding darstellt; doch dieses ist weder geeignet, mehrerem innezuwohnen, noch in erster Linie eine Bedeutung für mehrere existierende Gegenstände zu erhalten, deren Materie es wäre, denn es kann nicht zu derselben Zeit in mehrerem sein, da es ja ein unteilbares konkretes Ding ist. Wir werden darauf entgegnen: Boethius hat diesen Gegensatz hergestellt und aufgelöst,36 dajene Definition nicht aufjede Spezies zutrifft, sondern unter Berücksichtigung der Mehrheit [der Fälle] aufgestellt wurde. Doch er hat eine andere Auflösung gegeben. Vieles wird gemäß einer Natur ausgesagt, das aktuell nicht existiert. Daher ist der Phönix, wenngleich er aktuell über mehreres nicht prädiziert wird, dennoch geeignet, prädiziert zu werden. Wie dies richtig sein soll, sehe ich nur in der folgenden Interpretation: diejenige Materie, die die Form dieses Phönix trägt, kann diese verlieren und durch Annahme einer anderen Form ein anderes Individuum begründen; und somit kann ein und dieselbe Materie, die eine Spezies ist, zu verschiedenen Zeiten und nicht gleichzeitig mehrerem innewohnen. Die Definition ist also folgendermaßen zu verstehen: eine Spezies ist diejenige Natur, die geeignet ist, über mehreres prädiziert zu werden usw., entweder gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten. Vielleicht wird man sagen: wenn die Materie des Phönix nur ein einziges konkretes Ding ist, dann ist folgende Aussage richtig: „dieser Phönix ist der Phönix als seine eigene Materie", was zwischen menschlichen Individuen und der Spezies Mensch nicht möglich sein wird. Sokrates ist nämlich nicht jene vielen konkreten Dinge, die die Spezies sind. Dies verneinen wir, denn andernfalls erhielten wir die [logische] Unmöglichkeit, daß ein Einzelnes ein Universale ist, nämlich auf die folgende Weise: dieser Phönix ist seine eigene Phönix-Materie; diese aber ist ein Universale; also ist dieser Phönix universell. Wir stellen aber generell fest, daß jede Materie dem gegenübersteht, was sie selbst materiell determiniert, und zwar so, daß dieses nicht jenes ist. Ferner wird man entgegenhalten: dieser bestimmte Mensch, welcher in mir ist, ist entweder etwas Bestimmtes oder nichts; ist er ein Bestimmtes, so eine Substanz oder ein Akzidens; wenn eine Substanz, dann entweder eine erste oder eine zweite;
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ist er eine erste Substanz, dann ist er ein Individuum; ist er eine zweite Substanz, dann entweder ein Genus oder eine Spezies. Wir werden erwidern, daß einem solchen [bestimmten] Ding keinerlei Nomen gegeben wurde, weder durch Imposition noch durch Bedeutungsübertragung. Die maßgeblichen Autoren haben nämlich ausschließlich den Naturen Nomina gegeben, doch ist dieses konkrete Ding erwiesenermaßen keine Natur. Daher kann es eigentlich weder ein Etwas noch eine Substanz genannt werden. Erscheint dies als abwegig, dann lassen wir gelten, daß es ein Etwas oder eine Substanz sei. Folgendes lassen wir jedoch nicht gelten: wenn es eine Substanz ist, dann eine erste oder eine zweite. Denn diese Einteilung ist ausschließlich fur Naturen gemacht worden. Wenn wir sie gelten ließen, würden wir in die Enge getrieben werden, daß es nämlich entweder Individuum oder Genus oder Spezies wäre. Denn die zweiten Substanzen sind die Spezies und deren Genera, wie Aristoteles sagt.37 Niemanden soll es auch verwundern, daß wir gelten lassen, daß nicht jede Substanz eine erste oder zweite ist. Genau dasselbe meinen die anderen. Sie lassen nämlich gelten, daß ein weißer Mensch eine Substanz sei, jedoch nicht eine erste oder zweite. Dies alles sind die gültigen Lehrmeinungen. Wenngleich wir glauben, alles widerlegt zu haben, was eine vernünftige Begabung unserer Auffassung entgegenhalten konnte, wollen wir uns nun mit jenen maßgeblichen Lehrmeinungen befassen, die dieser zu widersprechen scheinen. Boethius sagt im zweiten Kommentar zu Porphyrios: „Wie viele Spezies es auch sein mögen, so ist doch in allen das Genus nur ein einziges; und es ist nicht so, daß die einzelnen Spezies von ihm gewissermaßen bestimmte Teile abpflücken; vielmehr besitzen die einzelnen Spezies zu gleicher Zeit das gesamte Genus." 38 Dies scheint offensichtlich unsere Auffassung zu negieren, daß ein Teil von den zum Lebewesen gehörenden konkreten Dingen, welche eben dieses Genus [Lebewesen] bilden, durch die Vernunftbegabung geprägt wird, um [die Spezies] Mensch zu bilden, und ein weiterer Teil hingegen durch die Vernunftlosigkeit geprägt wird, um [die Spezies] Esel zu bilden. Zu keiner Zeit ist somit die gesamte Quantität [des Genus] in einer bestimmten Spezies. Demgegenüber stellt Boethius fest, daß niemals ein Teil, sondern das Ganze in den Einzeldingen ist. Wir geben hierfür folgende Auflösung: Boethius sagt dies in jenem Traktat, wo er den Nachweis fuhrt, daß Genera und Spezies nicht existieren. Dies konnte lediglich mittels eines Sophismus nachgewiesen werden. Wir sagen also, daß es falsch ist, was er sagt. Es ist jedoch nicht unpassend, Falsches einzufügen, insofern er einen Sophismus erzeugt. Das [logisch] Ausgeschlossene kann nämlich nur durch das Falsche nachgewiesen werden. Dies kann auch anders formuliert werden: wenn Boethius negiert, daß die Spezies Teile des Genus „abpflücken", so handelte er nicht von den konkreten Dingen, die jene Vielheit zusammenfugen, sondern von den definierenden Bestandteilen. Zum Beispiel: das Genus Lebewesen besteht aus
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einem Körper als der Materie und der Wahrnehmungsfähigkeit als der Form. Geht es nun vermittels der Teile seiner eigenen Quantität in eine Spezies über, so reißt nicht die eine der Spezies die Materie und die Form an sich, und auch die andere reißt nicht die Materie und die Form an sich, sondern in den einzelnen Spezies ist Materie und Form des Genus. Bei der Behandlung der Differenz heißt es zu diesem Punkt: „Es ist die Differenz, durch die sich eine Spezies gegenüber einem Genus auszeichnet." 39 Desgleichen sagt Boethius: „So, wie in einem Körper der eine Teil weiß und ein anderer schwarz zu sein pflegt, kann es nämlich in einem Genus nicht sein. Für sich betrachtet, besitzt ein Genus nämlich keine Teile, es sei denn, es wird auf Spezies bezogen. Was immer es also besitzt, bewahrt es nicht in den Teilen, sondern in seiner gesamten Größe." 40 Und dies scheint gegen uns zu sprechen. Unserer Auffassung nach ist es nämlich so, daß jenes Genus Lebewesen in einem Teil von sich die Vernunftbegabung und in einem anderen Teil die Vernunftlosigkeit aufnimmt. Unmöglich kann jener Teil, der von der Vernunftbegabung berührt wird, von der Vernunftlosigkeit ergriffen werden oder umgekehrt. Denn hiermit vermeiden wir, daß zwei zueinander entgegengesetzte Eigenschaften in ein und demselben sind. Eben dieses [logisch] Ausgeschlossene können diejenigen nicht vermeiden, die die Meinung eines großen Esels vertreten. Wir geben hierfür eine Auflösung: Boethius formuliert dies an jener Stelle, an der er den Nachweis führt, daß die Differenzen entweder gar nichts sind oder aber zwei zueinander entgegengesetzte Eigenschaften in ein und demselben sind: dies ist natürlich falsch und kann höchstens mittels eines Sophismus bewiesen werden. Er fügt also in diesem Beweis dieses Falsche ein und begeht dennoch keinen Fehler. Denn er wußte, daß es falsch ist und fügte es trotzdem ein, um seinen Sophismus zu Ende zu führen. Vielleicht entgegnest du, daß Boethius mit „Quantität" nicht jene meint, die von den dieses Genus zusammenfügenden konkreten Dingen gebildet wird, sondern jene, die von den definierenden Bestandteilen gebildet wird. Hieraus ergäbe sich dann folgender Sinn: ein jedes konkrete Ding aus diesem Genus besitzt die Quantität des Genus. Als offenkundig falsch aber sehen wir die Auffassung an, daß ein Genus und die Spezies nicht aus integralen Teilen beständen - es sei denn, wir lassen es darum gelten, weil die maßgeblichen Autoren nur solche Teile als „integral" [integrales] bezeichnet haben, die einen verschiedenen Ursprung haben. Daher könnte man die konkreten Dinge, die ein Genus oder die Spezies bilden, nicht zu Recht als Teile bezeichnen, denn sie haben ohne Zweifel einen gleichartigen Ursprung. Ferner sagt Boethius in demselben Kommentar: „Genauso, wie ein und dieselbe Linie krumm und gebogen ist, gibt es auch für die Universalität und die Partikularität ein und dasselbe Zugrundeliegende." 41 Hiermit scheint er im Sinn zu haben, daß ein Einzelding ein Universale ist. Aber es gibt keinerlei Widerstreit: sieh dir nur an, was er gesagt hat! Denn er hat unter einem „Partikulären" nicht ein einzelnes Ding verstanden, wie man meint, sondern eine Spezies. Denn er formulierte so: „Die
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Genera und Spezies, das heißt die Universalität und die Partikularität, haben ein und dasselbe Zugrundeliegende." 42 Mit der „Universalität" meinte er also ein Genus und mit der „Partikularität" die Spezies eines Genus. Man hat dies also folgendermaßen zu verstehen: genauso, wie der Biegung und der Krümmung ein und dieselbe Linie zugrunde gelegt ist, nämlich als ihren Akzidentien, ist ein und derselbe Sokrates einem Genus und einer Spezies, nämlich dem Menschen und dem Lebewesen, als den Prädikaten zugrunde gelegt. Oder anders gesagt: die Materie dieses Phönix und das Individuum selbst [des Phönix] sind identisch, das heißt sie unterscheiden sich nicht substantiell voneinander. Die Materie aber ist der Universalität, das Individuum jedoch der Singularität zugrunde gelegt. Dennoch ist ein Singuläres kein Universale, wenngleich dieses mit jenem identisch ist, wie oben bereits dargelegt wurde. Dies sind nun die maßgeblichen Lehrmeinungen, die anscheinend unserer Meinung vor allem zu widersprechen scheinen. Wir werden uns hüten, sämtliche Auffassungen aufzuzählen, die unsere Meinung unterstützen. Nur einige von vielen wollen wir jetzt erwähnen, die sie bestätigen. Wir wollen sehen. Porphyrios sagt: „Eine Spezies und noch mehr ein Genus ist ein Zusammenbringendes 4 3 [von vielem] zu einer einheitlichen Natur." 44 In einer anderen Auffassung wirst du jedoch nichts von einer Ansammlung [collectio] vorfinden. Boethius sagt im zweiten Kommentar zu Porphyrios: „Wenn Genera und Spezies gedacht werden, dann wird aus den Einzeldingen, in denen sie sind, deren gegenseitige Ähnlichkeit erfaßt und herausgehoben, wie zum Beispiel die Ähnlichkeit des Menschentums aus den untereinander verschiedenen einzelnen Menschen erfaßt und herausgehoben wird; und diese durch den Geist gedachte und richtig durchschaute gegenseitige Ähnlichkeit stellt eine Spezies dar. Und andererseits verursacht die aus verschiedenen Spezies erkannte gegenseitige Ähnlichkeit, die nur in den Spezies selbst oder in den dazugehörigen Individuen sein kann, ein Genus. Man darf auch eine Spezies für nichts anderes halten, als einen Gedanken, der aus der substantiellen Ähnlichkeit von sich der Zahl nach unterscheidenden Individuen erschlossen wurde, ein Genus aber als einen Gedanken, der aus der Ähnlichkeit der Spezies erschlossen wurde." 45 Ebenso sagt er im Kommentar zu den „Kategorien": „Genera und Spezies sind nicht aus einem einzigen, sondern aus sämtlichen einzelnen Individuen nach Maßgabe des Verstandes begriffen worden." 46 Dies ist ganz offensichtlich gegen die Indifferenzlehre gerichtet. Weiter heißt es dort: „Denn wer als erster,Mensch' gesagt hat, hat nicht jenen im Geist gehabt, der sich aus vielen einzelnen zusammensetzt, sondern dieses Individuum und einen einzelnen Menschen, dem er den Namen ,Mensch' beigelegt haben mag." 47 Es ist also seine Intention gewesen, daß sich etwas Bestimmtes aus Einzeldingen ergibt. Im zweiten Kommentar zu „Peri hermeneias" heißt es: „Wenn wir etwas so Beschaffenes mit dem Geist betrachten, dann wenden wir uns mittels der Verstandestätigkeit nicht einer beliebigen einzelnen Person zu, sondern richten die Aufmerksamkeit mittels des N o m e n ,Mensch' auf
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alle, welche an der Definition des Menschentums Anteil haben." 48 Weiter heißt es in demselben Kommentar: „Das Menschentum, das aus den Naturen der einzelnen Menschen zusammengefaßt wurde, wird auf bestimmte Weise auf einen einzigen Begriff und eine einzige Natur zurückgeführt." 49 Die Bestätigungen für diese Auffassung, die der aufmerksame Durchforscher der logischen Schriften finden wird, können kaum zahlenmäßig erfaßt werden. Nach der Auflösung sämtlicher uns entgegengehaltener Vernunftgründe und überkommenen Lehrmeinungen bleibt offensichtlich jener Gegensatz hinsichtlich der Elemente bestehen, welchen wir in anderen Meinungen ausgeführt haben, nämlich: da ein jegliches Ding sich vollständig aus Materie und Form zusammensetzt - wie sich ζ. B. ein jedes Individuum einer Substanz aus einer untersten Spezies und einer ihm eigenen Form, eine Spezies hingegen aus einem Genus und einer Differenz als der Form zusammensetzt -, woher kommen dann die Elemente, durch die die körperlichen Substanzen bestehen? In den „Kategorien" sagt Aristoteles nämlich: „Feuer und Wasser, aus denen das Lebewesen besteht, sind früher als das Lebewesen."50 Dies ist eine schwierige Aufgabe und sie ist zuvor von noch keinem unserer Lehrer vernünftig gelöst worden, wie ich begriffen habe. Folgendes scheint mir dennoch richtiger zu sein. Die Physiker, die Erforscher der Naturen der Dinge, haben zunächst die sichtbaren Dinge, die sie für die eigentlichen Gegenstände der Sinne hielten, untersucht. Deren Natur hingegen, nämlich der integral zusammengesetzten Dinge, konnten sie erst dann erkennen, nachdem sie die Eigenschaft der Komponenten selbst erkannt hatten. Durch Unterteilung gingen sie diesen Komponenten also auf den Grund, bis sie mittels der Vernunft an jenen allerkleinsten Bestandteil gelangten, der nicht in integrale Bestandteile zerlegt werden konnte. Trotz der [bei ihm] nicht gegebenen Einteilung in integrale Bestandteile begannen sie nachzuforschen, ob eine solche kleine Wesenheit [essentiola] aus Materie und Form besteht oder ob sie völlig einfach ist. Somit fand diese systematische Überlegung heraus, daß ein Körper warm oder kalt oder von einer anderen Form ist. Ich nehme an, daß Piaton dieses mit den „reinen Elementen" [pura elementa] gemeint hat. Unter Ausklammerung der Form betrachtete man die Materie und ob sie einfach sei. Dann entdeckte man, daß sie ein Körper ist und daher aus der Körperlichkeit und der Substanz besteht; dann fand man heraus, daß die Substanz ihrerseits aus der Aufnahmefähigkeit für Konträres [susceptibilitas contrariorum] als der Form und dem unvermischten Wesen als der Materie bestand. Nachdem sie diese Materie wiederum allseitig betrachtet hatten, fanden sie heraus, daß sie unzusammengesetzt ist und nicht aus irgendeiner Materie oder Form besteht. Eben dieses unvermischte Wesen [mera essentia] bezeichnete man zusammen mit den anderen, die wesentlich die Formen der sinnlichen Dinge trugen, als die ύλη [„Stoff'], das heißt Formloses, was nicht bedeutet, daß sie keine Formen trüge, sondern daß sie nicht aus Formen besteht. Du wirst jedoch sagen: folglich muß die Seele aus ΰλη bestehen. Denn besteht sie
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materiell aus der Substanz, welche materiell aus dem unvermischten Wesen besteht, das ΰλη genannt wird, dann besteht sie notwendigerweise aus ϋλη. Alles, was materiell besteht, besteht aus einem materiell Determinierten und aus dessen Materie, wie ζ. B. das Lebewesen, denn es besteht ja materiell aus Körper und Substanz. Im Gegenteil: wer so widerspricht, der hat nicht verstanden, was ich gesagt hatte. Denn jene umfassende Ansammlung von allen konkreten Dingen, die - nach eingeprägter Aufnahmefähigkeit für Konträres - teils in Körper [corpus], teils in Geist [spiritus] aufgeteilt wurde, ist nicht als ϋλη bezeichnet worden: vielmehr nur jenes von jener Vielheit, was mit der Einprägung der Aufnahmefähigkeit für Konträres zugleich wesentlich die Körperlichkeit trägt, wodurch der Geist an dem konkreten Ding nicht teilhat. Damit ist der Einwand noch nicht beendet. Man wird nämlich sagen: es ist unmöglich, daß fur einen Teil von dieser Vielheit ein Nomen gilt und für den anderen nicht, der gegenüber jenem indifferent ist, wie oben in Hinsicht auf die Spezies festgestellt wurde. Doch im Gegenteil: es stimmt zwar, daß diesem keine Bezeichnung gegeben wird, die einen Begriff angibt, welcher ein Ding als verschiedenartig gegenüber einem zu ihm indifferenten Ding begreift; dies wurde aber in der Abhandlung über die Spezies gesagt. Dies kann aber niemand so interpretieren, als ob dieses Wort [ϋλη] ideell in gleicher Hinsicht für die konkreten Dinge Geltung erhalten hat, welche zum Geist geformt werden, wie für die, welche zum Körper zu formen waren. Denn nicht vom Nicht-Wahrnehmbaren zum Vernunfthaften [intellectualia], sondern nur vom Wahrnehmbaren her nahm [der Physiker] den Aufstieg. Er hat also nur jener Materie eine Bezeichnung verliehen, welcher das Denken im Fortschreiten von dem Wahrnehmbaren zum Vernunfthaften wesensmäßig begegnet nicht aber jeglichem Ding, das ihr gegenüber indifferent war und das er vielleicht weder bedacht noch beachtet hat. Denn es ist auch gar nicht seine Aufgabe, Analogien oder Verschiedenheiten zu bestimmen, wie es den Dialektikern zukommt. Darum sagt Piaton auch, daß sich vor seiner Zeit hiermit niemand befaßt hat. 51 Damit nun also klar wird, wie die Elemente aus den vorhandenen unkörperlichen Dingen neu entstehen können, obgleich alles aus einer genusartigen und spezifischen Materie bzw. Form besteht, beachte folgendes: Ein jegliches körperliches Individuum hat so viel ϋλη in sich, wie es groß ist; denn die hinzugelangenden Formen werden die Quantität nicht vergrößern, sondern eine andere Natur hervorbringen. Nehmen wir uns also Sokrates als Beispiel vor. Denn der Verstand bezweifelt nicht, in anderen genau dasselbe vorzufinden, wie in Sokrates. Es gibt also einen gewissen Teil von jenem unvermischten Wesen, das ϋλη genannt wird, der integral aus kleinen Wesen [essentiola] besteht, die als solche auch Teile der ϋλη sind. Doch dieses Wesen ist keine Substanz, sondern die Aufnahmefähigkeit für Konträres. Ebendieser verleiht er die Form und hieraus setzt sich ein gewisses substantielles
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Wesen zusammen. Nun muß man aber beachten, daß die Aufnahmefähigkeit für Konträres genauso zu jenem Ganzen wie auch zu den einzelnen Teilchen [particula] jenes Wesens hinzukommt. Und auch das, was aus dem unvermischten Wesen besteht, das in Sokrates ist, wird sowohl von der Aufnahmefähigkeit für Konträres, als auch von der Körperlichkeit bestimmt: und aus ihnen wird ein gewisses körperliches Wesen. In dem Moment, in dem die Körperlichkeit nun ihren Einfluß auf dieses Ganze ausübt, üben auch die Körperlichkeiten der einzelnen Teilchen jenes Ganzen auf diese ihren Einfluß aus und erzeugen körperliche Wesen. Zu jenem Ganzen kommt die Beseelung [animatio] hinzu und erzeugt ein gewisses beseeltes körperliches Wesen. Jedoch gelangt die Beseelung nicht mehr zu den Teilen jenes Ganzen, vielmehr gelangt zu ihnen ihr Gegenteil, die Nicht-Beseelung [inanimatio]. Denn obgleich das Ganze beseelt ist, sind seine einzelnen Teilchen unbeseelt. Ferner kommt die Empfindsamkeit [sensibilitas] zum Ganzen hinzu und erzeugt ein gewisses belebtes Wesen, zu dessen Teilen kommen jedoch andere Formen hinzu, die bestimmte Wesen von Spezies in den beseelten Dingen erzeugen, deren Namen ich nicht zur Hand habe. Weiter kommt zum Ganzen die Lernfähigkeit für eine Wissenschaft [perceptibilitas disciplinae] hinzu und bringt den Menschen hervor; zu den einzelnen Teilchen kommen hingegen gewisse Formen hinzu und bringen andere Wesen in den beseelten Dingen hervor. Und endlich prägt die Sokratität dieses ganze konkrete menschliche Ding [tota essentia humanitatis] und bringt Sokrates hervor. Sobald jedoch die Wärme und die Formen des Feuers auf andere Atome von diesem Träger des Menschentums ihren Einfluß ausüben, bringen sie Feuer hervor; ein andermal wirken die Formen des Wassers ein und bringen Wasser hervor; ein andermal die Formen der Luft und bringen Luft hervor; sodann die Formen der Erde und bringen Erde hervor. Damit sind die einzelnen Teilchen entweder Feuer, Wasser, Luft oder Erde. Somit ist es nicht mehr unmöglich, daß Sokrates genauso aus vier Elementen besteht, wie aus Händen und Füßen; diese wie jene sind ja zusammensetzende Bestandteile und erkennbar. Denn wir haben hier auch mittels des Entstehens der Individuen das Entstehen der Elemente aufgeklärt, damit es nicht als absurd erscheint, daß die zu den Genera und Spezies gehörenden Dinge aus Elementen bestehen. Wenn man nun aber sagte: in dem Moment, in dem die Beseelung auf den Körper einwirkt, werden die einzelnen körperlichen Dinge mit den Formen der Elemente versehen - , oder wenn man wenigstens sagt: sobald die Empfindsamkeit auf einen beseelten Körper einwirkt, werden auch die einzelnen Teile von ihm als Elemente betroffen - so würde man nicht viel verkehrt sagen, wo doch Aristoteles äußert: „Feuer und Wasser und ähnliches, aus denen das Lebewesen besteht, sind nämlich früher als das Lebewesen." 52 Erinnere dich auch, daß Piaton sagt, zunächst werden aus der hyle die Elemente und dann das Übrige aus den Elementen. Wir scheinen es aber gerade entgegengesetzt gemacht zu haben. In einer anderen Richtung liegt, was Piaton sagt: eine generelle Regel besagt, daß die Elementardinge dem Zusammengesetzten
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vorausgehen.53 Darum hat Piaton zuerst die Zusammensetzung der einfachen Dinge betrachtet; und er sagte, daß die körperlichen Dinge, die Gegenstand der Sinne sind, aus diesen verbundenen einfachen Dingen bestehen.54 So weit dieses.
12.
PETRUS ABAELARD Logica „Ingredientibus" Glossen zu Porphyrios*
[...] „So werde ich es vermeiden.. .' q : er bestimmt hier, um welche tieferen Fragen es sich handelt, obwohl er sie nicht löst. Und es wird für beides der Grund angegeben, warum er es sowohl unterläßt, diese zu untersuchen, als auch warum er sie trotzdem erwähnt. Er behandelt sie nämlich darum nicht, weil ein unerfahrener Leser für diese zu untersuchenden und zu begreifenden Fragen nicht genügt. Er führt sie aber darum an, um den Leser nicht gleichgültig zu machen. Wenn er diese nämlich verschwiege, so würde der Leser in der Annahme, daß es über, sie rein gar nichts mehr zu untersuchen gibt, eine Untersuchung über sie völlig mißachten. Wie Boethius sagt, handelt es sich um drei ganz besondere und sehr nützliche Fragen,2 die zwar von nicht wenigen Philosophen berührt, aber von nur wenigen gelöst worden sind. Die erste lautet ungefähr so: „ob die Genera und Spezies wirklich da sind oder sich nur in den bloßen Gedanken befinden usw." - als wenn er sagen wollte: ob sie ein wirkliches Sein besitzen oder nur in der Einbildung bestehen. Die zweite aber lautet - insofern ihnen zugestanden wurde, daß sie wahrhaftig existieren -: „ob sie körperliche oder unkörperliche Wesen sind"; die dritte wiederum lautet: „ob sie von den Sinnendingen getrennt sind oder in ihnen existieren". Es gibt nämlich zwei Spezies von unkörperlichen Dingen,3 weil die einen außerhalb der Sinnendinge, allein mit ihrer Unkörperlichkeit, bestehen können - wie etwa Gott oder die Seele -, die anderen aber außerhalb der Sinnendinge, in denen sie sind, auf keinen Fall existieren können - wie etwa eine Linie ohne einen zugrundeliegenden Körper. Diese Fragen aber übergeht er mit folgender Formulierung: „So werde ich es vermeiden, über das folgende Problem zu sprechen: sind die Genera und Spezies wirklich da" usw., „sind sie körperlich oder unkörperlich" und - insofern man sie als unkörperlich bezeichnet - „sind sie von den Sinnendingen losgetrennt" usw. „[oder existieren sie wirklich in ihnen] und in bezug auf sie?" * Petri Abaelardi Logica,Ingredientibus'. Glossae super Porphyrium. - Unser Auszug: in: Die Logica „Ingredientibus". 1. Die Glossen zu Porphyrios, in: Peter Abaelards Philosophische Schriften 1.1, hg. v. B. Geyer, Beiträge XXI,1 (1919), S. 7-8, 9-32.
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Dies kann man in unterschiedlicher Weise auffassen. Wir könnten es nämlich so auffassen, als würde er sagen: über diese drei oben angegebenen und anderes in bezug zu ihnen Stehendes - das heißt freilich diese drei Fragen - werde ich es ablehnen zu sprechen. Es kann auch noch andere [Fragen] geben, die sich auf dieselben Dinge beziehen und ebenso kompliziert sind, wie zum Beispiel jene Frage nach der Beschaffenheit des gemeinsamen Grundes für die Imposition von universalen Nomina, insofern verschiedene Dinge untereinander übereinstimmen. Oder auch die Frage nach dem Gedankeninhalt [intellectus] von universalen Nomina weshalb durch ihn keinerlei Ding begriffen zu werden scheint und weshalb es bei einem universalen Wort nicht um ein Ding zu gehen scheint. Und noch viele andere komplizierte Fragen. Wir können so die Satzpassage „[oder existieren sie wirklich in ihnen] und in bezug auf sie?" in der Weise erklären, daß wir eine vierte Frage anknüpfen: ob die Genera und Spezies - solange sie Genera und Spezies sind notwendig sich auf ein real existierendes Ding beziehen, sobald sie genannt werden, oder ob auch nach der Vernichtung der auf bestimmte Weise bezeichneten Dinge auf Grund eines gedanklichen Bezeichnungsaktes ein Universale bestehen kann, wie ζ. B. das Nomen „Rose", wenn es bereits keine einzige Rose mehr gibt, für die es das Gemeinsame ist. Diese Fragen aber werden wir später genau besprechen. Jetzt wollen wir den Text der Vorrede verfolgen. [.. .]4 Aristoteles definiert in „Peri hermeneias" das Allgemeine [Universale] als das, „was über mehreres prädiziert zu werden pflegt",5 Porphyrios definiert jedoch das Einzelne, das heißt das Individuum, als das, „was nur über ein einzelnes prädiziert wird".6 Dies scheint die gültige Lehrmeinung sowohl den Dingen als auch den Wörtern zuzuschreiben; eben Aristoteles schreibt es den Dingen zu, wenn er unmittelbar vor der Definition des Universale vorausschickt: „da von den Dingen dieses [alles] allgemein [universal], jenes aber einzeln ist - Allgemeines [Universale] aber nenne ich, was über mehreres prädiziert zu werden pflegt, Einzelnes aber, was nicht usw."7 Auch Porphyrios zielte auf die Natur der Dinge ab, als er bestimmte, daß sich die Spezies aus dem Genus und der Differenz ergibt.8 Hieraus wird eindeutig klar, daß die Dinge selbst in einem universalen Nomen enthalten sind. Die Universalien werden auch als „Nomina" bezeichnet. Daher sagt Aristoteles: „Ein Genus bestimmt mit Bezug auf die Substanz eine Qualität; denn es bezeichnet ein bestimmtes Qualitatives."9 Und Boethius sagt in „De divisione": „Dies zu wissen, [daß es eine mehrfache Einteilung eines einzelnen Genus gibt,] ist sehr nützlich, da ein Genus ja in gewisser Weise ein einheitliches Ebenbild vieler Spezies ist, das die substantielle Übereinstimmung von ihnen allen anzeigt."10 Eine-Bedeutung-Angeben oder Bezeichnen ist den Worten eigen, das Bezeichnetwerden aber kommt den Dingen zu. Und andererseits sagt er: „Der Terminus,Nomen' wird über mehrere Nomina prädiziert, in gewisser Weise wie eine Spezies, die in sich Individuen enthält."11 Er wird jedoch nicht im eigentlichen Sinne als „Spezies" bezeich-
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net, da er kein substantieller, sondern ein akzidentieller Terminus ist; unzweifelhaft aber ist er ein Universale, auf das die Definition des Universale zutrifft. Hieraus wird eindeutig klar, daß es auch universale Wörter gibt, denen nur zugeschrieben wird, prädizierte Termini von Aussagen zu sein. Wenn man nun aber anscheinend sowohl von universalen Dingen als auch Wörtern spricht, dann muß gefragt werden, in welcher Weise die Definition des Universale auf Dinge angewendet werden kann. Denn kein Ding noch auch irgendeine Ansammlung von Dingen wird offenbar einzeln über mehreres prädiziert, was aber die Eigenschaft des Universale verlangt. Denn obgleich „dieses Haus", „dieses Volk" oder „Sokrates" zugleich über alle seine Teile ausgesagt wird, so wird jedoch niemand diese [Termini] als „Universalien" bezeichnen, da deren Prädikation nicht bis zu den Einzeldingen kommt. Noch viel weniger aber als eine Ansammlung von Dingen wird ein einzelnes Ding über mehreres prädiziert. Inwiefern man also ein einzelnes Ding oder eine Ansammlung ein „Universale" nennt, wollen wir hören und wir wollen sämtliche Auffassungen von allen angeben. Einige nämlich verstehen ein universales Ding so, daß sie in durch Formen voneinander verschiedenen Dingen eine wesensmäßig identische Substanz annehmen, die für die einzelnen Dinge, in denen sie ist, das materielle Wesen sein soll, das innerlich einheitlich und nur auf Grund der Formen der niederen Dinge differenziert sein soll. Sollte es vorkommen, daß diese Formen abgetrennt werden, dann gäbe es überhaupt keine Differenz bei den Dingen, die sich voneinander nur durch die Verschiedenheit der Formen unterscheiden, da ja die Materie völlig wesensmäßig identisch ist. Zum Beispiel ist in den einzelnen, sich zahlenmäßig unterscheidenden Menschen ein und dieselbe Substanz des Menschen, die hier als Piaton vermittels dieser Akzidentien existiert und dort als Sokrates vermittels jener. Diesem scheint Porphyrios seine volle Zustimmung zu geben, wenn er sagt: „Denn wegen der Teilhabe an der Spezies sind die vielen Menschen nur einer; in Hinsicht auf die partikulären aber ist der eine und gemeinsame [Mensch] viele."12 Und andererseits sagt er: „Solches aber bezeichnet man als,Individuum', weil jedes von ihnen sich aus Eigentümlichkeiten zusammensetzt, deren Gesamtheit in einem anderen nicht genauso vorkommt." 13 Ebenso nehmen sie auch in einzelnen Lebewesen, die sich der Spezies nach unterscheiden, eine wesensmäßig identische und einheitliche Substanz des Lebewesens an, die sie durch Aufnahme unterschiedlicher Differenzen zu unterschiedlichen Spezies machen - wie wenn ich aus diesem Wachs einmal die Statue eines Menschen, einmal die eines Rindes mache und dabei das völlig gleich bleibende Wesen mit verschiedenartigen Formen versehe. Das liegt jedoch daran, daß dasselbe Wachs zur selben Zeit die Statuen nicht in der Weise bestimmt, wie man es im Falle des Universale einräumt; dieses Universale kennzeichnet Boethius als Gemeinsames derart, daß es zu gleicher Zeit als identisches Ganzes in Verschiedenem ist, deren Substanz es in materialer Hinsicht ausmacht 14 ; und obwohl es in sich ein Universale ist, soll es ein Singuläres in bezug auf die
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hinzukommenden Formen sein, das ohne sie zwar auf natürliche Weise durch sich selbst subsistiert, aber ohne deren Hilfe keineswegs aktual bestehen bleibt - das heißt, es ist zwar ein Universale von der Natur her, aktual aber ein Singuläres; als Unkörperliches und nicht sinnlich Wahrnehmbares wird es auf Grund der Einfachheit seiner Allgemeinheit begriffen, subsistiert aber zugleich als Körperliches und sinnlich Wahrnehmbares durch die Akzidentien; und nach demselben Zeugnis des Boethius subsistiert das viele Singuläre, wie die Universalien ihrerseits gedacht werden. 15 Dies ist nur die eine von zwei Meinungen. Und wenn die maßgebenden Autoren ihr auch am meisten zuzustimmen scheinen, so widerspricht ihr jedoch in jeder Hinsicht die Physik. Wenn dieses [Universale] nämlich auf den Einzeldingen beruht wenngleich es durch unterschiedliche Formen in Besitz genommen wurde -, so muß dieses Ding, was durch diese Formen beeinflußt wurde, notwendig jenes sein, welches durch jene Formen beherrscht wird; so daß z.B. ein durch Vernunftbegabung geformtes Lebewesen notwendig ein Lebewesen sein muß, was durch Vernunftlosigkeit geformt ist, und damit ein vernunftbegabtes Lebewesen ein vernunftloses Lebewesen sein muß, so daß in ein und demselben zugleich Konträres existiert vielmehr schon gar nicht mehr Konträres, wo es in einem völlig identischen Ding gleichzeitig zusammenkommt: so wären zum Beispiel Weißheit und Schwärze nichts füreinander Konträres, wenn sie gleichzeitig in diesem einen Ding aufträten, wenngleich dieses Ding in der einen Hinsicht weiß und in der anderen schwarz ist genauso ist es in der einen Hinsicht weiß und in der anderen hart auf Grund der Weißheit und der Härte. Denn füreinander Konträres kann auch unter unterschiedlichen Aspekten nicht ein und demselben Ding zu gleicher Zeit innewohnen, wie das etwa das Relative und vieles andere kann. Deswegen beweist Aristoteles ganz klar, daß in der Kategorie „in bezug a u f das Kleine und Große dadurch, daß sie zugleich ein und demselben innewohnen, nichts Konträres sind, nachdem er gezeigt hat, daß sie in verschiedener Hinsicht zugleich ein und demselben innewohnen. 16 Vielleicht aber wird - jener Auffassung entsprechend - geäußert werden, daß Vernunftbegabung und Vernunftlosigkeit doch dann nicht weniger Gegensätze sind, wenn sie in solcher Weise in ein und demselben vorgefunden werden, das heißt in demselben Genus oder in derselben Spezies - es sei denn, daß sie sich in ein und demselben Individuum ausbreiten. Dies wird auch folgendermaßen verdeutlicht: Vernunftbegabung und Vernunftlosigkeit sind tatsächlich in ein und demselben Individuum, nämlich in Sokrates; daß sie gemeinsam in Sokrates sind, wird daraus bewiesen, daß sie gemeinsam in Sokrates und in [dem Esel] Burnellus sind; Sokrates und Burnellus aber sind Sokrates. Und tatsächlich sind Sokrates und Burnellus Sokrates, da Sokrates ja Sokrates und Burnellus ist. Denn Sokrates ist Sokrates und Sokrates ist Burnellus. Daß Sokrates Burnellus ist, wird jener Auffassung zufolge so bewiesen: alles, was in Sokrates verschieden von den Formen des Sokrates ist, das ist genau das, was in Burnellus verschieden von den Formen des Burnellus ist; alles
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aber, was in Burnellus verschieden von den Formen des Burnellus ist, ist Burnellus; alles was in Sokrates verschieden von den Formen des Sokrates ist, ist Burnellus; wenn das aber der Fall ist, dann ist darum, weil Sokrates eben das ist, was von den Formen des Sokrates verschieden ist, Sokrates selbst Burnellus. Daß aber nun das, was wir oben annahmen, wahr ist - das heißt: alles, was in Burnellus verschieden von den Formen des Burnellus ist, ist Burnellus -, wird daraus ersichtlich, daß weder die Formen des Burnellus er selbst sind - weil ja dann schon die Akzidentien die Substanz darstellten -, noch die Materie mit den Formen des Burnellus gemeinsam Burnellus sind - weil ja sonst notwendig zuzugeben wäre, daß ein Körper und ein Nicht-Körper ein Körper sind. Es gibt manche, die in der Suche nach einem Ausweg nur die Worte dieser Aussage, jedoch nicht die Auffassung bekritteln würden, das heißt die Aussage: „ein vernünftiges Lebewesen ist ein unvernünftiges Lebewesen"; es könne beides sein, jedoch würde dies durch diese Worte nicht passend ausgedrückt; weil nämlich ein Ding - wenngleich es dasselbe ist - als „vernünftig" unter dem einen Aspekt und als „unvernünftig" unter einem anderen Aspekt bezeichnet wird, das heißt: auf Grund entgegengesetzter Formen. Aber ganz gewiß besteht zwischen Formen kein Gegensatz, welche denselben Dingen genau gleichzeitig zukämen; und darum bekritteln sie auch nicht die Aussagen: „ein vernünftiges Lebewesen ist ein sterbliches Lebewesen" oder „ein weißes Lebewesen ist ein gehendes Lebewesen", weil es ja nicht dadurch, daß es vernünftig ist, sterblich ist, und weil es nicht dadurch, daß es weiß ist, geht; sie halten diese Aussagen aber darum fur wahr, weil dasselbe Lebewesen beides zugleich besitzt, wenn auch in verschiedener Hinsicht. Widrigenfalls würde man nicht behaupten, daß ein Lebewesen ein Mensch ist, weil ja nichts dadurch, daß es ein Lebewesen ist, ein Mensch ist. Nach der Position der vorausgeschickten Auffassung gibt es außerdem nur zehn Wesen für sämtliche Dinge, das heißt zehn oberste Genera, weil ja in den einzelnen Kategorien nur je ein einziges Wesen vorliegt, das, wie gesagt, nur durch die Formen der niederen Dinge zur Verschiedenheit gebracht wird und ohne diese keinerlei Veränderlichkeit besäße. Ebenso, wie also alle Substanzen völlig dasselbe sind, sind es auch alle Qualitäten, Quantitäten usw. Da also Sokrates und Piaton die Dinge der einzelnen Kategorien in sich haben, diese aber völlig identisch sind, so sind sämtliche Formen des einen auch die des anderen, die in sich genauso nicht in ihrem Wesen verschieden sind, wie die Substanzen, mit denen sie in Verbindung stehen wie zum Beispiel die Qualität des einen auch die Qualität des anderen ist, weil jede von beiden eine Qualität ist. Sie sind also nicht mehr verschieden auf Grund der Natur der Qualitäten als auf Grund der Natur der Substanz, da ja das Wesen ihrer Substanz einheitlich ist, wie ebenfalls das der Qualitäten. In der gleichen Hinsicht bewirkt auch die Quantität keine Differenz, weil sie identisch ist, wie auch nicht die übrigen Kategorien. Deshalb kann es auch keinerlei Differenz durch Formen geben, die in sich genauso nicht verschieden sind, wie die Substanzen.
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Inwiefern könnten wir des weiteren zahlenmäßig vieles in den Substanzen untersuchen, wenn es ausschließlich die Differenz der Formen gäbe und die zugrundeliegende Substanz völlig dieselbe bliebe? Denn wir bezeichnen ja Sokrates auch nicht wegen der Aufnahme von mehreren Formen als ein „zahlenmäßig Vieles". Es kann aber auch nicht als feststehend hingenommen werden, daß sie die Individuen durch ihre Akzidentien erzeugt werden lassen wollen. Wenn die Individuen nämlich aus den Akzidentien ihr eigenes Sein gewinnen, dann sind gewiß ihnen gegenüber die Akzidentien auf natürliche Weise primär, wie auch die Differenzen gegenüber den Spezies, die jene zum Sein benötigen. Denn genauso, wie der Mensch sich durch die Einprägung einer Differenz [von anderen] unterscheidet, benennt man [jemand als] Sokrates auf Grund der ihm eigenen Akzidentien. Darum kann weder Sokrates, noch der Mensch unabhängig von den Akzidentien bzw. den Differenzen existieren. Deshalb ist Sokrates auch nicht die Existenzgrundlage [fundamentum] für die Akzidentien, wie auch nicht der Mensch für die Differenzen. Wenn die Akzidentien aber nicht in den individuellen Substanzen als dem Zugrundeliegenden sind, dann gewiß auch nicht in den universalen. Denn alles, was in den zweiten Substanzen als dem Zugrundeliegenden existiert, ist generell Aristoteles zufolge genauso in den ersten als dem Zugrundeliegenden. Hieraus wird somit offenkundig, daß die Auffassung völlig unbegründet ist, welche besagt, daß ein und dieselbe Wesenheit zugleich in voneinander Verschiedenem ist. Darum sagen andere, die anders über die Allgemeinheit [universalitas] denken und sich mehr dem eigentlichen Sachverhalt nähern, daß sich die einzelnen Dinge nicht nur auf Grund der Formen voneinander unterscheiden, sondern auch personal auf Grund ihrer eigenen Wesen getrennt sind; und daß auf keinen Fall dasjenige, was in dem einen Ding ist, auch in einem anderen ist - mag es sich um Materie oder um Form handeln; und daß sie auch bei Entfernung der Formen nicht weniger auf Grund ihres je eigenen Wesens als getrennte existieren können: da ja die personale Trennung [discretio personalis] untereinander, derzufolge dieses nicht jenes ist, nicht auf Grund der Formen besteht, sondern auf Grund eben der Verschiedenartigkeit des Wesens [per ipsam essentiae diversitatem] - wie ja auch die Formen von sich aus voneinander verschieden sind, da andernfalls die Verschiedenartigkeit der Formen in die Unendlichkeit fortschritte, so daß es notwendig wäre, für die Unterschiedlichkeit von verschiedenen Formen noch weitere von ihnen wieder verschiedene heranzuziehen. Solch eine Differenz kennzeichnete Porphyrios zwischen dem obersten Genus und der untersten Spezies, indem er sagt: „Ferner könnte eine Spezies niemals oberstes Genus und ein Genus unterste Spezies sein",17 als wollte er sagen: ihre Differenz ist, daß das Wesen von diesem nicht das Wesen von jenem ist. Dementsprechend beruht auch die Trennung der Kategorien nicht auf bestimmten Formen, die sie erzeugen, sondern auf der Unterscheidung ihres Wesens selbst. Obgleich sie meinen, daß alle Dinge derartig voneinander verschieden sind, daß keines von ihnen mit einem anderen gemeinsam an einer wesensmäßig identischen
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Materie oder einer wesensmäßig identischen Form teilhat, halten sie trotzdem weiterhin am dinglichen Universale [universale rerum] fest; sie bezeichnen als „Universale" die voneinander getrennten Dinge zwar nicht als etwas wesensmäßig Identisches, jedoch im Sinne ihrer Indifferenz: wie sie zum Beispiel sagen, daß die einzelnen, durch sich selbst voneinander getrennten Menschen im Menschen ein und dasselbe sind, das heißt sich nicht in der Natur des Menschentums unterscheiden; und genau dieselben, welche sie als „singulär" in Hinsicht auf die Trennung bezeichnen, bezeichnen sie im Hinblick auf die Indifferenz und die Übereinstimmung, die von der Ähnlichkeit stammt, als „universal". Aber an dieser Stelle gibt es eine Meinungsverschiedenheit. Denn einige nehmen ein universales Ding ausschließlich in einer Ansammlung von mehreren an. Sie bezeichnen Sokrates und Piaton fur sich auf keinen Fall als „Spezies", sondern sie bezeichnen alle Menschen, mit einem Mal zusammengefaßt, als „die Spezies Mensch"; und sämtliche Lebewesen, mit einem Mal zusammengefaßt, bezeichnen sie als „das Genus Lebewesen"; und so weiter bei den übrigen. Mit ihnen scheint der folgende Ausspruch des Boethius übereinzustimmen: „man darf die Spezies für nichts anderes halten, als einen Gedanken, der aus der substantiellen Ähnlichkeit von [sich der Zahl nach unterscheidenden] Individuen erschlossen wurde, das Genus aber als [einen Gedanken, der] aus der Ähnlichkeit der Spezies erschlossen wurde".18 Wenn er sagt „erschlossen aus der Ähnlichkeit", dann hat er sie als etwas im Auge, was mehreres zusammenfaßt. Andernfalls würde man keineswegs eine Prädikation über mehrere Dinge oder einen Zusammenhang von vielen in Gestalt eines universalen Dinges haben, und es gäbe ebensoviele Universalien wie Singuläres. Andere nun aber bezeichnen nicht nur die zusammengefaßten Menschen als „Spezies", sondern auch die einzelnen, insofern sie Menschen sind; und wenn sie sagen, daß das Ding, was Sokrates ist, über mehreres prädiziert wird, dann verstehen sie es bildlich, als wollten sie sagen: vieles ist mit diesem identisch, das heißt, stimmt überein bzw. er selbst stimmt mit vielem überein. Die, welche hinsichtlich der Zahl der Dinge genauso viele Spezies wie Individuen und ebensoviele Genera annehmen, setzen jedoch hinsichtlich der Ähnlichkeit der Naturen eine geringere Anzahl von Universalien als von singulären Dingen an. Freilich sind alle Menschen sowohl in sich viele auf Grund der personalen Trennung, als auch ein Einheitliches auf Grund der Ähnlichkeit des Menschentums; und sie werden als von sich selbst verschieden im Hinblick auf die Trennung und im Hinblick auf die Ähnlichkeit beurteilt - wie Sokrates darin, daß er ein Mensch ist, von sich selbst darin, daß er Sokrates ist, unterschieden wird. Andernfalls könnte nicht ein und dasselbe von sich Genus oder Spezies sein, wenn es keinerlei Differenz von sich mit sich selbst besäße, wo es doch zumindest in bestimmter Hinsicht zutrifft, daß Relatives Gegensätzliches ist. Jetzt aber wollen wir zuerst die Meinung entkräften, die als erste über die Ansammlung geäußert wurde, und herausbekommen, inwiefern es für die umfassende gleichzeitige Ansammlung der Menschen, welche als „einheitliche Spezies"
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bezeichnet wird, eigentümlich ist, über mehreres prädiziert zu werden, damit sie ein Universale ist; als gesamte aber wird sie nicht über die einzelnen ausgesagt. Und wenn man einräumt, daß sie in partieller Weise über verschiedenartige Dinge prädiziert wird - nämlich dadurch, daß ihre einzelnen Teile den Dingen selbst anhaften -, dann hat das keine Bedeutung für die Gemeinsamkeit eines Universale, was nach dem Zeugnis des Boethius als ganzes in den einzelnen Dingen sein muß; 19 sie unterscheidet sich von diesem Gemeinsamen darin, daß sie auf partielle Weise ein Gemeinsames ist - wie zum Beispiel ein Feld, dessen verschiedene Teile zu verschiedenen Leuten gehören. Außerdem würde auch Sokrates über mehreres auf Grund unterschiedlicher Teile ausgesagt werden, so daß er universal wäre. Weiter würde es stimmen, beliebig viele Menschen, die zugleich erfaßt wurden, als „Universale" zu bezeichnen, auf die gleichermaßen die Definition des Universale oder auch der Spezies zuträfen, so daß dann die gesamte Ansammlung der Menschen mehrere Spezies umfaßte. Ebenfalls würden wir jede beliebige Ansammlung von Körpern und Geistern als eine „einheitliche universale Substanz" bezeichnen, als wäre die gesamte Ansammlung der Substanzen ein einheitliches oberstes Genus, so daß wir bei Wegnahme einer beliebigen einzelnen und bei Verbleib der übrigen in den Substanzen mehrere oberste Genera hätten. Vielleicht aber wird man sagen, daß keine Ansammlung, die in einem obersten Genus enthalten ist, ein oberstes Genus ist. Hierauf aber erwidere ich, daß dann, wenn eine einzige von den Substanzen abgetrennt wurde und die verbleibende Ansammlung kein oberstes Genus ist, dennoch eine universale Substanz bestehen bleibt; und es ist notwendig, daß diese Ansammlung eine Spezies der Substanz ist und auf eine gleichrangige Spezies aus demselben Genus verweist. Was für eine aber kann ihr gegenübergestellt werden, da doch in dieser geradewegs eine Spezies der Substanz enthalten ist oder dieselbe mit jener einzelnen so in Verbindung steht, wie ein vernunftbegabtes Lebewesen und ein sterbliches Lebewesen? Ferner: jedes Universale ist gegenüber den eigenen Individuen auf natürliche Weise primär; eine Ansammlung aber von beliebigen Dingen ist gegenüber den einzelnen Dingen, durch die sie konstituiert wird, ein integrales Ganzes und denen gegenüber auf natürliche Weise nachgeordnet, aus welchen sie sich zusammensetzt. Ferner: zwischen einem Ganzen und einem Universale hat Boethius im „Liber de divisione" als Differenz hervorgehoben, daß ein Teil nicht dasselbe ist, wie das Ganze, eine Spezies aber immer identisch ist mit dem Genus. 20 Inwiefern aber wird die umfassende Ansammlung aller Menschen die Menge der Lebewesen sein können? Es ist noch übrig, daß wir uns gegen die wenden, die einzelne Individuen ein „Universale" nennen, insofern diese Individuen mit anderen übereinstimmen; sie räumen auch ein, daß sie über mehrere Dinge prädiziert werden - das heißt nicht, daß sie wesensmäßig eine Vielzahl darstellen, sondern daß eine Vielzahl von Dingen mit ihnen übereinstimmt. Wenn aber das Prädiziertwerden über mehrere Dinge dasselbe ist wie das Übereinstimmen mit mehreren Dingen, inwiefern sagen
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wir dann, daß ein Individuum nur über ein einziges Ding prädiziert wird, da es eben nichts darstellt, was nur mit einem einzigen Ding übereinstimmt? Inwiefern gibt man die Differenz zwischen dem Universale und dem Singulären durch das „Prädiziertwerden über mehrere Dinge" an, wenn in genau der gleichen Weise, in der ein Mensch mit mehreren [Menschen] übereinstimmt, auch Sokrates mit mehreren [Menschen] übereinstimmen soll? Natürlich stimmt ein Mensch, insofern er ein Mensch ist, und Sokrates, insofern er ein Mensch ist, mit weiteren überein. Jedoch stimmt weder ein Mensch, insofern er Sokrates ist, noch Sokrates, insofern er Sokrates ist, mit anderen überein. Das, was also ein Mensch besitzt, besitzt auch Sokrates in der gleichen Weise. Außerdem, wenn eingeräumt wird, daß Dinge völlig identisch sind - nämlich der Mensch, der in Sokrates ist und Sokrates selbst -, dann gibt es keinerlei Differenz zwischen diesem und jenem. Denn kein Ding ist zu gleicher Zeit von sich selbst verschieden, da es alles, was es in sich hat, auch in einer völlig gleichen Weise hat. Daher ist auch der weiße Sokrates und der gelehrte Sokrates, wenngleich er Verschiedenes in sich hat, durch dieses von sich dennoch nicht verschieden, da ja dieses beides derselbe besitzt und auf völlig gleiche Weise. Denn er ist nicht in einer von sich selbst verschiedenen Hinsicht ein Gelehrter oder in einer anderen Hinsicht weiß, wie auch nichts von ihm Verschiedenes einmal weiß und ein anderes ein Gelehrter ist. Wie kann man begreifen, wenn sie sagen, daß Sokrates mit Piaton als Mensch übereinstimmt, wenn feststeht, daß sich alle Menschen gegenseitig sowohl in der Materie als auch in der Form unterscheiden? Denn wenn Sokrates in dem Ding, das der Mensch ist, mit Piaton übereinstimmt, und wenn ein Mensch keine andere Sache als eben Sokrates oder ein anderer ist, dann ist es notwendig, daß dieser mit Piaton durch sich selbst oder in bezug auf einen anderen übereinstimmt. Als er selbst aber ist er im Gegenteil von diesem verschieden; hinsichtlich des anderen ist es auch klar, da er ja auch kein anderer ist. Nun gibt es aber auch solche, die „als Mensch übereinstimmen" negativ auffassen, als würde man sagen: „Sokrates unterscheidet sich hinsichtlich des Menschen nicht von Piaton." Genauso aber kann man auch sagen, daß er sich von ihm hinsichtlich des Steines nicht unterscheidet, da keiner von beiden ein Stein ist. Und somit stellt man bei ihnen keine größere Übereinstimmung hinsichtlich des Menschen als hinsichtlich des Steines fest, wenn nicht vielleicht eine bestimmte Aussage vorangestellt wird, wie etwa die folgende: „Sie sind Mensch, da sie sich hinsichtlich des Menschen nicht unterscheiden." So aber kann es auch nicht stehen bleiben, da es völlig falsch ist, daß sie sich als Mensch nicht unterscheiden. Denn wenn sich Sokrates von Piaton nicht hinsichtlich des Dinges unterscheidet, das der Mensch ist, dann unterscheidet er sich auch nicht durch sich selbst [von Piaton]. Unterscheidet er sich aber durch sich selbst von diesem und ist dieser das Ding, welches der Mensch ist, dann unterscheidet er sich gewiß von diesem auch in dem Ding, das der Mensch ist. Nachdem die Gründe gezeigt worden sind, aus denen die Dinge, wenn sie als
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vereinzelte oder als zusammengefaßte verstanden werden, nicht als universal in der Hinsicht bezeichnet werden können, daß sie über mehrere Dinge prädiziert werden, bleibt übrig, daß wir solcher Art Allgemeinheit ausschließlich den Wörtern zuschreiben. Genauso, wie einige Nomina von den Grammatikern als „Gemeinnamen" [appellativa] und einige als „Eigennamen" [propria] bezeichnet werden, werden auch von den Dialektikern einige der einfachen Ausdrücke [sermones] als „universale" und einige als „partikuläre", das heißt einzelne, bezeichnet. Das Universale nun ist ein Wort, was auf Grund seiner Erfindung [ex inventione] geeignet ist, über mehrere Dinge einzeln prädiziert zu werden - wie zum Beispiel das Nomen „Mensch", das mit den partikulären Nomina der Menschen verbindbar ist unter Berücksichtigung der Natur der zugrundeliegenden Dinge, denen es beigegeben wurde. Das Singuläre aber ist das, was nur über ein einziges Ding prädiziert werden kann - wie zum Beispiel „Sokrates", da er als Nomen nur eines einzigen aufgefaßt wird. Denn wenn du es homonym meinst, dann schaffst du zur Kennzeichnung der Bedeutung nicht ein Wort, sondern viele Worter, da ja laut Priscian mehrere Nomina auf ein einziges Wort kommen. 21 Wenn also das Universale beschrieben wird als „das, was über mehrere Dinge prädiziert wird", dann bezieht sich das vorausgeschickte „das, was" nicht nur auf die Einfachheit des Ausdrucks zur Unterscheidung von den Sätzen, sondern auch auf die Eindeutigkeit der Bedeutung [der Wörter] zur Unterscheidung von den homonymen [Wörtern]. Nachdem nun geklärt wurde, was in der Definition des Universale jener Vorsatz „das, was" zu bedeuten hat, wollen wir die beiden anderen [Teile der Beschreibung] - das heißt „Prädiziertwerden" und „über mehrere Dinge" - näher betrachten. Das Prädiziertwerden nun ist das mit etwas wahrheitsgemäß Verbindbarsein auf Grund der Aussagekraft der Kopula „ist" - wie zum Beispiel „Mensch" in der Tat durch diese Kopula mit verschiedenartigen Dingen in Verbindung gebracht werden kann. Selbst solche Wörter, wie „läuft" und „geht" besitzen in einer Verknüpfung die Bedeutung der Kopula, wenn sie über mehrere Dinge prädiziert worden sind. Daher sagt Aristoteles im zweiten Buch von „Pen hermeneias": „Alle Wortformen, zu denen das Wort ,ist' nicht paßt - wie bei,laufen' und ,gehen' - bewirken in dieser Form genau dasselbe, als ob das Wort ,ist' hinzugefugt worden wäre." 22 Und andererseits: „es besteht kein Unterschied zwischen dem, daß ein Mensch geht, und dem, daß ein Mensch gehend ist" 2 3 Wenn er nun aber sagt „über mehrere Dinge", dann faßt er die Nomina in bezug auf die Verschiedenheit der bezeichneten Gegenstände zusammen. Sonst würde Sokrates über mehrere Dinge prädiziert werden, wenn man sagt: „dieser Mensch ist Sokrates"; „dieses Lebewesen ist dieser weiße Gegenstand, ist dieses gebildete Ding". Obgleich diese Nomina im Gedanken unterschieden sind, haben sie dennoch ein identisches Ding zur Grundlage. Beachte aber, daß eine Konstruktionsverbindung, welche die Grammatiker untersuchen, von der Verbindung einer Prädikation, welche die Dialektiker betrachten, verschieden ist: denn mit Rücksicht auf die Kraft der Konstruktion sind
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„Mensch" und „Stein" und alle beliebigen Nominative ebenso gut durch [das Wort] „ist" verknüpfbar, wie „Lebewesen" und „Mensch" - aber nur hinsichtlich des Vorfuhrens eines Gedankens, nicht aber hinsichtlich des Erklärens des Status eines Dinges. Darum ist auch eine Konstruktionsverbindung genau dann zufriedenstellend, wenn sie eine bestimmte Behauptung ausdrückt - mag es sich genauso verhalten oder auch nicht. Die Verbindung einer Prädikation hingegen, um die es uns hier geht, bezieht sich auf die Natur der Dinge und auf den nachzuweisenden wirklichen Status von ihnen. Wenn einer so spricht: „der Mensch ist ein Stein", dann hat er eine Konstruktion aus Mensch und Stein in Übereinstimmung mit dem Gedanken gebildet, den er ausdrücken wollte; und es liegt keinerlei grammatischer Fehler vor. Wenn zwar bezüglich der Aussagekraft hier „Stein" über „Mensch" ausgesagt wird, für den er eben als Prädikat dient - da sogar falsche kategorische Aussagen einen prädizierten Terminus besitzen -, so kann er jedoch von der Natur der Dinge her nicht über ihn prädiziert werden. Hier interessieren wir uns nur für die Kraft der Prädikation dieses Satzes, insofern wir ein Universale definieren. Das Universale aber scheint nun überhaupt nicht ein Gemeinname zu sein, und auch das Singuläre nicht ein Eigenname, sondern im Gegenteil scheinen sie sich gegenseitig zu meiden und voneinander getrennt zu sein. Denn Gemeinname und Eigenname umfassen nicht allein Nominative, sondern auch „gebeugte" Fälle, die zum Prädiziertwerden ungeeignet sind und deshalb in der Definition des Universale in der Formulierung „Prädiziertwerden" ausgeschlossen worden sind. Diese Beugungsformen werden nun - da sie ja für einen Aussagesatz weniger wichtig sind, um den es laut Aristoteles in der gegenwärtigen Betrachtung ausschließlich geht, das heißt in einer dialektischen Betrachtung, da ja eben nur der Aussagesatz Beweisführungen erzeugt - von Aristoteles selbst in gewisser Hinsicht nicht als Nomina verstanden, und er nennt sie auch nicht Nomina, sondern „Fälle des Nomen". 24 Genauso aber, wie es nicht notwendig ist, alle Gemeinnamen oder Eigennamen als „Universalien" oder „vieles Singuläres" zu bezeichnen, ist es auch umgekehrt nicht notwendig. Denn das Universale umfaßt nicht nur Nomina, sondern auch Verben und infinite Nomina, auf welch letztere die Definition eines Gemeinnamens, welche Priscian angibt,25 nicht zuzutreffen scheint. Nun aber wollen wir mittels der Definition des Universale und des Singulären, die den Wörtern zugewiesen wurde, sorgfaltig vor allem die Eigenschaft von universalen Wörtern [universales voces] untersuchen. Über diese Universalien waren Fragestellungen formuliert worden, da vor allem ein Zweifel über ihre Bedeutung besteht: denn sie besitzen offenbar weder einen Bezugsgegenstand, noch scheinen sie eine vernünftige Erkenntnis von etwas darzustellen. Man hat aber offenbar die universalen Nomina nicht im Sinn von Dingen gebraucht, weil ja alle Dinge getrennt für sich selbst existieren und auch in keinem Ding - wie gezeigt wurde - übereinstimmen, hinsichtlich welcher Übereinstimmung die universalen Nomina eine bestimmte Geltung erhalten könnten. Da es somit erwiesen ist, daß die Universalien nicht für
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Dinge stehen mit Rücksicht auf die die Trennung der Dinge kennzeichnende Differenz, da sie dann schon nicht mehr Gemeinsames, sondern Einzelnes wären, und die universalen Nomina die Dinge andererseits auch nicht so benennen können, als stimmten sie in einem bestimmten Ding überein - da es eben kein Ding gibt, in dem sie übereinstimmten -, scheinen die Universalien keinerlei Bedeutung in Hinsicht auf die Dinge zu besitzen, zumal sie keinerlei Erkenntnis über ein Ding herbeiführen. Daher sagt Boethius im „Liber de divisione", daß das Wort „Mensch" eine Ungewißheit im Verstand bewirkt; denn wenn er es gehört hat, „wird der Verstand des Hörers", so sagt er, „durch viele Wallungen erfaßt und zu Irrtümern verleitet. Denn wenn jemand sagt: Jeder Mensch geht', dies aber nicht eingeschränkt durch: ,ein gewisser', und diesen, wenn es in dieser Weise gelingt, genau bezeichnet, dann besitzt der Verstand des Hörers nicht, was er vernünftigerweise begreifen könnte." 26 Denn weil einzelne mit der Bedeutung von „Mensch" belegt wurden aus demselben Grunde - das heißt, weil sie [alle] ein sterbliches vernunftbegabtes Lebewesen sind -, ist ebendiese Gemeinschaftlichkeit der Bedeutung ein Hindernis dafür, daß man darunter einen bestimmten [Menschen] verstehen kann, wie demgegenüber das Nomen „Sokrates" als die eigene Person eines Einzelnen verstanden wird und daher als „Singuläres" bezeichnet wird. Unter dem allgemeinen Nomen „Mensch" wird jedoch weder Sokrates, ein anderer, noch die umfassende Ansammlung der Menschen in vernünftiger Weise aus dem Sinn des Wortes verstanden, noch auch wird durch dieses Nomen Sokrates, insofern er ein Mensch ist, repräsentiert, wie gewisse Leute das wollen. Denn auch wenn Sokrates allein in diesem Haus verweilt und nur auf ihn die Aussage „ein Mensch verweilt in diesem Haus" zutrifft, wird dennoch keineswegs mit dem Nomen „Mensch" das Subjekt auf Sokrates festgelegt - auch nicht mit Rücksicht darauf, daß er ein Mensch ist; denn sonst könnte man aus der Aussage vernünftigerweise schließen, daß ihm das Verweilen innewohnt, so daß daraus, daß ein Mensch in diesem Haus verweilt, geschlossen werden könnte, daß Sokrates in ihm verweilt. Auch ein anderer kann nicht unter diesem Nomen „Mensch" verstanden werden, aber auch nicht die umfassende Ansammlung der Menschen, da die Aussage nur für einen Einzigen wahr sein könnte. Somit bedeutet also „Mensch" oder ein anderes universales Wort anscheinend gar nichts, weil es keine Kenntnis über ein Ding verschafft. Es scheint aber auch keinen Gedanken geben zu können, der nicht eine zugrundeliegende Sache, die er erfassen könnte, zum Gegenstand hat. Darum sagt Boethius im Kommentar [zur „Isagoge" des Porphyrios]: „Jeder Gedanke resultiert aus einer zugrundeliegende Sache entweder so, daß er der Sache adäquat ist, oder so, daß er ihr nicht adäquat ist. Denn ein Gedanke kann nicht ohne jede Grundlage entstehen." 27 Deswegen scheinen die Universalien vollständig der Bedeutung zu entbehren. Doch so ist es nicht. Denn durch die Nennung bezeichnen sie durchaus verschiedenen Dinge, jedoch nicht durch Schaffung eines aus ihnen erwachsenden Gedankens, sondern vielmehr eines Gedankens, der sich auf die einzelnen Dinge bezieht.
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So zum Beispiel bezeichnet das Wort „Mensch" sowohl einzelne Dinge aus dem gemeinsamen Grunde, daß sie Menschen sind, aus welchem Grunde dieses Wort als ein „Universale" bezeichnet wird, wie es auch einen gewissen gemeinsamen Begriff schafft - keinen nur eigenen -, der sich nämlich auf die einzelnen Dinge bezieht, deren gemeinsame Ähnlichkeit er erfaßt. Das, was wir kurz berührt haben, wollen wir nun eingehend untersuchen, nämlich: welcher denn jener gemeinsame Grund ist, durch den ein universales Nomen Geltung erhält; um welchen gemeinsamen Begriff von der Ähnlichkeit der Dinge [untereinander] es sich denn handelt; und ob wegen des gemeinsamen Grundes, aus dem die Dinge übereinstimmen, oder wegen des allgemeinen Begriffes oder aber auf Grund von beiden zusammen ein Wort als „allgemeines" bezeichnet wird. Und zuerst wollen wir uns den gemeinsamen Grund vornehmen. Obwohl sich einzelne Menschen, die voneinander getrennt sind, sowohl in ihren eigentümlichen Wesen als auch Formen unterscheiden - wie wir es weiter oben erwähnt haben, als wir den physischen Aspekt untersuchten 28 -, stimmen sie jedoch darin überein, daß sie Menschen sind. Ich sage nicht, sie stimmen „im Menschen" überein, da ein Ding nur in Vereinzelung Mensch ist, sondern ich sage, daß sie im Menschsein übereinstimmen. Menschsein aber ist nicht Mensch und auch kein Ding, wenn wir es sorgfältiger betrachten; genauso, wie auch das „nicht in einem Zugrundeliegenden sein" kein Ding ist, und auch das „nicht einen Gegensatz annehmen" oder das „nicht ,mehr' und,weniger' annehmen", in bezug woraufjedoch nach Aristoteles sämtliche Substanzen übereinstimmen. 29 Da, wie schon gezeigt wurde, keinerlei wechselseitige Übereinstimmung unter gewissen Dingen ihrerseits selbst den Charakter eines Dinges haben kann, so ist diese Übereinstimmung ihrem Charakter nach aus dem abzuleiten, was nicht irgendein Ding ist, wie ζ. B. wenn Sokrates und Piaton im Menschsein einander ähnlich sind, oder wenn Pferd und Esel im Nicht-Menschsein einander ähnlich sind, da beides als „Nicht-Mensch" bezeichnet wird. Daß verschiedene Dinge übereinstimmen, heißt somit, daß diese einzelnen dasselbe sind oder nicht sind - wie zum Beispiel Menschsein und Weißsein oder Nicht-Menschsein und Nicht-Weißsein. Zu vermeiden aber scheint zu sein, daß wir die Übereinstimmung von Dingen unter Bezug darauf erfassen, was kein Ding ist, wobei wir das, was ist, gleichsam durch ein Nichts zusammenfassen, wenn wir ζ. B. sagen, daß dieser und jener im Status des Menschen, das heißt darin, daß sie Menschen sind, übereinstimmen. Wir meinen aber nichts anderes, als daß sie Menschen sind und sich in bezug darauf keineswegs unterscheiden, ich meine in bezug darauf, daß sie Menschen sind, wenn wir sie auch nicht nach einem [dinglichen] Wesen benennen. Als „Status" des Menschen aber bezeichnen wir eben das Menschsein, was kein Ding ist und was wir auch als gemeinsamen Grund der Belegung [impositio] einzelner mit einem Nomen bezeichnen, weil diese miteinander übereinstimmen. Wir bezeichnen doch oft auch das als „Grund", was kein Ding darstellt - so, wenn man sagt: „er ist bestraft worden, weil er nicht auf den Markt wollte". „Er wollte nicht auf den Markt", was als Grund
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angegeben wird, ist kein [dingliches] Wesen. Als „Status" des Menschen können wir auch die Dinge selbst bezeichnen, die auf Grund der Natur des Menschen [aktual] bestehen, deren gemeinsame Ähnlichkeit derjenige erfaßte, der [für sie] das Wort [„Mensch"] einsetzte. Nach dem Nachweis der Bedeutung der Universalien hinsichtlich der Dinge im Rahmen der Benennung [der Dinge durch die Universalien] und nach dem Aufzeigen des gemeinsamen Grundes für deren Imposition wollen wir nun zeigen, was denn die Gedanken sind, die sie bewirken. Und zu Anfang wollen wir allgemein die Natur sämtlicher Gedanken herausfinden. Da sowohl die Wahrnehmung als auch der Gedanke der Seele angehören, besteht also ihre Differenz darin, daß die Sinne nur durch körperliche Instrumente betätigt werden und auch nur Körper bzw. das, was in ihnen enthalten ist, erfassen wie zum Beispiel die Sehkraft einen Turm oder dessen sichtbare Qualitäten wahrnimmt. Genausowenig aber, wie der Gedanke eines körperlichen Instruments bedarf, ist es auch nicht erforderlich, daß er einen zugrundeliegenden Körper besitzt, auf den er bezogen wird; vielmehr besteht er in einem Ebenbild [similitudo] mit dem Ding, das sich die Seele selbst verschafft und worauf sie die Aktion ihres eigenen Verstandes richtet. Wenn ein Turm zerstört oder entfernt worden ist, wird darum eine Wahrnehmung, die sich auf ihn richtete, zunichte, der Gedanke aber bleibt bestehen, indem ein Ebenbild des Dinges durch den Geist erhalten bleibt. So, wie aber die Wahrnehmung nicht das wahrgenommene Ding ist, auf das sie sich richtet, ist auch der Gedanke nicht die Form des Dinges, das er erfaßt, sondern der Gedanke ist eine bestimmte Aktion der Seele, auf Grund deren sie als „denkend" bezeichnet wird; die Form aber, auf die er sich richtet, ist ein bestimmtes eingebildetes und ausgedachtes Ding, das der Geist für sich, wann und wie ,er es will, anfertigt - dazu gehören jene phantastischen Städte, die im Traum erblickt werden, oder die Form einer zu schaffenden Vorrichtung, die ein Handwerker entsprechend dem zu formenden Ding und als Vorbild für es abwägt und die wir weder als „Substanz" noch als „Akzidens" bezeichnen können. Einige jedoch identifizieren die Form mit dem Gedanken - so etwa, wenn sie daS Kunstwerk eines Turmes, das ich bei Abwesenheit des Turmes in Erwägung ziehe und das ich hoch und viereckig in einer weiten Landschaft erblicke, als genau dasselbe benennen, was der Gedanke eines Turmes ist. Mit ihnen scheint Aristoteles übereinzustimmen, der die Eindrücke der Seele, welche sie als „Gedanken" bezeichnen, im Werk „Peri hermeneias" „Ebenbilder" der Dinge nennt. 30 Wir bezeichnen nun aber ein Abbild [imago] als das „Ebenbild" eines Dinges. Es hindert jedoch nichts, wenn auch ein Gedanke in gewisser Weise als „Ebenbild" bezeichnet wird, da er ja das, was eigentlich als „Ebenbild" des Dinges bezeichnet wird, begreift. Was wir abweichend von diesem geäußert haben, hat ebenfalls seinen guten Grund. Ich stelle nämlich zur Diskussion, ob jene Viereckigkeit und jene Höhe die wahre Form des Gedankens ist, welche als Ebenbild der Quantität des Turmes
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und seiner Gestaltung angesehen wird. Aber natürlich sind die wahre Viereckigkeit und die wahre Höhe ausschließlich in den Körpern, und ferner kann durch eine nur erdachte Qualität weder ein Gedanke noch irgendein wahres [dingliches] Wesen gestaltet werden. Es bleibt also übrig, daß so, wie die Qualität nur erdacht ist, auch die ihr zugrundeliegende Substanz nur erdacht ist. Vielleicht aber kann auch das Spiegelbild, das sich dem Anblick anscheinend als wirklich vorhanden darstellt, geradezu als ein Nichts bezeichnet werden, da ja doch in der weißen Oberfläche eines Spiegels oft die Qualität einer entgegengesetzten Farbe zum Vorschein kommt. Es kann aber zur Diskussion gestellt werden, ob die Seele zu gleicher Zeit ein und dasselbe wahrnimmt und erkennt, wie zum Beispiel dann, wenn sie einen Stein wahrnimmt: die Frage ist, ob dann zugleich auch der Gedanke auf Grund eines Abbildes des Steines wirksam ist oder ob der Gedanke und die Empfindung zugleich durch ein und denselben Stein wirksam sind. Vernünftiger aber scheint es, daß der Gedanke dann kein Abbild benötigt, wenn ihm die Wahrheit der Substanz gegenwärtig ist. Wenn aber jemand sagt, daß dort, wo die Empfindung ist, nicht der Gedanke sei, dann stimmen wir dem nicht zu. Denn häufig kommt es vor, daß die Seele etwas wahrnimmt und ein anderes verstandesmäßig begreift, wie es die richtig Studierenden erleben, die mit offenen Augen Gegenwärtiges wahrnehmen, jedoch auf anderes, worüber sie schreiben, bedacht sind. Nachdem nun die Natur der Gedanken im allgemeinen untersucht worden ist, wollen wir zur Unterscheidung der jeweils den Universalien und dem Singulären zugehörenden Gedanken kommen. Sie werden nun eben darin unterschieden, daß der Gedanke von einem universalen Nomen ein gemeinsames und ungeordnetes Abbild von vielen Dingen erfaßt, während der Gedanke, den ein partikuläres Wort hervorbringt, über die eigene und gewissermaßen einzelne Form eines Einzigen verfügt, das heißt eine Form, die sich lediglich auf eine einzige Person bezieht. Wenn ich dann also „Mensch" höre, dann kommt dementsprechend im Geiste etwas zum Vorschein, was sich gegenüber den einzelnen Menschen so verhält, daß es allen gemeinsam ist und niemandem eigen. Wenn ich aber „Sokrates" höre, dann kommt im Geiste eine gewisse Form zum Vorschein, welche das Ebenbild einer ganz bestimmten Person zum Ausdruck bringt. Darum wird durch das Wort „Sokrates", das im Geiste die eigene Form eines Einzelnen aufdrängt, ein bestimmtes Ding zum Ausdruck gebracht und festgelegt, durch „Mensch" aber, dessen Begriff auf der gemeinsamen Form von allen beruht, gibt es diese Gemeinsamkeit als Vermischung, so daß wir diese [Form] nicht auf Grund von allen [einzelnen Menschen] verstehen. Darum sagt man weder für Sokrates noch für einen anderen zutreffend, daß sie „Mensch" bedeuten, da vom Sinn des Nomens [„Mensch"] her niemand [einzeln] erkannt wird, obwohl er einzelne [Menschen] benennt. „Sokrates" jedoch bzw. irgend etwas Singulärem eignet nicht nur das Benennen, sondern auch die eindeutige Bestimmung eines zugrundeliegenden Dinges. Da wir nach Boethius weiter oben geäußert haben, daß jeder Gedanke ein
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zugrundeliegendes Ding besitzt, ergibt sich nun die Frage, inwiefern das für die Gedanken von den Universalien zutrifft. Und man muß sicher beachten, daß Boethius diese Äußerung in dem sophistischen Beweis macht, wo er nachweist, daß der Gedanke von den Universalien leer ist. Darum gibt es auch kein Hindernis dafür, daß er das in Wahrheit nicht behauptet; also bestätigt er durch Vermeidung der Falschheit die Überlegungen anderer. Das dem Gedanken zugrundeliegende Ding können wir auch „die wahre Substanz des Dinges" nennen, wie zum Beispiel dann, wenn es gleichzeitig mit der Empfindung auftritt; oder aber „die begriffene Form eines Dinges" bei Nichtvorhandensein des Dinges - mag diese Form nun eine gemeinsame sein, wie wir ausgeführt haben, oder eine zum Proprium gehörige; „eine gemeinsame" sage ich im Hinblick auf die Ähnlichkeit von mehreren Dingen, die sie wiedergibt, wenn sie auch trotzdem für sich als eine einzelne Sache betrachtet werden mag. Daher kann nämlich für das Zeigen der Natur aller Löwen schon ein einzelnes Bild genügen, wobei es von keinem von ihnen das Proprium darstellt, und andererseits kann zur genauen Unterscheidung eines jeden von ihnen ein anderes Bild genutzt werden, das ein Proprium von ihm zur Kenntnis gibt - so etwa, wenn ein hinkender, verstümmelter oder durch Herkules' Keule verwundeter abgebildet wird. Genauso, wie einmal von den Dingen eine gemeinsame Figur, einmal eine singuläre gemalt wird, wird sie auch begrifflich gefaßt, das heißt die eine als gemeinsame und die andere als zum Proprium gehörige. Was nun die Form angeht, auf die sich der Gedanke richtet, so ist man nicht unberechtigt im Zweifel darüber, ob auch sie durch ein N o m e n angezeigt wird, was sowohl durch die gültige Lehrmeinung als auch durch die Vernunft bestätigt zu werden scheint. Daher schien Priscian im ersten Buch der „Constructiones" eine bestimmte andere Bedeutung der Universalien im Hinblick auf eine gemeinsame Form unterstellt zu haben, nachdem er die gemeinsame Belegung der Individuen mit den Universalien gezeigt hatte und formulierte: „Für die genusartigen und spezifischen Formen der Dinge, welche im göttlichen Geist vernunftartig existieren, bevor sie in die Körper gelangen, könnten diese [indefiniten Nomen] auch Eigennamen sein, durch die die Genera und Spezies der Natur der Dinge nachgewiesen werden." 3 1 Hier wird über Gott als wie über einen Künstler gehandelt, der beabsichtigt, etwas zu schaffen, und der in der Seele gedanklich die Urform des zu schaffenden Dinges vorwegnimmt, an deren Ebenbild er arbeitet; und diese Form - so sagt man - gelangt dann in einen Körper, wenn nach ihrem Ebenbild ein wirkliches Ding geschaffen wird. Dieser gemeinsame Inbegriff [conceptio] aber wird richtig Gott und nicht dem Menschen zugeschrieben, da diese Werke genusartige oder spezifische Status der Natur, nicht eines Künstlers sind - wie Mensch, Seele oder Stein Werke Gottes, ein Haus oder ein Schwert aber Werke des Menschen sind. Darum sind - im Gegensatz zu jenen - Haus und Schwert nicht Werke der Natur, und ihre Termini gehören auch nicht einer Substanz, sondern einem Akzidens, so daß sie auch keine Genera noch unterste Spezies sind. Darum werden solche durch A b -
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straktion gewonnenen Begriffe richtig dem göttlichen und nicht dem menschlichen Geist zugeschrieben, weil die Menschen, die die Dinge lediglich mit den Sinnen erkennen, kaum oder niemals zu solch einem einfachen Begriff aufsteigen, und die äußere Sinnlichkeit der Akzidentien verhindert, daß sie in reiner Form die Naturen der Dinge erfassen. Gott aber, dem alles von sich aus offenbar ist, was er schuf, und der dies, bevor es existiert, kennt, unterscheidet die einzelnen Status, so wie sie sind, und für ihn ist die Empfindung kein Hindernis, der er allein die wahre Erkenntnis besitzt. Daher kommt es, daß die Menschen bei dem, was sie nicht durch die Sinneswahrnehmung betastet haben, eher über eine Meinung als über eine Erkenntnis verfügen, was wir mit einem eigenen Beweis zeigen: denn wir machen uns über eine nicht gesehene Stadt Vorstellungen, und wenn wir hingekommen sind, dann entdecken wir, daß wir sie uns anders gedacht haben, als sie wirklich ist. Daher bin ich auch hinsichtlich der inneren Formen, die nicht zu den Sinnen gelangen - wie die Vernunftbegabung, die Sterblichkeit, die Vaterschaft, das Sitzen -, davon überzeugt, daß wir eher eine Meinung besitzen. Jedoch bringen alle Nomina von beliebigen existierenden Dingen eher einen Begriff - insofern dieser in jenen gegeben ist - als eine Meinung hervor, da sie ja ihr Erfinder gemäß bestimmten Naturen oder Eigenschaften von Dingen zur Geltung bringen will, auch wenn er selbst die Natur oder die Eigenschaft des Dinges nicht gut zu durchdenken vermocht hätte. Diese allgmeinen Begriffe nennt Priscian nun aber darum „genusartige" oder „spezifische", weil uns jeweils genusartige oder spezifische Nomina diese Begriffe offenbaren. Er sagt, daß die Universalien für diese Begriffe in gewisser Weise Eigennamen sind, die - wenn sie auch im Hinblick auf die bezeichneten Gegenstände von verschwommener Bedeutung sind - den Geist des Hörers unmittelbar aufjenen allgemeinen Begriff lenken - ganz wie Eigennamen auf genau eine einzige Sache, die sie bezeichnen. Auch Porphyrios, wenn er sagt, daß einiges sich aus Materie und Form zusammensetzt und einiges in Analogie zu Materie und Form zusammengesetzt ist, scheint eben diesen Begriff gemeint zu haben, wenn er sagt: „in Analogie zu Materie und Form", 32 worüber an gegebenem Ort gesprochen werden wird. Wenn er sagt, daß ein Gedanke, der aus der Ähnlichkeit von mehreren Dingen erschlossen wurde, ein Genus oder eine Spezies ist, dann scheint auch Boethius diesen allgemeinen Begriff zu meinen. 33 Einige behaupten, daß auch Piaton dieser gerade genannten Auffassung gewesen ist, indem er jene gemeinsamen Ideen, die er im Nous existieren läßt, als „Genera" oder „Spezies" bezeichnete. Boethius erinnert daran, daß dieser vielleicht gerade hierin eine von Aristoteles abweichende Auffassung hat, wenn er darlegt, daß jener meinte, „daß Genera, Spezies und die Übrigen nicht nur als Universalien begriffen werden, sondern auch wirklich da sind und neben den Körpern existieren".34 Als wollte er hiermit sagen, daß dieser die allgemeinen Begriffe, die er getrennt von den Körpern im Nous existieren läßt, als Universalien begreift, ein Universale aber nicht mit Rücksicht auf die gemeinsame
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Prädikation versteht - wie es Aristoteles macht - , sondern vielmehr mit Rücksicht auf das gemeinsame Ebenbild von mehreren Dingen. Denn jener Begriff scheint in keiner Weise über mehrere Dinge prädiziert zu werden, wie das [andererseits] bei einem N o m e n der Fall ist, das mehreren Dingen je einzeln zukommt. Wenn er sagt, daß Piaton glaubt, die Universalien würden wirklich außerhalb der Sinnendinge existieren, dann kann das auch in einer anderen Weise eine Erklärung finden, so daß es keinerlei Meinungsverschiedenheit unter den Philosophen gibt. Denn wenn Aristoteles meint, die Universalien existierten immer in den Sinnendingen, so meint er das mit Rücksicht auf den Akt [ad actum], da ja doch die Natur, die das Lebewesen darstellt und die mit einem universalen N o m e n bezeichnet und dadurch im übertragenen Sinne als Universale angesprochen wird, aktual ausschließlich in einem Sinnending vorgefunden wird; Piaton jedoch glaubt, daß diese Natur auf natürliche Weise so für sich selbst existiert, daß sie ihr Sein behält, ohne Objekt der Sinneswahrnehmung zu sein, weshalb mit einem universalen N o m e n ein natürliches Sein benannt wird. Was Aristoteles somit mit Rücksicht auf den A k t leugnet, darauf verweist Piaton, Forscher der Physik, hinsichtlich der natürlichen Veranlagung. Und dann gibt es zwischen ihnen keinen Gegensatz. Wenn nun die gültigen Lehrmeinungen dargestellt worden sind, die nahezulegen scheinen, daß mit den universalen Nomina begrifflich erfaßte gemeinsame Formen gemeint sind, so scheint damit auch die rein vernunftgeleitete Begründung übereinzustimmen. Denn was heißt „diese Formen durch die Nomina begreifen" anderes, als daß sie durch die Nomina bezeichnet werden? Sobald wir die Formen jedoch von den Gedanken verschieden sein lassen, kommt außer dem Ding und dem Gedanken noch eine dritte Bedeutung der Nomina zum Vorschein. Wenn das auch keine gültige Lehrmeinung hinter sich hat, so ist es doch nicht gegen die Vernunft. Wir wollen nun zeigen, was wir weiter oben versprochen haben zu entscheiden, nämlich ob wegen des gemeinsamen Grundes der Imposition oder wegen eines allgemeinen Begriffs oder aus beiden Gründen gemeinsam die Allgemeinheit den universalen Nomina zugesprochen wird. Nichts hindert daran, daß es auf Grund von beiden gemeinsam geschieht, doch der gemeinsame Grund, der entsprechend der Natur der Dinge angenommen wird, scheint eine größere Kraft zu besitzen. Ferner muß auch definiert werden, was wir oben erwähnten, daß nämlich die gedankliche Fassung der Universalien durch Abstraktion zustande kommt und warum wir diese Gedanken „isoliert", „nackt" und „rein", jedoch nicht „leer" nennen. Zunächst zur Abstraktion. Man muß also wissen, daß Materie und Form immer als verbundene gemeinsam auftreten, daß aber der Verstand die Fähigkeit besitzt, die Materie nur fur sich zu betrachten, oder lediglich die Form zu beachten, sowie beide als verbunden zu begreifen. Die ersten beiden Fälle rühren von der Abstraktion her, wo von dem Verbundenen etwas abstrahiert wird, damit dessen besondere Natur untersucht wird. Der dritte Fall jedoch hat seinen Grund in der Verknüpfung.
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Zum Beispiel ist die Substanz dieses Menschen sowohl Körper, Lebewesen, Mensch, sowie mit unendlich vielen Formen bekleidet, und sobald ich sie in ihrem materiellen Wesen der Substanz betrachte, nachdem sämtliche Formen abgesondert wurden, gelange ich zu einem Gedanken mittels Abstraktion. Wenn ich andererseits durch sie nur die Körperlichkeit beachte, die ich mit der Substanz verknüpfe, dann existiert dieser Gedanke, obgleich er im Verhältnis zum ersten durch Verknüpfung entsteht, der nur die Natur der Substanz beachtete, ebenfalls auf Grund von Abstraktion, wenn man die Formen bedenkt, die von der Körperlichkeit verschieden sind und von denen ich keine beachte, wie zum Beispiel Beseeltheit, Empfindsamkeit, Vernunftbegabung, Weißheit. Solche Gedanken auf Grund von Abstraktion schienen vielleicht deshalb falsch oder eingebildet zu sein, weil sie ein Ding anders, als es wirklich existiert, erfassen. Denn wenn sie die Materie für sich oder die Form getrennt erfassen, so existiert trotzdem keine von ihnen wirklich getrennt; und da sie ein Ding somit anders, als es ist, zu begreifen scheinen, sind sie darum auch offensichtlich leer. Aber es ist nicht so. Denn wenn jemand ein Ding in solcher Weise anders begreift, als es ist, indem er es nämlich als die Natur oder Eigenschaft versteht, welche es nicht besitzt, dann ist dieser Gedanke ohne Zweifel leer. Das aber ist bei der Abstraktion nicht der Fall. Denn wenn ich diesen Menschen nur hinsichtlich der Natur der Substanz oder des Körpers betrachte, nicht aber hinsichtlich der Natur des Lebewesens, des Menschen oder des Grammatikers, dann erkenne ich offenbar nichts weiter, als das, was durch sie da ist, jedoch erfasse ich nicht alles, was er besitzt. Und wenn ich sage, daß ich dieses Ding nur in der Hinsicht betrachte, daß es dies besitzt, dann bezieht sich jenes „nur" auf die Betrachtung, nicht aber auf den Modus des wirklichen Existierens, andernfalls der Gedanke leer wäre. Denn das Ding besitzt nicht nur dieses, sondern wird nur so erfaßt, als ob es nur dieses besitzt. Und dennoch sagt man, daß es in gewisser Weise anders, als es ist, begriffen wird - zwar nicht mit einem anderen Status, als dem, der wirklich ist, wie oben ausgeführt wurde, aber darin anders, daß der Modus des gedanklichen Erfassens [modus intelligendi] verschieden ist von dem Modus des wirklichen Existierens [modus subsistendi]. Denn dieses Ding wird getrennt von einem anderen, nicht abgetrennten begriffen, obwohl es nicht getrennt existiert: die Materie wird rein und die Form wird einfach aufgefaßt, obgleich weder die eine rein da ist, noch die andere einfach, so daß eben diese Reinheit und Einfachheit auf den Begriff und nicht auf die Subsistenz des Dinges zurückgeführt werden und folglich Modi des gedanklichen Erfassens, nicht des wirklichen Existierens sind. Die Sinne behandeln denn auch die Zusammensetzungen oft verschiedenartig - wie ich zum Beispiel im Falle einer Statue, die zur Hälfte golden und zur Hälfte silbern ist, das verbundene Gold und Silber getrennt wahrnehmen kann, indem ich einmal nur das Gold anschaue, und einmal nur das Silber für sich betrachte und dabei Verbundenes auf getrennte Art, nicht aber als Getrenntes erfasse, da es natürlich nicht getrennt existiert. Genauso erfaßt auch der Gedanke
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vermittels der Abstraktion etwas in getrennter Weise, nicht aber als Getrenntes, wo anders er leer wäre. Trotzdem könnte ein Gedanke auch vernünftig sein, der das, was verknüpft ist, einmal getrennt, und auf andere Weise verbunden ansieht, wie auch umgekehrt. Denn sowohl die Verknüpfung als auch die Trennung der Dinge kann man auf doppelte Weise verstehen. Denn einiges nennen wir auf Grund der Ähnlichkeit miteinander verknüpft - wie etwa diese beiden Menschen darin, daß sie Menschen sind oder Grammatiker anderes aber auf Grund einer gewissen Hinzufügung oder Zusammenkunft - wie etwa Form und Materie oder Wein und Wasser. Was so miteinander zusammengefugt ist, das erfaßt der Gedanke einmal als Getrenntes und in anderer Weise als Verbundenes. Darum schreibt Boethius der Seele das Vermögen zu, mit ihrem Verstand Unterschiedenes verbinden und Zusammengesetztes auflösen zu können, wobei sie beide Male die Natur des Dinges jedoch nicht übergeht, sondern nur das, was in der Natur des Dinges ist, erfaßt. 35 Sonst läge hier kein verständiges Herangehen, sondern eine Meinung vor, wenn die Vernunft vom Status des Dinges abkäme. Hier aber tritt das Problem der Vorausschau eines Künstlers auf, ob diese nämlich leer ist, wenn er im Geiste schon die Form des zukünftigen Werkes besitzt, das Ding sich aber noch nicht so verhält. Räumen wir das ein, dann werden wir auch dazu gezwungen, jene Voraussicht Gottes, die er vor der Ausführung seiner Werke hat, als „leer" zu bezeichnen. Wenn aber dies jemand in Hinsicht auf die Wirkung sagt, Gott also als Werk nicht vollendete, was er plante, dann ist es falsch, daß die Vorsehung leer gewesen ist. Wenn man sie aber aus dem Grunde „leer" nennt, daß sie noch nicht mit dem zukünftigen Status der Sache übereinstimmt, dann mißfallen uns zwar die sehr schlechten Worte, die Auffassung aber weisen wir nicht absolut zurück. Denn es stimmt, daß der zukünftige Status der Welt noch nicht materiell vorlag, solange er diesen bis jetzt zukünftigen noch im Geiste plante. Als „leer" aber pflegen wir nur das Denken oder die Vorausschau von jemandem zu bezeichnen, die keine Wirkung besitzen, und wir bezeichnen nur das als „umsonst gedacht", was wir nicht im Werk vollenden. Wir würden die Worte wechseln und eine Vorausschau nicht als „leer" bezeichnen, die nicht sinnlos Absichten hegt, sondern vielmehr die, welche sich etwas als wirklich existierend vorstellt, was noch nicht materiell da ist, und dies ist freilich für alle Voraussicht natürlich. Das Nachdenken über Zukünftiges nennt man „Voraussicht", das über Vergangenes „Erinnerung", das über Gegenwärtiges „Einsehen". Wenn nun aber einer den einen „Irrenden" nennt, der durch Voraussehen über einen zukünftigen Status wie über einen schon existierenden nachdenkt, so geht eher der in die Irre, der glaubt, ihn einen „Irrenden" nennen zu müssen. Denn einer, der das Zukünftige voraussieht, geht nicht in die Irre, insofern er es nicht bereits genauso für existent hält, wie er es voraussieht. Denn nicht die Vorstellung von einer nicht existierenden Sache macht einen Irrenden aus, sondern der feste Glaube. Stelle ich mir nämlich einen Raben
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als vernunftbegabt vor, halte ihn aber nicht so für wirklich, dann bin ich kein Irrender. In diesem Sinne ist es aber auch nicht der Vorausschauende, denn das, was er gewissermaßen als bereits existent bedenkt, hält er nicht auch so für existent, sondern in dem Sinne, daß, sobald er es als Gegenwärtiges denkt, er es als gegenwärtig in der Zukunft annimmt. Freilich betrifft in gewissem Sinne jede Vorstellung des Geistes das Gegenwärtige. So zum Beispiel, wenn ich Sokrates entweder in der Hinsicht betrachte, daß er ein Knabe gewesen ist, oder in der Hinsicht, daß er ein Greis sein wird, so verbinde ich mit ihm gewissermaßen in Hinsicht auf die Gegenwärt Kindheit und Alter, da ich ihn ja in Hinsicht auf die Gegenwart in der vergangenen und zukünftigen Eigenheit erfasse. Niemand aber bezeichnet diese Erinnerung als „leer", da sie ja das, was sie wie Gegenwärtiges vorstellt, in der Vergangenheit als existent betrachtet. Hierauf aber wird ausführlicher im Kommentar zu „Peri hermeneias" eingegangen werden. Vernünftiger erklärt sich auch hinsichtlich Gottes, daß seine Substanz, die allein unveränderlich und einfach ist, durch keinerlei Vorstellungen über die Dinge oder anderweitige Formen dem Wandel unterworfen wird. Denn obgleich die Gewohnheit des menschlichen Ausdrucks sich anmaßt, vom Schöpfer so wie von den Geschöpfen zu sprechen, da man ihn eben als „vorausschauend" oder „einsehend" bezeichnet, so darf trotzdem nicht spekuliert werden über etwas in ihm, das von ihm selbst verschieden ist, noch kann es solches geben, nämlich ein Gedankengebilde oder eine gesonderte Form. Folglich ist auch jede Fragestellung nach einem Gedankengebilde im Hinblick auf Gott überflüssig. Um aber die Wahrheit nachdrücklicher auszusprechen, so bedeutet, daß er das Zukünftige voraussieht, nichts anderes, als daß ihm, der die wahre Vernunft ist, die Zukunft nicht verborgen ist. Nachdem wir vieles über die Natur der Abstraktion geäußert haben, wollen wir jetzt zu den gedanklichen Fassungen der Universalien zurückkehren, die notwendig immer durch Abstraktion zustande kommen. Denn höre ich „Mensch", „Weißheit" oder „Weißes", so denke ich wegen der [Aussage-JKraft des Nomen nicht an alle Naturen oder Eigenschaften, die in den zugrundeliegenden Dingen sind, vielmehr besitze ich mit „Mensch" einen Begriff vom vernunftbegabten sterblichen Lebewesen, nicht aber auch von den nachgeordneten Akzidentien, jedoch einen undifferenzierten und keinen spezifizierten Begriff [conceptio confusa, non discreta]. Denn auch die Gedanken von allem, was Singuläres ist, kommen durch Abstraktion zustande, wenn man zum Beispiel sagt: „diese Substanz", „dieser Körper", „dieses Lebewesen", „dieser Mensch", „diese Weißheit", „dieses Weiß". Mit „dieser Mensch" nämlich erfasse ich nur die Natur eines Menschen, jedoch in Hinsicht auf ein ganz bestimmtes Zugrundeliegendes; mit „Mensch" hingegen erfasse ich ebenjenen schlechthin und gewissermaßen für sich, nicht in bezug auf einen bestimmten Menschen. Darum wird die gedankliche Fassung der Universalien mit Recht als „isoliert", „nackt" und „rein" bezeichnet: „isoliert" im Hinblick auf die Sinneswahrnehmung, da sie ja kein Ding als sinnliches wahrnimmt; „nackt" aber in Hinsicht auf
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die Abstraktion von den Formen - entweder aller oder bestimmter - ; „rein" aber im Hinblick auf das bezeichnete Ganze und die [fehlende] differenzierte Unterscheidung, da ja kein bestimmtes Ding, sei es Materie oder Form, durch sie zur Kenntnis gebracht wird, aus welchem Grunde wir weiter oben einen solchen Begriff als „undifferenziert" bezeichnet haben. Nachdem wir das vorausgeschickt haben, können wir zur Lösung der von Porphyrios über die Genera und Spezies aufgeworfenen Fragen kommen, was wir nunmehr ohne Schwierigkeit tun können, da die Natur aller Universalien bereits offenkundig ist. Die erste Frage also war, ob die Genera und Spezies wirklich bestehen, das heißt, ob sie etwas wirklich Existierendes bedeuten, oder ob sie sich nur in dem Gedanken befinden, das heißt, ob sie eine leere Meinung, ohne Realitätsbezug darstellen, wie etwa die Nomina „Chimäre" oder „Bockshirsch", die keine vernünftige Erkenntnis hervorbringen. Hierauf ist zu antworten, daß sie deshalb, weil sie im Akt der Benennung wirklich existierende Dinge bezeichnen, nämlich genau dieselben wie die Individualbezeichnungen, keineswegs eine leere Meinung darstellen. Trotzdem sind sie in gewisser Hinsicht nur in dem bloßen reinen Gedanken, wie schon gezeigt wurde. Nichts aber steht dem im Wege, daß in der einen Weise der Fragesteller bestimmte Worte beim Aufwerfen des Problems wählt, in der anderen aber der, welcher die Frage löst, beim Lösen - als hätte der, welcher die Lösung erbracht hat, sich so ausgedrückt: „du wirfst das Problem auf, ob sie sich nur in dem Gedanken befinden usw. Dies kannst du als wahr auffassen, wie wir bereits weiter oben gezeigt haben." Unter den Worten kann aber auch seitens des Problemlösers und des Fragestellers ein und dasselbe verstanden werden. Dann handelte es sich um eine einfache Frage, die nicht auf der Entgegensetzung der Hauptglieder von zwei Problemfragen beruht, d. h. der folgenden beiden: ob sie sind oder nicht sind; und ob sie nur in den bloßen reinen [Gedanken] sind oder nicht. Dasselbe kann auch zur zweiten Frage geäußert werden, die so lautet: ob sie körperliche oder unkörperliche Subsistenzen sind, das heißt, ob sie - wenn man ihnen die Bedeutung von Subsistenzen gibt - besondere Subsistenzen bedeuten, die körperlich sind, oder aber solche, die unkörperlich sind. Denn alles, was existiert, ist - wie Boethius sagt36 - entweder körperlich oder unkörperlich: mögen wir unter dem Nomen „Körperliches" und „Unkörperliches" einen substantiellen Körper und einen Nicht-Körper verstehen bzw. das, was durch einen körperlichen Sinn wahrgenommen werden kann - wie etwa ein Mensch, ein Holz, eine Weißheit - oder aber nicht wahrgenommen werden kann - wie etwa die Seele und die Gerechtigkeit. Unter dem Körperlichen kann man auch das Getrennte verstehen, als wenn gefragt würde: „wenn sie Subsistenzen bedeuten, bedeuten sie dann getrennte oder nicht getrennte Dinge"? Denn wer die Wahrheit einer Sache richtig erkundet, beachtet nicht nur das, was tatsächlich ausgesagt werden kann, sondern auch alles, was als
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Vermutung geäußert werden kann. Wenngleich also für jemanden als erwiesen gilt, daß nur das Getrennte wirklich existiert, so fragt man dennoch darum, weil es die Vermutung geben kann, es gäbe auch anderes, nicht umsonst auch nach diesem. Und diese letzte Auffassung vom Körperlichen scheint offensichtlich näher an die Frage heranzufuhren, indem nämlich nach den getrennten oder nicht getrennten Dingen gefragt wird. Da Boethius sagt, daß alles, was ist, entweder körperlich oder unkörperlich ist, hat es jedoch vielleicht den Anschein, daß das Unkörperliche überflüssig ist, da nichts Existierendes unkörperlich ist, das heißt nicht wohlunterschieden. Alles das, was in bezug auf die Ordnung der Problemstellungen angebracht wurde, scheint aber auch nur dadurch zu stimmen, daß genauso, wie Körperliches und Unkörperliches in der einen Bedeutung die Subsistenzen unterteilen, dies offenbar auch in der folgenden anderen der Fall ist - wenn etwa der Fragesteller sich so ausdrückte: „Ich sehe, daß von den existierenden Dingen die einen als körperliche, die anderen als unkörperliche bezeichnet werden; welche von ihnen werden wir als die bestimmen, welche die Bedeutung von Universalien besitzen?" Ihm antwortet man: „Gewissermaßen die körperlichen, das heißt die von ihrem Wesen her wohlunterschieden existierenden, wie auch die unkörperlichen im Hinblick auf den Sinn eines universalen Nomen, da sie [die Universalien] diese nicht wohlunterschieden und eindeutig, sondern undifferenziert benennen, wie wir weiter oben ausreichend nachgewiesen haben." Darum werden die universalen Nomina sowohl als Körperliches ausgesagt - unter Rücksicht auf die Natur der Dinge - als auch als Unkörperliches - unter Rücksicht auf den Bedeutungsmodus [modus significandi]: denn wenngleich sie alles das benennen, was wohlunterschieden ist, tun sie es jedoch nicht wohlunterscheidend und determiniert. Die dritte Frage nun aber, ob sie in den Sinnendingen existieren usw., rührt von daher, daß sie als unkörperlich unterstellt werden, da ja das in gewisser Weise als unkörperlich Verstandene hinsichtlich des Seins im sinnlich Wahrnehmbaren und des Nicht-Seins im sinnlich Wahrnehmbaren unterteilt wird, wie wir es auch oben erwähnten. Und von den Universalien wird gesagt, daß sie wirklich in den Sinnendingen existieren, das heißt, daß sie eine innere Substanz [intrinseca substantia] bezeichnen, die in dem sinnlich wahrnehmbaren Ding, ausgehend von den äußeren Formen, existiert; und obgleich sie die Substanz bezeichnen, die aktuell in einem sinnlich wahrnehmbaren Ding existiert, weisen sie diese trotzdem als natürlich von dem sinnlich wahrnehmbaren Ding getrennt existierend vor, wie wir es weiter oben im Anschluß an Piaton nachgewiesen haben. Darum sagt Boethius, daß die Genera und Spezies getrennt von den Sinnendingen begriffen werden, nicht aber sind, 37 und zwar aus dem Grunde, daß die realen Genera und Spezies im Hinblick auf ihre Natur verstandesmäßig, außerhalb aller Sinnlichkeit für sich selbst betrachtet werden, da sie ja für sich selbst - auch bei Entfernung der äußeren Formen, durch die sie zu den Sinnen gelangen - existieren könnten. Denn wir gestehen zu, daß alle Genera oder Spezies sinnlich wahrnehmbaren Dingen inne-
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wohnen. Weil aber der Gedanke von ihnen als ständig sinnesunabhängig bezeichnet wurde, schienen sie überhaupt nicht in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen zu sein. Darum wurde berechtigt die Frage aufgeworfen, ob sie überhaupt in den Sinnendingen sein könnten; und bei einigen wird zur Antwort gegeben, daß sie es sind, jedoch in der Hinsicht, daß sie außerhalb der Sinnlichkeit - wie schon gesagt wurde - auf natürliche Weise fortbestehen. Im Falle der zweiten Frage aber können wir Körperliches und Unkörperliches als sinnlich Wahrnehmbares und als nicht sinnlich Wahrnehmbares auffassen, damit die Ordnung der Fragen angemessener ist; und da, wie gesagt, die gedankliche Fassung der Universalien als „sinnenunabhängig" bezeichnet wurde, stellte man zu Recht die Frage, ob sie sinnlich wahrnehmbar sind oder nicht; und wenn geantwortet wird, daß gewisse von ihnen mit Rücksicht auf die Natur der Dinge sinnlich wahrnehmbar sind und ebenso auch nicht sinnlich wahrnehmbar sind mit Rücksicht auf den Bedeutungsmodus - da sie eben die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die sie benennen, nicht in der Hinsicht kennzeichnen, in welcher diese wahrgenommen werden, nämlich als wohlunterschiedene, und die Sinneskraft diese nicht durch ihren logischen Nachweis herausfindet -, bleibt die Frage übrig, ob die Universalien lediglich Sinnendinge benennen oder noch etwas anderes bedeuten; hierauf wird zur Antwort gegeben, daß sie sowohl die Sinnendinge selbst, als auch gleichzeitig jenen Allgemeinbegriff [communis conceptio] bezeichnen, den Priscian vor allem dem göttlichen Geist zuschreibt. „Und in bezug auf sie wirklich existieren": für das, was wir hier als vierte Frage auffassen - wie wir weiter oben erwähnten -, lautet die Lösung so, daß wir auf keinen Fall meinen, daß es [dann noch] universale Nomina gibt, wenn sie durch Vernichtung der ihnen zugehörenden Dinge schon nicht mehr über mehrere Dinge prädizierbar sind und natürlich auch nicht mehr gemeinsame Bestimmungen für irgendwelche Dinge sind, wie etwa das Nomen „Rose" bei nicht mehr vorhandenen Rosen; und trotzdem ist es dann in gedanklicher Hinsicht ein Bedeutungsträger, wenngleich es ohne Benennungsfunktion ist, da es sonst nicht die Aussage „es gibt keine Rose" gäbe. Aus gutem Grunde aber gab es Probleme mit den universalen und nicht mit den individuellen Wörtern, da es ja über die Bedeutung der individuellen Wörter nicht in dem Sinne einen Zweifel gab. Denn ihr Bedeutungsmodus stimmte gut mit dem Status der Dinge überein. Diese Dinge werden genauso, wie sie in sich voneinander wohlunterschieden sind, auch dementsprechend bezeichnet, und der Gedanke von den individuellen Wörtern erfaßt ein wohlbestimmtes Ding, was die Universalien nicht können. Außerdem schienen die Universalien, insofern sie die Dinge nicht als voneinander wohlunterschiedene bezeichneten, diese auch nicht als miteinander übereinstimmende zu bezeichnen, da es kein [gesondertes] Ding gibt, worin sie übereinstimmen - wie wir ebenfalls oben gelehrt haben. Da es also hinsichtlich der Universalien einen derartig großen Zweifel gab, wählte Porphyrios nur sie für eine
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Untersuchung aus, während er alles Singulare außer Betracht ließ, das gewissermaßen von selbst genügend Klarheit besitzt, wenngleich er es trotzdem manchmal wegen des anderen behandelt. Es gilt jedoch zu beachten, daß, wenngleich sich die Definition eines Universale, d. h. des Genus oder der Spezies, allein auf Wörter bezieht, diese Nomina dennoch häufig wie die ihnen zugehörigen Dinge behandelt werden - wenn zum Beispiel gesagt wird, eine Spezies bestünde aus dem Genus und der Differenz, das heißt das Ding Spezies aus dem Ding Genus. Denn sobald sich die Natur dieser Wörter hinsichtlich ihrer Bedeutung offenbart, geht es [bei ihnen] teils um Wörter, teils um Dinge, und häufig werden die Nomina der einen anstelle der anderen und für die anderen verwendet. Vor allem deshalb hat die Abhandlung der Logik und der Grammatik, die auf Grund der Bedeutungsübertragungen von Nomina doppeldeutig ist, viele zum Irrtum verleitet, die entweder nicht richtig den jeweiligen Charakter der Imposition der Nomina oder den Mißbrauch der Bedeutungsübertragung einschätzen konnten. Am meisten aber hat Boethius diese Verwirrung auf Grund der Sinnübertragungen in den Kommentaren [zur „Isagoge"] gestiftet, und vorzugsweise bei der Untersuchung dieser Fragen - freilich so, daß er das Richtige offen zu lassen scheint in bezug darauf, was er als Genera oder Spezies ansieht. Die Fragestellungen von ihm wollen wir kurz durchgehen und - soweit es notwendig ist - auf die zuvor genannte Auffassung anwenden. Er bringt also hier bei der Untersuchung der Frage die Sache zunächst durch sophistische Problemstellungen und Begründungen in Verwirrung, um sie dann besser zur Lösung zu führen und um zu zeigen, wie wir uns anschließend von ihnen befreien. Und er stellt so etwas Unpassendes an den Anfang, wie, daß alle Forschung und Betrachtung der Genera und Spezies hintanzusetzen sei,38 als wenn er meint: denn die Genera und Spezies, d. h. die Wörter, können ja nicht als das, was sie zu sein scheinen, ausgesagt werden, ob hinsichtlich der Bedeutung für die Dinge oder in gedanklicher Hinsicht. Was die Bedeutung für die Dinge betrifft, so weist er das dadurch nach, daß man niemals ein universales Ding - ob mit einem oder mit vielen Exemplaren - findet, das über mehreres prädizierbar wäre was er selbst ausführlich darlegt, und auch wir haben es weiter oben unter Beweis gestellt. Daß es nun aber kein einzelnes universales Ding [mit einem Exemplar] gibt und damit also weder Genus noch Spezies, beweist er zuerst und sagt: „Alles, was Eins ist, ist zahlenmäßig Eins", das heißt von anderem wohlunterschieden existierend hinsichtlich des eigenen Wesens; die Genera und Spezies aber, die für mehreres gemeinsam sein müssen, können nicht ein zahlenmäßiges Eins sein und daher auch gar kein Eins.39 Weil aber jemand gegen die Annahme erwidern könnte, daß sie ein derartiges zahlenmäßiges Eins seien, das ein gemeinsames ist, so verbaut er diesem durch folgende Antwort den Ausweg: daß alles zahlenmäßige Eins, insofern es ein Gemeinsames ist, entweder durch Teile gemeinsam ist; oder als ein Ganzes in einem Zeitintervall; oder zu einem bestimmten Zeitpunkt als ein Ganzes, jedoch in
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dem Sinne, daß es nicht die Substanzen von denen bildet, für die es ein Gemeinsames ist.40 Alle diese Arten von Gemeinsamkeit schließt er sogleich für das Genus und die Spezies aus, wenn er feststellt, daß diese eher in dem Sinne ihren übergreifenden Gemeinschaftscharakter erhalten, daß sie zu ein und derselben Zeit und als ganze in den singulären Dingen sind und deren Substanz bilden.41 Denn die universalen Nomina werden nicht von Verschiedenem, das sie benennen, nur anteilweise übernommen, sondern sie sind zu ein und derselben Zeit als ganze und vollständige Nomina der singulären Dinge. Daß sie ebenfalls die Substanzen der Dinge bilden, denen sie gemeinsam sind, kann man entweder darum sagen, weil sie in übertragener Bedeutung Dinge bezeichnen, die andere Dinge konstituieren - wie zum Beispiel „Lebewesen" etwas Bestimmtes im Pferd oder auch im Menschen benennt, das die Materie von ihnen oder auch von bestimmten einzelnen Menschen ist; oder man sagt deswegen, sie würden die Substanz bilden, weil sie in der Weise eine Erklärung jener Dinge unterstützen, daß sie als „substantielle Bestimmungen" [substantialia] für diese bezeichnet werden, denn „Mensch" bedeutet die Gesamtheit von „Lebewesen", „Vernunftbegabtes" und „Sterbliches". Nachdem Boethius nun gezeigt hat, daß ein einzelnes Ding kein universales ist, tritt er den Beweis auch für ein in vielen Exemplaren vorliegendes Ding an, indem er nämlich zeigt, daß auch keine Menge aus voneinander wohlunterschiedenen Dingen eine Spezies oder ein Genus ist. Und er widerlegt jene Auffassung, wonach jemand der Meinung sein könnte, alle gleichzeitig zusammengefaßten Substanzen seien das Genus „Substanz" und sämtliche Menschen die Spezies „Mensch", als wenn man sagte: Wenn wir annehmen, daß jedes Genus eine Menge aus untereinander substantiell übereinstimmenden Dingen darstellt, so wird eine jede solche Menge aber von Natur aus etwas anderes über sich haben, und dieses wieder etwas anderes, bis ins Unendliche - was unmöglich ist. Somit ist es erwiesen, daß die universalen Nomina im Hinblick auf die Bedeutung für die Dinge - ob im Sinne eines einzelnen oder einer Menge - offensichtlich keine Universalien sind, da sie eben kein universales Ding bezeichnen, das heißt eines, das über mehreres prädizierbar ist. Daß diese auch in gedanklicher Hinsicht nicht als Universalien bezeichnet werden dürfen, tut er dadurch kund, daß er sophistisch zeigt, daß dieser Gedanke leer ist, indem er nämlich in anderer Weise da ist als ein subsistierendes Ding, da er aus der Abstraktion herkommt 42 Den Knoten dieses Sophismus hat er und haben auch wir oben ausfuhrlich und sorgfältig aufgelöst. Den anderen Teil des Beweisganges, in dem er nachweist, daß es kein universales Ding gibt, hält er einer Entscheidung nicht für bedürftig, da er nicht sophistisch war. Denn das Ding versteht er als Ding, nicht aber als Wort, da doch ein allgemeines Wort - wenngleich es ähnlich wie ein einheitliches Ding selbst ein bestimmtes Wesen ist - auf Grund der Benennung von mehrerem allgemein ist; und gerade in Hinsicht auf diese Benennungsfunktion, nicht als ein eigenes Wesen, ist es über mehreres prädizierbar. Dennoch ist dieViel-
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heit der Dinge selbst der Grund für die Allgemeinheit eines Nomen, da, wie wir oben erwähnten, nur das ein Universale ist, was vieles umfaßt; die Allgemeinheit jedoch, die ein Ding dem Wort gewährt, hat das Ding selbst nicht in sich, denn das Wort verdankt seine Bedeutung nicht einem Ding; und ein Gemeinname wird hinsichtlich einer Vielheit von Dingen ausgesagt, obgleich wir weder sagen, die Dinge [selbst] würden etwas bezeichnen, noch daß sie [etwas] benennen.
13. PETRUS ABAELARD Logica „Ingredientibus" Glossen zu Aristoteles' „Kategorien"* [...]
Ü b e r die Substanz
Substanz. Nachdem die Aufzählung der einfachen, nicht verbundenen Ausdrücke in Gestalt der Bezeichnungen der zehn Kategorien erfolgt ist, widmet er [Aristoteles] sich konkret den einzelnen Kategorien und beginnt mit der Kategorie der Substanz, da die Substanzen natürlicherweise früher als die übrigen Dinge sind. Denn auf Grund der Natur der Substanz könnten die Substanzen ohne die anderen Dinge völlig auf sich allein gestellt existieren; die anderen Dinge können keinesfalls ohne die Substanzen sein, in denen sie als in der zugrundeliegenden Materie existieren. Die Vorgehensweise bei dieser Kategorie ist nun so, daß er gewissermaßen eine Einteilung unter den Bezeichnungen der Substanzen vorgenommen haben soll, indem er die „ersten" von den „zweiten Substanzen" unterscheidet; er behandelt abwechselnd die ersten und die zweiten Substanzen, indem er einmal nur die Eigenschaften der ersten und einmal nur die Eigenschaften der zweiten Substanzen untersucht. Sodann betrachtet er allgemein die Gemeinsamkeiten aller Substanzen sowohl hinsichtlich der Wörter als auch hinsichtlich der Dinge, bis er dann zum eigentlichen Proprium kommen kann, an dem wir eine Substanz am besten erkennen können sollen. Beachte aber auch, daß er bei dieser Kategorie vor allem Eigenschaften von Wörtern aufdeckt, bei den übrigen jedoch zeigt er in erster Linie die Naturen von Dingen. Freilich behandelt er nicht ohne Grand hier die Wörter, bei den anderen Kategorien aber Dinge. Denn vielleicht ist die Natur der Substanzen mehr bekannt als die der Akzidentien oder der übrigen Formen; und demzufolge mußte er weniger bei den Dingen, die Substanzen sind, verweilen. Unter Auslassung der Dinge geht er also vor allem den Wörtern nach. Und die Behandlung der Wörter hat er wohlüberlegt für diese Kategorie aufbewahrt, da er ja hinsichtlich der Substanzen einen Überfluß an Bezeichnungen hatte und gerade hier viele Genera und * Petri Abaelardi Logica ,Ingredientibus'. Glossae super Praedicamenta Aristotelis. - Unser Auszug: in: Die Logica „Ingredientibus". 2. Die Glossen zu den Kategorien, in: Peter Abaelards Philosophische Schriften 1.2, hg. v. B. Geyer, Beiträge XXI,2 (1921), S. 139-141.
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Spezies fand und sah, daß die Differenzen in den Spezies der Substanz enthalten sind; denn wir verneinen, daß die Differenzen anderswo existieren. Somit konnte er bei dieser Kategorie eine umfangreichere Belehrung über die Wörter geben. Da aber das Nomen „Substanz" in verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird - nämlich für Dinge und für Wörter -, wollen wir nun seine verschiedenen Bedeutungen näher bestimmen. Hinsichtlich der Dinge besitzt es zwei übliche Bedeutungen; denn es wird teils zur Bezeichnung eines jeden Gegenstandes verwendet - nach jener Äußerung des Priscian: „eine Substanz zusammen mit einer Qualität bezeichnend" 1 -, teils zur Bezeichnung nur jener Gegenstände, die für sich existieren, ohne einer zugrundeliegenden Materie anzuhängen, wie deren Formen. Und in dieser zweiten Bedeutung wird das Nomen „Substanz" als oberstes Genus verstanden und besitzt die folgende Beschreibung: „Substanz ist das, was für sich existiert." Unter Ausschluß der anderen Kategorien kann es folgendermaßen beschrieben werden: „Substanz ist das, was weder Quantität, noch Qualität usw. ist." Das Nomen „Substanz" wird auch zur Kennzeichnung von genusartigen, spezifischen sowie singulären Nomina verwendet, die eben die Substanzen in Gestalt eines Gegenstandes [in essentia] bezeichnen. Einer dritten Bedeutung zufolge wird dann zu sagen sein, daß gewisse Substanzen mehr, andere weniger Substanzen sind,2 und ebenfalls, daß jede Substanz offenbar die Bedeutung von „ein bestimmtes Dieses" besitzt,3 was im Falle der ersten Substanzen außer Zweifel und wahr ist. Und in der letzten Bedeutung wird das Nomen „Substanz" auf Grund der essentiellen Bedeutung von „Substanz" gebraucht, das heißt mit Bezug auf einen genusartigen oder spezifischen oder singulären Status. In dieser Bedeutung wird es auch in der Einteilung in „erste" und „zweite Substanz" gebraucht: das heißt, daß es entweder ein partikuläres oder ein universales essentielles Nomen von „Substanz" gibt. Die partikulären Nomina nämlich haben den Vorrang beim Bezeichnen [von Substanz]. Je bestimmter sie nämlich ein zugrundeliegendes Ding benennen, um so besser und gewisser bringen sie dessen Bedeutung zum Ausdruck, wie es auch im weiteren Text gesagt werden wird, daß nämlich die Spezies der Substanz mehr Substanzen sind als ihre Genera, da sie eben die zugrundeliegenden Dinge passender und genauer benennen. 4 Die partikulären Nomina hingegen mit ihrer ausschließlichen Bezeichnung [von etwas ganz Bestimmtem] geben restlose Auskunft über ein Ding und haben den primären Bezeichnungsmodus; die universalen Nomina besitzen den sekundären. Daher erklärt er dann auch, daß zu Recht nach den ersten Substanzen von den anderen einzig die Spezies und Genera als „zweite Substanzen" bezeichnet werden. Denn von dem, was prädiziert wird, zeigen nur sie allein die erste Substanz an; 5 was so viel bedeutet, wie: da die partikulären Nomina als „erste Substanzen" bezeichnet werden auf Grund des primären Bezeichnungsmodus, werden die universalen zu Recht auf Grund des sekundären Bezeichnungsmodus als „zweite Substanzen" bezeichnet.
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Gewisse Leute beziehen nun aber die Einteilung in erste und zweite Substanzen in erster Linie auf die Dinge, nämlich diejenigen, die prinzipiell der Auffassung sind, daß universale Dinge wirklich existieren. Sie gebrauchen das Nomen „Substanz" zur Bezeichnung von Dingen, wenn sie sagen, daß von den Dingen, die Substanzen sind, die einen universale, die anderen singulare sind, was soviel bedeutet, wie: Mensch, das heißt das Ding, welches Mensch ist, ist einerseits ein universales und andererseits ein partikuläres Ding. Wir aber sind in der Tat nicht dafür, daß universale Dinge existieren, welche etwa über mehreres prädiziert werden könnten, wie wir es auch in der Auslegung des Porphyrios nachgewiesen haben. Wenn gesagt wird, „der eine Mensch ist ein universaler, der andere ein singulärer", inwiefern ist das richtig, wenn genau derselbe, der der universale ist, auch der singulare ist? Vielleicht aber sagt man, daß „der eine" und „der andere" nicht als Verschiedenheit der Substanz begriffen, sondern nach den Verstehensaspekten [modi acceptionis] unterschieden werden, so daß es eher eine Einteilung des Wortes in verschiedene Aspekte wäre. Um ein Beispiel dafür anzuführen: Das Ding, welches Mensch ist, ist unter dem einen Aspekt ein universales, unter dem anderen ein singuläres. Ebenso wird die Substanz unter dem einen Aspekt als universal, unter einem anderen als partikulär bezeichnet; und es ist eine Einteilung eines Wortes in Aspekte. Wie auch die Einteilung beschaffen sein mag - ich verstehe sie nicht; denn nach ihrer Meinung umfaßt ja die universale Substanz völlig ebendas Eingeteilte, und zwar in genau der Weise, in der es eingeteilt wird. Denn in genau der Weise, in der das Erfaßte eingeteilt wird, ist auch die universale Substanz gegeben, sobald sie über mehreres prädiziert wird. Im 2. Buch zu „Peri hermeneias" bezeichnet Boethius die erste und zweite Substanz als Spezies der Substanz, das heißt als untergeordnete Objekte.6 Warum aber soll eine erste Substanz tiefer stehen, als das, worüber sie allgemein ausgesagt wird? Jede Substanz nämlich, das heißt ein jedes substantielle Individuum, ist eine erste Substanz. Und inwiefern darf eine zweite Substanz in einer Einteilung dessen für niedriger gehalten werden, was sie in genau dem gleichen Sinn umfaßt, wie es eingeteilt wird? Wenn wir diese Einteilung hingegen auf die Worte beziehen, so gibt es keinerlei Widersinnigkeit, da ja ein jedes Wort, was in einem Aussagesatz die Bedeutung einer Substanz besitzt, entweder universal oder partikulär ist. Diese Einteilung ist nun aber im Sinne von Wörtern gedacht worden, die für ein Akzidens stehen und auf Akzidentien bezogen worden sind. Denn auch „Substanz" ist als Nomen von Wörtern gemeint worden, wie sich „Universale" und „Partikuläres" auf akzidentielle Formen beziehen. Wenn hingegen auf Grund der Einteilungskriterien das Nomen „Substanz" in folgender Weise wiederholt wird: „die eine Substanz ist die universale Substanz, die andere ist die partikuläre", so ist das eine regelwidrige Einteilung, die etwa zu vergleichen ist mit der folgenden Aussage: „der eine Mann ist ein wachen der Mann, der andere Mann ist ein schlafender". Und beachte, daß er entsprechend
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der Eigenschaft eines Wortes zutreffend die partikulären als die „ersten Substanzen" bezeichnet - nämlich unter Rücksicht auf den würdigeren Bedeutungsmodus, wie nachgewiesen wurde die universalen aber bezeichnet er als die „zweiten". Hätte er aber die Betrachtung auf die Naturen der Dinge gerichtet, so müßte er die universalen Wörter als „erste" bezeichnen, da sie eine Sache in einem Status bezeichnen, der natürlicherweise der frühere ist; die partikulären müßte er dann als „zweite" bezeichnen.
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PETRUS ABAELARD Logica „Nostrorum petitioni sociorum" Glossen zu Porphyrios* [...]
Ü b e r die G e n e r a
Wir sind gezwungen, die Fragen hinsichtlich der Genera und Spezies aufzulösen; auch Porphyrios wagte es nicht, sie zu lösen, obwohl er sie kurz berührt und den Leser dadurch zu ihrer Untersuchung anreizt. Da es unter Voraussetzung des zuvor Gesagten erwiesen ist, daß die Universalien existieren, muß mit ihnen angefangen werden, indem man definiert, was denn eigentlich als Universale und was als Singuläres, d. h. Partikuläres oder Individuum, bezeichnet werden muß. Man sagt, daß Aristoteles das Universale in den „Kategorien" so beschreibt: „das, was über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird";1 und anders in „Peri hermeneias" so: „das, was über mehreres prädiziert zu werden pflegt"2. Entsprechend dazu auch das Individuum - in den „Kategorien" so: „das, was nicht über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird",3 in „Peri hermeneias" hingegen so: „das, was nicht geeignet ist, gewöhnlich über mehreres prädiziert zu werden, sondern nur über ein Einzelnes"4. Obwohl verschiedene Leute diese unterschiedlichen Definitionen auf Verschiedenes beziehen - die einen auf die Dinge, die anderen aber auf die Gedanken, wieder andere auf die sprachlichen Ausdrücke -, betrachtet sich trotzdem ein jeder als richterliche Autorität. Man findet einmal an einer Vielzahl von Orten eine Bestimmung über das „Was" der universalen Dinge vor, wie zum Beispiel dort, wo Aristoteles sagt: „Da von den Dingen dieses [alles] allgemein ist usw."5 Und andererseits Boethius im „Liber de divisione": „Von den Dingen sind die einen die höheren usw."6 Und nicht nur dort, sondern auch dann, wenn wir sagen, daß eine Spezies aus dem Genus und der Differenz besteht, wie ja ein Mensch als Ding nach unserer Auffassung aus der Belebtheit und der Vernunftbegabung besteht, und ebenso eine Statue aus Erz und * Petri Abaelardi Logica ,Nostrorum petitioni sociorum'. Glossulae super Porphyrium. Unser Auszug: in: Die Logica „Nostrorum petitioni sociorum". Die Glossen zu Porphyrios, in: Peter Abaelards Philosophische Schriften II, hg. v. B. Geyer, Beiträge XXI,4 (1933), 2. durchges. u. veränd. Aufl., Münster 1973, S. 512-533.
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einer Gestalt. Und in „De syllogismo hypothetico" heißt es: „Der Grund der Spezies ist das Genus." 7 Und damit scheint er das Ding „Lebewesen" offensichtlich als vorgegebene Materie im Menschen selbst zu benennen. Damit stimmt auch überein, was Boethius im „Liber de divisione" sagt, daß nämlich ein Genus in bestimmte Hervorbringungen [procreationes] unterteilt wird und daß vielen Spezies die Namen fehlen; 8 und Aristoteles' Äußerung: „Von denjenigen, die über ein Zugrundeliegendes ausgesagt werden, werden notwendig usw."9; und dann wiederum: „ Jeder' bedeutet nicht ein Universale";10 dann wieder: „Alle übrigen hingegen werden entweder über zugrundeliegende Substanzen ausgesagt oder sind in eben diesen"; 11 und weiter: „wenn es keine ersten Substanzen gibt, dann ist es unmöglich, daß etwas von dem anderen existiert";12 und auch jene Formulierung des Boethius: „alles, was seinen Grund in den zweiten Substanzen hat, ist auch in den ersten"; 13 und ebenso das, was Boethius sagt: daß die Einteilung eines Genus naturgemäß ist, die Einteilung bei einer Homonymie der menschlichen Imposition entspringt; 14 und dann wieder: Jedes Genus stellt etwas von dem dar, was die Spezies sind" und eine jede Spezies sei ihr eigenes Genus; 15 ein Teil sei aber nicht dasselbe wie das Ganze. 16 Nicht nur diese, sondern auch viele andere Zeugnisse scheinen sich aufzudrängen, die beweisen, daß es universale Dinge gibt. Andere wieder scheinen darzulegen, daß die Gedanken universal sind. Mit ihnen stimmt die Feststellung von Priscian in den „Constructiones" überein: „Für die genusartigen und spezifischen Formen der Dinge, welche im göttlichen Geist sind, bevor sie in die Körper gelangen usw.";17 und ebenso auch des Boethius Äußerung im Kommentar zu Porphyrios, wo er sagt, daß der Gedanke selbst das Genus oder die Spezies ist.18 Und ebenso wird Piaton die Auffassung zugeschrieben, daß er solche Begriffe, wie die Genera und Spezies, dem Nous, d. h. dem göttlichen Geist, zuweist - vielleicht deswegen, weil Gott im Geist die ursprünglichen Formen besaß, zu deren Ebenbild er dann, wie gesagt worden ist, die Dinge selbst geschaffen habe, die durch die genusartigen und spezifischen Nomina benannt werden. Diese Dinge bestehen freilich in Gott als natürliche und nicht als künstlerische Produkte. Jene Begriffe werden zu Recht Gott zugewiesen, dessen Produkt sie sind und den wir an dieser Stelle als „Natur" bezeichnen, d. h. als Ursprung und Herkunft von allem. Sie bekräftigen ihre Auffassungen durch folgende anerkannte Lehrmeinungen wir finden nämlich vieles, wo eindeutig die sprachlichen Ausdrücke als universal bezeichnet werden: so heißt es bei Aristoteles: „Genus und Spezies bestimmen eine Qualität in bezug auf die Substanz"; 19 „ . . . passender wirst du eine Spezies als ein Genus angeben." 20 Das betrifft aber auch unsere Äußerung, daß eine Definition aus dem Genus und der substantiellen Differenz besteht, oder die des Boethius, das Lebewesen sei letztes Genus 21 oder wenn er im „Liber de divisione" feststellt: Ein Genus ist gewissermaßen ein Ebenbild vieler Spezies, welches die substantielle Übereinstimmung von ihnen allen anzeigt."22 Wo er ferner im Kommentar zu Porphyrios sagt, daß die Philosophen vor allem die dritte Bedeutung von „Genus"
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für die Betrachtung vorausgesetzt haben - da es sich eben um das handelt, was das „Was" eines jeden Dinges anzeigt - 23 verkündet er ganz offen, daß es universale sprachliche Ausdrücke gibt, da es ihr Proprium ist, anzuzeigen bzw. etwas zu bedeuten. Dasselbe meint er auch, wenn er im „Liber de divisione" äußert, daß das Genus in der Einteilung als Ganzes für die Spezies da ist, in der Definition aber als ihr Teil,24 da sowohl die Definition als auch die Einteilung sprachliche Ausdrücke sind. Und wenn Porphyrios, Aristoteles folgend, nachweist, daß das „Seiende" nicht das Genus von allem ist, da man sagt, daß das Nomen „Seiendes" homonym prädiziert wird in bezug auf alles,25 so brächte er wohl eine schwache Begründung an, wollte er von den Nomina auf die Dinge schließen. Denn auf Grund der Prädikation eines Nomen muß nicht auch das völlig verändert werden, was in der Natur der Dinge liegt; es bliebe nicht weniger von Bestand, auch wenn keinerlei Imposition von Nomina erfolgt wäre. Und wenn er dann auch sagt, daß Genus und Spezies hinsichtlich des „Was" prädiziert werden und eben sie auf die Frage „Was ist es?" als Erwiderung geäußert werden, 26 dann faßt er das, was zur Antwort gegeben wird, deutlich als sprachliche Ausdrücke auf. Da aber Aristoteles für die Universalien „Ausgesagtwerden über ein Zugrundeliegendes" setzt, beweist er, daß im eigentlichen Sinne alles das als „Universalien" bezeichnet wird, worauf das Ausgesagtwerden zutrifft, das heißt Geäußertwerden und Prädiziertwerden ist eigentümlich für sprachliche Ausdrücke; und da niemand bezweifelt, daß ein Prädikat ein Terminus einer Aussage ist, wird wegen dessen Vorzugsstellung im eigentlichen Sinne das Prädikat ausgesagt, und Boethius unterteilt es nach Nomen und Verbum. 27 Wenn er im ersten Buch der „Topik" sagt, daß die Frage, ob die Bejahung und die Verneinung Spezies des Satzes sind,28 die Logik angehe, lehrt er unzweifelhaft, daß die Spezies eher sprachliche Ausdrücke als Dinge sind. Denn existierten die Spezies eher als Natur der Dinge denn als Eigenschaft von sprachlichen Ausdrücken, dann ginge die Diskussion um jene Frage nicht so sehr die Logik wie die Physik an. Nachdem wir nun drei Auffassungen über die Universalien zusammen mit den Belegstellen für sie angegeben haben, wollen wir zuerst der ersten, die von den Dingen ausging, nachgehen. Von ihr gibt es mehrere Varianten, insofern man in unterschiedlicher Weise äußert, daß es universale Dinge gibt. Einige nämlich sind der Auffassung, daß es von Natur aus zehn verschiedenartige Dinge im Hinblick auf die Unterscheidung von zehn Kategorien oder obersten Genera gäbe; denn sie sagen, in dem Sinne gäbe es universale Dinge - das heißt Dinge, die von Natur aus mit mehrerem in Gemeinschaft sein können -, daß sie annehmen, ein und dasselbe Dinge sei vom Wesen her so in mehreren, daß es wesensmäßig und identisch in diesem als auch in jenem Ding ist, jedoch unter dem Einfluß von verschiedenartigen Formen. Zum Beispiel so, wie das Lebewesen, das heißt eine von Natur aus beseelte und sinnesempfindliche Substanz, derartig in Sokrates, [dem Esel] Burnellus und in anderen ist, daß eben diese, welche in
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Sokrates ist und bei hinzukommenden Formen im Resultat Sokrates ergriff, auch wesensmäßig als ganze derartig in Burnellus ist, daß Sokrates hinsichtlich des Wesens in keiner Weise von Burnellus verschieden ist, aber in den Formen: da ja ein materiell völlig unterschiedsloses Wesen in diesem Ding durch die einen und in jenem durch die anderen Formen beherrscht wird. Hiermit scheint auch Porphyrios' Äußerung übereinzustimmen: „durch Teilhabe an der Spezies sind die vielen Menschen nur einer, der eine und gemeinsame Mensch aber ist durch die partikulären Menschen viele".29 Und dieser Auffassung gemäß hieße das „Prädiziertwerden über mehreres": das wesensmäßige Innewohnen von ein und demselben in gewissen Dingen, die durch gegensätzliche Formen unterschieden sind, so daß dieses den einzelnen Dingen wesentlich oder bedingt zukommt. Folgendes wenden wir dazu ein: wenn dieser Meinung zugestimmt werden kann, so unterschieden sich natürlich - sofern es gelänge, die Formen von der zugrundeliegenden Materie abzusondern, so daß das Zugrundeliegende völlig von ihnen frei wäre - Sokrates und Burnellus in nichts voneinander, sondern dieser und jener wären im Resultat völlig identisch. Sie geraten dadurch freilich in die schlimmste Ketzerei, wenn dies angenommen wird, da ja die göttliche Substanz, die sämtlichen Formen fernsteht, geradezu mit einer [gewöhnlichen] Substanz identisch sein müßte. Es gibt aber einige, die jene einzigartige Natur der Göttlichkeit - von der nach dem Zeugnis des Macrobius Piaton es nicht gewagt hat, zu sagen, was sie ist, indem er nur wußte, daß von niemand erkannt werden kann, wie sie beschaffen ist30 - weder zu den Substanzen, noch zu den Quantitäten, noch zu den Dingen der anderen Kategorien zählen. Sobald sie „göttliche Substanz" hören, ist es vielmehr so, als wenn man sagt: „göttliches Wesen". Damit scheinen viele gültige Lehrmeinungen von Philosophen übereinzustimmen, vor allem von denen, die die Dialektik behandeln, wie Aristoteles dort, wo er im eigentlichen Sinne auf das Proprium der Substanz verweist und sie, obgleich sie zahlenmäßig ein und dasselbe ist, als aufnahmefähig für Entgegengesetztes bezeichnet, 31 und auch Porphyrios, wenn er äußert, daß eine jede Substanz an einer einzigen Spezies teilhat, jedoch an mehreren Akzidentien. 32 Boethius wiederum sagt in der „Topik", wo er das Exempel einer Beschreibung gibt: „Substanz ist das, was allen Akzidentien zugrunde gelegt werden kann; die Weißheit jedoch usw."33 Da es also der Überlieferung der Philosophen zufolge klar ist, daß die göttliche Natur keinen Akzidentien zugrunde gelegt ist, ist es notwendig, daß sie überhaupt von den Substanzen zu trennen ist. Wenn wir aber besser der göttlichen Entscheidung als Beweismittel entsprechen wollen - was Gott hinsichtlich der Welt darstellt, wurde zuerst offenbar, als er, zur Samariterin gewandt, spricht: „Gott ist Geist" 34 -, dann wird es notwendig sein, daß wir Gott zu den Substanzen zählen, insofern ein jeder Geist [spiritus] eine Substanz ist. Hat jemand intensiv über die Definition der Substanz nachgedacht, so wird er sehen, daß nichts treffender als „Substanz" bezeichnet werden kann als Gott, da er
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tatsächlich ein für sich existierendes Ding ist und nichts anderes [zu seiner Existenz] benötigt. Alles andere aber existiert durch ihn und kann ohne ihn nicht sein. Dies scheint Aristoteles zu meinen, wenn er sagt: „Das, was zu dem ohne jede Verknüpfung Ausgesagten gehört, bezeichnet jeweils entweder eine Substanz, oder eine Qualität, oder eine Quantität usw."35 Er beweist eindeutig, daß das Nomen „Gott" die Kennzeichnung einer Substanz ist, da es ja kein anderes Ding bezeichnet. Wie nun aber die oben angeführten gültigen Lehrmeinungen der Philosophen zu begreifen sind, muß aufmerksam untersucht werden. Wenn Aristoteles sagt, daß es das Proprium [der Substanz] sei, daß sie, obgleich usw.36 - so wird „Substanz" im strengen Sinne verstanden, nämlich als ein existierendes Ding, das wesentlich wandelbar ist. Das anerkennt auch Boethius, wenn er sagt: „Substanz ist das, was allen Akzidentien zugrunde gelegt werden kann usw."37 Denn „Substanz" wird auf zweifache Weise aufgefaßt: einmal als ein für sich existierendes Ding, das nicht wandelbar ist - und in dieser Bedeutung behandeln die Philosophen die Substanz nicht; zum anderen jedoch als ein für sich existierendes und wandelbares Ding. Oder Aristoteles versteht das Proprium in einem weiteren Sinne als Porphyrios. Denn als das eigentliche Proprium der Substanz bezeichnet er das, was nur auf sie, aber nicht auf sie als ganze zutrifft. Das hingegen, was Boethius in der „Topik" ausspricht, muß man eher als angenommene Meinung, denn als eigene Auffassung betrachten, insofern er dort verschiedene sophistische Ausdrücke zur Übung des Lesers einführt. Der Gedanke von Porphyrios aber muß eher in einem verneinenden Sinne als in einem bejahenden ausgeführt werden, nämlich so: eine jede Substanz hat Anteil an einer einzelnen Spezies, jedoch an mehreren Akzidentien, das heißt, daß keine Substanz an mehreren untersten Spezies Anteil hat, wohl aber an mehreren Akzidentien. Und dies trifft nicht nur wegen Gott, sondern vielleicht auch auf Grund von anderen Substanzen, wie zum Beispiel beim Phönix, zu. Der zuvor genannten Auffassung gemäß ist es also notwendig, daß die göttliche Substanz mit jeder beliebigen Substanz identisch ist; und es steht fest, daß sie wahrhaftig, einfach und frei von jeglicher Eigenheit ist. Wenn es nun in allem eine wesensmäßig identische Substanz gibt, so daß diejenige, die durch die Vernunftbegabung geprägt ist, von der Vernunftlosigkeit beherrscht wird - wie kann dann verneint werden, daß eine vernunftbegabte Substanz dasselbe wie eine nichtvernunftbegabte Substanz ist? Diesen Einwänden kann man sich durchaus nicht entziehen, wenn bewiesen wird, daß ein und dieselbe Substanz durch ausnahmslos alle Formen geprägt wird. Denn wenn jemand ein und dieselbe Substanz so betrachtet, daß sie sowohl von der Weißheit als auch der Schwärze, als auch vom Sitzen beherrscht wird, wer wird dann verneinen, daß es eine „sitzende weiße Substanz" gibt? Wenn jemand jedoch meint - ausgehend davon, daß das Vernunftbegabte das Vernunftlose sei -, daß die weiße Substanz eine sitzende ist, und daß, während die erstgenannten Formen füreinander konträre sind, die letzteren es aber nicht sind, so
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unterliegt er einem Irrtum, da die ersten weder hinsichtlich des Wesens mehr entgegengesetzt sind als die letzten - denn die Qualität soll überall wesentlich gleich sein noch hinsichtlich der Angrenzung [adiacentia], denn sie grenzen an ein und derselben Substanz an. Wenn aber jemand sagt, daß diese Formen ihren Gegensatz von den entgegengesetzten Formen haben, durch die sie geprägt werden, so unterliegt er einem Irrtum, weil er mit dieser Begründung nicht zeigen kann, woher jene den Gegensatz erlangen. Ferner: wenn wesensmäßig dieselbe Substanz in den einzelnen Dingen ist, wie kann man dann diese Substanz wahrheitsgetreu als „einfach", jenes Singuläre aber als „zusammengesetzt" bezeichnen, wo es doch hinsichtlich der Substanz eine Verschiedenheit oder ein Überragen [bei diesem Singulären] nicht gibt. Wenn außerdem schlechthin die Substanz wahrnimmt, und die Substanz dieser und jener Seele völlig identisch ist, nimmt etwa dann, wenn diese Seele wahrnimmt, auch jene wahr? Oder wird dann, wenn diese Seele gestraft wird oder traurig ist, auch jene gestraft und ist auch jene traurig? Für jetzt soll dies gegen die zuvor genannte Auffassung Gesagte genügen. Es gibt andere, die die Allgemeinheit den Dingen zuweisen und der Auffassung sind, daß ein und dasselbe Ding universal und partikulär ist. Denn sie behaupten, daß indifferent - und nicht essentiell - ein und dasselbe Ding in verschiedenen untergeordneten ist. Wenn sie zum Beispiel sagen, daß dasselbe in Sokrates und Piaton ist, dann verstehen sie unter „dasselbe" das Indifferente, das heißt sich Gleichende. Und wenn sie sagen, daß dasselbe über mehreres prädiziert wird oder gewissen Dingen innewohnt, dann ist es genauso, als wenn man direkt sagen würde: daß gewisse Dinge in einer Natur übereinstimmen, das heißt ähnliche sind, wie zum Beispiel darin, daß sie Körper oder Lebewesen sind. Sie räumen, wie gesagt, entsprechend dieser Auffassung ein, daß ein und dasselbe Ding universal und partikulär ist, jedoch in verschiedener Hinsicht: daß es universal ist dadurch, daß es eine Gemeinschaft mit mehreren hat, und daß es partikulär ist in bezug darauf, daß es von den übrigen Dingen verschieden ist. Sie sagen nämlich, daß die einzelnen Substanzen durch die gegenseitige Trennung ihres je eigenen Wesens voneinander so verschieden sind, daß in keiner Weise diese Substanz mit jener identisch ist, auch wenn ihre Materie völlig frei von Formen wäre; daß also ihnen zufolge das Prädiziertwerden über mehreres so beschaffen ist, als wenn man sagte: es gibt einen bestimmten Status, an welchem viele [Dinge] teilhaben und hinsichtlich dieser Teilhabe übereinstimmen; das Prädiziertwerden über ein Einzelnes hingegen sei so beschaffen, als wenn man sagte: es gibt einen bestimmten Status und hinsichtlich der Teilhabe an diesem stimmen die vielen [Dinge] gerade nicht überein. Dieser Auffassung treten wir nun entgegen und wollen den Sinn jener Ausführungen aufmerksam untersuchen. Ich meine, daß an erster Stelle untersucht werden muß, in welcher Hinsicht Porphyrios vom „Prädiziertwerden über mehreres" spricht, wobei er gerade die Individuen ausnimmt, obwohl jene meinen, daß die Individuen
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über mehreres prädiziert werden. Sie sagen nun zu mir, daß, wenn gesagt wird, das Genus würde über mehreres prädiziert, dies gleichsam folgenden Sinn hat: insofern das Genus ein Genus ist, wird es über mehreres prädiziert - was nicht unwidersprochen bleiben kann, da es danach notwendig wäre, daß die Definition weniger bekannt als das Definierte wäre, da ja das bislang unklare Definierte zur Erklärung seiner selbst verwendet wird. Da es ferner die Definition des Genus ist, daß es prädiziert wird usw., muß man auch zugestehen, daß ein Individuum auf Grund des Individuumstatus ein Genus ist, da es ja dadurch, daß es über mehreres prädiziert wird, etwas Lebewesen ist. Wieso können sie also äußern, daß das „Prädiziertwerden über mehreres" - was auf das Genus zutrifft - ein Genus vom Individuum trennt, wo doch genau dasselbe auf ein Individuum zutrifft? Wir wollen einmal sehen, welche Differenz es zwischen einem Genus und den Individuen in folgender Hinsicht geben könnte: durch den Genusstatus kommt es dem Genus zu, über mehreres prädiziert zu werden; dasselbe, nämlich das „Prädiziertwerden über mehreres" trifft auch auf Grund des Genusstatus auf ein Individuum zu. Einem Genus wird ferner das „Prädiziertwerden über mehreres" insofern abgesprochen, insofern es Individuum ist; dasselbe wird dem Individuum abgesprochen, da kein Individuum durch den Individuumstatus das „Prädiziertwerden über mehreres" besitzt. Inwiefern wird also durch das „Prädiziertwerden über mehreres" eine Differenz geltend gemacht? Ich erwähnte, daß es einige gibt, die unter Hinweis auf eine Differenz sagen, daß ein Genus wegen des Genusstatus über mehreres prädiziert wird und daß ein Individuum wegen des Individuumstatus von der Prädizierbarkeit über mehreres frei ist. Ich staune jedoch über einen so erheblichen Irrtum einer zahlreichen Menge, wenn sie meinen, damit eine Differenz kenntlich zu machen, daja dem Sinn nach dem Genus nichts beigegeben wurde, wodurch es sich vom Individuum entfernte. Denn wenn gesagt wird, daß das Genus über mehreres prädiziert wird und das Individuum nicht, so wird von dem Genus nicht schlechthin das „Prädiziertwerden über mehreres" behauptet, sondern dem Genus wird das „Prädiziertwerden über mehreres" auf Grund des Genusstatus beigegeben; wenn gesagt wird, daß das Individuum nicht über mehreres prädiziert wird, so wird dem Individuum das „Prädiziertwerden über mehreres" nicht schlechthin abgesprochen, sondern es wird dem Individuum auf Grund des Individuumstatus fortgenommen. Hiermit also machen sie keinerlei Differenz kenntlich, da das, was für das Genus bejaht wird, nämlich das „Prädiziertwerden über mehreres" auf Grund des Genusstatus wahrheitsgemäß auch für das Individuum bejaht werden kann; und das, was dem Individuum abgesprochen wird, kann auch dem Genus abgesprochen werden. Und weiter: wieso sagt Boethius im Kommentar zu „Peri hermeneias", daß der Satz „Mensch geht" hinsichtlich der Spezies Mensch falsch ist, in bezug auf einen einzelnen aber richtig ist?38 Ist er etwa gleichermaßen auch für den universalen Menschen wahr, daja das Universale und das Partikuläre dasselbe sein sollen? Aber
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vielleicht wirst du äußern, daß das Gehen diesem Universale direkt abgesprochen werden kann, dem Partikulären aber nicht, und zwar in der folgenden Weise: kein Universale geht auf Grund jenes Status als Universale. Genauso aber läßt sich sagen, daß kein Partikuläres auf Grund seines Status als Partikuläres über das Gehen verfugt. Die Aussage: „dadurch, daß es ein Universale ist, geht es nicht" läßt sich freilich auf zweifache Weise verstehen, entweder bei eingeschlossenem,nicht' oder bei vorgesetztem. Bei eingeschlossenem folgendermaßen: „ein Universale geht nicht, weil es ein Universale ist" - wie wenn man sagt: die Eigenheit des Universale läßt das Gehen nicht zu, und dies ist völlig falsch, da ja die Allgemeinheit, die Partikularität und das Gehen ein und denselben Zugrundeliegenden zukommen. Wenn es vorangestellt wird, dann versteht man sie so: „nicht deshalb, weil es ein Universale ist, geht es", was der folgenden Aussage entspricht: „nicht deshalb, weil es ein Lebewesen ist, hat es einen K o p f , was bedeutet: es erfordert die Eigenheit des Universale nicht, daß es geht, wie es auch die Natur des Lebewesens nicht erfordert, daß es einen Kopf besitzt. In der gleichen Weise aber wird das auch für das Partikuläre zutreffen, da ja die Eigenheit des Partikulären nicht das Gehen verlangt. Was soll es nun heißen, wenn Boethius sagt, daß jene letzte Differenz - nämlich das „Prädiziertwerden hinsichtlich des Was" - unter Ausschluß der Akzidentien zur Geltung kommt, 39 obgleich doch für die Akzidentien das Prädiziertwerden über die Substanzen hinsichtlich des Was häufig charakteristisch sein soll, da nach diesen Leuten die Individualität eine bestimmte Form ist, die allen individuellen Dingen akzidentiell innewohnt? Und dann wohnt sie auch dieser bestimmten Individualität akzidentiell inne, da die Individualität in der gleichen Hinsicht wie Sokrates als „Individuum" bezeichnet wird. Nichtsdestoweniger wird die Individualität über diese bestimmte Individualität in Hinsicht auf das „Was" prädiziert. Wenn sie ferner die Prädikation den Dingen zuschreiben sowohl als essentielle Prädikation, wie auch als Prädikation des Angrenzenden, wie verstehen sie dann die Regeln der Beweisführungen als wahr? Zum Beispiel diese: „wenn etwas über etwas Bestimmes prädiziert wird, so wird diesem der Gegensatz von jenem abgesprochen"? Verstehen sie nämlich diese Regel so, daß, wenn das eine Ding in einer Prädikation etwas zukommt, diesem Ding dann etwas dazu Entgegengesetztes in einer Prädikation abgesprochen wird - so kann dies durch keinen Schluß bestätigt werden. Auch nicht durch diesen Schluß: „es ist ein Mensch, also ist nicht Stein". Man muß nämlich nicht zugestehen, daß er falsch ist, sobald kein passender Gegensatz mehr da ist. Zwar sind das Sitzen und der Mensch zueinander entgegengesetzte Spezies, und dennoch ist es deshalb nichtsdestoweniger charakteristisch für das Sitzen, daß es als Angrenzendes über denselben prädiziert wird, über den auch Mensch essentiell prädiziert wird. Weiter: da das „Prädiziertwerden" in zweifacher Weise verstanden wird, ergibt sich als Frage, wie es in der Definition des Genus verstanden werden soll. Denn es ist nicht notwendig einzuräumen, daß, wenn es in der einen Prädikationsart abge-
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sprachen wird, dies deshalb auch in der anderen so sein muß. Fassen wir es aber in der folgenden Weise auf: „wenn das eine Ding in einer gewissen Prädikation etwas zukommt, dann kommt das ihm Entgegengesetzte diesem nicht zu" - so ist diese Auslegung offenkundig falsch, ganz gleich, ob hier das Prädiziertwerden essentiell oder im Sinne des Angrenzenden verstanden wird. Wird es als „essentielles Prädiziertwerden" verstanden, dann steht in dieser Definition [des Genus] das „dem Was nach" völlig überflüssig. Wenn es jedoch als „Prädiziertwerden im Sinne des Angrenzenden" verstanden wird, dann trifft das nicht auf jedes Genus zu, da nicht jedes Genus das „Prädiziertwerden im Sinne des Angrenzenden" besitzt. Es muß also im weiteren Sinn gefaßt werden, d. h. sowohl als „essentielles Prädiziertwerden" als auch als „Prädiziertwerden im Sinn des Angrenzenden". Da eine ganz bestimmte Weißheit nun über sich selbst essentiell und über Sokrates im Sinn des Angrenzenden prädiziert wird, wird sie gewiß über mehreres prädiziert. Und somit wird ein Individuum über mehreres prädiziert, was falsch ist. Sagt nun jemand, daß die partikulären Akzidentien von Porphyrios nicht ausgeschlossen worden sind, sondern die partikulären Substanzen, so wird er durch folgendes eindeutig des Irrtums überfuhrt werden: „Von der Differenz und den gemeinschaftlich den Dingen zukommenden Akzidentien [unterscheidet sich das Genus wiederum dadurch, daß die Differenzen und die den Dingen gemeinschaftlich zukommenden Akzidentien - selbst wenn sie über mehreres, sich der Spezies nach Unterscheidendes ausgesagt werden - nicht im Hinblick auf das Was ausgesagt werden.]"; 40 denn er hätte keineswegs eine genaue Kennzeichnung der Allgemeinbestimmungen gegeben, würde er für dies alles gleichermaßen das „Prädiziertwerden über mehreres" gelten lassen. Unter Ausschluß der partikulären Nomina geben einige die folgende Bestimmung [des Genus]: „das, was auf ein und dieselbe Weise über mehreres prädiziert wird, nämlich entweder essentiell oder im Sinne des Angrenzenden". Aber auch bei dieser Lösung frage ich nach der zweiten Differenz des Genus, d. h. „das, was über mehreres, sich der Spezies nach Unterscheidendes prädiziert wird": inwiefern sind damit die untersten Spezies und die Propria ausgeschlossen? Denn „Weißheit" wird doch nach einer Prädikationsweise - nämlich im Sinn des Angrenzenden - über sich der Spezies nach Unterscheidendes prädiziert, etwa den Schwan und die Perle; und ebenso „Vernunftbegabung" über Gott und den Menschen. Dieses gegen die Auffassung derjenigen Gesagte, die äußern, daß ein und dasselbe Ding universal und auch partikulär ist, mag genügen. Es gibt wieder andere, die offenbar in anderer Weise behaupten, daß es universale Dinge gibt. Indem sie die Allgemeinheit den Dingen übertragen, sagen sie, daß das eine Ding ein universales und das andere ein partikuläres sei, das heißt, daß eines darum, weil es ein universales ist, die eine Eigenschaft besitzt, und darum, weil es ein partikuläres ist, eine andere Eigenschaft besitzt. Wie zum Beispiel „Lebewesen" und „Körper" ein Universale ist, jedoch nicht ein bestimmtes Lebewesen oder ein
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bestimmter Körper. Daß „Lebewesen" ein Universale ist, verhält sich nämlich nach dieser Auffassung so, als wenn gesagt wird: „es gibt vieles, von dem jedes Einzelne ein Lebewesen ist"; und daß „dieses bestimmte Lebewesen" nur über ein Einzelnes ausgesagt wird, ist so, als wenn gesagt wird: „nur ein einziges Ding ist dieses bestimmte Lebewesen". Nun wollen wir die dargestellte Auffassung kurz erörtern. Zuerst ist zu fragen, wie ich meine, in welcher Weise nach dieser Auffassung sich das Individuum vom Universale auf Grund des „Prädiziertwerdens über mehreres" unterscheidet, obgleich „Individuum" das „Prädiziertwerden über mehreres" zukommt, das heißt, es gibt mehreres, von dem jedes Einzelne Individuum ist. Aber vielleicht wirst du sagen, daß das „Prädiziertwerden über mehreres" zu Recht in der Definition des Universale steht unter Ausschluß der Individuen, da jedem Universale das „Prädiziertwerden über mehreres" zukommt, aber kein Individuum über mehreres prädiziert wird. Auf genau dieselbe Weise aber wird man auch eine Differenz zwischen dem Universale und dem Lebewesen aufzeigen können, da jedes Universale über mehreres [prädiziert wird], aber kein Lebewesen über mehreres [prädiziert wird], Porphyrios hat also das Beispiel nicht zutreffend angeführt, wenn er sagt: „Genus i s t . . . zum Beispiel,Lebewesen' ",41 da sich das Lebewesen von dem Genus und anderen Universalien hinsichtlich des „Prädiziertwerdens über mehreres" genauso unterscheidet, wie das Individuum. Ferner muß man nach dieser Auffassung einräumen, daß ein Nicht-Universale ein Universale ist, und daß ein Ding, das nicht über mehreres prädiziert wird, über mehreres prädiziert wird; sie räumt auch ein, daß vieles, von dem ein jedes über mehreres prädiziert wird, als „Individuum" bezeichnet wird. Es gibt eine weitere Auffassung von den Universalien, die vernünftiger ist und die Allgemeinheit weder den Dingen, noch den Wörtern überträgt; vielmehr legt sie dar, daß die sprachlichen Ausdrücke entweder partikulär oder universal seien. Das meint offensichtlich auch Aristoteles, das Haupt der Peripatetiker, bei der Definition des Universale, wenn er sagt: „Allgemeines ist das, was [herkömmlich] über mehreres prädiziert zu werden pflegt";42 das heißt, er erfaßt dies ausgehend von seiner Herkunft [nativitas], die in der bewußten Einsetzung [institutio] besteht. Denn was sonst ist die Herkunft der sprachlichen Ausdrücke oder Nomina als eine bewußte Einsetzung durch die Menschen? Das nämlich, was ein Nomen oder ein Ausdruck ist, kommt ihm zu durch bewußte Einsetzung seitens der Menschen. Was aber ist die Herkunft eines Wortes oder eines Dinges anderes als eine Schöpfung einer Natur, da ja das eigentümliche Sein eines Dinges oder eines Wortes allein im Wirken einer Natur besteht? Daher macht die Herkunft die Verschiedenheit von Wort und Ausdruck aus, wenngleich hinsichtlich des Wesens Identität besteht. Dies kann besser durch ein Beispiel erklärt werden: obgleich dieser Stein und dieses Bild[nis] innerlich dasselbe sind, so ist dennoch dieser Stein ein Werk des einen und dieses Bild[nis] eines anderen. Denn es ist erwiesen, daß der Status „Stein" einzig
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aus der göttlichen Substanz resultieren kann, daß hingegen der Status ,,Bild[nis]" [einzig] durch die Übereinkunft von Menschen gestaltet werden kann. Wir sprechen also darum davon, daß die sprachlichen Ausdrücke universal sind, da ihnen auf Grund ihrer Herkunft, das heißt auf Grund von bewußter Einsetzung durch Menschen, das „Prädiziertwerden über mehreres" zukommt; hingegen sagen wir, daß die Wörter oder Dinge unmöglich universal sind, obgleich es feststeht, daß alle sprachlichen Ausdrücke Wörter sind. Denn würde ein Ding über mehreres prädiziert werden, so ließe es sich gewiß in mehreren Dingen feststellen. Folgendes wird gegen diese Auffassung eingewendet: zunächst wird gefragt, warum man denn davon ausgeht, daß die Ausdrücke und nicht die Wörter universal sind, wo doch die Beschreibung eines Genus sowohl auf Wörter als auch auf sprachliche Ausdrücke zutrifft. Worüber nämlich die Beschreibung prädiziert wird, darüber wird auch das Beschriebene prädiziert; die Beschreibung fur das Genus wird aber über das Wort prädiziert, da eben ein Wort dasjenige ist, was über mehreres prädiziert wird, das sich der Spezies nach unterscheidet; also ist ein Wort ein Genus. Folgendermaßen wird dieser Einwand aufgelöst: zur obigen Argumentation „ein Wort ist das, was prädiziert wird über mehreres usw., folglich ist ein Wort ein Genus" - paßt nicht die Regel: „Worüber [die Beschreibung] prädiziert wird usw.", obgleich „das, was prädiziert wird über mehreres usw." die Beschreibung eines Genus ist. Diese Regel: „Worüber [die Beschreibung] prädiziert wird usw." muß folgendermaßen verstanden werden: was an sich über das verfügt, worin die Beschreibung eines Genus ihre genaue Begrenzung erfährt, das heißt, was an sich über das Ding des Definierten verfügt. Ein Wort hingegen verfügt nicht über das, worin die Beschreibung [des Genus] ihre genaue Begrenzung erfährt und was durch die Definition in eine Verbindung gebracht wird [copulatur], nämlich über die Prädizierbarkeit über mehreres, sondern es ist das, was prädiziert wird, da es ein prädizierbarer Ausdruck ist. Das obige Gegenargument wird durch diese Regel also nicht bestätigt. Somit wird es klar, daß die Auffassung von jenen sehr leichtfertig ist. Wenn aber jemand die Genusdefinition aufmerksam betrachtet, dann wird er gewiß zu dem Schluß kommen, daß „das, was prädiziert wird über mehreres usw." unmöglich als Genusdefinition bezeichnet werden kann, da der Prädikation von diesem keinesfalls ein Genus folgt. Dessen Definition wird nur anders lauten können, wenn dem Genus selbst die Kopulation eignet. Man könnte also sagen, daß die Definition des Genus lautet: „das Prädizierbare über mehreres, was sich der Spezies nach unterscheidet usw."; und worüber die Definition prädiziert wird, darüber wird auch das Definierte prädiziert, das heißt: was in sich den Träger einer kopulierten Definition einschließt, schließt auch den Träger des kopulierten Definierten ein. Wenn jedoch jemand unnachgiebig meint, daß eben diese letzte Definition des Genus über das Wort prädiziert wird, da ja ein Wort prädizierbar ist usw., so geht er
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fehl. Denn dort wird eben nicht die Definition eines Genus prädiziert, da ja nicht jenes Enthaltensein [inesse] nachgewiesen wird, wodurch die Definition kopuliert ist, nämlich eine bestimmt geartete Prädizierbarkeit, da dort das Adjektiv „prädizierbar" im substantivischen Sinne gebraucht wird. Sage ich zum Beispiel: „Sokrates ist ein Weißes", das heißt ein weißes Ding, dann verknüpfe ich [in der Aussage] mit „Weißes" keinesfalls eine Form, auf die sich das Prädikat bezieht. Das ist dadurch bedingt, daß es im substantivischen Sinne gebraucht ist, wogegen jedes Adjektiv mit einer Form verknüpft ist. Das, was von Porphyrios stammt und als Gegenargument angeführt wird - denn dieser meint offenbar, daß „das, was über mehreres ausgesagt wird usw.", als Ganzes die Definition des Genus ist -, widerlegt die obige Auffassung nicht. Denn er sagt: „Indem sie diesen Sinn beschreibend kennzeichneten, formulierten sie, daß ein Genus das ist, was über mehreres prädiziert wird usw.";43 er versteht „Genus" hier als Prädikat, nicht als Subjekt. Denn das Genus ist nicht das, was über mehreres prädiziert wird usw., sondern er begreift es so: Das, was über mehreres prädiziert wird, ist ein Genus, als sagte er geradezu: ein über mehreres Prädizierbares usw. ist ein Genus. Ist dieses Wort dieser Ausdruck, und ist dieser Ausdruck ein Genus, inwiefern kann dann begründet verneint werden, daß dieses Wort ein Genus ist? - Hiervon gibt es folgende Auflösung: Wenn wir sagen, „dieser Ausdruck ist ein Genus", dann ist das das Gleiche, als sagten wir „ein Ausdruck von dieser Einsetzung [institutio] ist ein Genus". Wenn wir jedoch sagen: „dieses Wort ist ein Genus", so wäre das das gleiche, als sagten wir: „dieses einzelne Wort hier ist prädizierbar usw.", was falsch ist. Denn es ist erforderlich, es zuerst mit dem einen essentiell in eine Aussagenverbindung zu bringen und danach mit einem anderen, was ausgeschlossen ist. Denn es ist ein Dictum und kann nicht im weiteren Sinne gebraucht werden. Somit lassen wir die folgenden Aussagen als wahre gelten: „Dieses Nomen ist ein Genus", „dieses Nomen ist ein Universale"; ebenso: „dieser Ausdruck,Lebewesen' ist ein Genus", „dieses Wort,Lebewesen' ist ein Genus und ein Universale", und weiterhin alle die, denen ein Wort zugrunde liegt, das eine bewußte Einsetzung anzeigt - das heißt, was eben nicht einfach einen Gegenstand [essentia] oder eine sprachliche Äußerung anzeigt, sondern was auf einen Bedeutungsinhalt [significatio] verweist und eine Allgemeinheit prädiziert, wie es zum Beispiel die folgenden Wörter tun: „Genus", „Universale", „Ausdruck", „Wort", „Lautfolge", „Aussagesatz". Ein Wort hingegen, was einfach auf einen Gegenstand verweist, ist zum Beispiel „Lebewesen", „Mensch", „Stimme", „Laut der Luft" usw. Beachte jedoch, daß die folgende Aussage richtig ist: „das Genus ist ein Wort, und die Spezies ist ein Wort". Denn sie ist das gleiche, als wenn man sagte: „ein Genuswort oder ein Spezieswort ist ein Wort". Die hierzu umgekehrten Aussagen, nämlich: „das Wort [,Lebewesen'] ist ein Genus, oder das Wort [,Mensch'] ist eine Spezies", darf man nicht anerkennen, obwohl durch die genannten Aussagen eine
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dingliche Identität [zwischen dem Ausdruck und dem Genus bzw. der Spezies] ausgedrückt wird, die sich überall nachweisen läßt. Denn folgende Aussagen anerkennen wir: „dieser Status Lebewesen ist", „dieses materielle Ding Sokrates ist Sokrates", Jedes von ihnen ist etwas". Die umgekehrten Aussagen verneinen wir völlig, das heißt: „Mensch ist dieser Status Lebewesen", „Sokrates ist dieses materielle Ding Sokrates", „etwas ist jedes von diesen da". Nachdem dies so einer Entscheidung zugeführt wurde, muß klar sein, daß die Genera und Spezies - auch wenn niemand etwas sagt - nichtsdestoweniger da sind. Denn sage ich: „das Genus oder die Spezies ist" - so übertrage ich nichts auf sie, sondern ich weise eine vorliegende Einsetzung auf, wie es oben schon gesagt wurde. Nachdem diese Bemerkungen vorausgeschickt wurden, wollen wir uns nun den zu lösenden Fragen hinsichtlich der Genera und Spezies zuwenden, die selbst Porphyrios nicht zu lösen unternahm. Dreierlei gibt es bei ihnen zu erforschen: es wird nämlich gefragt, warum die Problemstellungen die Universalien und nicht das viele Singuläre betreffen sollen; weiter ist zu untersuchen, was diese Problemstellungen bedeuten und schließlich wird der formale Aufbau [der Problemdiskussion] durch Boethius betrachtet. Nicht zu Unrecht wurden diese Fragen in Hinsicht auf die Universalien und nicht in Hinsicht auf das viele Singuläre gestellt, obgleich das viele Singuläre die Dinge als getrennte und von allen anderen verschiedene kennzeichnet und wir sie gewissermaßen durch eine ganz besondere Wahrnehmung direkt vors Auge fuhren. Die Universalien hingegen geben nicht eine genaue Unterscheidung einer Person. Darum scheinen sie zu keinem vernünftigen Gedanken zu fuhren, da jeder vernünftige Gedanke von einer Person auszugehen scheint, insofern wir das, was wir durch die Sinne erfassen, durch den Gedanken überdenken. Wie die Sinne, die Führer des Gedankens sind, die Dinge als getrennte unter Einschluß äußerlicher Formen erfassen, so begreifen freilich die Gedanken, die Nacheiferer der Sinne, dieselben Dinge auf eine andere Weise. Die gedanklichen Fassungen der Universalien aber betrachten die Dinge keinesfalls als getrennte, obgleich jedes Ding entweder dieses oder jenes Bestimmte ist, sondern sie bezeichnen weder dieses noch jenes Bestimmte. Darum scheinen sie überhaupt nicht zu einem vernünftigen Gedanken zu führen, da nach den gedanklichen Fassungen der Universalien kein Ding klar bestimmt werden kann. Darauf nimmt Boethius Bezug, wenn er äußert: „Was kann denn ein Zuhörer als Erkenntnis gewinnen, wenn das Wort,Mensch' nicht sprachlich ausgeführt worden ist, das heißt in keinerlei nähere Bestimmung eingeschlossen wird?"44 Daß es nun wegen der Gedanken in bezug auf die Universalien eine Ungewißheit gibt, bekundet Boethius offen, indem er jenen Teil der Beweisführung, wo die Gedanken von den Universalien anscheinend als hohl und leer erwiesen werden, aufgelöst, jedoch den anderen Teil hinsichtlich der Dinge ungelöst übergeht. Auf einen solchen Zweifel hinsichtlich der Universalien zielt auch Aristoteles ab, wenn
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er bei der Behandlung der Substanz feststellt: „Denn was den zweiten Substanzen zugrunde liegt, ist nicht eins . . ,"45 Man muß wissen, daß solche Fragestellungen von Leuten kommen, die hinsichtlich der Bezeichnung von Dingen im Zweifel sind; und sie kommen durch Formulierungen von Philosophen zu diesem Zweifel, wie ζ. B. folgende: „Lebewesen ist ein Genus", „Lebewesen ist in mehreren Dingen", „Mensch ist ein Universale", „Mensch ist eine Spezies". Sie verstehen dabei die Nomina „Lebewesen" und „Mensch" in der eigentlichen und üblichen Bedeutung und lassen außer acht, daß die Philosophen diese Nomina transformiert haben in solche, die auf sich selbst verweisen [und nichts anderes bedeuten sollen], und zwar folgendermaßen: „Lebewesen ist ein Genus", das bedeutet, dieser Ausdruck „Lebewesen" oder dieses Nomen „Lebewesen" ist ein Genus. Wer hingegen der Unterweisung halber spricht und die von den Gelehrten benutzten Transformierungen erkennt, der versichert, daß nicht nur das, was der Fragesteller ausführlich erörtern will, sondern auch die Glieder der Einteilung, welche nach Meinung des Fragestellers auf Gegensätzen beruhen sollten, in gewisser Hinsicht keine Gegensätze sind. Jedoch faßt er bei der Prüfung der Fragen die Worte anders als jener auf, als dieser die Probleme untersuchte: denn der Fragesteller versteht die Frage, ob Genus und Spezies wirklich existieren, so, ob sie denn Dinge sind, die aus Subsistierendem entspringen; und die Frage, ob sie im Gegenteil etwa nur angenommen sind usw., versteht er so, ob sie nur in der bloßen Einbildung existieren, wie eine Chimäre. Der Auflöser der gestellten Fragen hingegen geht von folgender Auffassung der Fragen aus: ob die Genera und Spezies wirklich existieren heißt für ihn, ob sie wirklich existierende Dinge benennen, das heißt diejenigen Dinge, auf die sich die Nomina wie auch die Partizipien beziehen. Denn ein und dasselbe Ding ist in einem universalen und einem [dazugehörigen] partikulären Nomen Inbegriffen, und an dieser Stelle wird das Verb „existiert wirklich" [subsistit] vermittels Verbindung mit den Nomina „Genus" und „Spezies", die Ausdrücken verliehen wurden, von den Dingen auf einen Ausdruck übertragen. Wie zum Beispiel „Substanz" - ein Nomen, das eigentlich den Dingen zukommt dennoch zur Kennzeichnung von Nomina manchmal im weiten Sinn aufgefaßt wird, wie es auch Artistoteles bei der Behandlung der Substanz ausdrückt: „Jede Substanz scheint aber ein Dieses zu bezeichnen." 46 Diese Übertragung erfolgt nun aber so, daß der Lehrer einräumt, der Satz „Genera und Spezies existieren wirklich" sei falsch, da sein Sinn in folgendem besteht: „Gewisse subsistierende Dinge sind Genera und Spezies." In dieser Bedeutung negiert Boethius die Formulierung, wenn er nachweist, daß Genera und Spezies nicht existieren, noch vernünftig verstanden werden. 47 Dem anderen Teilglied der Problemstellung, nämlich daß sie nur in bloßen und reinen Gedanken existieren, stimmt er in folgender Weise zu: sie existieren nur in den Gedanken, das heißt sie sind nur auf Grund von Gedanken angenommen, die frei von Sinneswahrnehmung sind, das heißt von Gedanken,
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welche ein Ding nicht in Verbindung mit einer Form bezeichnen, die der Sinneswahrnehmung unterliegt. 48 Wenn aber jemand hinsichtlich der Spezies „Feuer" einen Einwand erhebt, so ist dies nicht von Bedeutung, da ja der Gedanke von dieser Spezies kein Ding erfaßt, das durch akzidentiellen Einfluß von außen geprägt wurde und durch Berührung festgestellt werden kann, sondern der Gedanke erfaßt das Ding in Einheit mit der substantiellen Wärme, welche unter keinen Umständen sinnlich wahrgenommen wird. Da aber der Gedankeninhalt des Terminus „Sohn" gerade so geartet ist - denn kein Ding unterliegt auf Grund eines Abstammungsverhältnisses der Sinneswahrnehmung - , hat er „bloße" [zu den Gedanken] hinzugesetzt, auf Grund des Freiseins von akzidentiellen Eigenschaften, d. h. die Gedanken erfassen die Dinge nicht als durch akzidentielle Formen geprägte. Wenn jemand entgegensetzt, daß wir unter dem Nomen „Mensch" - da es ein partikuläres Nomen ist - ein Ding verstehen, das durch die Einzigkeit geprägt wurde und damit auch durch eine akzidentielle Eigenschaft, dann sagen wir, daß wir an dieser Stelle die akzidentiellen Eigenschaften im strengen Sinn des Wortes verstehen, nämlich als solche Formen, daß die Substanz ohne sie wirklich existieren kann. Weil zu diesem aber das Nomen „dieses" gehört, nämlich „diese Substanz" oder „diese Seele", hat er „reine" [zu den Gedanken] hinzugesetzt auf Grund der personalen Trennung; das bedeutet, daß diese ein Ding nicht als von anderen wohlunterschiedenes erfassen, sondern vielmehr betrachten sie es hinsichtlich des Status, in dem die Einbeziehung einer mengenmäßigen Vielfalt ausgeschlossen ist. Wenn jedoch jemand sagt, daß dies nicht auf alle Universalien zutrifft und dabei den Fall setzt, daß eine Vorstellung von Aeacus gemacht wird, so geht er fehl. Denn er setzt nicht den Fall, daß eine Vorstellung von Aeacus entsprechend einem solchen Status gemacht wird, in welchem die Einbeziehung einer mengenmäßigen Vielheit möglich ist; vielmehr gibt er Gelegenheit, einen Begriff vom Sohn des Aeacus zu bilden in Entsprechung zu Aeacus. 4 9 „Ob sie Körperliches oder Unkörperliches sind": Der Fragende meint folgendes da doch die Genera und Spezies subsistierende Dinge sind und das Subsistierende einerseits Körperliches, andererseits Unkörperliches ist, ob dann die Genera und Spezies körperliche oder aber unkörperliche Dinge sind. Der Antwortende dies: Genera und Spezies sind Körperliches, das heißt, sie benennen voneinander getrennte Dinge, und sind Unkörperliches, das heißt sie benennen voneinander getrennte Dinge ungetrennt. Unter „Körperliches" wird nämlich das voneinander Wohlunterschiedene [discretum] verstanden, da vor allem im Körperlichen die gegenseitige Trennung der Dinge besteht; denn durch die körperlichen Dinge erreicht man die genaue Eingrenzung einer räumlichen Lage. Das Unkörperliche hingegen besitzt keine räumliche Eingrenzung, da die es von anderem eindeutig abgrenzende Bestimmung [terminus] nicht mittels der Kategorie „Raum" ermittelt werden kann. Demzufolge
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wird „Unkörperliches" auch als „Ungetrenntes" [indiscretum] verstanden und man spricht vom „Unkörperlichen" im Sinn des „Gestaltlosen" [informe]. Es heißt „und den reinen Gedanken", da das Unkörperliche zum reinen Begreifen eines Dinges ohne die akzidentellen Formen veranlaßt, ebenso wie die Pronomina die echten Substanzen unverfälscht bezeichnen. Es mag vielleicht den Anschein gegeben haben, daß sie etwas auf unkörperliche und ungetrennte Weise bezeichneten, was Gemeinsamkeiten von mehrerem sein sollen. Diesem Irrtum unterliegen diejenigen, die behaupten, das ein und dieselben Dinge essentiell in mehrerem existieren. Beachte aber, daß die folgende Aussage im eigentlichen Sinne falsch ist: „Genera und Spezies sind Körperliches", und auch diese: „Genera und Spezies sind Subsistierendes", welche wir jedoch in sinnbildlicher Bedeutung als wahr gelten lassen. Der Fragesteller meint es folgendermaßen: da sie Unkörperliches sind und es drei Genera von Unkörperlichem gibt - eines ist das in den Körpern existierende Unkörperliche, was ohne die Körper existieren kann, wie zum Beispiel die Seele; das andere Genus ist das Unkörperliche, was ohne die Körper nicht existieren kann, wie zum Beispiel die Weißheit; ein drittes Genus ist das Unkörperliche, was niemals in sinnlich wahrnehmbaren Dingen existiert, wie der Geist des Göttlichen -, so ist zu fragen, ob die Genera und Spezies in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen sind oder außerhalb von ihnen. Als „sinnlich wahrnehmbar" wird hier das verstanden, was in irgendeiner Weise der Sinneswahrnehmung unterliegt. Der Antwortende kommt zu folgender Auffassung: Bestimmte Genera und Spezies, nicht alle, existieren in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, das heißt, sie vermögen sinnlich wahrnehmbare Dinge zu bezeichnen oder zu benennen; ebenso existieren sie auch außerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, das heißt, sie vermögen Dinge zu bedeuten unter Ausschluß einer Form, die der Sinneswahrnehmung unterliegt: denn wenn die Dinge sämtliche Formen, die der Sinneswahrnehmung unterliegen, verlören, so könnten sie nichtsdestoweniger von einem Genus und einer Spezies benannt werden. Die Genera und Spezies existieren also durch die Benennung [appellatio] von etwas in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, und durch die Bedeutung[sfunktion] [significatio] existieren sie außerhalb dieser. Boethius erwähnt nun folgendermaßen, daß gerade in der letzten Frage Aristoteles und Piaton verschiedener Meinung sind: Aristoteles behaupte, daß alle Universalien in den Sinnendingen sind, jedoch außerhalb von ihnen begriffen werden; Piaton hingegen sei der Meinung, daß sie außerhalb von ihnen nicht nur verstandesgemäß erfaßt werden, sondern auch wirklich existieren. Ich aber meine, Aristoteles hat es so verstanden: die Genera und Spezies existieren in den Sinnendingen auf Grund des Benennens, d. h. ihrem Wesen nach benennen sie etwas; sie werden aber außerhalb [der Sinnendinge] verstandesgemäß erfaßt, da das Wissen über sie ohne jede Sinnlichkeit in unserem Besitz ist, denn sie geben keinerlei Anlaß zum Begreifen der Dinge gemäß der Einprägung von Formen, die die Dinge Gegenstand
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der Sinneswahmehmung sein lassen. Piaton hingegen sagt, daß die Genera und Spezies nicht nur außerhalb der Sinnendinge verstandesgemäß erfaßt werden, sondern auch außerhalb von ihnen subsistieren, da ja ungeachtet dessen, ob die Substanzdinge sämtlicher Formen entledigt wären, durch die sie Gegenstand der Sinneswahrnehmung sind, sie nichtsdestoweniger entsprechend den Gedanken von den Genera und Spezies wahrheitsgetreu bestimmt werden könnten. Offenbar gibt es also inhaltlich keine Meinungsverschiedenheit, wenngleich es hinsichtlich des Wortlautes den Anschein hat. Nach der Lösung der Probleme wollen wir nun zum Text [der „Isagoge"] zurückkehren: „ich werde es vermeiden . . .",50 das oben über die Genera und Spezies Dargelegte auszufuhren, wie auch das Dazugehörige, nämlich die eifrig vorgebrachten Thesen und deren Verteidigung in bezug auf jene drei Fragen, oder um noch eine vierte Frage anzuknüpfen: ob die beiden, d. h. Genera und Spezies, „in bezug auf diese [Sinnendinge] existieren", d. h. ob es notwendig ist, daß sie durch Benennung von etwas bestimmte real existierende Dinge zum Gegenstand haben, oder ob die Universalien auch bei völliger Abwesenheit von Dingen bestehen könnten. „Phönix" ist also darum kein Universale, weil er nicht mehrere Dinge zu umfassen vermag; so auch „Chimäre" nicht, da sie keinerlei Ding umfaßt. Darauf bezieht sich offensichtlich auch Aristoteles mit der Formulierung: „Von den Dingen ist dieses allgemein, jenes aber einzeln." 51 Nach der Lösung der Probleme muß der Aufbau der Fragestellung [bei Boethius] untersucht werden, der aus der Problemlösung nicht zu entnehmen ist. Daß er in der Fragestellung anders ist als in der Auflösung der Frage - wie oben gesagt wurde - , hat seinen Grund darin, daß diese zwei Fragen von denjenigen, die die Sinnübertragung, welche die Gelehrten gebrauchen, anzweifeln oder nicht kennen, entsprechend der gewöhnlichen und eigenen Bedeutung der Termini gestellt wurden. Der Beantworter der Fragen hingegen will nicht nur den ganz besonderen Sinn der Ausdrücke aufdekken, sondern er untersucht auch sorgfältig die Sinnübertragung, welche die Gelehrten gebrauchten. Im Kommentar [zur „Isagoge"] befaßt sich Boethius in Anlehnung an Alexander ausfuhrlich mit den Auseinandersetzungen um die Genera und Spezies sowie mit dem Verlauf dieser Auseinandersetzungen, worüber er folgende paradoxe These formuliert: daß der Streit um die Genera und Spezies aufzugeben sei, da die Genera und Spezies weder existieren noch vernünftig begriffen werden, das heißt zu keiner vernünftigen Erkenntnis fuhren.52 Zunächst weist er für das Genus nach, daß es nicht existiert, da es weder Eins noch vieles ist. Daß es nicht Eins ist, beweist er so: alles, was existiert, ist darum, weil es zahlenmäßiges Eins ist; ein Genus aber ist nicht zahlenmäßiges Eins, also ist es nicht Eins.53 Weil aber jemand die Voraussetzung negieren könnte, beweist er sie und sagt, daß das Genus nicht zahlenmäßiges Eins ist, weil es weder ein gemeinsames Eins ist, wie etwa eine Zisterne, noch ein Eins, was kein Gemeinsames ist. Hinsichtlich des Eins, was kein Gemeinsames ist, besteht Gewißheit, da erwiesen ist, daß das Genus etwas Gemeinsames ist. Es gilt also
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nachzuweisen, daß es nicht ein gemeinsames Eins ist: Alles gemeinsame Eins ist nämlich entweder auf Grund seiner Bestandteile ein Gemeinschaftliches - wie ζ. B. eine Zisterne -, oder es ist ein gemeinsames Eins in einer zeitlichen Abfolge, indem es in den Gebrauch von [verschiedenen] Besitzern übergeht und dann wieder zu etwas Gemeinschaftlichem gemacht wird; oder es ist zur gleichen Zeit als Ganzes ein Gemeinschaftliches, wobei es für diejenigen, für die es ein Gemeinschaftliches ist, nicht die Substanz bildet - wie ζ. B. ein Theater.54 Ein Genus aber wird keiner dieser vier Arten von Gemeinsamem zugerechnet. Es ist also kein zahlenmäßiges Eins. Ein Genus ist aber auch nichts vieles, da es weder vieles von ein und derselben Natur, noch vieles von nicht ein und derselben Natur ist. Es steht aber fest, daß es nicht vieles von nicht ein und derselben Natur ist. Folglich ist es notwendig, daß es vieles von ein und derselben Natur ist, was wiederum falsch ist. Wäre es das, so würde, da eine jede solche Vielfalt in einem einzigen Genus enthalten ist, welches die Dinge als miteinander übereinstimmende bezeichnete, das Genus von jenem ebenfalls wieder eine Vielfalt von übereinstimmenden Dingen sein und über sich ein Genus haben und dieses wieder ein weiteres bis ins Unendliche, was unmöglich ist. Es ist also nicht vieles. Durch dieses abschließende Argument zerstört Boethius die Auffassung, die davon ausgeht, daß eine Ansammlung aller Substanzen ein Genus sei. Nachdem er die erste Paradoxie nachgewiesen hat, nämlich den Umstand, daß sie nicht existieren, beweist er die andere, das heißt, daß sie nicht vernünftig erkannt werden, so: Jeder Gedanke, den man von einem Ding hat und der anders ist, als das Ding sich wirklich verhält, ist leer und nichtig; und der Gedanke von der Genera und Spezies verhält sich im Hinblick auf ein Ding anders, als das Ding sich wirklich verhält; also ist er nicht vernünftig. Aus diesem wird insgesamt klar, daß die Genera und Spezies weder existieren noch vernünftig begriffen werden. 55 Diesen letzten Teil des Beweises löst Boethius auf und erledigt ihn, da er der Auflösung bedurfte, denn er ist ein sophistischer Beweis. Über den anderen Teil, durch den er nachweist, daß die Genera und Spezies nicht existieren, gibt er keine Entscheidung, da er dieser nicht bedarf, denn er ist wahr. Bedürfte nämlich jeder von beiden Teilen der Auflösung und löste er nur den einen von beiden auf, so handelte er unlogisch. Damit Boethius also nicht für töricht gehalten wird, sagen wir, daß die These „die Genera und Spezies existieren nicht" im eigentlichen Sinne in folgender Weise wahr ist; bestimmte Subsistenzen sind nicht Genera und Spezies; jedoch lassen wir als wahr gelten, daß ein Genus Existierendes ist, da es ja ein Laut ist. Die umgekehrte These hingegen, daß bestimmte Subsistenzen ein Genus sind, verneinen wir völlig, da es keinen universalen materialen Gegenstand [essentia] gibt, wie oben nachgewiesen wurde. Über jenen Teil der Argumentation hingegen, mit dem er unter Beweis stellt, daß
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die Gedanken von den Genera und Spezies leer sind, fuhrt er einen Entscheid im Sinne einer sophistischen Argumentation, da der Anfangssatz des gesamten Beweises wahr und falsch ist. Im folgenden Sinn ist er wahr: jeder Gedanke, der sich gegenüber einem Ding anders verhält, als dieses sich selbst verhält - d. h. ein Ding anders begreift, als es ist - , ist hohl und leer. Und in diesem genannten Sinn ist die obige Annahme falsch, da ja die Gedanken von den Genera und Spezies nicht annehmen, daß die Dinge anders seien, als sie wirklich sind. Dieselbe Aussage ist falsch im folgenden Sinn: jeder Gedanke, der sich gegenüber einem Ding [anders verhält, als sich dieses selbst verhält] - das heißt, jeder Gedanke, der im Erfassen eines Dinges über einen anderen Modus verfugt, als das Ding im Existenzmodus beschaffen ist - ist leer. In diesem Sinne ist die Annahme in dem obigen Beweis richtig, denn der Begriff „Körper" besitzt freilich im gedanklichen Erfassen einen anderen Modus, als den, in dem der Körper existiert; denn dieser Begriff erfaßt eine Substanz lediglich in Einheit mit der Körperlichkeit, wobei er sich auf keinerlei andere Form bezieht; der Körper hingegen existiert nicht ausschließlich mit jener einen Form zusammen. Wenn gleichfalls jemand von dem, der sich langsam fortbewegt, sagt, dieser würde sich schnell fortbewegen, so sagt er gewiß anders, daß er dies mache, als dieser selbst es tatsächlich macht, da er ja das schnell nennt, was eben jener nicht schnell macht. Und somit stellt sich heraus, daß die Gedanken von den Universalien weder leer noch hohl sind, obgleich sie beim gedanklichen Erfassen von Dingen über einen anderen Modus verfugen, als die Dinge in ihrem Existieren. A n dieser Stelle begegnet nun dreierlei, was es hinsichtlich der Universalien zu untersuchen gilt: [erstens] die Bedeutung und der Gedanke von ihnen, [zweitens] die Belehrung, die sie geben, und [drittens], in welchem Maße deren Imposition angemessen ist. Es ist nämlich üblich, nach der Bedeutung [significatio] und der gedanklichen Fassung dieser universalen Nomina zu fragen, das heißt danach, welche Dinge sie eigentlich bedeuten. Denn wenn ich das N o m e n „Mensch" höre, das mehreren Dingen gemeinsam ist, auf die es sich gleichermaßen bezieht, so stelle ich die Frage, zur Erkenntnis welchen Dinges ich durch es gelange. Wenn nun aber - wie es auf der Hand liegt - zur Antwort gegeben wird, daß der Mensch als solcher begriffen wird, dann schließt sich die Frage an, inwiefern das richtig ist, wenn nicht dieser oder ein gewisser andere bestimmte Mensch darunter begriffen wird, da jeder Mensch entweder dieser, jener oder ein anderer ist. Denn genauso, wie man sagt, daß dann, wenn ein Mensch wahrgenommen wird, notwendig dieser oder jener wahrgenommen wird, da jeder Mensch dieser oder jener ist, wird entsprechend auch über den Gedanken in Analogie zur Sinneswahrnehmung geurteilt. Ferner drückt [das Wort] „Mensch" nichts anderes als einen gewissen Menschen aus. Wer „Mensch" denkt, der denkt daher tatsächlich einen bestimmten Menschen und er denkt damit diesen oder jenen Menschen, was anscheinend völlig falsch ist.
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Meines Erachtens ist darauf zu antworten, daß keinerlei Widerspruch entsteht, wenn wir richtig überlegen wollen und beabsichtigen, die Bedeutungen der einzelnen Aussagen aufmerksam in Betracht zu ziehen. Denn wenn wir sagen „Mensch wird gedacht", dann hat das die Bedeutung, daß jemand mittels des Gedankens die menschliche Natur erfaßt, d. h. ein so beschaffenes Lebewesen betrachtet. Wenn man anschließend dann so fortfährt: „aber jeder Mensch ist dieser oder ein gewisser anderer, also begreift er diesen oder einen gewissen anderen" - dann geht man nicht richtig vor; vielmehr hätte man so sagen müssen: „aber jeder Gedanke, der,Mensch' denkt, denkt aktuell diesen oder jenen gewissen". Auf diese Weise könnte gewiß auch der mittlere Terminus [in dem betreffenden Syllogismus, d. h. „Mensch"] bewahrt werden und die Verbindung der äußeren Termini unter seiner Vermittlung richtig vonstatten gehen. Aber die Annahme ist falsch. Genauso, wenn man sagt: „ich begehre eine Kapuze, und jede Kapuze ist diese oder jene gewisse", so folgt dennoch nicht, daß ich diese oder jene gewisse begehre. Vielmehr würde der Beweisgang richtig sein, wenn es folgendermaßen ausgedrückt wird: „ich begehre eine Kapuze und jeder, der eine Kapuze begehrt, begehrt aktuell diese oder jene". Es ist somit nicht notwendig, daß ich dann, wenn ich „Mensch" denke, demzufolge diesen oder einen gewissen anderen denke, da es viele weitere unzählbare Begriffe gibt, durch die man sich ein Bild von einer menschlichen Natur macht. Vielmehr denke ich „Mensch" in einem indifferenten Sinn, d. h. ohne Aufweisung einer Person, gerade wie der Elementarbegriff [conceptio simplex] des Nomen „Mensch" oder wie elementar der Begriff des Nomen „Weißes". Diese Begriffe sind dessenungeachtet vernünftig, da gemäß den ihnen eigenen Gedanken vieles auf vernünftige Weise genauer bestimmt werden kann. So ist es auch beim Gedanken jeder", der sich auf sämtliche Menschen erstreckt, weil wir einen jeden [Menschen] entsprechend dem ihm zugehörenden Gedanken vernünftig einer genauen Bestimmung unterziehen und ein bestimmtes Sein von ihm bezeichnen können. Wenn ich zum Beispiel sage „Piaton ist ein Mensch", dann lege ich entsprechend der Bedeutung des prädizierten Terminus das Sein Piatons dar. Darum wird dieses prädizierte Wort von Boethius als der bedeutendere Teil eines Satzes und als darlegender Teil bezeichnet; als bedeutenderer auf Grund einer auszeichnenden Eigenschaft, und als darlegender, weil seiner Bedeutung gemäß dargelegt wird, was ein jedes ist. Durch die Satzbedeutung [totalis intellectus] - nicht aber in Reduktion auf einen einzelnen Terminus - wird das Wesen eines jeden erkannt. Darum sagt man auch, daß unter seiner Vermittlung die Darlegung und die genauere Bestimmung erfolgt. Nachdem von beidem, nämlich sowohl von den Dingen als auch von den Gedanken, die jeweilige Bedeutung aufgezeigt worden ist, wollen wir zeigen, welche Belehrung [doctrina] die Universalien geben. Es ist also zunächst festzustellen, daß alle voneinander getrennten Dinge der Zahl nach einander entgegengesetzt sind, wie etwa Sokrates und Piaton. Dieselben sind
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ebenfalls übereinstimmende aus einem bestimmten Grund, das heißt darum weil sie Menschen sind. Daß sie untereinander übereinstimmen, sage ich jedoch weder auf Grund der Sokratität oder der Platonität, noch wegen sonst eines Dinges, an dem sie gemeinsam Anteil haben; und trotzdem sage ich, daß sie wegen etwas Bestimmtem übereinstimmen, das heißt eine gewisse Übereinstimmung besitzen, auf Grund dessen nämlich, daß sie Menschen sind. Wenn ich zum Beispiel sage „ich möchte etwas", dann werde ich dem, der fragt „was willst du?", am besten antworten „eine goldene Burg"; denn wenn ich sage „ich möchte etwas", so sage ich, daß ich einen bestimmten Wunsch habe; und wenn jener sagt, „was willst du?", so fragt er, welchen Wunsch ich wohl besäße, und ich tue diesen dem Fragenden kund. Da nun in einer solchen Weise die Dinge untereinander übereinstimmen und sich notwendigerweise auch unterscheiden, hat es sich als erforderlich erwiesen, für die zu erreichende Belehrung Wörter zu finden, welche die getrennten Dinge bestimmten und die Übereinstimmung der Dinge bezeichneten. Nach dem Zeugnis des Piaton besteht nämlich die sehr nützliche und notwendige Belehrung in zweierlei, nämlich in der nachzuweisenden Übereinstimmung und Differenz der Dinge. Nachdem die Belehrung gezeigt wurde, die die Universalien geben, wollen wir untersuchen, welche Imposition sie haben. Diese bringt nicht wenig Vorteil. Wollen wir nämlich nachweisen, daß allen Menschen etwas zukommt oder fehlt, so können wir dies nicht mittels der partikulären Nomina erreichen. Der Grund hierfür liegt sowohl in ihrer Unbeständigkeit, insofern sie bald eine Substanz besitzen, bald nicht, wie auch in ihrer Unbegrenztheit, denn nach Piaton gibt es keine sichere Belehrung über Unbegrenztes. Die Universalien mußten also gefunden werden, damit sie das erreichten, was das Singuläre nicht erreichen konnte. Was hingegen in Hinsicht auf die Überflüssigkeit der Imposition von universalen Nomina entgegengehalten wird, daß sie anscheinend keine Belehrung bewirken würden, sondern eher zur Verwirrung führen, da ja nach Boethius durch ein universales Nomen keinerlei Ding erfaßt wird - denn so oft jenes Wort [„Mensch"] ohne genaue Bestimmung ausgesprochen wird, löst es einen Zweifel hinsichtlich des Gedankens aus usw. -, so ist das ohne Bedeutung. Obleich sie Universalien sind, bewirken sie dessenungeachtet eine Belehrung und Gewißheit, wenngleich sie nicht jeden Zweifel, der sich der Seele aufdrängen kann, vom Hörer entfernen, wie es aber auch nicht das viele Singuläre macht. Denn sage ich: „Sokrates läuft", so zeige ich nicht, wie und wieviel er läuft. Ebenso zeige ich dann, wenn ich sage: „der Mensch läuft", die menschliche Natur, welche derselbe Hörer nicht kannte, wenngleich der Satz nicht offenlegt, um welchen Menschen es sich handelt, und ich nicht alle Zweifel, welche er hat, entferne. Denn was Boethius sagt - „Wenn das Wort,Mensch' ausgesprochen wird, dann besitzt der Zuhörer nicht das, was er vernünftig begreifen könnte" 56 ist wahr oder falsch. Meint er es so, daß auf eine Frage nach der Substanz des Nomen verwiesen wird - nämlich so: es liegt kein Ding vor, das der Zuhörer gedanklich erfaßt -, so ist
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das richtig. Wenn aber die Frage nach der Substanz des Wortes so gemeint ist, daß der Zuhörer keinerlei Gedanken damit verbindet, so ist das falsch; wie doch zum Beispiel auch die Frage: „Woran denkst du, was weißt du?" hinsichtlich der Substanz des Nomen gestellt ist, so nämlich: „welche Sache ist es, auf die dein Geist gerichtet ist?"; und dementsprechend ist es erforderlich, daß mit einer bestimmten Person geantwortet wird, auf die der Gedanke gerichtet ist. Nach der Substanz des Wortes ist die Frage so: „Welchen Gedanken hast du?" Ebenso besitzt die Frage: „Was willst du?" die zwei folgenden Bedeutungen: „welche Sache ist es, wonach du ein Verlangen hast?" oder: „welches Verlangen hast du?" Daß aber die Frage: „Was willst du?" den folgenden Sinn besitzt: „welches Verlangen hast du?", erhellt daraus, daß ich trotz Fehlens einer goldenen Burg wahrheitsgemäß antworte: „ich möchte eine goldene Burg", das heißt: „ich habe ein solches Verlangen". Ebenso wird wahrheitsgemäß auch auf die Frage: „Woran denkst du?" geantwortet: „ich denke an eine Chimäre", wenngleich es eine Chimäre in Wirklichkeit nicht gibt. Wenn ich also an eine Chimäre denke, obwohl sie kein reales Ding darstellt, welches ich begreife, so begreife ich trotzdem etwas Bestimmtes. [...]
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15. GILBERT DE LA PORREE Kommentar zu Boethius' Buch I über die Trinität*
II [ . . . ] 7 [ . . . ] Von der Wissenschaft gibt es mehrere Genera. Die einen sind „theoretische" Wissenschaften, das heißt betrachtende, wie zum Beispiel diejenigen, durch die wir erfahren, ob einzelne Geschöpfe sind, was sie sind, wie beschaffen sie sind und warum sie sind. Andere wiederum sind „praktische", das heißt tätige, wie zum Beispiel diejenigen, durch die wir nach einer Untersuchung wissen, was zu tun ist, wie die des Arztes, des Magiers und andere. 1 8 Um aber die praktischen zu übergehen: die betrachtenden werden durch das, was wir durch sie erkennen, benannt; und die einen werden „physische", das heißt natürliche, die anderen „ethische", das heißt sittliche, und wieder andere „logische", das heißt verstandesmäßige, genannt. 9 Um auch die sittlichen und verstandesmäßigen zu übergehen: von denjenigen, die mit einem einheitlichen Namen als „natürliche" bezeichnet, häufiger jedoch die „betrachtenden" genannt werden, gibt es drei Teile: einer, der in spezifischer Weise mit dem allen gemeinsamen Namen als „natürlich" bezeichnet wird; ein anderer wird „mathematische" Wissenschaft und ein dritter „theologische" genannt. Diese beschreibt Boethius mittels der Bewegung und der Abtrennung sowie ihren Gegensätzen, wobei er in den Begriffen der jeweiligen Disziplinen immer zwei Differenzen zur Kennzeichnung angibt.2 10 Er sagt also: „natürlich" wird eine Betrachtung genannt, welche „bewegungsbezogen" und „nicht abstrakt" - was griechisch als ,,άνυπεξαίρετος", das heißt „unabtrennbar", bezeichnet wird - ist. Und aus welchem Grunde er „nicht abstrakt" * Gisleberti Pictavensis Episcopi Expositio in Boecii librum primum de trinitate. - Unser Auszug: Kap. II u. III (teilw.), in: The commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers, hg. v. Ν. Μ. Häring, Toronto 1966 ( = Pontifical Institute of Mediaeval Studies. Studies and Texts 13), S. 79-103.
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oder „unabtrennbar" sagt, setzt er hinzu: „denn sie betrachtet die Formen der Körper mit der Materie zusammen, welche Formen aktual nicht von den Körpern abgetrennt werden können" - ich sage, das heißt nicht, daß sie nicht durch den Verstand abgetrennt werden können, sondern nicht aktual. 11 An dieser Stelle muß gesagt werden, daß „Materie", wie ähnlich auch „Form", ein vieldeutiges Nomen ist. Ursprung und Anfang der Dinge, was Piaton Notwendigkeit, Widrigkeit, Aufnahme, Amme, Schoß, Mutter, Gefäß und auch Ort alles Entstehens nennt, 3 nennen seine Hörer jedoch ϋλη, das heißt Stoff, und Piaton selbst bezeichnet es als „erste Materie", weil in ihr alles gebildet wird, was durch sie aufgenommen wird, obwohl sie selbst von diesen dennoch keinerlei Form annimmt. 12 Auch die vier Elemente, die in ihr eine gegenseitige Verbindung besitzen, werden im Sinne eines Ausdrucks für das Größere und Allumfassende mit dem Beinamen „Materien" versehen. Auch alles übrige, was zum Genus der Körper gehört, wird je nach seinen eigentümlichen Spezies - wie Erz, Wachs, Stein und ähnliches - als „Materie" bezeichnet. 13 Für die genusartigen und spezifischen Subsistenzen, die als „Sein" der Subsistenzen bezeichnet werden, in denen sie vorkommen, weil sie diesen, damit sie existieren, etwas verleihen - eben für diese [genusartigen und spezifischen Subsistenzen] gibt es eine weitere, abgeleitete Bezeichnung mit dem Nomen „Materie". Denn selbst diejenigen von ihnen, welche sich von selbst einstellen und gewissermaßen die unmittelbaren Nachfolger jener [genusartigen und spezifischen Subsistenzen] sind, werden als „zugrundeliegende Materien" bezeichnet, weil alles das, was durch derlei Sein etwas Bestimmtes von der Natur her ist, von diesem Sein die Funktion übernimmt, für das Nachfolgende, was es auf der Grundlage dieses Seins aufnimmt, die Rolle der Materie zu spielen. 14 Zum Beispiel: da die Körperlichkeit, die das Sein des Körpers ist, insofern er existiert, und wodurch er selbst natürlicherweise etwas ist - das heißt ein Körper -, diesen Körper in die Lage versetzt, für die Gestalten und ähnliches, was er auf Grund der Körperlichkeit und ihres zugesprochenen Vermögens mit ihr gemeinsam in sich besitzt, die Materie zu sein - deswegen wird diese Körperlichkeit selbst auch die „Materie" von den gerade erwähnten Dingen genannt. 15 Das ist die Basis für das, was ein definitorischer Nachweis eines gewissen Seins als erstes enthüllt. Darauf fügt er das hinzu, was dem Vermögen dieses Seins entspricht. Wenn man zum Beispiel fragt, was eine Statue ist, so wird zuerst gesagt „Bronze", „Marmor" oder ähnliches; dann wird das aufgezählt, was jenes Sein begleitet, wodurch die besagte Eigentümlichkeit der Statue im Vergleich zu einem anderen Sein hervortritt. 16 Auch die Form wird in einem vielfältigen Sinne ausgesagt. Denn die Essenz Gott(es) - durch den als Schöpfer alles Existierende etwas ist und ein Sein ist, und wodurch ein Ding ein bestimmtes ist, und auch alles herkommt, was diesem Ding
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derart innewohnt, daß es ein bestimmtes ist, so daß ihm, d. h. dem, was es ist, das Sein gegenwärtig ist - wird als „erste Form" bezeichnet. 17 Ebenfalls werden die vier reinen Substanzen Feuer, Luft, Wasser und Erde griechisch είδη der Körper, lateinisch jedoch „Formen" genannt. Dabei ist natürlich nicht das gemeint, von dem oben gesagt wurde, daß es im Stoff eine gegenseitige Verbindung besitzt, sondern diejenigen Substanzen sind gemeint, welche aus Stoff und einer intelligiblen Spezies bestehen, aus denen dann erst die sinnlichen Materien - die feuer-, luft-, wasser- und erdartigen - abgeleitet sind, das heißt die Urbilder [exemplaria] der Körper sind gemeint, welche der Schoß der alles umschließenden Amme aufnimmt. 18 Als „Form" wird auch jedes Sein alles beliebigen Subsistierenden bezeichnet, durch das ein jedes Subsistierende etwas ist und was für das, was diesem selbst gegenwärtig ist, zuvor die Materie sein sollte; es spielt für alles dieses Subsistierende auch die Rolle der Form - wie etwa die Körperlichkeit für alle Körper. 19 Auch jenes vierte Genus der Qualität, das die Figur der Körper darstellt,4 sowie das Übrige, was dem vielen Subsistierenden derart innewohnt, daß es sich in Abhängigkeit zu dessen Vermögen befindet, wodurch das Subsistierende seine jeweilige Bestimmung erhält, wird als „Form" bezeichnet. 20 Hieraus wird klar, daß von den Materien die eine formlos und daher einfach ist, wie die ύλη, die andere jedoch geformt und deshalb nicht einfach, wie die Körper. Sie haben nämlich ein vielgestaltiges Sein, und was sich meistenteils diesem Sein in ihnen unmittelbar anschließt, gestattet unter keinen Umständen, daß sie als einfach gelten; beide aber werden nur „Materie" genannt. Was nun aber das viele Sein des vielen Subsistierenden ausmacht, wird „Materie" und auch „Form" genannt, jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten: alles das, was sich unmittelbar einander anschließt, wird „Materie", alles das Sein, was etwas bestimmtes aus diesen ist, wird „Form" genannt. 21 Ferner gibt es von den Formen eine, die keine Materie hat und darum einfach ist, wie die Essenz des Schöpfers, durch welche er tatsächlich ist. Denn sie selbst besteht weder aus einer Menge von Essenzen, noch schließen sich ihr im Schöpfer unmittelbar Dinge an, denen der Schöpfer bzw. seine Essenz angehörten oder als deren Materie sie aus irgendeinem Grunde bezeichnet werden könnten. 22 Auch jene reinen Substanzen, die Urbilder der Körper sind, sind Formen ohne Materie und demzufolge einfach. Denn sie sind nicht das, was sie dem Anschein nach sind, das heißt bestehen nicht aus einer vielfachen Essenz, noch gesellen sie sich etwas Bestimmtem in Dingen bei, für die sie die Materie wären. Denn der Grund dafür, daß gesagt wird, sie „wohnten" den Sinnendingen „inne", ist nicht der, daß sie diesen so unabtrennbar innewohnten, wie die Körperlichkeit im Körper verhaftet ist; sondern, obwohl sie von diesen abstrahiert wurden und mit ihnen nicht verbunden sind, daß sie diesen gegenüber sozusagen komplementär sind, so daß die Sinnendinge als Abbilder [imagines] von ihnen als den Urbildern
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vom Schöpfer hergeleitet werden, und weil somit durch die Gemeinsamkeit der Ableitung nicht nur sie den Sinnendingen, sondern auch die Sinnendinge ihnen „innewohnen", wie man sagt. 23 Was jedoch das Sein des vielen Subsistierenden ausmacht, wird, wie bereits gesagt wurde, nicht nur als „Form", sondern auch als „Materie" bezeichnet. Die Figuren der Sinnendinge hingegen wie auch das weitere, was im Zusammenhang mit dem Sein des vielen Subsistierenden steht und in dem vielen Subsistierenden ist, wird nur als „Form" und nicht als „Materie" bezeichnet. 24 Nach diesen Differenzierungen muß hinzugefugt werden, daß die erste Materie, das heißt die ϋλη; die ersten Formen, das heißt die ούσία des Schöpfers und die είδη der Sinnendinge, darum, weil sie einfach und abstrakt sind - denn weder benötigt jene die Formen, noch benötigen diese die Materie zu ihrer Existenz -, von jeglicher Bewegung frei sind. Die Sinnendinge aber, die voneinander unabgetrennt und verbunden sind, bewegen sich. 25 Die Formen der Sinnendinge hingegen, die zwar unabgetrennt sind und also Bewegung besitzen, werden jedoch dann, wenn sie abstrakt aufgefaßt werden, durch diese Nachahmung der abstrakten als „bewegungslos" bezeichnet. Einige Dinge werden nämlich sehr oft nicht nur so, wie sie sind, sondern in der Tat auch anders, als sie sind, erfaßt. Deshalb wird auch die Betrachtung der Seele unterteilt und entweder entsprechend demjenigen, was sie untersucht, oder nach der Art des Untersuchens benannt. 26 Insofern sie nämlich das Angeborene [nativa] so, wie es ist - das heißt verbunden und nicht abstrakt - betrachtet, wird die Betrachtung der Seele auf Grund ihres eigentümlichen Vermögens, durch das es dem menschlichen Geist gegeben ist, die Sinnendinge auf Grund der vorangehenden Hilfe durch die Sinne und Vorstellungen zu beurteilen, als „Verstand" [ratio] bezeichnet. Sie erhält jedoch durch das, was sie betrachtet, das heißt das Angeborene, Unabgetrennte und Bewegung Besitzende, den Beinamen „natürlich", „unabgetrennt" und „bewegungsbezogen". 27 Daß diese Benennung aus diesem Grund erfolgt, macht Boethius deutlich, wenn er sagt: „Denn sie betrachtet die Formen der Körper", d. h. die Gestalten und die anderen von der Art, nicht nur in der Materie, der sie innewohnen, sondern auch „mit der Materie gemeinsam", mit der sie durch jene andere in Verbindung stehen; und auf dieser Grundlage spricht man von dem Zusammenhalt [concretio] alles Subsistierenden.5 28 Die Schöpfung nämlich bewirkt, daß eine Subsistenz in etwas ist, und dasjenige, in dem sie ist, ist durch sie bestimmt. Der Zusammenhalt jedoch prägt auf ebendiese Subsistenz die Naturen von niederem Rang, so daß dasjenige, dem sie mit jener zusammen innewohnen, nichts einfaches ist. Und weil diese nur dann bestehen können, wenn sie dem vielen Subsistierenden so innewohnen, daß sie sich wiederum dem vielen Subsistierenden von jenen beigesellen, werden sie als „unab-
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getrennt" bezeichnet. Daher die Formulierung: „Diese (Formen von niederem Rang) können von den Körpern nicht losgelöst werden", und ich sage: nicht im theoretischen Sinne, sondern „aktual", das heißt, um das, was sie sind, insofern sie verbunden sind, als getrennte zu behalten. 29 Durch ebendiesen Zusammenhalt kommt es zur Bewegung der Körper, insofern die Abwechslung von sich entfernenden und sich nähernden die verbundenen austauscht. Was nämlich auf Grund des Zusammenhalts nicht einfach ist, wie „die Körper", „befindet sich in Bewegung". Das offenbart sich zum Beispiel in der örtlichen Bewegung, wenn durch die Eigentümlichkeit des Gewichtes „die Erde sich nach unten und das Feuer sich nach oben bewegt". „Und Bewegung besitzt" nicht das jeweilige Sein des vielen Subsistierenden, durch das ein jedes determiniert ist, nämlich die erste Materie, sondern das, was durch den Zusammenhalt in ebendiesem vielen Subsistierenden „die mit jener Materie verbundene Form" ausmacht. 30 Eine andere Betrachtungsweise jedoch, welche die unabgetrennten Formen des Angeborenen anders als sie sind, d. h. abstrakt betrachtet, wird vom Zweck her, für den sie das macht, griechisch μαθηματική [mathematisch], lateinisch „lehrmäßig" [disciplinalis] genannt. Und dies durchaus zu Recht. Obwohl sie nun einmal unabgetrennt sind, d. h. obwohl sie ausschließlich in der Verbindung existieren, ist es dennoch notwendig, herauszubekommen, was sie dort sind. Denn eine verstandesmäßige Betrachtungsweise erfaßt das, was etwas in seinem Sein ist, nur dann in vollkommener Weise, wenn eine lehrmäßige Betrachtung danach strebt, eindeutig zu erklären, was das ist, woher jenes ist. 31 Der Verstand würde zum Beispiel das Was des Körperseins, des Farbigseins und Breitseins nur dann bestimmen, wenn auch die Lehre das Was der Körperlichkeit, der Farbe und Breite erkennt. Und dies kann nur dann erfolgen, wenn sie dieses Unabgetrennte und Verbundene sowohl von dem, in dem es ist, als auch voneinander abtrennt und loslöst. Man spricht also darum von μάθησις [„Unterweisung"] oder „Lehre", weil sie untrennbares zu dem Zweck trennt, seine Natur und Eigenschaft durchschaubar und erfaßbar zu machen; „unabgetrennt" wird die Betrachtungsweise genannt, weil Untrennbares vorliegt, was sie nur getrennt erkennt. 32 „Sie betrachtet nämlich die Formen der Körper ohne Materie" - ich sage nicht, daß sie sie so betrachtet, als existierten sie ohne Materie: sondern sie betrachtet sie ohne Rücksicht auf die Materie. Gleichwohl betrachtet sie sie so, als wären sie ohne Bewegung. Denn wenn der Zusammenhalt, denen, die existieren, Bewegung verleiht, dann stimmt damit überein, daß die Trennung dem, woraus sie sind, die Bewegung nimmt. Das heißt jedoch nicht, daß bewegliche Dinge von Bewegung frei wären - ebenso wie Unabtrennbares können sie nicht abgetrennt werden -, sondern daß, wie schon gesagt wurde, die μάθησις diese ohne Materie betrachtet „und damit auch ohne Bewegung". 33 In der Tat enthält die Dingwirklichkeit [rei actus] die Formen immer als
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unabgetrennte. Darum fugt Boethius auch hinzu: „Weil diese Formen in der Materie", d. h. in den Körpern „sind, können sie von diesen Körpern nicht abgetrennt werden."6 Daß die mathematische Betrachtung im übertragenen Sinne als „unabgetrennt" bezeichnet wird, ist demzufolge von der Dingwirklichkeit verursacht; „ohne Bewegung" aber wird sie in übertragener Bezeichnung auf Grund der Art der Betrachtung genannt. 34 Die dritte Betrachtungsweise hingegen, welche über alles Angeborene hinausgeht und den Blick auf ihrer aller Anfang, d.h. den Schöpfer richtet, von dem sie stammen, bzw. auf die Idee richtet, von der sie als dem Urbild abgeleitet sind, bzw. auf die ϋλη richtet, in der sie angesiedelt sind - diese Betrachtungsweise wird wegen ihrer Außerordentlichkeit die „intellektmäßige" [intellectualis] genannt. 35 Denn was einfach, ohne Bewegung und immer ist, wird wahrer erfaßt, als dasjenige vermittels einer vernünftigen Meinung oder vielmehr einer mutmaßlichen Begründung erfaßt werden kann, was nicht immer und in Bewegung ist, nämlich die Sinnendinge; und es wird auch wahrer erfaßt, als die unabgetrennten und darum in Bewegung befindlichen Formen der Sinnendinge durch lehrmäßige Betrachtung abgetrennt sowie bewegungslos begriffen werden könnten. 36 Von der Natur der Sache her, welche aufgenommen wird, wird sie auch „theologische" genannt, und von deren Eigentümlichkeit her mit den Kennzeichen „ohne Bewegung", „abstrakt" und „abtrennbar" versehen. Und zwar ganz zu Recht. „Denn die Substanz Gottes", d. h. Gott bzw. die Göttlichkeit, „entbehrt sowohl der Materie als auch der Bewegung", das heißt weder Gott noch seine Essenz können Materie sein. 37 Denn weder kann die Essenz, durch die er existiert und die griechisch οΰσία genannt wird, zusammengesetzt sein, noch kann in Gott dieser Essenz etwas Fremdes anhängen, durch das er existierte. Gott wäre nicht unzusammengesetzt, wenn seine Essenz aus vielen Essenzen bestünde, oder zu ihr in ihm Formen gehörten, die das Dasein Gottes ausmachten oder zu denen seine Essenz im Verhältnis einer „zugrundeliegenden Materie" stünde. 38 Und hier liegt eben die Unterschiedlichkeit der Betrachtungsweisen begründet, die von der Verschiedenheit der wahrgenommenen Dinge herkommt. Wenngleich es „also" einige gemeinsame Beziehungen bei den den Betrachtungsweisen zugrundeliegenden Dingen gibt, so ist es dennoch unumgänglich, daß die meisten von ganz eigener Art sind. Darum wird der Philosoph „in den Naturdingen", die so, wie sie sind, erfaßt werden müssen, d. h. zusammenhängend und unabgetrennt, „rational vorgehen müssen": damit er bei gegebenem Nomen - durch das sowohl das, was existiert, als auch das, wodurch es ist, bezeichnet wird - vermittels der Geisteskraft, durch die das Zusammenhängende beurteilt werden muß, genau beachtet, was diesem eigentümlich ist; damit er durch die Gemeinschaft des Zusammenhangs genau prüft, was es ist bzw. wodurch es ist und was mit den Beweisgründen der übrigen Betrachtungsweisen übereinstimmen kann. 39 „Bei den mathematischen Dingen" jedoch, wo das Unabgetrennte anders, als
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es ist, das heißt abstrakt betrachtet wird, ist es nötig, daß er „lehrmäßig" vorgeht. Das bedeutet, daß der Philosoph - da er diese mathematischen Dinge getrennt von dem vielen Subsistierenden betrachtet, denen sie innewohnen, ohne die sie aber ein nichts sind - so deren Propria mit Rücksicht auf die auszuarbeitende Lehre erfaßt, daß er die für sie mit den übrigen Betrachtungsweisen gemeinsamen Verhältnisse nicht auf diese Propria reduziert. 40 Bei den Naturdingen versteht man nämlich „Mensch" als „Spezies eines Genus", d. h. des Lebewesens oder des Körpers. Bei den mathematischen Objekten wird „Mensch" jedoch nicht als „Spezies" von einem Genus, sondern nur als „Spezies" von „Individuen" verstanden. Darum sagt man auch, daß das Genus auf Grund der Eigenheit des natürlichen Zusammenhalts über die Spezies prädiziert wird. Es wird jedoch eingeräumt, daß durch die Eigenheit der mathematischen Abstraktion nicht ein Genus, sondern das Genus eines Genus tatsächlich und sachgemäß über eine Spezies prädiziert wird, die nicht die Spezies von einem Genus, sondern nur von Individuen ist. 41 Und „bei den göttlichen Dingen", die nicht nur in der Lehre, sondern auch von sich aus abstrakt sind, wird es nötig sein, „intellektmäßig" vorzugehen, das bedeutet: diese aus den eigentümlichen Überlegungen der Theologen zu begreifen und sie nicht anhand der Eigenschaften von natürlich verbundenen oder lehrmäßig abstrahierten Objekten zu beurteilen. Daß Boethius das so meint, wird klar, wenn er hinzufugt: „Ebenfalls wird man sich nicht zu" Geschöpfen verfuhren lassen dürfen, die nur „die Schattenbilder" der existierenden Dinge sind, „sondern man muß die" einzelne und einfache „Form selbst" auf Grundlage der ihr eigenen Verhältnisse „untersuchen". 7 42 „..., die tatsächlich ...": Bis hierhin hat Boethius die Teile der theoretischen Wissenschaft und das gezeigt, worauf das theoretische Betrachten gegebenenfalls zutrifft und welchen Inhalt es hat. Nun weist er unter Verwendung der theologischen Betrachtungsweise nach, daß die Essenz des Vaters, des Sohnes und die des [Heiligen] Geistes beider eins, singulär und unzusammengesetzt ist, durch die allein jeder von ihnen das ist, was er ist, so daß man erkennt, daß die Katholiken, die sagen: „Vater ist Gott, Sohn ist Gott, der Heilige Geist ist Gott" und daraus schließen: „also sind Vater, Sohn und Heiliger Geist ein einziger Gott und nicht drei Götter", hinsichtlich der eigentümlichen Bedeutung dessen, worüber sie sprechen, richtig folgern. 43 Das bedeutet: man wird beim Göttlichen die Form selbst intellektmäßig betrachten müssen, „die tatsächlich eine Form ist". Als wenn er sagt: „Es gibt vieles, was ,Form' genannt wird" - wie etwa die Körpergestalten und dann das, was durch Schöpfung oder Zusammenhalt in dem vielen Subsistierenden vorkommt, wodurch das, dem es innewohnt, entweder bestimmt ist oder mittels des Lehrsystems vorgeführt wird, daß es dadurch bestimmt sei. 44 Dies alles aber besitzt von sich aus seine bestimmenden Prinzipien, von denen
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es sich in einem bestimmten Verhältnis herleitet oder auf die es sich bezieht; folglich wird es eher in abgewandelter Bezeichnung als in des Wortes eigentlicher Bedeutung „Form" genannt. 45 Die Essenz, die ein bestimmtes Prinzip darstellt, geht jedoch allem Geschaffenen voraus; und da sie dieses alles so versorgt, daß es als „Sein" bezeichnet wird, und nichts von anderem annimmt, um selbst zu existieren, ist sie tatsächlich entsprechend ihrem Namen eine Form und „kein Schattenbild". Und wenn irgendjemand über sie spricht, indem er sagt: „Die Essenz i s t . . . " , dann muß der folgende Sinn herauskommen: die Essenz ist die Sache, „welche das Sein selbst ist...", das heißt: welche die folgende Bezeichnung von nichts anderem entlehnt, „und woraus das Sein ist", das heißt, welche alles übrige durch äußere Teilhabe an dieser Bezeichnung teilnehmen läßt. 46 Daß es „ist", wird nämlich nicht von jedem Beliebigen auf Grund der Eigenschaft des eigenen Wesens ausgesagt, sondern ausgehend von dem, der nicht durch eine fremde, sondern seine eigene Essenz eine bestimmte Eigentümlichkeit besitzt. Von ihm wird diese Bezeichnung auf das übertragen, was durch eine von ihm geschaffene Form bestimmt ist, und auf die geschaffene Form selbst und schließlich auf alles, was wahrheitsgemäß durch diese Formen benannt wird - denn es entstammt ja Gott als seinem bestimmenden Prinzip -, so daß mit Recht von jedem einzelnen auf Grund der Teilhabe an der göttlichen Form gesagt wird, daß es „ist". 47 Das Dargestellte unterscheidet sich überhaupt nicht vom Verhältnis der Naturdinge. „Denn" auch bei den Naturdingen „kommt alles Sein" des vielen Subsistierenden „von der Form her"; das heißt, von welchem Subsistierenden auch gesagt wird, daß es „ist", so sagt man dies auf Grund der Teilhabe an der Form, die es in sich hat. Dies begreift man anhand der folgenden Beispiele: 48 „Eine Statue wird nämlich nicht hinsichtlich der Bronze als,Statue' bezeichnet", welche Bronze wegen der Form, die das Sein der Bronze ist, „Materie" der Statue „ist, sondern hinsichtlich der Form, durch die" mittels einer menschlichen Kunst „in die Bronze ein Abbild eines Lebewesens eingeprägt wurde"; das heißt, die Statue ist zum Hinweis und zur bestmöglichen Darstellung eines wirklichen Lebewesens nach einem Vorstellungsmuster geschaffen worden, und sie ist das Ebenbild des wahren Lebewesens. 49 „Auch die Bronze selbst wird nicht in Hinsicht auf die Erde als ,Bronze' bezeichnet" - welche Erde der Form entspringt, durch die Erde Erde ist -, „welche [Erde] ihre Materie", d. h. der Bronze „ist, sondern vielmehr hinsichtlich der Gestalt der Bronze", die in ihr erzeugt wird, sobald der Stein durch die Wärme gelöst wird. 50 „Auch die Erde selbst wird nicht κατά τον ϋλην", das heißt nicht hinsichtlich des Stoffes, „Erde genannt". Κατά wird mit „hinsichtlich", ϋλη aber mit „Stoff' übersetzt; τόν aber ist ein Artikel. Oder „aber nicht άπό τον ϋλην", das heißt: nicht auf Grund des Stoffes. Denn άπό ist die Präposition „auf Grund"; τόν ist, wie gesagt, ein Artikel, und ϋλη heißt „Stoff'. Das ist jene erste Materie, die Piaton „Behältnis"
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nennt, in der - wie wir es weiter oben ausgeführt haben - alles, was auch immer von ihr aufgenommen wird, gestaltet wird, wobei sie selbst jedoch keine von diesen Formen übernimmt; sie ist völlig formlos. 51 Von ihr also wird gesagt, daß die Erde nicht in bezug auf sie als Erde ausgesagt wird, „sondern in bezug auf die Formen dieser Erde", das heißt zum Beispiel in bezug auf ihre „Trockenheit und Schwere". Hieraus ergibt sich also ganz klar, daß „nichts in bezug auf die Materie als existierend bezeichnet wird", die der prädizierten Form in einem Ausdruck zugrundeliegt, durch den diese Form dargestellt wird. Vielmehr geschieht das ausschließlich „in bezug auf die eigene Form" des Dinges selbst, die der Benennung eines Dinges in einem Satz zugrundeliegt. 52 „Die göttliche [Substanz] aber ...": Wenn Boethius die göttliche Form das Sein von allem nannte, 8 dann zeigt er damit, daß sie nicht von den Naturdingen abweicht, bei denen das Sein sämtlich von der Form herkommt. Nunmehr kehrt er zu dem, was er begonnen hatte, zurück und beweist, daß die göttliche Form im Vergleich zu den Naturdingen wirklich eins ist; denn von den Naturdingen ist keines auf Grund der Einfachheit seiner Natur eins. Freilich ist der Grund dafür, daß alles Subsistierende etwas Bestimmtes ist, die eigene Form, die der Materie innewohnt. Daß aber jegliches von diesem oder anderem - wobei ich „ist etwas" nicht nach natürlicher oder mathematischer, sondern einfach nach theologischer Betrachtungsweise sage - da ist, kommt von der Form, die nicht in der Materie ist. Denn in der Tat „ist die göttliche Substanz eine Form ohne Materie". 53 Denn sie kann weder die ύλη zu ihrem bestimmenden Prinzip haben, noch die Materie, in der sie notwendigerweise enthalten sein müßte, als ούσία des bestimmenden Prinzips besitzen, noch wohnt die göttliche Substanz dem Prinzip, das heißt Gott, derartig inne, daß sie in ihm Naturen von zweiter Ordnung besitzt, welche die göttliche Substanz zusammensetzen oder welche sich ihr zugesellen und aus denen Gott selbst bestünde und für die die göttliche Substanz - als das Primäre, zu dessen Vermögen sie gehörten - die Materie wäre. Sie ist nämlich sowohl frei von einem bestimmenden Prinzip als auch frei von Zusammensetzung, und nichts außer ihr selbst ist der Grund dafür, daß sie das bestimmende Prinzip ist, aus dem und durch das und in dem alles ist. 54 „Darum ist sie auch wahrhaft eins" und damit in sich einfach, und, auf sich gestellt, existiert sie ohne [die Formen], die noch zu ihr gehören können, so daß von ihr allein zurecht dasselbe gesagt wird, was auch über das Prinzip selbst ausgesagt wird, dessen ούσία sie ist; das bedeutet: „sie ist das, was sie ist". Genauso nämlich, wie es für die Existenz Gottes außer der einfachen und alleinigen Essenz, das heißt der ούσία, keine Ursache gibt, so gibt es auch nichts, von dem sich die ούσία selbst ableitete, es sei denn den Umstand, daß sie selbst der einfache und alleinige Gott ist. 55 Daher kommt auch der Sprachgebrauch, daß man über Gott nicht nur „Gott ist" sagt, sondern auch „Gott ist die Essenz selbst". Und das freilich zu Recht. Denn
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wenn zu jemandem, der nicht nur weise, sondern auch farbig, groß und vieles andere ist, wegen des Überflusses an Weisheit gegenüber allem anderen gesagt wird: „So viel auch immer du bist, so bist du ganz Weisheit" - als ob das, was ihm Existenz verleiht, nichts weiter als die Weisheit ist -, dann wird um vieles treffender Gott, zu dessen Existenz nichts Verschiedenartiges beiträgt, als „die Essenz selbst" bezeichnet, sowie auch durch weitere Prädikate: wie etwa „Gott ist die eigene Göttlichkeit selbst, die eigene Weisheit selbst, die eigene Stärke selbst" und so weiter. 56 „Das Übrige nämlich . . . " : Die göttliche Substanz ist das, was ist. „Das Übrige", das heißt entweder das, was wirklich existiert, oder das, was in diesem ist, „ist nicht das, was ist". Das heißt, es ist nicht einfach und ausschließlich das, wodurch man von jeglichem von ihm sagt, daß es „etwas ist". 57 Die Gesamtform der Substanz von einem beliebigen Subsistierenden ist nämlich nicht einfach. Und die Vielfalt der Akzidentien, die diesem als Ganzem bzw. seinen Teilen zugehören, ist auch noch um vieles größer, und dennoch werden sie alle über das Subsistierende ausgesagt - wie etwa über einen bestimmten Menschen die Gesamtform der Substanz, wodurch dieser ein vollkommener Mensch ist, sowie jedes Genus und jede Differenz, aus denen sich die Form zusammensetzt, ζ. B. die Körperlichkeit und Beseeltheit und so weiter; und schließlich wird alles ausgesagt, was entweder jener Form als ganzer zugehört - wie die Fähigkeit zu lachen zum Menschentum gehört - oder einigen Teilen von ihr - wie die Farbe zur Körperlichkeit und das Wissen zur Vernunftbegabung gehört, und noch unendlich viel mehr. 58 Ebenfalls ist die Natur dessen, was auf Grund des Bewirkens über ein Subsistierendes ausgesagt wird, eine vielgestaltige. Denn man sagt von der Gesamtform der Substanz des Menschen nicht nur deshalb zu Recht, „etwas zu sein", weil sie als ganze den Menschen schafft, in dem sie ist, sondern auch deshalb, weil sie diesen durch jeweils einen anderen Teil von ihr beseelt, empfindsam und vernunftbegabt sein läßt. 59 Ferner wird von jedem beliebigen Teil von ihr oder auch von jedem Akzidens, was mit einem Teil oder dem Ganzen verknüpft ist, sowohl in Gemeinschaft mit vielen, als auch im Unterschied zu vielen auf Grund des Bewirkens im gleichen oder im ungleichen Sinne gesagt, „etwas zu sein" - wie etwa jemandes Vernunftbegabung sowohl genusartig mit „Qualität", wie auch spezifisch mit „Vernunftbegabung" bezeichnet wird, da sie ihn ja sowohl zu einem qualitativ bestimmten Ding macht wie beliebige andere Qualitäten dasjenige, in dem sie sind, zu etwas qualitativ Bestimmtem machen -, als auch zu einem vernunftbegabten Ding, wie ebenfalls die übrigen Vernunftbegabungen diejenigen [Personen], in denen sie sind, vernunftbegabt machen. 60 So macht auch die Weißheit von jemandem den, in dem sie ist, sowohl qualitativ bestimmt - wie alle Qualitäten -, als auch farblich - wie alle Farben - und weiß - wie alle anderen Weißheiten. Folglich wird sie in Gemeinschaft mit den
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Qualitäten genusartig als „Qualität", nur in Gemeinschaft mit den Farben als „Farbe" und nur in Gemeinschaft mit den Weißheiten spezifisch als „Weißheit" bezeichnet. 61 Und überhaupt gibt es vieles, was über sie ausgesagt wird, so daß häufig eine von den begleitenden Akzidentien abgeleitete Benennung - auf Grund eines Wirkungszusammenhangs - auf das, zu dem sie hinzukommen, übergeht: wie etwa „eine Linie ist lang" und „die Weißheit ist hell". Also ist alles Existierende entweder zusammengesetzt oder nicht für sich allein genommen das, wodurch man von jedem sagt, daß es ist. „Ein jedes", was zum Subsistierenden, den Subsistenzen und deren Akzidentien gehört, „hat nämlich sein Sein von dort, woraus es ist"; und wie Boethius das verstanden wissen will, erklärt er offenbar, wenn er sagt: „das heißt aus seinen Teilen".9 62 Man muß genau beachten, wie er das meint. Denn, wie weiter oben versprochen, als er über den Charakter dieses Werkes sprach, hat er die knappe Darstellungsweise gewählt; und den Anblick der Erkenntnis verhüllte er gleichsam durch die Ungewöhnlichkeit der Worte, wenn er sagt: „das Übrige ist nicht das, was ist";10 und obwohl er ihn anscheinend einigermaßen entblößen zu wollen scheint, wenn er sagt: Jedes hat nämlich sein Sein von dort, woraus es ist", überdeckt er ihn wieder eher durch die folgende Passage - die er anscheinend als Erklärung bringt und bei der man erwartete, daß er sie völlig ausfuhrt, auf daß sich seine Würde nicht als unverdient erweise insofern er hinzufügt: „das heißt aus seinen Teilen". 63 Und freilich ist es eine nicht konkretisierte Kennzeichnung durch ein Pronomen und ein unbestimmtes Nomen, wenn er sagt: „von dort, woraus . . . " [ex his ex quibus], wobei er durch das eine von ihnen gewissermaßen das zeigt, was er sagen will, und durch das andere es wieder zurückzieht. Wenngleich er den Geist des Lesers nicht durch einen klaren Begriff über das geprägt hat, was das Sein der Eigenschaft nach oder dem Genus nach ist, hat er ihn davon jedoch nicht abgelenkt. Allerdings lenkt das bestimmte Nomen der angefügten Erklärung, nämlich: „daß heißt aus seinen Teilen" den Geist des Lesers völlig von dem ab, was das Sein ist. 64 Denn nichts ist das Sein dessen, von dem es ein Teil ist. Das Sein und das, was durch es ist, stimmen nämlich ganz und gar nicht im Genus überein. Ein Teil aber und das, dessen Teil er ist, sind in vielen Genera und auch einzeln eine Einheit. Es ist geradezu notwendig, daß jedes Genus eines Teiles auch das Genus dessen ist, was aus diesem Teil besteht. Was denn auch immer das Sein von etwas ist - so ist es entweder die gesamte Substanz dessen, als dessen Sein es bezeichnet wird, oder ein Teil dessen, was die gesamte Substanz ist. 65 Und die gesamte Substanz ist natürlich die Spezies, die von jenem ausgesagt wird. Teil dessen aber, was das gesamte Sein darstellt, ist das Genus oder die Differenz, die die Spezies selbst begründet. Keinerlei Teil aber kann von dem, dessen Teil er ist, die Spezies, das Genus oder die Differenz sein. Und demzufolge ist kein Teil das Sein von dem, dessen Teil er ist.
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66 Wenn er gesagt hat: Jedes hat sein Sein von dort, woraus es ist" - was sich richtig verstehen läßt, nämlich: aus der Spezies, die das gesamte Sein ist, aus dem Genus und aus der Differenz, was, wenn auch nicht das ganze, so doch ein bestimmtes Sein ist - dann muß gefragt werden, warum er als Erklärung hierfür hinzusetzt: „das heißt aus seinen Teilen"? Doch wollen wir das Nachfolgende betrachten; vielleicht wird dadurch besser klar werden, in welchem Sinne dies gesagt wurde. 67 Er fährt nämlich so fort: „Und es ist dieses und dieses."11 Jemand, der dies erklärt, könnte es treffend so ausdrücken: das heißt, es besitzt das Sein aus diesen verschiedenen Komponenten; und „diese verschiedenen Komponenten" könnte er als verschiedene Genera, verschiedene Differenzen, verschiedene Spezies oder als Genus und Differenz [gemeinsam] verstehen; oder er würde in der Einheit, die entweder das Genus oder die Spezies darstellt, zumindest eine zahlenmäßige Verschiedenheit berücksichtigen. 68 Jener aber nennt wiederum das als Erklärung, was nicht das Sein ist, und sagt: „das heißt seine Teile". Mögen die Teile entweder das Sein desjenigen darstellen, was aus ihnen besteht - und das scheint er zu meinen - oder mögen sie etwas anderes sein - gewiß ist, daß dies nichts Unzusammengesetztes oder Isoliertes ist. Darum fügt er richtig hinzu: „[seine] verbundenen [Teile]". 69 Daß er dies in genau diesem Sinne hinzufügt, wird klar, sobald er sagt: Jedoch nicht dieses oder dieses für sich genommen". Das bedeutet: nicht etwas beliebiges bewirkt für sich allein, daß das, was existiert, etwas Bestimmtes ist; vielmehr geschieht dies durch eine Vielfalt von Komponenten, und zwar durch jede einzelne von ihnen. Und welche Vielfalt von Komponenten er meint, erklärt er durch ein Beispiel. Durch dieses kann zugleich ausgemacht werden, in welchem Sinne er zu seiner Aussage: Jedes hat sein Sein von dort, woraus es ist" hinzufügte: „das heißt, aus seinen Teilen"; und ebenso kann man sehen, warum er dann, als er sagte: „es ist dieses und dieses", hinzufügte: „das heißt seine Teile". 70 Er sagt nun nämlich: „da zum Beispiel ein irdischer Mensch aus Seele und Leib besteht" - das heißt: etwas aus vielem Subsistierenden Subsistierendes - „ist dieser Mensch Leib und Seele"12 - das heißt: durch das, was das Sein des Körpers darstellt, aus dem er zusammengesetzt ist, ist er selbst auch Körper; und durch das, was das Sein der Seele darstellt, ist er selbst auch Seele. Und genau das hat er natürlich gemeint, als er sagte: „alles ist aus seinen Teilen und es ist seine Teile". 71 Diese Ausdrucksweise ist häufig, sobald die rationale Betrachtungsweise das natürlicherweise Unabgetrennte, so, wie es ist, aufnimmt. In dieser Hinsicht nämlich sagt man, daß über eine Spezies „eine gewisse zweite Substanz" prädiziert wird. Freilich darf man das hier nicht so auffassen, daß etwas über das, was die Spezies darstellt, prädiziert wird, sondern vielmehr über ein Subsistierendes, in dem es eine spezifische Subsistenz gibt; und auch nicht so, als ob über dieses das, was die zweite Substanz [direkt] darstellt, prädiziert wird: denn dabei handelt es sich ausschließlich
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um etwas für sich Subsistierendes, was unmöglich prädiziert werden kann - sondern es wird das prädiziert, was in diesem eine Subsistenz darstellt. In dieser Weise wird das meiste ausgesagt, so daß - weil das Sein und das, was ist, jeweils verschieden sind -, sobald der Name des einen von beiden gegeben ist, das, was ausgesagt wird, nicht diesem, sondern dem anderen zukommt. 72 Und so sagte er wegen eben dieses Zusammenhangs: „alles hat sein Sein aus seinen Teilen und es ist seine Teile". Wenngleich er darunter nicht sie selbst, sondern das, was jeweils deren Sein ausmacht, das heißt die Subsistenzen, verstehen will, die auch das Sein von dem, was aus Teilen besteht, darstellen. Denn ganz gleich, wessen Sein gemeint ist, so ist das Sein eines jeden Teiles auch das Sein dessen, was aus diesem Teil besteht, und es wird richtig sowohl über dieses als auch über den Teil ausgesagt. 73 Das ergibt sich klar aus ihren Propria. Die Farbe nämlich, die ausschließlich der Körperlichkeit gehört, wird richtig sowohl über den Menschen, der aus einem Körper besteht, als auch über den Körper selbst, welcher den Menschen konstituiert, prädiziert; und die Vernunftbegabung, welche sich auf das Genus der Geister bezieht, sowie das Wissen, welches nur zur Vernunftbegabung paßt, wird sowohl über den Menschen, der aus dem Geist besteht, als auch über den Geist selbst, aus dem er besteht, ausgesagt. Denn nicht nur der Körper, aus dem ein Mensch besteht, ist farbig, sondern auch der Mensch selbst ist farbig, der aus ihm besteht. 74 Und obgleich der Mensch und der Körper, aus dem dieser besteht, Verschiedenes sind, weil der Körper, aus dem der Mensch besteht, kein Mensch ist, sind sie dennoch keine verschiedenen Körper oder verschiedene Farbgegenstände, sondern ein einheitlicher Körper - nicht wegen der Übereinstimmung [conformitas] der Universalien, sondern im Gegenteil durch die Einzelnheit der Subsistenz -, sowie ein einheitlicher Farbgegenstand auf Grund der Einzelnheit des Akzidens. 75 Ebenso ist auch nicht allein der Geist, aus dem ein Mensch besteht, vernunftbegabt und wissend, sondern auch der Mensch, der aus diesem besteht, ist vernunftbegabt und wissend. Und obgleich der Mensch und der Geist, aus dem er besteht, verschieden sind, weil der Geist, aus dem der Mensch besteht, kein Mensch ist, sind sie dennoch nicht verschiedene Geister oder verschiedene vernunftbegabte Dinge oder verschiedene Wissende, sondern ein einheitlicher Geist - zwar nicht wegen der Übereinstimmung der Universalien, sondern durch die Einzelnheit der Subsistenz -, sowie ein Vernunftwesen durch die Einzelnheit des einen Vermögens, und ein Wissendes durch die Einzelnheit des einen Akzidens. 76 Unmittelbar einsichtig aber ist jener Hauptsatz der Dialektiker, in dem sie sagen: Über jegliches wird das prädiziert, was nur ihm eigentümlich ist, das heißt das Proprium; über dasselbe wird auch das prädiziert, dem eben dieses Proprium angehört. Da also die Farbe, die nur zu dem gehört, von wo der Körper kommt - was immer als „Körper" bezeichnet wird -, nicht nur über jenen Teil des Menschen, der ein Körper ist, sondern auch über den Menschen [als solche] prädiziert wird, ist es
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notwendig, daß ebenfalls das Sein des Körpers, dem die Farbe allein zugehört - das heißt die Körperlichkeit nicht nur über jenen Teil des Menschen, sondern auch über den Menschen [als solchen] prädiziert wird. 77 Da auch die Vernunftbegabung, welche ausschließlich dorthin gehört, von wo der Geist kommt - was auch immer der „Geist" ist -, und da ebenfalls das Wissen, was ausschließlich dorthin gehört, woher das Vernunftbegabte kommt - was auch immer richtig als „Vernunftbegabtes" bezeichnet wird -, nicht nur über jenen Teil des Menschen, der Geist ist, prädiziert wird, sondern auch über den Menschen [als solchen], ist es notwendig, daß auch jene Subsistenz des Geistes, welcher die Vernunftbegabung ausschließlich zugehört - das heißt eben die „Geistigkeit" [spiritualitas], wenn man sie so nennen will - nicht nur über jenen Teil des Menschen, sondern zu Recht auch über den Menschen [als solchen] prädiziert wird. 78 Der Mensch ist also ein Körper - nicht durch den Körper, aus dem er selbst besteht, sondern durch das Sein dieses Körpers. Derselbe Mensch ist auch Geist nicht durch den Geist, aus dem er selbst besteht, sondern durch das Sein dieses Geistes. Daher ist das Sein des Menschen nicht unzusammengesetzt oder isoliert. Denn, wie gesagt, er ist sowohl durch das Sein seines Körpers, aus dem er besteht, ein Körper, als auch durch das Sein seiner eigenen Seele, aus der er besteht, eine Seele - Jedoch nicht" ausschließlich „Körper oder" ausschließlich „Seele". 79 Einige Unerfahrene entnehmen daraus, daß er sagt: „nicht aber Körper oder Seele",13 daß man eines von beiden ohne das andere nicht nennen darf, das heißt, daß die Formulierung nicht wahr ist, wenn jemand sagt: „der Mensch ist ein Körper", ohne dabei hinzuzufügen: „und eine Seele"; oder wenn er sagt: „der Mensch ist eine Seele", ohne dabei hinzuzufügen: „und ein Körper". Sie sind der Meinung, daß dann, wenn Verschiedenes verbunden wurde, damit es eine Einheit bildet, das Sein von allem durch diese Verbindung derartig durcheinander ist, daß das, was aus Verschiedenem besteht, danach den Namen von keinem seiner Bestandteile annimmt, sondern durch das bestimmt ist, was aus dieser Vermischung hervorgeht - wie zum Beispiel, wenn Schwarz und Weiß vermischt werden, das, was aus ihnen entsteht, weder als „Schwarz" noch als „Weiß" bezeichnet wird, sondern das Sein einer anderen, aus dieser Vermischung hervorgegangenen Farbe hat. Und sie meinen, daß in genau diesem Sinne gesagt wurde: „der Mensch ist Leib [corpus] und Seele"; daß er also nicht Körper oder Seele, sondern etwas darstellt, was aus der Vermischung entsteht, die durch die Verbindung von Körper und Seele zustandekommt. Daß aber nicht immer aus der Verbindung auch die Vermischung im Sinne einer ungeordneten Vermengung folgt, wird er zur Genüge in dem Werk ausführen, das er gegen den Irrtum des Eutyches schreibt.14 80 Jetzt aber, wo nachgewiesen wird, was das nicht Einfache bzw. nicht Alleinstehende ist, wodurch alles bestimmt ist, sagen wir: genauso, wie es wahr ist, wenn man sowohl verbunden - „der Mensch ist farbig und weise" - als auch getrennt - „der
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Mensch ist farbig" und „der Mensch ist weise" - sagt, so ist es auch wahr, wenn man sowohl verbunden - „der Mensch ist ein Leib und eine Seele" - als auch getrennt „der Mensch ist ein Leib" und „der Mensch ist eine Seele" - sagt; denn dies entspricht der oben genannten Regel der Dialektiker: über jegliches wird das Proprium prädiziert, sowie das, wozu das Proprium gehört. 81 Wenn er sagt: jedoch nicht dieses oder dieses" und insbesondere wenn er sagt: jedoch nicht Leib oder Seele", dann ist darunter also nicht zu verstehen, daß die eine Formulierung ohne die Hinzufügung der anderen nicht wahr sei, sondern es ist so zu verstehen, daß weder diese eine Bestimmung noch die andere das für einen vollkommenen Menschen, über den auch ein bestimmtes Sein isoliert ausgesagt wird, alleinstehende Sein darstellen kann. Denn die eine Sache ist, Alleinstehendes [solitarium] zu sein, und eine andere, als Alleinstehendes ausgesagt zu werden. 82 Es ist nämlich nicht notwendig, daß das, was als Alleinstehendes ausgesagt wird, auch alleinstehend ist; und was unmöglich alleinstehend ist, das kann durchaus als Alleinstehendes ausgesagt werden! Diejenigen nun, welche sagen, daß jede der beiden Formulierungen nicht isoliert auftreten könne, scheinen für sich und für die übrigen, die weniger vernünftig sind, zur Bekräftigung ihrer irrtümlichen Annahme die zuvor genannte ungeordnete Vermengung von Schwarz und Weiß zu gebrauchen. 83 Jene hingegen, die den einen Ausdruck übermäßig hervorheben, während sie den anderen zurückziehen, plappern dermaßen ohne Begründung für ihre irrtümliche Annahme, daß sie das nicht nur gegen die Wahrheit, sondern auch gegen sich selbst aussprechen. Sie räumen nämlich ein: „der Mensch ist ein Leib"; wollen dabei aber nicht zur Kenntnis nehmen: „der Mensch ist eine Seele oder ein Geist". Sie bedenken aber nicht, aus welchem Grunde das Sein des einen Teils auch das Sein dessen sein kann, was aus diesem Teil besteht, und von sich aus auch über dieses prädiziert werden können soll, während das Sein des anderen Teils weder das Sein des Genannten sein soll, was dieser Teil ebenfalls konstituiert, noch über es prädiziert werden können soll; zumal sie ja zugeben, daß das eigentümliche Vermögen dieses Genus - des Genus, von welchem sie bestreiten, daß es über die Zusammensetzung prädiziert wird -, das heißt das Vermögen der Vernunftbegabung, wie auch die akzidentielle Beschaffenheit, das heißt das Wissen, richtig demselben zugesprochen werden. 84 Denn was es einige von ihnen zu sagen drängt - über den Menschen eine andere Vernunftbegabung als die auszusagen, welche zum menschlichen Geist gehört, desgleichen auch ein anderes Wissen sowie eine andere Körperlichkeit als die dem menschlichen Körper zugehörige -, das schätzen wir derartig gering, daß wir unter Verschweigen der Gegenargumente es völlig übergehen. 85 Auf das hingegen, was sie uns entgegenhalten - daß nämlich der Geist des Menschen unkörperlich ist; der Mensch jedoch nicht unkörperlich ist und es darum nicht wahr ist, „daß alles das, was einem Teil zugesprochen wird, auch dem zuge-
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sprachen wird, was sich aus jenem zusammensetzt" erwidern wir: wenn sie sagen „der Geist ist unkörperlich", dann sprechen sie diesem eher das ab, was sich auf das Vermögen des Genus bezieht, als daß sie ihm die Natur des Geistes zusprechen. 86 Jede Negativbestimmung [privatio] nämlich entfernt das, was auf natürliche Weise zusteht. Wir sagen nun aber nicht, daß mit Notwendigkeit alles vom Ganzen zu entfernen ist, was immer vom Teil entfernt wird, sondern daß das, was natürlicherweise dem Teil zugesprochen wird, auch der Zusammensetzung zuzusprechen ist. 87 „[Nicht aber] teils [Leib], teils [Seele]. Somit.. ,"15 Das will sagen: Der Mensch ist sowohl Leib, als auch Seele. „In dem einen Teil ist somit nicht das, was ist", [wie auch nicht] in dem anderen - das will sagen: zumindest ist das Sein des einen Teiles von dem des anderen Teiles - woraus ein Zusammengesetztes ist und worauf bezogen, entweder verbunden oder getrennt, gesagt wird, daß etwas ist - zahlenmäßig verschieden. 88 Nicht nur bei Subsistierendem, was aus verschiedenem Subsistierenden zusammengesetzt ist - wie Mensch und Stein -, sondern auch bei dem einfachen Subsistierenden - wie bei der Seele des Menschen, die sich als Subsistierendes aus keinerlei Subsistierendem zusammensetzt - sowie bei allen Subsistenzen bzw. den akzidentellen Beschaffenheiten und schließlich bei allen Wesen, die in der Weise einem Prinzip entspringen, daß sie nicht selbst das Prinzip sind - wie weiter oben geschildert wurde - : bei all dem gibt es eine Vielzahl von Komponenten, wodurch jegliches seine Bestimmung erhält. Und eben aus diesem Grund ist keines von ihnen das, was ist. 89 „Was jedoch nicht aus dem und dem", d. h. nicht aus Verschiedenem, „sondern nur (aus) dieses/m ist", d. h. nur ein einziges [Wesen] hat, wodurch es ist, „das ist tatsächlich das, was ist" und nichts weiteres - wie Gott bzw. dessen Göttlichkeit. Es gibt nämlich neben der Göttlichkeit nichts weiter, wodurch Gott existierte; auch gibt es nichts, wodurch die Göttlichkeit selbst existiert, außer, daß sie [selbst] Gott ist. 90 Und solches ist daher durch die Singularität und die Einfachheit des Genus singulär und einfach eins; „es ist das Herrlichste" durch die eigentümliche Spezies der höchsten Würde, „und das Stärkste" durch seine eigene unvergleichliche Macht. Dies wird zurecht von ihm gesagt, „weil es ja nichts benötigt", dessen es als Stütze bedürfte. 91 „Darum . . . " : Weil nun einmal das, was nur dieses ist, tatsächlich das ist, was ist, „ist das wirklich Eins", und ein solches Eins, „worin keine Zahl" von Essenzen ist, weil „in ihm nichts außer dem ist" als ebendies Eins, durch das allein es ist. Das ist so, „denn auch ein Zugrundeliegendes kann es nicht sein", indem es entsprechend seiner eigenen ursprünglichen Essenz in sich etwas Bestimmtes besäße. Warum? „Denn es ist eine Form." 92 Und daß Boethius hiermit richtig bewiesen hat, daß jenes kein Zugrundelie-
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gendes sein kann, bekundet er mit einer unmittelbar einsichtigen Aussage der Mathematiker: „zugrundeliegende Formen aber können nicht existieren";16 d. h. die Formen nehmen nicht unter Berücksichtigung einer Subsistenz, die sie innerlich besitzen, ein Akzidens in sich auf. 93 Denn wenn jemand entgegensetzt, daß „die übrigen Formen", die die mathematische Betrachtungsweise abstrakt untersucht, „den Akzidentien zugrunde liegen", und wenn er dies auch durch ein Beispiel belegt, indem er sagt „wie etwa das Menschentum", so sagen wir, daß es wahr ist, was er sagt - freilich nicht in dem Sinne, in dem gesagt wird, daß der Mensch etwas in sich aufnimmt. „Das Menschentum nimmt nämlich die Akzidentien nicht ebenso a u f , wie der Mensch: nämlich „nicht dadurch, daß das Menschentum" durch eine Subsistenz, die es in sich besäße, etwas Bestimmtes „ist", hinsichtlich deren Ursprünglichkeit es in sich als gewisse Eigentümlichkeit entsprechende Akzidentien besäße; „sondern dadurch, daß die dem Menschentum zugrundeliegende Materie", die unter Vermittlung des Menschentums auch die Materie für jene Akzidentien genannt wird, etwas durch sich selbst Bestimmtes „ist", so daß das Menschentum gemeinsam mit der Materie, die in Gestalt jener Eigentümlichkeit das Dasein einer Verbindung begründet, [die Akzidentien] aufnehmen kann. 94 Denn alles, was richtig als Zugrundeliegendes für die Akzidentien und als Materie von ihnen bezeichnet wird, muß notwendig in erster Linie von einer gewissen Subsistenz stammen - wenn nicht der Zeit nach, so doch wenigstens der Ordnung nach -, so daß es dadurch deren Propria besitzt. Da nun aber, wie gesagt, die Subsistenz Ursache dafür ist, daß das, was durch sie bestimmt ist, seinen ihm eigenen Propria zugrunde liegt, wird sie selbst in abgeleiteter Benennung als „Zugrundeliegendes" für diese und als deren „Materie" bezeichnet. 95 „Wahrend nämlich die Materie, welche (tatsächlich) dem Menschentum zugrunde liegt", das heißt das Menschentum in sich enthält, „ein (gewisses) Akzidens (in sich) aufnimmt, hat es in gewisser Weise", nämlich durch eine Bedeutungsübertragung von der Wirkung auf die Ursache, „den Anschein, als ob das Menschentum selbst jenes aufnimmt", wie gesagt wird. „Eine Form hingegen, die ohne Materie ist, kann nicht", auch nicht im übertragenen Sinne, „ein Zugrundeliegendes sein, noch der Materie innewohnen." 96 Denn wenngleich es vorkommt, daß gesagt wird, sie „wohnte inne" - wie oft in den theologischen Schriften gesagt wird, daß die Göttlichkeit dem Vater oder die Ideen den Elementen innewohnten -, dann jedoch nicht als Materien. Es wird gesagt, daß die Göttlichkeit dem Vater innewohne - und zwar als die Essenz in dem, der wahrhaftig ist; und es wird gesagt, daß die Ideen den Elementen innewohnen - und zwar als die Urbilder in denjenigen Dingen, die ihre Abbilder darstellen. Denn weder die Ideen in den Elementen, noch die οΰσία im Vater stellen geschaffene Subsistenzen dar, mit denen die Akzidentien von sich aus verbunden wären und zu welchen die Akzidentien als ihren Ursachen gehörten und die von ihrer
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Wirkung her als Materien bezeichnet würden. Somit ist mit einem Wort weder der Vater, noch sind die Elemente in bezug auf die Ideen die Materien irgendwelcher Akzidentien. Darum werden auch die ούσία und die είδη nicht mit einem Beinamen als „Materien" bezeichnet. 97 Und aus welchem Grunde eine Form, die ohne Materie ist, nicht nur keine Materie ist, sondern auch nicht im übertragenen Sinne als „Materie" bezeichnet wird, das zeigt er, wenn er sagt: „denn sie wäre keine (wirkliche) Form, sondern (eher) ein Schattenbild [imago]".17 Und das völlig zurecht. „Von den Formen nämlich, die außerhalb der Materie sind", das heißt von den reinen Substanzen, von Feuer, Luft, Wasser und Erde - nicht jedoch von denen, die in der ϋλη eine gegenseitige Verbindung besitzen, sondern von denen, die aus Stoff und einer intelligiblen Spezies bestehen und die Ideen der Sinnendinge darstellen - „sind die Formen gekommen, die in der Materie sind und die", indem sie bei dem gegenwärtig sind, was das Sein der Materie darstellt, „einen Körper bilden", und zwar durch adäquate Ableitung des Ebenbildes [exemplum] aus seinem Urbild [exemplar]. Darum werden jene reinen, das heißt die urbildhaften Ideen, auch mit dem richtigen Namen als „Formen" bezeichnet. 98 „Denn wenn wir die übrigen, die in den Körpern sind, als ,Formen' bezeichnen, (so) mißbrauchen wir (diesen Namen), wo sie doch" nicht Ideen, sondern εικόνες, das heißt „Schattenbilder" der Ideen „sind", welche Bezeichnung zu ihnen gewiß besser paßt. „Sie werden", freilich nicht mit vollständiger Ähnlichkeit in ihrer ganzen Substanz oder aber mit halbvollständiger substantieller Ähnlichkeit in einem Teil ihrer Substanz [jenen] nachgebildet - da ja die zeitlichen Dinge keineswegs mit den ewigen verglichen werden können -, sondern sie werden durch eine bestimmte nichtsubstantielle Nachahmung Jenen Formen, die nicht an Materie gebunden sind" - das heißt den reinen Substanzen und den ewigen Ideen „nachgebildet". 99 „[In ihm] gibt es also keine . . . " : Als er im Vorhergehenden gesagt hatte: „was nicht dieses und dieses, sondern ausschließlich dieses ist, das ist tatsächlich das, was ist", folgerte er: „Darum ist das wirklich Eins, worin es keine Zahl gibt"; und zum Beweis des letzteren fügte er wiederum hinzu: „aber auch Zugrundeliegendes kann es nicht sein." 18 Nachdem er dies gezeigt hat, folgert er gewissermaßen wiederum dasselbe: da nun einmal das, was nur dieses ist, weder selbst Zugrundeliegendes, noch in einem Zugrundeliegenden ist, „gibt es in ihm also letztlich keine Verschiedenheit" durch ein differierendes Sein, „keine Vielheit durch jene Verschiedenheit und keine Vielzahl durch die Akzidentien und darum auch keine Zahl", welche entweder durch das Sein von Verschiedenem hervorgebracht zu werden pflegt, oder durch das Verschiedensein eines einzigen Dinges, oder durch ein Akzidens verschiedener Herkunft oder durch das Sein und ein Akzidens. 100 Denn wenigstens gehört ein der Zahl nach oder durch Verschiedenartigkeit
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unterschiedenes Sein und sein Akzidens immer verschiedenen [Dingen] an - wie ein jedes Menschsein nicht durch Verschiedenartigkeit, sondern allein der Zahl nach ein unterschiedliches ist. Bestimmte Akzidentien jedoch sind nur der Zahl nach unterschieden - wie etwa von zwei weißen Dingen Weißheit und Weißheit bestimmte auch durch Verschiedenartigkeit - wie zum Beispiel die Akzidentien Weißheit und Schwärze eines weißen und eines schwarzen Dinges. 101 Das Sehr-vieles-Sein jedoch der Menschen und der Pferde und das dazugehörige Akzidens ist nicht nur der Zahl nach, sondern durch [prinzipielle] Verschiedenartigkeit unterschiedlich. Es gibt auch von einem einzelnen, so von einem beliebigen Menschen, ein Sehr-vieles-Sein und sehr viele Akzidentien, die nicht nur der Zahl nach verschieden sind innerhalb eines Genus, sondern auch verschieden sind auf Grund der Verschiedenartigkeit einiger oder aller ihrer Genera, wie ζ. B. Beseelung, Empfindsamkeit, Vernunftbegabung, Farben, Linien und so weiter.
III 1 In keinem von ihnen „unterscheidet sich jedoch Gott von Gott", das heißt der Sohn und der Heilige Geist vom Vater oder der Heilige Geist vom Sohn. Das sage ich, „damit" Gott und Gott „sich nicht unterscheiden", das heißt nicht so aufgefaßt werden mögen, als ob sie sich in gewissen Dingen innerhalb Gottes „als einem Zugrundeliegenden" unterscheiden; das bedeutet eben, daß sie nicht so aufgefaßt werden, als ob sie sich „durch Differenzen" irgendeiner Art unterschieden - das heißt „durch Akzidentien oder substantielle Differenzen". Da das Eigenschaftsverständnis sowohl diese, als auch die Akzidentien dem Vermögen eines ganz bestimmten Genus zuerkennt, sagt man, daß sie in dem, worin auch das Genus selbst besteht, als ihrem Zugrundeliegenden existieren, wenngleich man auch zurecht negiert, daß sie in einem Zugrundeliegenden sind, da sie ja das, was das Gesamtsein ist, hervorbringen. 2 Denn daß es im Vater weder mehrere Essenzen, noch mehrere Akzidentien, noch ein Akzidens zusammen mit einer Essenz gibt, leugnet niemand, dem nicht unbekannt ist, in welcher Hinsicht gesagt wird, daß der Vater „das ist, was ist". Zu derselben Einsicht gelangt man auch bei seinem Sohn und dem Geist von beiden. 3 „Überall aber" - das heißt entweder im Einzelnen oder in den Vielen -, „wo es keinerlei Differenz gibt" von Essenz und Essenz, Akzidens und Akzidens oder Essenz und Akzidenz, „gibt es keinerlei Vielheit", woraus dieses Eine oder jenes Viele in ihrem Sein begriffen werden könnten. „Darum ist auch nicht" etwas von dem, was entweder jenem Einen oder jenem Vielen das Sein, was es ist, überträgt, „eine Zahl". 4 „Also gibt es" für das Viele wie auch für das Eine „die Einzigkeit" der Essenz, das heißt „nur" eine Essenz, durch die der Vater oder sein Sohn oder der Geist von
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beiden existiert und Eins ist und das ist, was ist: durch das auch sie selbst zugleich und gleichermaßen existieren, Eins sind und das sind, was ist. Denn die Essenz von jenen, die griechisch als ούσία bezeichnet wird, ist sowohl Essenz, wie auch singulär und einfach. Demzufolge wird auch von jedem von ihnen für sich und von allen zusammen sowohl zu sein, eins zu sein, als auch das zu sein, was ist, ausgesagt. 5 Niemanden möge auch das Folgende stören - bei den Naturdingen gilt: daß, obwohl es drei gibt - Piaton, Aristoteles und Cicero -, und gemäß ihrer Anzahl die Nennung von „Mensch" eine dreifache ist, da ja sowohl Piaton ein Mensch ist, Aristoteles ein Mensch ist, als auch Cicero ein Mensch ist, diese dreifache Nennung auch unter ein und demselben Namen zu einer gewissen Anzahl zusammengefaßt wird, wonach Piaton, Aristoteles und Cicero zu Recht als „drei Menschen" bezeichnet werden; nicht aber auch beim Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist obzwar sie drei sind -, und obgleich hinsichtlich ihrer Anzahl die Nennung Gottes eine aktuell dreifache ist, da ja der Vater Gott ist, als auch der Sohn Gott ist, als auch der Heilige Geist Gott ist; ich meine also, daß diese dreifache Nennung nicht unter ein und demselben Nomen zu einer gewissen Anzahl zusammengefaßt werden kann, so daß man richtig behaupten könnte: „Vater, Sohn und der Heilige Geist sind drei Götter." 6 Denn der Grund dafür, daß über jene dreimal „Mensch" ausgesagt wird, ist die Verschiedenheit der Formen, welche über sie unter einem gemeinsamen Nomen ausgesagt werden; die einzelnen Bezeichnungen, die für sich gemacht wurden, werden zu einer Zahl zusammengefaßt, so daß jene zusammen als „drei Menschen" bezeichnet werden, obgleich jeder einzelne von seiner eigenen Subsistenz her, die nicht die des anderen ist, als „Mensch" bezeichnet wird. Und obgleich die Wiederholung ein und desselben Nomens zum Hinweis darauf erfolgte, daß jeder Gemeinname ein „bestimmtes qualitatives [Ding]" bezeichnen soll, ist dennoch die zahlenmäßige Verschiedenheit der Dinge mit dem gleichen Nomen prädiziert worden. 7 „Insofern jedoch (das Nomen) ,Gott' dreimal wiederholt wird - wenn sowohl der Vater (,Gott' genannt wird), als auch der Sohn (,Gott' genannt wird), wie auch der Heilige Geist (,Gott') genannt wird" -, dann stellt das eine Wiederholung sowohl des Nomen - vom Bezeichnen her -, als auch der Sache selbst - vom Gegenstand des Bezeichnens her - dar, durch welch letztere jeder von diesen als „Gott" bezeichnet wird. Wenn diese also anscheinend durch die Wiederholung „drei Einheiten sind, so werden sie eine Vielheit der Zahl", das heißt eine zahlenmäßige Vielheit, „von sich selbst aus nicht hervorbringen", nämlich als scheinbar drei Dinge. Denn sie sind nicht tatsächlich drei. 8 Dies können wir natürlich durch einen Vergleich begreifen, „sobald wir uns den zählbaren Dingen zuwenden", das heißt jenen Objekten, von deren Unterschiedlichkeit eine Zahl zu kommen pflegt, „nicht aber der Zahl" des Zählens „selbst", durch welches bzw. durch eine Nachahmung [von ihr] eine Menge dargestellt wird. 9 „Dort", das heißt bei der Ausführung des Zählens, „schafft freilich" oft die
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Verschiedenheit einer Menge von Dingen, manchmal aber auch nur „die Wiederholung" eines einzelnen, gleichsam eine „bestimmte Anzahl von Einheiten. In Gestalt der Zahl aber, die" nicht auf Grund von Nachahmung als Zahl bezeichnet wird, sondern die auf Grund der wirklichen Verschiedenheit der Dinge wegen ihrer Eigenschaften „in den Dingen (selbst) besteht", welche durch jene Verschiedenheit „zählbar" sind, „bewirkt die Wiederholung" eines einzelnen „mitnichten" diese tatsächliche „zahlreiche Verschiedenheit der (tatsächlich) zählbaren Dinge" - eine Wiederholung, die sich als das Aufzählen einer Menge von „Einheiten", wie auch als „Vielheit" auf Grund der Verschiedenheit der Dinge darstellt. 10 Das bedeutet gewissermaßen: vielmehr bewirkt die unterschiedliche Eigenheit der Dinge die zahlreiche Verschiedenheit der Dinge. Hieraus also wird deutlich, daß wir, wenn wir beim Zählen sagen: „ein, ein, ein" oder „Mensch, Mensch, Mensch" oder ähnliches, dies entweder im Sinne von verschiedenen Eigenheiten sagen, deren Begleiter immer die Verschiedenheit der Einheiten ist, oder aber im Sinne einer Wiederholung ein und desselben, die eine Zahl nachahmt.
[...]
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GILBERT DE LA PORREE Kommentar zu Boethius' „Gegen Eutyches und Nestorios"*
III [...] 31 [...] Nicht nur für vernunftbegabte, sondern auch für nicht-vernunftbegabte individuelle Substanzen gibt es bestimmte Universalien, welche der menschliche Verstand in gewisser Weise aus eben diesen Individuen abstrahiert, um deren Natur durchschauen und deren Eigenschaften erfassen zu können. „Die Idee von den universalen Dingen ist nämlich" durch richtige Überlegung aus ausnahmslos allen, das heißt sowohl nicht-vernunftbegabten als auch vernunftbegabten „partikulären Dingen gewonnen worden";1 das heißt: die universalen Dinge gewinnt der Gedanke aus allen nur möglichen partikulären Dingen. 32 „Weil die Substanzen zwar in den Universalien ein Dasein haben" - wie aus den zuvor genannten Worten der Griechen und der lateinischen Übersetzung ersichtlich ist - und ich nicht sage, daß sie „in den partikulären Dingen" ,sind', sondern - wie ich meine - „in den partikulären Dingen die wirkliche Existenz gewinnen, hat man zurecht usw."2 33 Boethius will klar machen, daß er jetzt sagt, daß die „Substanzen" in den partikulären Dingen seien, während er weiter oben sagte, daß die „Essenzen" in den partikulären Dingen seien. Denn das Sein und das, was ist, können in der Tat auf Grund eines gewissen Gemeinschaftsverhältnisses nicht getrennt voneinander existieren - wie zum Beispiel bei der Körperlichkeit und dem Körper. Denn aktual ist die Körperlichkeit ein Nichts, insofern sie nicht in einem Körper ist, und der Körper ist nicht das, als was er bezeichnet wird, wenn nicht die Körperlichkeit in ihm ist, welche das Sein von ihm darstellt - wobei als richtig gesetzt wird: der Sinn der * Gisleberti Pictavensis Episcopi Expositio in Boetii librum contra Euticen et Nestorium. Unser Auszug: Kap. III-V (teilw.), in: The commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers, hg. ν. Ν. Μ. Häring, Toronto 1966 (= Pontifical Institute of Mediaeval Studies. Studies and Texts 13), S. 278-79, 312, 319-320.
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folgenden Formulierung wird entweder zwangsläufig oder akzidentiell jedem dieser beiden Nomina, das heißt „Essenz" oder „Substanz", beigelegt. 34 Wenn er also sagte: „die Essenzen sind in den Universalien, von wirklicher Existenz sind sie in den partikulären Dingen" 3 - dann sagte er zurecht auch: „die Substanzen haben in den Universalien ein Dasein, in den partikulären Dingen gewinnen sie die wirkliche Existenz", d. h. sind sie von wirklicher Existenz. 35 Und der Sinn ist: die Universalien, welche der Gedanke aus den partikulären Dingen gewinnt, sind da, weil sie als dasjenige bei den partikulären Dingen angesehen werden, wodurch die partikulären Dinge bestimmt sind; die partikulären Dinge aber sind nicht nur das, was sie durch ihr eigenes so beschaffenes Sein sind, sondern sie sind auch von wirklicher Existenz, weil sie die zugrundeliegenden Dinge für die Akzidentien sind, die den Universalien angehören, indem sie die Akzidentien in sich aufnehmen oder als ihnen äußerlich angeheftet annehmen. [..·] IV [...] 118 In der Tat ist gewöhnlich in der Heiligen Schrift die Substanz, welche mit einem anderen Namen „Subsistenz" genannt wird, die Natur derjenigen Dinge, die durch sie existieren. Das Genus darf man jedoch fur nichts anderes halten, als eine Zusammenfassung von Subsistenzen in bezug auf ihre Gesamteigenschaft, die auf Grund der Ähnlichkeit aus Dingen gewonnen wurde, die sich hinsichtlich ihrer Spezies unterscheiden. 119 Auf Grund dieser Übereinkunft aus der Ähnlichkeit werden alle diese Subsistenzen als ein „einheitliches Universale, ein einheitliches Teilbares, ein einheitliches Gemeinsames, ein einheitliches Genus und als ein und dieselbe Natur" bezeichnet. Und durch diese gemeinsame Natur werden - wie gesagt - die Menschen und Ochsen verbunden. 120 „Was aber wird denn überhaupt bei Gott und Mensch auf Grund ihrer Verschiedenheit nicht verschieden sein, wenn man glaubt, daß bei Verschiedenheit (ihrer) Natur" - die gewiß ist, da keine Subsistenz eines geschaffenen Dinges mit dem Wesen des Schöpfers auf Grund von substantieller Ähnlichkeit vergleichbar ist - „auch die Trennung der Personen (in Christus) erhalten bleibt"?4
[...] V [...] 25 [...] An dieser Stelle scheint es angebracht, kurz darüber zu sprechen, daß jedes Subsistierende einerseits eine Natur und andererseits davon verschieden einen Status hat. Das wird im letzten Kapitel dieses Buches noch klarer werden, wenn dort über den Status der menschlichen Natur gehandelt wird. Die Natur eines
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Subsistierenden ist nämlich dasjenige, wodurch das Subsistierende eigentlich erst etwas Bestimmtes ist. Das aber sind die substantiellen Formen und die ihnen in dem Subsistierenden beigegebenen Qualitäten und wechselseitigen Maße. 26 Das Übrige aber, was natürlich über das Subsistierende ausgesagt wird, wird von einigen als dessen „Status" bezeichnet, weil das Subsistierende sich jetzt in dieser und dann wieder in einer anderen Beschaffenheit darstellt, wobei es aber die Maße, Qualitäten und vor allem die Subsistenzen behält, durch die es etwas ist. 27 Denn obgleich oft die Farbe unverändert bleibt und die Längenmaße von drei, vier oder mehr Ellen, und obgleich die echten Subsistenzen immer unverändert bleiben, stellt sich ein und derselbe Mensch hinsichtlich seiner äußeren Akzidentien zu verschiedenen Augenblicken jeweils verschieden dar nach Lage, Raum, Verhaltensmerkmal, Relation, Zeit, Wirken und Leiden, wobei er jedoch derselbe bleibt. 28 Denn es ist derselbe Mensch: ob er sitzt oder steht, ob er außerhalb des Hauses oder in ihm ist, ob er unbewaffnet oder bewaffnet ist, ob er Herr oder Knecht ist, ob es früh oder spät ist, ob er ruht oder tätig ist, ob er vergnügt oder traurig ist.
[...]
17.
JOHANNES VON SALISBURY Metalogicon*
BUCH II Kap. 17. Die schädlichen Lehrmethoden der Modernen und ihre Auffassungen über die Genera und Spezies. [ . . . ] Sie alle handeln nun aber die Natur der Universalien ab und streben danach, dieses Problem als sehr tiefgründige Angelegenheit in einer größeren Untersuchung entgegen der Denkweise des Autors zu erklären. Der eine also beharrt auf den [gesprochenen] Worten [voces], wenngleich diese Auffassung mit ihrem Vertreter Roscelin schon fast völlig verschwunden ist. Ein anderer richtet sich nach den sprachlichen Ausdrücken [sermones] und biegt alles auf sie hin um, was immer er an irgendwo über die Universalien Geschriebenem im Gedächtnis hat. Solch eine Auffassung vertritt der Peripateticus Palatinus, unser Abaelard, der viele [Schüler] zurückgelassen hat und noch immer wenigstens einige hat, die Anhänger und Bekenner dieses Standpunktes sind. Es sind meine Freunde, wenngleich sie gewöhnlich den eingefangenen Buchstaben so verdrehen, daß selbst ein härteres Gemüt zum Mitleid mit ihm bewegt wird. Ein Ding über ein Ding zu prädizieren, halten sie für Unsinn, mag sogar Aristoteles selbst der Urheber eines solchen Unsinns sein, und mag er außerordentlich häufig die Auffassung vertreten, daß ein Ding über ein Ding prädiziert wird, was doch wohl den mit ihm Vertrauten klar ist - es sei denn, sie verheimlichen es. Ein anderer beruft sich auf die Gedanken [intellectus] und sagt, daß natürlich sie die Genera und Spezies sind. Sie stützen sich dabei auf Cicero und Boethius, die Aristoteles als Urheber dafür rühmen, daß man die Genera und Spezies für Begriffe halten und als solche ansprechen müsse. 1 Ein Begriff ist nun nach ihrer Meinung die aus einer zuvor aufgenommenen Form rührende Erkenntnis eines jeden Dinges, die einer Deutung bedarf. Und an anderer * Ioannis Saresberiensis Metalogicon. - Unser Auszug: Buch II, Kap. 17 u. 20, in: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Metalogicon. hg. v. C. C. J. Webb, Oxford 1929, S. 91-96, 97-116.
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Stelle heißt es: ein Begriff ist ein gewisser Gedanke und ein einfaches geistiges Auffassen. 2 Durch ein solches Verfahren wird also alles, was geschrieben wurde, zurechtgebogen, damit der Gedanke bzw. der Begriff die Allgemeinheit von Universalien besitzen. Die hingegen, welche an den Dingen hängen, haben vielerlei und ganz unterschiedliche Meinungen. So gelangt zum Beispiel einer zu folgendem Schluß: da denn alles, was ist, als zahlenmäßiges Eins existiert, so muß ein universales Ding also entweder zahlenmäßig eins sein oder überhaupt nicht existieren; da es aber ausgeschlossen ist, daß die substantiellen Dinge nicht existieren, da hingegen diejenigen Dinge existieren, zu denen die substantiellen wesentlich gehören, dann - so folgern sie aufs neue - sind die Universalien mit dem vielen Singulären in material-gegenständlicher Hinsicht zu vereinen. Dementsprechend werden die Status nach dem Vorbild des Walter von Mortagne 3 aufgeteilt: Piaton bezeichnen sie darin, daß er Piaton ist, als „Individuum"; darin, daß er ein Mensch ist, als „Spezies"; darin, daß er ein Lebewesen ist, als „Genus" - jedoch als ein subalternes; darin, daß er eine Substanz ist, aber als „oberstes Genus". Diese Auffassung hat einige Verfechter gehabt, doch heute bekennt sich längst keiner mehr zu ihr. Jemand nimmt die Ideen an, wobei er Piaton nacheifert und Bernhard von Chartres nachahmt; und er sagt, daß nichts außer ihnen ein Genus oder eine Spezies darstellt. „Die Idee ist das ewige Urbild derjenigen Dinge, die natürlich entstehen", sagt Seneca.4 Und da die Universalien nicht dem Vergehen unterliegen und sich auch nicht in Bewegungen verändern, durch die das viele Singuläre bewegt wird, und da die einen gewissermaßen nur momentan aufhören, sobald andere an der Reihe sind, bezeichnet man sie [die Ideen] im eigentlichen Sinne richtig als die Universalien. Offenbar hält man die singulären Dinge einer substantivischen Kennzeichnung für unwürdig, weil sie niemals beständig sind und zu verschwinden suchen und eine Benennung [als etwas Vorhandenes] auch gar nicht erwarten. Denn sie verändern sich ja derart in den Qualitäten, den Zeiten, Orten und was der Eigenheiten mehr sind, daß ihr ganzes Sein nicht den Eindruck eines stabilen Status, sondern den eines wechselvollen Vorübergehens macht. Wir bezeichnen aber als Sein - wie Boethius sagt -, was weder durch Verstärkung anwächst, noch durch Zurücknahme verkleinert wird, sondern sich immer auf die Stützen seiner Natur verläßt und sich damit selbst erhält.5 Das aber sind die Quantitäten, Qualitäten, Relationen, Orte, Zeiten, Fähigkeiten und alles, was gewissermaßen als Vereinendes in den Körpern gefunden wird. Diese mit den Körpern gewissermaßen verbundenen Dinge haben den Anschein, sich zu verändern; sie bleiben in ihrer Natur jedoch unveränderlich. Ebenso bleiben ja auch die Spezies der Dinge dieselben, obgleich die Individuen vorübergehen; wie zum Beispiel die Bewegung des Wassers im Flusse verbleibt, wenngleich die Wellen an uns vorbeifließen; denn er behält die gleiche Bezeichnung. Daher auch dieser Ausspruch bei Seneca, jedoch
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nicht ganz treffend: „zweimal steigen wir in denselben Fluß hinab und steigen nicht zweimal in denselben Fluß hinab." 6 Die Ideen nun, daß heißt die musterartigen Formen, bzw. die Anfangsgründe von allen Dingen, die weder eine Verringerung, noch eine Vermehrung durchmachen, sind beständig und fortdauernd, so daß sie, mag auch die gesamte körperliche Welt untergehen, nicht zugrundegehen können. Die Anzahl aller körperlichen Dinge beruht auf ihnen; und - wie Augustinus im Werk „ D e libero arbitrio" offenbar ausfuhrt - wird die Anzahl der Dinge weder verkleinert noch vergrößert, auch wenn es geschieht, daß die zeitlichen Dinge untergehen, da die Ideen ja immer existieren. 7 Sicherlich ist es groß und für die Philosophen bekannt, welche die höheren Dinge betrachten, was die Genannten darbieten. Wie Boethius und viele andere maßgebliche Autoren aber bezeugen, ist es jedoch weit von der Auffassung des Aristoteles entfernt. Denn gerade er widersetzt sich der vorigen Auffassung des öfteren, wie es aus seinen Werken offenkundig wird. Bernhard von Chartres und seine Hörer haben sich weidlich bemüht, zwischen Aristoteles und Piaton zu vermitteln. Ich meine aber, daß sie nur schleppend vorangekommen sind und sich umsonst bemüht haben, Tote wieder zu versöhnen, welche, solange es im Leben möglich war, getrennter Meinung waren. Nun haben aber andere, um Aristoteles wiederzugeben, mit Bischof Gilbert von Poitiers 8 die Allgemeinheit den angeborenen Formen [formae nativae] zugesprochen und sich u m ihre Adäquatheit [conformitas] bemüht. Eine angeborene Form aber ist ein Ebenbild des Originals, was sich nicht in Gottes Geist befindet, sondern den geschaffenen Dingen innewohnt. Sie wird im Griechischen als είδος bezeichnet, was sich so zur Idee verhält, wie das Ebenbild z u m Urbild. Sinnlich wahrnehmbar ist sie in einem sinnlichen Ding; durch den Geist aber wird sie als nicht sinnlich wahrnehmbar erfaßt; einzeln existiert sie in dem vielen Singulären, universal aber ist sie in einer Gesamtheit von Dingen. Und es gibt einen anderen, der mit Bischof Gauslenus von Soissons 9 die Allgemeinheit denjenigen Dingen zuspricht, die in eins zusammengefaßt worden sind; den jeweils singulären aber spricht er selbige ab. Von da, sobald er an die zu interpretierenden gültigen Lehrmeinungen gekommen ist, quält er sich vor Schmerz, da er es bei vielen Gelegenheiten nicht aushält, den offenen Mund des zur Wissenschaft nicht Geschaffenen zu tragen. Einen anderen gibt es, der sich zum Mittel einer neuen Sprache flüchtet, da er von der lateinischen nicht genügend Kenntnis hat. Sobald er „Genus" bzw. „Spezies" vernimmt, sagt er nämlich das eine Mal, daß es gewisse Dinge seien, die man als universale zu verstehen hat, dann interpretiert er sie wieder als,Abart, Typ" [maneries] von Dingen. Mir ist aber nicht klar, bei welchem anerkannten Gelehrten er diesen Namen bzw. diese Unterscheidung gefunden hat, wenn es nicht vielleicht aus den Sammlungen alter Wörter oder den Worten der modernen Gelehrten stammt. Ich sehe hier aber auch nicht, was er bezeichnen will, wenn es nicht eine Ansammlung von Dingen ist, wie bei Gauslenus, oder ein universales Ding, was er sich jedoch scheut, als ,Abart, Typ" zu
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bezeichnen. Denn auf jedes von beiden kann der Name von der Interpretation her bezogen werden, weil man „Abart" als „Anzahl" von Dingen oder als „Status" von Dingen bezeichnen kann, worin ein solches Ding seine Permanenz hat. Und es fehlt auch derjenige nicht, welcher sein Augenmerk auf die Status der Dinge richtet und eben sie als „Genera" und „Spezies" bezeichnet. [...]
Kap. 20. Die Auffassung des Aristoteles über die Genera und Spezies, ergänzt durch vielfältige Überlegungen und Schriftbelege Aristoteles behauptete nun aber, daß Genera und Spezies nicht existieren, sondern nur gedacht werden. Was hat es dann also mit der Realität zu tun, wenn man fragt, was ein Genus ist, und er feststellt, daß dieses überhaupt nicht existiert? Töricht ist es nämlich, bei dem, was nicht ist, nachzuforschen, was, wieviel oder wie beschaffen es ist; denn allem, dem du die Substanz nimmst, bleibt vom Übrigen auch nichts mehr. Wenn also Aristoteles Recht hat, wenn er ihnen das Sein abspricht, so erübrigt sich eine Nachforschung nach der Substanz, der Quantität oder der Qualität oder dem Grund, da von dem, was nicht ist, weder Substanz noch Quantität noch Qualität, noch eine entsprechende Ursache dafür nachgewiesen werden kann, daß das, was nicht ist, dieses sei oder aber jenes oder so groß sei oder so beschaffen. Darum muß man entweder von Aristoteles abweichen und einräumen, daß die Universalien existieren, oder Meinungen entgegentreten, welche sie den [gesprochenen] Worten, den sprachlichen Ausdrücken, den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, den Ideen, angeborenen Formen und Ansammlungen [collectiones] zurechnen: denn vom zuletzt Genannten steht es nicht in Zweifel, daß jedes einzelne existiert. Wer aber entschieden hat, daß die Universalien existieren, richtet sich gegen Aristoteles. Es darf aber auch nicht befürchtet werden, daß ein Gedanke leer wäre, welcher sie als getrennt von den vielen Singulären begreift, obgleich sie ja nicht abgetrennt von diesen existieren können. Ein Gedanke erfaßt nämlich ein Ding einmal schlechthin, wie zum Beispiel dann, wenn der Mensch oder der Stein für sich betrachtet werden, und es ist aus diesem Grunde ein elementarer Gedanke [intellectus simplex]; und dann dringt er schrittweise in ihre Eigenschaften ein, wie zum Beispiel dann, wenn er sieht, daß ein Mensch weiß ist bzw. ein Pferd läuft. Und letzterer wird gerade als „zusammengesetzter Gedanke" bezeichnet. Des weiteren erfaßt ein elementarer Gedanke manchmal ein Ding so, wie es ist - wie dann, wenn er sein Augenmerk auf Piaton richtet -, und manchmal auf andere Art; das eine Mal, indem er zusammenfügt, was [von Natur] nicht zusammengesetzt ist, und das andere Mal, indem er lostrennt, was nicht getrennt existieren kann. Wer sich nämlich einen Bockshirsch ausdenkt oder einen Zentauren, der stellt sich eine [in der Realität] unbekannte Zusammensetzung von Menschennatur und Tier bzw. von
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Tier und Tier vor. Und wer eine Linie oder eine Fläche ohne einen Körper in die Betrachtung zieht, trennt gewiß eine Form der visuellen Betrachtung von der Materie, obwohl eine Form ohne Materie nicht existieren kann. Trotzdem begreift dieser abstrahierende Gedanke die Form nicht als existent ohne Materie, [indem er sie voneinander lostrennt], andernfalls wäre er zusammengesetzt, sondern er betrachtet das eine einfach, für sich allein und ohne das andere, wenngleich es ohne dies nicht existieren kann. Dies beurteilt er aber auch nicht voreingenommen auf Grund von dessen Einfachheit, vielmehr ist er desto einfacher, je Einfacheres er einzeln - ohne Beimischung von Anderem - genau erfaßt. Dies widerspricht nun auch nicht der Natur der Dinge, die dem Gedanken diese Fähigkeit zu ihrer Erforschung verleiht, damit er Verbundenes trennen und Getrenntes verbinden kann. Wenn er zusammensetzt, indem er das Getrennte verbindet, ist er im übrigen wertlos; zuverlässig aber ist er, wenn er abstrahiert - gleichsam eine Werkstätte für sämtliche Künste darstellend. Zwar gibt es in den Dingen nur einen einzigen Existenzmodus, nämlich den ihnen von Natur gegebenen, nicht aber nur einen einzigen Modus ihres gedanklichen Erfassens und Kennzeichnens. Denn „Mensch [an sich]", der weder dieser oder jener ganz bestimmte Mensch ist, kann zwar nicht existieren, wohl aber gedacht und eindeutig gekennzeichnet werden, ohne daß dabei ein bestimmter einzelner Mensch gedacht oder gekennzeichnet wird. Zur Bezeichnung alles Unverbundenen werden durch den abstrahierenden Gedanken also die Genera und Spezies gefaßt; wenn jemand aber dieses, etwas sehr genau von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen Getrenntes, in der Wirklichkeit sucht, dann wird er nichts ausrichten und sich vergeblich bemühen; denn die Natur hat von so etwas keine Kenntnis. Der Verstand aber erkennt dieses, indem er bei sich die substantielle Ähnlichkeit von verschiedenen Dingen untersucht; und er definiert - wie Boethius sagt - seinen eigenen umfassenden Begriff, den er aus der Wesensgleichheit der Menschen gewinnt, das heißt den folgenden Begriff: „vernunftbegabtes sterbliches Lebewesen".10 Das kann natürlich - außer in dem vielen Singulären - nicht existieren. Genera und Spezies sind somit nicht gewisse Dinge, die dem vielen Singulären aktual und von Natur aus fernstehen, sondern gewisse Einbildungen [phantasiae] von natürlichen und aktualen Dingen, die für den Gedanken aus der Ähnlichkeit der aktualen Dinge - gleichsam im Spiegel der angeborenen Reinheit der Seele selbst - diejenigen Gegebenheiten festhalten, die die Griechen die έννοιαι oder εϊκονοφαναί nennen, das bedeutet: die sich im Geist darbietenden Abbilder der Dinge. Die Seele, die gewissermaßen durch die Schärfe ihrer Betrachtung auf sich verwiesen wurde, findet nämlich in sich selbst, was sie definiert; denn auch von diesem ist ein Muster in ihr, das Ebenbild aber in den aktualen Dingen. Zum Beispiel wird, wenn man in der Grammatik sagt: „Nomina mit dieser Endung sind Feminina oder Neutra",11 eine bestimmte allgemeine Regel vorgeschrieben, welche gewissermaßen Muster einer Menge von deklinierbaren [Worten] ist; die Ebenbilder liegen jedoch in sämtlichen Formulierungen mit sol-
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eher Endung vor. Derart werden bestimmte Muster im Geist gebildet, deren Ebenbilder die Natur geformt und den Sinnen dargeboten hat. Diese Muster sind demnach gewiß Gedankliches und nach Aristoteles gleichsam Einbildungen und Schatten des wirklich Existierenden, die, wenn sie jemand in der Existenz erfassen will, welche sie getrennt von dem vielen Singulären besitzen, ebenso wie Träume entgleiten werden. Sie sind nämlich „Hirngespinste", die allein dem Gedanken offenstehen. Wenn man die Universalien nun als „substantiell" für das viele Singulare bezeichnet, so muß dies auf die Ursache der Erkenntnis und die Natur des vielen Singulären bezogen werden. Es erhellt dies nämlich in jedem einzelnen Ding, wenn das Niedere wirklich ohne das Höhere weder sein noch erkannt werden kann. Denn „Mensch" existiert nur, wenn „Lebewesen" ist. „Mensch" wird aber auch nicht begriffen, ohne daß zugleich „Lebewesen" begriffen wird, da der Mensch ja ein bestimmtes Lebewesen ist. Ebenso ist auch in Piaton ein Mensch, da Piaton [als Mensch] existiert und begriffen wird, und zwar als dieser bestimmte Mensch. Dazu, daß ein Mensch existiert, ist Voraussetzung, daß ein Lebewesen existiert; umgekehrt ist es jedoch nicht so, daß ein Lebewesen weder existieren noch begriffen werden kann, wenn kein Mensch existiert oder begriffen werden kann. Denn in der Wesenscharakteristik [ratio] von „Mensch" ist „Lebewesen" enthalten, in der Wesenscharakteristik von „Lebewesen" aber nicht „Mensch". Da also dieses genau jenes zur Voraussetzung hat und nicht von jenem vorausgesetzt wird - sowohl hinsichtlich der materialen Gegenständlichkeit als auch begrifflich -, wird jenes demzufolge als „substantiell" für dieses bezeichnet. Genauso ist es bei den Individuen, welche Spezies und Genera zur Voraussetzung haben, jedoch von diesen in keiner Weise vorausgesetzt werden. Das Individuum würde nämlich weder eine Substanz besitzen noch zur begrifflichen Bestimmung gelangen, wenn es nicht eine Spezies oder ein Genus gäbe, das heißt, wenn es nicht ein Was oder dieses oder jenes So-Beschaffene anzeigt. Trotzdem sagt man, daß die Universalien Dinge sind und daß sie gewöhnlich einfach sind. Deswegen darf man in ihnen jedoch weder eine körperliche Masse, die Feinheit von Geistern, noch eine ganz bestimmte Gegenständlichkeit wie beim vielen Singulären sehen. Denn auch das, was unter die Bejahung und Verneinung fällt, wird als „Ding" bezeichnet, und man sagt, daß das Wahre „existiert"; trotzdem wird es aber nicht zu den Substanzen oder Akzidentien gezählt oder nimmt den Namen „Schöpfer" oder „Geschöpf an. Freilich muß, wie der treffliche Ulgerius, Bischof von Angers 12 , in der Abhandlung „Venalitium diseiplinarum" sagt, „der sprachliche Umgang miteinander gefallig sein"; denn auf einem Marktplatz mit philosophierenden Menschen ist die Güte im Überfluß, und die Worte werden nach Gefälligkeit hin und her gezogen. Daher mag gelten, daß die Universalien wirklich existieren oder auch wie Dinge sind, wenn Hartnäckigen das gefällt; wahr wird es deshalb jedoch nicht sein, die Zahl der Dinge deswegen zu vergrößern oder zu verringern, weil jene nicht zur Zahl der Dinge gehören. Wenn nun aber jemand die Universalien gesondert durchgeht, dann würde er finden, daß
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sie zwar zahlenmäßig bestimmt sind, jedoch ihre Anzahl nicht in Gemeinschaft mit der Anzahl von vielem Singulären gebracht wird. Denn ebenso, wie die Häupter nicht zu den Kollegien oder Körperschaften gezählt werden, bzw. die Körperschaften nicht zu den Häuptern, werden auch die Universalien nicht zu dem vielen Singulären gezählt, und das viele Singuläre erhält auch keinen zahlenmäßigen Zuwachs durch die Universalien. Denn eine Zahl umfaßt natürlich diejenigen Dinge, die dieselbe Wesenscharakteristik haben und die die Natur in einzelne Genera von Dingen geschieden hat. Kein Universale aber existiert, was nicht in dem vielen Singulären aufgefunden wird. Trotzdem ist es von vielen als davon Getrenntes gesucht worden; aber alle haben schließlich nichts in ihren Händen vorgefunden, da ja nichts getrennt von dem vielen Singulären existiert, es sei denn das, was das wahre oder wahrscheinliche Bezeichnete von zusammengesetzten Ausdrücken ist. Es kann daran auch nichts ändern, daß das viele Singuläre und die körperlichen Dinge Ebenbilder der Universalien und unkörperliche Dinge sind, da jedes Verhältnis des Hervorbringens - wie Augustinus sagt - unkörperlich und übersinnlich ist, und trotzdem dasjenige, was hervorgebracht wird, und der Akt, durch den es hervorgebracht wird, meistens sinnlich wahrnehmbar sind. Also ist das, was der Geist auf allgemeine Weise begreift und sich gleichermaßen auf eine Menge von vielem Singulären bezieht und was ein Wort auf allgemeine Weise bezeichnet und für vieles gleichermaßen wahr ist, unzweifelhaft ein Universale. Gerade aber, „was begriffen wird" und „was bezeichnet wird", muß gefälliger gedeutet werden, damit es keinesfalls in die Bedrängnis des Disputierens und die Subtilität der grammatischen Kunst gebracht wird, die es von ihrer Natur her nicht duldet, daß die Demonstrativausdrücke unbestimmt sind - es sei denn bei gegebener Erlaubnis zur Freizügigkeit. Sie erlaubt es aber auch nicht, daß die Relativbestimmungen ungenau sind, damit deren Bedeutung nicht hinsichtlich der Bestimmung der Person, des Handelns und der Bewegung mit anderen zusammengedrängt wird. Eine Relativbestimmung ist doch wohl eine, die ein Ding genau in dem Sinne bezeichnet, wie der Ausdruck bzw. der Gedanke über das Ding, der unmittelbar vorherging. Wenn man daher sagt: „Vernünftig und glücklich ist, wer das Gute kennt und es auch glücklich ausfuhrt", dann werden Relativbestimmungen - nämlich „wer" und „es" - durch die Festlegung seitens des Erkenntnisakts sozusagen hinsichtlich ihrer eigenen Unbestimmtheit eingeengt, wenngleich sie keine bestimmte Person ausdrücken. Dennoch ist es notwendig, daß irgendein bestimmter Mensch diesen Formulierungen zugrunde liegt, welcher sowohl das Gute kennt als es auch ausfuhrt und darum glücklich ist. Denn nur durch einen Fehler oder eine sinnbildliche Rede kann dasjenige, worauf ein Relationsausdruck sich bezieht, ein völlig Ungewisses und Unbestimmtes sein. Wenn zum Beispiel ein Pferd im allgemeinen versprochen wird und ein Gläubiger sagt: „das Pferd, welches mir versprochen wurde, ist gesund oder krank" - so beweist man, daß er herumschwatzt, da jedes Pferd entweder
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gesund oder krank ist; also gibt es kein Pferd, welches ihm versprochen sein soll. Ich sage nicht: „es gibt es nicht", weil es nicht existiert - denn auch das, was nicht existiert, wie etwa die Niederkunft der Arethusa 13 , wird auf eine bekannte wechselseitige Verbindung zurückgeführt -, sondern weil die Spezies, das heißt das wohlbestimmte Ding, keine wechselseitige Verbindung zu dem Genus eingeht. Wenn ich nämlich „was versprochen wird", „was bezeichnet wird", „was begriffen wird" und ähnliches sage, dann handelt es sich um einen wohlbestimmten Gegenstand für ein Versprechen oder eine Bezeichung, sofern es ein echter Relationsausdruck ist; und dennoch treten Relationsausdrücke in einem Genus auf, welche - unbeschadet eines richtigen Inhaltes - nicht auf eine Spezies bezogen werden können. So etwa, wenn man sagt: „Das Weib, welches die Erlösung brachte, brachte die Verdammnis." „Holz, welches den Grund gab für den Tod, gab den Grund für das Leben." „Laub, welches der Nordostwind fortträgt, brachte der milde Westwind zurück." Ebenso muß man nach meiner Meinung auch bei dem, was ich zuvor nannte, die Relativbestimmungen auffassen, so daß sie nicht zu einer Spezies fortlaufen - das heißt zu etwas Festgelegtem, was sie genau bestimmen -, sondern in einem Genus subsistieren. Zum Beispiel ist das, was durch das Nomen „Mensch" bezeichnet wird, eine Spezies, da ja der Mensch bezeichnet wird und dieser eine Spezies der Lebewesen ist. Was durch das Nomen „Lebewesen" bezeichnet wird, ist ein Genus, denn dadurch wird das Lebewesen bezeichnet und dieses ist ein Genus der Dinge; denn es ist ein vom gesprochenen Wort eindeutig Bezeichnetes, worauf sich das Nomen konkret bezieht oder was die Seele vernünftig aus dem gehörten Wort erkennt. Daher geht derjenige, der das Wort „Mensch" hört, nicht sämtliche Menschen durch - da diesfe Menschen alle] etwas Unbegrenztes ist und die Kräfte übersteigt - und hält sich auch nicht bei einem einzelnen auf, da das ja für die Lehre nicht genügt und unvollkommen ist. So definiert auch deqenige, der sagt, daß ein Lebewesen eine beseelte und empfindungsfähige Substanz ist, nicht irgendein Einzelnes und damit Unvollkommenes, noch alles zusammen, damit er sich nicht bis ins Unendliche abmüht. Jedes von ihnen bezeichnet oder definiert nämlich nicht einfach ein „Was", sondern eher ein „Wie Beschaffenes", dabei nicht schlechthin ein Dieses, sondern vielmehr ein So-Beschaffenes. Das gleiche ist bei demjenigen der Fall, was Galen in der Τέχνη als Medizin bezeichnet, nämlich „eine Wissenschaft von den Gesunden, Kranken und von denen, die beides nicht sind."14 Er sagt nicht „von allen", weil das unbestimmt ist, und auch nicht „von etlichen", da das für die Kunst ungenügend ist, sondern vielmehr „von bestimmt Gearteten". So sagt auch Aristoteles: „Genera und Spezies bestimmen mit Bezug auf die Substanz die Qualität; nicht jedoch ein ,Was' schlechthin, sondern sie bestimmen in bestimmter Weise ein ,Wie Beschaffenes'." 15 Ebenso in den „Widerlegungen": „ ,Mensch' bezeichnet wie alles Allgemeine kein [beliebiges],Dieses', sondern ein ,Wie Beschaffenes', ein,Relativ zu' oder ein ,Auf welche Weise' und dergleichen." Und wenig später: „Man darf also offenbar nicht zugeben, daß das von allen
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gemeinsam Prädizierte ein,Dieses' ist, sondern man muß sagen, daß es ein ,Was für ein', ein,Relativ zu', ein ,WievieP oder dergleichen bezeichnet." 1 6 Was kein Dieses ist, kann seinem Was nach sicherlich nicht eindeutig in einer Aussage gekennzeichnet werden. Denn alles von Natur aus Existierende hat eine wohlbestimmte Grenze und das Singuläre ist durch seine jeweiligen eigentümlichen Merkmale wechselseitig voneinander wohlunterschieden. Aber zugleich ist der auf sie gerichtete Denkakt [cognitio] meistens weniger genau abgegrenzt, und in gewissem Sinn ist ein sich auf sie beziehender Begriff mehrdeutig. Sie sind auch nicht durch die goldene Regel gebunden, die in beinahe aller Munde ist, daß nämlich die Gemeinnamen das eine bedeuten und ein anderes benennen. Das viele Singuläre wird [von ihnen] benannt, die Universalien aber machen ihren Bedeutungsinhalt aus. Sicherlich steht dazu eine Bezugnahme auf ein Genus vermittels eines einfachen Relationsausdrucks nicht im Widerspruch; wenn damit aber eine deutliche gegenseitige Abgrenzung erfaßt werden soll, so ist das vielleicht nicht möglich. Eine Regel besagt, daß das Aufzeigen die erste Kenntnis bewirkt und die Relation die zweite hervorbringt. 17 Andererseits umschreibt eine Erkenntnis ein Ding, insofern sie es kennt, indem sie es mit einem bestimmten Fassungsvermögen des ihr gehörenden Geistes definiert. Das zieht nach sich, daß weder eine erste noch eine zweite Erkenntnis entstehen kann, wenn ein Ding für die Seele fortwährend unbestimmt erscheint. Denn jedes Wissen bzw. jeder Begriff in einem Geschöpf ist begrenzt; bei Gott allein gibt es ein unbegrenztes Wissen, da er unbegrenzt ist. Seinem eigenen unermeßlichen Wesenszweck gemäß aber definiert er alles noch so Unermeßliche mit höchster Genauigkeit, indem er sich des seiner eigenen Unermeßlichkeit entsprechenden Wissens und der Weisheit bedient, die weder Zahl noch Grenze hat. Wir aber halten uns an menschliches Maß, welches für sich weder den ersten, den zweiten noch den dritten, sondern überhaupt keinen Wissensruhm eines unbegrenzten Dinges in Anspruch nimmt, es sei denn das Wissen, daß es als unbegrenztes unerkannt ist. Jede Formulierung, die aufweisend oder rückbezüglich bezeichnet, wird daher entweder nicht genügend in eigentlicher Bedeutung verwendet oder mit Gewißheit, und sie stützt sich dann in ihrer Bedeutung auf einen eingegrenzten Gegenstand; ansonsten werden die Formulierungen ihres Nutzens verlustig gehen, da die Absicht der Erkenntnis der Begrenzung durch die Gewißheit nachstrebt oder sie bewahrt. Häufig ist jedoch die regelwidrige Geltendmachung, und auch von Unerlaubtem gibt es aus Gründen der Bequemlichkeit oft vielerlei Gebrauch. Und nicht nur, um jene zu necken, für die es bei jeder denkbaren Sache genug daherzuplappern gibt, sondern auch, u m bei den Hörern guten Glaubens die Einsicht in die Wahrheit zu begründen, räumt man ein, daß J e d e r Mensch sich liebt". Dieses wirst du vielleicht als fehlerhaftes und falsches Diktum beklagen, wenn du es von der Eigentümlichkeit des Relationsausdrucks her erörterst. Denn gewiß liebt nicht jeder jeden und es gibt auch keinen, der von jedermann geliebt wird, so daß - mag das Diktum Jeder" nun kollektiv oder distributiv verstanden
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werden - das Relativpronomen „sich", was angefugt wird, weder einer Gesamtheit von vielem Singulären noch einem bestimmten von diesen allen wahrhaftig zukommen kann. Daher liegt hier eine willkürliche Relation vor, eine gewissermaßen durch die Erlaubnis ihres eigenen Gesetzes erwirkte, die durch eine Wahrheit bei vielem Singulären die Bestätigung für das Universale erreicht. Da ja jener Ausdruck bei vielem Singulären wahr ist, weil jeglicher einzelne [Mensch] sich liebt, wird auch in einem distributiven Sinne von allen zusammen bejaht, „daß jeder Mensch sich liebt", zwar durch eine freier aufgefaßte Relation, als wenn man - ausgehend von der Enge der Grammatik - eine Gesamtheit auf einmal benennt oder eines von dem vielen Singulären für sich aus der Gesamtheit herausnimmt. Darum ist dies der Meinung derjenigen zufolge, welche immer den Schwierigkeiten und Feinheiten das Wort reden und sich auch nicht um den Sinn des guten Glaubens in den Gesprächen oder Vorlesungen bemühen, auch eher die Form einer Aussage, als die Aussage einer der [grammatischen] Regel entsprechenden Form. Dasselbe behaupten sie auch, so oft ein Pronomen in Relation zu einem Gemeinnamen steht, weil ein Pronomen, das konstant demonstrativ oder relativ ist, die Stelle des Eigennamens einnimmt 18 - jedoch nur, wenn es genau dem Grund der ursprünglichen Einsetzung entspricht, denn inzwischen dehnt es sich aus Nachlässigkeit [in der Bedeutung] weiter aus. Daher ist dann, wenn gesagt wird: „wenn etwas ein Mensch ist, dann ist dieses ein Lebewesen", nicht so sehr eine hypothetisch ausgesprochene Konsequenz als vielmehr die Form einer Konsequenz in hypothetisch Auszudrükkendem gegeben. Denn der Ausdruck „dieses" wird aus Disputationsstrenge nicht auf einen Menschen bezogen, noch erhellt aus anderem, worauf er genau bezogen werden könnte. Daher kommen auch die vielen Bedrängnisse seitens derer, welche die Menschen von geringerer Bildung oder wohlwollenderer Natur quälen, obgleich sie selbst verunsicherte Kritiker sind und sich aufdringlich entweder aus Unwissenheit, aus Dreistigkeit oder aus Gier nach Erfolg abmühen. Genauso, wie eine Erkenntnis nach Gewißheit strebt, beziehen sich also die Demonstrativ- und Relativpronomina, welche eine erste oder eine andere Erkenntnis erzeugen, auf einen ganz bestimmten, eingegrenzten Gegenstand; und diesen weisen sie, wenn sie im eigentlichen Sinne gebraucht worden sind, der Seele auf singuläre Weise vor. Doch gesetzt den Fall, daß die Gemeinnamen einen genusartigen Status bedeuten (ich bin nämlich kein Freund von Streitigkeiten, der ich längst öffentlich erklärt habe, daß ich in jenen Dingen, welche fur den Weisen in Zweifel stehen können, ein Akademiker bin): Was mag dieser Status sein, in dem das viele Singuläre vereinigt wird und der nicht zum vielen Singulären gehört, wenn ich es mir auch irgendwie erträumen mag? Wie die Annahme eines solchen Status sich jedoch der Meinung des Aristoteles anpaßt, der fest davon überzeugt ist, daß die Universalien nicht existieren, halte ich nicht fur klar. Die Bezeichnungen „unkörperlich" und „nicht wahrnehmbar" jedoch, bei welchen ich davon ausging, daß sie auf die Universalien zutreffen, sind natürlich Negativbestimmungen in
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ihnen, und sie statten diese auch nicht mit bestimmten Eigenheiten aus, wodurch die Natur der Universalien beurteilt werden könnte, wenigstens wenn nichts Unkörperliches oder Nicht-Wahrnehmbares ein Universale ist. Denn alles, was unkörperlich ist, ist entweder Geist oder eine Eigenschaft des Körpers oder Geistes. Wenn dies aber nicht auf ein universales Ding zutrifft, nimmt es gewiß die Bezeichnung „Unkörperliches" nicht zu Recht an. Was aber ist unkörperlich, das keine von Gott geschaffene Substanz oder etwas mit ihm Verbundenes wäre? Wenn die Universalien unkörperlich sind, so sind sie daher entweder Substanzen, das heißt Körper, oder Geister oder Verbindungen aus diesen; und sie sind von der Ursache ihrer Existenz her und durch bestimmte Berührung mit der Substanz dem Schöpfer unterworfen. Die Universalien mögen aber Wohlleben, ja vielmehr umkommen, wenn sie ihm nicht unterworfen sind: „Alles ist durch ihn geschaffen" 1 9 - jedenfalls sowohl die Grundlagen der Formen als auch die Formen von den zugrundeliegenden Dingen - , so daß sie existieren, in dem sie hinsichtlich der von ihm stammenden Qualitäten oder Wirkungen ausgesagt werden. Damit eine Substanz von ihm her Substanz ist, soll sie „wieviel", „wie beschaffen", „bezogen a u f , „irgendwo", „irgendwann" sein und etwas besitzen, tun oder leiden, wobei er der Urheber ist, durch den jede Substanz, jede Eigenheit einer Substanz und jeder Bestandteil sowie auch jedes Gefüge von Teilen besteht. A u c h die substantiellen wie die akzidentiellen Formen entnehmen ihre Existenz von ihm und bringen seine Wirkungen in den zugrundeliegenden Dingen hervor. Was ihm demnach nicht unterworfen ist, ist ein völliges Nichts. Wenngleich nämlich die Stoiker eine mit Gott gleich-ewige Materie annehmen und sagen, daß für die Form keinerlei bestimmendes Prinzip vorhanden gewesen ist - wobei sie drei bestimmende Prinzipien ansetzen: Materie, Form und Gott, welch letzteren sie freilich nicht als den Schöpfer, sondern als den Vermittler der zuvor genannten bestimmenden Prinzipien ansehen - , und mögen auch etliche andere Philosophen von Beruf wie aus Leidenschaft, die jedoch in keiner Weise einen Vollbegriff des Wahren erlangen, vielerlei bestimmende Prinzipien erdichten, so gibt es dennoch von allen Dingen ein einziges bestimmendes Prinzip, von woher all das kommt, was mit dem richtigen Namen als bestimmtes Ding eingeschätzt wird. Denn Augustinus sagt ja, „Gott hat eine geformte Materie geschaffen", 20 da sie ja niemals ohne Formen vorhanden ist, obwohl sie irgendwo als „formlos" bezeichnet wird. Der Verstand dient also der Erforschung und nicht der Tätigkeit, denn der Intellekt beschreibt die ΰλη [Materie] - die weder formlos ist, noch existieren oder vollständig begriffen werden kann, wenn die Umkleidung der Formen gewissermaßen weggenommen wird - solange, bis der Verstand [seiner Kräfte] entblößt ist und der Intellekt selbst ohnmächtig da steht. Denn die Verstandeskräfte schwinden in gewisser Weise in der Umgebung der ursprünglichen Prinzipien der Dinge. Von hier rührt auch, was Boethius im Werk „Contra Eutychen et Nestorium" sagt, als er die Natur definiert, daß jene nämlich zu denjenigen Dingen gehört, die, weil sie sind,
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auf irgendeine Weise durch den Verstand erfaßt werden können. 21 Als er jedoch die Bedeutung der Definition erklärt, sagt er, daß das Wort „auf irgendeine Weise" wegen Gott und der Materie hinzugefugt ist, weil der menschliche Intellekt bei deren Durchforschung ermattet. Andererseits hat Gott die Materie aus dem Nichts geschaffen, und mit ebendieser Materie ist die Form verbunden, indem sie zu gleicher Zeit gleichfalls aus dem Nichts geschaffen worden ist, jedoch in der Weise, daß der Form das Vorrecht des Unterscheidens und der Materie das des Existierens überlassen wird. In bestimmter Hinsicht existiert nämlich die Form durch die Materie, wie ebenso ebendiese Materie durch die Form unterschieden wird. Denn die Form ist weder ein für sich existierendes Ding, noch ist die Materie ohne Zutun der Form innerlich differenziert. Es würde ein Chaos geben, oder die sinnlich wahrnehmbare Welt würde vielmehr ein Nichts sein, wenn er nicht die leblosen Gestalten der Dinge mit den naturgemäß dazugehörigen Formen verbünde. Darauf bezieht sich auch jener Satz des Boethius aus dem ersten Buch von „De trinitate": ,Alles Sein stammt aus der Form", was er auch mit gegenständlichen Beispielen belegt: „Eine Statue", so sagt er, „wird nicht auf Grund der Bronze, die ihre Materie ist, als Statue bezeichnet, sondern wegen der (Hektor- und Achilles)form, die der Bronze eingeprägt worden s i n d . . . Ebenso bezeichnet man Bronze nicht wegen der Erde, die ihre Materie ist, als Bronze, sondern wegen der Formen, die sie aus der Natur aufgenommen hat. Auch die Erde selbst wird nicht wegen der «ποιος ΰλη [der ungestalteten Materie], die die Materie von ihr ist, als Erde bezeichnet, sondern wegen der Trockenheit und Schwere, die Formen sind."22 Für alles kommt also das Sein, was es ist, oder die Qualität oder die Quantität von der Form her. Genauso aber, wie es der Materie eignet, genau dieses sein zu können, oder so groß und so beschaffen, eignet es auch den Formen vom Schöpfer her, daß sie dieses oder etwas anderes erwirken können - zum Beispiel ein Lebewesen, ein Stück Holz, etwas so und so Großes oder etwas von der oder der Beschaffenheit. Wenngleich im übrigen die μάθησις [der Unterricht], die sich belehrend bei Abstraktionen aufhält und mit ihrer Subtilität das natürlich Verbundene trennt, dieses voneinander getrennt untersucht, um die Natur der Zusammensetzungen sicherer und ausgeprägter zu bestimmen, so kann dennoch eines ohne das andere nicht bestehen, so daß etwa eine Materie formlos oder eine Form ohne Träger leer wäre. „Von der einen fordert daher Hilfe die andere Sache und verbündet sich freundschaftlich mit ihr."23 Daher wird [in der „Genesis"] des Himmels und der Erde als des am Anfang Geschaffenen gedacht, dann des Schmuckes sowohl mit diesen als auch mit jenen Dingen, die die Mitte bilden sollen zwischen Feuer und Wasser, welche Gott gleichsam als erste Grundlagen des Weltkörpers hingestellt hat; und in ebendieser Ausbringung der Dinge ist die Erwähnung der Spezies zu Hause. Ich spreche nicht von denjenigen, die die Logiker sich ausdachten und die dem Schöpfer nicht unterworfen seien; sondern ich spreche von denjenigen Formen, in denen die Dinge ursprünglich zu einer eigenen materiell-gegenständlichen Essenz wurden, bevor sie schließlich zum
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menschlichen Intellekt gelangten. Denn auch das, was als Himmel oder Erde bezeichnet wird, ist die Wirkung einer Form. „Ferner lasse die Erde", so sprach er, „das grünende Kraut und dieses und jenes Holz aufgehen", 24 um zu verstehen zu geben, daß die Formen mit der Materie verbunden worden sind und daß Gott der Urheber wie vom Kraut, so auch von der Lebenskraft ist. Denn ohne ihn ist nichts entstanden. Alles, was aber tatsächlich einem einzigen Prinzip entstammt, ist zahlenmäßig eins, wie es auch ein Gutes ist, ja sogar ein sehr Gutes, da es ja dem höchsten Gut entstammt. Gott nämlich wollte, daß alles ihm ähnlich werde, je nachdem die Natur eines jeglichen Dinges kraft Beschlusses des göttlichen Planes für das Gutsein empfänglich sein konnte. Und so ist es geschaffen worden, und Gott, der Schöpfer der Dinge, anerkannte, daß alles, was er gemacht hatte, sehr gut war.25 Wenn die Genera und Spezies also nicht von Gott sind, so gibt es sie überhaupt nicht. Wenn jedes von diesen ihm entstammt, so ist es gewiß eins und zugleich gut. Wenn aber etwas ein zahlenmäßiges Eins ist, so ist es von vornherein ein Singuläres. Denn was etliche als „Eins" bezeichnen - nicht das, was durch sich selbst Eins ist, sondern was eine gewisse Anzahl von Dingen auf Grund der wechselseitigen Übereinstimmung mehrerer von ihnen vereinigt - entnehmen sie nicht dem gerade genannten Grundsatz; denn dieses „Eins" ist nicht unmittelbar und nicht hinreichend ein Eins, noch ist es ein Singuläres. Wie sehr auch immer Gottes Werke untereinander übereinstimmen, so ist alles Singuläre auch voneinander wohlunterschieden, was durch ihn so geplant ist, da er alles nach der Zahl zum Zweck der wechselseitigen Unterscheidung, nach dem Gewicht gemäß dem Rang eines Genus und mit einem Maß geschaffen hat, d. h. bezogen auf eine bestimmte Quantität. Dabei bewahrt er sich allem gegenüber eine unermeßliche schöpferische Urheberschaft. Denn alles übrige ist begrenzt. Und jede Substanz hat eine bestimmte Anzahl von Akzidentien, auch wenn es viele sind. Ebenso unterliegt aber auch jedes Akzidens und jede beliebige Form einer zahlenmäßigen Begrenzung nicht auf Grund der Teilhabe von Akzidentien oder Formen, sondern auf Grund der Singularität des Zugrundeliegenden. Es hat ferner sein eigenes Gewicht, entweder wegen der Würde der Form im Fall einer Substanz, oder wegen des Ranges der Wirkung im Fall einer Form. Daher kommt es, daß wir den Menschen unter den Substanzen aus Achtung vor der Form den Tieren vorziehen, weil er vernunftbegabt ist; und wir setzen die Vernunftbegabtheit über die Farbe, insofern jene ein vernunftbegabtes Wesen erzeugt. Das Maß besteht nun aber darin, daß jegliches Ding nach einer bestimmten quantitativen Norm begrenzt wird, damit weder ein Akzidens oder eine Form das zugrundeliegende Ding, noch ein zugrundeliegendes Ding den Maßstab eines Akzidens oder einer Form überschreitet. Denn zum einen breitet sich Farbe in einem Körper als ganzem aus und wird durch dessen Abgrenzung in Grenzen gehalten, und zum anderen wird ein Körper nach der Quantität der Farbe bestimmt und subsistiert nicht über dieses Maß hinaus noch darunter. Dementsprechend ist jedes Akzidens als ganzes im gesamten ihm Zugrundeliegen-
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den, wenn es diesem als ganzem angehört; jedoch anteilweise, wenn es sich auf einen Teil von ihm bezieht. Ferner gleicht ein jedes Zugrundeliegende in den Ausmaßen seinem eigenen Akzidens. Dasselbe von den Genera und Spezies zu bezeugen, scheue ich mich nicht; auch wenn die Welt widerspricht, sage ich, daß diese von Gott sind oder es sie überhaupt nicht gibt. Mit mir ruft es auch Dionysius Areopagita aus; die Zahl, wodurch sie unterschieden werden, das Gewicht, wodurch sie eine bestimmte Stellung erhalten, und das Maß, durch das alles genau bestimmt ist, bezeichnet er als Ebenbild Gottes: „Denn gewiß ist Gott ohne Zahl eine Zahl, ein Gewicht ohne Gewicht und ohne Quantität ein Maß. In ihm allein ist alles gezeugt worden, was geschaffen wurde, nach Zahl, Gewicht und Maß."26 Daher Augustinus: „Die unsichtbaren Differenzen der unsichtbaren Dinge hat allein er abwägen können, der alles nach Zahl, Gewicht und Maß eingerichtet hat, das heißt nach sich selbst; der er das Maß ist, weil er jedem Ding den Maßstab anheftet; der er die Zahl ist, weil er jedem Ding die Form verleiht; der er das Gewicht ist, weil er jedes Ding einer festen Ordnung einfugt",27 das bedeutet, er ist der Begrenzer, Former und Ordner von allem. Unter den Werken der sechs [Schöpfungs-JTage werden die singulären wohlgeratenen Geschöpfe in ihrem jeweiligen Genus erwähnt, es gibt aber keinerlei Erwähnung der Schöpfung von Universalien. Das ist freilich auch nicht erforderlich, wenn sie essentiell mit dem vielen Singulären vereint sind, es sei denn, man hält an der Platonischen Lehre fest. Ich erinnere mich im übrigen nicht, irgendwo gelesen zu haben, daß sie von irgendwo ihr Sein haben und irgendwann einmal zu existieren begannen. Also werden die Universalien so gefaßt, wie dies Aristoteles tut. Dann gibt es aber kein Ding, das aktual ein Universale wäre. Denn durch den Modus des gedanklichen Erfassens [der Dinge] wurden diese sinnbildlichen Nomina, freilich willkürlich und für Lehrzwecke, eingesetzt. Alles, was „Mensch" ist, ist doch jeweils ein ganz bestimmter, d. h. ein singuläres Ding. Da aber „Mensch" so begriffen werden kann, daß weder dieser, noch jener bestimmte, noch überhaupt etwas, was durch die Singularität seiner materiell-gegenständlichen Essenz eins ist, gedacht wird, kann „Mensch" in einer solchen gedanklichen Fassung auf Grund der Allgemeinheit des Gedankens potentiell wie ein wirkliches Ding behandelt werden, d. h. aktual durch etwas exemplifiziert werden. Und ein Ding, was auf solch eine Weise gedacht werden kann, obgleich es dabei auf keinen bestimmten singulären Repräsentanten bezogen wird, wird als „allgemeines Ding" bezeichnet. Die Dinge stimmen nämlich miteinander überein, und ein Gedanke wägte ebendiese Übereinstimmung [conformitas] genau ab, nachdem sie dem Denken vorgeführt wurden. Ein Mensch stimmt doch mit einem anderen Menschen darin überein, daß jeder von beiden Mensch ist, obwohl sie sich hinsichtlich der persönlichen Eigenschaften voneinander unterscheiden. Mit dem Pferd (von dem er sich der ganzen Spezies nach, d. h. in der allgemeinen Form seiner Natur und sozusagen dem ganzen Aussehen nach unterscheidet) aber hat er gemein, zu leben und zu empfinden, d. h.
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ein Lebewesen zu sein. Es wird daher dasjenige, in dem die Menschen übereinstimmen, welche der natürlichen Form nach einander ähnlich sind und sich lediglich zahlenmäßig voneinander unterscheiden (nämlich dadurch, daß dieser der eine ist und jener ein anderer), durch das Nomen „Spezies" charakterisiert. Was aber gewissermaßen das gemeinsame Abbild von verschiedenen Formen ist, nimmt den Namen „Genus" an. Laut Aristoteles' Auffassung werden Genera und Spezies also überhaupt nicht nach dem „Was", sondern gewissermaßen nach dem „Wie Beschaffen" erfaßt, und sie sind gleichsam Phantasieprodukte [figmenta] des Verstandes, der sich selbst bei der Erforschung und Beschreibung der Dinge feiner ausbildet. Und dies freilich erfolgreich, weil er so oft, wie er am Werke ist, in den Dingen ein faßbares Ebenbild für seine Betätigung hervorbringt. Ebenso kennt auch das bürgerliche Recht seine Phantasieprodukte, und jegliche Disziplin schämt sich nicht, diejenigen auszudenken, durch die ihre Ausübung vonstatten geht, sondern erfreut sich gewissermaßen an den eigenen Phantasieprodukten. „Die Spezies mögen sich wohlgehaben", sagt Aristoteles, „denn sie sind nur,Hirngespinste'" (oder nach der neueren [lateinischen] Übersetzung: „denn sie sind Schrullen"), „und gäbe es sie auch, für die Begründung wären sie völlig bedeutungslos."28 Es wird nicht grundlos gesagt - wenngleich man es im Sinne der Platonischen Ideen verstehen kann Jedoch unter Berücksichtigung der Homonymie, wegen der sich „Seiendes" oder „Sein" nach der Verschiedenheit des vielen Zugrundeliegenden unterscheiden -, daß die Spezies und Genera wirklich existieren. Denn der Verstand legt nahe, daß man demjenigen das Sein zuspricht, dessen Ebenbilder in dem vielen Singulären erkannt werden, deren Sein niemand bestreitet. Die Genera und Spezies werden jedoch nicht derart als Muster für das viele Singuläre bezeichnet, daß - entsprechend dem Sinn der Platonischen Lehre - sie Musterformen sind, die im göttlichen Geiste intelligibel existiert haben sollen, bevor sie in die Körper kamen. Vielmehr wird jemandem, der von demjenigen ein Ebenbild sucht, was man sich allgemein vorstellt, sobald man das Nomen „Mensch" hört, oder was definiert wird, wenn man sagt, daß „der Mensch ein vernunftbegabtes sterbliches Lebewesen ist", sofort Piaton oder ein anderer von den singulären Menschen vorgewiesen, damit die Überlegung des allgemein Definierenden oder Bezeichnenden an etwas festgemacht wird. Man kann sie auch „Symbole" [monstra] nennen, da sie ja sowohl die singulären Dinge symbolisieren, wie auch von diesen symbolisiert werden; denn einmal geschieht die Vergegenwärtigung der Dinge durch das Frühere und andermal durch das Spätere. Das Allgemeinere aber ist das schlechthin Frühere, denn es wird auch in Gestalt des anderen gedacht; das viele Singuläre ist das Spätere. Gewöhnlich ist für uns aber dasjenige, was von Natur aus früher und schlechthin bekannter ist, ungewisser. Denn die festen Körper sind den Sinnen mehr vertraut; die feineren aber sind längere Zeit nicht gegenwärtig. „Denn genauso", meint nun Aristoteles, „wie der Punkt gegenüber der Linie früher und auch schlechthin bekannter ist, so auch die Linie gegenüber der Fläche, die Fläche gegenüber der
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Körperlichkeit, die Einheit gegenüber der Zahl - da sie ja deren Prinzip darstellt der Buchstabe gegenüber der Silbe und so weiter bei anderem."29 Manchmal erleben wir aber auch das Gegenteil: denn gewiß ist das Spätere eher durch einen beliebigen, das Frühere jedoch eher durch einen verfeinerten und reich ausgestatteten Verstand zu erfassen. Mag daher auch durch das Frühere ein besserer Aufweis des Späteren zu erreichen sein und es auch mehr den Zwecken der Lehre entsprechen, dies überall zu versuchen, so erfolgt dennoch wegen der Impotenz der Sinne und durch gegebene Notwendigkeit oftmals durch Späteres eine Erklärung von Früherem, wie zum Beispiel dann, wenn man sagt, daß der Punkt für die Linie, die Linie für die Oberfläche und die Oberfläche für den Körper die Begrenzung ist. Genauso, wie auch die Einheit als das Prinzip der Zahl, der Augenblick als das Prinzip der Zeit und der Laut als das der Rede [als Früheres durch Späteres erklärt werden]. Demnach sind die Genera und Spezies Urbilder des vielen Singulären; das bezieht sich freilich eher auf die theoretische Begründung (wenn Aristoteles Recht hat) als auf eine reale Ursächlichkeit. Dieses seltsame (um ungezwungener zu sprechen) Theoretisieren um Phantasieprodukte gelangt auch bis zur Erörterung des vielen Singulären. Und obgleich eine jede von den Substanzen aus Eigenheiten besteht, deren Ansammlung in keinem anderen auf genau dieselbe Weise aufgefunden wird, wird jede Substanz durch die Tätigkeit des abstrahierenden Intellekts an sich betrachtet. Obgleich Piaton ζ. B. nicht formlos und ohne Ort oder Zeit sein kann, betrachtet ihn der Verstand gewissermaßen nackt und einfach, indem er den Bezug auf die Quantität, die Qualität und andere Akzidentien entfernt und ihn dann als „Individuum" bezeichnet. Aber auch das ist durchaus ein Phantasieprodukt eines Lehrbedürfnisses und eines verfeinerten Vordringens. Denn nichts dergleichen begegnet in den Dingen, und dennoch wird so etwas erfolgreich gedacht. Vielleicht kommt daher jener Ausspruch in der Analytik: „Aristomenes kann immer begriffen werden, Aristomenes ist aber nicht immer, da er ja vergänglich ist."30 Und dasjenige nun ist gewiß ein vereinzeltes Individuum, was allein - wie einige sagen - über etwas Bestimmtes prädiziert werden kann. Piaton ζ. B. ist Sohn des Ariston. Er ist aber weder auf Grund der Quantität, wie ein Atom, noch auf Grund der Festigkeit, wie ein Diamant, noch auch auf Grand der Prädikation, wie jene meinen, ein „Individuum". Ich aber bekämpfe diese Meinung weder heftig, noch befürworte ich sie. Ich meine nämlich, daß man nicht viel Rücksicht nehmen soll, darum, weil ich im Wechsel der Ausdrücke jene Position der Indifferenz einnehme, ohne die ich nicht glaube, daß man an irgendeine Denkart von Gelehrten verläßlich herankommt. Denn welchen Hinderungsgrund gibt es, daß ebenso, wie ein Genus als Prädikat der Spezies wahr ist, auch dieser sinnlich wahrnehmbare Piaton als Prädikat für „Sohn des Ariston" wahr ist, wenn er allein Piaton zum Sohn hat? Es sind also die Aussagen: „der Mensch ist ein Lebewesen", und: „dieser da [d. h. der Sohn des Ariston] ist Piaton" gleichrangig. Nach der Meinung einiger soll Aristoteles ebendas
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gemeint haben, als er in der „Analytik" sagte: „Von allem Seienden gibt es doch einerseits solches, was über nichts anderes tatsächlich allgemein prädiziert wird, wie zum Beispiel Kleon und Kallias; und Einzelnes und sinnlich Wahrnehmbares, über das auch anderes prädiziert wird, denn jeder von beiden ist doch ein Mensch und ein Lebewesen. Anderes wird nun zwar über anderes prädiziert, während über es selbst nichts anderes Früheres prädiziert wird. Wieder anderes aber wird selbst über anderes und anderes über es selbst prädiziert, wie zum Beispiel ,Mensch' über ,Kallias' und ,Lebewesen' über ,Mensch'. Es ist nun klar, daß bestimmtes von demjenigen, was ist, ungeeignet ist, gegenüber anderem prädiziert zu werden (denn von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen ist sozusagen jedes einzelne so veranlagt, daß es über nichts prädiziert werden kann, es sei denn akzidentiell; denn bisweilen sagen wir, daß dieses Weiße da Sokrates und dieses sich auf uns zu Bewegende Kallias ist)."31 Diese Einteilung scheint nicht passend zu sein, es sei denn, daß das sinnlich Wahrnehmbare tatsächlich prädiziert wird - jedoch nicht über anderes, es sei denn akzidentiell. Denn wenn es weder über sich selbst, noch über anderes in akzidentieller Weise prädiziert wird, dann ist weder die Wahrheit des [mit der obigen Einteilung] Gesagten noch der Sinn des Beispiels erwiesen. Wenn ein sinnlich wahrnehmbares Ding nun aber auch nicht Subjekt sein darf, so bezweifelt keiner, daß Aristoteles gelogen oder gespaßt hat. Hier wie auch woanders hat er daher befolgt, was dem Lehrer der Freien Künste geziemt, indem er - wie man zu sagen pflegt - mit plumperer Weisheit zu Werke geht, 32 um verstanden zu werden. Bei den Genera und Spezies hat er jedoch nicht solche Schwierigkeiten bereitet, die selbst die Gelehrten nicht begreifen können, geschweige denn, daß sie imstande sind, sie anderen zu erklären. Von dieser Schwerfälligkeit der Weisheit [d. h. Simplizität] ist jener Ausspruch aus der Topik: „Alle Differenzen werden entweder Spezies oder Individuen sein - wenigstens, wenn sie Lebewesen sind; denn jedes Lebewesen ist entweder Spezies oder Individium."33 Ebenso auch Boethius' Ausspruch: „Jede Spezies ist ihr eigenes Genus. Denn jeder Mensch ist ein Lebewesen und jede Weißheit ist eine Farbe." 34 Was steht also - ausgehend von dieser gebotenen Möglichkeit - dem entgegen, daß das sinnlich Wahrnehmbare prädiziert wird oder Subjekt ist? Ich nehme auch nicht an, daß die Gelehrten einem Ausdruck die Kraft geben, daß er in allen Verbindungen an eine einzige Bedeutung gebunden ist, sondern ich glaube, daß sie theoretisch-allgemein gesprochen haben, um überall dem angemessensten Gedankeninhalt zu dienen, den die Vernunft an dieser Stelle in erster Linie für geboten hält. Dasjenige, von dem es heißt, es werde prädiziert, gewinnt also durch die jeweiligen Zusatzbestimmungen unterschiedliche Bedeutungsinhalte. Dennoch wird es vielleicht überall eine gegenseitige Übereinstimmung bzw. eine Inhärenz bezeichnen können. Denn wird ein Ausdruck über einen [anderen] Ausdruck [prädiziert], dann zeigt dies eine gewisse Verknüpfbarkeit der Termini eines wahren Satzes untereinander an; wird gesagt, ein Ausdruck werde über ein Ding prädiziert, dann bedeutet dies, daß eine bestimmte Benennung genau
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auf das Ding zutrifft. Daß ein Ding über ein Ding prädiziert wird, bedeutet einmal, Dieses sei Dieses, ζ. B. Piaton sei ein Mensch; zum anderen bedeutet es, daß Dieses teilhat an Diesem, ζ. B. ein Zugrundeliegendes an einem Akzidens. Ich scheue mich auch nicht, zu bekennen, daß in einer Proposition ein Ding über ein Ding prädiziert wird, obgleich in einer Proposition kein Ding existiert. Denn es spielt sich ja für mich im Geiste ab, daß ein Ding durch den Prädikatterminus eines wahren Satzes bezeichnet wird, dessen Subjektterminus über ein Ding handelt oder ein Ding bezeichnet. Ich meine daher, daß man dem Buchstaben nicht in feindlicher, sondern in wohlwollender Absicht begegnen und daß man ihm in der gebotenen Indifferenz für das freiere Wort gehorchen muß, und es ziemt sich für den Leser oder Hörer nicht, bei jeder Bedeutungsübertragung oder jedem Gebrauch eines, wie man glaubt, unbehaglichen Ausspruchs hündisch die Zähne zu fletschen: „Was du widerwillig erduldest, gewöhne dich dran, und du wirst es ertragen."35 Und gewiß ist jemand undankbar und sowohl von schamlosem als auch ungebildetem Charakter, der bei allen Worten seines Lehrers unruhig wird und sich weigert, ihm in irgend etwas zu folgen. Laßt uns also den sprachlichen Ausdrucksformen der Gelehrten folgen, und die einzelnen Dikta wollen wir nach den Gründen des Wortgebrauchs beurteilen, woraus nämlich notwendig eine zuverlässige Erkenntnis entsteht. Das Nomen eines Dinges kann sich nun auch weiter erstrecken, so daß es den Universalien zukommen kann [Nomen von Dingen zu sein]. Nach Aristoteles werden die Universalien ja getrennt von dem vielen Singulären gedacht, ohne jedoch ein Dasein zu haben, wenn das viele Singuläre entfernt worden ist; das nämlich behaupteten gerade jene, so sagt er, die meinen, daß das Genus ein zahlenmäßiges Eins sei. Dies aber machen diejenigen, die allein von den Formen ausgehen, das heißt den Ideen, welche er bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihrem Urheber Piaton heftig bekämpft. Mag Piaton daher auch eine ansehnliche Gemeinde von Philosophen, Augustinus und viele andere von den Unsrigen als Befürworter der Annahme von Ideen haben, so folgen wir seiner Lehre bei der Untersuchung der Universalien dennoch in keiner Weise, da wir uns hier zum Haupt der Peripatetiker, Aristoteles, als dem Vorbild für diese Lehre bekennen. Bedeutend ist gewiß auch, was Boethius im zweiten Kommentar zu Porphyrios bekennt, daß es zu schwierig ist, über die Auffassungen solcher Männer ein entscheidendes Urteil zu fällen; 36 deijenige aber, der die Werke der Peripatetiker in Angriff nimmt, muß mehr der Auffassung des Aristoteles folgen; vielleicht nicht so sehr, weil sie die richtigere, als vielmehr deshalb, weil sie für diese Disziplin die passendere ist. Am weitesten entfernen sich aber offensichtlich sowohl diejenigen von ihr, die festlegen, daß die Genera und Spezies Worte oder Ausdrücke sind, als auch andere, die durch vorgefaßte Meinungen über die Erforschung der Dinge schwankend gemacht werden. Und gewiß entfernen sich alle diejenigen kindischer und alberner als die Platoniker von Aristoteles, die es verschmähen, dessen Meinung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
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Ich meine, daß das genügen muß, daß es sich aber weder treu an Porphyrios hält, noch sich zweckbestimmt an Studienneulinge wendet, die den Auffassungen aller über die Genera und Spezies nachgehen und allen entgegentreten, um dann endlich den Ruhm ihrer eigenen Entdeckung hervorzuheben. Denn dies ist von der Absicht des Autors völlig entfernt, und es würde die Begabungen der Zuhörer abstumpfen und nicht zulassen, daß es für andere Grundsätze, die ebenso notwendig zu kennen sind, Platz zur Erforschung gäbe.
18. IBN SINA (AVICENNA) Das Buch der Genesung der Seele Die Metaphysik*
V. Abhandlung: Definition und Definiertes 1. Kapitel Die Universellen Dinge und die Art ihrer Existenz Wir müssen nun über das Universelle und das Individuelle sprechen; denn auch dieses hat Beziehung zu dem, was wir soeben auseinandergesetzt haben. Es gehört nämlich zu den eigentümlichen Akzidentien des Seins (und folglich auch in die metaphysische Betrachtung). Daher lehren wir: das Universelle wird in dreifacher Weise prädiziert. Man nennt universell den Begriff, insofern er aktuell von einer Vielheit von Einzeldingen ausgesagt wird, wie ζ. B. den Begriff „Mensch". Ferner nennt man den Begriff universell, insofern er von vielen Dingen prädiziert werden kann (also in der Potenz ist, prädiziert zu werden), selbst dann, wenn man nicht voraussetzt, die individuellen Dinge existierten aktuell, wie ζ. B. der Begriff des Hauses, das unnahbar ist.1 Drittens bezeichnet man mit universell den Begriff, der seinem Wesen nach es nicht hindert, daß er von vielen Einzeldingen ausgesagt wird. Er wird daran nur gehindert, wenn ihn eine äußere Ursache davon zurückhält, und wenn irgendein Anhaltspunkt darauf verweist (daß er nicht von vielen Dingen ausgesagt wird), wie ζ. B. die Sonne und die Erde. Es besteht fur den Verstand kein Hindernis, zuzugeben, daß dieser Begriff (ratio, auch reales Wesen bedeutend) in vielen Einzeldingen vorhanden sein kann, abgesehen davon, daß ein Anhaltspunkt und ein Beweis fur das Gegenteil sich einstellt. Es ist dies deijenige Beweis, der zeigt, daß die soeben genannte Prädikation auf Grund einer äußeren Ursache unmöglich ist, nicht etwa auf Grund der Vorstellung (des Wesens der Sonne selbst). Manchmal ist die reale Existenz eines solchen Begriffes möglich, und daher kamen * Ibn Sina, Kitab as-sifa. - Unser Auszug: Metaphysik, V. Abhandig., 1.-7. Kap., in: Das Buch der Genesung der Seele. Die Metaphysik Avicennas, übers, v. M. Horten, Halle-New York 1907, S. 284-342.
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die Gelehrten schließlich in der Definition überein, die besagt, das Universelle sei dasjenige, dessen Begriff für sich allein betrachtet, es nicht ausschließt, von vielen Einzeldingen ausgesagt zu werden. Dasjenige Universelle, von dem die Logik handelt, ist dieses. Das Individuelle und Singuläre ist dasjenige, dessen Begriff für sich allein genommen es ausschließt, daß derselbe von vielen Einzeldingen ausgesagt wird. So verhält sich ζ. B. Zaid, der Gegenstand eines individuellen Hinweises sein kann; denn es ist unmöglich, daß man sich dieses Individuum anders vorstellt als dem Zaid allein zukommend. Daher ist das Universelle, insofern es universell ist, ein besonderes „Etwas", und auf dasselbe weist eine dieser Definitionen hin. Insofern es ein „Etwas" ist, dem die Eigenschaft der Universalität anhaftet, ist es wiederum „Etwas" besonderes für sich (verschieden von dem eben genannten Universellen). Daher ist dieses ζ. B. ein individuelles Pferd. Abgesehen von dem Begriff des Universellen (durch den es von vielen Einzeldingen ausgesagt werden kann), ist hier (in dem Beispiel) noch eine andere ratio enthalten, nämlich die des esse equum.2 Denn die Definition dieser letzteren ratio ist verschieden von der Definition der Universalität, noch hat überhaupt die Definition der letzteren einen Anteil an der Definition des Pferdes. Die Definition der Universalität haftet vielmehr der Natur des Pferdes wie ein Akzidens an; denn diese Natur ist in sich selbst betrachtet weder ein Einzelding, noch auch eine Vielheit von Dingen, weder in den Individuen existierend, noch auch in der (denkenden) Seele, noch ist sie in dieser Beziehung irgend etwas, weder in der Potenz, noch auch aktuell, so daß jenes einen Teil der Definition des Pferdes bilden würde. Die Definition des Pferdes als solche enthält vielmehr nur diesen ihren Inhalt (das esse equum). Die Individualität (und Einheit) ist dagegen eine Eigenschaft, die sich mit der Natur des esse equum verbindet. Daher ist der Begriff dieser abstrakten Natur verbunden mit dieser Eigenschaft ein einheitlicher. Der Allgemeinbegriff des esse equum, insofern er sich in seiner Definition auf viele Dinge erstreckt (wörtlich: mit ihnen kongruent ist), ist ein allgemeiner. Insofern er aber in seinen Eigentümlichkeiten und Akzidentien genommen wird, die Objekte eines Hinweises werden, ist er individuell. Wenn wir daher betreffs des Begriffes der allgemeinen Natur des Pferdes gefragt werden nach den beiden Teilen des kontradiktorischen Gegensatzes, ob diese allgemeine Natur ein bestimmtes Α sei, oder non-A, so ist die Antwort nur eine verneinende, d. h. daß sie nicht irgendein beliebiges, individuelles Ding sei. Die Verneinung verhält sich nicht so, daß sie nach dem secundum quid [d. h. hinsichtlich der Wesensbestimmung] einträfe.3 Sie tritt vielmehr ein vor dem die bestimmte Beziehung des secundum quid vorhanden ist, d. h. man kann nicht sagen: der universelle Begriff des Pferdes als solcher sei nicht das bestimmte Individuum A nach dem secundum quid (dann könnte eventuell das Universelle kein bestimmtes Individuum bedeuten). Das Verhältnis ist vielmehr anders. Man muß sagen: der universelle Begriff sei als solcher (vor dem secundum quid) nicht das bestimmte
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Individuum Α, noch überhaupt irgendein beliebiges reales Einzelding. (Sonst würde er seine Universalität verlieren und nur dieses Individuum sein.) Wenn nun die beiden Seiten der Frage sich auf zwei Dinge erstrecken, die positiv sind,4 dann enthalten beide Teile der Frage etwas, das nicht notwendig zur Folge hat, daß man auf beide Teile antwortet. 5 In dieser Weise unterscheidet sich die positive von der negativen Aussage (also: die oppositio contradictoria) und von den beiden positiven Aussagen, die in zwei konträren Gegensätzen der Potenz nach vorhanden sind. Der Grund dafür ist der, daß die positive Aussage von den beiden (kontradiktorischen) Gegensätzen, die notwendig der negativen anhaftet, bedeutet, daß das Ding, wenn ihm nicht Jene" positive Aussage zukomme, mit dieser anderen (positiven) beeigenschaftet sein muß. 6 Es ist ferner nicht mit dieser Eigenschaft bezeichnet, in dem Sinne, als ob dasselbe sein Wesen ausmachte. Daher ist die individuelle Wesenheit des Menschen nicht dasselbe, als die der Einheit, oder der weißen Farbe, oder die des Einen, oder das Weiße. Setzen wir den Fall: der Gegenstand der Frage nämlich, die individuelle Wesenheit des Menschen, insofern ihr die menschliche Natur zukommt, verhält sich wie ein einziges Ding. Dann stellt man die Frage betreffs der beiden Gegensätze: ist sie ein Individuum oder eine Vielheit? dann erfordert sie keine Antwort; denn insofern das Universelle die individuelle Wesenheit des Menschen (im Gegensatz zu der des Pferdes) bezeichnet, ist sie verschieden von jedem einzelnen Individuum beider Opposita. In der Definition des Universellen wird aus demselben Grunde nur die allgemeine Natur des Menschen (nicht die des Individuums) verwertet. Was nun die Frage anbetrifft, ob das Universelle die Eigenschaft des Einen oder die einer Vielheit von Dingen besitzt, insofern man dieselbe von ihm in akzidentieller Weise aussagt und insofern sie ihm von außen anhaftet, so ist es nicht notwendig, daß dasselbe diese Eigenschaft erhält. Nun ist dieser Begriff nicht identisch mit dem Subjekt dieser Eigenschaft (dem Individuum), insofern er die allgemeine Natur des Menschen bedeutet. Betrachten wir den Begriff also nur, insofern er die universelle Natur des Menschen enthält, dann ist es nicht erforderlich, daß mit ihm sich die Individualität durch Rücksicht auf ein äußeres Ding vermischt. Diese Rücksicht (Beziehung) macht die Auffassungsweise der Wesenheit zu zwei verschiedenen Inhalten. Der eine betrachtet das Universale insofern es diese bestimmte Wesenheit ausdrückt, der andere, insofern es die entsprechenden Eigenschaften (die individualisierenden Bestimmungen) hat. Infolge der ersten Betrachtungsweise besteht die allgemeine Natur des Menschen nicht real für sich allein. (Damit die reale Existenz möglich wird, müssen die Individuationsprinzipien hinzutreten). Deshalb stellte jemand die Frage: ist die menschliche Natur, die dem Zaid zukommt, insofern sie eine universelle Natur ist, verschieden von derjenigen, die sich in Omar befindet? Darauf müssen wir antworten: dies ist nicht der Fall. Diese Konsequenz folgt nicht aus den von ihm angenommenen Prämissen. Wir lehren vielmehr: sowohl diese, wie auch jene (die allgemeine Natur in diesem und jenem
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Individuum) sind ewig eine und dieselbe Wesenheit; denn dieses 7 ist eine absolute Verneinung und mit derselben bezeichnen wir, daß jene allgemeine Natur des Menschen als Wesenheit des Menschen eben ausschließlich die menschliche Natur (kein Individuum) bedeutet. Insofern sie (die menschliche Natur in Zaid) aber verschieden ist von der, die Omar besitzt, haftet ihr ein äußeres (dem Wesen akzidentielles) Ding an. Dieses lenkt den Blick auf das, was Gegenstand eines Hinweises ist als solches, und dann auf seine Akzidentien; denn, wenn man die menschliche Natur prädiziert, die „als universelle Natur" im „Zaid vorhanden ist", dann bewirkt die Bestimmung „als universelle Natur", daß die andere Bestimmung, „insofern sie im Zaid vorhanden ist", oder die Bestimmung: „insofern sie dieselbe ist, die im Zaid vorhanden ist" in Wegfall kommt. Haben wir die Abstraktion (von dem Individuum) vollzogen und diskutieren wir, indem wir das Universelle betrachten, nämlich die allgemeine Natur des Menschen, dann muß die Bezeichnung, die in den Worten „die Bestimmung als - " enthalten ist, auf die menschliche Natur gehen, die im Zaid vorhanden ist. Diese Art der Aussage jedoch ist unmöglich; denn die beiden Bestimmungen, daß die „allgemeine" Natur des Menschen „im Zaid" sich befindet, insofern sie nur eine „allgemeine" Natur besagt, können sich nicht in einem Subjekte vereinigen. Wenn man sein Augenmerk nun auf die menschliche Natur (d. h. die Universalität des Begriffes) wendet, dann ist die Erwähnung des (Individuums) Zaid nur ein Wort (kein Gedanke), es müßte denn folgendes eintreffen. Mit dem genannten Ausdruck müßten wir die menschliche Natur bezeichnen, der es von außen akzidentieller Weise zukommt, in Zaid (wie in einem subjectum inhaesionsis) 8 zu sein. Jedoch haben wir von ihr (durch die formelle Auffassung als Universale) diejenige Bestimmung entfernt, daß sie dem Zaid anhafte. Die Frage also, ob sie dieses bestimmte Individuum sei und ob dieses in jener (wie unter seinem Artbegriff) enthalten sei, ist eine Betrachtungsweise, die sich auf etwas anderes richtet als auf die menschliche Natur (nämlich die Individua). Man könnte den Einwand machen: Habt ihr nicht in der Antwort behauptet, daß die universelle Natur nicht so beschaffen sei? 9 Nun aber ist der Umstand, daß sie nicht individuell beschaffen ist, verschieden von dem Umstand, daß sie die allgemeine Natur des Menschen als solcher darstellt. Darauf erwidern wir: Wir antworten nicht: die allgemeine Natur sei als universelle Natur des Menschen nicht so beschaffen (d. h. daß sie nicht ein Individuum sein könnte. Sie könnte dann überhaupt kein Individuum sein). Wir antworten vielmehr: die allgemeine Natur sei nicht insofern sie eine universelle Natur darstelle, individuell bestimmt (wörtlich: „so beschaffen"). Der Unterschied zwischen beiden Prädikationsarten ist bereits aus der Logik bekannt. (In der ersten Auffassungsweise käme es der universellen Natur notwendig zu, nicht individuell zu sein; in der zweiten steht sie der Individualität indifferent gegenüber). Eine andere Schwierigkeit (wörtlich: Ding) drängt sich hier auf, nämlich die, daß der Gegenstand (wörtlich: das Substrat) dieser und ähnlicher Fragen auf eine
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Ungenauigkeit hinausläuft, wenn man das Subjekt derselben nicht mit einer einschränkenden Determination verbindet. Keine andere Antwort gibt es wahrlich auf dieselben, es müßte denn sein, daß man diese universelle Natur als einen Gegenstand des Hinweises bezeichnete, ohne daß jedoch in demselben eine Vielheit enthalten sei. Dann aber ist (das Subjekt) unserer Prädikation „diese universelle Natur des Menschen als solche" kein Teil des Subjektes; denn man kann nicht sagen, „die menschliche Natur, die in Zaid vorhanden ist, insofern sie die menschliche Natur ist usw.". Sie müßte sonst wieder unbestimmt werden (also die Individualität in Zaid verlieren). Man könnte aber eine Aussage bilden: Jene menschliche" Natur, der wir, insofern sie den universellen Charakter des esse hominem 10 hat, eine logische Bestimmung beilegten usw. Diese Bestimmung würde dann zur universellen Natur des Menschen hinzugefügt. Doch sehen wir über dieses hinweg! Dann sind die beiden Seiten der Frage zu verneinen. Die allgemeine Natur, so aufgefaßt wie es ihr Inhalt besagt (wörtlich: sie als sie), muß nämlich weder ein Einzelding, noch auch eine Vielheit sein (sie verhält sich also zu dem einen, wie zu dem anderen indifferent. Sie ist nur das, was ihr Inhalt bedeutet). Sie ist weder identisch mit sich selbst noch ein anderes (als sie selbst), es sei denn in dem Sinne, daß dieses Subjekt (sachlich) notwendig entweder identisch mit sich oder ein anderes ist. In diesem Sinne sagen wir: die universelle Natur muß ein anderes werden durch die Akzidentien, die sich mit ihr verbinden; denn das Universale kann durchaus nicht real existieren, es sei denn in Verbindung mit Akzidentien. Dann aber ist dieselbe nicht begrifflich gefaßt, insofern sie eine allgemeine Natur des Menschen darstellt. Ist dieselbe nicht gleichbedeutend mit der Wesenheit Mensch, der in Omar vorhanden ist, so ist dieselbe verschieden von dieser seiner universellen Wesenheit durch die Akzidentien (die die Individualität herbeiführen). Diese Akzidentien wirken ein auf die Person (d. h. das Individuum) des Zaid, insofern er zusammengesetzt ist aus dem Menschen oder universellen Natur des Menschen und Akzidentien, die ihm notwendig anhaften (den Individuationsprinzipien). Sie verhalten sich fast wie seine Teile (so daß das Individuum ein „Ganzes" oder eine Summe ist). Die Einwirkung der Akzidentien findet ferner auf den (universellen) Menschen oder die menschliche Natur dadurch statt, daß sie (durch die Akzidentien) bezogen wird auf ihn (d. h. das Individuum, den Zaid). Wir kehren nun zum Anfangspunkt der Diskussion zurück und fassen die Auseinandersetzungen zusammen, indem wir über das Problem in einer anderen Beziehung verhandeln, die verwandt ist mit der früher erwähnten. In diesem Sinne lehren wir. In dem Bereich des Erkennbaren findet sich ein sinnlich wahrnehmbarer Ausgangspunkt (das empirische Objekt), wie ζ. B. das Tier oder der Mensch, und dieser ist ausgestattet mit Materie und Akzidentien. Dies ist der physische Mensch. Ferner befindet sich im Bereich des Erkennbaren etwas anderes, nämlich das Tier und der Mensch, der in seiner eigenen Natur betrachtet wird, insofern er dieses Wesen darstellt (wörtlich: mit sich, seinem Wesensinhalte, identisch ist, also die
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Spezies), ohne daß man zugleich mit derselben dasjenige betrachtet, was sich mit ihr (in der physischen Wirklichkeit) verbindet, und ohne daß man die Bedingung stellt, diese allgemeine Natur sei entweder universell oder individuell, ein Einzelding oder eine Vielheit und zwar weder aktuell, noch auch mit Rücksicht auf die Potenz, insofern dieselbe in potentia 11 ist. Man kann in dieser Weise den begrifflichen Inhalt eines Gegenstandes rein in sich betrachten; denn das Tier als solches und der Mensch als solcher, d. h. in seiner Definition und seiner „ratio", ohne daß man andere Wirklichkeiten (Akzidentien) zugleich mit diesem Begriff betrachtet, die sich (in Wirklichkeit) mit ihm verbinden, ist nicht nur ein beliebiges, individuelles Tier oder ein individueller Mensch (sondern sieht ab von jeder Determination). Was nun aber den universellen Begriff Tier betrifft und das individuelle Tier und ebenso den Begriff Tier, insofern er in der Potenz ein allgemeiner und oder ein singulärer ist (d. h. in seiner Beziehung zur individuellen Vielheit) und das Tier, insofern es in den realen Individuen existiert, oder in der Seele als Begriff gedacht wird, so enthält dieses Wirkliche die Natur des bestimmten Tieres und etwas, was verschieden ist von dieser und das allein betrachtet wird (nämlich die Wesenheit abgesehen von den Prinzipien der Individualisation). Es ist bekannt, daß wenn (diese beiden Gegenstände) ein beliebiges (individuelles) Tier und ein anderes Wirkliches besteht, dann das Tier (als Universale) sich darin verhält wie ein Teil. Ebenso verhält es sich betreffs der menschlichen Natur. Daß man also die Natur des Tieres in sich betrachtet, ist zulässig, selbst dann, wenn dieselbe real nur mit einem anderen (den individualisierenden Akzidentien) verbunden existiert; denn ihr eigentliches Wesen ist in Verbindung mit diesem anderen ihr reales Wesen geblieben und dieses reale Wesen kommt ihr „durch sich selbst" zu. Daß dasselbe aber mit einem anderen zugleich existiert (mit den Prinzipien der Individualisation), ist ein Zustand, der der universellen Natur entweder als äußerliches oder als innerliches, notwendiges Akzidens anhaftet. Daher verhält sich die Natur wie die tierische und menschliche Natur in dieser Hinsicht (d. h. sie ist universell) und ist der Existenz nach früher als das Tier, das auf Grund seiner Akzidentien individuell existiert oder universell ist, sei es nun real oder begrifflich. Es ist früher in der Weise, wie das Einfache vor dem Zusammengesetzten, oder der Teil vor dem Ganzen. Durch diese Existenzweise ist es weder Genus noch Spezies noch Individuum, noch Einzelding noch eine Vielheit solcher. Durch diese Art der Existenz (als Begriff) ist der Gegenstand nur „Tier" oder „Mensch", jedoch haftet es ihm notwendigerweise an, daß es entweder ein Einzelding oder eine Vielheit darstellt; denn jedes wirkliche Ding muß entweder das eine oder das andere von beiden sein. Es verhält sich aber so, daß diese Bestimmung ihm von außen anhaftet (also nicht wesentlich ist). Unter der besagten Voraussetzung (der Abstraktion) ist das Tier selbst dann, wenn dasselbe in jedem Individuum vorhanden ist, auf Grund dieser Bedingung nicht ein beliebiges (individuelles) animal.12 Freilich haftet ihm die Bestimmung notwendig an, daß es zum konkreten
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Tier werden muß; denn es ist in seinem realen Wesen und seiner essentia in dieser Hinsicht (in der ihm die genannte, akzidentielle Bestimmung anhaftet) irgendein beliebiges (individuelles) Tier, und der Umstand, daß die universelle Natur des Tieres, die in einem Individuum real existiert, ein beliebiges, individuelles Tier ist, hindert nicht, daß es die allgemeine Natur des Tieres als solches darstellt, (und daß man es betrachten kann) ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß es ein beliebiges Tier ist, das sich in einem bestimmten Zustand befindet. Denn wenn dieses Individuum ein individuelles Tier ist, so ist es also ein reales Tier. Das Tier (als Universale), das Teil eines realen „beliebigen" (d. h. individuellen) Tieres ist, verhält sich wie die weiße Farbe. Denn wenn die weiße Farbe sich auch nicht von der Materie trennen läßt, so ist sie doch das Wesen der weißen Farbe selbst, die in der Materie existiert. Dies verhält sich so, indem die abstrakte Natur der weißen Farbe etwas anderes (als das Individuum) ist. Sie wird in ihrem eigenen Wesen betrachtet und besitzt durch sich selbst eine reale Wesenheit. Freilich kommt es dieser realen Wesenheit akzidentiell zu, daß sie sich in der wirklichen Existenz mit einem anderen Realen (der Individualität des Dinges) verbindet. Dagegen könnte jemand einwenden, daß die universelle Natur „animal" als abstrakte nicht in den Individuen real existiert; denn das, was real in Individuen existiert, ist irgendein bestimmtes Tier, nicht das animal als solches; ferner die universelle Natur des animal als solche, ist etwas Reales. Sie ist also von den Individuen getrennt (für sich existierend in einer idealen Existenz). Wenn nämlich die Natur des animal als solche diesem bestimmten Individuum real zukäme, dann müßte sie demselben entweder in spezieller Weise (also mit Ausschluß aller anderen Individuen) zukommen oder nicht. Kommt dieser Begriff ihm nun in eigentümlicher Weise zu, dann ist der universelle Begriff animal als solcher nicht das, was in dem Individuum real existiert, noch ist er diese (universelle) Natur selbst, sondern er ist irgendein individuelles animal (hat also seine universelle Natur eingebüßt). Kommt derselbe dem Individuum aber nicht in eigentümlicher Weise zu, so ergibt sich, daß ein einziges Ding, das in sich selbst numerisch dasselbe bleibt, real existiert durch eine Vielheit von Individuen. Dies jedoch ist unmöglich. Selbst wenn dieser Zweifel schwach und unbedeutend ist, so haben wir ihn dennoch angeführt, weil von einem Objizienten 13 dieser Zweifel zu unserer Zeit vorgebracht wurde. Er stammt von einer Gruppe von Philosophen, die sich dilettantisch mit der Philosophie beschäftigen. Wir antworten auf denselben: in dieser Objektion ist von vielen Seiten her der Irrtum enthalten. Zunächst ist es die Ansicht, daß das real Existierende, wenn es ein bestimmtes Individuum ist, in bezug auf seine Natur (absolut) in sich betrachtet werde, nicht in einer anderen Bedingung14, die nicht in dem allgemeinen Begriff enthalten ist. Daß dies ein Irrtum ist, haben wir bereits früher klargelegt. Der zweite Irrtum ist die Ansicht, daß die universelle Natur des animal als solche entweder individuell oder nicht individuell sein muß, so daß diese beiden Seinsfor-
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men sich „gleichgeordnet" wären (und ein tertium 15 ausschlössen). So verhält es sich aber nicht. Betrachtet man vielmehr das Tier als solches, insofern es die universelle Natur besitzt, so ist es weder individuell, noch auch nicht individuell, d. h. universell. Diese beiden Prädikate werden vielmehr von ihm verneint; denn insofern es die Natur des animal besitzt, ist es nur „Tier". Der Begriff des animal als solcher (als Wesensbegriff) ist verschieden sowohl von dem Begriff des Universellen, als auch dem des Singulären. Ebensowenig bilden diese beiden Begriffe einen Teil der Wesenheit des Tieres. Wenn dieses sich nun so verhält, dann ist das Tier als solches weder singulär, noch universell in bezug auf seine Natur als Tier. Es enthält vielmehr eben nur das Wesen als „Tier", abgesehen von allen anderen Dingen (Akzidentien) und Verhältnissen (Existenzweisen wie das Individuelle und Universelle). Trotzdem aber ist es ihm notwendig (wie ein Akzidens) „anhaftend", daß es entweder individuell oder universell sei. Versteht man nun unter dem Ausdruck: „der Begriff Tier muß notwendigerweise entweder individuell oder universell sein", daß das Tier in seiner (abstrakten) Wesenheit als Tier nicht ohne das eine von beiden sein kann, so ist es in Wirklichkeit dennoch in seiner (reinen) Wesenheit frei von beiden. Versteht man aber unter obigem Ausdruck, daß das Tier in der realen Existenz nicht frei von beiden sein kann, d. h. daß es notwendigerweise eines von beiden als Akzidens besitzen muß, so ist dieses richtig. Welches von beiden ihm nun zukommt - in jedem Falle wird die Betrachtung der allgemeinen Natur des Tieres dadurch nicht abgelenkt. Diese selbst ist in gewisser Hinsicht weder individuell noch universell, vielmehr wird sie individuell oder universell, nachdem sie „rein" bestand (d. h. nachdem sie keines von beiden war), und zwar durch Zustände, die der Wesenheit als solcher wie Akzidentien zukommen. Ein weiteres Ding bleibt hier zu überlegen, das erschlossen werden muß. Es ist zutreffend, zu sagen, daß das Tier als solches weder Universalität noch Individualität besitzt. Der Grund dafür ist: Wäre es für die universelle Natur des Dinges erforderlich, daß man von ihr entweder die Universalität oder die Individualität positiv aussagte, dann entstände kein individuelles, noch ein universelles Tier. Daher muß ein fester Unterschied bestehen zwischen dem, daß man sagt, „das Tier als solches ist abstrakter Natur unter Voraussetzung einer anderen Bedingung" und zwischen dem, daß man sagt, „das Tier als solches ist (in sich) abstrakter Natur unter der Voraussetzung, daß keine andere Bedingung hinzukomme". Wäre es möglich, daß das Tier als solches, ohne Voraussetzung irgendeiner anderen, real-individuellen Bedingung universeller Natur wäre (also ohne Individuationsprinzipien), dann müßten die Ideen Piatons in den (idealen) Individuen existieren! Das Tier als solches, ohne Hinzufügung einer anderen Bedingung, hat die ihm zukommende Existenz nur im Geist. Faßt man aber das Tier abstrakt auf, nicht unter der Bedingung, daß ihm ein anderes reales Ding (die Individualität) eigne, so kommt ihm in den Individuen (der sublunarischen, nicht der idealen Welt) eine gewisse Existenz zu. Denn in dem eigentlichen Wesen des Tieres besteht nicht die Bedin-
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gung, daß ihm irgendein anderes Ding zukommen müsse, selbst wenn das Tier mit tausend Bedingungen, die ihm von außen zukommen, real existiert. Daher existiert das Tier in der reinen Natur seines Wesens und in den realen Individuen. Daraus läßt sich aber nicht folgern, es müsse als „getrenntes" (als Idee) existieren. Vielmehr ist dasjenige, was in sich selbst frei ist von den anhaftenden Bedingungen, real existierend in den Individuen. Von außen her (nicht aus seinem Wesen) treten aber Zustände und Verhältnisse an die Wesenheit heran, die dieselbe „umkleideten" (und ihm Individualität verliehen). Daher ist es in der Definition seiner Einheit, durch die es ein einziges Ding (ein konkretes Individuum) ist, in dieser bestimmten Hinsicht (in der man im materiellen Ding die Wesenheit allein betrachtet) ein abstraktes Tier, ohne irgendwelche andere Bedingung (von der man abstrahierte), selbst wenn diese Einheit (die Individualität) zu seiner Natur als Tier hinzukommt. Jedoch ist die eigentliche Wesenheit verschieden von den „anderen" Akzidentien (die nicht „Wesenheit" sind). Existierte das Tier als unkörperliche Substanz, wie manche es glauben, dann wäre dieselbe nicht das individuelle Tier, das wir (in unserem Erkennen) suchen und über das wir diskutieren; denn wir suchen ein Tier zu erkennen, das von vielen Individuen ausgesagt wird, so daß jedes einzelne dieser vielen Individuen eben diese Wesenheit enthält. Der getrennten Substanz aber, die nicht von diesen (irdischen) Dingen ausgesagt werden kann, da nichts von diesen Dingen das Wesen jener idealen Substanz ist, - dieser bedürfen wir nicht in dem, womit wir uns hier beschäftigen. Daher ist das Tier, das als behaftet mit seinen Akzidentien aufgefaßt wird, das physische Wirkliche. Dasjenige aber, das in sich selbst betrachtet wird (der universelle Begriff) ist die Natur, von der man aussagt: ihre Existenz gehe der Existenz des physisch Wirklichen voraus in der Weise, wie das Einfache dem Zusammengesetzten vorausgeht. Es ist dasjenige, dessen Existenz dadurch bestimmt wird, daß es die göttliche Existenz sei. Denn der Grund für die Existenz dieses unkörperlichen Wesens, insofern es ein animal darstellt, ist die Vorsehung Gottes. Existiert dasselbe aber in Verbindung mit einer Materie, Akzidentien und mit diesem Individuum, so ist die Ursache davon, selbst wenn dasselbe abhängt von der Vorsehung Gottes, die individuelle Natur. Ebenso wie das Tier in der realen Existenz mehr als eine Art bildet, ebenso (bildet es) auch im Verstand (verschiedene Begriffe). Im Verstand existiert die abstrakte Wesensform des Tieres in der Weise, wie wir es in der Besprechung der Definition erwähnt haben. In diesem Sinne wird dasselbe „geistige Wesensform" genannt. Im Verstand befindet sich ebenfalls die Wesensform des Tieres, insofern als sie im Verstand durch einen einzigen Begriff allein mit vielen Individuen „kongruent" ist (d. h. diese wiedergibt). Daher ist die eine Wesensform (d. h. Erkenntnisform) im Verstand auf eine Vielheit von Individuen bezogen. Sie ist in dieser Hinsicht universell. Im Verstand ist sie ein einziger Begriff, dessen Beziehung zu irgend-
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einem Einzelding, das aus der Menge ζ. B. der Tiere genommen wird, keine Verschiedenheit aufweist, d. h. zu irgendeinem einzelnen von ihnen, dessen Erkenntnisform in der inneren Vorstellung präsent ist. Der Verstand abstrahiert sodann den unkörperlichen Begriff von den Akzidentien und bewirkt, daß im Verstand dieses Wesensform selbst aktuell wird. Es ist also diese individuelle Wesensform, die infolge des Abstraktionsprozesses des Begriffs „animal" von irgendeiner Phantasievorstellung eines Individuums kommt. Sie ist hergenommen von einem real existierenden Ding der Außenwelt oder von irgendeinem anderen Ding, das sich ebenso verhält wie ein reales Ding der Außenwelt, selbst wenn dasselbe in sich nicht real existieren sollte, sondern durch die Phantasie erfunden ist (wie ζ. B. Gegenstände des Mythos). Diese Wesensform ist also, selbst wenn sie in bezug auf die Vielheit der Individuen universelle Natur hat, dennoch in bezug auf die Seele, die ihrerseits individueller Natur ist und in dem menschlichen Körper „eingeprägt" wurde, ein singuläres Ding. Sie ist eine individuelle Erkenntnisform, die im Verstand wirklich ist. Weil nun aber die individuellen Seelen der Zahl nach eine Vielheit bilden, so kann auch diese universelle Erkenntnisform eine numerische Vielheit sein, insofern sie durch diese Seelen (als aufnehmendes Substrat) individuell ist. Dieser Erkenntnisform kommt ein anderer universeller Begriff zu, der sich zur Erkenntnisform ebenso verhält wie die Erkenntnisform zu (den Dingen) der Außenwelt. Dieser andere Begriff unterscheidet sich in der Seele von dieser (individuellen) Erkenntnisform, die in bezug auf die Außenwelt universeller Natur ist, indem derselbe (der Begriff der Universalität) von der (individuellen) Erkenntnisform ausgesagt wird und ebenso von anderen (die zusammen mit der ersten eine numerische Vielheit bilden). Über dieses Problem wollen wir später noch weiter diskutieren. Die universellen Dinge sind also in gewisser Hinsicht in der Außenwelt real existierend, in anderer Hinsicht aber nicht; denn sonst müßte ein und dasselbe Ding in seiner numerischen Einheit, das von vielen Einzeldingen prädiziert wird, von diesem Individuum ausgesagt werden, insofern dieses Individuum (als Individuum) jenes (das universale) wäre. Ebenso müßte es von anderen Individuen ausgesagt werden. So ist also klar, daß dieses unmöglich ist. Die Zahl der Beweise dafür werden wir noch vermehren. Die allgemeinen Dinge sind vielmehr, insofern sie allgemeiner Natur sind, aktuell nur im Geist real existierend.
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2. Kapitel Der Charakter der Universalität haftet den universellen Naturen an. Darüber wird die Diskussion zu Ende geführt. Der Unterschied zwischen dem Ganzen und dem Teile, dem Universellen und Singulären. Es wurde also bereits klargestellt, was die universelle Natur in den realen Dingen sei. Sie ist diese individuelle Natur, indem ihr irgendeiner der Begriffe (von der Wesenheit oder der Art eines beliebigen Dinges) zukommt, die wir als universell bezeichnen. Dieser Begriff hat in sich durchaus keine selbständige Existenz in den Individuen; denn das Universelle als solches existiert nicht selbständig für sich allein. Zweifelhaft ist nur betreffs des Universellen, ob ihm reale Existenz in der Weise zukomme, daß es für irgendein bestimmtes Ding ein „Akzidens" sei. Dann existierte also in den Individuen ein Ding, das ζ. B. ein (universeller) Mensch wäre, und dieser wäre in seinem Wesen selbst real in Zaid, Omar und Hälid vorhanden (als Akzidens käme er also den singulären Substanzen zu). Betreffs dieses Problems lehren wir: Der Natur des Menschen, insofern sie eine universelle Natur ist, kommt es nur akzidenteller Weise zu, real zu existieren. Ferner, der Umstand, daß sie real existiert, ist nicht identisch mit dem anderen, daß sie „Mensch" ist. Ebensowenig ist der erstere ein Teil (Bestandteil) des Menschen. Sodann haftet dieser Natur zugleich mit der Existenz manchmal diese Universalität an. Dieselbe hat aber keine reale Existenz als nur in der Seele. Die „allgemeine Natur in der Außenwelt" ist unter einer anderen Hinsicht aufzufassen. Diese haben wir in den früheren Kapiteln auseinandergesetzt. Einige dieser universellen Naturen (die Geister) bedürfen vielmehr keiner Materie, damit sie in der Existenz verharren, noch auch, damit sie anfangen, zu existieren. Daher ist es unmöglich, daß sie eine Vielfalt von Individuen enthalten. Nur die Art von ihnen bleibt bestehen als numerisch eine und dieselbe; denn eine solche Natur zerfallt nicht in eine Vielheit durch die Differenzen, noch die Materien noch die Akzidentien - nicht durch die Differenzen, weil sie die Beschaffenheit einer Art besitzt, noch durch die Materie, weil sie in einer körperlosen Existenz besteht, noch durch die Akzidentien; denn diese haften der Natur entweder notwendig an, dann ist durch sie die Vielheit nicht verschieden auf Grund der Art, oder die Akzidentien haften dem Ding zufällig und von außen an, ohne notwendig mit der Natur verbunden zu sein. Daher haften sie dem Subjekt an wegen einer Ursache, die von der Materie abhängig ist, und wegen einer Bedingung, die gleichfalls in Abhängigkeit steht zur Materie. Diese Art ist also in ihrer realen Existenz so beschaffen, daß sie numerisch eine einzige, d. h. ein Individuum darstellt. Diejenigen Arten, die der Materie bedürfen, existieren nur, indem zugleich die Materie Dasein hat und (für die Aufnahme der Wesensform) disponiert ist. Mit ihrer Existenz sind also Akzidentien und akzidentielle Zustände verbunden, durch die sie
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individualisiert werden. Eine und dieselbe Natur kann also nicht zugleich materiell und unmateriell sein. Dieses hast du bereits kennengelernt im Verlauf der früheren Studien. Nimmt man nun diese Natur in der Art eines Genus an, so ist es klar, daß die Natur des Genus durchaus nur in der untersten Art existieren kann. Auf diese folgt das reale Bestehen der Arten. Diese ist die Art und Weise, wie die Universalia existieren. Ein abstraktes Wesen (ratio), das so, wie es individuell in sich ist, in der Vielheit enthalten wäre, können die Universalia nicht sein. Sonst müßte sich ζ. B. die menschliche Natur, die in Omar ist, selbst wenn sie durch sich selbst (per se) nicht auf Grund der (abstrakten) Definition in Zaid existierte, wie folgt verhalten. Alles, was dieser menschlichen Natur in Zaid zukommt, müßte in ihr notwendigerweise auch vorhanden sein, während sie in Omar wirklich ist, ausgenommen die zufälligen Akzidentien. Sie befände sich in Omar als eine Wesenheit, die mit Rücksicht auf Zaid ausgesagt würde. Dasjenige aber, was in dem Wesen des Menschen dauernd (als innerer Bestandteil) besteht, erfordert in seinem Bestand nicht, daß es auf ein äußeres Objekt bezogen werde, wie letzteres ζ. B. der Fall ist bei einem Gegenstand, damit er weiß oder schwarz oder wissend werde; denn wenn der Mensch wissend ist, so ist er dadurch (nicht in seinem Wesen) ein Terminus der Relation, es sei denn in bezug auf das Gewußte (also nur in einer äußeren Bestimmung). Daraus ergibt sich, daß er ein einziges, gleichbleibendes Wesen ist, in dem verschiedene Opposita16 vereinigt sind. Dies trifft dann besonders zu, wenn sich das Genus zu den Arten verhält, wie die Arten zu den Individuen. Daher existiert ein einziges sich gleichbleibendes Wesen (animal als Genus) 17 , von dem ausgesagt wird, daß es vernünftig (Mensch) und auch nicht vernünftig (Tier) sei. Keiner, der eine gesunde Natur hat, kann denken, daß die eine sich gleichbleibende menschliche Natur von den (individualisierenden) Akzidentien des Omar und zu gleicher Zeit, in ihrer Individualität dieselbe bleibend, von den Akzidentien des Zaid umgeben sei. Betrachtet man die menschliche Natur, ohne die hinzukommenden anderen Bedingungen (Bestimmungen) zu berücksichtigen, dann wendet man sein Augenmerk durchaus nicht auf diese (individualisierenden) Relationen, wie wir es gelehrt haben. Es ist also einleuchtend, daß die abstrakte Natur nicht in den Individuen existieren kann (d. h. als Individuum) und daß sie zugleich aktuell von universeller Natur sei, d. h. sie, in ihrer Einheit gefaßt, ist enthalten in der großen Anzahl der Individuen (wörtlich: in der Gesamtheit). Der Charakter der Universalität haftet einer Natur nur dann an, wenn sie in der begrifflichen Vorstellung des Verstandes wirklich wird. Über die Art und Weise, wie dieses nun vor sich geht, betrachte unsere Auseinandersetzungen in der Psychologie (im VI. Buch der Naturwissenschaften). Es ergibt sich also, daß das in einem menschlichen Geist begrifflich Gefaßte das Universelle ist. Seine universelle Natur (die die Relation zu den Individuen bedeutet) entsteht nicht auf Grund dessen, weil der Begriff in der Seele ist; sondern sie entsteht nur dadurch, daß der Begriff in Beziehung gesetzt wird zu einer Vielheit
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von Individuen, die entweder real existieren, oder nur innerlich vorgestellt sind. Sie werden von dem Geist beurteilt wie ein einziges Wirkliches (in ein und derselben Weise). Dieses Erkenntnisbild ist eine Erkenntnisform in der Seele, die individuelle Natur hat. Von derselben gilt also, daß sie ein „Individuum" der Wissenschaften und Begriffe ist. Ebenso wie nun dasselbe Wirkliche nach verschiedenartigen Hinsichten Genus oder Art wird, ebenso wird es auf Grund verschiedenartiger Beziehungen universell und singulär. Insofern daher dieses Erkenntnisbild irgendeine Form ist, die in einem denkenden Geist existiert, ist sie singulär (individuell). Insofern aber eine Anzahl von Individuen an ihr teilnimmt in einer der drei oben genannten Weisen18, ist sie universell. Zwischen diesen beiden Wirklichkeiten besteht keine Opposition; denn es ist nicht unmöglich, daß sich die Bestimmungen vereinen, die besagen: ein und dasselbe Wesen besitzt in bezug auf eine Vielheit von Individuen eine gemeinsame Beziehung; denn die Gemeinsamkeit in der Vielheit der Individuen (so daß jedes einzelne Glied dieser Vielheit teilhat an dem Universale) kann in einem Unteilbaren nur stattfinden durch eine Relation. Haftet nun diese Relation einer Vielheit von Wesenheiten an (d. h. bildete der Begriff keine Einheit), dann entsteht keine Gemeinschaft (einer Vielheit von Individuen an einem und demselben Inhalt). Es muß also eine Vielheit von Relationen einem numerisch einzigen Ding (dem Universale) anhaften. Das numerisch Einzige als solches ist notwendig individuell (daher ist der universelle Begriff als psychisch Wirkliches individuell, ohne daß darin ein Widerspruch läge). Die Seele selbst stellt sich auch ein anderes Universelles vor. Dieses erste Erkenntnisbild vereinigt sich mit einem anderen in jener (derselben) Seele oder in einer anderen. Alle diese (individuellen) Erkenntnisformen werden, insofern sie in der Seele vorhanden sind, durch eine einzige Definition bestimmt. Auf diese Weise entstehen andere Universalitäten (d. h. Naturen und Begriffe, an denen eine Vielheit teilnimmt). Daher ist das andere Universelle (zweiter Ordnung) von dieser ersten Erkenntnisform durch etwas verschieden, was ihm individuell zukommt. Dies ist seine Beziehung zu Inhalten, die im Geist vorhanden sind (das Universale erster Ordnung ζ. B. homo besitzt eine Beziehung zu konkreten Dingen der Außenwelt, nicht zu Gedanken des Geistes). Diese Beziehung (des Begriffes erster Ordnung) ist eine solche, die den Begriff zu einem universellen macht. Sie geht auf viele Dinge der Außenwelt und macht den Begriff nur dadurch zu einem universellen, daß von jedem dieser Dinge der Außenwelt, das zum Geist hingelangt, dieselbe Wesens- und Erkenntnisform herkommt (und im Geist entsteht. Ein und dieselbe Erkenntnisform kann deshalb von allen in gleicher Weise prädiziert werden). Geht nun eines voraus (d. h. wirkt ein Ding der Außenwelt zuerst auf den Geist), und empfängt dann die Seele von ihm diese Eigenschaft (d. h. die Erkenntnisform, die als Qualität in der Seele vorhanden ist), dann kann ein anderes Ding der Außenwelt keine neue Einwirkung auf die Seele mehr ausüben. Es besteht nur diese erwähnte Möglichkeit (daß von dem zweiten Reiz eben dieselbe Erkenntnisform herkommt). Dieses Bild ist daher das
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Ebenbild der Wesensform des im Bewußtsein vorausgehenden Gegenstandes. Von den Akzidentien wurde es bereits befreit (abstrahiert). In dieser Ebenbildlichkeit besteht die Übereinstimmung (eines Begriffes mit einer Vielheit von Individuen). Wenn nun an die Stelle eines dieser Objekte, die auf den Geist einwirken, oder an die Stelle dessen, was durch dieselben (in der Seele) abgebildet wird, etwas anderes träte als jene angenommenen Dinge und etwas, das ihnen ungleich wäre, dann wäre auch dieses Abbild verschieden von jenem. Eine Übereinstimmung (vieler Individuen der Außenwelt mit einem Begriff) findet dann nicht statt (also auch kein Universale). Das Allgemeine, das in der Seele vorhanden ist, besteht in der Relation auf diese geistige Erkenntnisform. Diese Bestimmung (die der Universalität) haftet dem Begriff an, insofern er sich auf irgendeine beliebige „Form" von denjenigen bezieht (und mit ihr inhaltsgleich ist), die im Bewußtsein vorhanden und in die Seele hineingelangt sind. Diese Eigentümlichkeit (der Universalität) unterscheidet dann jene Erkenntnisformen von allem, was vor ihr begrifflich vorgestellt wurde (insofern es der Art nach verschieden war). Sodann ist auch diese letztere eine individuelle Erkenntnisform, insofern sie die Bedingungen verwirklicht, die wir oben erwähnt haben. Es ist nun in der Erkenntniskraft der Seele gelegen, daß sie nachdenkt und ferner, daß sie über ihr eigenes Nachdenken (reflexiv) nachdenkt, und daß sie wieder über dieses Denken zweiter Ordnung (reflexiv) nachdenkt, und daß sie so eine Beziehung zur anderen häuft. Sie bildet in einem einzigen Gegenstand verschiedene Zustände, nämlich die Proportionen, die der Potenz nach kein Ende haben. Daher ist es notwendig, daß diese geistigen Erkenntnisformen, die nacheinander geordnet sind, kein letztes Glied (wörtlich: kein Stillstehen) haben und es ergibt sich notwendig, daß man ohne Ende fortschreitet. (Dieses Infinitum besteht jedoch nur in der Potenz, nicht in actu19); denn es ergibt sich für die Seele nicht notwendig, daß sie, wenn sie irgendein Ding aktuell denkt, zugleich mit diesem (alle) diejenigen Dinge erfaßt, die dem Gegenstand notwendig nahe verwandt sind, selbst dann, wenn sie diese im Geist präsent macht. (Nicht einmal für nahe verwandte Gegenstände ist dieses aktuelle Mitdenken notwendig) geschweige denn für solche, die nur entfernt verwandt sind - so verhalten sich die Proportionen der höheren (wörtlich: doppelten) Wurzeln der Zahlen - und für alle Relationen der Zahlen (wörtlich: „Hinzufügungen", also Addition, Multiplikation, Potenzierung), die für die Seele leicht faßlich sind. Es ist nicht erforderlich, daß die Seele in einem und demselben Zustand (also: zugleich) alle diese Proportionen aktuell denkt, noch daß sie beständig mit diesem Denken beschäftigt sei (so daß sie also die unendliche Vielheit dieser Objekte nacheinander erfaßte). In der potentiaproxima20 der Seele liegt es vielmehr, daß sie dieses Objekt denkt. So verhalten sich das bewußte Erkennen der aus geraden Seiten bestehenden Figuren, die an Zahl kein Ende haben, und die Beziehungen der einen Zahl zur anderen, die ebenfalls unendlich sind, und die Proportionen, die der einen Zahl zu einer ähnlichen zukommen, die sich ohne Ende durch
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„Verdoppelung" (d. h. durch Multiplikation mit immer derselben Zahl) wiederholen (geometrische Proportionen). Dieses ist das offenkundigste, mit dem wir uns befassen. Die Ansicht, es sei möglich, daß die für eine Vielheit von Individuen universellen Begriffe abstrakt existierten, getrennt von der Vielheit der Individuen und von den begrifflichen Vorstellungen (in der Art der platonischen Ideen) - diese Ansicht wollen wir sogleich besprechen. Wenn wir daher sagen, die universelle Natur sei in den Individuen real existierend, so wollten wir sie damit nicht bezeichnen, insofern sie in dieser Weise eine universelle Natur besitzt (d. h. sie existiert in den Individuen nicht, insofern sie den Charakter der Universalität besitzt, als solche existiert sie nur im denkenden Geist). Wir wollten vielmehr nur ausdrücken, daß diejenige reale Natur, der der Charakter der Universalität akzidentiell zukommt, in den Individuen existiert. Insofern sie also eine bestimmte Natur ist, ist sie als ein wirkliches Ding für sich zu betrachten. Insofern aus ihr heraus eine universelle Erkenntnisform gedacht (d. h. abstrahiert) werden kann, ist sie etwas anderes. Ferner, insofern sie aktuell gedacht wird, unterscheidet sie sich ebenfalls als ein besonderes Ding. Insofern es viertens richtig ist, von ihr auszusagen: „wenn sie als (spezifisch) dieselbe sich nicht etwa mit dieser Materie und diesen Akzidentien (denen das Zaid), sondern vielmehr mit jener Materie und jenen Akzidentien (denen des Omar) verbindet, ist sie jenes andere Individuum", ist die genannte Natur (d. h. Wesenheit) wiederum ein Ding für sich. Diese allgemeine Natur existiert nun aber in den realen Individuen, und zwar in der ersten Hinsicht (von den vier). Durch diesen Umstand ist sie nicht universeller Natur. Sie existiert in der zweiten, dritten und vierten Hinsicht auch real in den Individuen. Wenn diese Hinsicht als universell aufgefaßt wird, dann befindet sich diese (universelle) Natur zugleich mit dem Charakter der Universalität in den Individuen. Die universelle Natur aber, mit der wir uns hier beschäftigen (die logische), ist nur in der denkenden Seele. Über das Ganze und den Teil. Das Universelle und Singuläre
Da wir diese Verhältnisse nunmehr definiert haben, ist es leicht, den Unterschied zwischen dem Ganzen und dem Teil, zwischen dem Universellen und Singulären zu erkennen. Der Grund dafür ist der, daß das Ganze als solches in den realen Dingen existiert. Das Universelle aber als solches existiert nur in der begrifflichen Vorstellung. Ferner wird das Ganze gezählt nach seinen Teilen, und jeder einzelne Teil gehört zum Bestand des Ganzen. Das Universelle aber wird nicht nach seinen Teilen (den Individuen) gezählt, noch auch gehören die Individuen zum Bestand des Universellen. Sodann verursacht die Natur des Ganzen nicht das reale Bestehen der Teile, die in dem Ganzen enthalten sind. Sie entnimmt vielmehr ihr Bestehen von jenen (den Teilen). Die Natur des Universellen aber verleiht den Teilen (den Individuen) ihr Bestehen, die in dem Umfang des universellen Begriffes enthalten
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sind. Aus demselben Grund wird die Natur des Ganzen durchaus nicht zu einem seiner Teile. Die Natur des Universellen aber ist selbst ein Teil (nämlich die Wesensform) der Natur (seiner Teile) der Individuen; denn das Universelle ist entweder die Arten - diese bestehen aus den Naturen beider Universalia, nämlich des Genus und der Differenz - oder das Universelle ist die Vielheit der Individuen. Diese bestehen aus der Natur aller Universalia und aus der Natur der Akzidentien, die den Universalien zugleich mit der Materie zukommen. Das Ganze ist ferner nicht ein Ganzes für jeden einzelnen Teil, wenn dieser getrennt würde. Das Universelle aber ist ein Universelles, indem es ausgesagt wird von jedem singulären (und jedem Teile seines Umfanges). Die Teile jedes Ganzen sind sodann endlich an Zahl. Die Teile eines jeden Universellen jedoch sind unendlich (insofern sie immer vermehrbar sind). Das Ganze erfordert, daß seine Teile zugleich in ihm präsent sind. Das Universelle aber erfordert es nicht, daß seine Teile zugleich in ihm enthalten sind. Auf Grund dieser Auseinandersetzung kannst du andere Unterschiede finden zwischen diesen Begriffen, und auf diese Weise hast du erkannt, daß das Universelle verschieden ist von dem Ganzen.
3. Kapitel Der Unterschied zwischen dem Genus und der Materie Das, was uns jetzt obliegt, besteht darin, die Natur des Genus und der Art zu definieren und darzulegen, von wie vielen Gegenständen das Genus ausgesagt wird. Zur Zeit der Griechen bezeichnete es viele Begriffe, und ebenso stellt sich sein Gebrauch zu unserer Zeit. Der Ausdruck Genus bezeichnet in unseren Künsten (den Teilen der Philosophie) nur dasjenige, was er in der Logik, wie bekannt, bedeutet. Ferner bezeichnet er das Substrat. Manchmal verwenden wir den Ausdruck Genus, indem wir sagen: dieses gehört nicht zum Genus jenes Dinges, oder es gehört nicht zu denjenigen Dingen, mit denen jenes in der Definition übereinstimmt. Das Wort „Art" bezeichnet jetzt, in unserer Zeit und nach unserer Gewohnheit in der philosophischen Literatur nur den logischen Begriff der Art und die Wesensformen der Dinge. Wir wollen jetzt darüber sprechen, wie es die Logiker gebrauchen. In diesem Sinne sagen wir: der Begriff, der mit dem Wort Genus bezeichnet wird, ist nur „Genus", nach Art der begrifflichen Vorstellung. Ist er, wenn auch nur in geringem Grade, verschieden von dieser Definition, dann ist er kein Genus. Ebenso verhalten sich alle einzelnen, bekannten Universalbegriffe. Unsere Darlegung erstreckt sich zunächst auf das Genus und auf ähnliche Begriffe, deren Formeln bei den weniger großen Philosophen eine große Anzahl bilden. Daher lehren wir: der
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Körper wird als Genus des Menschen bezeichnet. Manchmal jedoch wird er auch als die Materie des Menschen dargestellt. Wenn er daher Materie des Menschen ist, dann muß er notwendig realer Teil seiner Existenz sein. Nun aber ist es unmöglich, daß dieser Teil (die Materie) vom Ganzen ausgesagt werde. Daher wollen wir betrachten, wie der Unterschied zwischen Genus und Körper sich verhält. Manchmal wird der Gegenstand als Genus aufgefaßt, manchmal als Materie. Aus diesem Umstand eröffnet sich uns die Möglichkeit, zu erkennen, was wir darlegen wollen. Fassen wir das Genus und den Körper als Substanz, die Länge, Breite und Tiefe besitzt, insofern sie Substanz ist und stellen wir zugleich die Bedingung, daß kein anderer Begriff in ihr enthalten sei, als dieser (der des Körpers). Würde ein anderer Begriff ihr von außen zukommen, der nicht der Begriff des Körpers wäre, wie ζ. B. der des sensitivum, Vegetativum21 oder ein anderer, dann wäre dieses ein Begriff, der zu dem der Körperlichkeit von außen hinzukäme, von der körperlichen Natur ausgesagt und auf dieselbe bezogen würde. Der Körper ist also eine Materie. Fassen wir aber den Körper als Substanz, die Länge, Breite und Tiefe besitzt und stellen wir zugleich die Bedingung, daß er keinem anderen Dinge zukomme, noch mit irgendeiner anderen Bedingung verbunden sei. Dann kann nicht ausgesagt werden, daß seine körperliche Natur eine Substantialität besitzt, die durch diese bestimmten Dimensionen allein bezeichnet wäre. Sie besitzt vielmehr eine Substantialität in irgendwelcher unbestimmten Weise, selbst wenn sie mit tausend (anderen) rationes verbunden wäre, die die eigentümliche Natur dieser Substantialität konstituieren, und tausend Wesensformen. Jedoch treten gleichzeitig mit der Substantialität und in ihr die Dimensionen auf. Im ganzen sind es drei Dimensionen, so wie sie dem Körper zukommen können. Kurz, beliebige Bestimmungen mögen sich (zu der des Körpers) vereinigen, indem (wörtlich: nachdem) deren Gesamtheit eine Substanz von drei Ausdehnungen wird. (Diese Natur besitzt eine unbestimmte Substantialität, ohne dreidimensionale Materie zu sein), und diese vereinigten Bestimmungen, wenn sie überhaupt stattfinden, mögen in die individuelle Natur dieser Substanz eintreten (und Bestandteile derselben bilden). Jedoch wird diese Substanz nicht zuerst durch die Dimensionen vollendet, noch haften sodann jene allgemeinen Begriffe dem Ding nur äußerlich an, nachdem es bereits (als Substanz) zur Vollendung gelangt ist. Wenn wir den Körper in diesem Sinne verstehen, dann ist er der Körper, der das Genus darstellt. Daher ist der Körper in dem ersten Sinne (als dreidimensionale Materie) genommen - er ist nämlich ein Teil der zusammengesetzten Substanz, die besteht aus dem Genus „Körper" und den Wesensformen, die später sind als die Körperlichkeit in dem Sinne der Materie - nicht ein Prädikat (noch prädizierbar); denn diese Summe (von Dimensionen, die den konkreten Körper ausmachen) ist nicht etwa nur eine abstrakte Substanz, die Länge, Breite und Tiefe besitzt, (sondern ein konkretes Ding). Was aber den zweiten Begriff angeht (die substantia secunda des Körpers als Genus), so ist sie ein Prädikat für jede Zusammensetzung, die aus Materie und Wesensform besteht (also
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von jedem individuellen Körper), sei dieses nun eine einzige, oder eine Mehrzahl von Individuen. In dieser Substanz befinden sich drei Dimensionen. Der Begriff des Körpers (als Genus) ist daher ein Prädikat, das ausgesagt wird von der Summe, die aus der Körperlichkeit, in dem Sinne der Materie genommen, und aus der Seele besteht; denn die Summe dieser (wesentlichen Teile) ist eine Substanz, selbst dann, wenn sich diese aus vielen realen Bestandteilen (wörtlich: „rationes", Wesenheiten) zusammensetzt. Diese Summe (aus Wesensform und Materie) existiert real, und zwar nicht in einem Substrate (weil sie selbst eine Substanz ist). Diese Summe ist also ein Körper; denn sie ist eine Substanz, nämlich eine Substanz, die Länge, Breite und Tiefe besitzt. Ebenso verhält sich folgendes. Betrachtet man den abstrakten Begriff „animal"22 unter der Bedingung, daß in seiner Natur als animal nur die Körperlichkeit und Bestimmung des esse Vegetativum23 und die der sinnlichen Wahrnehmung enthalten ist. Alles, was über diese Begriffe hinausgeht, kommt dem animal von außen zu. Dann ist es häufig sehr naheliegend, daß dieses animal Vegetativum, sensitivum für den Menschen zur Materie oder zum Substrat wird. Seine Wesensform ist dann die vernünftige Seele. (Sie wird in dieses animal sensitivum „eingeprägt"). Dies trifft zu, selbst wenn man das animal als Körper in dem Sinne betrachtet, in dem der Körper „Genus" ist. In den rationes dieses Körpers (d. h. in den wesentlichen Bestimmungen desselben) ist das sensitivum und andere Wesensformen (ζ. B. das Vegetativum und rationale)24 in der Weise enthalten, daß der Körper die Möglichkeit (für die Annahme dieser Formen) offenläßt. Alles dies gilt, selbst wenn wir den unrealen Fall setzen, daß das rationale, oder eine spezifische Differenz, die dem rationale gleichsteht, nicht bewirkt, daß irgend etwas von diesen Dingen (dem sensitivum oder Vegetativum) seine Existenz erhalte oder vernichtet werde, sondern, daß das rationale vielmehr nur die Möglichkeit offenlasse fur die Existenz irgendeines jener Dinge in seinem eigentümlichen Wesen. Dort 25 ist zugleich mit der Wesensform die Potenz des Vegetativum, der sinnlichen Wahrnehmung und der Bewegung notwendigerweise verbunden. Sie sind notwendig oder auch nicht notwendig, wenn es sich darum handelt, daß keine anderen Wesensformen vorhanden sind 26 Oder der Gegenstand ist (wenn Bewegung, sensitivum und Vegetativum nicht eintreten) ein animal in dem Sinne des Genus. Ebenso verstehe das Verhältnis der beiden Differenzen, des sensitivum und rationale. Betrachtet man nämlich das sensitivum als Körper (corpus animatum anima sensitiva)27 oder als irgendein Ding, dem die Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung zukommt, und stellt man zugleich die Bedingung, daß demselben keine andere Bestimmung hinzugefügt werde, dann ist es keine eigentliche differentia specifica (hominis)2*, selbst wenn (das sensitivum) ein Teil des Menschen ist. Aus dem gleichen Grunde (weil keine weitere Bestimmung hinzugefügt werden soll) wird auch der Begriff des animal nicht von ihm (dem sensitivum) ausgesagt. Betrachtet man aber den Begriff der Differenzen (des sensitivum) als einen Körper oder ein Ding (ohne Hinzufügung weiterer Bedingungen),
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dann können andere Bestimmungen ihm zukommen, in ihm enthalten sein und zugleich mit ihm existieren, welche Wesensformen und Bedingungen es auch sein mögen, - vorausgesetzt ist, daß in diesen Wesensformen die Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung eingetreten ist - und dann bildet dieselbe (im eigentlichen Sinne) eine spezifische Differenz für den Menschen. Der Begriff animal kann und wird dann von ihm ausgesagt. Infolgedessen gilt der Gedanke: in welchem Begriff du auch immer den Körper faßt betreffs aller Dinge dieser sublunarischen Welt, deren Charakter als Genus oder Materie zweifelhaft sind, du findest, daß es immer möglich ist, spezifische Differenzen zu ihm hinzuzufügen, welche es auch (im einzelnen Falle) sein mögen. Diese verhalten sich so, daß sie in den Körper (als das Genus) eintreten. Im Verhältnis zu dieser Differenz ist dann der Körper „Genus". Betrachtest du sie (die Materie) aber mit Rücksicht auf eine spezifische Differenz, vollendest du mit derselben den Begriff (ratio) und machst ihn zu einem in sich ganz abgeschlossenen, so daß ein anderes Ding, wenn es noch zu ihm hinzutreten würde, nicht zu jener Summe von (wesentlichen) Bestimmungen gehörte, sondern von außen hinzugefügt würde, dann ist sie nicht „Genus", sondern „Materie". Sagt man aber von der Materie aus, daß sie ein vollendetes Wesen (ratio) sei, so daß in derselben alles dasjenige bereits als Bestandteil eingetreten ist, was einen Teil derselben bilden kann (also auch die differentia specifica ultima)29, dann wird sie eine „Art". Wenn du aber auf diesen Begriff (ratio, Wesen) hinweist (indem du betonst), daß er jenes (die Differenz) nicht annimmt, so ist die Materie ein Genus. Daher ist dieser Gegenstand, wenn er unter der Bedingung aufgefaßt wird, daß keine von außen hinzutretenden Bestimmungen ihm anhaften, eine „Materie". Stellt man aber die Bedingung, daß ihm solche Bestimmungen (die wie ζ. B. Differenz) wirklich zukommen, dann ist er eine „Art". Verhält es sich aber so, daß die äußeren Bestimmungen noch nicht hinzutreten, sondern vielmehr so, daß jede einzelne von außen hinzutretende Bestimmung ihm anhaften kann, und zwar in dem Sinne, daß sie einen inneren Teil seines gesamten Inhaltes bildet, dann ist derselbe ein Genus. Dieses alles ist aber nur in einem zusammengesetzten Wesen zweifelhaft (dort ist die Materie zu unterscheiden vom Genus). In einem Wesen aber, das einfach ist, kann eventuell der Verstand in sich selbst diese Bestimmungen logisch denken und supponieren 30 , in der Weise, wie wir dasselbe in einem früheren Kapitel (1 und 2 dieser Abhandlung) auseinandergesetzt haben. In der realen Existenz aber kann in dem einfachen Gegenstand ein reales Ding und ein anderes Ding als die Materie nicht unterschieden werden. Daher lehren wir: der Mensch besitzt die Körperlichkeit, bevor er die Natur des „animal" hat, nur in einigen Arten und Weisen unseres Denkens, wenn wir die Körperlichkeit auffassen als die Materie, nicht als Genus. Ebenso besitzt der Mensch den Körper begrifflich früher als die Natur des animal, und zwar indem man den Körper auffaßt in dem Sinne, daß er nicht von dem Subjekt prädiziert werden kann, nicht etwa in dem Sinne, daß er (als Genus) von ihm ausgesagt wird. Was nun aber
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den Begriff der Körperlichkeit (als Genus) angeht, den man voraussetzt, indem man es zugleich für möglich hält, daß er jeden anderen Wesensbegriff in sich (der Potenz nach) einschließt, der sich mit der Körperlichkeit verbindet - durch diesen besteht zugleich die Notwendigkeit, daß er die drei Dimensionen enthält so kommt dieser Begriff nicht dem Ding zu, das eine bestimmte Art des Tieres ist, es sei denn, daß dieser „Körper" das Wesen des animal bereits enthält. Dann ist also das Wesen (ratio) des animal irgendein aktueller Teil der realen Existenz dieses Körpers, nachdem das animal vorher in (dem Begriff) der Körperlichkeit nur der Potenz nach enthalten war. Daher ist das Wesen (ratio) des animal ein Teil von der Existenz jenes Körpers. Er verhält sich umgekehrt wie der Körper, wenn er aktuell existiert. 31 Ebenso verhält sich der Körper, wenn man ihn faßt als Materie. Er ist ein Teil des real existierenden animal. Das abstrakt gefaßte Genus „Körper", das nicht die physische Materie bedeutet, erhält seine Existenz und die Verbindung (Summierung) seiner Teile nur dadurch, daß seine einzelnen Arten existieren. Was unter dem Genus (als Individuum und Arten) auftritt, sind die äußeren Ursachen seiner Existenz. Das Genus ist nicht umgekehrt Ursache für die Existenz der Arten und Individua. Besäße die Körperlichkeit, die als Genus gefaßt wird, eine reale Existenz, die aktuell wäre, bevor die Natur der Art real existierte, dann wäre das Genus Ursache fur die Existenz der Wesenheit der Art. So ζ. B. verhält sich der Körper, der als Materie aufgefaßt wird (er ist integraler Teil des Dinges und daher könnte man ihn als „Ursache" für die „Art" auffassen. Als Ursache wäre er zugleich früher als die Wirkung), selbst wenn dieses kein prius 32 der Zeit nach ist. Die Existenz jener Körperlichkeit (als Genus), die in dieser Art existiert, ist also selbst die reale Existenz dieser Art, nichts anderes (kein physisch von ihr zu trennender Teil). Ebenso verhält sich das begriffliche Denken; denn das Gesetz dieser Verhältnisse in der logischen Ordnung ist ebenso, wie wir auseinandergesetzt haben. Der Verstand kann in keinem der realen Dinge dem Begriff der Körperlichkeit, die zur Natur des Genus gehört, eine reale Existenz beilegen, so daß diese Körperlichkeit zuerst wirklich würde, und daß dann derselben ein anderes Wirkliches hinzugefügt werden müßte. Dadurch erst entstände das animal, nämlich die Spezies im Geiste. Denn wenn man dieses (das Hinzufügen eines Wirklichen zum Genus) ausführte, dann könnte der Begriff (ratio, Wesen), der dem Genus zukommt, im Verstand nicht von der Natur der Art prädiziert werden. 33 Die Art wäre vielmehr ein Teil 34 des Genus (in der Wirklichkeit wie) auch im logischen Denken. Im Gegenteil kommt dem (realen) Ding, das Art ist, die Natur des Genus in der wirklichen Existenz und zugleich im Verstand nur dann zu, wenn die Art in ihrer ganzen Vollkommenheit wirklich geworden ist. Die spezifische Differenz ist dabei aber nicht etwas, das der „ratio" jenes Genus fremd wäre und das auf das Genus bezogen würde. Sie ist vielmehr im Genus enthalten und ein Teil desselben, und zwar in der Weise, die wir erwähnt haben. Dieses ist nicht das eigentliche Seinsgesetz des Genus allein, sondern das Seinsgesetz eines jeden Universellen, insofern es ein Universelles ist.
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Es ist daher klar, daß der Körper, wenn man ihn in der Hinsicht auffaßt, in der er ein Genus ist, sich verhält wie ein Unerkanntes (weil Undeterminiertes). Von diesem erkennen wir noch nicht, (solange es Genus bleibt) welche und wie viele Wesensformen es in sich enthält. Die Seele sucht nach der Aktuierung (Bestimmung) jenes (indeterminierten), denn das Genus (als solches) ist noch nicht im Geist gefaßt und bestehend als ein Gegenstand, der aktuell determiniertes Genus wäre. Ebenso verhält es sich, wenn wir die Farbe betrachten und sie im Geist präsent halten; denn die Seele ist nicht dadurch befriedigt, daß ein Ding in ihr wirklich wird, das nicht aktuell bestände; sondern sie sucht in dem Begriff (ratio) der Farbe etwas, das zum Wesen derselben hinzugefugt wird (die Inhärenz und die Artbestimmung), so daß sie eine beliebige aktuelle Farbe wird. Betreffs der Natur der Art aber verlangt die Seele nicht, daß ihr Wesensbegriff vollständig wird. Die Seele verlangt vielmehr (nur), daß derselbe die individuelle Determination erlangt. Wenn nun die Seele betreffs der Natur des Genus die individuelle Determination sucht (um das Individuum zu erkennen), dann leistet sie das Entsprechende und Erforderliche und erfüllt dasjenige, mit dem sie sich innerlich zufrieden fühlt. (Wenn der Geist aber auch in dieser Weise auf das Erkennen des Individuums gerichtet ist), so sucht er zugleich trotzdem auch die Aktualisierung (Determinierung) des Wesensbegriffes (der ratio) des Genus. Dadurch bleibt dem Genus (das zur Art determiniert wurde) nur noch die eine Möglichkeit (für eine weitere Determination) übrig35, so daß es um so mehr disponiert wird für dieses Suchen der Seele (nach einer individuellen Determination). Der Seele kommt es dann zu, daß sie irgendein beliebiges individuelles Ding (wörtlich: ein Objekt des Hinweises) annimmt. Die Seele kann das Genus aber nicht so umgestalten, daß dasselbe irgendein beliebiges Individuum wird, es sei denn, nachdem sie andere Begriffe hinzugefügt hat, die logisch später sind als der der Farbe und früher als die individuelle Determination; denn der Geist vermag nicht, die Farbe, solange sie nur (abstrakte) Farbe ist, ohne daß sie eine andere Determination erhalten hat, als ein reales Individuum zu bezeichnen, so daß sie eine bestimmte Farbe sei in dieser (bestimmten) Materie. Jenes (generische) Ding ist nur „Farbe" (ohne ein Individuum zu sein). Manchmal aber wird es durch akzidentielle Dinge, die ihm von außen zukommen, zum Individuum bestimmt. Sie verhalten sich so, daß sich das Ding als Individuum fortbestehend vorstellt, auch wenn eines der Akzidentien aufhört zu sein. (Denn dieses Akzidens ist für das Wesen nicht unbedingt notwendig). Ebenso verhält es sich mit den determinierenden Bestimmungen, die die Art herstellen. Dasselbe ist der Fall betreffs der Dimension und der Qualität und ähnlicher Verhältnisse. Das gleiche gilt von dem Körper (als Genus aufgefaßt), über den wir jetzt verhandeln. Der Verstand kann ihn sich nicht als einen individuellen vorstellen (wörtlich: zu einem Gegenstand des Hinweises machen), wenn er ausschließlich den Begriff auffaßt, daß er eine „Substanz" ist, die irgendein beliebiges Ding enthält (und enthalten kann), nachdem die Summe (der Dimensionen) lang, breit und tief aktuell geworden ist, kurz bevor die
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Dinge bestimmt (determiniert) worden sind, die das Genus (der Potenz nach) in sich einschließt, oder nicht. Dann (durch diese Determination) wird das Genus zur Art. Dagegen könnte jemand einwenden: infolge obiger Ausführung könnten wir durch eine solche Summe, die wir herstellen (ζ. B. aus den drei Dimensionen) ein beliebiges Ding zusammenfugen. Dagegen erwidern wir: unsere Ausführungen behandeln eine bestimmte Art der Summierung. Diese gilt nur von Gegenständen, innerhalb deren ein Zusammentreffen von Bestimmungen (wörtlich: „Dinge" wie Genus, Differenz usw.) stattfindet, und zwar in der Weise wie „Dinge" „zusammentreten" in der Natur des Genus, insofern es ein Genus ist. Diese Art der Vereinigung besteht darin, daß die vereinigenden Dinge spezifische Differenzen sind, die zum Genus hinzugefügt werden. Jedoch will unsere Auseinandersetzung an dieser Stelle die Natur des Genus nicht klarlegen, noch auch die Frage erörtern, wie das Genus die spezifischen Differenzen und andere Bestimmungen in sich einschließt. Ebensowenig wollen wir auseinandersetzen, welche Dinge nach Art oder spezifischen Differenzen im Genus sich vereinigen; sondern unsere Darlegungen über Genus, Differenz usw. wollen nur zur Lösung der Frage hinführen, worin der Unterschied zwischen Genus und Materie besteht. Wenn wir nun einen Unterschied zwischen zwei Dingen begründen wollen, so obliegt es uns, diese Unterscheidung und Trennung weiterzuführen bis zur Darlegung anderer Zustände (deren Darlegung jedoch nicht unsere eigentliche Absicht war). Unsere Absicht war vielmehr nur, die Natur des Genus, das den Körper darstellt, klarzulegen, nämlich zu zeigen, daß derselbe eine Substanz sei, in der sich viele Dinge (d. h. Bestimmungen) zusammenfinden können und die so beschaffen sind, daß sie sich in derselben harmonisch vereinigen. Auf diese Weise wird ihre Summe lang, breit und tief (d. h. sie wird ein Körper). (Wir wollten nur dieses darlegen), selbst wenn (auf diese Weise) die Dinge nicht in Bezug auf die Voraussetzungen bekannt werden und noch unbekannt bleiben. Soweit geht unsere Diskussion betreffs dessen, was wir in diesem Kapitel auseinandersetzen. 4. Kapitel Die Art und Weise, wie die der Natur des Genus fremdartigen Begriffe in das Genus eintreten Wir wollen nun über die Dinge sprechen, die sich im Genus zusammenfinden können und die sich so verhalten, daß allein durch sie der Werdeprozeß zum Stillstand kommt, der die Natur und die Wesenheit des Genus zur Existenz bringt, so daß sie aktuell wirklich ist. Daher lehren wir: dieses Problem zerfällt in zwei Teile. Der eine besagt, welches
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die Dinge sind, die das Genus in sich selbst hervorrufen und in sich vereinigen muß (damit ein reales Individuum entsteht). Dann machen also jene Dinge das Genus zu einer Art. Der zweite Teil besteht in der Frage, welche Dinge sind tatsächlich präsent im Bereich des Genus, ohne daß sie sich so verhalten (wie die Bestimmungen, die das Genus zu einer Art machen). Wenn ζ. B. in jenem determinierten Körper die weiße Farbe in der erwähnten Weise36 präsent geworden ist, dann bildet sie denselben nicht zu einer Art um. Wenn daher das animal 37 in ein männliches und weibliches zerfällt, wird das Tier dadurch noch nicht zu einer Art gemacht. Folglich wird dasselbe trotz dieser zweifachen Teilung durch andere „Dinge" (Begriffe) in seiner Art bestimmt. Das „animal" kann ferner einem Individuum in Wirklichkeit zukommen, in dem viele Akzidentien vorhanden sind, so daß diese Summe zu einem bestimmten Tier wird, das Objekt eines individuellen Hinweises wird. Daher lehren wir: es ist nicht erforderlich, daß wir uns bemühen, die Eigentümlichkeit der Differenz eines jeden Genus zu beweisen für eine jede Art, noch die Differenzen der verschiedenen Arten eines einzelnen Genus; denn dies übersteigt unsere Fähigkeit. Was in unserer Macht liegt, ist vielmehr die Kenntnis des Gesetzes dieser Verhältnisse und der Frage, wie sich die Sache (absolut genommen) in sich verhält. Betrachten wir aufmerksam irgendeine der begrifflich faßbaren Abstraktionen, die bei der Determinierung des Genus auftreten, und fragen dann, ob dieser Begriff dem Genus unter Voraussetzung dieses Gesetzes zukommt oder nicht, dann können wir häufig betreffs einer Vielheit von Dingen keine Antwort auf diese Frage geben. Manchmal aber erkennen wir das Gesetz betreffs eines bestimmten Dinges. Infolgedessen lehren wir: der universale Begriff verhält sich, wenn er mit irgendeiner bestimmten Natur ausgestattet wird, zunächst so, daß diese Hinzufügung zum Genus nach Art einer Teilung vor sich geht, so daß also jene Natur ihm den Charakter einer Art verleiht, und daß ferner diese Teilung unmöglich konvertiert werden kann 38 , indem zugleich jenes Objekt eines Hinweises (das Individuum) in seiner Substantialität bestehen bliebe. In diesem Sinne würde ζ. B. das sich Bewegende von beiden (Teilen des kontradiktorischen Gegensatzes) 39 zu einem solchen, das sich nicht bewegt (wenn es seine „Art" änderte) oder umgekehrt. Dabei aber bleibt es numerisch ein und dasselbe, und das sich Bewegende oder sich nicht Bewegende sind die zwei Arten einer wesentlichen Einteilung.40 Die Einteilung muß vielmehr dem Genus notwendig anhaften. Daher trennt sich der dem Ding eigentümliche Begriff nicht von dem ihm zukommenden Anteil des Genus. Ferner muß der positive der beiden Teile oder beide zusammen sich nicht akzidentell verhalten in Beziehung auf das Genus und ihm nicht zukommen durch Vermittlung eines Inhaltes (wörtlich: Dinges), der (logisch) früher ist wie diese beiden. Die Natur des Genus begreift in sich, daß jener Begriff (die Differenz) in erster Linie (primo et perse)41 dem Genus zukommt; denn wenn jener Begriff (ratio) erst in zweiter Linie (durch Vermittlung eines anderen) ihm anhaftet, dann kann er durchaus keine
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Differenz bilden. Er bildet vielmehr ein notwendiges Akzidens für dasjenige, was Differenz ist. Die Sache verhält sich dann so, wie wenn ein (anderes) Teilungsprinzip bereits eine Verschiedenheit (im Genus) herbeigeführt hat (vor dem Eintreten der scheinbaren Differenz). Die Substanz zerfällt daher nicht in eine körperliche und unkörperliche (dies wäre eine Einteilung primo et per se), sondern in eine, die die Bewegung aufnimmt, oder nicht. Das „aufnahmefähige Sein für die Bewegung" haftet der Substanz nicht an in erster Linie (unvermittelt), sondern nachdem sie ein Körper und ein Räumliches geworden ist. Daher haftet das „aufnahmefähige Sein für die Bewegung" notwendig dem Körper an. Ebenso sind mit dem Körper viele (andere) Dinge verbunden, von denen jedes einzelne den Begriff des Körpers wachruft. Sie sind jedoch keine spezifischen Differenzen, sondern wirkliche Dinge, die den Differenzen notwendigerweise anhaften; denn der Substanz haften jene Dinge (rationes) (nur) durch Vermittlung der körperlichen Natur an. Die Einteilung der Substanz aber in Teile, die bezeichnen, daß sie nicht Körperliches oder etwas Körperliches sei, ist eine Teilung der Substanz als solcher (ihrem Wesen nach), nicht auf Grund irgendeines anderen Dinges (das eine Vermittlung bildete, also primo et per se). Manchmal ist es zulässig, daß einige Bestimmungen, die dem Genus nicht in ursprünglicher und direkter Weise zukommen, dennoch spezifisch eine Differenz sind. Jedoch ist dieses keine spezifische Differenz, die jedem Genus nahe steht (differentia proxima); 42 sondern es handelt sich dann um eine Differenz, die auf eine andere folgt. So sagt man, der Körper ist teils rationale, teils non-rationale;43 denn der Körper, nur als solcher genommen, ist nicht dazu disponiert, rationale oder non-rationale zu sein. Damit er diese letzteren Bestimmungen annehme, muß er zunächst ein seelisches Prinzip besitzen (also animal sein), so daß er dann erst rationale wird. Existiert nun eine Differenz für das Genus, so ergibt sich notwendig, daß die Differenzen, die auf diese erste Differenz folgen, solche sind, die die Determinierung (und Individualisierung) dieser ersten Differenzen bedeuten. Denn das rationale oder non-rationale erklärt näher die Differenz der Substanz als einer, die ein Lebensprinzip besitzt; denn das rationale haftet dem Dinge an, insofern es ein sensitivum 44 ist, nicht insofern es ζ. B. die weiße Farbe hat, oder süß oder schwarz ist oder irgendein anderes Akzidens aktuell besitzt. Ebenso verhält es sich mit der Bestimmung des Körpers als eines vivens oder non-vivens.45 Diese Bestimmungen kommen demselben durchaus nicht auf Grund irgendeines Genus zu, das die Vermittlung bildete (sondern primo et per se). Denn wenn der Natur des Genus noch andere Akzidentien (abgesehen von der Differenz) zukommen, durch die die Natur des Genus geteilt wird, dann muß entweder die Disposition für die (Aufnahme der) Teilung durch diese Akzidentien auf Grund der Natur des Genus selbst (direkt) bestehen oder durch eine universellere Natur vermittelt werden, in demselben Sinne wie in anderen Fällen, die oben aufgezählt sind (wörtlich: „früher"), die Teilung dem Genus zukommt auf Grund einer weniger universellen
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Natur. Wenn die Bestimmung eines Genus erfolgt auf Grund einer Natur, die universeller ist als die des Genus, so verhält sich dieses, wie wenn der Begriff des animal bestimmt wird durch den der weißen und schwarzen Farbe und der Begriff des Menschen durch den des Männlichen und Weiblichen. Diese Bestimmungen gehören nicht zu den Artdifferenzen der beiden Begriffe; vielmehr kann das animal jene Akzidentien nur deshalb in sich aufnehmen, weil es zugleich ein natürlicher Körper ist, und weil dieser natürliche Körper aktuell als Substanz existiert. Sodann bildet in zweiter Linie das animal ein Substrat für diese genannten Akzidentien und nimmt dieselben in sich auf, selbst dann, wenn es in der Tat nicht ein animal ist (sondern nur Körper bleibt). Der Mensch ist ebenfalls nur in dem Sinne disponiert, die Akzidentien des Männlichen und Weiblichen in sich aufzunehmen, als er ein animal ist. Daher sind diese Akzidentien (weil sie durch einen Begriff vermittelt werden, der universeller ist als der des Menschen) keine spezifischen Differenzen des Genus „Mensch". Manchmal sind Dinge dem Genus eigentümlich und zerlegen dasselbe, wie die Bestimmungen des Männlichen und Weiblichen das Genus Tier einteilen, ohne daß sie jedoch in irgendwelcher Weise spezifische Differenzen des Genus wären. Der Grund dafür ist der: diese Bestimmungen sind nur dann „Differenzen", wenn sie dem animal zukommen auf Grund seiner Wesensform, so daß also gerade seine Wesensform durch dieselben in ursprünglicher und unvermittelter Weise geteilt wird. Diese Bestimmungen dürfen nicht notwendige Akzidentien bilden für ein Ding, das bereits durch spezifische Differenzen seinen Bestand erhält und zwar in ursprünglicher Weise (primo et per se). Wenn sich die Sache aber nicht so verhält, sondern wenn die Bestimmungen dem animal nur zukommen, weil seiner Materie - und diese besteht auf Grund der spezifischen Differenzen - ein Akzidens anhaftet, dann tritt das animal in einen Zustand ein, der sich so verhält, daß er das Eintreten der Wesensform und Wesenheit des Genus in die Materie nicht ausschließt (sie aber auch nicht fordert) noch auch die beiden Extreme der Einteilung.46 Ebensowenig hindert sie dieser Zustand, daß das Genus sich mit anderen Bestimmungen auf Grund seiner Wesensform durch Vermittlung der spezifischen Differenzen verbindet. Daher sind die beiden Extreme der Teilung (ζ. B. das Männliche und Weibliche in Bezug auf den Menschen) keine spezifischen Differenzen, sondern notwendig anhaftende Akzidentien. So verhält sich ζ. B. das Männliche und Weibliche; denn ist ζ. B. der Same gut disponiert fur die Wesensform des Tieres und ist er zugleich disponiert für eine spezielle Differenz des universellen animal, dann wirkt auf ihn ζ. B. das Element des Heißen ein, und dann wird das Tier ein männliches; empfängt der Same aber eine Einwirkung des Kalten in der Mischung, dann wird das Tier ein weibliches. Dieses Sich-passiv-Verhalten (in Bezug auf Hitze und Kälte) allein verhindert es an und für sich nicht, daß das animal irgendeine Artdifferenz, die in den Bereich des animal fällt, infolge seiner Wesensform in sich aufnimmt, d. h. infolge des Umstandes, daß das Tier ein sensitivum ist, ein sinnliches Erkennen besitzt und sich
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willkürlich bewegt. Daher ist es möglich, daß dieses entstehende Tier sowohl das rationale als auch das non-rationale in sich aufnehmen kann. Die oben aufgezählten Einwirkungen wirken also nicht auf die Bestimmung der Art. Wenn wir daher das entstehende Lebewesen uns vorstellten als weder männlich noch weiblich und wenn wir überhaupt von dieser Betrachtung absehen, dann wird es dennoch irgendeine bestimmte Art und zwar durch das (andere) Prinzip, das die Art direkt bestimmt. Das Sich-passiv-Verhalten verhindert ebensowenig das Entstehen der Art dadurch, daß es die Art nicht berücksichtigt, ebensowenig bewirkt es das Entstehen der Art dadurch, daß es dieselbe berücksichtigt. Die Sache verhält sich aber anders, wenn wir das entstehende Lebewesen betrachten als weder rationale noch nonrationale, (wenn wir also eigentliche Differenzen ins Auge fassen), oder wenn wir ζ. B. die Farbe betrachten als weder weiß noch schwarz. Wenn wir zwischen den Artdifferenzen und den Propria47, die die Art in Klassen zerlegen, teilen wollen, so genügt es nicht, daß wir lehren: diejenige Bestimmung, die infolge der Materie dem Ding anhaftet, sei nicht eine Artdifferenz; denn der Umstand, daß das Tier entweder ein sich ernährendes oder nicht sich ernährendes ist, haftet ihm an auf Grund der Materie (und bildet dennoch eine spezifische Differenz für Pflanze und Tier). Wir müssen vielmehr auf die anderen Bedingungen bei dieser Bestimmung von Differenz und Proprium Rücksicht nehmen. Sie wurden bereits früher erwähnt. A u f Grund dessen finden wir keine Art des Körpers, die zu den Lebewesen gehört und zu gleicher Zeit zur Gruppe der non-viventia zu rechnen wäre. Wir finden aber, daß der Mensch - er ist notwendig eine Art des animal - zu gruppieren ist unter die Kategorie des Männlichen und Weiblichen zugleich, ebenso verhält sich das Pferd und andere. Daher ist der Begriff des Männlichen und Weiblichen ebensowohl innerhalb der Kategorie des Menschen als auch der des Pferdes, und zwar in der Weise, daß dieser Begriff - er ist ein notwendiges Akzidens der Substanz, durch das eine Teilung herbeigeführt wird dem bereits in Teile zerlegten anhaftet. Wenn diese Bedingungen zu denen der Differenz gehören, so sind sie manchmal doch nicht in der Differenz selbst. Dasjenige, was im Grunde keine eigentliche Differenz ist, haftet vielfach einer einzigen Art an, ohne deren Umfang zu überschreiten. Dieses tritt auf, wenn die Bestimmung zu den Propria der Differenz gehört. Wir kehren nun zum Anfang der Diskussion zurück und lehren: die Materie bringt, wie du gesehen hast, eine Wesensform hervor, wenn sie sich dahin bewegt, eine reale Wesensform in sich aufzunehmen, so daß durch diese hervorgebrachte Wesensform eine Art entsteht. Dieser Materie (oder Wesensform) haften manchmal Akzidentien infolge der Mischungen oder anderer Umstände an. Durch diese Akzidentien ist die Wirkungsweise der Materie in den Wirkungen, die von ihr ausgehen, verschieden, insofern diese Materie die Wesensform des Genus oder die der Differenz an sich trägt. Der Grund dafür ist der, daß nicht alles, was an äußeren Zuständen und an Akzidentien die Materie in sich aufnimmt, notwendigerweise ein Bestandteil des Endzweckes ist, zu dem das entstehende Wesen in seinem Werde-
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gang sich hinbewegt (es gibt vielmehr auch außerhalb der wesentlichen und notwendigen Bestimmungen des Dinges zufällige und akzidentielle, die die Verschiedenartigkeit der Betätigungen herbeifuhren). Du hast bereits die sich gegenüberstehenden natürlichen Elemente (das Trockne, Feuchte, Kalte und Heiße) und ihre gegenseitigen Einwirkungen wie auch die passiven Zustände der natürlichen Dinge in ihren Verhältnissen zueinander kennengelernt. 48 Diese passiven Zustände der Körper, die für dieselben „Akzidentien" bilden, wenden dieselben manchmal von dem erstrebten Endziel ab, manchmal treten dieselben auf auf Grund von verschiedenartigen Naturen, die nicht in dem erstrebten Endziel selbst begründet sind, sondern in Dingen, die dem Endziel in irgendwelcher Weise gleichen und zu demselben in Beziehung stehen. Manchmal befinden sich diese Passiones (Einwirkungen) in Dingen, die weitab von dem letzten Ziel liegen. Alles, was nun der Materie in dieser Rücksicht anhaftet und zwar so, daß zugleich mit diesen Bestimmungen (passiones) die Materie in ihrem Bestand erhalten bleibt und die Wesensform in sich festhält - alles dieses befindet sich außerhalb des natürlichen Endzweckes. Das Männliche und Weibliche wirkt in dieser Weise ein auf die Qualität der Organe, durch die die Erzeugung stattfindet. Nun aber ist das Erzeugen zweifellos ein Akzidens, das auf das Leben (corpus vivens)49 folgt, und ebenfalls später als die Konstituierung des lebenden Wesens als eines wirklichen und individuellen Dinges. Diese beiden und ähnliche Bestimmungen gehören also zu der Gruppe der akzidentellen Verhältnisse, die auftraten, nachdem die Art zu einer bestimmten Art geworden ist, selbst dann, wenn diese Verhältnisse zu dem Endzweck der Natur (der Erhaltung der Spezies) in Beziehung stehen. Die passiven Verhältnisse der Körper und die notwendigen Akzidentien gehören daher alle, insofern sie diese Eigenschaft besitzen, wie bekannt, nicht zu den spezifischen Differenzen der Genera.
5. Kapitel Die Bestimmungen (Dinge), die das Genus enthält Die Natur des Universellen haben wir bereits definiert und ferner festgestellt, wie sie existiert und wie das Genus in ihr sich von der Materie unterscheidet. Wir haben diese Dinge in einer gewissen Hinsicht definiert, so daß diese Definition auch nach anderen Hinsichten weiter ausgebaut werden könnte. Wir wollen dieselben später darlegen. Ferner haben wir klargestellt, welche Dinge der Begriff des Genus in sich enthält - Dinge, durch die es in Arten zerfällt. Nach all diesem verbleiben noch zwei Untersuchungen, die sich eng an das anschließen, womit wir uns gerade beschäftigen. Die erste ist die Frage: welche Dinge schließt das Genus ein, ohne durch
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dieselben in Arten zu zerfallen? Die zweite Untersuchung ist die: in welcher Weise verhalten sich die eben genannten Dinge (wörtlich: diese Auffassung) (im Genus) und wie stehen sie zu Genus und Differenz? Es sind dies (logisch) zwei Dinge, die zugleich ein Ding bilden, das in der realen Wirklichkeit auftritt. Betreffs der ersten Untersuchung lehren wir: wenn die genannten (im Genus enthaltenen) Dinge keine spezifischen Differenzen sind, dann müssen sie notwendig Akzidentien sein. Die Akzidentien sind nun entweder notwendig anhaftend oder nicht notwendig anhaftend. Die notwendig anhaftenden haften entweder den höheren Gattungen an, wenn überhaupt solche höheren Gattungen für das in Frage stehende Genus existieren, oder den Differenzen seiner Gattungen, oder der Gattung selbst in Beziehung zu ihrer Differenz und infolge derselben, oder auf Grund von Differenzen, die sich unterhalb des Genus befinden, oder auf Grund der Materie eines Dinges, das sich innerhalb der eben genannten Begriffe befindet. Was nun diejenigen Bestimmungen angeht, die den höheren Gattungen anhaften, so sind es die notwendig anhaftenden Akzidentien, die diesen höheren Gattungen eigen sind, und ebenso den spezifischen Differenzen derselben anhaften. Diejenige Differenz, die dem Ding den Bestand verleiht und der Gattung selbst direkt anhaftet, und die notwendigen Akzidentien der Materien dieser Gattungen und Differenzen und die notwendigen Akzidentien ihrer Akzidentien selbst - denn manchmal inhärieren den Akzidentien andere Akzidentien - die Summe von all diesem ist ein Proprium50 des Genus und dessen, was dem Genus subalterniert ist. Die Bestimmungen aber, die den dem Genus subalternierten Differenzen anhaften, sind in keinem ihrer Teile notwendige Akzidentien des Genus, da sich aus einem solchen Verhältnis ergeben würde, daß dem Genus zwei konträre Bestimmungen anhaften würden. Es ist vielmehr manchmal möglich, daß in dem Genus beide Opposita auftreten. Betreffs der zweiten Untersuchung wollen wir das Ding als ein individuelles voraussetzen. Ein solches ist eine reale Summe, die besteht aus den Differenzen der Körper und vielen Akzidentien. Wenn wir daher dieses Ding einen Körper nennen, so bezeichnen wir mit diesem Ausdruck nicht nur die Summe von körperlicher Wesensform und Materie allein, der diese Bestimmungen alle anhaften und zwar als ihre äußerlichen Bestimmungen, sondern wir bezeichnen mit Körper ein Ding, das nicht in einem Substrat existiert (also kein Akzidens ist) und das Länge, Breite und Tiefe besitzt, sei es nun, daß diese Bestimmungen des Körpers von ihm in ursprünglicher oder nicht in ursprünglicher Weise prädiziert werden. Die Summe dieser Bestimmungen, insofern sie eine determinierte und individuelle ist, wird in diesem Sinne als (mathematischer) Körper bezeichnet. Sie wird nicht in dem anderen Sinne als (physischer) Körper bezeichnet, in dem sie mehr seine Materie bedeuten würde. Wird nun das Ding Körper genannt, so ist derselbe nur dieser Körper, nicht etwa ein Teil von ihm (Körper als Genus) oder etwas, was außerhalb des Begriffes der körperlichen Natur liegt (materielle Akzidentien).
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Dagegen könnte man einwenden: Ihr habt die Bestimmung aufgestellt, daß die Natur des Genus nicht verschieden sei von der Natur des Individuums. Nun aber ist es allgemeine Lehre der Philosophen, daß das Individuum Akzidentien und Propria besitzt, die außerhalb der Natur des Genus liegen (dann muß also das Individuum eine andere Natur haben als die des Genus). Dagegen erwidern wir: Der Ausdruck jener Philosophen: das Individuum besitzt Akzidentien und Propria, die außerhalb der Natur des Genus liegen, bedeutet, daß die Natur des Genus, die von dem Individuum ausgesagt wird, nicht jener Akzidentien aktuell bedarf, damit sie die Natur des Genus, und zwar des Genus nach seiner universellen Seite aufgefaßt, besitzt. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die Natur des Genus nicht von der Summe (jener individuellen Bestimmungen des Einzeldinges) ausgesagt wird. Denn wenn die Natur des Genus nicht von der Summe (die das Individuum darstellt) ausgesagt wird, dann wird sie ebensowenig von dem Individuum selbst ausgesagt. Das Genus müßte dann vielmehr ein Teil des Individuums sein. Wenn jene Akzidentien und Propria nicht existierten, dann würde dennoch diese Natur, die wir genannt haben (der mathematische Körper) real existieren in dem genannten Sinne, nämlich in dem Sinne, daß sie die Natur einer Substanz, wie auch immer ihre Substantialität beschaffen sein mag, bedeutet, und zwar einer Substanz, die in diesen und jenen Bestimmungen besteht, die ihr, insofern sie Körper ist, notwendigerweise zukommen. Diese Akzidentien und Propria liegen außerhalb der Natur des Dinges, so daß der Körper ihrer nicht bedarf infolge seiner Gattungen, so ζ. B. damit er ein Körper sei, wie ausgeführt wurde. Sie sind nur dann erforderlich, wenn der Körper individualisiert werden soll. Die Sache verhält sich nicht so, daß jene akzidentiellen Bestimmungen nicht als Körper bezeichnet werden können, wenn sie real vorhanden wären. Zwischen der Redeweise: „eine Natur bedarf zum Zustandekommen ihres WesensbegrifFes nicht eines anderen Dinges" und der anderen Redeweise: „eine universelle Natur wird nicht von einem Ding ausgesagt" besteht ein Unterschied. Denn manchmal wird ein universeller Begriff ausgesagt von etwas, dessen er zur Konstituierung seines WesensbegrifFes nicht bedarf. Wenn nun die Prädikation vollzogen wird, dann wird der universelle Begriff dadurch aktuell individualisiert, wenn es überhaupt möglich ist, daß er durch eine ihm fremde Natur individualisiert werde. Ebenso verhält sich das Genus zu den Differenzen. Bestände nicht diese verschiedene Betrachtungsweise (des Universellen und Konkreten) in der Prädikation, dann müßte die Natur des Genus einen Teil des Dinges bilden, sie könnte nicht ein Prädikat desselben sein.
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6. Kapitel Die Art Die Art ist dasjenige, was in der realen Existenz und zugleich im Verstand aktualisiert ist. Der Grund davon ist der, daß, wenn das Genus in bezug auf seine Wesenheit durch reale Dinge bestimmt wird, die es aktualisieren, dann der Verstand nach jenem Vorgang der Aktualisierung nur noch verlangt, daß das Wesen durch das Individualisationsprinzip determiniert und individualisiert wird. Der Verstand verlangt für die Aktualisierung der Wesenheit nur noch das Individuationsprinzip, nachdem die letzte Art aufgetreten ist; die Aktualisierung ist dann nur die Individualisierung. Dann haften der Wesenheit notwendige Bestimmungen an, nämlich Propria und Akzidentien, durch die die Wesenheit als ein individuelles Ding bestimmt wird. Diese Propria und Akzidentien sind entweder nur Relationen, ohne daß sie in sich selbst irgendeinen selbständigen Wesensbegriff darstellten - so verhalten sich diejenigen Bestimmungen, die den Individuen der einfachen Dinge und den Akzidentien (als accidentia accidentis) 51 zukommen - , oder es sind Zustände, die ihrerseits zu den Relationen hinzugefügt werden. Jedoch verhalten sich einige so, daß, wenn man sie von diesem Individuum in der Vorstellung entfernt, sich notwendig ergibt, daß dann nicht mehr dieses bestimmte Individuum, das sich von anderen unterscheidet, wirklich ist. Die dem Individuum notwendig anhaftende Verschiedenheit von anderen Dingen wurde vielmehr vernichtet. Andere Bestimmungen verhalten sich so, daß, wenn man sie von dem Dinge in der Vorstellung entfernt, sich dann nicht notwendig ergibt, daß das Wesen seine Existenz verliert, nachdem es dieselbe erhalten hatte, noch auch sein Wesen und Selbständigkeit einbüßt, nachdem dasselbe die Individualität erhalten hatte. Vernichtet wird nur die Verschiedenheit und das Anderssein in Beziehung auf andere Individuen, indem zugleich eine andere Art des Verschiedenseins auftritt. Dieses Anderssein verändert sich, ohne daß das Ding dabei vernichtet wird. In vielen Fällen ist uns jedoch dieses Verhältnis zweifelhaft, ohne daß wir darin zur klaren Ansicht gekommen wären. Unsere Darstellung soll sich auch nicht auf das erstrecken, was unsere Meinung ist, sondern auf die Verhältnisse, die in dem wirklichen Ding selbst vorhanden sind.
7. Kapitel Die Definition der Differenz und ihrer Wesenheit Auch über die Differenz müssen wir reden und ihr Verhältnis definieren. Daher lehren wir: die Differenz im eigentlichen Sinne verhält sich nicht wie die rationalitas und sensibilitas; 52 denn diese Bestimmungen werden nicht von einem realen Ding
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ausgesagt, es sei denn in einer Weise, in der sie nicht Differenzen des Dinges sein können, sondern Arten sind. So verhält sich ζ. B. der Tastsinn zu dem Begriff der sinnlichen Wahrnehmung. Bereits an anderen Orten hast du dasselbe kennengelernt. Ebensowenig kann diese substantivisch ausgedrückte Differenz ausgesagt werden von einem Individuum wie ζ. B. die rationalitas ausgesagt wird von der rationalitas des Zaid und Omar; denn die Individuen der Menschen enthalten als Prädikat die rationalitas ebensowenig wie die sensibilitas. Kein einziges Individuum wird bezeichnet als rationalitas oder sensibilitas. Man nimmt nur von diesen universellen Begriffen einen abgeleiteten Namen, um die Individuen zu bezeichnen. Wenn nun jene Begriffe Differenzen sind, dann sind sie in einer anderen Weise Differenzen, jedoch nicht in der Weise, in der sie Teile der allgemeinen Kategorie (des Genus) sind, die von vielen Dingen in eindeutiger Weise (und de toto)53 ausgesagt wird. Daher ist es entsprechender, diese (substantivischen) Universalia als Prinzipien der Differenzen nicht als eigene Differenzen zu bezeichnen; denn diese Universalia werden in eindeutiger Weise von Individuen ausgesagt, die nicht Individuen der Art sind, von der sie als ihre spezifischen Differenzen ausgesagt werden; denn die rationalitas wird ausgesagt von der rationalitas des Zaid und der rationalitas des Omar in eindeutiger Weise (also nicht von Zaid und Omar, den Individuen der Art, deren spezifische Differenz die rationalitas ist). Die sensibilitas wird ebenso ausgesagt von dem Gehörsinn und Gesichtssinn in eindeutiger Weise; daher ist also die Differenz, die sich verhält wie die rationalitas und die sensibilitas nicht dadurch bestimmt, daß sie von einem konkreten Ding, das in den Begriff des Genus fallt, ausgesagt wird; denn die sensibilitas und die rationalitas sind nicht ein individuelles animal. Was nun diejenige Differenz anbetrifft, die als rationale und sensitivum bezeichnet wird, so ist das Genus der Potenz nach diese Differenz selbst. Wird nun das Genus zu dieser Differenz in aktueller Weise, dann wird das Genus zur Art. Was nun die Frage anbetrifft, wie dieses vor sich geht, so haben wir bereits darüber verhandelt. 54 Wir haben klargelegt, wie das Genus eine Differenz wird und ebenfalls, wie es in realer und aktueller Weise eine Art ist und wie die eine dieser logischen Kategorien sich von der anderen unterscheidet. Ferner, daß die Art ihrem realen Wesen nach ein Ding ist, das selbst das Genus ist, und zwar das Genus, wenn es aktuell bestimmt wird (durch die Differenz). Diese Unterscheidung und Trennung der Begriffe findet aber (nur) im Verstand statt. Will man aber (das logische Verhältnis) absichtlich auf das reale Gebiet übertragen und in der realen Existenz bezüglich der zusammengesetzten Substanzen eine Scheidung und Trennung (nach Genus und Differenz) herbeifuhren, dann ist das Genus die Materie und die Differenz die Wesensform. Dann aber ist das Genus ebensowenig wie das Ding ein Prädikat, das man von der Art aussagt (denn das Prädizierte muß abstrakt und universell sein).
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Manche Schwierigkeiten stellen sich diesem Problem und sogar der realen Existenz der Natur des Artunterschiedes entgegen. Zu ihnen gehört das, was wir jetzt erwähnen: es ist nämlich einleuchtend, daß jede Art von den Mitarten innerhalb des Bereiches des Genus getrennt ist durch eine Differenz. Diese Differenz ist sodann ebenfalls ein bestimmter Begriff. Ein solcher muß nun aber entweder das universellste Prädikat sein oder ein solches, das in den Umfang des universellsten Prädikates fallt. Nun ist es aber unmöglich, zu sagen, daß jede Differenz das universellste Prädikat sei; denn das rationale und viele andere diesem ähnliche Begriffe (wörtlich: „Dinge") sind weder Kategorien noch verhalten sie sich nach Art von Kategorien, und daher bleibt nur die Möglichkeit übrig, daß sie in den Bereich des universellsten Prädikates fallen. Jeder Begriff aber, der unter einen universelleren, subalternierenden 55 Begriff fällt, muß sich von allen anderen Begriffen, die gleichfalls als Mitarten unter diesen universelleren Begriff fallen, durch eine Differenz unterscheiden, und zwar durch eine Differenz, die ihm in eigentümlicher Weise zukommt. Daher muß also jeder Differenz eine neue Differenz zukommen, (die sie von den gleichstehenden Differenzen unterscheidet). Diese Differenzierung müßte dann ins Unendliche weitergehen. Was nun zur Lösung dieser Schwierigkeit festgestellt werden müß, ist, daß es verschiedene Arten des Prädikationsverhältnisses gibt. Einige verhalten sich so, daß das Prädikat dem Wesen seines Substrates seinen Bestand verleiht; andere verhalten sich so, daß das Prädikat ein dem Substrat notwendig anhaftendes Akzidens (proprium) ist, ohne daß es seiner Wesenheit den Bestand verleiht. Ferner ist zu betonen, daß nicht jeder Begriff, der einen geringeren Umfang hat und unter einen universelleren, subalternierenden Begriff fällt, durch eine neue spezifische Differenz sich von den Mitarten, die ihm im Bereich des universelleren Begriffes zur Seite stehen, unterscheidet, und zwar durch eine Differenz im begrifflichen Denken, die einen Inhalt darstellt, der verschieden ist von dem Wesen (der Differenz) selbst und ihrer Wesenheit. Diese Unterscheidung (durch eine neue hinzukommende Differenz) ist nur dann erforderlich, wenn dasjenige, was von einem Ding ausgesagt wird, seiner Wesenheit den Bestand verleiht; dann verhält sich dieses Prädikat wie ein Teil des Wesens im begrifflichen Denken und überlegenden Verstand (nicht in der Außenwelt). Die anderen Begriffe aber, die diesem ersten Begriff als Mitarten zur Seite stehen im Verstand, Denken und Definieren, stimmen mit jenem, dem ersten Begriff (der ersten Art) überein in einem Inhalt, der Teil seines Wesens ist (in Genus). Sind nun beide verschieden (der eigentliche Begriff und seine Mitart), so müssen sie verschieden sein in einem Ding, das beide nicht gemeinsam haben. Nun aber ist dieses für die Begriffsbildung, das Denken und Definieren gleichbedeutend mit einem anderen Teil der Wesenheiten. Daher ist also die Verschiedenheit dieses Begriffes, die ihm ursprünglich (primo et per se)56 zukommt, durch einen Inhalt (wörtlich: Ding) herbeigeführt, der zur Summe der Bestimmungen seines Wesens (als Teil) gehört, ohne die ganze Summe derjenigen
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Bestimmungen auszumachen, die notwendige und innere Teile der Wesenheit bilden (wie die spezifische Differenz), d. h. nur für das begriffliche Denken und Definieren. Der Teil ist nun verschieden vom Ganzen, und daher wird also die Verschiedenheit dieses Begriffes von seinen Mitarten herbeigeführt durch ein Ding, das verschieden ist von dem Ganzen (dem Genus), und dieses ist die Differenz. Stimmen zwei Inhalte in einem Begriff überein, der ein notwendig anhaftendes Akzidens ist, stimmen aber beide durchaus nicht überein in den Teilen der Definition der Wesenheit, dann ist die Wesenheit durch sich selbst, nicht durch irgendeinen ihrer Teile getrennt (von anderen, sogar dem Genus nach verschiedenen Wesenheiten). In dieser Weise ist ζ. B. die Farbe von der Zahl verschieden; denn beide, wenn sie auch in der realen Existenz als einem gemeinsamen, notwendigen Akzidens zusammenfallen, so ist doch die Existenz, wie aus vielen anderen philosophischen Erörterungen klar ist, ein notwendiges Akzidens, nicht ein innerer Bestandteil der Wesenheit, und daher bedarf die „Farbe", um sich von der „Zahl" der Definition nach und im logischen Denken zu unterscheiden, keines anderen Dinges als ihrer Wesenheit und ihrer Natur. Würde die Zahl mit der Farbe übereinstimmen in einem Inhalt, der einen inneren Teil der Wesenheit bedeutete, dann müßte sie von der Zahl getrennt werden durch einen anderen Begriff als den aller Bestimmungen ihrer Wesenheit. Nun aber ist die ganze Wesenheit der Farbe in keiner Weise gemeinsam mit der Wesenheit der Zahl. Beide stimmen nur überein in einem Ding, das außerhalb der Wesenheit liegt und daher bedarf die Farbe keiner eigentlichen Differenz (die einen inneren Teil der Wesenheit bildet), um sich von der Zahl zu unterscheiden. (Sie unterscheidet sich von ihr durch die ganze Wesenheit.) Ferner lehren wir: das Genus wird von der Art ausgesagt in der Weise, daß es als ein Teil ihrer Wesenheit auftritt. Es wird ebenfalls ausgesagt von der Differenz in dem Sinne, daß das Genus ein notwendiges Akzidens der Differenz ist, nicht in der Weise, daß es Teil der Wesenheit der Differenz wäre. So verhält sich ζ. B. der Begriff des animal.57 Er wird ausgesagt von dem Menschen in dem Sinne, daß er Teil seiner Wesenheit ist. Er wird ferner ausgesagt von dem rationale58 in dem Sinne, daß das animal ein notwendig anhaftendes Akzidens des rationale ist, nicht in der Weise, daß es ein Teil der Wesenheit des rationale wäre. Denn unter rationale versteht man ein Ding, dem die rationalitas59 zukommt, und ein Ding, dem eine anima rationalis60 eigen ist, ohne daß jedoch der Ausdruck rationale in sich einen Beweis dafür enthielte, daß jenes Ding Substanz oder keine Substanz sei. Der Begriff der Substantialität ist nur insofern in dem der Rationalität Inbegriffen, als unbedingt notwendig ist, daß dieses Ding (das als ein rationale bezeichnet wird) nur eine Substanz oder ein Körper und ens sensitivum 61 sein kann. Diese Bestimmungen werden daher von der Differenz (ζ. B. dem rationale) ausgesagt nach der Weise wie das notwendig anhaftende Akzidens seinem Substrat beigelegt wird. Diese Bestimmungen (die höheren Genera) bilden keine wesentlichen Bestandteile des Begriffes rationale, d. h. des Dinges, das die rationalitas besitzt.
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Daher stellen wir nun folgende Lehre auf: Die Differenz stimmt mit dem Genus, das von der Differenz ausgesagt wird, nicht in der Wesenheit überein (sonst müßte sich die Differenz wiederum durch eine andere Differenz von der Wesenheit unterscheiden, was einen regressus in infinitum 62 ergäbe). Daher ist also die Differenz verschieden von dem Genus durch ihr Wesen selbst. Sie stimmt überein mit der Art in der Weise, daß sie ein Teil der Art ist, und daher unterscheidet sich also die Differenz von der Art durch die Natur des Genus, die in der Wesenheit der Art Inbegriffen ist, ohne gleichzeitig in der Wesenheit der Differenz enthalten zu sein (d. h. ihr Fehlen bildet den Unterschied zwischen Differenz und Art). Das Verhältnis der Differenz zu den übrigen „Dingen" (Begriffen) ist wie folgt: Hat die Differenz das gleiche Wesen wie diese übrigen Begriffe (die aus den höheren Genera entnommen sind), dann muß sich die Differenz von diesen durch eine neue Differenz unterscheiden. Stimmt aber die Differenz nicht in dem Wesen mit diesen anderen Begriffen überein, dann ist es nicht erforderlich, daß sie sich durch eine neue Differenz von ihnen unterscheidet. Nun aber ist es nicht erforderlich, daß jede Differenz mit einem anderen Dinge in ihrem Wesen übereinstimmt, und ebensowenig ist es konsequenterweise erforderlich, daß, wenn die Differenz unter einen universelleren, subalternierenden Begriff fällt, sie in der Weise in den Bereich und Umfang dieses Begriffes einzureihen ist, wie eine Differenz unter das Genus eingereiht wird. Die Differenz kann vielmehr im Umfang eines universelleren Begriffes enthalten sein, und zugleich kann der universellere Begriff einen wesentlichen Bestandteil ihrer Wesenheit bilden. Ebenso ist es möglich, daß die Differenz nicht unter einen universelleren Begriff fällt, es sei denn in der Weise, wie irgendein Begriff enthalten ist in dem Begriff seines notwendig ihm anhaftenden Akzidens, der nicht in dem Begriff, der einen wesentlichen Teil des Dinges bildet, vorliegt. So verhält sich ζ. B. das rationale. Es ist enthalten in dem (allgemeineren) Begriff des Erkennenden; denn das Erkennende ist Genus des rationale. Der Begriff des Erkennenden fällt unter den der Substanz (und letztere wird ausgesagt von dem Erkennenden) in dem Sinne, daß die Substanz notwendiges „Akzidens" (d. h. „Voraussetzung") für den Begriff des „Erkennenden" bildet, nicht so, als ob die Substanz Genus desselben wäre, in der Weise, wie wir es auseinandergesetzt haben. Ebenso fallt der Begriff „erkennend" unter den Begriff der Relation, jedoch nicht in der Weise, daß die Relation Substanz des Begriffes „erkennend" wäre oder einen wesentlichen Bestandteil von ihm bildete, sondern nur in der Weise, daß der Begriff der Relation notwendige Bestimmung (wörtlich: Akzidens) des Begriffes „erkennend" ist. Daher bedarf die Differenz, damit sie sich von ihrer Art unterscheidet, nicht einer neuen Differenz, und ebensowenig bedarf sie, um sich von anderen, ihr in dem Begriff der „realen Existenz wesentlicher und notwendig anhaftender Akzidentien" verwandten Inhalten zu unterscheiden, eines neuen Begriffes, der verschieden wäre von ihrer Wesenheit selbst. Ebensowenig ist es erforderlich, daß die Differenz not-
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wendigerweise unter einen universelleren, subalternierenden Begriff fallen müßte, in der Weise, wie eine Art unter das Genus fällt. Manchmal ist vielmehr das Verhältnis das des Subjektes eines notwendig anhaftenden Akzidens, das geringeren Umfang hat. Dieses gehört unter den Begriff des notwendigen Akzidens, das keinen wesentlichen Bestandteil des Subjektes bildet. Gelangt nun die Differenz wie ζ. B. die rationalitas zur wirklichen Existenz, so müssen die verwandten Begriffe nur in den Differenzen der zusammengesetzten Dinge wirklich werden. Versteht man nun unter rationalitas den Umstand, daß der Gegenstand eine vernünftig denkende Seele besitzt, dann ist die Differenz als ein Begriff zu bezeichnen, der zusammengesetzt ist aus einer Beziehung und einer Substanz, wie du an anderen Orten kennengelernt hast. Versteht man unter rationalitas die Seele selbst, dann ist er eine Substanz und verhält sich wie der Teil einer zusammengesetzten Substanz. Dieser muß sich wiederum von der ganzen Substanz unterscheiden durch die Differenz, die statthat zwischen der einfachen und zusammengesetzten Substanz, wie es häufig dargelegt wurde. Wir kehren nun zurück zu den (allgemeinen) Prämissen, die in der angeführten Schwierigkeit enthalten sind. Daher lehren wir: die Prämisse, die besagt, daß die Differenz, weil sie irgendein begrifflich faßbarer Inhalt ist, entweder das universellste Prädikat oder ein Begriff sein muß, der unter dieses universellste Prädikat fällt diese Prämisse bildet ein Problem für sich. Die zweite Prämisse ist diejenige, die besagt, daß jedes allgemeinste Prädikat eine Kategorie im eigentlichen Sinne des Wortes sei, und diese ist unrichtig; denn die Kategorie ist das allgemeinste Prädikat nur in Bezug auf die Genera, die die Wesenheit konstituieren; sie ist aber nicht das allgemeinste Prädikat schlechthin (ohne Einschränkung) und ohne daß seine Wesenheit allem, was unter ihren Umfang fällt, den Bestand verleiht. Es haftet vielmehr den Dingen als notwendiges Akzidens an (und kann deshalb kein wesentlicher Bestandteil sein). Die zweite Prämisse, daß nämlich jeder Begriff, der unter einen allgemeineren fällt, sich von anderen, die ihm als Mitarten innerhalb dieses allgemeineren zur Seite stehen, durch eine Differenz unterscheidet und zwar eine Differenz, die ihm in eigentümlicher Weise zukommt - diese Prämisse ist unrichtig; denn die an einem Inhalt gemeinsam teilnehmenden Begriffe können sich verhalten wie Begriffe, die in einem notwendig anhaftenden Akzidens übereinstimmen, nicht in einem Bestandteil der Wesenheit. Dann unterscheidet sich der eine Begriff von dem anderen nicht durch eine neu hinzutretende Differenz, sondern einfachhin durch sein Wesen selbst. Nach diesen Auseinandersetzungen ist es einleuchtend, daß durchaus nicht jeder Differenz eine neue Differenz zukommen muß. Ferner muß dir klar sein, daß jene Lehre, die besagt: die Differenzen der Substanz sind selbst Substanz und die Differenzen der Qualität selbst Qualität - nur behaupten will: die Differenzen der Substanz müssen notwendigerweise Substanz sein und die Differenzen der Qualität
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notwendigerweise ebenfalls Qualität. Der Sinn obigen Ausdrucks ist nicht der, daß die Differenzen der Substanz hier in dem Begriff ihrer Wesenheit die Definition der Substanzen einschlössen und daß die Differenzen der Qualität in ihrer Wesenheit die Definition der Qualität enthielten, weil auch sie Qualitäten seien. Es müßte denn sein, daß wir unter Differenzen der Substanz nicht etwa die Differenz verstehen, die von der Substanz in eindeutiger Weise (und de tota re)63 ausgesagt wird, sondern diejenige Differenz, die in abgeleiteter Bedeutung von der Substanz prädiziert wird, d. h. nicht das rationale, sondern die rationalitas. Dann trifft das ein, was bereits bekannt ist, und so wird die Differenz zu einer Differenz in abgeleiteter Bedeutung, nicht in eindeutigem und eigentlichem Sinne. Die wahre Differenz ist jedoch diejenige, die in eindeutigem Sinne (und de toto genere) 64 ausgesagt wird. Existiert nun die Differenz, die in eindeutigem Sinn ausgesagt wird, in realer Weise, dann ergibt sich noch nicht, daß nun auch die Differenz, die in abgeleiteter Bedeutung gebraucht wird, real existiert. Dies trifft zu (d. h. sie existiert) nicht etwa in jedem, was nur die Natur einer Art hat, sondern nur in dem, was eine substantielle Art ist, mit Ausschluß der akzidentiellen Arten. Jedoch existiert sie auch nicht in jeder substantiellen Art, sondern nur in den zusammengesetzten Arten, die keine einfachen Substanzen sind. Daher bedeutet diejenige Differenz, die univoce 65 ausgesagt wird, ein Ding, das als so und so bestimmt im allgemeinen Sinne bezeichnet wird. Sodann ist nach eingehender Betrachtung und Überlegung (erst in weiterer Deduktion, noch nicht direkt aus dem Begriff der Differenz) klar, daß dieses Ding, das als ein solches (als ein so differenziertes) bezeichnet wird, eine Substanz oder eine Qualität ist, ζ. B., daß das rationale ein Ding ist, dem die rationalitas zukommt. Der Umstand aber, daß es ein Ding ist, dem die rationalitas zukommt, enthält nicht in sich, daß das Ding eine Substanz oder ein Akzidens sei. Es muß vielmehr durch außerhalb der Differenz liegende Determinierungen erkannt werden, daß dieses Ding (das ens rationale) nur eine Substanz oder ein Körper sein kann.
19. IBN SINA (AVICENNA) Das Buch des Wissens Metaphysica*
Kapitel 12 Das Erkennen der wahren Grundlage der Universalität und Partikularität Die überkommene Ansicht besteht darin, daß alle Schwärze eins ist und daß alle Menschen in Hinsicht auf das Menschentum eins sind. Folgerichtig gelangen die Menschen zu der Vorstellung, daß es möglicherweise ein gegenüber der Seele des Menschen äußeres Sein gibt - wie etwa die Schwärze oder das Menschentum das in Wirklichkeit auf eine identische Art und Weise in zahllosen Dingen existiert. Es gibt zum Beispiel eine Schulrichtung, die der Ansicht ist, daß in Zaid und Amr eine einzige Seele auf eine identische Art und Weise existiert - analog wie ein Vater mehrere Söhne besitzen kann bzw. die Sonne in mehreren Städten scheinen kann. Diese Meinung stimmt nicht, sie ist falsch. Eine solche Universalität, die eine einzelne Idee darstellen soll und zu vielem anderen in Analogie sein soll, existiert natürlich nicht, es sei denn in der Einbildung und im menschlichen Denken. Beim erstmaligen Anblick eines Körpers eines Menschen (d. h. eines Exemplars des Menschen) ist man geneigt zu denken, dieser besäße die Form des Menschentums infolge des einen einzigen Menschentums; man ist ebenfalls geneigt zu denken, daß die Form, die in dem einen Menschen ist, mit der einen universellen Form und mit allen anderen Exemplaren der Formen des Menschentums vereinigt ist, die einem Menschen gegenüberstehen. Es ist fur einen Menschen, der das Produkt eines anderen Menschen ist, notwendig, dieselbe Form zu besitzen wie seine Ursache. Wenn er von einem Menschen herkommt und die * Ibn Sina, Daniä Nama-i Ala'i. - Unser Auszug: Metaphysica, Kap. 12, in: Danish Nama-i Ala'i. The Metaphysica of Avicenna. A critical translation-commentary and analysis of the fundamental arguments in Avicennas Metaphysica in the Danish Nama-i Ala'i (The book of Scientific Knowledge), übers, v. P. Morewedge, London 1973, S. 32-36; danach Deutsch v. H.-U. Wöhler.
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Form des Menschentums besitzt, kann er nicht akzidentiell eine andere Form besitzen. Es kann zum Beispiel nicht sein, daß etwas, was von Zaid herkommt, nicht Amr (d. h. ein anderer Mensch, der die Form des Menschentums besitzt), sondern ein Löwe ist, der eine andere Form (als das Menschentum) besitzt. Ferner: Wenn es mehrere Ringe mit denselben Insignien gibt, dann ist der Abdruck, den der eine an einer Stelle hinterläßt, derselbe, wie ihn ein anderer hinterlassen hätte. Ein und dasselbe Menschentum oder ein und dieselbe Form der Schwärze kann es außerhalb der Seele, der Einbildung oder des Denkens jedoch nicht geben. Die Existenz der Form des Menschentums kann nicht auf irgendein Ding bzw. irgendein Exemplar der Klasse der Menschen beschränkt sein. Ebenso kann die Existenz der Form der Schwärze nicht auf schwarze Menschen noch auf Exemplare von schwarzen Entitäten beschränkt sein. Die identische Form des Menschen als Menschen kann nicht ein Wissender wie Piaton und ebenso ein Nichtwissender wie jemand anders als Piaton sein. Es ist fur das Wissen nicht möglich, in ein und demselben Ding zu sein und nicht zu sein. Ebenso unmöglich ist es für ein und dasselbe Ding, (zugleich) Schwärze und Weißheit zu enthalten. Es ist gleichfalls unmöglich für das universale Lebewesen, ein besonderes wirkliches Lebewesen zu sein, da es dann sowohl ein Schreitendes als auch ein Fliegendes wie gleichermaßen nicht ein Schreitendes oder ein Fliegendes sein müßte, und es müßte auch gleichermaßen zweifüßig und vierfüßig sein. Somit wird es einleuchten, daß die Idee der Universalität nur auf Grund dessen, daß sie ein Universale ist, kein aktual Existierendes ist, es sei denn im Denken. Ihre Realität ist jedoch sowohl im Denken als auch außerhalb des Denkens gegeben; denn die Realität des Menschentums und der Schwärze ist gleichermaßen im Denken und außerhalb des Denkens in den Dingen gegeben. Freilich gibt es nicht das, was angeblich ein einziges Menschentum mit einer einzigen Schwärze ist und das angeblich wie eine Universalität in allen Entitäten existiert. Eine Idee, die ein Universale ist, kann nicht vieles Partikuläre besitzen, das nicht unterscheidbar ist mit Hilfe einer partikulären Kennzeichnung oder einer partikulären Relation. Es kann zum Beispiel nicht zwei Schwärzen geben, da die Schwärze dann in zwei Körpern existieren müßte und jeder der beiden Entitäten dann ermangelte, eine ganz genau umrissene Beschaffenheit zu besitzen. Der Grund für diese Ausführung ist, daß jedes Exemplar der Schwärze identisch ist mit jedem beliebigen anderen Exemplar im Hinblick auf die Bezeichnung derselben Schwärze. Deshalb ist es Schwärze. Wäre es so, daß das „Eine-Einheit-Sein" und das „Schwarz-Sein" dieselbe Idee ausmachten und wäre die Schwärze zudem notwendig, um es zu einer Einheit zu machen, dann würde es notwendig sein, daß die Schwärze mit der Einheit als solcher identisch ist. Wenn es also nicht der Fall ist, daß ein Ding infolge der Schwärze zu einer Einheit wird und diese Einheit - wenngleich durch ein anderes Ding verursacht - in der Realität mit der Schwärze verbunden ist, dann kann diese Schwärze nicht in zwei aufgeteilt werden infolge der Schwärze
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selbst, vielmehr infolge eines Grundes, durch den die Schwärze jeder der beiden Entitäten auf partikuläre Weise zuteil wird. Wir wissen, daß die Beziehung einer allgemeinen Idee zu einer partikulären entweder von einer Differenz oder einem Akzidens abhängt. Wenn nun eine Differenz und ein Akzidens in einer allgemeinen Idee verwurzelt sind - sowohl im Kontext der Abstraktion als auch im Kontext der Aktualisierung eines Partikulären -, so sollte man wissen, daß sie nicht in dem Wesen der allgemeinen Idee verwurzelt sind. Die Belebtheit, die gleichermaßen auf Mensch und Pferd bezogen ist, veranschaulicht diese These. Sobald die Idee der Belebtheit auf beide gleichermaßen in Beziehung gebracht wurde, sind sie in bezug auf die Belebtheit vollkommen. Wäre irgendeines von beiden unvollkommen, so könnte die Belebtheit auf es nicht in Beziehung gebracht werden; denn ein in der Realität der Belebtheit mangelhaftes Ding ist kein Lebewesen. Die Vernunftbegabung zum Beispiel - die Differenz des Menschen - ist nicht notwendigerweise bezogen auf die Realität und das Wesen der Belebtheit, denn sonst könnte die Belebtheit in der Realität nicht in Beziehung zu einem Pferd gebracht werden. Tatsächlich muß es erst entweder die Vernunftbegabung oder eine Differenz, die der Vernunftbegabung ähnlich ist, geben, ehe die Belebtheit in einem Existierenden aktualisiert ist, welches offensichtlich als ein Lebewesen zu bezeichnen ist. Ohne daß es einen Menschen, ein Pferd oder etwas aus den anderen Spezies des Genus der Beliebtheit gibt, wird die Belebtheit nicht akutalisiert werden, denn die Belebtheit als solche ist von jeglichem menschlichen Sein unabhängige Belebtheit. Sie ist unterschieden vom Menschentum und von der Pferdheit, wie wir zuvor dargelegt haben. Die Abhängigkeit eines partikulären Lebewesens von einer Differenz ist somit nicht der Grund dafür, daß die Realität der Belebtheit unter Vermittlung der Differenz die Realität der Belebtheit ist. Diese Abhängigkeit ergibt sich aus der Beziehung des Genus der Belebtheit auf die Existenz und aus dem Fakt, daß die Existenz unterschieden ist von dem Wesen. Da die Beschaffenheit der Differenz derart ist, ist es um so notwendiger für die Beschaffenheit eines Akzidens, ebenso zu sein. Analog ist der Beweis für das Zutreffen dieser Beschaffenheit auf das Akzidens bedeutender und notwendiger. Somit kann das, dessen Wesen Existenz ist, weder durch eine Differenz noch durch ein Akzidens unterscheidbar gemacht werden. 1 Wünscht jemand zu wissen, ob eine wesentliche Idee, die sich auf mehrere Dinge bezieht, zum Genus oder zur Spezies gehört, so sollte man die folgende Überlegung beachten. Wäre es der Fall, daß die Form einer Idee vollständig in der Seele von jemand enthalten wäre und bestände dann für nichts weiter ein Bedarf als für ein Akzidens, um dieses anzugliedern, damit einer annehmen kann, sie sei ein Existierendes, dann würde sie zur Spezies gehören, wie ζ. B. die Fünfheit und die Zehnheit. Wenn demgegenüber jemand etwas nicht für ein Existierendes erachten kann, es sei denn, es befände sich in dem Zustand, in dem seine Quiddität erforscht würde, dann
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handelte es sich um ein Genus, wie ζ. B. die Zahl. So, wie man die Zahl nicht für etwas Existierendes erachten kann, kann man auch über die Zahl nicht nachdenken ohne einen substantiellen oder akzidentellen beschränkten Zuwachs. Ist es doch natürlich, wenn man fragt: „Welche Zahl ist es?" Ist es vier, fünf oder sechs? Und sobald es feststeht, daß es vier, fünf oder sechs ist, ist keine weitere Untersuchung in bezug auf die „Quiddität" notwendig, während es noch notwendig ihre akzidentellen Attribute zu erforschen gilt, wie zum Beispiel: „Wovon ist sie eine Zahl?", „In welchem Ding existiert sie (d. h. welcher Klasse von Gegenständen wird sie zugeschrieben)?" Im Unterschied zur Vierheit, die selbst ein Exemplar einer Zahl ist, sind diese Attribute gegenüber ihrer Natur äußerlich. Es verhält sich nicht so, daß die Zahl etwas ist und die Vierheit etwas anderes, von ihr Getrenntes und ihr gegenüber akzidentiell ist, so daß das Zahl-Sein für sich selbst etwas Reales wäre, das ohne die Vierheit ein Dasein besäße. Mehr noch - man muß wissen, daß die Ursache für jedes, was eine akzidentelle Idee ist, entweder jenes Ding selbst ist, von dem die akzidentelle Idee aktualisiert wird, oder sie ist diesem Ding gegenüber äußerlich. Beispiele für ersteres sind das Besitzen eines Gewichtes und die Fähigkeit zu fallen, die ein Felsen infolge seiner eigenen Natur besitzt. Ein Beispiel für das zweite ist das Warmwerden infolge einer Ursache, die einem Ding gegenüber äußerlich ist - wie zum Beispiel wenn Wasser warm wird. Möchte jemand wissen, warum wir behaupten, daß entweder das Subjekt oder etwas anderes die Ursache für ein Akzidens ist, so muß man wissen, daß die Ursache nur einer dieser beiden Fälle sein kann. Entweder besitzt das Akzidens eine Ursache oder es besitzt keine Ursache. Wenn es keine Ursache besitzt, dann beruht seine Existenz auf sich selbst; und was auf Grund seiner selbst existiert, benötigt in seiner Existenz nichts außer sich selbst. Was jedoch nicht von etwas außer sich selbst abhängt in bezug auf seine Existenz, kann kein Akzidens von etwas anderem sein, welches ohne es existiert. Weil es aber eine Ursache für es gibt, ist seine Ursache entweder in dem Ding, in dem es subsistiert, oder sie ist etwas Äußeres, das als Ursache für sein Dasein wie auch dafür auftritt, daß es einem Zugrundeliegenden zukommt. Von welcher Art dies auch sein mag - die Existenz des Dinges, das die Ursache ist, muß zuvor aktualisiert sein, damit etwas auf Grund von ihm existieren kann.
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IBN RUSCHD (AVERROES) Die Epitome der Metaphysik*
Kapitel 2 [...] Da es nun klar ist, daß alle Kategorien Definitionen haben, die ihre Quiddität bezeichnen, wollen wir betrachten, ob die Quidditäten und allgemeinen Begriffe der Dinge nichts anderes sind als die individuellen Dinge selbst (in der Weise, wie wir sagen, daß das Phantasiegebilde mit dem Phantasierten, die sinnliche Form des Wahrgenommenen mit dem Wahrgenommenen identisch ist), oder ob sie in gewisser Weise etwas anderes sind, weil sie nämlich eine Existenz außerhalb der Seele haben. Wir behaupten nun, daß, was die wesentlichen Universalien betrifft, die die Substanz des Einzeldinges bezeichnen, sie durch die genannte Tatsache, d. h. dadurch, daß sie die Substanz des Einzeldinges bezeichnen, mit dem Einzelding identisch sind, daß die akzidentiellen Universalien jedoch nicht mit dem individuellen Gegenstand identisch sind, denn wenn auch ein Arzt zufällig Architekt sein kann, ist doch nicht die Quiddität der Medizin in dem Architekten. (Die Sache scheint sich also bei den akzidentiellen Universalien so zu verhalten, wie bei den trügerischen Phantasmen). 1 Wären die essentiellen Begriffe des Dinges nicht das Einzelding selbst, so wäre die Quiddität des Dinges nicht das Ding selbst, und wäre ζ. B. die Quiddität des Tieres nicht in dem individuellen Tier und würde das Wissen aufgehoben werden, so daß es keinen Begriff von irgend etwas mehr gäbe. Diejenigen Philosophen nun, die behaupten, diese Universalien haben ein eigenes und separates Bestehen, müssen annehmen, daß sie in gewisser Hinsicht etwas anderes sind als die individuellen Dinge. In diesem Falle werden sie eine von folgenden Konsequenzen ziehen müssen: entweder 1. sind diese Universalien überhaupt nicht die Begriffe dieser Einzeldinge, dann aber haben sie keinen Wert für die Erkenntnis der Einzeldinge, was aber der Behauptung dieser Philosophen, die nur der Erkenntnis wegen zur Theorie und Behauptung von separaten Universalien kamen,
* Ibn Ruschd, Die Epitome der Metaphysik. - Unser Auszug: Kap. 2 (teilw.), in: Die Epitome der Metaphysik des Averroes, übers, u. mit einer Einl. u. Erläut. versehen v. S. van den Bergh, Leiden 1924, S. 38-67.
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widerspricht. Oder 2. zugegeben, daß es die Universalien sind, die die Substanzen dieser Einzelwesen bestimmen, und daß wir durch sie die Quidditäten der Individuen denken, dann aber müssen diese separaten Universalien als außerhalb der Seele Seiendes sich unterscheiden, wie die Dinge der Außenwelt sich voneinander unterscheiden; dann aber bedürfen sie, um gedacht zu werden, wiederum anderer Universalien, denn wenn eine Entität außerhalb der Seele, um gedacht zu werden, einer anderen Entität außerhalb der Seele bedarf, ist wieder für diese letztere nötig, was für die erstere nötig war und zwar ad infinitum. Es ergibt sich also, daß wir, um die Quidditäten der Dinge zu denken, der Lehre der separaten Universalien, sei es, daß sie bestehen oder nicht bestehen, jedenfalls nicht bedürfen, denn beständen sie, so hätten sie weder für das Denken der Quidditäten der Dinge, noch schließlich auch für das sinnliche Sein irgendeinen Wert. Daß nun die Universalien, aus denen die Definitionen gebildet werden, ewig und unveränderlich sind, und falls sie an sich außerhalb der Seele beständen, wie die Anhänger der Ideenlehre behaupten, keinen Wert für das sinnlich Seiende hätten, wollen wir in folgender Weise dartun: Da alles Entstehende zu etwas wird, nämlich zu einer Form und aus etwas, nämlich einer Materie, und durch etwas, nämlich eine causa efficiens [Wirkursache], ist es für alles, sei es von Natur oder durch die Kunst Seiendes klar, daß Wirkendes und Wirkung notwendig verschieden sind in der Zahl, der Quiddität und dem Begriff nach aber eins oder proportioniert sind. Dieses ist bei den meisten zusammengesetzten Naturdingen evident, ζ. B. bei den sich fortpflanzenden Tieren und Pflanzen, denn entweder erzeugt das Erzeugende das Gleiche der Art nach, wie der Mensch einen Menschen und das Pferd ein Pferd, oder etwas sich selbst Ähnliches und Proportioniertes, wie der Esel ein Maultier. Ebenso ist dieses bei den einfachen Stoffen klar, denn aktuelles Feuer wird zu aktuellem Feuer. Bei den Tieren und Pflanzen, die durch generatio aequivoca [Urzeugung] hervorgebracht werden, könnte man das jedoch bezweifeln, und auch das Feuer kann durch die Reibung von Feuersteinen, kurz durch eine Bewegung entstehen.2 Auch weiter scheint es noch Bewegungsursachen zu geben, die nicht von der Art des Bewegten sind, wie das Sperma, das das menstruelle Blut bewegt, bis es zum Menschen wird, und die Brutwärme, die das Ei bewegt, bis es zum Vogel wird. Aber wir behaupten, daß es deutlich ist, daß alle diese entstehenden Dinge sich aus mehr als einer Bewegungsursache bilden, ζ. B. ist es der Vater, der das Sperma und das Sperma, das das menstruelle Blut bewegt. Die Bewegungsursache, die notwendig mit dem Bewegten von einer einzigen oder proportionierten und ähnlichen Quiddität sein soll, ist folglich die entfernteste Bewegungsursache, denn letztere ist es, die der nächsten Bewegungsursache die Kraft gibt, die die Bewegung erzeugt. So ist die entfernteste Bewegungsursache im Sperma der Vater, im Ei der Vogel, wenngleich schon bewiesen ist, daß diese Ursachen ohne äußeres Prinzip nicht genügen, wie in der Physik gezeigt wurde.3 Was die durch die generatio aequivoca entstehenden
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Tiere und Pflanzen betrifft, so ist, wenn sie auch durch die Wärme der Gestirne hervorgebracht werden, die Wärme doch nicht die entfernteste Ursache ihrer Entstehung, denn es wurde gezeigt, daß es eine ihnen proportionierte Bewegungsursache geben muß, die ihnen die Wesensform verleiht.4 Diese Bewegungsursache ist mit dem Bewegten nur daher nicht der Quiddität nach eins, weil sie unstofflich ist, wie wir zeigen werden. Was nun die Bewegung betrifft, aus welcher das Feuer entsteht, so ist die Wirkursache des Feuers nicht die Bewegung. Denn die Wirkursache des Feuers ist mit dem Feuer der Gattung nach eins, sie ist nämlich die Warme, die in den Elementen von der Wärme der Gestirne her verbreitet ist und die Warme der Luft selbst; die Bewegung verleiht hierbei nur die Disposition, wodurch das Substrat die Form des Feuers empfängt, wie man aus der Baumwollflocke erfahren kann, die durch die Sonne in Brand gerät, wenn die Luft für die Aufnahme der Wärme, wodurch die Baumwolle brennt, disponiert ist, denn das Licht ist kein Feuer, wie gezeigt wurde. 5 Auch ist die Bewegung wie das Leben für die Naturkörper; 6 so läßt sie gleichsam die Teile des Feuers, die sich in der Luft in nächster Potenz befinden, zur reinen Aktualität hervortreten und dies ist der Grund, warum das Anfachen die Substanz des Feuers verstärkt. Daher kann, wie in der Physik bewiesen wurde, dasjenige, das in gewisser Weise die Form des sich aktuell in der Höhlung der Mondsphäre befindenden Feuers bewahrt, die Bewegung des Himmelskörpers sein.7 Denn dort wurde gezeigt, daß die diesseitigen Elemente sich zum Himmelskörper wie die Materie verhalten, daher können sie nicht ohne den Himmelskörper bestehen, wie auch die prima materia [Erste Materie] nicht der Form beraubt sein kann; der Himmelskörper seinerseits braucht für seine Existenz die Elemente, wie die Form des Stoffes bedarf. Daß die Dinge nur durch etwas ihnen der Art und der Quiddität nach Gleiches erzeugt werden, wird bei dem künstlich Geschaffenen noch deutlicher als bei den Naturdingen. Die Gesundheit, die durch die Wissenschaft der Medizin im menschlichen Körper entsteht, entsteht aus der Form der Gesundheit, die in der Seele ist, und gleichfalls entsteht die Form des Hauses, das der Architekt aus Steinen und Ziegeln aufbaut, notwendig aus der Form in seiner Seele. Aber weil diese Form notwendig ein Produkt von mehr als einer Handlung ist - denn es muß, soll es Gesundheit geben, erst eine Entleerung geben, soll es eine Entleerung geben, erst ein Laxativ -, muß, was das Frühere in der Seele des Sachverständigen ist, das zeitlich Spätere in der Produktion sein. Daher sagt man, das Erste im Gedanken sei das Letzte in der Handlung und das Erste in der Handlung das Letzte im Gedanken. In den Naturdingen scheint sich die Sache ebenso zu verhalten, und ihr äußerstes Prinzip scheint das Denken des Intellektes zu sein, denn woher würden sie sonst in ihrer Natur die Disposition haben, durch uns gedacht zu werden? Ist doch diese Intelligibilität für sie etwas Essentielles und liegt in ihrer Natur, und etwas Essentielles kommt nur durch eine notwendig wirkende Ursache zur Existenz. Durch nichts anderes kann nun das sinnlich Wahrnehmbare potentiell ein Gedachtes
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werden, d. h. etwas, in dessen Natur es liegt, durch uns gedacht zu werden, als dadurch, daß es einem intellektuellen Konzipieren entstammt, wenn auch seine sinnlich wahrnehmbare Existenz aus seinen sinnlich wahrnehmbaren Prinzipien hervorgeht, wie es auch der Fall bei den künstlichen Gegenständen ist. Denn nur daher können die künstlichen Gegenstände durch den gedacht werden, der sie nicht gebildet hat, weil sie einem Intellekt entstammen, d. h. der Form, die in der Seele des Künstlers ist, sonst wären sie nur akzidentiell intelligibel. So verhält es sich nun auch in der Natur und mit den Naturdingen. Hieraus ergibt sich im allgemeinen die Existenz von separaten Formen; sie sind nämlich die Ursache für die Intelligibilität der sensiblen Substanz, und sie gewähren dem sinnlich Wahrnehmbaren die Wesensform, wodurch es potentiell intelligibel wird. Dies ist die Theorie, die die Anhänger der Ideenlehre erstrebten, die sie jedoch nicht erreichen konnten. Wir sind etwas abgeschweift und wollen zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren. Wenn es also, wie wir sagten, deutlich ist, daß das Entstehende nur aus etwas entsteht, das mit ihm von einer Art und Quiddität ist, ist es klar, daß die Quiddität als Quiddität weder entsteht noch vergeht. Da nun die Quidditäten der sinnlich wahrnehmbaren Dinge nichts anderes sind als ihre Form und ihr Stoff, wie sich später zeigen wird, ist es klar, daß die Formen und Materien als solche weder entstehen noch vergehen, es sei denn per accidens [akzidentiell]. Was nun das Vergehen und Entstehen, kurz das sich Ändern der Formen betrifft, so geschieht dies nur, insoweit sie Teil von dem per se [an und für sich] Vergänglichen, nämlich von dem Einzelding, das den Komplex von Stoff und Form bildet, sind, nicht insoweit sie Form sind. So verhält es sich auch mit der Materie, denn sie hat nur Vergänglichkeit, insoweit sie Teil eines Vergänglichen, nämlich des Einzeldinges ist, nicht aber qua Materie. Wie nun offenbar der Künstler nicht die Materie schafft, so schafft er auch nicht die Form. Denn er schafft nur das aus Stoff und Form Zusammengesetzte, bildet er doch nur die Form dadurch, daß er das materielle Element so ändert, bis er ihm die Form gewährt; wer ζ. B. einen Schrein macht, macht nicht das Holz, ebensowenig wie er die Form macht, er macht nur aus einem gewissen Holz die Form eines gewissen Schreines. Hätten Form und Materie als solche ein Entstehen und Vergehen, so müßten sie aus dem absoluten Nichts entstehen und in das absolute Nichts vergehen, ζ. B. nähmen wir an, der Körper wäre entstanden, dann müßte er notwendig aus etwas entstanden sein, das überhaupt kein Körper ist. Entstehen und Vergehen aber gibt es nur für das aus den beiden - nämlich Materie und Stoff - Zusammengesetzte. Hieraus leuchtet ein, daß was das Individuum entstehen läßt, nur ein Individuum sein kann, denn dasjenige, was das materielle Element verändert, ist das Individuum. Ebenfalls ergibt sich, daß die Definitionen weder entstehen noch vergehen - wenn auch die definierten Dinge entstehen und vergehen - und wie es kommt, daß sie die Unvergänglichkeit besitzen. Gewiß brauchte man wegen der Unvergänglichkeit der Definitionen die Ideen nicht anzunehmen, obgleich gerade diese Unvergänglichkeit die Anhänger der Ideenlehre zu
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der Behauptung von Ideen veranlaßte. Denn die Philosophen vor Plato meinten, daß die Wissenschaft sich nur mit dem sinnlich Wahrnehmbaren befasse, und wenn sie sahen, daß die sinnlich wahrnehmbaren Dinge wandelbar und nicht beständig seien, verneinten sie das Wissen überhaupt, so daß es sogar einen alten Philosophen gab, der, wenn man ihn über etwas fragte, mit seinem Finger winkte, womit er angeben wollte, daß es unbeständig und schwankend sei, und daß die Dinge im steten Wandel seien und überhaupt für nichts eine Wahrheit bestehe. 8 Hieraus ergab sich allgemein eine sophistische Lehre, aber als die Zeit des Sokrates gekommen war und man einsah, daß es ewige Intelligibilien gibt, nahm man an, daß diese Intelligibilien in der Weise außerhalb der Seele besehen, in welcher sie in der Seele sind, und betrachtete sie außerdem als Prinzipien des sinnlich Wahrnehmbaren. Aus dem Gesagten jedoch ist klar, daß, falls sie realiter existierten, wie diese Philosophen behaupteten, sie überhaupt keinen Wert für die Existenz des Vergänglichen hätten, denn, wie gesagt, das Partikuläre entsteht nur durch ein anderes Partikuläres, das mit ihm der Art nach gleich oder ähnlich ist. Themistius gibt als Argument für Piatos Lehre der Existenz von aktiven Ideen, daß es Tiere gibt, die aus Fäulnis entstehen. 9 Man 10 meinte nun auch, daß ein solches Prinzip durch Aristoteles anerkannt wurde und daß es nicht nur notwendig schien, es als Ursache bei der generatio spontanea [Urzeugung], sondern auch bei den sich fortpflanzenden Tieren einzuführen, wie man Aristoteles' tiergeschichtlichem Werk entnehmen könne. 11 Über Aristoteles' Stellung zu dieser ganzen Frage besteht noch Unsicherheit; daß aber, wie Avicenna behauptet, Aristoteles meint, diese separaten Formen übten auf alles, was entsteht, einen allgemeinen Einfluß aus, ist falsch. Denn man kann wohl bei einigen Naturdingen annehmen, daß die Notwendigkeit zwingt, für das Entstehen des Individuums die separaten Formen heranzuziehen, wie man sich das bei den Tieren, besonders den sich nicht fortpflanzenden, denken kann, bei anderen Naturdingen jedoch erweist sich dies keineswegs als notwendig und für sie, insoweit sie Entstehendes sind, bedarf man der separaten Formen nicht. Allerdings, wenn man die entstehenden Dinge betrachtet, insoweit ihnen zukommt, intelligibel zu sein, kurz eine universelle Eigenschaft zu besitzen, ergibt sich klar die Notwendigkeit, diese Formen bei allen Dingen heranzuziehen, wie wir früher sagten. Aber dieses Prinzip besteht in anderer Weise, als die Anhänger der Ideenlehre behaupten; denn sie dachten, daß der Begriff des Pferdes und seine Quiddität gerade so, wie sie in der Materie existieren, sich außerhalb der Seele befänden. Hieraus würde folgen, daß ein wieherndes Pferd und ein brennendes Feuer ohne Materie existierten.12 Meinten sie nun dieses, so irrten sie ohne Weiteres. Wenn sie aber nur damit, wie dieses ihr Anhänger (Avicenna) behauptet, die Theorie des Aristoteles über das Sein der separaten Dinge meinten, dann irrten sie doch, weil sie, wie wir später noch dartun werden, für wissenschaftliche Lehren poetische Ausdrücke, wie man sie beim populären Unterricht verwendet, gebrauchten.
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Aus dieser Betrachtung leuchtet ein, daß, wenn es Universalien gibt, die an sich außerhalb der Seele bestehen, sie doch weder für die Erkenntnis noch fur das Entstehen Wert haben, denn das Entstehen an sich kommt nur bei dem individuellen partikulären Ding vor. Was nun die Universalien betrifft, die, wie aus ihrem Charakter hervorgeht, per accidens [akzidentiell], d. h. insoweit sie im Individuum sind, entstehen, so ist wohl die Natur die Ursache für ihr Werden in der Welt des Vergänglichen.13 Die Ursache, wodurch die Natur diese Handlung vollzieht, sind die Bewegungen der Himmelskörper, und die Ursache, wodurch die Himmelskörper der Natur diese Kraft verleihen, sind die separaten intelligiblen Formen. Aristoteles nun tadelt Plato nur deswegen, weil er das, was nur per accidens, d. h. indirekterweise wirkendes Prinzip für das Entstehende ist, als wirkendes Prinzip per se, d. h. direkterweise, betrachtete; und so muß der Unterschied zwischen diesen beiden Systemen aufgefaßt werden, denn Aristoteles leugnet hier nicht, daß in irgendeiner Weise die separaten Formen wirkende Prinzipien sind, sondern nur, daß sie in der oben angegebenen Weise wirken. Man braucht dieser Auffassung gemäß bei den Naturdingen keine separaten Formen für etwas Entstehendes, mit Ausnahme des menschlichen Geistes, anzunehmen.14 Dies ist die richtige Auffassung der aristotelischen Lehre, die wir schon in unserem großen Kommentar zu Aristoteles' Metaphysik dargestellt haben. Nach diesen Untersuchungen müssen wir jetzt betrachten, ob dies bei den Universalien möglich ist, nämlich ob sie außerhalb der Seele an sich existieren und so eher den Namen „Substanz" verdienen als ihre sinnlichen Substrate. Wir behaupten nun dieses: wir wollen annehmen, die Universalien bestehen außerhalb der Seele ebenso wie innerhalb derselben, dann kann man sich das in zweierlei Weise vorstellen. Entweder 1. sie bestehen an sich ohne Beziehung überhaupt zu den sinnlichen Individuen; dies ist aber im Widerspruch mit ihrer Definition, denn das Universale ist, wie gesagt, dasjenige, was von Vielen ausgesagt werden kann, und aus dieser Annahme würde folgen, daß der Begriff des Dinges nicht das Ding ist, was ganz absurd wäre. Oder 2. das Universale ist eine an sich außerhalb der Seele bestehende Entität am Individuum. Bei dieser Annahme jedoch leuchtet schon bei oberflächlicher Betrachtung ein, daß aus ihr entsetzliche Absurditäten folgen. Denn wenn wir annehmen, daß es außerhalb der Seele in seinen Individuen besteht, können die einzelnen Individuen nur auf eine von folgenden beiden Weisen Anteil an ihrem Universale haben: Entweder indem in jedem Individuum nur ein Teil des Universale enthalten ist, so daß dem Zaid nur ein Teil des Begriffes „Mensch" zukommt, und dem Amr ein anderer; dann kann man aber von keinem von beiden in wesentlicher die Quiddität bezeichnender Prädikation aussagen, daß er Mensch ist, denn wer nur einen Teil der menschlichen Natur hat, ist kein Mensch. Die Absurdität dieser Annahme ist selbstevident. Oder 2. das Universale müßte ganz und gar in jedem einzelnen seiner Individuen sein. Aber diese Annahme widerspricht sich selbst, denn aus ihr folgt notwendig, entweder daß das Universale in sich
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selbst eine Vielheit bildet, so daß das Universale, das die Quiddität von Zaid bezeichnet, ein anderes wäre als das Universale, das die Quiddität von Amr bezeichnet, daß also der Begriff der beiden nicht derselbe wäre, was unmöglich ist; oder daß ein und dasselbe identische Ding sich ganz und gar in vielen befindet und nicht nur in vielen, sondern in unendlich vielen, wovon einige entstehen, andere vergehen, es also zugleich entstehend, vergehend, Eins und vieles sei, und dies ist absurd; auch würde hieraus noch die Konsequenz folgen, daß Entgegengesetztes zugleich am Universale haften könnte, denn viele Universalien lassen sich durch konträre Differenzen zerlegen, weil sie sich an konträren Orten befinden. Weiter, nähmen wir an, das Universale befände sich in den Vielen, in der Weise, wie man sich das Sein der Einheit in der Vielheit vorstellen kann, nämlich, daß es ein individuelles numerisch Eins in Vielen sei, dann würde aus dieser Annahme folgen, daß das Tier zusammengesetzt wäre aus Esel, Pferd, und allen anderen Unterarten des Tieres, so daß sie alle, sei es kontinuierlich, sei es aneinandergrenzend, miteinander verbunden wären. Ferner nähmen wir an, daß diese Universalien sich außerhalb der Seele befänden, so müßten, um sie intelligibel zu machen, andere Universalien außerhalb der Seele bestehen, und um diese zweiten Universalien intelligibel zu machen, eine dritte Klasse Universalien und so weiter ad infinitum. Diese Aporie aber wird aufgehoben, wenn wir annehmen, daß die Existenz des Universale im Verstand ist, denn das Universale wird, wie schon im Buch „De anima" erklärt wurde, Universale durch eine und dieselbe separate Substanz, nämlich durch den Begriff der Begriffe.15 Wie könnte ferner das Universale eine Substanz und eine selbständige Entität sein, wie die Anhänger der Ideenlehre behaupten, und doch, wie aus seiner Definition hervorgeht, in einem Substrat sein und nicht von einem Substrat ausgesagt werden! 16 Dasjenige aber, das in einem Substrat ist und nicht von einem Substrat ausgesagt werden kann, ist notwendig ein Akzidens. Sobald wir ferner die Identität von Universale und Substanz zugeben, kann kein Ding mehr eine individuelle Substanz haben, sondern die Substanzen der Dinge würden universell und die individuelle Substanz würde ein Substrat für die allgemeine Substanz sein. Alle diese Absurditäten nun folgen aus der Annahme, daß die Universalien an sich außerhalb der Seele bestehen. Nehmen wir aber die Ideenlehre nicht an, so könnte man vielleicht einwenden, daß die Universalien nicht wahr, sondern trügerisch und falsch seien, denn das Wahre, wie es im Buch „Analytica Posteriora" definiert wurde, ist das, was in gleicher Weise innerhalb wie außerhalb des Verstandes besteht. 17 Viele Mutakallimun 18 unserer Zeit haben diese Aporie besonders hervorgehoben, und haben gerade diese Worte zur Widerlegung der Existenz von Universalien angewandt. Und nicht nur dieses führt sie zum Leugnen des Wissens, denn sie erkennen weder die Syllogismen, die aus zwei Prämissen gebildet werden, noch auch die wesentlichen Prädikate an. Die Disputation mit ihnen und anderen über letztere Schwierigkeiten wird noch bei der Verifikation der Prinzipien der Logik und der anderen partikulären
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Wissenschaften folgen. Die Aporie jedoch, die sich hier über die Existenz der Universalien zeigt, werden wir sofort lösen. Wir behaupten also: Wenn das Unwahre darin besteht, daß etwas im Verstand ein anderes Dasein als außerhalb des Verstandes hat, wie sich aus der Opposition des Wahren versteht, so kann man sich dies auf zweierlei Weise vorstellen. Einmal, daß etwas nur besteht, soweit es im Verstand ist, ohne daß es überhaupt außerhalb des Verstandes besteht. Es ist klar, daß dieses unter die Definition des Unwahren fällt und in seinem Begriff eingeschlossen ist. Zweitens, daß es außerhalb des Verstandes besteht, aber im Verstand auf andere Weise aufgefaßt wird, als es außerhalb des Verstandes ist. Dieses kann man sich wieder auf zweierlei Weise denken. Einmal, daß die Eigenart des im Verstand Seienden nur darin besteht, daß die Objekte im Verstand in eine andere Kombination und in eine andere gegenseitige Relation gebracht werden, als sie für sich (außerhalb des Verstandes) haben. Über die Unwahrheit solcher Auffassungen kann wiederum kein Zweifel bestehen, sie fallen gewiß unter den Begriff des Unwahren, wie der Bockshirsch und die Vorstellung des Leeren und die anderen Gegenstände, die der Verstand kombiniert, die jedoch in dieser Kombination nicht außerhalb der Seele bestehen. Zweitens, daß außerhalb der Seele Dinge von verschiedener Wesenheit bestehen, die sich ineinander befinden und miteinander vermischt sind. Der Verstand scheidet nun diese Wesenheiten voneinander und vereinigt diejenigen, die einander ähnlich sind, und sondert sie von denen, die verschieden sind, ab, bis er die Natur der Dinge in ihrer Abstraktion, wie sie wirklich sind, erfaßt. Dies jedoch ist ganz und gar nicht unwahr und fällt nicht unter den Begriff des Unwahren. In dieser Weise abstrahiert man den Punkt von der Linie und denkt man ihn, obgleich er nur in der Linie existiert, und abstrahiert man die Linie von der Fläche, die Fläche von dem Körper. Kurz, dies ist die Weise, worauf wir alle Dinge, die sich in anderen Dingen befinden, nach ihrem eigenen Begriff denken können, gleichgültig ob sie Akzidentien oder Formen sind. Wenn der Verstand nun viele von diesen Wesenheiten abstrahiert und voneinander scheidet, und es vorkommt, daß es solche sind, die in primärer Weise in anderen bestehen, so denkt er sie zusammen mit jenen Dingen, die ihre Substrate sind, wie es bei den materiellen Formen der Fall zu sein pflegt, denn die materiellen Formen denkt er nur, insoweit sie materiell sind. Gehören aber diese Wesenheiten zu dem, was sich nicht primärer Weise in anderen befindet, sondern kommt ihnen das Inhärieren nur abgeleiteterweise zu, wie das bei der Linie der Fall ist, dann denkt der Verstand sie in ihrer Abstraktion, wie sie in sich selbst sind. Dieser Akt des Abstrahierens ist Eigenart der Verstandeskraft, wie es im Buch „De anima" dargelegt ist.19 Denn die Sinneswahrnehmung erfaßt die Formen, insofern sie in einer Materie und etwas Individuelles sind, wenn sie sie auch nicht in materieller Weise so, wie sie außerhalb der Seele existieren, aufnimmt, sondern in einer mehr geistigen Weise, wie es im Buch „De anima" gezeigt wurde. 20 Es obliegt aber dem Verstand - dies ergibt sich aus seiner Natur - die Formen von der individuellen
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Materie zu abstrahieren und sie abgesondert in ihrem Wesen zu erfassen. Hierdurch wird bewiesen, daß er die Quidditäten der Dinge denkt, denn sonst würde es überhaupt keine Wissenschaften geben können. Wenn also das Unwahre als das definiert wird, was außerhalb des Verstandes ein anderes Dasein als im Verstand hat, wird diese Bedeutung nicht einbegriffen, und ebensowenig wird bei der Definition des Wahren an dieses Sein der Universalien gedacht. Denn die Ausdrücke, die bei diesen beiden Definitionen verwendet werden: nämlich bei der Definition des Unwahren, daß es in anderer Weise außerhalb des Verstandes als im Geist, und bei der Definition des Wahren, daß es in gleicher Weise innerhalb wie außerhalb des Vestandes besteht, sind aequivok. Man könnte vielleicht über die Universalien in folgender Beziehung noch zweifeln und sagen: wenn wir annehmen, daß die Universalien Verstandesdinge sind, sind sie notwendig Akzidentien. Sind sie aber Akzidentien, wie können sie dann die Substanzen der individuellen an sich bestehenden Dinge definieren, wurde doch früher gesagt, daß nur die Substanz die Quiddität der Substanz definiert. Diese Aporie löst sich jedoch schon bei oberflächlicher Betrachtung. Denn wenn der Verstand diese Formen von der Materie abstrahiert und ihre Wesenheiten, sei es, daß sie substantielle oder akzidentielle Formen sind, an und für sich denkt, haftet ihnen im Verstand der Begriff der Allgemeinheit an; ist doch das Universale die Form selbst dieser Wesenheiten; daher gehören die Universalien zu den zweiten Intentionen, die Dinge aber, welchen die Universalien anhaften, zu den ersten Intentionen. 21 In der Logik wurde der Unterschied zwischen ersten und zweiten Intentionen ausführlich behandelt; dies alles ist jedem der Logik Beflissenen selbstverständlich. Da es nun deutlich ist, daß nicht die Universalien die Substanzen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge sind, wollen wir betrachten, was denn ihre Substanz ist. Wir behaupten also: es ist klar, daß die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, d. h. die Individuen der Substanz aus mehr als einer einzelnen Sache zusammengesetzt sind, denn wir fragen bei ihnen nach dem Grund, welche Frage bei den einfachen Dingen nicht gestellt wird, denn man fragt nicht, warum der Mensch Mensch ist, weil der Begriff des Subjektes mit dem des Prädikates identisch ist. Die Frage nach dem Grund ist nur bei den zusammengesetzten Dingen berechtigt, ζ. B. wenn man fragt, weshalb der Mensch Arzt ist, und die Antwort lautet, weil er ein vernünftiges Wesen ist. Man antwortet nun sowohl mit der Angabe der Form, als auch bisweilen mit der Angabe der Materie, ζ. B. wenn man fragt, warum dieses ein sinnliches Wesen ist, und man antwortet, weil es aus Fleisch und Knochen gebildet ist. Kurz man kann die Frage nach dem Grunde mit der Angabe irgendeiner der vier Ursachen [d. h. von Wirkursache, Zweckbestimmung, Form- oder Materiebestimmtheit] beantworten. Ist dies nun richtig, so ergibt sich hieraus vollkommen, daß die Individuen der Substanz zusammengesetzt sind, und daß, wenn sie aktuell auch eine Einheit bilden, in ihnen potentiell eine gewisse Vielheit besteht. Denn sie sind nicht eins durch Verbindung
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und Berührung, wie das bei vielen künstlichen Dingen der Fall ist; können doch die Elemente eines Dinges im Ding selbst nicht aktuell vorhanden sein, sonst würde das aus Elementen Zusammengesetzte mit den Elementen identisch sein. Wenn ζ. B. im Sauerhonig, der aus Essig und Honig zusammengesetzt ist, Essig und Honig aktuell vorhanden wären, so würde der Sauerhonig nichts anderes sein als Essig und Honig. So sind auch Wasser, Feuer, Luft und Erde nicht selbst im Fleisch und in den Knochen vorhanden; Fleisch und Knochen würden sonst Wasser, Feuer, Erde und Luft sein. Hierdurch ist es klar, daß im Entstandenen außer den Elementen noch etwas anderes ist, wodurch es ist, was es ist, sonst wäre es gerade dasselbe wie das, woraus es zusammengesetzt ist, es sei denn, daß wir sagten, daß in Feuer, Luft, Erde und Wasser aktuell Fleisch und Knochen vorhanden sind, kurz eine unendliche Menge Sachen, und wir so in die Theorie der Mischung verfielen. Dann müßte weiter aber das, was den Unterschied zwischen dem Zusammengesetzten und den Elementen ausmacht - denn die Zusammensetzung ist doch etwas Neues, das zu den Elementen tritt - entweder ein Element oder ein Produkt eines Elementes sein. Ist es ein Element, so muß sich dasselbe ergeben wie im ersten Fall, es müßte sich nämlich von dem aus ihm und den vor ihm seienden Elementen Zusammengesetzten durch ein Element unterscheiden und zwar ad infinitum, so daß in einem Ding unendlich viele Elemente aktuell existieren müßten. Ist es aber ein Produkt eines Elementes, so muß es sich wieder von den vor ihm seienden Elementen durch etwas unterscheiden und, wenn es das durch ein Produkt eines Elementes tun würde, würde es wieder einen unendlichen Regressus geben. Hieraus erweist sich, daß im Zusammengesetzten eine Substanz besteht, die von den Elementen verschieden ist, und sie ist es, die man Form nennt. Da nun, wie in der Logik erklärt wurde, die Definitionen aus Gattung und Differenz gebildet werden, und sie, wie im Vorhergehenden gezeigt wurde, qua Universalien keine Existenz außerhalb des Verstandes haben und in keiner Weise Ursachen der definierten Dinge sind, ist es deutlich, daß die Gattung nichts weiter ist als die Repräsentation im Geist der allgemeinen Form des Definierten, welche Repräsentation sich zum Definierten wie die Materie verhält, denn die Materie hat diese Eigenschaft, nämlich vielen gemein zu sein. Kurz, die Gattung ist etwas, das der Form, die einer Anzahl von Dingen gemeinsam zukommt, akzidentiell anhaftet, so wie dem Begriff von etwas das Allgemeine anhaftet. In gleicher Weise ist von der Differenz klar, daß sie ein Attribut ist, das dem Begriff - qua im Geiste Seiendem - der spezifischen Form eines Dinges zukommt. Die Differenz vertritt im allgemeinen die Form, wie die Gattung die Materie vertritt. Hieraus wird das Verhältnis zwischen den Definitionen und dem Definierten deutlich, und werden viele Aporien darüber gelöst, ζ. B. die Aporie vieler alten Philosophen, die sich fragten, wie das Tier, das man ζ. B. in die Definition des Menschen aufnimmt, allgemeiner ist als der Mensch, während es doch ein Teil des Menschen ist, oder wie man von der Art zur Bestimmung ihrer Quiddität die Gattung prädizieren kann.22 All diese Schwierigkeiten empfanden sie jedoch nur
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deshalb, weil sie diese zwei Existenzen, nämlich das Sein im Verstand und das Sein außerhalb des Verstandes nicht auseinanderhielten, und diese Aporien drängten sich ihnen auf, wie das geschieht, wenn schlechthin gesetzt wird, was nur beziehungsweise gilt. Ist dies nun alles richtig, und ist das Verhältnis, das zwischen Gattung und Differenz einerseits und den Teilen des Definierten andererseits besteht, klar geworden, so wird auch deutlich, daß die Teile der individuellen Substanz nichts anderes sind als die sinnlich wahrnehmbare Materie und die sinnlich wahrnehmbare Form; dies zu erklären war von Anfang an unser Zweck. Nachdem nun nachgewiesen ist, daß die Gesamtheit der sinnlichen Dinge Definitionen hat, und daß die Definitionen aus Gattungen und Differenzen gebildet sind, welche die Formen und Materien vertreten, wollen wir jetzt betrachten, was die Formen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge im allgemeinen, d. h. die Differenzen der prima materia [Ersten Materie] und was die Materien der sinnlich wahrnehmbaren Dinge sind. Wir sagen also: Materie ist potentiell dasjenige, das aktuell und bestimmt dasein wird, Form ist der Akt und die Quiddität, und das sinnlich wahrnehmbare Ding ist der Komplex aus diesen beiden. Die Materie nun wurde von allen alten Philosophen angenommen, und wird sich auch sonst sogleich aus dem ergeben, was in der Physik behauptet wurde, nämlich daß alle vier Änderungsarten 1. Entstehen und Vergehen, 2. Zu- und Abnahme, 3. Ortsbewegung und 4. Verwandlung, ein Substrat haben, an welchem die Änderung sich vollzieht.23 Denn bei der Änderung ist, weil sie ein Akzidens ist, von selbst evident, daß sie eines Substrates bedarf, und daher gibt es keine Änderung ohne ein sich Änderndes, wobei jedoch zu beachten ist, daß das, was in einer Substanz sich einer Änderung unterzieht, notwendig auch die übrigen Änderungen erleiden muß, während die Dinge, die eine dieser übrigen Änderungen erleiden, keine Änderung der Substanz zu erleiden brauchen, wie bei der Ortsbewegung des Himmelskörpers in der Physik gezeigt wurde. 24 Was die Materie jedoch betrifft, behaupteten alle alten Philosophen, wie wir schon sagten, daß sie eine Substanz ist, wenn sie auch über ihre Quiddität, d. h. die der ersten Materie, verschiedener Ansicht waren. Die Materie wurde schon in der Physik behandelt, und ihre Differenzen wollen wir später darlegen, jetzt aber müssen wir damit anfangen, die Form, die die Differenz ist, zu besprechen und die allgemeinen Differenzen, in welche sie qua Form verteilt wird, auseinanderzusetzen. Wir sagen also: Aristoteles erzählt von einem alten Philosophen, Demokrit, daß er die Differenzen der Dinge auf drei Gattungen beschränkte, nämlich Gestalt, Lage und Ordnung. 25 Diese Aufzählung umfaßt nicht nur nicht alle Formen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, sondern läßt sogar dasjenige, was am meisten den Namen Differenz verdient, nämlich die wesentlichen Differenzen, deren Ordnung in der Physik dargelegt wurden, außer Betracht. Überhaupt ist es klar, daß die wesentlichen Differenzen der Dinge zahlreich sind, von welchen einige in der Substanz, einige in der Quantität und Qualität, kurzum in jeder der zehn Kategorien sind. Weil
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es nun aber oft geschieht, daß die Differenzen der Substanzen verborgen sind, werden an ihre Stelle ihre besonderen Eigenschaften, wie Gestalt, Lage, Ordnung und andere Akzidentien, gestellt. Demokrit ist daher - wenn man auch in dieser Weise vielleicht erklären kann, wie er diese drei besonderen Eigenschaften zu den Differenzen der Substanz machte - nicht von Tadel freizusprechen, da es offenbar Substanzen gibt, die viele andere Differenzen als diese drei besitzen, ζ. B. die Substanzen, deren Differenzen Warme, Kälte und andere Akzidentien bilden. Da nun die Dinge aus Form und Materie bestehen, sind die Definitionen, die diese beiden vereinigen, am richtigsten. Denn wer ein Haus als Ziegel und Holz definiert, bezeichnet damit nur die Potenz eines Hauses, wer es als dasjenige definiert, das seinen Inhalt birgt und beschützt und eine bestimmte Gestalt hat, bezeichnet damit nur die Form, diese Form aber nicht so, wie sie in der Wirklichkeit besteht, denn sie besteht nur in der Materie, kurz, er bezeichnet nur einen Teil der Definition des Hauses, nicht alle Teile, aus welchen es besteht. Wer aber Form und Materie in der Definition vereinigt und sagt, daß ein Haus Ziegel und Steine ist, die in einer bestimmten Weise für einen bestimmten Zweck zusammengefügt sind, bezeichnet alles, wodurch und in welcher Weise das Mauerwerk besteht. Man könnte nun hier vielleicht ein Bedenken haben und sagen: Wir wollen das zugeben, was die Definitionen der Dinge, die sinnlich wahrnehmbare Materien besitzen, betrifft; wie steht es aber mit den Gegenständen, in deren Definitionen keine sinnlichen Materien vorkommen, wie in der Definition des Dreieckes und des Zirkels? Dieses Bedenken wird dadurch gelöst, daß, obgleich diese Sachen keine sinnlich wahrnehmbaren Materien haben - und daher sagt man, man betrachtet sie nicht, insoweit sie in der Materie sind -, es in ihnen doch etwas gibt, das eine Relation zu ihnen gleich der Relation der sinnlichen Materie zu der natürlichen Form hat 26 , ζ. B. wenn wir sagen, daß der Kreis eine Figur ist, die durch eine Linie eingeschlossen ist, deren Punkte von einem Punkte in ihrem Inneren gleich weit entfernt sind. Denn in dieser Definition vertreten die Worte „Figur, die durch eine Linie eingeschlossen ist" die Gattung und die übrigen Worte die Differenz. Die Analogie zwischen diesen fingierten und den sinnlich wahrnehmbaren Materien besteht darin, daß diese fingierte Materie sich potentiell in dem Kreis befindet, gleichwie die Materien der sinnlich wahrnehmbaren Dinge potentiell in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen bestehen. Später werden wir dies erklären, wenn wir besprechen werden, in welcher Weise die Teile der Definitionen im Definierten enthalten sind, und wie das Definierte eines sein kann, während die Definition aus vielen Teilen besteht. Verhält sich dies nun alles so, wie wir es dargelegt haben, und ist es klar, daß die sinnlich wahrnehmbaren Substanzen eine Dreiheit darstellen: Stoff, Form und das aus ihnen gebildete Konkrete, so könnte man fragen: Wenn die sinnlichen Substanzen aus Stoff und Form gebildet sind, worauf bezieht sich dann der Name, auf die Form oder auf das aus Stoff und Form gebildete Konkrete? Es leuchtet ein, daß der
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Name, wenn er auch bisweilen von der Form, bisweilen vom Konkreten ausgesagt wird, am gewöhnlichsten nur das Konkrete bedeutet; jedoch hat er diese Bedeutung nur secundum prius et posterius 27 , denn das Konkrete hat nur Existenz, weil es aus der Form, die nämlich am meisten zu dem Namen berechtigt ist, gebildet ist. So ist, wenn wir die zwei Bedeutungen vergleichen, die Bedeutung, die sich auf das Konkrete bezieht, früher in der Zeit und später in der Wirklichkeit und die Bedeutung, die sich auf die Form bezieht, später in der Zeit und früher in der Wirklichkeit; machen doch die gewöhnlichen Menschen keine solche Distinktion zwischen den Substanzen: sie kennen nur das Konkrete und verwenden den Namen ausschließlich dafür. So ist die Bedeutung des Namens für das Konkrete der Zeit nach früher als diejenige fur die Form, denn die Form wird später erkannt, obgleich sie in Wirklichkeit früher als das Konkrete ist. Wir dürfen nicht vergessen, was wir schon öfters sagten, daß diese Dinge eine doppelte Existenz haben: eine sinnliche und eine begriffliche, und daß die begriffliche Existenz, insoweit sie die sinnliche Existenz definiert und ihre Quiddität determiniert, mit der sinnlichen Existenz identisch ist. Daher sagt man, daß der Begriff des Dinges das Ding selbst ist. Es ist jedoch falsch, daß, wie die Anhänger der Ideenlehre meinen, die intelligible Existenz in der Weise die sinnliche Existenz ist, daß das Sinnliche aus dem Intelligiblen gebildet oder per se durch das Intelligible erzeugt ist, oder daß sie in jeder Hinsicht identisch sind. Denn nähmen wir an, daß der Begriff des Dinges in jeder Hinsicht mit dem Ding identisch sei, dann wäre die begriffliche Form des Konkreten mit dem Konkreten identisch, würde der Mensch also Seele sein.28 Und so würden weiter, nähmen wir an, die sinnliche Substanz sei aus der begrifflichen Substanz zusammengesetzt, die sinnlichen Dinge nach der früher aufgestellten Lehre, daß die absolute Form und die absolute Materie unentstanden und unvergänglich sind, weder entstehen noch vergehen können. Daher müssen die Elemente der veränderlichen Substanzen selbst notwendig per accidens, nicht per se veränderlich sein, wie ζ. B. die Formen in der Natur nicht per se entstehen und vergehen, sondern nur als Teil des per se Vergänglichen, d. h. des Individuums, wie schon früher erklärt wurde. Ob es nun etwa Formen in der Natur gibt, die ein separates Dasein fuhren, ist eine Frage, die schon in der Physik behandelt wurde. 29 Aus dem aber, was von der Definition gesagt wurde, daß sie eine aus Teilen bestehende Aussage ist, ist klar, daß es nur Definitionen für das Zusammengesetzte gibt und daß die Form und die Materie, kurz die einfachen Substanzen, nur durch Analogie eine Definition haben, und daß diejenigen irrten, die sagten, daß die Definitionen der separaten Formen mit den Definitionen in den Materien identisch seien. Ferner, daß diejenigen ebenso irrten, die behaupteten, die Substanzen der Dinge seien die Zahlen, denn aus dieser Lehre würde sich ergeben, daß die Zahlen nicht aus Einheiten beständen, da sie Definitionen hätten, die Definition jedoch aus vielen Teilen besteht, oder wir müßten sagen, daß die sinnlichen Dinge reine Einheiten wären, und es also überhaupt keine Definitionen gäbe. Dagegen ist absolut klar, daß die Zahl in der Materie
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existiert, und daß ihre Einheit aus der Form stammt und ihre Vielheit aus dem Stoff, wie wir später noch darlegen werden. Es ergibt sich, um es kurz zu fassen, aus den sinnlich wahrnehmbaren Individuen selbst, daß sie zusammengesetzt sind, denn sie besitzen zwei äußerst verschiedene Seinsweisen, nämlich das sinnliche und das begriffliche Sein; diese beiden Seinsweisen können sie unmöglich von einer Seite her haben, sondern die Form ist die Ursache, daß die Dinge begrifflich und die Materie die Ursache dafür, daß sie sinnlich sind. Da jetzt erklärt ist, wieviele Arten es von primären sinnlich wahrnehmbaren Formen gibt, müssen wir mit der Behandlung der Differenzen und Arten der materiellen Substanz anfangen. Wir sagen also: da es vier Gattungen von Änderungen gibt, nämlich in der Substanz, der Quantität, der Qualität und dem Wo, und es nicht notwendig ist, daß das, was eine Änderung in dem Wo erleidet, auch einer Änderung in der Substanz oder in der Quantität oder Qualität unterliegt, ist es klar, daß das Substrat der Änderung in der Substanz nicht das Substrat der übrigen Änderungen, besonders der Änderung im Wo, sein kann. Hieraus folgt, daß das Wort „Materien" für die Himmelskörper und für die entstehenden und vergänglichen Körper in gewisser Weise äquivok ausgesagt wird. Ist dies richtig, so gibt es also zwei Arten von Materien: die eine, das Substrat für die Änderung in der Substanz, sie wird in engerem Sinne Materie genannt; die andere, das Substrat für die übrigen Änderungen, sie wird meistens Substrat in engerem Sinne genannt. Die Himmelskörper nun, obgleich sie nur die eine Änderung im Wo haben, müssen Materien besitzen, nach der im allgemeinen Teil der Physik gegebenen Theorie, wonach die Veränderung als solche nur an Teilbarem stattfinden kann 30 , etwas jedoch nur teilbar ist, insoweit es Materie, nicht insoweit es Form hat, denn der Form kommt nur per accidens die Teilbarkeit zu. Von den Dingen aber, die einer Änderung in der Substanz unterliegen, haben einige eine gemeinsame Materie, wie ζ. B. die einfachen Körper gemeinsam an der ersten Materie teilhaben; diese Klasse hat die Eigenart, daß jedes Ding in ihr die Potenz besitzt, sich in sein Kontrarium zu verändern, nach Maßgabe der wechselseitigen Potenz in diesem Kontrarium, ζ. B. hat die Luft in der Weise die Potenz, sich in Wasser umzuwandeln, wie das Wasser in Luft. Unter den Dingen, die einer Änderung in der Substanz unterliegen, gibt es aber auch solche, deren Materie verschieden ist, wie der Schleim, dessen Materie das Fett ist, und die Galle, deren Materie die bitteren Dinge sind; diese Klasse hat die Eigenart, daß man nicht von jedem einzelnen Gegenstand in ihr sagen kann, er sei die Potenz seines Kontrariums nach Maßgabe der wechselseitigen Potenz, die man von diesem Kontrarium prädizieren könnte, ζ. B. ist das Fett in der Potenz Schleim, der Schleim jedoch nicht in der Potenz Fett, so daß er in die Materie des Fettes übergehen könnte, und so ist das Lebende in der Potenz ein Totes, das Tote jedoch nicht ein Lebendes in der Potenz, so daß es in die Materie des Lebenden sich zu ändern vermöchte. Hierauf beruht es, daß nicht jedes beliebige Ding aus jedem beliebigen Ding entstehen kann, sondern daß es nur entsteht aus dem ihm eigen-
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tümlichen Kontrarium, das sich in der geeigneten Materie befindet. Daher unterscheiden sich die Dinge nicht nur voneinander durch die Form, sondern auch durch die Materie, und nicht nur lediglich durch diese beiden, sondern auch durch die Wirk- und Zweckursachen. Hieraus wird vollkommen deutlich, daß die Forschung sich bei jedem Naturding auf die vier Ursachen richten muß, und daß wir uns hierbei nicht mit den entfernteren Ursachen begnügen dürfen, sondern auch die nächsten Ursachen ermitteln sollen. Dies ist also die Besprechung der Prinzipien und Differenzen der sinnlich wahrnehmbaren Körper. Wie es nun möglich ist, daß die Definitionen verschiedene Teile besitzen, das Definierte aber eines ist, erhellt aus der Tatsache, daß das individuelle Ding nicht in der Weise aus Materie und Form zusammengesetzt ist, daß sich beide aktuell in ihm befinden, wie das bei den künstlichen Gegenständen der Fall ist, sondern die Materie potentiell, die Form aktuell in dem Zusammengesetzten besteht. Wenn wir sagen, daß die Materie in dem Individuum potentiell besteht, so bedeutet das etwas anderes, als wenn wir sagen, daß sie zu einer bestimmten Form die Potenz hat, es bedeutet nämlich, daß die Form sich von ihr loslösen wird, wenn dieses Individuum vergeht, und daß sie also als etwas von der Form Verschiedenes besteht. Da die Gattungen nun die Materien vertreten, befinden auch sie sich potentiell in dem Definierten. So besteht nicht die Tierheit in abstracto aktuell, sondern es besteht nur eine bestimmte Tierheit, d. h. eine Tierheit, die Differenz besitzt. Je mehr die Gattungen sich von den sinnlichen Formen unterscheiden, desto geeigneter sind sie für diese Art Existenz, nämlich die potentielle Existenz, wie ζ. B. die Körperlichkeit des individuellen Menschen. Daher braucht man in der Definition nur die nächste Gattung zu bestimmen, denn bei den Dingen, die mehrere Gattungen haben, sind alle Gattungen des Dinges potentiell in dieser Gattung enthalten. Wenn wir aber in der Definition die entferntere Gattung ohne die nähere Gattung angeben, so ist die nähere Gattung nicht in der Definition enthalten, und daher sind solche Definitionen unvollständig. Diese Art Existenz, die die Gattungen repräsentieren, ist eine Art Mittelding zwischen der Form, die aktuell ist, und der Materie, die keine Form hat, und tritt, wie gesagt, in verschiedenen Rangstufen hervor. Dies verhält sich so, weil die Gattungen nichts anderes sind als die Repräsentationen der zusammengesetzten Materien, die teilweise aktuell, teilweise potentiell sind. Daher gibt es für die Gattungen Definitionen (gleichwie es für die „species ultimae" 31 Definitionen gibt), ζ. B. besteht Mensch aus Vernunft und Tierheit, und Tierheit aus Sinnlichkeit und Ernährung usw., bis man an die letzte Gattung gelangt, die von allen Dingen, die es gibt, der ersten Materie am nächsten kommt. 32 Daher besteht für diese Art Gattung keine Definition, ebensowenig wie für die letzte Form, es sei denn durch Analogie. Es leuchtet ein, daß bei univoken Gattungen die durch die Gattung repräsentierte Bestimmung sich vollkommener in dem unter dieser Gattung Subsumierten befindet, als die durch äquivoke Gattungen, ζ. B. Sein und Ding, repräsentierten Bestimmungen sich in dem unter ihrer Gattung Subsumierten befinden; daher sind diese
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äquivoken Gattungen kaum Gattungen, es sei denn durch Äquivokation der Benennung. 33 Die Materien nun, die durch die Gattungen repräsentiert werden, sind teilweise sinnlich Wahrnehmbares, wie die Naturdinge, und diese sind zum Namen „Materie" am meisten berechtigt, teilweise Vorgestelltes, Begriffliches, wie die Materien der mathematischen Gegenstände, denn wenn in ihren Definitionen auch die sinnlich wahrnehmbaren Materien nicht vorkommen, so haben sie doch etwas den Materien Ähnliches, wie ζ. B. der Kreis, dessen Gattung eine Figur ist, die durch eine Linie eingeschlossen ist. Hierdurch ist die Definition bei den mathematischen Dingen erst möglich. Hieraus zeigt sich, daß die mathematischen Dinge nicht separat sind, denn wäre das Dreieck separat, so wäre die Figur noch eher separat, wäre die Figur separat, so wäre auch die Linie separat, wäre die Linie separat, so wäre auch der Punkt separat. Dies werden wir später noch erklären. Gibt es nun Dinge, die weder sinnliche noch begriffliche Materien besitzen, so können sie nicht zusammengesetzt sein und überhaupt keine Definition haben, auch ist in ihnen keine potentielle Existenz möglich, sondern sie sind reiner Akt. Die Ursache ihrer Einheit ist keine andere als ihre Wesenheit, kurz, ihre Essenz ist ihre Existenz. Hieraus ergibt sich also der Irrtum der Anhänger der Ideenlehre, denn sie behaupten, daß die Ideen und die sinnlichen Dinge nach Quiddität und Definition eins sind. Auf die Frage, welche Teile des Definierten dem Definierten dem Begriff und der Quiddität nach vorhergehen und welche Teile dem Definierten folgen, oder anders gesagt: von welchen Teilen des Definierten die Begriffe in der Definition des Definierten enthalten sind, antworte ich, daß es die Teile sind, die von der Form herstammen, nämlich der allgemeinen Form, die die Gattung ist und der besonderen Form, welche die Differenz ist, denn notwendig muß das Definierte auf den Begriffen dieser Formen beruhen. 34 So ist ζ. B. die Definition des Menschen „vernünftiges Lebewesen", und wir finden, daß die Definition von „Lebewesen" und von „vernünftig", die beide Teile des Menschen sind, dem Menschen vorhergehen. So geht auch die Figur, die ein Teil der Definition des Kreises ist, dem Kreis vorher. Die quantitativen Teile eines Dinges aber, die dem Individuum von Seiten der Materie zukommen, folgen in der Definition dem Definierten, ζ. B. ist die Definition des Zirkelsektors später als die Definition des Zirkels, die Definition des spitzen Winkels später als die Definition des rechten Winkels, die Definition von Hand und Fuß des Menschen später als die Definition des Menschen. Hieraus ergibt sich der Irrtum derer, die behaupten, daß die sinnlichen Körper aus Atomen, seien sie als endlich oder unendlich an Zahl gesetzt, bestehen. 35 Die Definitionen der akzidentiellen Materien scheinen sich nun zu dem Ding, das diese Materie besitzt, analog den quantitativen Teilen zu verhalten, ζ. B. sind nicht selten Kupfer, Holz und Stein Materien des Dreieckes und des Kreises, kurz Teile von Dreieck und Kreis, während jedoch ihre Definitionen dem Dreieck nicht vorhergehen; die Definitionen der wesentlichen Materien aber gehen notwendig dem Definierten vorher. Wir haben also dargelegt, wie das Definierte eins ist, die Definition aber
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viele Teile besitzt, und von welchen Teilen des Definierten die Definitionen dem Definierten vorhergehen und von welchen nicht. Es ist deutlich, daß diejenigen, die eine Existenz der Universalien außerhalb des Verstandes behaupten, diese Schwierigkeit nicht lösen können, denn aus ihrer Theorie würde folgen, daß der Mensch aus vielen, sogar einander entgegengesetzten Dingen zusammengesetzt wäre, aber diese Teile können sie nicht unterscheiden oder sagen, weshalb einige Teile der Definition dem Definierten vorhergehen, andere Teile dem Definierten folgen. Auch dasjenige, was die alten Philosophen vielfach untersuchten, nämlich was die Ursache der Verbindung von Seele und Leib oder allgemein von Stoff und Form ist, wurde hieraus klar. Denn die Ursache hiervon ist nichts anderes als der Zusammenhang von Potenz und Akt; die Wirkursache, wodurch die Potenz zum Akt wird, ist das Bewegende, und daher besitzt dasjenige, was kein materielles Element hat, weder diese Zusammensetzung noch überhaupt ein Bewegendes. Jetzt müssen wir noch das Problem behandeln, dessen Betrachtung wir versprochen haben, wir müssen nämlich untersuchen, welches die allgemeinste Gattung ist, die sich in der Substanz findet, d. h. die Substanz, von der man zu sagen pflegt, daß sie der Körper oder das Körperliche sei. Wir behaupten also, es gab einige Philosophen, die meinten, daß das Erste, was in die erste noch ungeformte Materie eintritt, die drei Dimensionen sind, und daß diese das Erste sind, wodurch die Materie geformt wird; sie glaubten also, daß das Wort „Körper" nur die Dimensionen bezeichne, da das Wort „Substanz" in ursprünglicher Bedeutung nur auf die Dimensionen, weil nicht in einem Substrat Seiendes, hinweist. Dies ist die Lehre des Porphyrios, der behauptete, daß es die Lehre der alten Philosophen, wie Plato und anderer gewesen sei.36 Diese Philosophen waren nur darin uneinig, daß einige behaupteten, die erste Materie sei an sich ohne Form, während andere, nämlich die Stoiker, die erste Materie schon mit der Form der Dimensionen belegten. 37 Es gab jedoch auch Philosophen, die meinten, daß die drei Dimensionen sich aus einer einfachen Form, die in der ersten Materie besteht, ergäben, und daß durch diese Form der Körper Teilbarkeit und Kontinuität erhalte, und sie behaupteten, diese Form sei, gleichwie die erste Materie, eine einzige und allen sinnlichen Dingen gemeinsame. Deqenige, der dies lehrt, ist Avicenna. Für diese Auffassung eignet sich der Terminus „Körperliches" besser, da es ein abgeleitetes Wort ist, und die abgeleiteten Wörter besser die Akzidentien bezeichnen. Wir sagen nun: Was die erste Theorie betrifft, wonach die Dimensionen das Erste sind, wodurch die erste Materie ihr Bestehen erhält, so müssen ihre Anhänger notwendig folgern, daß die Dimensionen, als das Erste, wodurch die erste Materie ihr Bestehen erhält, Substanzen sind, und daß sie die Quiddität der individuellen Substanz bestimmen. Es ist aber deutlich, daß die Dimensionen qua Dimensionen gar nicht die Quiddität einer individuellen Substanz bestimmen, denn die Individuen der Substanz bilden, wie in der Physik erklärt wurde, 38 zwei Klassen, einmal diejenigen Substanzen, die einfache Formen, nämlich die Formen der vier Elemente, besitzen, zweitens die zusam-
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mengesetzten Substanzen, die zusammengesetzte Formen haben; diese letztere Klasse zerfällt wieder in zwei Unterarten, entweder kann das Zusammengesetzte von der Gattung des Anorganischen sein, wie die Form der homogenen Körper, oder es kann beseelt sein. Es leuchtet nun ein, daß die Dimensionen später als irgendeine dieser Klassen prädiziert werden, denn diese Klassen werden bei den Definitionen der Dimensionen vorausgesetzt, wie die Substrate bei den Definitionen der Akzidentien vorausgesetzt werden. Dies ist für jeden der Logik Beflissenen deutlich. Man kann sich nicht denken, daß die Dimensionen dasjenige sind, das am ersten in die erste Materie eintritt, und daß sie doch Akzidentien sind, denn die Akzidentien bedürfen eines Substrates in anderer Weise als die Form eines Substrates bedarf; bedürfen doch die Akzidentien eines aktuellen Substrates, das eine Form besitzt, während die Form eines Substrates, das aktuell ist, nicht bedarf; daher erhält das individuelle Ding durch die Form, nicht durch das Akzidens, sein Bestehen, kurz der Unterschied zwischen der Relation von Form und Substrat und der Relation von Akzidens und Substrat ist von selbst klar für jeden, der sich mit diesen Dingen befaßt hat. Die Unmöglichkeit der Theorie derer, die meinten, daß schon die erste Materie per se mit einer Form versehen sei und daß die Dimensionen die Formen der ersten Materie bilden, wurde schon in der Physik dargetan. Denn wäre es so, wie sie behaupten, so bliebe die Körperlichkeit individuell identisch und etwas Beharrendes für die Formen der entstehenden Dinge. Der Grund ihres Fehlers war, daß sie die Körperlichkeit, die sie als generell beharrend erkannten, daher auch für unvergänglich hielten. Nach dieser Anschauung aber würde nicht nur die Materie durch die Dimensionen eine Form haben, sondern durch viele Akzidentien, die nicht von der ersten Materie getrennt werden können, diejenigen nämlich, die allen einfachen Körpern gemeinsam sind. Wenn nun, wie aus den Worten des Avicenna zu entnehmen ist, die Anhänger der zweiten Theorie meinen, daß es außer den Formen, wie Schwere, Leichtigkeit, kurz dem Streben der einfachen Körper, noch eine aktuelle einfache Form gibt, so ergibt die Verbindung dieser Form mit der ersten Materie die Substanz, der die Körperlichkeit anhaftet, d. h. der die drei Dimensionen anhaften, und sie ist es, die man Körper oder das Körperliche nennt (ist doch der abgeleitete Name, wie gesagt, geeigneter, sie, wenn man sie so auffaßt, zu bezeichnen). Das ist aber wahrhaftig eine ganz absurde Theorie! Denn es würde hieraus folgen, daß das Entstehen der Elemente eine Verwandlung sei. Verstand Avicenna unter dieser einfachen aktuellen Form jedoch nur die Natur des Strebens in der ersten Materie, das sich als die Gattung gegenüber den Formen der Elemente verhält, so ist dies wahrlich eine richtige Lehre. In Übereinstimmung damit sagen wir, daß der Körper, oder lieber das Körperliche, die allgemeinste Gattung ist, die sich in den individuellen Substanzen befindet. Diese Körperlichkeit tritt in den konkreten Dingen in der Weise hervor, wie die Gattungen in den Arten hervortreten (betrachten wir doch den Körper gleich dem Komplex von Stoff und allgemeiner Form, insoweit diesem
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Komplex die Dimensionen anhaften, und die allgemeine Form verhält sich zu der besonderen Form, wie ζ. B. die Gattung „Tier" zu den unter ihr stehenden Arten,39 nämlich in einer mittleren Existenz zwischen Potenz und Akt. Die Körperlichkeit, die den elementaren Körpern gemein ist, insoweit ihnen die Dimensionen anhaften, ist die Form des Strebens. Hieraus ergibt sich klar, daß wir die Ausdrücke „Körper" oder „körperlich" für die Himmelskörper und die Körper, die eine geradlinige Bewegung haben, in einer Art äquivoken Weise benutzen, da die Natur des Strebens in diesen beiden äußerst verschieden ist. Denn bei dem Streben in den Elementen befinden sich in der ersten Materie, insoweit ihr die Körperlichkeit anhaftet, die entgegengesetzten Formen der Elemente, dagegen ist der Begriff des Strebens in dem Himmelskörper nur ein Ausdruck für die Substanz, die aktuell die Form für ihre Bewegung trägt; sie ist es, von der man sagt, daß sie kein Entgegengesetztes hat, und sie ist daher, wie in der Physik erklärt wurde, einfach, nicht zusammengesetzt.40 Verhält sich dies alles so, wie wir es beschrieben haben, so ist es klar, daß der Körper, den die Mathematik betrachtet, nicht der Naturkörper ist. Denn der Mathematiker betrachtet nur die Dimensionen, losgelöst von der Materie, und der Physiker betrachtet entweder den Körper in seiner Zusammensetzung aus Stoff und Form, insoweit er Dimensionen hat, oder die Dimensionen, insoweit sie an einem solchen Körper sind, in der Weise also, wie im Buch „Analytica Posteriora" dargelegt wurde, daß man in jeder dieser Wissenschaften das ihnen Gemeinsame zu betrachten pflegt.41 Hiermit sind die Aufgaben dieses Kapitels gelöst, es enthält dasjenige, was sich in dem sechsten und siebenten Buch der Metaphysik des Aristoteles befindet.42
Anmerkungen zu den Texten
1. Porphyrios, Isagoge Vgl. Euripides, Aiolos 15,2. Vgl. Aristoteles, Metaphysik 998 b 22 ff. Die Gleichsetzung der „ersten zehn Genera", d. h. also der Kategorien des Aristoteles, mit „bestimmten Prinzipien" (άρχαί) ist offensichtlich eine neuplatonische Interpretation aristotelischer Gedanken durch Porphyrios. Aristoteles erwägt nur die Möglichkeit, daß die Genera als bestimmende Prinzipien gelten können (vgl. Metaphysik 1059 b 28 ff.). In den „Kategorien" behandelt Aristoteles die zehn Kategorien sowohl als Seinsbestimmungen (όντα) wie auch als Aussageweisen (λεγόμενα), ohne deutlich zwischen diesen beiden Verwendungsweisen zu differenzieren (vgl. Kategorien, Kap. 1-4). Porphyrios betont hier offensichtlich einseitig das ontologische Moment in der Bedeutungsskala von „Kategorie" bei Aristoteles. Aristoteles spricht sich auch nicht für die Homonymie des Seienden, sondern für dessen „Ausgesagtwerden auf mehrfache Weise (πολλαχώς)" aus (vgl. Metaphysik 1003 a 33 ff). Offensichtlich hat Porphyrios auch hier tendenziös interpretiert. Daß sich homonyme Aussageweise und die Zuweisung des Ausgesagten an ein einheitliches Genus ausschließen, betont hingegen auch Aristoteles (vgl. Metaphysik 1060 b 31 ff). Vgl. Piaton, Philebos, 16c-17e.
2. Boethius, In Isagogen ed. prim. Marius Victorinus (um 350): grammatischer, rhetorischer und theologisch-philosophischer Schriftsteller neuplatonischer Prägung. Er übersetzte bzw. kommentierte Aristoteles, Cicero, Plotin und Porphyrios und machte als erster die lateinische Spätantike mit der aristotelisch-neuplatonischen Philosophie bekannt. Boethius' hier vorliegender erster Kommentar zur „Isagoge" des Porphyrios in der Gestalt eines Dialoges fußt auf der Übersetzung der „Isagoge" durch Marius Victorinus. Horaz, De arte poetica, V. 1. Vgl. Boethius, In Isagogen ed. prim., S. 31: „Ich möchte kurz so sagen, daß ich als Grenzbestimmungen (termini) die Umrandungen derjenigen Figuren bezeichnet habe, die
1. Porphyrios - 5. Boethius
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in der Geometrie vorkommen." [Übers, v. H.-U. Wöhler.] Vgl. auch Macrobius, Commentarii in Somnium Scipionis, Buch I, Kap. 5, 6, hg. v. J. Willis, Leipzig 1970, S. 15.
3. Boethius, In Isagogen ed. sec. Porphyrios, Isagoge, S. 1 (in dieser Ausg. S. 3). Vgl. Alexander von Aphrodisias, Alexander in Metaphysica, hg. v. M. Hayduck, Berlin 1891, CAG I, S. 544: „Die Genera, Spezies und die Universalien ganz allgemein sind keine Substanzen, sondern Gleichnisse, Ebenbilder der zusammengesetzten Dinge, mit einem Wort Qualitäten." [Übers, v. H.-U. Wöhler.] Porphyrios, Isagoge, S. 5-6 (in dieser Ausg. S. 7). Phönix: griech. Bezeichnung eines von den Ägyptern verehrten Vogels, der der Sage nach in langen Zeiträumen erschien, später sich auf dem Scheiterhaufen verbrannte und verjüngt wieder auferstand. Porphyrios, Isagoge, S. 6 (in dieser Ausg. S. 7). Saturn: römischer Bauern- und Erntegott; im Gefolge der griechischen Mythologie galt er dann als Vater Jupiters. Caelus: Vater Saturns, Sohn des personifizierten Äthers. Ophion: der erste Weltbeherrscher in der griechischen Mythologie. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 998 b 22 ff.
4. Boethius, In Categories Die hier ausgelassene Passage (161D-162A) behandelt die tatsächliche Urheberschaft von Aristoteles für die „Kategorien". Aristoteles, Kategorien, 1 b 25. Ebenda, 2 a 4. Ebenda, 1 a 20-1 b 9. Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 39. Vgl. Aristoteles, Physikvorlesung, 210 a 14 ff. Aristoteles, Kategorien, 2 a 14.
5. Boethius, In Peri hermeneias ed. sec. Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 38-17 b 3. Diese Entgegensetzung von Natürlichem und der Satzung (d. h. dem aus menschlicher Schöpfung Herrührendem) reicht bis in die Sophistik des 5. Jahrhunderts v.u.Z. zurück (Physis-Nomos-Antithese) und hat in der antiken Sprachphilosophie in den Diskussionen um den Ursprung der Sprache und das Verhältnis von sprachlichen Zeichen und Bezeichnetem eine große Rolle gespielt. Boethius ist der Auffassung, daß die Gedanken bzw. Begriffe und die von ihnen repräsentierten außermentalen Dinge naturgegeben sind, während die gesprochenen Worte und die Schriftzeichen Resultate menschlicher Satzung sind (vgl. Boethius, In Peri hermeneias ed. prim., in: Anicii Manlii Severini Boetii
Anmerkungen zu den Texten commentarii in librum Aristotelis „Pen henneneias", hg. v. C. Meiser, 1. Teil, Leipzig 1877, S. 37).
6. Boethius, De trinitate Vgl. Cicero, Tusculanae disputationes, Buch V, Kap. 7, § 17. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Ε 1,1026 a 6 ff.; Buch Λ, 1069 a ff.
7. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium Vgl. Cicero, Tusculanae disputationes, Buch II, Kap. 15, § 35. Nestorios (nach 381 bis nach 451): 428 zum Patriarchen von Konstantinopel berufen, wurde er 431 auf Betreiben einflußreicher klerikaler Kreise Ägyptens auf dem Konzil von Ephesos abgesetzt und verurteilt. Nestorios vertrat die Lehre von Maria als Christus- und nicht als Gottesgebärerin. Das auf persische Einflüsse zurückgehende dualistische Weltbild des Nestorios wirkte sich auch auf seine Christusvorstellung aus, nach der Christus eine Person darstellt, die in sich zwei Naturen enthält (die des Menschentums und die der Gottheit), die völlig selbständig und unvermischt sein sollten. Ende des 5. Jh. siedeln seine Anhänger nach Persien über und bilden dort außerhalb der byzantinischen Großkirche eine eigene Kirche. Eutyches (geb. um 378): byzantinischer Presbyter, gehörte auf dem Konzil von Ephesos von 431 zu den monophysitischen Bekämpfern der Lehre des Nestorios; 451 wird auf dem Konzil zu Chalkedon die Lehre des Eutyches von der einheitlichen Gott-Mensch-Natur von Christus als Grundlage der Persönlichkeit von Christus als ketzerisch verurteilt und eine Entscheidung zugunsten der Dyophysiten getroffen, doch der Streit zwischen beiden Parteien hielt noch länger an.
8. Roscelin von Comptegne, Brief an Abaelard Sancti Ambrosii De fide ad Gratianum Augustum libri quinque, 1.16 und 1.106, in: PL 16, Paris 1845, Sp. 532 und 552 f. Augustinus, De trinitate libri quindecim, Buch XV.8, in: PL 42, Paris 1845, Sp. 1062. Ebenda. Nach dem Antitrinitarier Sabellius (3. Jh.). Dieser lehrte, daß der eine Gott in der Trinität nur drei Namen besitze; Vater, Sohn und Heiliger Geist sind danach für ihn bloße, vorübergehende Erscheinungsweisen (Modi) einer und derselben Person (bzw. Substanz), jedoch keine selbständige Personen. Augustinus, Epistola CLXVI, Kap. LI, in: PL 33, Paris 1845, S. 720. Symbolum Athanasii, Artikel 24 und 25. 5. Mose 19,15. Symbolum Athanasii, Artikel 4. Augustinus, De trinitate, 1.1, a.a.O., Sp. 820.
6. Boethius - 9. Anselm v. Canterbury
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"> Ebenda, S. 921. 11 Areios, lat. Arius (um 280-336): Presbyter im spätantiken Ostrom. Die Lehre des Alius wurde auf dem Konzil von Nicäa (325) als Irrlehre verworfen. Nach Arius sind Gott-Vater und Sohn nicht wesensgleich, nur der Vater ist ohne Anfang, der Sohn, aus dem Nichts hervorgebracht, ist sein erstes und vollkommenes Geschöpf. Als eine zweite selbständige Kreatur ist der Hl. Geist dem Sohn untergeordnet. 12 Ambrosius, De fide, 11.69, a.a.O., Sp. 574. 13 Symbolum Athanasii, Artikel 6. 14 Ebenda, Artikel 11. 15 Augustinus, De doctrina Christiana libri quatuor, Buch 1.20, in: PL 34, Paris 1845, Sp. 26. 16 Ebenda, Sp. 21. 17 Augustinus, De agone Christiano liber unus, Kap. XIII, in: PL 40, Paris 1845, S. 299. is Mt 11,9; Joh 1,21. 19 Isodor von Sevilla, Etymologiarum libri XX, Buch VII, Kap. IV, in: PL 82, Paris 1850, Sp. 271. 20 Ebenda, Sp. 271. Ps 82,6 und 81,9-11; 5. Mose 6,4.
9. Anselm von Canterbury, De incarnatione Verbi ι Die „Epistola de incarnatione verbi" stellt die Replik Anselms von Aosta (1033-1109) auf Anwürfe und Überlegungen Roscelins von Compiegne (um 1050-1125) dar. Letzterer hatte in der theologischen Diskussion Lanfranc (1005-1089) und Anselm die alternative Problemstellung unterstellt: entweder gibt es in Gott drei verschiedene Personen oder Gott-Vater und Gott-Heiliger Geist seien selbst Fleisch geworden (vgl. Anselm von Canterbury, Opera omnia. Tom. II, Vol. III, Epistola 136, hg. v. F. S. Schmitt, S. 279). Anselm verwahrte sich gegen eine solche Unterstellung und verlangte die Verurteilung jener Thesen auf der Synode von Reims im Frühjahr 1090. Anselm selbst hatte eine Streitschrift gegen Roscelin zu verfassen begonnen, jedoch von ihrer Veröffentlichung abgesehen, nachdem er vom Widerruf Roscelins auf dem Konzil von Soissons im Jahre 1092 gehört hatte. Jedoch entschloß er sich, die Streitschrift gegen diesen „Häretiker der Dialektik" nun doch fertigzustellen, nachdem er zur Vermutung gelangt war, daß Roscelins Widerruf nur taktischer Natur war. Zu diesem Zweck ließ er sich das in Bec begonnene Manuskript nach England senden (Anselm war seit 1093 Erzbischof von Canterbury), wo er es Anfang 1094 in der hier vorliegenden Endfassung abschloß. Er schickte diese Schrift als Brief an Papst Urban II. (1088-1099), der sie als Grundlage der Disputation mit byzantinischen Christen benutzte (siehe F. S. Schmitt, Prolegomena seu ratio editionis, in: Anselm v. Canterbury, Opera omnia. Tom. I, a.a.O., S. 58-59). 2 Vgl. Joh 1,14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit." Die Annahme des Menschen durch das „Wort", das heißt die „Fleischwerdung" Gottes in Gestalt von Christus, soll nach Anselm nicht als Annahme einer Person, sondern des gesamten Menschengeschlechts verstanden werden. Die Person von Christus bzw. das
Anmerkungen zu den Texten „Wort" soll also durch den Besitz einer menschlichen bzw. „fleischlichen" Natur auch Repräsentant der gesamten Menschheit sein. Siehe Anm. 4 zu Roscelin, Brief an Abaelard. Anselm bezieht sich hier auf den Brief eines Mönches Johannes, welchen dieser um 1090 an Anselm gerichtet hatte und in dem er Anselm die anstößige Argumentation des Roscelin erstmalig zur Kenntnis gab (vgl. Anselm von Canterbury, Opera omnia, hg. v. F. S. Schmitt, T.II, Vol.III, ep. 128, S.270f.). Vgl. Anselm von Canterbury, Monologion, in: Opera omnia, Τ. I, Vol. I, a.a.O., S. 1 fF., und ders., Proslogion, ebenda, S. 89 fF. Phil 2,7. Phil 2,6. Joh 10,30. Joh 14,9. Augustinus, De trinitate, in: PL 42, Paris 1845, Sp. 819 fF. 1. Kor 13,12. Anselm von Canterbury, Monologion, a.a.O., S. 47 fF. 1. Joh 3,2.
10. Adelard von Bath, De eodem et diverse Die zwischen 1105 und 1116 entstandene Schrift „De eodem et diverso" ist ein aus Prosa und Poesie gemischter Brief Adelards von Bath (um 1070 - nach 1146) an seinen NefFen. Ihren Inhalt bilden Streitreden zwischen der personifizierten Philosophie und der „Philokosmie" über das Verhältnis von sinnlicher Erkenntnis und Theorie und Wissenschaft. Nach einer Werberede der „Philokosmie" für den Reiz der Sinnlichkeit, entgegnet die „Philosophie" mit umfangreichen Gegenargumenten. Die dem Universalienproblem gewidmeten Passagen aus der Argumentation der „Philosophie" gegen die „Philokosmie" sind hier für die Übersetzung ausgewählt worden. H. Willner verweist auf die Randbemerkung „Piaton" in der von ihm verwendeten Handschrift; die Position Piatons dürfte an dieser Stelle umrissen sein. H. Willner verweist auf die Randbemerkung„Aristoteles" der Handschrift; dessen Position ist hier freilich nur sehr vage angedeutet. Vgl. Piaton, Timaios 44a. D. h. die personifizierten sieben „Freien Künste": Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie. D. h. die personifizierte Grammatik. Die Einteilung der Wortarten bzw. „Redeteile" in Nomen, Verb, Partizip, Artikel, Pronomen, Präposition, Adverb und Konjunktion geht auf den antiken griechischen Grammatiker Dionysios Thrax (um 170-90 v.u.Z.) zurück. Unter Hinweis auf das Fehlen des Artikels im Lateinischen übernahm Priscian (6. Jh.) diese Einteilung und machte sie dem lateinischen Mittelalter bekannt (s. Dionysii Thracis Ars Grammatica, hg. v. G. Uhlig, Leipzig 1883, S. 23; Prisciani Institutionum grammaticarum libri XVIII, hg. v. M. Hertz, Bd. I, Leipzig 1855, Buch II, Kap. 16-21, S. 54 fF.). Johannes von Salisbury sagt im „Metalogicus" folgendes: „Dennoch kommt es mitunter
10. Adelard v. Bath - 11. Anonymus
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vor, daß ein Wort ein Ding ist, sobald dieses Wort so aufgefaßt wird, daß es von sich selbst handelt. So verhält es sich zum Beispiel in den folgenden Ausdrücken, die unsere Lehrer ,materialiter imposita et dicibilia' nannten: „Mensch' ist ein Name', „läuft' ist ein Verb'." (Buch III, Kap. 5, S. 142.) Bei den „materialiter imposita" handelt es sich also offenbar um durch Termini bezeichnete Termini. Adelard von Bath' Behauptung geht dahin, daß jeder Subjektterminus einen doppelten Sinn hat: einen „realen" hinsichtlich eines bestimmten wirklichen Dinges, und einen „materialen" hinsichtlich der grammatischen Wortklasse, der der Terminus angehört. D. h. die personifizierte Dialektik. Ein Verweis auf das Kategoriensystem des Aristoteles aus der Schrift „Kategorien": Substanz, Qualität, Quantität, Relation, Raum, Zeit, Lage, Haben, Wirken, Leiden.
11. Anonymus, De generibus et speciebus Victor Cousin hatte diesen Traktat in seiner Ausgabe von Werken Abaelards (,,Ouvrages inedits d'Abelard", Paris 1836) irrtümlich Abaelard zugeschrieben. Dem haben entschieden J. Reiners und B. Geyer widersprochen und auf die Befürwortung der Collectio-Lehre in dem Traktat verwiesen. B. Geyer äußerte deshalb die Vermutung, daß der Autor dieses Traktates entweder Gauslenus von Soissons oder einer seiner Schüler sein müsse (J. Reiners, Der Nominalismus in der Frühscholastik. Ein Beitrag zur Geschichte der Universalienfrage im Mittelalter, in: Beiträge ΧΠΙ, 5 (1910), S. 41 f.; B. Geyer, Untersuchungen zu Peter Abaelards philosophischen Schriften, in: Beiträge XXI, 4 (1933), S. 594 f.). In ähnlicher Weise nimmt auch P. O. King, dessen gegenüber der Cousinschen Edition verbesserten Fassung wir hier folgen, einen „Pseudo-Joscelin" als Autor des Traktats an (P. O. King, Peter Abailard and the problem of Universals, Phil. Diss., Princeton 1982, Appendix, S. 144). Gauslenus selbst ist uns als Vertreter der Collectio-Lehre aus einer Bemerkung Joh. v. Salisburys in seinem „Metalogicon" (Buch II, Kap. 17, S. 95; in dieser Ausg. S. 210) bekannt. Porphyrios, Isagoge, S. 11 (in dieser Ausg. S. 11). Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 166 (in dieser Ausg. S. 30). Aristoteles, Kategorien, 1 a 20. Ebenda, 1 a 29-1 b 1. Ebenda, 1 a 25. Porphyrios, Isagoge, S. 6 (in dieser Ausg. S. 7). Ebenda (in dieser Ausg. S. 8). Ebenda, S. 4 (in dieser Ausg. S. 5 f.). Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 166 (in dieser Ausg. S. 30). Boethius, In Categorias, S. 183 (in dieser Ausg. S. 47). „Modus der ersten Figur": im Syllogismus der ersten Figur gelten folgende Prinzipien: 1. Der Obersatz muß ein allgemeines Urteil sein; 2. der Untersatz muß ein bejahendes Urteil sein. Als Charakteristikum dieses Syllogismus gilt, daß der Mittelbegriff im Obersatz Subjekt und im Untersatz Prädikat ist. Somit ergibt sich im vorliegenden Fall folgender Schluß: Mensch ist eine Spezies. Sokrates ist ein Mensch. Sokrates ist eine Spezies.
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Anmerkungen zu den Texten
Obwohl formal korrekt gebildet, ist der Schluß dennoch wegen der Mehrdeutigkeit des Mittelterminus „Mensch" nicht gültig. 13 Vgl. Aristoteles, Kategorien, Kap. 5,3 b 4f. Diese von Aristoteles ausgesprochene Regel für die Prädizierung der Genera über die ihnen untergeordneten Spezies und der Genera und Spezies gemeinsam über die ihnen untergeordneten Individuen setzt die Transitivität der Enthaltenseins-Relation voraus. Im Falle von „Mensch ist eine Spezies" und „Sokrates ist ein Mensch" liegen jedoch völlig heterogene Enthaltenseins-Relationen vor. 14 Boethius, Liber de divisione, in: PL 64, Sp. 897. 15 Boethius, In Categorias, Sp. 170 (in dieser Ausg. S. 40). 16 Porphyrios, Isagoge, S. 11 (in dieser Ausg. S. 11). 17 Boethius, In topica Ciceronis commentariorum libri sex, in: PL 64, Sp. 1057. 18 Vgl. Anm. 10. 19 Ebenda. 20 Boethius, In Categorias, Sp. 162 (in dieser Ausg. S. 38). 21 Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 38. 22 Boethius, In Categorias, Sp. 195. 23 Boethius, De syllogismo hypothetico, in: PL 64, Sp. 833. 24 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 879. 25 Ebenda. 2 « Vgl. Anm. 10. 27 Boethius, In Categorias, Sp. 176. 28 Ebenda, Sp. 183 (in dieser Ausg. S. 47 f.). 29 Boethius, Peri hermeneias ed. sec., Kap. II.6, S. 133. 30 Boethius, In Categorias, Sp. 166. 31 Boethius, In Peri hermeneias ed. sec., Kap. II.7, S. 136 (in dieser Ausg. S. 50). 32 Ebenda, S. 139 (in dieser Ausg. S. 51). 33 Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 1, Kap. 11.15, S. 54. 34 Aristoteles, Kategorien, 3b 19. 35 „ensis" und „gladius" bedeuten im Lateinischen beide „Schwert". 36 Vgl. Boethius, In Categorias, Sp. 177; Boethius, In Isagogen ed. sec., Kap. III.6, S. 216-220 (in dieser Ausg. S. 32 f.). Boethius räumt hier die Prädizierung von untersten Spezies über eine unendliche und endliche Anzahl von zugehörigen Individuen, im Extremfall auch über ein einziges solches Individuum, ein. Der Phönix als ein sagenhaftes Symbol mit absoluter Singularität könnte also durchaus eine Spezies darstellen. 37 Aristoteles, Kategorien, 2 a 14. 38 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 161 (in dieser Ausg. S. 27 f.). 39 Porphyrios, Isagoge, S. 10 f. (in dieser Ausg. S. 11). 40 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 263. 41 Ebenda, S. 166 f. (in dieser Ausg. S. 31). 42 Ebenda, S. 167. 43 Griech. „συναγωγόν", lat. „collectivum": von diesen Termini leitete die Collectio-Lehre ihre Bezeichnung ab. 44 Porphyrios, Isagoge, S. 6 (in dieser Ausg. S. 8). 45 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 166 (in dieser Ausg. S. 30). 46 Vgl. Anm. 11.
12. Abaelard
293
47
Vgl. Anm. 28. Vgl. Anm. 31. 4 » Vgl. Anm. 32. 50 Aristoteles, Kategorien, 8 a 9. 51 Piaton, Timaios, 48b. 52 Vgl. Anm. 50. 53 Piaton, Timaios, 52e-53a. 54 Piaton, Timaios, 42d-43a. 48
12. Abaelard, Logica „Ingredientibus". Glossae super Porphyrium 1
Vgl. Porphyrios, Isagoge, S. 1 (in dieser Ausg. S. 3). Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 159-160 (in dieser Ausg. S. 26). 3 Ebenda, S. 160 (in dieser Ausg. S. 27). 4 Die nun folgende Textauslegung Abaelards (S. 8 f. der zugrundeliegenden Ausgabe) ist hier weggelassen. 5 Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 39. 6 Porphyrios, Isagoge, S. 2 (in dieser Ausg. S. 4). 7 Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 38. 8 Porphyrios, Isagoge, S. 10 (in dieser Ausg. S. 11). 9 Aristoteles, Kategorien, 3 b 20. 10 Boethius, Liber de divisione, in: PL 64, Sp. 885 C. 11 Ebenda, Sp. 886 B. 12 Porphyrios, Isagoge, S. 6 (in dieser Ausg. S. 8). 13 Ebenda, S. 7 (in dieser Ausg. S. 8). 14 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 163 (in dieser Ausg. S. 28). 15 Ebenda, S. 166 (in dieser Ausg. S. 31). 16 Aristoteles, Kategorien, 5 b 11 f. 17 Porphyrios, Isagoge, S. 15 (in dieser Ausg. S. 15). 18 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 166 (in dieser Ausg. S. 30). » Ebenda, S. 163 (in dieser Ausg. S. 28). 20 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 879 D. 21 Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 2, S. 145. 22 Aristoteles, Peri hermeneias, 20 a 3. 23 Ebenda, S. 21 b 9. 24 Ebenda, S. 16 b 1. 25 „Der Unterschied von Eigenname und Gemeinname liegt darin, daß der Gemeinname ein auf natürliche Weise Gemeinsames für mehrere Dinge ist, die ein und dieselbe genusartige oder spezifische Substanz, Qualität oder Quantität verbindet." (Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 1, S. 58). Weiter unten bezeichnet Priscian jedoch die „nomina infinita", d. h. die Indefmita, als Spezies der Gemeinnamen (ebenda, S. 59). 26 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 889 B. 2
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Anmerkungen zu den Texten
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Boethius, In Isagogen ed. sec., Sp. 163 (in dieser Ausg. S. 28). Vgl. Abaelard, Logica „Ingredientibus". Die Glossen zu Porphyrios, S. 11 ff. (in dieser Ausg. S. 134 ff.). 29 Aristoteles, Kategorien, 3 b 25 ff. 30 Vgl. Aristoteles, Pen hermeneias, 16 a 6. 31 Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 2, S. 135. 32 Porphyrios, Isagoge, S. 11 (in dieser Ausg. S. 11). 33 Vgl. Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 166 (in dieser Ausg. S. 30). 34 Ebenda, S. 167 (in dieser Ausg. S. 31). 35 Ebenda, S. 165 (in dieser Ausg. S. 29 f.). 36 Ebenda, S. 160 (in dieser Ausg. S. 27). 37 Ebenda, S. 167 (in dieser Ausg. S. 31). 38 Ebenda, S. 163 (in dieser Ausg. S. 29). 39 Ebenda, S. 162 (in dieser Ausg. S. 28). 40 Ebenda. 4 1 Ebenda, S. 163 (in dieser Ausg. S. 28). 42 Ebenda. 28
13. Abaelard, Logica „Ingredientibus". Glossae super Praedicamenta 1
2 3 4 5 6
Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. I, S. 55: Priscian kennzeichnet hier die Bedeutung des Nomens als allgemeinen Satzteiles. Aristoteles, Kategorien, 2 b 7 ff. Ebenda, 3 b 10. Vgl. Anm. 2. Aristoteles, Kategorien, 2 b 29-30. Boethius, Commentarii in librum Aristotelis „Peri hermeneias", hg. v. C. Meiser, 1. Teil, Leipzig 1877, S. 206.
14. Abaelard, Logica „Nostrorum petitioni sociorum". Glossulae super Porphyrium. 1
Aristoteles, Kategorien, 3 a 11. Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 39. 3 Aristoteles, Kategorien, 2 a 11. 4 Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 40-17 b 1. 5 Ebenda, 17 a 38. 6 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 885D. 7 Boethius, De syllogismo hypothetico libri duo, in: PL 64, Paris 1847, Sp. 835 D. 8 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 884. 9 Aristoteles, Kategorien, 2 a 19: „Bei dem, was über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird, 2
13. Abaelard - 14. Abaelard
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wird notwendig sowohl der Name als auch die Definition über das Zugrundeliegende ausgesagt." 10 Aristoteles, Peri hermeneias, 20 a 9. 11 Aristoteles, Kategorien, 2 a 34. 12 Ebenda, 2 b 5. 13 Boethius, In Categorias, Sp. 186B. 14 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 879A. 15 Ebenda, Sp. 885B. 16 Ebenda, Sp. 879D. 17 Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 2, S. 135. 18 Vgl. Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 166 (in dieser Ausg. S. 30). 19 Aristoteles, Kategorien, 3 b 19. 20 Ebenda, 2 b 9. 2 1 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 884C. 2 2 Ebenda, Sp. 885C. 2 3 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 180. 2 4 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 887B. 2 5 Porphyrios, Isagoge, S. 6 (in dieser Ausg. S. 7). 2 7 Boethius, De syllogismo categorico libri duo, in: PL 64, Paris 1847, Sp. 797A. 2 8 Boethius, De differentiis topicis libri quattuor, in: PL 64, Sp. 1180A. 2 9 Porphyrios, Isagoge, S. 6 (in dieser Ausg. S. 8). 3 0 Macrobius, Commentarii in somnium Scipionis, hg. v. J. Willis, Leipzig 1963, Buch I, Kap. II, § 15, S. 7. 3 1 Aristoteles, Kategorien, 4 a 10. 3 2 Porphyrios, Isagoge, S. 21 (in dieser Ausg. S. 19). 3 3 Boethius, De differentiis topicis, a.a.O., Sp. 1187C. 3 4 Joh 4,24. 3 5 Aristoteles, Kategorien, 1 b 25. 3 « Vgl. Anm. 31. 3 7 Vgl. Anm. 33. 3 8 Boethius, In Peri hermeneias ed. sec., Buch II, Kap. 6, § 5, S. 133. 3 9 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 196. 4 0 Porphyrios, Isagoge, S. 3 (in dieser Ausg. S. 5). 41 Ebenda, S. 2 (in dieser Ausg. S. 4). 4 2 Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 39. 4 3 Porphyrios, Isagoge, S. 2 (in dieser Ausg. S. 4). 4 4 Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 889B. 4 5 Aristoteles, Kategorien, 3 b 16. 4 6 Ebenda, 3 b 10. 4 7 Vgl. Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 161-164 (in dieser Ausg. S. 27-29). 4 8 Ebenda, S. 167 (in dieser Ausg. S. 31). 4 9 Vgl. Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 1, S. 62. Priscian erläutert hier anhand des Namens ,Aeacus' (griech. Aiakos, Sohn des Zeus und mythischer Stammvater der Aiakiden) die Eigenschaften der Patronymica, also der von gewissen Eigennamen abgeleiteten Gemeinnamen für bestimmte Personengruppen auf Grund von Verwandt-
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Anmerkungen zu den Texten
schafts- und Abstammungsverhältnissen unter diesen. In diesem Beispiel ist das Patronymicum von ,Aeacus' ,Aeacides'. Vgl. Porphyrios, Isagoge, S. 1 (in dieser Ausg. S. 3). Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 38. Vgl. Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 163 (in dieser Ausg. S. 29). Ebenda, S. 161 f. (in dieser Ausg. S. 28). Ebenda, S. 162 (in dieser Ausg. S. 28). Ebenda, S. 163 (in dieser Ausg. S. 29). Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 889B.
15. Gilbert de la Ροιτέε, Expositio in Boecii librum De trinitate 1
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Soweit nicht besonders gekennzeichnet, bezeichnen die im Kommentar in Anfuhrungszeichen (im lat. Text: in Versalien) gesetzten Passagen den Originaltext des Boethius. Boethius, De trinitate, S. 8 (in dieser Ausg. S. 53). Vgl. Piaton, Timaios, 48a-52d. Vgl. Aristoteles, Kategorien, Kap. 8,10 a 11 ff. Vgl. Boethius, De trinitate, S. 8 (in dieser Ausg. S. 53). Ebenda. Ebenda, S. 10 (in dieser Ausg. S. 53). Ebenda. Ebenda (in dieser Ausg. S. 54). Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, Kap. VI-VII (in dieser Ausg. S. 65-69). Boethius, De trinitate, S. 10 (in dieser Ausg. S. 54). Ebenda, S. 12 (in dieser Ausg. S. 54). Ebenda. Ebenda.
16. Gilbert de la Porräe, Expositio in Boecii librum Contra Euticen et Nestorium 1 2 3 4
Vgl. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, S. 86 (in dieser Ausg. S. 58). Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 98 (in dieser Ausg. S. 62).
15. Gilbert de la Porree - 17. Johannes v. Salisbury
297
17. Johannes v. Salisbury, Metalogicon 1
Vgl. Boethius, In Topica Ciceronis Commentaria, Buch ΠΙ, in: PL 64, Sp. 1105 f.: „Aristoteles aber glaubt, daß keinerlei Substanzen außerhalb des Denkens sind; er nimmt vielmehr an, daß das Genus oder die Spezies eine substantielle Ähnlichkeit von mehreren sich voneinander unterscheidenden Dingen darstellt, welche durch den Verstand erwirkt wurde." 2 Ebenda. 3 Walter von Mortagne (gest. 1174): Lehrer der Rhetorik und der Philosophie auf dem Genovevaberg bei Paris, Bischof von Laon. 4 Vgl. Seneca, Ad Lucilium Epistularum Moralium libri XX, Lib. VI, Epist. VI, in: L. Annaei Senecae opera quae supersunt, hg. v. F. Haase, Bd. III, Leipzig 1872, S. 123. 5 Boethius, Arithmetica, hg. v. G. Friedlein, Leipzig 1867, Buch I, Kap. 1. 6 Seneca, Ad Lucilium, a.a.O., S. 124. 7 Augustinus, De libero arbitrio, Buch II, Kap. 8, in: PL 32, Sp. 125 ff. 8 Gilbert von Poitiers (G. de la Porree, um 1080-1154): Lehrer in Poitiers, Chartres und Paris, zwischen 1126 und 1137 wiederholt Kanzler der Schule zu Chartres, 1142-1150 Bischof von Poitiers. 9 Gauslenus von Soissons, 1126-1152 Bischof von Soissons. 10 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 211. 11 Vgl. Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 1, Buch V, Kap. 4 ff., S. 142 ff. 12 Ulgerius von Angers (gest. 1149). 13 Arethusa: in der griech. Sage eine Quellnymphe, die durch Artemis (Diana) auf der Insel Ortygia in eine Quelle verwandelt wurde, nachdem ihr bis dorthin der Flußgott Alpheios nachstellte und sie sich an der Stelle des Quellenaustritts mit ihm vereinigte (vgl. Ovid, Metamorphosen, V, 577 ff.). 14 Vgl. Galenos, Techne iatrike, Kap. 1, in: Claudii Galeni Opera omnia, hg. v. C. G. Kühn, Bd. 1, Leipzig 1821, S. 307. 15 Aristoteles, Kategorien, 3 b 19-21. 16 Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, 178 b 37-39,179 a 8-10. 17 Priscianus, Institutiones grammaticae, a.a.O., Bd. 1, S. 579. is Ebenda, S. 578. >» Vgl. Joh 1,3. 20 Augustinus, De Genesi ad Litteram libri XII, Buch I, Kap. 15, in: PL 34, Sp. 257. 21 Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, Kap. I, S. 76 (in dieser Ausgabe S. 55). 22 Vgl. Boethius, De trinitate, S. 9 (in dieser Ausg. S. 53 f)· Das griechische όποιος ϋλη bei Boethius wurde von uns an die Stelle der bei Joh. v. Salisbury stehenden Version „a potou hyle" gesetzt. 23 Horaz, De arte poetica, V. 411. 24 1. Mose 1,11. 2 * 1. Mose 1,30-31. 26 Pseudo-Dionysios Areopagites, De divinis nominibus, Kap. IV.4, in: J.-P. Migne (Hg.), Patrologiae cursus completus. Series graeca, Bd. 3, Sp. 697. 27 Augustinus, De Genesi ad Litteram, a.a.O., Buch IV, Kap. 3, Sp. 299. 28 Aristoteles, Zweite Analytik, 83 a 32-34. 29 Aristoteles, Topik, 141 b 6-9.
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Anmerkungen zu den Texten
Aristoteles, Erste Analytik, 47 b 23-26. Ebenda, 43 a 25 ff. Vgl. Cicero, Laelius. De amicitia, § 9. Aristoteles, Topik, 144 b 1-3. Nicht wörtlich, aber sinngemäß steht dies in: Boethius, Liber de divisione, a.a.O., Sp. 879D („Amplius quoque species idem semper quod genus est, ut homo idem est quod animal, et virtus idem est quod habitus."). Vgl. Ovid, De arte amatoria, II, 647. - Zu der Wendung „hündisch die Zähne fletschen" vgl. auch Hieronymus, Epistolae, Nr. 50, § 1, in: CSEL 54, S. 388. Vgl. Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 167 (in dieser Ausg. S. 31).
18. Ibn Sina, Buch der Genesung. Metaphysik 1
Eine Art Märchenschloß. ratio des esse equum: Bedeutung von „Pferd sein". 3 Die universellen Begriffe kann man in zweifacher Hinsicht auffassen, entweder insofern sie eine bestimmte Wesenheit bezeichnen, oder insofern sie den Charakter der Universalität besitzen. In keiner dieser beiden „formellen" Hinsichten schließen sie das bestimmte Einzelding aus. Vor diesen „Hinsichten" aber, d. h. wenn man den Begriff in sich betrachtet, schließt er das Individuum nicht ein, noch ist er ausschließlich in nur einem Individuum vorhanden. (Anmerkung von M. Horten.) 4 Der Gegensatz ist dann weder ein kontradiktorischer noch ein konträrer, sondern ein subalternierter: „ist die essentia equi (das Wesen des Pferdes) ein bestimmtes Individuum oder dieses bestimmte Individuum"; oder ein subkonträrer: „ist die essentia equi dieses oder jenes (A oder B) bestimmte Individuum". (Anm. v. M. Horten.) 5 Betrachtet man die essentia (das Wesen) eines Dinges in sich, dann besagt sie nur diese spezifische Wesenheit. Sie hat noch keine Relation zu den Individuen. Beide Teile der Frage mit subkonträrer Opposition können zudem zugleich falsch sein, während einer von zwei kontradiktorischen Gegensätzen wahr sein muß. (Anm. v. M. Horten.) 6 Die positive Aussage einer Eigenschaft fur ein bestimmtes Ding bedeutet also nicht die Identifizierung von Allgemeinem und Einzelnem, sondern nur den Ausschluß der entgegengesetzten Eigenschaft. 7 D. h. die Bestimmung, daß das Universale weder ein einzelnes Individuum noch eine Vielheit bezeichnet. (Anm. v. M. Horten.) 8 D. h. ein Gegenstand, dem eine Qualität innewohnt. 9 D. h. sie sei nicht ein Individuum. „So beschaffen" und „dieses" bezeichnen die materiellen Individua. (Anm. v. M. Horten.) 10 D. h. des Menschseins. 11 D. h. insofern sie der Möglichkeit nach vorhanden ist. 12 Tier. 13 Jemand, der Einwände macht. 14 Die „andere Bedingung", die zur universellen Natur hinzutritt, ist die Individualität. Diese hindert, daß die universelle Natur im Individuum „in se betrachtet" werde, das heißt rein vorhanden sei, ohne determinierende Bestimmungen. (Anm. v. M. Horten.) 2
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Drittes. Gegensätzliche Bestimmungen. D. h. das Genus „Lebewesen". Vgl. V. Abhandlung, Beginn des 1. Kapitels. Nicht wirklich, sondern nur der Möglichkeit nach. Dem direkt gegenwärtigen Vermögen. D. h. der Begriff des Empfindungsfähigen und des Belebten. D. h. den Begriff „Lebewesen". Des Lebendigseins. Das Belebte und Vernunftbegabte. D. h. in der tierischen Natur. Der Sinn dieser dunklen Worte ist wohl der: die Bewegung (B.) setzt das Vegetativum (v.) und sensitivum (s.) voraus, das v. nur s. Notwendig sind also v. und s., wenn B., oder v. allein, wenn s. ohne B. vorhanden ist. Nicht notwendig sind B. und s., wenn nur v., oder B., wenn nur v. und s. als real angenommen werden. (Anm. v. M. Horten.) Mit einer Empfindungsseele beseelter Körper. Die artbestimmende Eigenschaft (spezifische Differenz) des Menschen. Die entscheidende artbestimmende Eigenschaft. D. h. als Bedeutung einem Begriffe zugrunde legen. Der physische Körper ist ein Teil des Tieres, das „Tier" aber ein Teil des logischen Körpers, des Genus Körper. (Anm. v. M. Horten). Kein Früher. Die Art wäre etwas zum Genus Hinzugefügtes, etwas ihm Fremdes. (Anm. v. M. Horton.) Der Teil kann nicht von dem Ganzen prädiziert werden. (Anm. v. M. Horten.) Nach der Determination der letzten Art kann keine andere als die der Individualität mehr stattfinden. (Anm. von M. Horten.) D. h. indem die Akzidentien nicht die Art beeinflussen. (Anm. v. M. Horten.) D. h. die Gattung Lebewesen. Die Art kann nicht durch das Genus, wohl das Genus durch die Art geteilt werden. (Anm. v. M. Horten.) D. h. Bewegliches und Unbewegliches (Anm. v. M. Horten.) D. h. der Wechsel vom bewegten in den unbewegten Zustand ist prinzipiell möglich. Dabei behält ein Ding durchaus seine Individualität, wenn es sich auch hinsichtlich der kontradiktorischen akzidentellen Eigenschaften „bewegt" und „unbewegt" von der einen Eigenschaft in ihr Gegenteil verändert; denn es hat in Wirklichkeit keine echte Veränderung der Art des Dinges stattgefunden. Primär und von sich aus. D. h. die einem Genus wesentlich zukommende artbestimmende Eigenschaft, die weitere von ihr abhängige Eigenschaften ermöglicht. D. h. teils Vernunftbegabtes teils Nicht-Vernunftbegabtes. Empfindungsfähiges. Lebendes oder Nicht-Lebendes. Die beiden Extreme der Einteilung sind die als kontradiktorische Gegensätze gefaßten Arten des Genus, ζ. B. Vernunftbegabtes und Nicht-Vernunftbegabtes. Wenn die Bestimmungen sich indifferent zur Wesensform verhalten, dann können sie auch anderen
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Anmerkungen zu den Texten
Arten zukommen, sind also keine Differenzen im eigentlichen Sinne. (Anm. v. M. Horten.) D. h. die speziellen Gruppen von Dingen einer Art zukommenden Eigenschaften. Im Abschnitt „Naturwissenschaften. IV. Teil" des „Buch der Genesung der Seele". (Anm. v. M. Horten.) Den belebten Körper. Vgl. Anmerkung 47. Akzidentien eines Akzidens. Vernunftbegabtheit und Empfindungsfähigkeit. D. h. vom einzelnen Ding als ganzem. Vgl. Kap. 1 und 2 der V. Abhandlung. D. h. einen Begriff, der andere Begriffe weniger allgemeiner Natur unter sich hat. Vgl. Anmerkung 41. Begriff des Lebewesens. Dem Vernunftbegabten. Vernunftbegabung. Vernunftseele. Empfindungsfähiges Seiendes. Ein unabschließbares Zurückgehen. Vgl. Anmerkung 53. Von der Gattung als ganzer. In eindeutigem Sinn, „synonym".
19. Ibn Sina, Buch des Wissens. Metaphysica 1
In Kapitel 25 heißt es: „Die Existenz ist das Wesen des Notwendig-Seienden" (Morewedge, S. 57). Dieses universelle, nicht-substantielle Ordnungsprinzip für alle Dinge - gelegentlich auch als Gott interpretiert - ist allein vom Unterschied von Wesen und Existenz befreit. Zum anderen bedeutet die Unterschiedenheit von Wesen und Existenz für Ibn Sina automatisch die Unterschiedenheit und das Aufeinanderbezogensein von Genus und spezifischer Differenz bzw. Spezies und Akzidens.
20. Ibn Ruschd, Epitome der Metaphysik 1
2
Dies muß die Bemerkung eines Lesers sein. Ist es die ironische Hypothese eines Skeptikers? Wie verhält es sich aber mit den akzidentiellen Universalien? Sie können uns nichts über die Wirklichkeit erzählen, sind sie doch nicht identisch mit den Dingen; andererseits sind sie doch auch nicht nur Traum und Trug. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Hier unterbricht Averroes seine Darstellung von Metaphysik Ζ 7 und eröffnet eine Parenthese. Er folgt hier Alexander, der bei der Stelle Metaphysik A 3, wo auch über die Entstehung aus dem Gleichnamigen gesprochen wird, sagt, daß damit die Untersuchung verbunden werden müsse, wie die Tiere, die aus der Fäulnis hervorgehen, aus dem Gleichnamigen entstehen (vgl. J. Freudenthal, Die durch Averroes erhaltenen Fragmente
19. Ibn Sina - 20. Ibn Ruschd
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Alexanders zur Metaphysik des Aristoteles, in: Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1884) - Anhang (Phil.-hist. Abhandlungen nicht zur Akademie gehöriger Gelehrter), Berlin 1885, S. 80). (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Vgl. Aristoteles, Physikvorlesung, 253 a 7. Vgl. Aristoteles, De generatione animalium, Kap. III.ll, 761-763. Die Baumwolle brennt also nicht durch die Wirkung des Lichtes. Das Licht ist nämlich nach Aristoteles weder Feuer noch Körper überhaupt (vgl. Aristoteles, De anima, 418b 14). (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Vgl. Aristoteles, Physikvorlesung, 250 b 14. Vgl. ebenda, 251 a 15. Also: das Feuer als Ganzes entsteht aus der Bewegung des Himmelskörpers (das soll also hier wohl heißen: aus der Bewegung der Mondsphäre), und es befindet sich als Ganzes dort oben, wo es entsteht, d. h. in der Höhlung der Mondsphäre, oder anders gesagt: in dem obersten Teil der diesseitigen Welt. Das individuelle Feuer, das entsteht, hat seinen Sitz in dem Individuum, in welchem es entsteht. Dies entspricht dem in unserem Text Gesagten. Nach Aristoteles befindet sich das Feuer im obersten Teil der diesseitigen Welt, es entsteht aus der Reibung der Sphären und Himmelskörper, besonders aber der Sonnensphäre (Aristoteles, De caelo, Buch II, Kap. 7), also nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich an der Reibung der Mondsphäre. (Anm. v. S. v. d. Bergh; Auslegung der entsprechenden Averroes-Stelle aus dem Physikkommentar, in: Aristoteles Stagiritae opera . . . cum Averrois Commentariis, Tomus IV, Venedig 1560, fol. 271B.) Es handelt sich um Piatons Lehrer Kratylos (4. Jh. v.u.Z.); vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1010 a 12. Die Stelle findet sich bei: Themistii in Aristotelis Metaphysicorum Librum Λ Paraphrasis, hg. v. S. Landauer, Berlin 1903, CAG V,5, S. 9-10. „Man"; es könnte vielleicht heißen Themistius. Besser ist wahrscheinlich „man", denn in der oben angeführten Themistius-Stelle sagt Themistius das folgende nicht, und auch in seinen übrigen Werken habe ich es nicht gefunden. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Die Araber haben die Bücher „De historia animalium", „De generatione animalium", „De partibus animalium" zu einem Ganzen vereinigt. Über die generatio spontanea, die von Aristoteles nur flüchtig behandelt wird, vgl. Aristoteles, De historia animalium, 539 a 21,550 b 32; De generatione animalium, 743 a 35; weiter auch Meteorologie, 379 b 6. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Dies ist natürlich nicht die Theorie des Plato, für den die Ideen nur Allgemeinheiten sind. Bei Plotin allerdings bestehen sogar die sterblichen und vergänglichen Dinge in idealer und ewiger Weise im νοϋς. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Die Natur als Naturnotwendigkeit betrachtet. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Der menschliche Geist steht immer in direktem Kontakt mit einem separaten Prinzip. Denn der Mensch kann nur denken durch Mitwirkung des tätigen Verstandes, der das unterste separate Prinzip ist. Die Lehre, die Averroes hier vorträgt, ist die allgemeine, von den arabischen Aristotelikern angenommene, und Avicenna behauptet mit seiner Theorie von dem dator formarum (d. h. einem obersten Formgeber) nichts anderes; nur mit der Lehre der Theologen, die eine direkte Einwirkung der allein aktiven Gottheit auf alles Irdische annehmen, steht Averroes hier im Widerspruch. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Nämlich der νοϋς, denn wie die Hand das Instrument der Instrumente, so ist der Nus die
Anmerkungen zu den Texten Form der Formen (Aristoteles, De anima, 432 a 1). Der Verstand ist die Form der Formen, da er die Formen aktuell macht, so wie alles, was eine Potenz aktualisiert, eine Form ist. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Die Wesensbestimmung und die spezifischen Differenzen werden nach Aristoteles vom Substrat ausgesagt (καθ' ύποκειμένου λέγονται) - ζ. Β. Sokrates ist ein Mensch -, befinden sich aber nicht im Substrat, während die unwesentlichen Akzidentien im Substrat sind (έν ύποκειμένω), ζ. Β. Sokrates ist weiß. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Dies bezieht sich auf die Definition bei Averroes: „das heißt, daß all das, was im Verstand ist, mit all jenem übereinstimmt, was außerhalb des Verstandes ist; oder daß das Begreifen desselben zu all jenem, was er begreift, gemäß einer ganz bestimmten Ähnlichkeit erfolgt, so daß er von sich selbst aus mit der Existenz außer ihm übereinstimmt; und dies ist der Grund der von uns betriebenen Wahrheitsfindung im Verstände" (Kommentar zur 2. Analytik, in: Aristoteles Stagiritae omnia quae extant opera . . . Averrois Cordubensis in ea opera omnes, qui ad nos pervenere, Commentarii, Tomus II, Venedig 1560, fol. 223C). M. Horten übersetzt „Mutakallimun" in seiner Erläuterung mit „Disputatoren, Scheinphilosophen, spekulative und orthodoxe Theologen". (Die Metaphysik des Averroes, nach dem Arabischen übersetzt und erläutert von M. Horten, Halle 1912, S. 69.) Vgl. Tomus VII operum Aristotelis Stagiritae . . . cum Averrois Commentatione, Venedig 1560, fol. 114C: „und du mußt wissen, daß Gewohnheit und Übung die Gründe dessen sind, was als der Kraft des aktiven Intellektes zugehörig erscheint, welcher zum Zwecke des Abstrahierens in uns ist, während der materielle Intellekt zum Aufnehmen da ist". Alexander sagt es bestimmter: „Jegliche Zusammenfassung wie auch jegliche Annahme eines Allgemeinen, die wegen der gegenseitigen Ähnlichkeit von sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen erfolgte, ist ein Begreifen." (Alexander von Aphrodisias, De anima, in: Alexandri Aphrodisiensis praeter Commentaria scripta minora: De anima über cum mantissa, hg. v. I. Bruns, Berlin 1887, S. 83 [Supplementum Aristotelicum, Vol. II.2].) (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Vgl. Aristoteles, De anima, 242 a 16 ff. Im 1. Kapitel seiner „Epitome der Metaphysik" erklärt Averroes die „zweiten Intentionen" als „die Intentionen, die nur im Geist existieren" (Epitome, hg. v. S. v. d. Bergh, S. 9). Laut S. van den Bergh geht die Unterscheidung von ersten und zweiten Intentionen und die davon abgeleitete Unterscheidung von außerseelischem und innerseelischem Sein bei Averroes auf die stoische Unterscheidung von σημαινόμενον (gedanklicher Inhalt der Sprache), σημαίνον (lautliche Form der Sprache) und τυγχάνον (reales Objekt) zurück: „Bei den ersten Intentionen richtet sich das Denken durch den Begriff auf den Gegenstand, bei der zweiten Intention auf den Begriff selbst. Jedes Wort hat also zweierlei Bedeutung oder besser, nach der Auffassung des Averroes, jeder Gegenstand kann - etwa die phantasierten Gegenstände ausgeschlossen - zweierlei Existenz haben, eine Existenz innerhalb und eine Existenz außerhalb der Seele." (Ebenda, Einleitung, S. V.) Andererseits schreibt Averroes in seinem Großen Kommentar zu „De anima" die „intentio individualis" als bestimmte Wahrnehmungsform nicht dem Denken, sondern den Sinnen als ihr Gegenstand zu, die freilich diese dann dem Denkvermögen zu weiterer Aufnahme überlassen. Eine „intentio universalis" kann demgegenüber nur vom Intellekt erfaßt werden (vgl. Averrois Cordubensis Commentarium magnum in Aristotelis De Anima libros, hg. v. F. Stuart Craword,
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Cambridge/Mass. 1953, Buch II, Textkommentar 63-65, S. 225-228, in: Corpus commentariorum Averrois in Aristotelem. Versionum latinarum Volumen VI. 1). Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1043 b 23. Vgl. Aristoteles, Physikvorlesung, 200 b 32. Ebenda, 260 b 25. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1043a. „Natürliche Form" soll hier wohl heißen: Form eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes; die fingierte Materie verhält sich zur sinnlichen Materie wie die fingierte Form zur natürlichen Form. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) D. h. unter Berücksichtigung der Reihenfolge. Vgl. Aristoteles, De anima, 412 a 27: „Deshalb ist die Seele die vorläufige Erfüllung (εντελέχεια) des natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt." Vgl. Aristoteles, Physikvorlesung, Kap. II.2. Ebenda, 234 b 10. „species ultimae" oder „species specialissimae" sind diejenigen Spezies, die nicht auch noch Genera sein können. Eine Definition bzw. Kennzeichnung von ihnen müßte sich demnach auf die Angabe von nicht weiter spezifizierbaren Eigenschaften von Individuen beschränken. Vgl. dazu Aristoteles, De partibus animalium, 644 a 23; Porphyrios, Isagoge, S. 4 ff. (in dieser Ausg. S. 6 ff.). Sie ist nämlich die Gattung „prima materia", sie repräsentiert also die erste Materie. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Dieser Satz ist ein Unding, denn eine äquivoke Gattung ist eine contradictio in adiecto. Für Aristoteles ist Sein ein äquivokes Wort oder, wenn man will, ein äquivoker Begriff. Für ihn ist das Sein (wie das Eins) deshalb keine Gattung (Metaphysik, Β 3, 998 b 22), weil den spezifischen Differenzen (bei der Definition der Gattung) doch auch wieder die Prädikate Sein und Eins zukämen. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Hier gibt Averroes eine Darstellung von Metaphysik Ζ10; daß er hier zu kontradiktorischen Behauptungen kommt, kann nicht wundernehmen, vermag doch die aristotelische Theorie eine Unterscheidung zwischen Form und Materie nicht aufrechtzuerhalten. Rein verbal weicht Averroes etwas von Aristoteles ab, bei dem von allgemeiner Form (Gattung) und besonderer Form (Differenz) und von wesentlichen Materien nicht die Rede ist. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Weil die Atome quantitative Teile sind. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Mit dem Gedanken des Porphyrios über die Materie war Averroes wahrscheinlich nicht sehr vertraut. Porphyrios folgte wohl seinem Meister. Sein großes Werk „Περί ΰλης" ist verlorengegangen. Simplicius gibt ein Fragment daraus (vgl. Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores Commentaria, in: CAGIX, hg. v. H. Diels, Berlin 1882, S. 231). (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Dies ist nicht richtig. Mit diesen aristotelischen Begriffen ließe sich vielleicht noch die stoische Lehre bezeichnen (man vgl. Simplicii in Aristotelis Physicorum libros . . . , a.a.O., S. 227: „daß der qualitätslose Körper die Erste Materie sei"), nicht aber die platonische. Für die Platoniker war die Materie das Ausgedehnte selbst (vgl. Timaios 49a ff.). Die drei Theorien lassen sich etwa so einander gegenüberstellen: Für die Stoiker war die Materie etwas Räumliches, aber qaulitätsloses (όποιον) im Raum, der aber mit dieser Materie identisch ist (man vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos, X.3, in: Sexti Empirici
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Anmerkungen zu den Texten
opera, ed. H. Mutschmann, Vol. 2, Leipzig 1914, S. 303). Für die Platoniker war die Materie der Raum selbst. Für die Aristoteliker war die Materie etwas Unräumliches im Raum, der aber nur in Funktion von dieser Materie besteht. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Vgl. Aristoteles, Physikvorlesung, Kap. II.l. Die zwischen Klammern gesetzten Worte, die sich nur in dem Kairenser Text befinden, sind natürlich eine Glosse. (Anm. v. S. v. d. Bergh.) Vgl. Aristoteles, Physikvorlesung, 264 b 10 ff. Vgl. Aristoteles, Analytica posteriore, 76 b 3. Nach der Ausgabe I. Bekkers das 7. und 8. Buch. Die Araber fassen Buch α und Buch A zusammen und stellen α voran. (Anm. v. S. v. d. Bergh.)
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Nachwort Zur Geschichte des Universalienstreites Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik
I In dem Versuch, die Geschichte und Vorgeschichte des Universalienstreites zu periodisieren, sind die Autoren, die dies unternommen haben, zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangt.1 Dies liegt nun sicher schon in ihren unterschiedlichen Auffassungen darüber, was als das Wesen des Universalienstreites anzusehen sei, begründet. Doch auch in bezug auf die Frage, ob der Inhalt des Streites überhaupt einer historischen Wandlung und Entwicklung unterlegen habe oder nicht vielmehr ausschließlich als Ausfluß mittelalterlichen Geisteslebens zu bewerten sei, gehen die Meinungen auseinander.2 Weitgehende Übereinstimmung herrscht allerdings darüber, daß der Universalienstreit problemgeschichtlich auf die Auseinandersetzungen um die Ideenlehre Piatons zurückgeht 3 und die klassische Polemik des Aristoteles gegen diese für die weitere Geschichte des Problems maßgebend geworden ist. Sein Lösungsversuch des Problems, wie Ordnung, Strukturiertheit und Gesetzmäßigkeit in der Welt zu begründen sei angesichts des ständigen Werdens und Vergehens der sinnfälligen individuellen Dinge und Erscheinungen, hatte Piaton zur Postulierung urtypischer ewiger Einheiten von allgemeiner Geltung, d. h. der „Ideen", gelangen lassen, die abgetrennt von den singulären Dingen und für sie doch als unmittelbares Ordnungsprinzip dienend existieren sollten. Die Platonische Ideenlehre verdoppelt so konsequent die reale Welt und löst das reale Wechselverhältnis von Allgemeinem, Einzelnem und Besonderem in den Wechselbezug metaphysischer Entitäten auf. Die Welt der „Ideen" ist eine Welt von transzendenten begrifflichen Verallgemeinerungen von Dingen, Eigenschaften, Relationen und Werten, die hierarchisch gegliedert ist. Das Grundproblem von Piatons Philosophie bestand dann darin, die „Teilhabe" (methexis) der Dinge aus der Welt der „Vielheit" an den „Ideen" und der „Ideen" untereinander zu erklären. Piaton hatte dies als den Inhalt der „dialektischen Wissenschaft" und damit für ihn im wesentlichen auch der
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Philosophie benannt: „der Spezies nach zu unterscheiden wissen, inwiefern jedes in Gemeinschaft treten kann und inwiefern nicht" (Sophistes 253e). Hier liegt eine Formulierung des Universalienproblems als Problem der korrekten Verknüpfung von Spezies- und GenusbegrifFen vor. In diesem Zusammenhang ist für Piaton die These von dem Seienden als einem Oberbegriff charakteristisch, als einer „Idee", an der alles andere Anteil hat und die selbst an Verschiedenem Anteil hat (Sophistes 259a-b). Dieser „Idee" ordnete er jedoch noch die „Idee des Guten" über (Politeia 509b). Obwohl Piaton das Universalienproblem hauptsächlich als ein Problem der so gearteten Dialektik sah, verstand er es jedoch von Anfang an nicht nur als logischgnoseologisches, sondern eben auf Grund seiner Dialektik-Konzeption gleichermaßen als ein ontologisches Problem unter Einschluß der Werteproblematik. Alles Sein ist für Piaton wertbestimmt. Den verschiedenen Abstraktionsstufen sowie dem jeweiligen Besonderen und Einzelnen, das gegenüber den „Ideen" im Verhältnis der Unterordnung, der „Ähnlichkeit" und „Teilhabe" steht, weist Piaton jeweils einen höheren oder niederen Rang, geringeren oder größeren Wert in Abhängigkeit von der Nähe oder Ferne zu den „Ideen" zu. Als unmittelbarer Schüler Piatons übte Aristoteles prinzipielle Kritik an dessen Ideenlehre (vgl. Metaphysik, A 9). Einer der schwerwiegendsten Vorwürfe war, daß durch die Ideenlehre die Naturforschung ihren Sinn verliere, da diese Lehre nicht die Bewegung erklären könne (Metaphysik 992 b 7). Aristoteles stellte bewußt Sokrates als positives Vorbild seinem Schüler Piaton gegenüber: Sokrates habe das Verdienst, die Definition und das Allgemeine ohne ihre Transzendierung erklärt zu haben (Metaphysik 1078 b 27). Aristoteles war im Unterschied zu Piaton darum bemüht, die Strukturen der objektiven Realität, der Erkenntnis und der Sprache aus dem inneren Zusammenhang des jeweiligen genau umrissenen Seinsbereiches zu erklären. Für ihn ist überall die „Natur" der Dinge der entscheidende Erklärungsgrund ihres konkreten Verhaltens, ihres Wesens und der allgemeinen Strukturen, die ihnen zugrunde liegen. Er lehnte die Ideenlehre ab und hob gleichzeitig die Bedeutung der tatsächlichen Existenz des Allgemeinen in der Form der Mittelbegriffe im Syllogismus hervor: „Gäbe es kein Allgemeines, so würde kein Mittleres sein und folglich auch kein Beweis."4 Eine Standarddefinition des Allgemeinen unter logisch-sprachlichem Aspekt lautet bei Aristoteles: „das Allgemeine aber ist dasjenige, was geeignet ist, über mehreres prädiziert zu werden."5 In der Gnoseologie trennte er scharf zwischen der sinnlichen Erkenntnis der singulären Dinge und der wissenschaftlichen nicht-sinnlichen Erkenntnis des Allgemeinen. 6 Für den Erkenntnisprozeß nennt er zwei charakteristische Hauptwege: zum einen den Weg der Abstraktion des Allgemeinen aus dem sinnlichen Einzelnen 7 , zum anderen den Weg des Fortschreitens vom undifferenzierten Allgemeinen zum konkreten Einzelnen. 8 Gegen Piaton verneint Aristoteles, daß das Allgemeine „Wesen" (ousia) - d. h. etwas Unabhängiges und selbständig für sich Existierendes - sei: „weder das Allge-
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meine noch das Genus ist ein Wesen". 9 Doch in seinem Werk „Kategorien" behandelte er die Genera und Spezies ausdrücklich als „zweite Wesen". 10 Damit sprach er die prädikative Funktion der Genera und Spezies gegenüber den „ersten Wesen", d. h. den Individuen, an und hob die abgeleitete Stellung des Allgemeinen gegenüber dem Einzelnen hervor. Diese Aussagen widerspiegeln das Problembewußtsein des Aristoteles, beinhalten aber auch gewisse Ambivalenzen in der Bestimmung von „ousia" (Wesen, aber auch: Substanz), die zu späteren Komplikationen bei der Interpretation seines Systems führten. In seiner Schrift „Von den Teilen der Tiere" wendete Aristoteles bewußt die Methode der Diärese (d. h. die Methode der bis zur untersten Spezies fortschreitenden Einteilung eines Genus in zueinander disjunkte Spezies) als Klassifikationsmethode für die Genera und Spezies der Lebewesen an 1 1 , ohne jedoch zu versäumen, an Piatons schematischer Verwendung dieser Methode Kritik zu üben. Er definierte das „Allgemeine" in dieser Schrift so: „Das Allgemeine ist das Gemeinsame. Denn was mehrerem zukommt, nennen wir das Allgemeine." 12 Seiner Ansicht nach ist also der gemeinsame Besitz von bestimmten Merkmalen konstitutiv für die Existenz von Genera und Spezies. Rein negativ bestimmte Gemeinschaften hielt er nicht für Spezies und Genera. Das „Allgemeine" bezeichne prinzipiell ein „SoBeschaffenes", meint Aristoteles. 13 Bei Aristoteles erhält das „Allgemeine" den Charakter eines zugleich Für-sichSeienden und An-anderem-Seienden: es ist weder den Dingen selbst inhärent, noch in schroffer Abtrennung von ihnen existent; genausowenig wie das „Allgemeine" ein „Wesen" (ousia) oder eine Platonische „Idee" sein soll, soll es „Akzidens" sein. 14 Aus den bisher dargelegten Positionen und Auseinandersetzungen läßt sich nun die allgemeine Fragestellung gewinnen, die als das eigentliche Universalienproblem anzusprechen ist: Worin bestehen Wesen, Existenz und die innere Struktur des Allgemeinen, d. h. des Gemeinsamen, das sämtliche Dinge von bestimmter Beschaffenheit zu einer Einheit zusammenführt? Die Stellung und Beantwortung eines solchen Problems ist jedoch erst auf der Basis eines entwickelten System- und Strukturdenkens möglich, das die Welt als Ganzes und die Bereiche der belebten und unbelebten Natur, der menschlichen Gesellschaft, der Sprache und des Denkens für innerlich differenziert und gleichzeitig objektiv geordnet ansieht. Mit dem antiken Atomismus, mit Piatons Idealismus und der aristotelischen Philosophie war die Stufe des theoretischen Denkens erreicht, die das Erfassen der Universalienproblematik ermöglichte. Der „Logos"-Begriff des Heraklit wie auch der eines „Nous" (Anaxagoras) oder „Eins" (eleatische Philosophie) konnten dies u. E. noch nicht leisten, da sich in ihnen primär die Gegenüberstellung bzw. unorganische Verknüpfung des Einen und Vielen ausdrückte. Die demokritische These von der jeweiligen konkreten Existenz sowohl des Seienden als auch des Nicht-Seienden im Kosmos eröffnete die Möglichkeit, das Allgemeine als Einheit des Verschiedenen zu begreifen. Mit der Überwindung eines im Hylozoismus befangenen Denkens konnte
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auch das dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem in den Blick kommen. Nicht nur ontologisch-kosmologische und logisch-gnoseologische Aspekte dieses Wechselverhältnisses sind für die damalige griechische Philosophie relevant. Vielmehr gehört in die Phase der Herausbildung des Universalienproblems ebenso die Ethik und Gesellschaftslehre. Denn seit der sophistischen Aufklärungsbewegung des 5. Jahrhunderts v.u.Z. rückte die Frage nach dem Wesen des Menschen, nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Naturgegebenem und menschlicher Einrichtung Entsprungenem in das Zentrum der philosophischen Diskussionen. 15 Den idealen Menschentypus, die Herkunft und Gültigkeit der allgemeinen ethischen und juristischen Normen und Werte sowie die Ursachen für die Zugehörigkeit der Menschen zu verschiedenen Gruppen zu begründen, wurde seitdem zu einer Hauptaufgabe der Philosophie. Die Problematik der PhysisNomos-Antithese, die in den sophistischen Diskussionen ausführlich behandelt wurde, kehrt in den Diskussionen zum Universalienproblem immer wieder: existiert das Allgemeine von Natur aus oder auf Grund menschlicher Setzung oder auch auf Grund göttlicher Schöpfung? Unter dem Allgemeinen sind dabei nicht nur die Klassen von Dingen, sondern auch die in der Gesellschaft gültigen Normen und Werte zu verstehen. Hierhin gehört auch das Problem der sprachlichen Bedeutung, des logischen Definierens und Beweisens. Piatons Ideenlehre war so angelegt, daß sie auf alle genannten Probleme und Problemkomplexe eine Antwort finden wollte. Es ist hervorzuheben, daß weder hinsichtlich der Terminologie (ζ. B. hinsichtlich der zentralen Termini „Individuum", „Genus" und „Spezies") noch hinsichtlich der Polarisierung der Standpunkte etwa Piaton, Aristoteles, Protagoras, Demokrit, der Kyniker Antisthenes, der Kyrenaiker Aristippos und der Megariker Stilpon bereits eindeutig entweder einem „Realismus" oder einem „Nominalismus" zuzuordnen wären. Diese verschiedenen Grundrichtungen im Universalienstreit hatten sich noch nicht konstituiert. Die Polemik von Sokratikern gegen die Ideenlehre Piatons ist oftmals aus einer einfachen Verachtung logischer Untersuchungen bzw. einer prinzipiell antiplatonischen Einstellung geboren. Das genügt noch nicht, dieses als ein nominalistisches Herangehen zu bezeichnen. Selbst Piatons philosophischer Entwicklungsweg ist nicht einfach unter die Rubrik „Universalienrealismus" einzuordnen. Seine Altersschriften offenbaren gerade sein kritisches Verhältnis zur eigenen Ideenlehre, die erst später kanonisiert wurde. Die in der hellenistischen Philosophie typische Gegenüberstellung des Ideals des „Weisen" und der undifferenzierten Masse der Menschen (der „Vielen") zeugte von dem nicht geklärten Problem der personalen Individualität des Menschen. Nach dem heutigen Erkenntnisstand war der lateinische Philosoph Boethius der erste, der eine philosophische Bestimmung des Terminus „Person" gab.16 Erst mit der Anerkennung der personalen Individualität eines jeden Menschen, unabhängig von seiner sozialen Stellung, konnte die Universalienfrage auch bezüglich des
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Menschen als ausgereift angesehen werden. Erst dann konnte die Gattung bzw. Spezies Mensch als ein wirkliches Gemeinsames, das vieles Verschiedenes zu einer Einheit zusammenfaßt, begriffen werden. Erst dann konnte jeder einzelne Mensch als Vertreter seiner Gattung bzw. Spezies und nicht nur als Repräsentant eines Idealtypus, eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Schicht oder Menge angesehen werden. Doch damit sind gleichzeitig die Grenzen antiken philosophischen Denkens markiert. Das allmähliche Vordringen zum Erfassen der konkreten Individualität des Menschen und der Dinge der Natur in der hellenistischen Philosophie trug dennoch zur weiteren Präzisierung des Universalienproblems bei.
II Der skeptische Philosoph Sextus Empiricus (Ende des 2. Jahrhunderts u. Z.) nannte als ein Kennzeichen der Philosophie der „Dogmatiker" - bei ihm die Vertreter der peripatetischen, epikureischen und stoischen Schulphilosophie daß sie das Seiende in oberste Genera, unterste Spezies und in das einteilen, was sowohl Genus wie auch Spezies ist.17 Er verknüpfte in seiner Kritik an den „dogmatischen" Auffassungen über die Genera und Spezies das Universalien-, das Existenz- und das Wahrheitsproblem miteinander. Kennzeichnend für den Existenzbegriff der damaligen Philosophie ist die Aussage des Galenos, eines Zeitgenossen des Sextus Empiricus, daß bei allen Griechen „sein", „existieren" und „bestehen" dasselbe bedeuten. 18 Ausgehend von diesem Existenzbegriff zog Sextus die Existenz (ύπόστασις) allgemeiner Genera, Spezies und Akzidentien direkt in Zweifel.19 Als Argument diente ihm dabei, daß der Gemeinname „Mensch", wird er als Subjektvariable gebraucht, keine eindeutig wahren oder falschen Aussagen ergäbe: denn wenn für „Mensch" im Satz „Mensch geht" einmal „Dion" eingesetzt wird, der aber in Wirklichkeit sitzt, ein andermal aber „Theon", der tatsächlich geht, so ergibt sich für den einen Fall eine falsche und für den anderen Fall eine wahre Aussage; folglich ist der vermeintliche Gemeinname „Mensch" jedesmal ein anderer, und in Dion und Theon als zwei Individuen kann also nicht ein und dasselbe Menschentum enthalten sein.20 Die hiermit aufgezeigte vermeintliche Widersinnigkeit der Annahme universeller Subjekttermini ist für Sextus ein hinreichender Grund, die Wirklichkeit oder auch nur die Möglichkeit der realen Existenz von Genera oder Spezies in Abrede zu stellen. Die Hauptgegner des Sextus unter den „Dogmatikern" sind immer wieder die Stoiker. Als Angriffspunkt diente ihm unter anderem die bei den späteren Stoikern verbreitete Annahme der Existenz von Spezies des Unkörperlichen. Sextus führt vier Arten des Unkörperlichen auf, welche die Stoiker angenommen hätten: die Aussagebedeutung (λεκτόν), das Leere (κενόν), den Ort (τόπος) und die Zeit (χρόνος).21 Wenn Sextus diese Annahme bestreitet, so noch mehr die von der
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Existenz eines universellen „Etwas" (τι) durch die Stoiker, das oberstes Genus aller körperlichen und unkörperlichen Dinge sein solle.22 Damit hatte Sextus ein wesentliches Dilemma stoischen Philosophierens gestreift: bei grundsätzlich sensualistischem Ansatz in bezug auf die Erklärung der Anfangsbedingungen der Erkenntnis verstärken sich im Laufe der Entwicklung der stoischen Philosophie immer mehr die aprioristischen Elemente in der Erkenntnistheorie. Das Herangehen der Stoa an das Individuenproblem brachte ebenfalls nicht unerhebliche Komplikationen: die singulären Dinge konnten nach stoischer Auffassung erst dadurch entstehen, „daß ein Teil der Hyle qualitativ bestimmt wird und durch das Hinzutreten einer Eigenschaft ein Sosein erhält, das seine Verschiedenheit von anderen Dingen bewirkt".23 Damit waren die Individuen letztlich zu Momenten des allgemeinen stoischen „Logos" geworden und hatten ihre natürliche Priorität eingebüßt. Sowohl der spürbar zunehmende Apriorismus in der stoischen Erkenntnistheorie wie das Dilemma in der Begründung der realen Individualität sprechen gegen die Behauptung C. Prantls und anderer Autoren vor und nach ihm, daß sich bei den Stoikern „die erste nominalistische Ontologie" bildete. 24 Die Aktualität des Universalienproblems in den hellenistischen philosophischen Schuldebatten beweisen auch die Schriften des bedeutenden Aristoteleskommentatoren Alexander von Aphrodisias (Anfang des 3. Jahrhunderts u. Z.). Gerade die spätantike Peripatetik stimulierte die Diskussion um das Universalienproblem. Alexanders Position in dieser Frage erhält dadurch ein besonderes Gewicht, daß sie maßgeblich die philosophischen Lehrmeinungen im spätantiken Neuplatonismus sowie in der lateinischen und arabischen Philosophie des Mittelalters prägte. Im Kommentar Alexanders bzw. Pseudo-Alexanders zur „Metaphysik" des Aristoteles 25 liegt der Akzent der Ausführungen auf der Verteidigung solcher zentraler aristotelischer Thesen wie: daß weder das Allgemeine noch das Genus ein Wesen ist; daß nichts von dem, was gemeinsam ausgesagt wird, ein Dieses, sondern alles nur ein Solches bezeichnet. 26 Diese beiden Thesen des Aristoteles enthalten eine antiplatonische Spitze, welche auch Alexander von Aphrodisias in seinem Kommentar beibehält und verschärft. Er bemüht sich, der realen physischen Individualität nicht nur den gnoseologischen, sondern auch den ontologischen Primat zuzusprechen. Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge und Individuen gelten darum für Alexander als „Wesen in allerhöchstem Maße" (μάλιστα ούσίαι).27 Hier schließt sich mit Konsequenz die Interpretation der Materie als Individuationsprinzip an: „Wovon die Materie verschieden ist, das ist auch der Zahl nach verschieden."28 Alexander hebt hervor, daß nichts, was dem Begriff des Menschen angehört, ein für sich und getrennt von den Individuen existierendes Wesen ist und auch nicht in einem anderen, d. h. der „Idee", existiert.29 Nicht ein Verhältnis der Teilhabe verbinde die Individuen mit der ihnen zukommenden wesensbestimmenden Spezies, sondern die Spezies selbst seien auf Grund der Identität von Individuen- und Speziesnatur den Individuen „zugeteilt".30 Für den überzeugten Aristoteliker Alexander besteht
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ein mehrfaches Verbot: die Spezies können weder in den Individuen sein (vgl. Aristoteles, Kategorien, Kap. 5), noch können die Individuen und Spezies an der über ihnen stehenden Spezies bzw. dem darüberliegenden Genus im platonischen Sinne nur „teilhaben", noch kann den Universalien einfach eine für sich seiende Existenz zugesprochen werden. Daraus ergibt sich für Alexander der Schluß: „Die Universalien existieren nicht; denn falls die Universalien in Wirklichkeit und für sich sind, wären auch ihre Daseinsgründe universell: denn falls ein allgemeiner Mensch existiert, gehörte sein Daseinsgrund auch zu den Universalien, und schließlich gäbe es von der Silbe ,βα' das Universale ,Beta' - es existiert jedoch nicht." 31 Unter „Existenz" wird hier das Für-sich-Sein außerhalb des Denkens verstanden. Die Universalien sind nicht Seiendes, sagt Alexander, sondern sie besitzen das Sein im Gedanken. 32 Als Quintessenz der Erörterung Alexanders zum Universalienproblem kann seine Feststellung gelten, „daß die Genera, die Spezies und die Universalien ganz allgemein keine Wesen (Substanzen) sind, sondern Gleichnisse, Ebenbilder (ομοιώματα) der singulären Dinge, mit einem Worte bestimmte Qualitäten".33 Er zieht einen Trennungsstrich zwischen dem, was in der Peripatetik als „Natur" bzw. „An-und-Für-sich-Sein" gilt und den Universalien.34 Aus der klaren Akzentuierung antiplatonischer Positionen der Peripatetik entwickelte Alexander Orientierungen zur Lösung des Universalienproblems, die klar in nominalistische Richtung weisen.35 Solche grundsätzlichen Orientierungen sind: a) die sinnlich wahrnehmbaren materiellen Individuen besitzen den ontologischen Primat vor allem Universellen; b) den wesensbestimmenden Genera und Spezies wird das Für-sich-Sein außerhalb des Denkens, d. h. die Existenz, abgesprochen; c) die Aktualisierung der Genera und Spezies erfolgt im und durch das Denken vermittels der Bildung von „Ebenbildern" zu den individuellen Dingen sowie den Akt der Prädikation. Die in arabischer Sprache überlieferten Schriften des Alexander von Aphrodisias sind weitaus zahlreicher als die in griechischer oder lateinischer Sprache erhaltenen. 36 Zu diesen Schriften, die Alexander oder zumindest seinem Schülerkreis zuzuschreiben sind, gehören auch zwei kurze Abhandlungen zum Problem des Wesens der spezifischen Differenz (differentia specifica). Es handelt sich dabei einmal um die „Abhandlung des Alexander speziell über das Unterschiedsmerkmal und was es ist" und einen Text mit dem Titel „Abhandlung des Alexander darüber, daß die Merkmale, durch die eine Gattung abgeteilt wird, nicht notwendig allein in jener Gattung, welche sie abteilen, vorhanden sein müssen, sondern daß es vielleicht möglich ist, daß durch sie mehrere Gattungen, die nicht auseinander hervorgegangen sind, abgeteilt werden". 37 Von Bedeutung für das Universalienproblem ist in diesen Abhandlungen, daß Alexander durchgängig zwischen „ersten Genera" und „zweiten Genera" unterscheidet, wobei die ersteren nur aus Form, die letzteren aber aus Stoff (Materie) und Form bestünden. Die aristotelischen 10 Kategorien
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haben ebenfalls den Rang oberster Genera. Die spezifischen Differenzen der „ersten Genera" sind nun selbst Spezies und deren Spezies sind die spezifischen Differenzen: zum Beispiel sei das Kontinuierliche sowohl Merkmal der Quantität wie auch selbst Quantität. 38 Dieser Verselbständigung von Eigenschaften zu Spezies liegt das Prinzip zugrunde, daß die spezifische Differenz eine stoffliche Form sei, aus der die stofflichen Formen gebildet werden. 39 Diese Verselbständigung gilt aber für Alexander von Aphrodisias bei den „zweiten Genera", d. h. den aus Stoff und Form zusammengesetzten Genera, nicht mehr: hier bildet die spezifische Differenz die in dem gemeinsamen Stoff eines Genus existierende Form, die erst die Spezies voneinander unterscheidbar macht. 40 Alexander schließt grundsätzlich die Aufnahme von Gegensätzen durch die Genera, Spezies und Merkmale aus: ihr Charakter als Allgemeines gestatte das nicht, nur die singulären Dinge nähmen Gegensätze auf. 41 Die ersten Substanzen, denn um diese handelt es sich hier, gelten für Alexander als Einheiten von Verschiedenem, Gegensätzlichem, d. h. also als Konkretum. Demgegenüber versteht er unter dem Allgemeinen hier nur das abstrakt Allgemeine, dessen Besonderes und Einzelnes ausschließlicher Repräsentant bestimmter Eigenschaften („Formen") ist, unter Ausschluß innerer Gegensätze. Damit kommt eine metaphysische Trennung zwischen dem konkreten Einzelnen und den Genera und Spezies sowie den spezifischen Differenzen als dem Allgemeinen zustande. Der Grund liegt in Alexanders Annahme von undefinierbaren, a priori gegebenen spezifischen Differenzen, den substantiellen Formen. Ihre Existenz läßt Alexander indes nur in enger Bindung an die bestimmten Genera und Spezies gelten und vermeidet so ihre Gleichsetzung mit den Platonischen Ideen 42 In den genannten Abhandlungen faßt Alexander die Genera, Spezies und spezifischen Differenzen lediglich als Aussageformen. 43 Das Moment des Form-Apriorismus scheint in einer anderen arabisch überlieferten Schrift Alexanders zurückzutreten, in der er gegen die Meinung des Xenokrates polemisiert, daß die Spezies eine natürliche Priorität vor dem Genus habe 44 In die hellenistische Zeit fällt auch die Schrift „Über das Begriffsgefüge oder die zehn Kategorien" des Pseudo-Archytas. Thomas Alexander Szlezäk, der sie kritisch ediert und übersetzt hat, datiert sie in das 1. Jahrhundert v. u. Z. und sieht in ihr „das früheste Beispiel der Verbindung von aristotelischer Kategorienlehre und platonischer Metaphysik" 45 Vorangegangen war eine unaufhörliche Polemik der Stoiker und Platoniker gegen das Kategoriensystem des Aristoteles 4 6 Die Platoniker monierten besonders, daß dieses Kategoriensystem nicht das Verhältnis von Ideenwelt und Wahrnehmungswelt erklären könne. Erst im 3. Jh. u. Z. verstummte ihre Kritik. Pseudo-Archytas brachte nun einige Korrekturen am System des Aristoteles in pythagoreisch-platonischer Richtung an, akzeptierte es aber insgesamt, u. a. auch wegen der für die pythagoreische Lehre bedeutsamen Zehn-Zahl der Kategorien. Er interpretierte das Aristotelische Kategoriensystem so, daß es sowohl die sinnlich wahrnehmbare Welt (die physischen Wesen) als auch die intelligible Welt (die intelli-
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giblen Wesen) zum Gegenstand habe. Jedoch schränkt er die Gültigkeit der Kategorien für diese beiden Welten ein, indem er für die intelligible Welt nur die Kategorie „Substanz" gelten läßt, hingegen für die physische Welt sämtliche 10 Kategorien, die dem Menschen in seinem Denken wie auch allen natürlich wahrnehmbaren Substanzen angeboren seien.47 Für „Kategorie" verwendet Pseudo-Archytas unter anderem den synonymen Ausdruck „das allgemein Bezeichnete" und deutet damit auf den Kontext zum Universalienproblem hin. 48 Besondere Bedeutung erhielt diese Schrift später dadurch, daß sie vom Neuplatoniker Iamblichos (um 283 bis um 330) offiziell in die Erklärung des Aristoteles eingegliedert wurde und dem Neuplatoniker Simplikios (1. Hälfte des 6. Jahrhunderts) als Argument dafür diente, daß der zu den älteren Pythagoreern zählende Archytas (um 400-365 v.u.Z.) noch vor Aristoteles die grundlegende Einteilung in 10 Genera geschaffen habe, welche dann Piaton und Aristoteles übernommen hätten. 49 Auf diese Weise konnten die Neuplatoniker das Aristotelische Kategoriensystem für ihre Zwecke aufbereiten. In das späte 6. Jahrhundert u. Z. fällt nach ihrem Herausgeber Τ. A. Szlezäk eine Schrift, die die damals verlorengegangene Schrift des Pseudo-Archytas aus dem 1. Jahrhundert v.u.Z. wiederherstellen wollte, die Καθολικοί λόγοι δέκα (Die zehn allgemeinen Begriffe).50 In ihr werden mittels einer Diärese alle Aristotelischen Kategorien aus dem „Seienden" abgeleitet und sodann selbst wieder einer Diärese unterworfen.51 Damit war eine alte Forderung der Aristoteleskritiker und -kommentatoren eingelöst worden, die Kategorien des Aristoteles konsequent als Klassen aufzufassen, was bei Aristoteles in der Tat nicht der Fall gewesen war.
III Mit dem Entstehen des spätantiken Neuplatonismus erhält die Diskussion des Universalienproblems neue Impulse. Der Versuch, das philosophische, einzelwissenschaftliche und theologische Erbe der Antike unter dem programmatischen Ziel der Vereinigung von Peripatetik und Platonischer Schulphilosophie zusammenzufassen, führte unweigerlich auch zu weiteren Diskussionen über das Universalienproblem. Plotinos (204-270), einer der ersten bedeutenden Vertreter des spätantiken Neuplatonismus, hatte einen Teil seiner Schriften dem Problem der „Gattungen des Seienden" gewidmet (Enneaden VI, 1-3). Plotinos war einer der letzten antiken Philosophen, die das Kategoriensystem des Aristoteles ablehnten. Dies kommt in der genannten Schrift klar zum Ausdruck. Durch die dualistische Gegenüberstellung von sinnlicher und intelligibler Welt verlieren die 10 Kategorien des Aristoteles wegen ihrer nicht eindeutigen Zuordenbarkeit zu jeder dieser beiden Welten ihren Sinn. An ihre Stelle wollte Plotinos ein duales Kategoriensystem setzen: eines für die sichtbare und eines für die intelligible Welt. Doch Aristoteles' System erwies sich weiter als das dominierende.
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Der Schüler, Biograph und Interpret der Schriften des Plotinos hingegen, der Neuplatoniker Porphyrios (ca. 232 - nach 300), verknüpfte in zwei überlieferten Schriften über Aristoteles' „Kategorien" das Universalien- mit dem Kategorienproblem bei prinzipieller Befürwortung von Aristoteles' Herangehen: zum einen in dem Kommentar zu den „Kategorien" nach der Frage-Antwort-Methode, zum anderen in einer systematischen Einfuhrungsschrift („Isagoge") zu demselben Werk des Aristoteles.52 In seinem Kommentar behauptete Porphyrios zunächst, Aristoteles' Werk handele „von den einfachen, Bedeutung tragenden Wörtern, insofern sie Dinge bedeuten, jedoch nicht von den sich zahlenmäßig voneinander unterscheidenden, sondern den sich dem Genus nach unterscheidenden: denn sowohl die Dinge (πράγματα) als auch die sprachlichen Ausdrücke (λέξεις) sind der Zahl nach fast unendlich". 53 Die „Kategorien" des Aristoteles behandeln also die Genera bzw. die genusbildenden Differenzen sowohl für Wörter als auch mittelbar für Dinge bzw. „das Seiende". Die primäre Referenz der Aristotelischen Kategorien auf die Wörter mit „erster Imposition" (πρώτη θέσις) im Unterschied zu denen mit „zweiter Imposition" (δευτέρα θέσις) wird von Porphyrios ausdrücklich unterstrichen. Wörter bzw. Nomen mit „erster Imposition" (ζ. Β. „Mensch", „Tier") bezeichnen die Dinge direkt, während solche von „zweiter Imposition" (ζ. Β. „Nomen", „Verb", „sinnbildlicher Ausdruck") „die Art des sprachlichen Ausdrucks" (τύπος της φωνής) bezeichnen. 54 Aus den 10 Kategorien, die die obersten, nichtdefinierbaren und nur aufzählbaren Genera darstellen, leiten sich die jeweiligen Genera und Spezies der Dinge ab, die Porphyrios in „eigentümliche" und „akzidentielle" einteilt, von denen die ersteren über die Individuen als ihnen Zugrundeliegendes ausgesagt werden, während die letzteren in den Individuen selbst seien. 55 Als notwendige Vermittlungsebene zwischen den an sich homonymen Kategorien und den unmittelbaren Genera und Spezies der Dinge führt Porphyrios eine Einteilung in 4 Klassen ein, die er als „geringste" Einteilung der Genera sowohl des Seienden als auch der dieses bezeichnenden Wörter versteht: universales Wesen, partikuläres Wesen, universales Akzidens, partikuläres Akzidens. 56 Damit wird das Wesen-Akzidens-Verhältnis und das Universales-Partikuläres-Verhältnis als Unterscheidungsmittel für die Genera und Spezies des Seienden als auch die unterschiedlichen Klassen von Subjekten und Prädikaten benutzt. Alle "eigentümlichen Genera und Spezies" fallen in die Rubrik „universales Wesen" - was den von Aristoteles in den „Kategorien" besprochenen „zweiten Wesen" entspricht -, während die „akzidentellen Genera" unter die Klasse „universales Akzidens" fallen - was bei Aristoteles dem entspricht, „was über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird und in einem Zugrundeliegenden ist". Als „partikuläres Akzidens" versteht Porphyrios schließlich bestimmte akzidentielle Spezies, was bei Aristoteles dem entspricht, „was nicht über ein Zugrundeliegendes ausgesagt wird, jedoch in einem Zugrundeliegenden ist". Die Klasse „partikuläres Wesen" entspricht schließlich bei Aristoteles den „ersten
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Wesen", die weder über ein Zugrundeliegendes ausgesagt werden, noch in einem Zugrundeliegenden sind. 57 Porphyrios hat damit gleichzeitig den Begriff des Genus und der Spezies auf die Sphäre der Akzidentien ausgedehnt. Den „eigentümlichen" Genera und Spezies spricht Porphyrios nun größte „Ähnlichkeit" (όμοιότης) mit den „ersten Wesen" zu, woraus die synonyme Prädizierbarkeit der ersteren über die letzteren folge.58 Nur für diesen Fall der Prädizierung der „eigentümlichen" Genera und Spezies, ζ. B. „Lebewesen" oder „Mensch", über die ihnen zugrunde liegenden Individuen gesteht Porphyrios die Synonymität zu, d. h. im aristotelischen Sinne die Einheit von Benennung und Wesenscharakteristik. Sowohl die 10 Kategoriennamen für sich genommen als auch die akzidentiellen Genera und Spezies werden nach Porphyrios homonym prädiziert, d. h. daß Benennung und Wesenscharakteristik für bestimmte Dinge bei ihnen gerade auseinanderfallen. Die von Plotinos monierte Homonymie der Aristotelischen Kategorien wird also auch von Porphyrios vertreten, jedoch ausgeglichen durch die Ableitung der unterschiedlichen Klassen von Genera und Spezies aus den Kategorien. Ein zusätzliches komplizierendes Moment kommt dadurch hinzu, daß er den eigentlich synonym prädizierbaren Genera bzw. Spezies auch noch eine Homonymität zuspricht. Der Speziesname „Mensch" steht zum Beispiel für Dinge, denen nur der Name „Mensch", aber nicht auch jeweils ein und derselbe Begriff zukommt: denn sowohl der lebendige Mensch, eine menschliche Statue als auch das Bild eines Menschen könne damit gemeint sein. Durch das Denken würden diese „homonymen Dinge" mittels eines Ähnlichkeitsbezuges aufeinander bezogen. 59 Der sogenannte Ähnlichkeitsbezug (όμοιότης) kann also sowohl synonym und homonym gebrauchten Namen als auch den Dingen selbst oder auch dem Verhältnis von Denken und außermentaler Realität zukommen. Er bildet ein Element der Universalienlehre des Porphyrios. Ein weiteres bildet der neuplatonische Leitsatz, daß Allgemeines als Allgemeines nicht Teil eines Individuums sein kann; vielmehr sei das Individuum mit dem Allgemeinen durch die Teilhabe an diesem verbunden. 60 Weiter setzt Porphyrios das In-einem-Zugrundeliegenden-Sein der Akzidentien gleich mit dem Enthaltensein einer Form in einer Materie.61 Ferner muß eine Spezies nicht über aktual zahlenmäßig Vieles ausgesagt werden, sondern für das Vorhandensein einer Spezies genügt schon die Möglichkeit, einem ersten Vertreter in ununterbrochener Folge weitere von der gleichen Spezies anzuschließen. 62 Das Dilemma neuplatonischen Denkens kommt in Porphyrios' Antwort auf die Frage nach dem Charakter der den Titel „erste Wesen" tragenden Einheiten zum Ausdruck: hinsichtlich der in Aristoteles' „Kategorien" diskutierten Bedeutung tragenden Wörter gilt der Primat der sinnlich wahrgenommenen Individuen; jedoch besitzen „von Natur aus" „die geistigen individuellen Wesen, d. h. der intelligible Gott, der Geist und die Ideen" den Primat der „ersten Wesen".63 Somit muß Porphyrios in Konfrontierung mit Aristoteles' Begriff von den „ersten Wesen" einen dualen Maßstab für die Hierarchie der Genera und Spezies annehmen, was gegenüber dem
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Herangehen des Alexander von Aphrodisias eine Inkonsequenz wie auch eine Hinwendung zum platonischen Apriorismus der „Ideen" bedeutete, deren Existenz Porphyrios noch offen läßt. Die das Wesen der Dinge bestimmenden Genera und Spezies verharren so in einer eigenartigen Schwebelage zwischen der Welt des Sinnlichen und der des Intelligiblen. Der Lateiner Boethius (vgl. weiter unten) folgte später in seinem Kommentar der Aristotelischen „Kategorien" bis zu wörtlichen Anlehnungen diesem hier untersuchten Kommentar des Porphyrios, allerdings durch die Einbeziehung eigener Interpretationen, die neue Fragen aufwarfen. Auch die andere heute noch erhaltene Schrift des Porphyrios zu den „Kategorien", die „Einfuhrung" („Isagoge") zu den „Kategorien", prägte entscheidend den weiteren Verlauf des Universalienstreites.64 Die in der Präambel genannten drei Problemfragen zum Wesen und der Existenzweise der Genera und Spezies brachten eine entscheidende Zuspitzung des Universalienproblems. Auch in dieser Schrift setzt Porphyrios die Kategorien des Aristoteles als 10 erste Genera an die Spitze einer Hierarchie und verleiht ihnen außerdem den Charakter von „bestimmenden Prinzipien" (άρχαί). Er entwickelte dabei die von Aristoteles in der „Topik" (Buch I, Kap. 4-9) dargestellte Lehre von den Prädikabilien weiter. Denn gegenüber den von Aristoteles behandelten Prädikabilien Definition, Genus, Proprium und Akzidens behandelt Porphyrios insgesamt sechs: Genus, Differenz, Spezies, Proprium, Akzidens und Individuum. Damit sind die Prädikabilien nicht schlechthin als Klassen aufzufassen, sondern als Modi des Prädizierens. Doch mit Verweis auf Piaton schließt Porphyrios die Individuen wieder aus der Hierarchie der Genera und Spezies aus und unterstreicht auf diese Weise doch wieder die klassifikatorische Absicht seiner Schrift.65 Dieser Doppelcharakter der Prädikabilien als modale und klassifikatorische Begriffe und insbesondere die Stellung der Individuen zu ihnen haben später mannigfache kontroverse Debatten unter den Kommentatoren der „Isagoge" ausgelöst. Während die fünf Prädikabilien Genus, Differenz, Spezies, Proprium und Akzidens in einer strengen, a priori gegebenen hierarchischen Ordnung und Rangfolge existieren, ist Individualität für Porphyrios nur in der diffusen Gegenwelt des unbegrenzt „Vielen" zur idealen „Welt" der zuvor genannten Einheiten existent. Es muß auch auffallen, daß Porphyrios in der „Isagoge" im Unterschied zum „Kategorien"-Kommentar nicht von „akzidentiellen Genera und Spezies" spricht. Durch die lateinischen, arabischen, syrischen und armenischen Übersetzungen der „Isagoge" fand diese Schrift des Porphyrios eine schnelle Verbreitung und wurde zu einem Hauptdiskussionsgegenstand der Philosophen und philosophierenden Theologen im Mittelalter. *
Für die weitere Entwicklung der Problematik der Universalien ist der Kommentar des Neuplatonikers Dexippos (4. Jahrhundert u. Z.), eines Schülers des Iamblichos,
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zu den „Kategorien" des Aristoteles bedeutsam. 66 In ihm setzte sich Dexippos die Verteidigung des aristotelischen Ansatzes gegen Plotinos' Einwände zum Ziel. Auch er behandelte das Kategorienproblem gemeinsam mit dem Universalienproblem. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, ob die Kategorien entweder Wort, Ding oder Gedanke (φωνή, πρδγμα, νόημα) sind.67 Diese Untergliederung lehnt sich an die stoische Semantik an, die zwischen dem Bezeichnenden, dem Bezeichneten und dem außerhalb des Denkens Existierenden als den semantischen Momenten eines sinnvollen Ausdruckes unterscheidet. 68 Doch Dexippos versteht in diesem Kommentar unter „Ding" nicht wie die Stoiker das im Denken erfaßte, sondern das außerhalb des Denkens existierende und vermittels des Gedankens durch das Wort bezeichnete Objekt.69 Damit versuchte er einen Kompromiß zwischen stoischer und aristotelischer Semantik. Gegenüber Porphyrios' Auffassung von den Kategorien als Genera entwickelte Dexippos eine andere Ansicht: Kategorien und Genera stimmen hinsichtlich des für beide geltenden Bezuges auf ein Zugrundeliegendes überein; sie unterscheiden sich aber darin, daß die Kategorien „Wörter", die Genera hingegen „Naturen" (φύσεις) seien. Alle Genera, Spezies, Differenzen und Identitäten würden dabei auf zehnfach verschiedene Weise entsprechend der Bedeutung der Kategorien ausgesagt.70 Interessant ist Dexippos' Unterscheidung zwischen dem Prädikat „Spezies-sein" bzw. „Genus-sein" und der Prädikation einer bestimmten Spezies oder eines bestimmten Genus über ein Ding: im ersteren Falle - ζ. B. bei „Mensch ist eine Spezies" - würden nur „zweite Namen von ersten Namen" ausgesagt, wobei ein Qualitätsmerkmal mitbezeichnet würde; im zweiten Falle - ζ. B. bei „Sokrates ist ein Mensch" - würde hingegen die Natur der bezeichneten Dinge angezeigt.71 Die Differenz zwischen dem Genus bzw. der Spezies als Name eines Namens und als „erster Name" liegt in der unterschiedlichen Referenz beider: Namen von Namen betreffen Gemeinschaften mit bestimmten Qualitätsmerkmalen, „erste Namen" hingegen betreffen ganz bestimmte „Naturen". Offensichtlich konnte Dexippos keinen Bezug zwischen dem oben behaupteten „Natur-Sein" der Genera und Spezies und dem Auftreten der Genera und Spezies als Namen von Namen bzw. als Prädikatenprädikat herstellen. Auch Porphyrios hatte diese beiden Momente der Genus- und Speziesexistenz unvermittelt nebeneinander gestellt.72 Als Prädikatenprädikat bzw. Name von Namen läßt Dexippos den Genera und Spezies nur noch eine topologische Bedeutung in einer Hierarchie von sprachlichen Ausdrücken. Erst auf der Ebene der Geltung der Genera und Spezies als „Naturen" besteht nach Dexippos die Einheit von Wort, Gedanke und bezeichnetem Objekt, d. h. die Synonymie. Auf den Ebenen darüber bis zu den absolut genommenen Kategorien gilt diese Einheit nicht mehr, sondern nur noch die Homonymie. Diesen sprachlogischen Überlegungen zum Universalienproblem entspricht die ontologische Beziehung zwischen dem „der Natur nach Früheren und dem Späteren", die Dexippos am Schluß seines Kommentars aufstellt: den ontologischen Primat des „der Natur nach Früheren" erteilt Dexippos
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den immateriellen, unteilbaren einfachen „Gemeinwesen", während sich das in Vereinzelung Existierende in sekundärer Position befindet; nur für den Erkenntnisprozeß des Menschen gäbe es eine gegenteilige Reihenfolge.73 Damit ist deutlicher noch als bei Porphyrios die neuplatonische Gegenposition zum Standpunkt des Alexander von Aphrodisias und des Peripatetikers Boethos von Sidon (1. Jahrhundert v.u.Z.), des Schülers von Andronikos von Rhodos, akzentuiert worden, die Dexippos direkt wegen ihrer Meinung angreift, daß das Allgemeine das von Natur aus Spätere gegenüber dem Einzelnen sei.74 Dem realen materiellen Individuum und den realen differenzierten Gemeinschaften wird von Dexippos nur verminderte oder Scheinexistenz zugesprochen; der Bezug der Genera und Spezies auf wesensmäßige Gemeinschaften erfolgt nach ihm primär im Reich des Intelligiblen und von dort durch Übertragung auf die sinnliche Realität. Dabei bleibt der Name „Universale" selbst ein Homonym für „Natur", „Name eines Namens" und „immaterielles Gemeinwesen". Diese mit dem Anspruch der Verteidigung des Aristoteles gegen Plotinos' Einwände vorgebrachte Untersuchung des Kategorien- und Universalienproblems endet also nicht mit seiner Lösung, sondern mit seiner verstärkten Einbettung in die sich herausbildende neuplatonische Sprachlogik und Ontologie. *
Im Kommentar des Neuplatonikers Ammonios Hermeiou (2. Hälfte des 5. Jahrhunderts/Beginn des 6. Jahrhunderts) zu Porphyrios' „Isagoge" begegnet der Versuch, in der Suche nach einem Kompromiß zwischen peripatetischer und platonischer Lehre ein Resume der bisherigen Diskussion des Kategorien- und Universalienproblems zu ziehen. Ammonios Hermeiou nimmt als Schüler des bedeutenden Neuplatonikers Proklos (412-485) und als Lehrer zahlreicher Neuplatoniker nach ihm eine wichtige Position im spätantiken Neuplatonismus ein. Seine Wirkung auf die Philosophie des mittelalterlichen Byzanz war nachhaltig. Das leichtfertige Urteil C. Prantls, der den gesamten Kommentar des Ammonios als „breites Gewäsche" bezeichnete, wird durch seinen Inhalt keineswegs gerechtfertigt.75 Ammonios Hermeiou ist der erste Neuplatoniker, der die These von der dreifachen Existenz der Genera und Spezies vor, in und nach den Dingen vertreten hat. Er vergleicht diese dreifache Existenzweise symbolisch mit einem realen Siegel, den Abdrücken dieses Siegels in verschiedenen Wachskörpern und den nach dem Auslöschen des Abdruckes bei den Menschen zurückgebliebenen gedanklichen Vorstellungen von diesem Abdruck. In eben diesem Sinne existierten die Genera und Spezies als „denkbare Wesen" und „ursprüngliche Muster" „vor den vielen Dingen und abgetrennt von Materie" beim Demiurgen; davon zu unterscheiden seien die in den vielen singulären Dingen und unabtrennbar von der Materie existierenden Spezies; von beiden zuvor genannten Existenzweisen unterscheidet sich wieder die Existenz der „in bezug auf viele und in der Folge auf viele [Dinge]" ausgesagten Spezies und Genera. 76 Anknüpfend hieran macht Ammonios eine Einteilung in „naturalisti-
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sches" (φυσικώς), „theologisches" (θεολογικώς) und „logisches" (λογικώς) Herangehen an das Universalienproblem. 77 Das theologisch behandelte Universalienproblem bestehe darin, „ob Gott in sich die Muster der Genera und Spezies hat oder nicht und ob Piaton mit seiner Ideenlehre recht hat, daß die Ideen fur sich selbst wißbar und existent sind und als Wesen erste Wesen sind, oder nicht, wie es Aristoteles' Meinung ist".78 Das „naturalistisch" behandelte Universalienproblem bestünde darin, „ob die Natur in sich die wesentliche Bedeutung von Genera und Spezies hat oder nicht", und ob „die Genera und Spezies in den vielen Dingen, das Lebewesen schlechthin in allen Einzellebewesen und auch der Mensch schlechthin sind oder nicht sind", so daß dann, wenn sie nicht in den vielen Dingen sind, alles an den singulären Dingen ausschließlich ein Individuum ist. 79 Das „logisch" behandelte Universalienproblem bestehe in der Frage, welche von den Genera und Spezies jeweils über andere prädiziert werden bzw. anderen zugrunde liegen, welche Ordnung es unter diesen Elementen der Prädikation gebe. 80 Ammonios sieht den Grund dafür, daß Porphyrios gerade über Genus, Spezies, Differenz, Akzidens und Proprium als den „Fünf Wörtern" (πέντε φωναί) gesprochen habe, in einer damit gegebenen vollständig-disjunktiven Klassifizierung aller möglichen Prädikattermini.81 Diese fünf Klassen bildeten mit zwei weiteren Klassen - den Wörtern, die keinerlei Bedeutung tragen, und den Eigennamen bzw. Individuenkennzeichnungen - die Gesamtheit von sieben Wortklassen als der Höchstzahl der überhaupt möglichen Wortklassen.82 Damit war eine sprachlogische Interpretation für die Einteilung des Porphyrios gegeben. Diesem Sinn der Universalien stellt Ammonios ihre andere Existenz „vor und in den vielen Dingen" gegenüber. Porphyrios habe nur die sprachlich-gedanklichen Genera abgehandelt, die „in bezug auf viele [Dinge] und in der Nachfolge" existieren.83 Als ein aristotelischer Standpunkt des Ammonios in dieser insgesamt zum Piatonismus tendierenden Abhandlung sei hervorgehoben, daß er ausdrücklich eine aktual unendliche Individuenzahl ablehnt und nur eine potentiell existierende Unendlichkeit von Individuen gegenüber den begrenzt vielen Spezies annehmen will. 84 Im Kommentar des Ammonios Hermeiou zu Aristoteles' „Kategorien" findet sich die Gegenüberstellung von „intelligiblen" und „wahrnehmbaren" Genera und Spezies: die intelligiblen Genera würden von Porphyrios behandelt und bestünden vor den vielen Dingen, während Aristoteles die wahrnehmbaren in den „Kategorien" behandele, die in den vielen Dingen seien. 85 Damit erhielten Porphyrios' „Fünf Wörter" also auch eine intelligible Funktion neben ihrer sprachlichen. Außerdem wurde das Universalienproblem wieder nach dem verschiedenen Sinngehalt bei Porphyrios und Aristoteles aufgespalten, womit dem Versuch des Porphyrios zur Vereinheitlichung des Universalien- und Kategorienproblems entgegengetreten wird. Aus diesen schulmäßigen Einteilungen ergaben sich für die Folgezeit unterschiedliche Lösungsversuche des Universalienproblems.
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Die in zeitlicher wie lehrmäßiger Nachfolge zu Ammonios Hermeiou stehenden Neuplatoniker aus dem 6. Jahrhundert, Olympiodoros, Simplikios und Boethius entwickelten ähnliche oder ganz nahekommende Sichtweisen zum Universalienproblem wie Ammonios. Olympiodoros vertrat in seinem Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien" eine Dreiteilung alles Seienden in Dinge, Gedanken und Wörter, wobei die Dinge göttlichen, die Gedanken geistigen und die Wörter seelischen Ursprungs seien. 86 Olympiodoros berichtet von der Existenz dreier unterschiedlicher Schulmeinungen über den Gegenstand von Aristoteles' „Kategorien": nach Porphyrios spreche Aristoteles nur über Wörter; nach Herminos (2. Jahrhundert u. Z.) spreche Aristoteles nur über Dinge; nach Alexander von Aphrodisias spreche er nur über Gedanken. 87 Olympiodoros will keiner Richtung angehören, aber auch keine ablehnen. 88 Er schildert Alexander von Aphrodisias als typischen Vertreter deijenigen Auffassung, derzufolge die Individuen von Natur aus früher als die eUniversalien existieren.89 Damit ist die Aufspaltung der Sichtweisen des Kategorien- und Universalienproblems, insbesondere hinsichtlich des einen Pols, d. h. Alexanders von Aphrodisias, deutlich zum Ausdruck gebracht worden. Allerdings wurde die bei Olympiodoros gemachte Zuordnung der einzelnen Standpunkte zu den genannten Personen nicht allgemein akzeptiert. Denn bei Simplikios wird - vor allem wohl aus Gründen autoritativer Stützung der eigenen Ansicht - gesagt, daß Alexander von Aphrodisias, Porphyrios, Herminos, Boethius, Iamblichos u. a. der Meinung seien, der Gegenstand der Logik und damit auch der „Kategorien" betreffe „die einfachen, ersten und genusmäßigen Wörter, insofern sie eine Bedeutung hinsichtlich des Seienden besitzen; es werden aber auch die von ihnen bezeichneten Dinge und Gedanken dabei mitgeteilt, insoweit die Dinge von den Wörtern bezeichnet werden".90 Indem Simplikios das Universale als ein „Gemeinschaftliches" (κοινόν) interpretiert und zwischen einem Ursprünglichen, einem in den singulären Dingen existierenden und einem nach ihnen in unseren Vorstellungen existierenden „Gemeinschaftlichen" unterscheidet, stimmt er offensichtlich der bei seinem Lehrer Ammonios Hermeiou entwickelten Ansicht von der dreifachen Existenz des Universale zu. 91 Interessant ist Simplikios' Polemik gegen Alexander von Aphrodisias. Zunächst bestreitet er die Meinung, daß bei Aufhebung der Individuen auch die Spezies und bei Aufhebung der Spezies auch die Genera aufgehoben werden; vielmehr müsse man das Gegenteil annahmen. 92 Tatsächlich würde der allgemeine Mensch erst aufgehoben, wenn sämtliche und nicht nur einige von den singulären Menschen aufgehoben werden würden 93 Das Allgemeine sei im Besitz des ranghöchsten Wesens und sei hinsichtlich des Sinns der Natur höher als die Individuen und teile sich den Individuen mit. 94 Damit könne die Position des Alexander von Aphrodisias, der die Individuen von Natur aus früher als die Gemeinbestimmungen sein lassen wollte, nicht akzeptiert werden. Als kennzeichnend für den Peripatos, als dessen führender Vertreter Alexander galt, nennt Simplikios die Meinung, daß die Genera und Spezies Teile der ihnen zugeordneten
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Individuen seien und aus diesem Grunde überhaupt den Status von „Wesen" besäßen. Simplikios stellt die Frage, wie sie überhaupt „Wesen" sein können, wenn sie nicht für sich bestehen können. 95 Diese Polemik weist auch Simplikios als einen Gegner eines nominalistischen Lösungsversuches des Universalienproblems aus, wie ihn Alexander von Aphrodisias angestrebt hatte. *
Unter den erwähnten Vertretern des Neuplatonismus nimmt der Lateiner A.M.S. Boethius (ca. 480-524) eine Sonderstellung ein. Er vertritt einen bereits unter dem Einfluß christlicher Theologie stehenden Neuplatonismus. Als lateinischer Übersetzer und Interpret des Porphyrios entwickelte er einen eigenen Standpunkt im Universalienstreit, durch dessen Zwiespältigkeit der Folgezeit zahlreiche Probleme aufgegeben wurden. Denn neben dem christlichen Einfluß ist der des Alexander von Aphrodisias auf seine Haltung zum Universalienproblem bemerkenswert, auf welchen Boethius sich direkt bei seinem Lösungsversuch beruft. Umfangreiche Äußerungen zu diesem Problem sind in Boethius' Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien" - in dem er sich eng an den oben analysierten Kommentar des Porphyrios zu diesem Werk anlehnt -, in seinen beiden Kommentaren zur „Isagoge" des Porphyrios, in den Kommentaren zu Aristoteles' „Peri hermeneias" sowie in seinen theologischen Schriften enthalten. J. Reiners hat die Folgen der boethianischen Position in der lateinischen Scholastik untersucht und von einem „aristotelischen Realismus"96 sowie von einer aristotelisch-boethianischen Grundrichtung im Universalienstreit neben der platonischen gesprochen 97 Hierbei ordnete Reiners den Nominalismus als einen „Nebenschößling am Baum des frühmittelalterlichen Aristotelismus" in die aristotelisch-boethianische Grundrichtung ein. 98 Durch diese Zuordnung von Boethius' Position sowohl zum „Realismus" als auch zum „Nominalismus" kommt die Ambivalenz des boethianischen Lösungsversuches des Universalienproblems zum Ausdruck, wenngleich Reiners Boethius primär für einen aristotelischen „Realisten" hielt. Diese Einschätzung fußt auf einem Satz aus dem 2. Kommentar des Boethius zur „Isagoge" des Porphyrios: „Die Genera und Spezies, das heißt die Einzelheit und die Allgemeinheit, haben genauso nur ein einziges Zugrundeliegendes; jedoch ist es unter dem einen Aspekt ein Universale, insofern es gedacht wird, und unter dem anderen ein Einzelding, insofern es in den Dingen wahrgenommen wird, in denen es sein Sein besitzt."99 Indem Boethius hier seine Anlehnung an die Position des Alexander von Aphrodisias bekundete, kam er zu folgendem Schluß über die Natur der Universalien: „ . . . die Universalien aber werden durch das Denken hervorgebracht; und daher darf man eine Spezies für nichts anderes halten, als einen Gedanken, der aus der substantiellen Ähnlichkeit von sich der Zahl nach unterscheidenden Individuen erschlossen w u r d e . . . . Sie bestehen also relativ zu den sinnlichen Dingen, werden
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aber getrennt von den Körpern begriffen." 100 Sowohl die Verankerung der Universalien im Ähnlichkeitsbezug (similitudo) der physischen Individuen, wie ihre erforderliche Aktualisierung durch das Denken will Boethius gewahrt wissen. Er sprach sich gegen ihre extramentale Verselbständigung aus. 101 In seinem Kommentar zu Aristoteles „Kategorien" spricht Boethius den zentralen Leitsatz der peripatetischen Nominalisten der Scholastik aus: „Im eigentlichen Sinne werden nicht die Dinge, sondern die Worte ausgesagt."102 Und weiter unten betont er, daß die „zweiten Substanzen" ausschließlich über die „ersten Substanzen" prädiziert werden, nicht aber in ihnen sind. 103 Boethius geht also trotz aller Annäherung nicht so weit wie Alexander von Aphrodisias, ein direktes Teilhaben der „zweiten Substanzen" an den „ersten Substanzen" anzunehmen; die wesensbestimmenden Genera und Spezies haben offensichtlich für Boethius einen Funktionscharakter als übergreifendes Gemeinsames von Verschiedenem, Individuellem, das an diesem, nicht aber in diesem (im Sinne des Enthaltenseins) ist. Der oben angeführte Gedanke, die Universalien seien in den Einzeldingen, hat für ihn also den Sinn einer Entgegensetzung ihrer Existenz zu den von Piaton angenommenen transzendenten „Ideen", ohne gleichzeitig ihr Enthaltensein in diesen Einzeldingen zu fordern. Die in Anknüpfung an Porphyrios von Boethius in seinem Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien" genannten neun möglichen Explikationen der Enthaltenseins-Relation geben denn auch kein Enthaltensein der Genera oder Spezies in den entsprechenden Individuen an. 104 Allerdings kommt bei Boethius die Gleichsetzung von Denken und Sein durch den Neuplatonismus darin zum Ausdruck, daß er den objektiven Gedanken (intellectus), der für ihn das Ebenbild eines Dinges und eine Affektion der Seele ist, als genauso naturgegeben (naturalis) wie das Ding (res) selbst erklärt, während er Worte und Buchstaben als Resultate menschlicher Satzung ansieht. 105 Selbst bei mental-begrifflichem Charakter der Universalien bleibt damit ihre natürliche Vorgegebenheit gewahrt. Aus der in Aristoteles' Sicht ungewohnten Polarisierung von Dingen und Worten als einerseits Naturgegebenem und andererseits menschlicher Satzung Entsprungenem, als einerseits Bezeichnetem, andererseits Ausgesagtem bei Boethius und dem Versuch, beide Pole über den objektiven, „natürlichen" Begriff zu vermitteln, ergab sich der direkte Anlaß für die Konfrontierung der nachfolgenden unterschiedlichen Lehr- bzw. Schulmeinungen zum Universalienproblem in der Scholastik. Die Auseinandersetzungen kulminieren in der Entscheidungsfrage: sind die Universalien Dinge (res) oder Worte (voces) bzw. Namen (nomina)? Letztlich macht Boethius die Universalien zu a priori Verstandesbestimmungen des richtigen Denkens, indem er die durch sie zum Ausdruck gebrachten ewigen unveränderlichen Formen hervorhebt. Johannes von Salisbury, ein scholastischer Autor aus dem 12. Jahrhundert, reihte Boethius unter die Konzeptualisten ein, die den begrifflichen Charakter der Universalien herausstellten. 106 Je nachdem, ob das Moment der a priori gegebenen natürlichen Formen an den Individuen in Gestalt der
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„similitudo" als das gegenseitige Bezogensein auf eine einheitliche Form oder der Prozeß der begrifflichen Abstraktion als Quelle für das Hervortreten der Universalien im Denkvorgang betont wurde, ergaben sich differente Schlüsse aus Boethius' Aussagen zum Universalienproblem: entweder ein aristotelischer „Realismus" oder ein dem Nominalismus nahekommender Konzeptualismus. *
Von nicht geringerer Wirkung als die logischen Arbeiten des Boethius waren seine theologischen Schriften. Von besonderer Bedeutung aus unserer Sicht sind hier vor allem Traktat I und V der „Opera sacra": „Quomodo trinitas unus deus ac non tres dei" und „Contra Eutychen et Nestorium". Sie widerspiegeln die aus der patristischen Literatur bekannten Auseinandersetzungen um das Wesen der göttlichen Trinität und die Person des Christus. Die erstgenannte Schrift enthält den für Boethius' Philosophie zentralen Satz: „Alles Sein kommt von der Form." 107 Die Form wird der Materie als ein unkörperliches Prinzip gegenübergestellt, das erst die Spezifik eines jeden Dinges bedingt. Die in der Materie enthaltenen Formen sind ihrer Natur nach aus den außerhalb der Materie befindlichen abgeleitet. Neben dem Begriff der Form erlangten die Begriffe von „Natur", „Person" und „Substanz" sowie „Wesen" grundlegende Bedeutung. Im Zentrum von Boethius' Überlegungen steht das Problem der Begründung der einzigartigen Individualität Gottes und Christus'. Die von Boethius immer wieder hervorgehobene Nichtumwandelbarkeit von Göttlichem in Menschliches und von Allgemeinem in Individuelles führt ihn schließlich zur katholischen Formel von Christus als einer einheitlichen Person, die aus zwei Naturen, der des Menschentums und der des Gott-Seins, besteht. 108 Indem Boethius so die personale Individualität des Christus als die Summe zweier unvermischbarer und unabtrennbarer Naturen definiert und Gottes Individualität selbst als fern von jeder Unterschiedenheit von Genera, Spezies oder abzählbaren Einheiten charakterisiert, stellte er Christus als Repräsentanten zweier unterschiedlicher Typen des Seins bzw. zweier unterschiedlicher Naturen dar: des Typs des Menschentums als mit vielen akzidentiellen Unterschieden versehene Natur und des Typs des Gott-Seins als die von jeglicher bekannten Form der Verschiedenheit freie Natur. Damit wird der neuplatonische Begriff der „Hypostase" auf Christus angewendet, um so eine Vermittlung von Individualität und „Natur" zu erreichen. Durch die Vervielfachung der Anzahl der theologischen Hypostasen in Gestalt der Engel schuf die scholastische Theologie in Anknüpfung an Boethius' Überlegungen ein spezifisches Feld für den theologischen Universalienstreit. Die Verselbständigung der Formen als Seinsgeber durch Boethius führte über den Horizont peripatetischen Denkens hinaus und stellt eine direkte Annäherung an den platonischen „Realismus" dar. In Gestalt der neuplatonischen Hypostasen war ein neuer Typus von individuellen Substanzen jenseits der bei Aristoteles gemeinten physischen Individuen unserer sinnlich wahrnehmbaren Welt („erste Substanzen") eingeführt wor-
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den, welche auch hinsichtlich der Genera und Spezies in einer Sonderexistenz verharrten. IV Hatte die Spätantike sowohl die Problemstellung, eine Vielzahl von Lösungsansätzen wie auch schon die Polarisierung der Meinungen im Hinblick auf das Universalienproblem gebracht, so kam es im Mittelalter zur Herausbildung von selbständigen philosophischen und theologischen Strömungen und nachfolgend auch Schulen, die den Universalienstreit zu einem Hauptgegenstand der Philosophie und Theologie sowie der Naturwissenschaft dieser Zeit machten. Bevor es jedoch zum Ausbruch heftiger Streitigkeiten zwischen verschiedenen Parteien im Universalienstreit kommen konnte, mußte eine umfangreiche Rezeptionsarbeit durch die Aufarbeitung und Interpretation der antiken sowie patristischen Quellen geleistet werden. Dies geschah mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichem Erfolg im lateinischen frühfeudalen Europa besonders intensiv seit dem 9. Jahrhundert. Unter anderem wurden die Werke der beiden bedeutendsten patristischen Theologen Augustinus (354-430) und Pseudo-Dionysios Areopagites (um 500), wie die in der Übertragung durch Boethius vorliegende „Isagoge" des Porphyrios, die Kommentare des Boethius zu Aristoteles' „Kategorien", „Pen hermeneias", die PseudoAugustinische Schrift „Categoriae Decern" sowie die theologischen Schriften des Boethius kopiert, kommentiert und interpretiert. Der herausragende lateinische Autor und Kommentator dieser Zeit ist Johannes Scottus Eriugena (um 810 - nach 877). Als Übersetzer der Werke des PseudoDionysios Areopagites und als Verfasser der großen neuplatonisch-christlichen Kosmologie „De divisione naturae" (Περί φύσεως μερισμού) wirkte er richtungweisend fur die Entwicklung eines christlich-neuplatonischen Universalienrealismus. Johannes deutete die 10 Aristotelischen Kategorien als universelle Genera, die die unzähligen Abwandlungen aller von Gott geschaffenen Dinge zusammenfassen sollten. Eine Anwendung dieser Kategorien zur Kennzeichnung von Gott selbst ließ Johannes nur im metaphorischen Sinne gelten, da Gott weder Genus noch Spezies noch Akzidens sei.109 Doch in Entgegnung auf die peripatetische Ansicht, daß mit den Kategorien die universellsten Bestimmungen überhaupt gefunden seien, weist Johannes darauf hin, daß sich diese Kategorien in zwei Klassen noch allgemeineren Charakters zusammenfassen ließen: in das Genus des „Status", das die Kategorien Substanz, Quantität, Lage und Ort umfaßt, und das Genus der „Bewegung", das die Kategorien Qualität, Relation, Verhalten, Zeit, Wirken und Leiden umfaßt. Über diese beiden Grundklassen aller Kategorien setzt Johannes schließlich noch „das All" (το πδν) als das „universellste Genus". 1 1 0 Weiter leugnet Johannes jeden von Natur gegebenen Unterschied zwischen der „ersten Substanz" und der „zweiten Substanz": eine Spezies gilt ihm nur als eine „Einheit von Zahlen",
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während die „Zahl" nur „die Vielheit der Spezies" ist; wenn die gesamte Spezies einheitlich und ungeteilt in den „Zahlen" sei und die „Zahlen" in der Spezies ein einziges Individuum darstellen, so könne man nicht verstehen, wie es zwischen dem Zugrundeliegenden und dem über dieses Zugrundeliegende Ausgesagten einen natürlichen Unterschied gäbe. 111 Die „erste Substanz" des Aristoteles erhält damit von Johannes den Charakter eines abstrakten Individuums ohne eigene, von der Speziesnatur abweichende Qualitäten zugesprochen, während die Spezies bzw. die „zweite Substanz" die metaphysische undifferenzierte Einheit einer gewissen Anzahl ist. Dieselbe Nivellierung führt Johannes auch hinsichtlich der partikulären und universalen Akzidentien ein: im Gegensatz zum aristotelischen Prinzip, daß ein partikuläres Akzidens nur in einem Zugrundeliegenden sein könne, jedoch nicht über es wie ein universales Akzidens auch ausgesagt werden könne, behauptet Johannes auch die Prädizierbarkeit eines partikulären Akzidens über ein Zugrundeliegendes, denn es gebe keinerlei Verschiedenheit beider Akzidentien. 112 Diese Polemik des Johannes richtet sich gegen die auch für die neuplatonischen Philosophen der Spätantike noch charakteristische Trennung von prädikativer bzw. sprachlicher und ontologischer Existenz. Die Zusammenfassung der abstrakten Individuen („Zahlen") zu Spezies und der Spezies zu Genera läßt Johannes ausdrücklich nicht das Werk eines Zusammenfassenden, sondern von Natur aus gegeben sein. Diese These weist ihn ebenso wie seine Identifizierung von Individuum und „unterster Spezies" eindeutig als einen platonischen Realisten aus.113 Johannes teilt ebenso den platonischen Exemplarismus (indem er ein erstes Genus von „ersten Wesen" bzw. „ousiai" annimmt, die in Ähnlichkeit zu göttlichen Trinität bestehen und aus denen sich als Akzidentien alle weiteren Dinggenera ableiten; 114 oder indem er ursprünglich vorgeprägte Gestalten und Formen im Worte Gottes bzw. der „geschaffenen und schaffenden Natur" annimmt als Vorbilder für die sichtbaren und unsichtbaren Genera, Spezies, Individuen und Differenzen 115 ) wie die Emanationslehre (die Genera und Formen „fließen" aus einer einzigen Quelle, der „ousia" als der ursprünglichen unteilbaren Wesenheit 116 ) und den Teilhabegedanken als universelles Ordnungsprinzip (von den sichtbaren Körpern bis zu Gott hinauf sei alles entweder Teilhabendes, Teilgehabtes oder sowohl Teilhabendes wie Teilgehabtes 117 ). Die faktische Verdrängung der physischen Individualität aus dem kosmologischen Ordnungsschema des Johannes ist als einer der Hauptgründe für das Aufkommen einer kräftigen nominalistischen Gegenströmung anzuführen, die eben diese physische Individualität zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht. Manches in den Darlegungen des Johannes deutet allerdings auch auf eine Polemik gegen einen Peripatetismus hin, der in Anknüpfung an die Pseudo-Augustinischen „Categoriae Decern" (entstanden Ende des 4. Jahrhunderts) gerade den Primat der Individuen vor den „Gemeinwesen" hervorhob. Obwohl der anonyme Autor der „Categoriae Decem" ebenfalls die unteilbare ursprüngliche Wesenheit („ousia") zum Ausgangspunkt aller weiteren Aussagen über Genera und Spezies
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gemacht hatte, läßt er doch die „ersten Wesen" (bzw. Substanzen und ousiai) in der Wertigkeit den „zweiten Wesen" vorhergehen. 118 J. Reiners hob die große Bedeutung der „Categoriae Decern" für die weitere Entwicklung des Nominalismus hervor.119 J. Marenbon weist auf den Einfluß dieses Werkes auf die Gedankenführung des Johannes hin. 120 Wenn die Austragung des Universalienstreites gewiß nicht den Hauptinhalt von Johannes' Werk darstellt, so ist doch das Bestreben unverkennbar, in diesem Werk bei Verknüpfung aristotelischer und patristischer Gedankengänge die Überlegenheit Piatons gegenüber den „dialectici", d. h. den Vertretern der peripatetischen Logik, herauszustellen. Ein Vergleich von Johannes' kosmologischem Hauptwerk mit seiner Glosse zu Martianus Capellas „De nuptiis Mercurii et Philologiae" unterstreicht seine Hinwendung zum Problem der ontologischen Strukturen bei weitgehender Abwertung der physischen Individualität.121 Während Martianus Capella unter „Genus" etwas Sprachliches verstand, bestimmte Johannes es als die „substantielle Einheit vieler Formen", in der die Substanzen verschiedener Spezies zusammenkommen. 122 In der genannten Glosse behandelte Johannes das sinnlich-wahrnehmbare Individuelle noch ausdrücklich im Zusammenhang mit der Analyse der Kategorien, obwohl auch schon in deutlicher Gegenüberstellung der Kategorien und dieses Individuellen; dagegen wird in seinem Hauptwerk von „ousia", d. h. der ersten Kategorie, die für das „Wesen" steht, eindeutig nicht mehr im Sinne des sinnlich-wahrnehmbaren Individuellen, sondern der übersinnlichen Wesenseinheit einer Sache gesprochen. 123 Eine ähnliche Orientierung des Johannes auf die ontologischen Strukturen läßt sich auch bei einem Vergleich der Interpretationen der Kategorie „Relation" feststellen, die er in den beiden herangezogenen Werken gab: während er in seiner Glosse zu „De nuptiis Mercurii et Philologiae" die Relation für eine rein ideelle, außerhalb des Wesens der Dinge stehende Kategorie ansah, interpretierte er sie in „De divisione naturae" als doppelt bestimmbar: einmal als Akzidens des Wesens (der Substanz), zum anderen aber als direkt zum Wesen gehörig, sobald es um den Bezug von Genera und Spezies aufeinander gehe. 124 Hinter diesen Interpreationen von Johannes Scottus Eriugena steht das Bemühen, selbständig die überlieferte klassische logische Theorie für die theologische Welterklärung nutzbar zu machen. Die Objektivierung des Relationsbegriffes beförderte das Erreichen dieses Ziels unter Einbeziehung eines platonischen Universalienrealismus. *
Der Einfluß des Johannes Scottus Eriugena war nachhaltig. Remigius von Auxerre (um 841 - um 908) Schloß sich direkt den von seinem Vorgänger entwickelten Positionen in der Universalienfrage an. 125 Dem Lehrer des Remigius, Heiricus von Auxerre (um 841-876), hatte B. Haureau auf Grund von dessen Ansichten in den von ihm verfaßten Glossen zu den Pseudo-Augustinischen „Categoriae Decem" einen nominalistischen Standpunkt zugeschrieben. 126 Doch Ε. K. Rand machte auf
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die zu weite Auslegung des Terminus „Nominalismus" in diesem Zusammenhang aufmerksam. 127 Obwohl es im 9. Jahrhundert noch keine ausgeprägten Richtungen von Universalienrealisten und Nominalisten im Rahmen des Universalienstreites gab, kam es bisweilen zu grundsätzlichen Kontroversen bei der Diskussion des Universalienproblems im theologischen Rahmen. So behauptete der Mönch Ratramnus von Corbie (gest. ca. 868), daß die Spezies und Genera generell nicht außerhalb der Seele existierten, sondern ausschließlich im Denken. Diese Ansicht formulierte er im Kontext einer Polemik mit einem anderen Mönch zu der Frage, ob alle Seelen der Menschen eine Einheit darstellen oder ob die einzelnen Seelen voneinander getrennt für sich existieren oder ob beides zugleich möglich ist. Ratramnus argumentierte mit seiner Auffassung der Universalien gegen die Ansicht seines Opponenten von der angeblichen Einheit aller Seelen bei deren gleichzeitiger Vielheit. 128 Ratramnus knüpfte direkt an Schriften des Boethius an. Die Linie des Boethius wurde später u. a. durch zwei Kommentare zur „Isagoge" des Porphyrios fortgesetzt: zum einen von einem gewissen „Jepa" (Ende des 9./Anfang des 10. Jahrhunderts) 129 , zum anderen von Pseudo-Rhabanus (Anfang des 11. Jahrhunderts). Die erstmals von V. Cousin aufgefundenen bzw. analysierten Dokumente zum Universalienproblem aus dieser frühen Zeit scholastischen Denkens wurden von ihm als Keime der zukünftigen ausgereiften Schul- und Richtungskämpfe interpretiert. 130 Damit dürfte eine richtige, ausgewogene Beurteilung erreicht sein.
V Wahrend das 10. Jahrhundert kaum Textbelege für die Austragung des Universalienstreites liefert, kommt es im 11. Jahrhundert im Bereich der geistigen Auseinandersetzungen zwischen den Kloster- und Kathedralschulen und den umherziehenden Wanderlehrern für Logik, Grammatik und Rhetorik schließlich auf theologischem Feld zu schweren Konflikten, die unmittelbar das Universalienproblem tangieren. Mit dem Angriff des Berengar von Tours (nach 1000-1088), eines Schülers der gegen Ende des 10. Jahrhunderts gegründeten bedeutenden Kathedralschule von Chartres, auf die naturalistische Auffassung von Brot und Wein des christlichen Abendmahles als Christus' echtem Leib und echtem Blut erfolgte der erste spektakuläre Einbruch der „Dialektik" (d. h. der logisch-rationalistischen Methode der Peripatetik als Opponent des Autoritätsglaubens) in das offizielle katholische Dogma. Berengars symbolistische Umdeutung dieses Mysteriums bei gleichzeitiger Annahme der unbedingten Einheit von Ding und Eigenschaften bei allen Naturdingen stellte die diesbezügliche kirchliche Lehre in Frage. Zur genannten Denkrichtung der „Dialektiker", die wütenden Angriffen seitens der Orthodoxie ausgesetzt waren, zählt auch Roscelin von Compiegne (ca. 1050-1125), dessen Auftre-
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ten gegen die geläufige Begründung des Trinitätsdogmas durch die damalige Theologie zu ebenso spektakulären Auseinandersetzungen führte. In den Augen von wenig später lebenden Chronisten des 12. Jahrhunderts stellten Roscelin und dessen Lehrer, ein gewisser „Johannes Sophista", die eigentlichen Häupter einer umfangreichen nominalistischen Denkrichtung dar. Die noch bei Johannes Scottus Eriugena festgefugte Überzeugung von der unmittelbaren Einheit von Theologie und logischer Theorie unter dem Primat der Theologie war zu Roscelins Zeiten grundsätzlich ins Wanken geraten. Die Existenz des scholastischen theologischen Universalienstreites ist ein direkter Ausdruck dieses Umstandes. Die Zeugnisse über die Auffassungen Roscelins sind umfangreich. 131 Ihr nominalistischer Inhalt läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Nur dem Individuellen kommt reale Existenz zu; alles, was als „Spezies", „Teil" oder „Ganzes" bezeichnet wird, besitzt nur verbale Existenz; etwas Singuläres kann nicht ein Gemeinsames sein, und etwas Gemeinsames kann nicht ein Singuläres sein; jede Differenz hat eine Vielheit von verschiedenen Dingen zur Grundlage, d. h. auch die personale Differenz innerhalb der göttlichen Trinität. Letztlich liefen die von Roscelin vorgetragenen Bedenken gegen das geläufige Trinitätsdogma und seine eigenen Thesen auf die Infragestellung der absoluten Singularität Gottes hinaus, so daß er der Annahme einer Existenz von drei Göttern beschuldigt und dafür verurteilt wurde. 132 Der Angriff des Roscelin richtete sich in philosophischer Hinsicht auch gegen die neuplatonische Annahme undifferenzierter metaphysischer Einheiten, wenn er hervorhebt, daß Gleichheit immer und nur zwischen Mehrerem, Unterscheidbarem besteht. 133 Damit besteht Roscelin auch auf der Unabtrennbarkeit von Ding und Eigenschaft und machte die physische Individualität zum Maßstab des sinnvollen Redens über Dinge. 134 Petrus Abaelard (1079-1142), der berühmte Schüler des Roscelin, gab in seiner gegen Roscelin und andere „Pseudodialektiker" gerichteten Streitschrift „Theologia summi boni" einen Bericht über die Problemfragen der „Dialektiker" hinsichtlich der göttlichen Trinität. In einer dieser Fragen, die wohl direkt auf Roscelin zurückgehen, wird von der NichtUnterscheidbarkeit der Eigenschaften des personalen Seins des Menschen und der Bestandteile der Trinität ausgegangen. Eine andere Frage lautet dahin, warum Gott als ein Singuläres und nicht als ein Universale zu verstehen sei, da doch „Gott" über drei verschiedene Personen prädiziert werde. 135 Roscelins exponierte Stellung als Lehrer der Logik und unbequemer Frager nach den Gründen überlieferter Dogmen bewirkte ein umfangreiches Echo im theologischen und philosophischen Schrifttum seiner Zeit. Sein Nominalismus entspringt primär einer weltanschaulichen Skepsis und ist offenbar nicht von einer prinzipiell materialistischen Grundposition aus vorgetragen worden, wenngleich seine Gegner ihm eine solche Position unterstellten. Der Brief Roscelins an seinen ehemaligen Schüler Petrus Abaelard ist ein Produkt der scharfen Auseinandersetzungen zwischen zwei um die „theologische
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Wahrheit" bemühten Vertretern der „Dialektik". Er gehört der späten Lebenszeit Roscelins an und stellt das einzige überlieferte persönliche Zeugnis seiner Lehre dar. Roscelins spezifische Haltung im Universalienstreit wird noch deutlicher, sobald man auf die Reaktionen seiner Kontrahenten auf den von ihm entwickelten Standpunkt eingeht. Anselm vonAosta (1033-1109), lange Zeit Erzbischofvon Canterbury, hatte Roscelin in einer Streitschrift als einen „Häretiker der Dialektik" bezeichnet, der die Universalien zu einem bloßen „stimmlichen Hauch" gemacht habe. 136 Der von Anselm als Gegenposition entwickelte universalienrealistische Standpunkt hebt folgende Prinzipien hervor: es gibt nicht nur Individuen, sondern auch Spezies und Genera als tatsächlich existierende Einheiten außerhalb des Sprachgebrauchs; es sind strikt individuelle Eigenheiten, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu trennen; Gott existiert als absolute Singularität an der Spitze einer Sein und Denken umfassenden Hierarchie; die Existenz von Vielheit und Verschiedenheit schließt die vollkommene Übereinkunft der verschiedenen Elemente aus, d. h. die Identität der Genera und Spezies der irdischen Dinge ist nicht durch diese Dinge selbst begründet, sondern geht auf höhere Gründe zurück; zwischen den Relationen unter den Bestandteilen der göttlichen Trinität und den Relationen unter den irdischen Dingen gibt es keine Gleichheit. Anselm kennt drei verschiedene Benennungsweisen der Dinge: mittels der körperlichen Wahrnehmungen, mittels der mentalen Zeichen für die Dinge und mittels der theoretischen Betrachtung. Nur der theoretischen Betrachtung der Vernunft steht aber ein Zugang zu dem allgemeinen Wesen der Dinge offen. Die universellen Bezeichnungen für die allgemeinen Wesen läßt Anselm naturgegeben sein. 137 Die Universalien erhalten auf diese Weise eine vor-sprachliche Existenz. Obwohl Anselm einen „Ähnlichkeitsbezug" (similitudo) der Universalien zu den bezeichneten Gegenständen einräumt, unterstreicht er doch die primäre Funktion der Wesenheiten der Dinge als Ebenbilder von „Gottes Wort".138 Das Universale „Mensch" behandelte Anselm als eine universelle substantielle Einheit, die von der individuellen Substanz der einzelnen Menschen dadurch verschieden ist, daß letztere sich mit anderen individuellen Substanzen in gewisse gemeinsame Eigenschaften teilen muß. 139 Platonischer Exemplarismus, die logische Fundierung des christlichen Schöpfungs- und Erlösungsmythos sowie die Kritik an der Wahl der physischen Individualität als theoretischem Ausgangspunkt des Nominalismus motivierten Anselms platonischen Universalienrealismus. Petrus Abaelard gelangte dagegen in der Auseinandersetzung mit Roscelins nominalistischem Konzept nicht zu einer prinzipiellen Verwerfung des Nominalismus. Vielmehr ist Abaelard bestrebt, innerhalb der logischen Theorie einen Nominalismus zu begründen, der sowohl zeitgenössischen universalienrealistischen Konzepten wie einem skeptischen Nominalismus entgegenwirkt. Darum ging Abaelard von bestimmten ontologischen Prinzipien aus. Belege für dieses Vor-
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gehen und die verschiedenen Stadien der Herausbildung eines eigenen Universalienkonzeptes liefern uns seine Glossen zu Aristoteles' „Kategorien" und zu Porphyrios' „Isagoge". Ein zentraler Satz von Petrus Abaelards Universalienkonzept lautet hier wie auch anderswo, daß Dinge nicht prädiziert werden können. 1 4 0 In einer frühen Arbeit, den Glossen zu Porphyrios' „Isagoge" aus der „Logica ,Ingredientibus'", hatte Abaelard das Universale mit einer bestimmten Gruppe von Wörtern gleichgesetzt. 141 Demgegenüber gebrauchte er in den Glossen zu Porphyrios' „Isagoge" aus der „Logica ,Nostrorum petitioni'" zur Kennzeichnung des Charakters der Universalien den Terminus „sermo", d. h. der sprachliche Ausdruck, in dem bestimmte Worte mit bestimmter Bedeutung Element bzw. Produkt einer Prädikation sind. 142 Damit löste sich Abaelard von Roscelins Interpretation der Universalien als einfache Wort-Zeichen. Der menschliche Akt der Sinngebung und Prädikation zum Zwecke des Erfassens des Wesens der Dinge ist für Abaelard die entscheidende Voraussetzung für die aktuale Existenz der Universalien. Dabei räumt er jedoch ein, daß die Universalien eine ontologische Basis in Gestalt von Seinsmodi bzw. „Status" der Sinnendinge haben. Ebenfalls akzeptiert er die Existenz urbildhafter Vorprägungen der Genera und Spezies im göttlichen Geist. 1 4 3 Diese Annahmen liegen dem neuplatonischen Ansinnen Abaelards zugrunde, Piaton und Aristoteles ungeachtet ihrer kontroversen Haltungen im Streit u m die „Ideen" zu vermitteln. Trotz bestehender Ähnlichkeiten mit einem platonischen oder aristotelischen Universalienrealismus bleibt für die nominalistische Position Abaelards ausschlaggebend, daß er die Universalien in letzter Instanz Produkte des Menschen und nicht Naturgegebenheiten sein läßt, wie Anselm von Aosta. Zwar entwickelt sich der Nominalismus zunächst vor allem in der Diskussion um logische und theologische Probleme, jedoch ergibt sich wie bei den Vertretern des platonischen Universalienrealismus im Aufgreifen ethischer und allgemein gesellschaftstheoretischer Fragen eine Öffnung des Nominalismus auch zu den ideologisch relevanten Auseinandersetzungen der Zeit. Die Betonung der Existenz des Menschen in personaler Individualität setzt sich auch in dem Maße durch, wie mit den sich emanzpierenden Stadtkommunen neue Lebensformen geboren werden. In diesem Zusammenhang ist eine auf das selbstbewußte Individuum gegründete Ethik als Versuch zu werten, eine progressive neue Weltsicht zu begründen. Wenn diese neue Weltsicht sich in einem heterodoxen Spiritualismus mit völliger Ablehnung der etablierten Kirche entlud, kam es zu offenen oder verdeckten Häresien mit oftmals stark mystisch-dualistisch geprägter Weltanschauung und radikaler Weltflucht. Artikulierte sich dieser Individualismus jedoch in einer Gewissensethik, die die Heilserwartung grundsätzlich innerhalb der bestehenden Kirche bei allmählicher Reform von Denk- und Verhaltensweisen der Gläubigen ansiedelte, so entstand eine auf das Diesseits gerichtete rationalistische Theorie vom Menschen und seinem Verhältnis zu Gott und der Welt. In der zuletzt genannten Weise entwickelte der Nominalist Petrus Abaelard auf neuartige Weise eine Individualethik, die auf
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dem freien Gewissensentscheid jedes einzelnen Menschen bei strikter Beachtung von „göttlichem" und „Naturgesetz" beruhte. Die Einschätzung des Charakters der menschlichen Handlungen hinsichtlich gut und böse kann für Abaelard grundsätzlich nicht nach den Werken, d. h. den Resultaten der Handlungen, erfolgen, sondern nur nach den Absichten der Handelnden. 144 Diese Auffassung, die bis zur Freisprechung deijenigen von jeglicher moralischer Schuld ging, die Christus ans Kreuz schlugen, erregte den Häresieverdacht des katholischen Klerus.145 Die Betonung des freien Gewissensentscheids, der individuellen Verantwortung jedes einzelnen Menschen für sein Heil; die Infragestellung der Belastung aller Menschen mit der Erbsünde; die Voranstellung von Intelligenz und moralischer Lauterkeit vor sozialer Stellung oder natürlichem Geschlecht - diese Prinzipien von Abaelards Ethik offenbaren einen Individualismus in Form einer rational begründeten Gewissensethik. Sie teilt mit dem logischen Nominalismus des Abaelard die Hervorhebung der Vernunft als souveräner Macht des Menschen gegenüber scheinbar Naturgegebenem und Unveränderbarem. Eine allgemeine Infragestellung von Religion, Kirche und Institutionen geht von Abaelards Nominalismus in keinem Fall aus. Überhaupt ist der Antiklerikalismus des Hochmittelalters nicht von nominalistischen Positionen aus vorgetragen worden. Abaelard hatte sein logisches Universalienkonzept nicht nur in der Auseinandersetzung mit Roscelin, sondern vor allem mit den Vertretern des Universalienrealismus entwickelt. Ein führender Vertreter der letztgenannten Richtung war Abaelards ehemaliger theologischer Lehrer Wilhelm von Champeaux (ca. 1070-1121), der in der Theologie eine traditionalistische Haltung einnahm. Wie G. Lefevre nachweisen konnte, veränderte Wilhelm seine Interpretation der Universalien auf Grund der Einwände Abaelards mehrmals: war er ursprünglich vom Identitätskonzept ausgegangen (die Universalien stellen die unmittelbare reale Substanz der Dinge dar, während alles Individuelle ohne eigene Qualität ist und nur ein Akzidens der universellen Substanz darstellt), so wechselte er zum Konzept der Indifferenz (UnUnterscheidbarkeit) über (ein Universale ist nur real als das indifferente Gemeinsame in den Individuen); in einem späten Sentenzenwerk sei Wilhelm schließlich bei der Erklärung der göttlichen Trinität auf den Standpunkt des platonischen Exemplarismus übergegangen. 146 Der letztgenannte Standpunkt dürfte eine logische Konsequenz der beiden anderen Standpunkte sein, wenn er nicht von vornherein im Denken Wilhelms angelegt war. Abaelard hatte in seiner „Leidensgeschichte" über diese Metamorphosen des Wilhelm von Champeaux berichtet. 147 Die Skala der universalienrealistischen Konzepte war jedoch noch breiter, wie Abaelards Polemik in seinen beiden Glossen zur „Isagoge" belegt. Neben den schon genannten Konzepten Wilhelms von Champeaux setzt sich Abaelard mit den Anhängern der Collectio-Lehre (das Universale als eine Gesamtheit von Wesenheiten) und der Status-Lehre (Genus, Spezies, Differenz usw. seien verschiedene Zustände an ein und demselben Ding) auseinander. 148
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Das Konzept der Collectio-Lehre gibt der anonyme Traktat „De generibus et speciebus" wieder. Dieses Konzept hat zum Ziel, die Universalien nicht von den Individuen zu trennen, denen sie zugeordnet sind, sowie die Identifizierung von Universalien und Individuen zu vermeiden. Der anonyme Autor deutete die Universalien zu diesem Zweck als vollständige Ansammlungen (collectiones) vieler dinglicher Wesenheiten bzw. als Wesensnatur, die den zu einer Vielheit gehörenden Elementen innewohnt. Dabei interpretierte er die Prädikation im Sinne der Wiedergabe einer realen Enthaltenseins-Relation. Die Universalien sind demnach materieartige unvermischte Wesenheiten, die in einer Gesamtheit von Elementen enthalten sind und mit jeweils verschiedenen Formen versehen werden, so daß eine „Vielheit" entstehen kann. So entsteht das Individuum Sokrates durch die Prägung eines Teiles der unvermischten Wesenheit „Mensch" durch die „Sokratität". 149 Die hier intendierte Annäherung der Universalien an die Materie und der Gebrauch der Form als spezifizierende bzw. individualisierende Instanz deutet auf einen starken aristotelischen Einfluß auf den Autor hin. J. Reiners hebt hervor, daß der Autor dieses Traktates vor allem gegen die Interpretation der Universalien durch die Vertreter des Indifferenz-Konzeptes polemisierte. 150 Ebenso richtete sich seine Kritik gegen die Anhänger des SubstanzKonzeptes (bzw. Identitätskonzeptes) und des Nominalismus. Das Ergebnis der Collectio-Lehre besteht in einer besonderen Kombination aristotelischer und platonischer Momente: einerseits wird der Bezug der Spezies und Genera auf eine Vielzahl von Individuen betont, andererseits erscheinen die Individuen als Ergebnis der Summierung von Materieelementen (Genera und Spezies) sowie Formelementen (spezifizierende und individualisierende Eigenschaften). Nicht die reale physische Individualität, sondern die abstrakte Individualität als Summe idealer Einheiten steht im Zentrum der Überlegungen des Autors. B. Geyer hat vermutet, daß der Autor von „De generibus et speciebus" mit dem bei Johannes von Salisbury erwähnten Vertreter der Collectio-Lehre, Gauslenus von Soissons (1125-1151), selbst oder einem Schüler von ihm identisch sei.151 Die Argumentationsweise des Anonymus läßt andererseits starke Ähnlichkeiten mit den Positionen von Johannes Scottus Eriugena erkennen, die oben dargestellt wurden. Auf alle Fälle liegt mit dem Traktat „De generibus et speciebus" ein Dokument des Universalienrealismus vor, das einer Zeit bereits ausgereifter konträrer Standpunkte im Universalienstreit entstammt. Der Gefahr der weitgehenden Identifizierung von Individuum und Universale unterlag die Status-Lehre: sie versteht die Individuen als unmittelbare Repräsentanten einer Menge von Eigenschaften und Relationen, die die Funktion von Universalien erfüllen. Die Universalien erlangten somit den Charakter bloßer Zustände (status) an den Individuen oder die Individuen wurden in ihre Eigenschaften bzw. Relationen aufgelöst. Johannes von Salisbury nannte Walter von Mortagne als einen typischen Vertreter einer solchen Theorie. 152 Die Aufwertung der physischen
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Individualität durch diese Theorie legt ihre engere Anlehnung an die aristotelischboethianische Linie im Universalienstreit nahe. J. Reiners reihte das Status-Konzept direkt in diese Linie ein. 153 Trotz der Aufwertung der Individuen kommt die universalienrealistische Grundhaltung in diesem Konzept in der Objektivierung des Relationsbegriffes zum Ausdruck: aus der Kennzeichnung von Relationen bzw. Verhaltensweisen an den Dingen wurden schließlich verdinglichte „Status" gemacht. Insofern gibt dieses Konzept aber keinen reinen Aristotelismus mehr zu erkennen, sondern integriert bereits neuplatonische Prinzipien. Die Polemik gegen dieses Konzept seitens des Nominalisten Abaelard - der selbst von gewissen Seinsmodi bzw. „Status" als ontologischer Basis der Universalien sprach - sowie seitens des universalienrealistischen Autors des Traktates „De generibus et speciebus" macht seine Einordnung in die Grundrichtungen des Universalienstreites kompliziert. Doch es muß der spezifische Sinn des Terminus „Status" ins Auge gefaßt werden, der diesem Konzept zugrunde liegt: er meint nicht das konkrete momentane Verhalten eines physischen Individuums, sondern die wesentlichen invarianten Bezüge gegenüber allen anderen Individuen hinsichtlich gleicher Klassenzugehörigkeit. In einem ähnlichen Sinne hatte schon der Neuplatoniker Johannes Scottus Eriugena den Terminus „Status" als universelle Klasse der Bewegungslosigkeit aufgefaßt, der er die Kategorien Substanz, Quantität, Lage und Ort zugeordnet hatte. 154 Die Besonderheit des Status-Konzeptes kommt in der Orientierung an den wesentlichen Qualitäten der Dinge zur Bestimmung ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten invarianten Klassen, den Universalien, zum Ausdruck. Damit war gegenüber Johannes Scottus Eriugena eine Weiterentwicklung des StatusBegriffes erreicht worden. Mit dem Status-Konzept hängt - wie J. Reiners nachwies - das oben schon erwähnte universalienrealistische Indifferenz-Konzept zusammen. Es machte die eine Relation der UnUnterscheidbarkeit der Dinge zum Kriterium ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Klassen. Adelard von Bath (um 1070- nach 1146) bemühte sich in seiner Schrift „De eodem et diverso", die entgegengesetzten Standpunkte des Aristoteles und Piatons in der Universalienfrage zu vermitteln. Der Autor kann offensichtlich keinem der bisher dargestellten Konzepte in der Universalienfrage eindeutig zugeordnet werden. Sowohl platonischer Exemplarismus, Anklänge an das Indifferenz-Konzept wie auch eine semantische Interpretation der Universalienfrage als Problem der unterschiedlichen Deutung der Subjekttermini sind in Adelards Abhandlung nachzuweisen. Ein Indiz für die neuplatonische Herangehensweise des Adelard ist in der Interpretation der 10 Aristotelischen Kategorien als universeller „Naturen" zu bemerken, die vor Beginn der Schöpfung im göttlichen Geiste enthalten gewesen sein sollen. Alle Genera, Spezies und auch die Individuen erscheinen so als Ableitungen aus diesen höchsten Klassen.155 Damit wird eine gewisse Distanz zu den Konzepten deutlich, die die physische Individualität aufwerten wollten. *
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Auch der einflußreiche Theologe Gilbert de la Porree (ca. 1070-1154) entwickelt eine recht eigenwillige Konzeption zur Lösung des Universalienproblems. Sie findet in der Erklärung des Wesens der göttlichen Trinität ihren Ausdruck. Im Gegensatz zu Roscelins nominalistischem Ansatz, in dem Irdisches und Göttliches weitgehend kommensurabel gemacht wurden, war Gilbert um eine universalienrealistische Erklärung bemüht. Diese Erklärung enthielt aber derartig viele Überlegungen aus der philosophischen Kategorienlehre des Boethius, daß Gilberts Kommentare zu den theologischen Traktaten des Boethius, insbesondere zu „Quomodo trinitas unus deus ac non tres dei" und „Contra Eutychen et Nestorium", den Argwohn und den Häresieverdacht traditionalistischer Kreise des katholischen Klerus hervorriefen. So wurde Gilbert ebenso wie sein Vorgänger Petrus Abaelard offiziellen kirchlichen Verhören ausgesetzt. In dem Bestreben, die absolute Singularität Gottes zu beweisen, schrieb Gilbert Gott nicht ausschließlich bestimmte Superlative oder Negativbestimmungen, sondern ein „göttliches Wesen" zu, durch das er bestimmt sei. 156 Er wurde im Zusammenhang mit dieser These dem Verdacht ausgesetzt, Gott von seinem Wesen zu trennen. Doch die Inkommensurabilität von Göttlichem und Irdischem sah Gilbert gerade darin, daß trotz der Existenz von Relationsbestimmungen in der göttlichen Trinität (Vater, Sohn, Geist) in Gott keinerlei Vielheit von „Subsistenzen" besteht. 157 Diese absolute, materielose, aber dennoch formbestimmte Singularität der göttlichen Trinität konfrontiert Gilbert nun mit der in sich zusammengesetzten, differenzierten „Vielheit" des außergöttlichen Seins. Er nahm zur Erklärung eines bestehenden Zusammenhanges unter den Dingen die Existenz immaterieller substantieller Formen an, die als Urbilder der irdischen Dinge von Gott bzw. der göttlichen Substanz abstammen. Von diesen leitet er schließlich die Naturdinge ab, die sich aus einer Vielheit von in Bewegung befindlichen Materien, Formen und Akzidentien zusammensetzen. Gilbert führte in Anschluß an Boethius die Unterscheidung von „etwas sein" und „durch etwas sein" ein: diese Seinsmodi hielt er für prinzipiell getrennt in allen außergöttlichen Dingen; jeder Name eines sinnlich wahrnehmbaren Dinges enthalte diesen doppelten Sinn. 158 Hierdurch wird es ihm möglich, sowohl das Innewohnen von bestimmten Eigenschaften und Formen in den Dingen selbst als ihr ganz eigentümliches So-Sein („etwas sein") wie auch das Enthaltensein dieses So-Seins der Dinge in einem Allgemeineren („durch etwas sein") als innere Einheit zu behandeln. So ist der Mensch also nicht nur beseelt, empfindsam und vernunftbegabt, sondern besitzt auch in sich vereint die abstrakten Genera der Beseelung, Empfindsamkeit und Vernunftbegabung und wird so zu einem mehrfach Zusammengesetzten aus verschiedenen Eigenschaften sowie Genera. 159 Die Verbindung der Immanenz der allgemeinen Eigenschaften („Natur", Akzidentien) in den Dingen und der Transzendenz dieser Eigenschaften in Form von „substantiellen Formen", Qualitäten und Maße, welche gleichwohl von den Einzeldingen und deren Eigenschaften durch deren „Übereinstimmung" (conformitas) bzw. „gegenseitige Ähnlichkeit"
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(similitudo) untereinander abhängen, charakterisiert das Universalienkonzept von Gilbert. Von der „Natur" der Dinge hob er ihren „Status" ab, den er gerade nicht als Invariante der Dinge, sondern als deren Variabilität auffaßte. 160 Johannes von Salisbury schrieb Gilbert de la Porree als Motiv der Einführung von „angeborenen Formen" (formae nativae) in die Universaliendiskussion die Aufnahme aristotelischer Gedankengänge zu. 161 Das „Angeborene" (nativum) wird von Gilberts Anhänger Otto von Freising (1111/15-1158) als Zusammengesetztes (compositum), anderem Entsprechendes (conforme) und aus verschiedenem Bestehendes (concretum) interpretiert und dem ursprünglichen Sein Gottes gegenübergestellt.162 Bei den „angeborenen Formen" handelt es sich also nicht um ein ewig-unveränderliches Sein, sondern um ein Produkt göttlicher Schöpfung in den sinnlichen Einzeldingen selbst. Die „angeborenen Formen" steuern die Bewegung und den Zusammenhang der natürlichen Dinge untereinander, ohne daß sie von diesen real abtrennbar wären. So wird das Universalienkonzept des Gilbert de la Porree zum methodischen Bindeglied zwischen christlichem Trinitäts- und Schöpfungsmythos, platonischem Exemplarismus und naturalistischer Hinwendung zur Empirie. Innerhalb eines universalienrealistischen Konzeptes wurde damit eine bislang noch nicht erreichte Annäherung an die physische Individualität erzielt, die als differenziertes, bestimmtes Konkretum aus eigentümlichen „Subsistenzen" (subsistentiae - d. h. Materie, verbunden mit einer Kombination von der Materie innewohnenden Formen), der „Natur" und akzidentiellen „Zuständen" interpretiert wird, welches mit anderen Dingen in gewissen Ähnlichkeitsbezügen steht. Die physischen Individuen sind nicht mehr bloße Repräsentanten eines bestimmten Allgemeinen, sondern Teilhaber an diversem Allgemeinen, das ohne sie keine unabhängige Existenz hat. Nur in abgeleitetem Sinne ließ Gilbert die Existenz der Universalien als „Zugrundeliegendes" (subiectum) gelten. Der genuine platonische Universalienrealismus kommt trotz gelegentlicher Zugeständnisse an Aristoteles in den Lehren der Magister der Kathedralschule von Chartres, des geistigen Zentrums Frankreichs im 12. Jahrhundert, zum Ausdruck. So in den Auffassungen Bernhards von Chartres (gest. 1124/30), eines Lehrers des Gilbert de la Porree; seines Bruders Thierry von Chartres (gest. um 1155); Clarenbalds von Arras (um 1120 bis nach 1170); des Bernhard Silvestris (gest. nach 1165) und Wilhelms von Conches (1080-1154). Johannes von Salisbury schrieb Bernhard von Chartres die Identifizierung der Universalien mit den platonischen Ideen zu. 163 Die Chartres-Schule setzte die Linie des Johannes Scottus Eriugena fort. Der Nominalismus der Frühscholastik überließ dem Universalienrealismus die Naturphilosophie als Domäne. Johannes von Salisbury (1118-1180), der aus persönlicher Kenntnis der damaligen Schulstreitigkeiten in seinem Werk „Metalogicus" einen umfangreichen Bericht der damaligen Auffassungen verfaßt hatte, stand ebenfalls der Schule von Chartres nahe. 164 Sein Anliegen ist, die originäre Meinung des Aristoteles
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zum Universalienproblem darzustellen, ohne den Gegensatz zur Platonischen Ideenlehre zu verwischen. Aus seiner Ablehnung des Nominalismus macht er keinen Hehl. 165 Sein zur Schau getragener Skeptizismus stellt jede mit einem Absolutheitsanspruch auftretende Auffassung zum Wesen und zur Existenz der Universalien an den Pranger. Im Ergebnis seiner Ausführungen zum Universalienproblem verteidigte er die Rolle des göttlichen Schöpfungsaktes, der Ähnlichkeit der Dinge untereinander auf Grund ihrer Formbestimmtheit sowie die Rolle der wissenschaftlichen Abstraktion als Gründe fur die Existenz der Universalien in den Dingen. Es ergibt sich also aus Johannes' Darlegungen der merkwürdige Umstand, daß eine universalienrealistische Position von einer skeptizistischen Haltung getragen wird, die einräumt, daß die Universalien vor den Dingen, in den Dingen und nach ihnen existent sein können, jedoch ohne dies mit aller Bestimmtheit anzunehmen. Damit wurde der Universalienstreit in seiner weltanschaulichen Brisanz heruntergespielt, jedoch keiner endgültigen Lösung zugeführt. Es bleibt die allgemeine Tendenz im frühscholastischen Universalienrealismus festzuhalten, bei Betonung des Primats des Allgemeinen vor dem Besonderen und Einzelnen zur Erklärung des Daseins der Genera und Spezies in den realen Individuen zu gelangen. Dadurch verlagert sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen vom Problem der Trinität zum Problem der kosmischen Harmonie des Bestehenden unter Einschluß des fortgesetzten Wandels. In der einflußreichen staatstheoretischen und ethischen Schrift „Policraticus"166 des Johannes von Salisbury wird die Funktion des neuplatonischen Universalienrealismus für die feudale Herrschaftsideologie deutlich. Der Staat wird dort als eine hierarchisch gegliederte Interessengemeinschaft mit einem Monarchen an der Spitze, dem Klerus als der Seele und den Bauern als tragendem Fundament aufgefaßt. Die Gültigkeit von „göttlichem", „natürlichem" und „menschlichem Recht" im Staat ist für Johannes die Grundlage seiner Stabilität. In diesem Sinne begründete er den Vorrang des „Gemeinwohls" vor individuellen Sonderinteressen. Die unterschiedlichen Personen und Gruppen im Staat werden als Inhaber naturgegebener funktionaler Pflichten begriffen. Der feudale „ordo" erscheint so als eine Folge harmonischer natürlicher Eintracht von unterschiedlichen Gruppen von Menschen mit bestimmten unveräußerlichen Pflichten. Damit werden erstmalig unter direktem Rückgriff auf antike Vorstellungen Recht, Moral und die Erfordernisse der Arbeitsteilung als wesentliche Grundlagen des feudalen Staates eingeführt, ohne jedoch das für das feudale Ordo-Denken unumstößliche Prinzip des göttlichen Ursprungs des Staates auszuklammern. Diese Schrift des Johannes von Salisbury gehört in den Gedankenkreis des Neuplatonismus der Schule von Chartres sowie der Ideologie des Reformpapsttums. Für die 2. Hälfte de 12. Jahrhunderts ist als repräsentativer Beitrag zum Universalienstreit die „Ars Meliduna" hervorzuheben, ein Logiktraktat der Schule von Melun
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aus der Zeit zwischen 1154 und 1180.167 Hier wird eine differenzierte Untersuchung der verschiedenen Typen von Universalien auf antinominalistischer, universalienrealistischer Basis angestellt. Der Einfluß des Realismus wird so nachhaltig unterstrichen. VI In der arabischen Philosophie des Mittelalters entwickelten sich die Diskussionen zum Universalienproblem aus unterschiedlichen Quellen: zum einen war das frühzeitig in das Arabische übersetzte umfangreiche philosophische Erbe antiker Philosophen aufzuarbeiten und für den Erkenntnisfortschritt nutzbar zu machen; zum anderen gerieten die islamische Theologie und die aristotelisch-neuplatonische Philosophie in einen Streit um den Platz Gottes im Kosmos. Den Arabern waren von den antiken Philosophen unter anderem Aristoteles, Piaton, Alexander von Aphrodisias, Galenos, Themistios, Plotinos, Porphyrios, Proklos und Johannes Philoponos bekannt geworden. Al-Farabi (873/74-950/51), wegen seiner herausragenden Kenntnisse des Aristoteles von den Arabern als „zweiter Lehrer" (nach Aristoteles) tituliert, Ibn Sina (Avicenna, 980-1037) und Ibn Ruschd (Averroes, 1126-1198) - die bedeutendsten Vertreter des arabischen Aristotelismus - setzten sich in ihren Kommentaren und philosophischen Abhandlungen mit dem Universalienproblem auseinander. Die Rezeption der Schriften Alexanders von Aphrodisias168 schuf zeitig ein Gegengewicht zur stark am Neuplatonismus orientierten Grundhaltung der arabischen Philosophen. So wie andere Philosophen vor und nach ihnen verfaßten auch die drei genannten arabischen Philosophen selbständige Darstellungen bzw. Kommentare zu Porphyrios' „Isagoge".169 Neben dieser Hauptquelle zum Problem des Wesens und der Existenz der Universalien wurden auch die Schriften der anderen genannten antiken Philosophen in die Diskussion einbezogen. Von Anfang an wurde das Universalienproblem in seiner ganzen Breite als logisch-gnoseologisches, ontologisches und theologisches Problem mit starker weltanschaulicher Relevanz diskutiert. Al-Farabis Darstellungen und Kommentierungen der Universalienproblematik waren zwar nicht die ersten im arabischen Raum, dafür aber von besonderem Einfluß auf nachfolgende Abhandlungen zu diesem Problem. Da die Araber keine Kenntnis der spätantiken Kommentare zu Porphyrios' „Isagoge" in griechischer oder lateinischer Sprache hatten, ist es um so interessanter, die Aussagen zum Universalienproblem zu analysieren, die sie in ihren Abhandlungen dazu trafen. Durch die verdienstvolle Herausgabe und Übersetzung der logischen Schriften AlFarabis durch D. M. Dunlop ist es möglich, die Position des Philosophen im Universalienstreit näher zu bestimmen. 170 In seiner Paraphrase zu Porphyrios' „Isagoge" behandelt Al-Farabi Genus, Spezies, Differenz, Proprium und Akzidens als „einfache universale Bedeutungen"; das Universale ganz allgemein ist für ihn in
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der Ähnlichkeit zweier oder mehrerer Dinge und der möglichen Prädikation über mehr als ein Ding konstituiert; insofern ist das Universale das Gegenteil vom Individuellen. Ausgehend von einer Analyse der Formen und der Struktur der Urteile bestimmt er schließlich die fünf genannten Prädikabilien des Porphyrios als „Arten der einfachen universalen Bedeutungen". 171 Damit ist für Al-Farabi eindeutig das intentionale Moment konstitutiv für die Universalien, ohne jedoch die Voraussetzung der Prädizierbarkeit über einen bestimmten Gegenstandsbereich mit mehr als einem zugehörigen Element zu ignorieren. In seiner Einführungsschrift zur Logik sieht Al-Farabi die Universalien Genus und Spezies als „einfache Prädikate, durch die zwei Dinge einander ähnlich sind in bezug auf ihre Substanzen". 172 Damit stellt eine Prädikation für Al-Farabi offensichtlich erst den Ähnlichkeitsbezug her. Die Universalien gelten ihm deshalb auch als „einfache universale Prädikate".173 Umfangreiche Äußerungen zur Universalienproblematik sind in seiner Paraphrase zu Aristoteles' „Kategorien" enthalten. Er behandelt die 10 Aristotelischen Kategorien als oberste Genera, denen jeweils ein Hierarchie von subalternen Genera mit untersten Spezies als Basis zugeordnet sind. Er teilt die Universalien in zwei Typen ein: in diejenigen, die zu der Hierarchie mit der „Substanz" (dem „Wesen") als oberstem Genus gehören; und in diejenigen, die eine von den restlichen 9 Kategorien als oberstes Genus haben. Die ersteren bezeichnet Al-Farabi als „Universalien der Substanz", die letzteren als „Universalien des Akzidens". Auch die Individuen werden in „Individuen der Substanz" und „Individuen des Akzidens" geteilt. Die Universalien der Substanz setzt Al-Farabi mit den „zweiten Substanzen" des Aristoteles gleich, während er die Individuen der Substanz mit den „ersten Substanzen" bei Aristoteles gleichsetzt.174 Damit wird die Frage der Priorität der einen gegenüber den anderen akut, die bereits die spätantiken Diskussionen zum Universalienproblem geprägt hatte. Al-Farabi stellt nun eindeutig fest: „Die Individuen der Substanz benötigen somit die Universalien, um vernünftig erkannt zu werden, während ihre Universalien die zu ihnen gehörigen Individuen benötigen, um zu existieren; denn wenn die zu ihnen gehörigen Individuen nicht existierten, wäre das von ihnen im Geist Erfaßte nur erfunden und falsch, und was falsch ist, existiert nicht. Folglich gelangen die Universalien nur vermittels ihrer Individuen zur Existenz, und die Individuen werden vermittels ihrer Universalien vernünftig erkannt. Die Universalien der Individuen sind also auch Substanzen, da sie die Intelligibilia der Substanzen sind, welche offenkundig Substanzen sind; und in der Ordnung des In-Erscheinung-Tretens sind sie an zweiter Stelle, da ihre Existenz von der Existenz ihrer Individuen abhängt." 175 Al-Farabi spricht sich also eindeutig für die Priorität der Individuen gegenüber den Universalien der Substanz aus. Des weiteren differenziert Al-Farabi die zu den oben genannten Hierarchien gehörenden Genera und Spezies hinsichtlich dreier unterschiedlicher Auffassungsweisen: einmal als intelligible Ebenbilder von existierenden sinnlich-wahrnehmbaren Din-
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gen in der Seele; zum anderen als „Kategorien", d. h. als „universale Intelligibilia, die die Kenntnis über die sinnlich-wahrnehmbaren Dinge verleihen und einen bestimmten Sinn des Seins, der durch die sprachlichen Ausdrücke angezeigt wird, bezeichnen", bzw. als Subjekte und Prädikate oder allgemein als „Logisches"; sodann als Intelligbilia, die ohne dieses Wissen bestimmte aktual existierende Dinge repräsentieren, d. h. als die inhaltlichen Bestimmungen der „theoretischen Wissenschaften" (Physik, Mathematik usw.). 176 Somit hält er die Universalienproblematik für umfangreicher als das Kategorienproblem, indem er die Kategorien als besondere Formen von Universalien ansieht. Der Philosophiehistoriker M. Chairullajev hebt die besondere Stellung AlFarabis als Initiator eines Nominalismus im Rahmen des Neuplatonismus in der arabischen Philosophie hervor. Mit dieser Haltung sei Al-Farabi von großem Einfluß auf Ibn Sina, Ibn Ruschd, Ibn Chaldun u. a. gewesen. Die Anerkennung der Priorität der physischen Individuen und die sekundäre, kognitive Existenzweise der Universalien ist für Chairullajev das entscheidende Kriterium der Einordnung von Al-Farabis Position zum Universalienproblem in den Nominalismus. Dabei vermerkt er ausdrücklich die Nicht-Identität von Nominalismus und Materialismus, ja sogar die Verträglichkeit nominalistischer Positionen mit mystischen und kreationistischen sowie Emanationsgedanken bei ein und demselben Denker, wie dies auch teilweise im Falle Al-Farabis gegeben ist. 177 Inwieweit sich im Gesamtwerk Al-Farabis nun eindeutig ein nominalistischer Grundzug oder aber auch davon abweichende Konzepte durchgesetzt haben, muß hier offengelassen werden. Es muß weiter die Diskussionstiefe betont werden, die Al-Farabi in der Erörterung des Universalienproblems erreicht, das er letztlich in die generelle Frage nach dem Verhältnis von objektiver Realität, Denken und Sprache einordnet. *
Ibn Sina (Avicenna) läßt auch in seiner Behandlung des Universalienproblems die ihm eigene neuplatonische Grundhaltung eindeutig erkennen. Seine Auffassungen zur Lösung dieses Problems sind jedoch zu differenziert, als daß man sie auf das Konzept einer dreifachen Seinsweise der Universalien vor, in und nach den Dingen reduzieren könnte. 178 M. Horten deutete Ibn Sinas Position sogar als „extremen Realismus" und als dem Wesen nach antiaristotelisch. 179 Bereits in seiner Erklärung der „Isagoge" des Prophyrios hatte Ibn Sina auf die mehrfache Existenzweise der Universalien als Geistes-, Verstandes- und Naturwesen aufmerksam gemacht, wobei er jedoch das Genus-Sein und das Spezies-Sein als Momente von Denkakten begriff. 180 Im Teil „Metaphysik" seines „Kitab asch-schifa" („Buch der Heilung") ist Ibn Sina deutlich bemüht, möglichst vollständig alle Seiten des Universalienproblems zu erfassen. Für ihn ist der reflexiv erkennende Geist immer wieder die entscheidende Instanz fur die Erklärung „universeller Naturen", welche für sich
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genommen gegenüber dem Unterschied von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem indifferent sind. Er vermittelt auch zwischen den verschiedenen Existenzweisen des Allgemeinen sowie zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen. Die Existenz von abstrakt Allgemeinem läßt Ibn Sina ausdrücklich nur im Geist gelten, die Existenz der platonischen „Ideen" lehnt er ab. Die Vorsehung Gottes, der erkennende Geist und die realen Individuen mit ihren vielen Akzidentien und Zuständen sind in ihrer Einheit die Gründe für die Existenz der Universalien oder des Universellen als bestimmter Relationen, jedoch nicht als isoliert existierender Entitäten. Die Analogie von ideellen und objektiv-realen Verhältnissen, von Denken und Sein verflacht Ibn Sina nie zur puren Identität. Traditionelle platonische und pythagoreische Thesen, die auf eine Hypostasierung ideeller Einheiten zu an sich existierenden Wesen hinausliefen, unterzog Ibn Sina prinzipieller Kritik.181 Die These von dem dreifach-verschiedenen Existenzmodus der Universalien ist auf sein Bestreben zurückzuführen, die Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit des Allgemeinen zu explizieren. Ähnliche Gedankengänge haben wir bereits bei dem alexandrischen Neuplatoniker Ammonios Hermeiou festgestellt (vgl. oben, S. 320f.). An sie knüpfte ein anderer alexandrinischer Neuplatoniker, Johannes Philoponos (1. Hälfte des 6. Jahrhunderts) an, dessen Einfluß auf Ibn Sinas Denken erwiesen ist. 182 Insofern ist weder Ibn Sina noch sein Vorgänger Al-Farabi als Erfinder der These von der dreifachen Existenzweise der Universalien zu sehen. Vielmehr wurde sie zum neuplatonischen Allgemeingut, das aber unterschiedlich ausgelegt wurde, wie die weitere Entwicklung auch in der lateinischen Philosophie bezeugt. Im späteren, persisch geschriebenen Werk „Danish Nama-i Ala'i" („Buch des Wissens für Ala") entwickelte Ibn Sina seinen Versuch, das Universalienproblem zu lösen, in nominalistischer Richtung weiter. Das Wissen von den Universalien und die ewige Existenz von ihnen führte er unmittelbar auf das „Notwendig Seiende" zurück, dessen Wissen eben ein Wissen von den Universalien sei. 183 Die Realität der Universalien in den Individuen ergibt sich für ihn aus dem Akt der Prädikation dieser Universalien über die Individuen. Die Unterscheidbarkeit von Wesen und Existenz wird dabei von Ibn Sina als Grundlage des Verhältnisses von Genus und Differenz sowie Spezies und Akzidens genannt. 184 Innerhalb der neuplatonischen Emanationslehre des Ibn Sina rangiert die Unterscheidung von verschiedenen Graden, Ebenen und Rängen des Existierenden in bezug auf die jeweilige Stellung zum „Notwendig Seienden" an zentraler Stelle. Die Existenz der Universalien ist in diesem Zusammenhang fur die jeweiligen Individuen kontingent, d. h. weder zwangsläufig noch völlig unwahrscheinlich. Der Einfluß des Aristotelismus auf das Denken des Ibn Sina ist so groß, daß er nicht eine a priori gegebene Identität von Denken und Sein annimmt, worauf andererseits aber die Philosophie des Neuplatonismus basierte. Dadurch vermochte er die mannigfachen Bezüge von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem sowie die differenzierte Struktur des Allgemeinen selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu
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machen. Die materielle physische Individualität wird dabei ihrer Eigenständigkeit nie beraubt. *
Ibn Ruschd (Averroes) verfaßte u. a. einen „Mittleren Kommentar" zu Porphyrios' „Isagoge", der in hebräischer und lateinischer Übersetzung, sowie eine „Epitome zu den,Kategorien'", die in lateinischer Übersetzung erhalten ist.185 Er faßt in diesen Kommentaren das Universalienproblem nur als ein spezifisch logisches auf, d. h. ihn interessiert besonders das Verhältnis der von Porphyrios behandelten fünf Allgemeinbestimmungen innerhalb von Definitionen und Prädikationen über sie. Unverkennbar ist die starke Anlehnung an Porphyrios' Ausführungen. In der „Epitome" definiert Ibn Ruschd das Universale als „ein Ding, das auf Grund der Substanz seiner Gestaltung, die nur im Geist erfolgt, über mehrere Dinge und nicht nur ein einzelnes Ding prädiziert werden kann". 186 In seinem „Mittleren Kommentar" zur „Isagoge" folgt Ibn Ruschd in vielen Aussagen Al-Farabi. Auch für Ibn Ruschd umfaßt jede der 10 Aristotelischen Kategorien eine Anzahl von Universalien, die hierarchisch in oberste Genera, subalterne Genera und unterste Spezies gegliedert seien. Zum Genus „Substanz" gehörten neben der Spezies „Körper" auch die abgetrennten Substanzen sowie Materie und Form. Es gebe auch solche Philosophen, die die Kategorien nur als Verkörperung der Universalien der sinnlichen Dinge ansehen; diese müßten dann als oberstes Genus in der Kategorie „Substanz" „Körper" angeben. 187 Im Gegensatz zu Porphyrios und Al-Farabi verneint Ibn Ruschd ausdrücklich die Prädizierbarkeit von „individuellen Substanzen" und schließt sie damit aus dem Kreis der Prädikabilien aus. Die Prädizierbarkeit trifft nur auf die Universalien und die individuellen Akzidentien zu. 188 Als gemeinsame Eigenschaft aller Genera und Spezies bezeichnet er ihre Prädizierbarkeit über eine Anzahl von Individuen und den Umstand, „daß sie von Natur aus früher als die Dinge sind, über die sie prädiziert werden". 189 Interessant ist seine Bemerkung, daß die Charakterisierung der Genera und Spezies, „von Natur aus früher" als die Individuen zu sein, nur in der „Theorie über die Formen" wahr ist, d. h. genau dann, wenn die Genera und Spezies außerhalb des Denkens existieren.190 Diese Einschränkung enthält implizit eine Kritik am Platonismus, der nicht als alleinig richtige Lösung des Universalienproblems anerkannt wird. In seinem „Mittleren Kommentar" zu den „Kategorien" des Aristoteles gibt er als generelle Definition des Universale - unabhängig davon, ob es sich um ein „Universale der Substanz" oder ein „Universale des Akzidens" handelt - an: „dasjenige, was über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird". Das Individuum definiert er hingegen als „dasjenige, was nicht über ein Zugrundeliegendes prädiziert wird".191 Diese Äußerungen Ibn Ruschds entsprechen einer sprachlogischen Behandlung der Universalien und sagen nichts über ein universalienrealistisches Herangehen des Philosophen aus.
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In der Auseinandersetzung mit dem bedeutenden islamischen Theologen Abu Hamid Al-Ghazali (1058-1111) bringt Ibn Ruschd gewichtige Argumente gegen einen extremen idealistischen Nominalismus vor.192 Gegen die Leugnung der objektiven Realität der Universalien durch Al-Ghazali vertritt Ibn Ruschd die potentielle, jedoch nicht die aktuelle Existenz der Universalien in der Realität. Die Betrachtung der Dinge der Außenwelt, die zunächst individuell existieren, als allgemeine durch den Geist fuhrt nach Ibn Ruschd zu ihrer Wesenserkenntnis (zum Erfassen ihrer „Natur"). Damit wies er auf die Widerspiegelungsfunktion der mentalen Universalien bzw. „intentiones universales" gegenüber der gemeinsamen "Natur" der Individuen, die ihnen wesenseigen ist, hin. 193 Ibn Ruschd strebt einen Zugang zur Lösung des Universalienproblems an, der weder mit dem platonischen Universalienrealismus noch mit dem idealistischen Nominalismus des Al-Ghazali zusammenfällt. Dies wird in seiner „Epitome" zur „Metaphysik" des Aristoteles offenbar. In der Polemik mit platonischen und neuplatonischen Auffassungen unterstreicht er die Selbständigkeit der materiellen physischen Individuen in dem unaufhörlichen Prozeß ihres Werdens, sich Reproduzierens und Vergehens. Den Universalien schreibt Ibn Ruschd dort eine attributivische Existenz im Geiste als „zweite Intentionen" zu. 194 Wiederholt fordert er, das „Sein im Verstand" und das „Sein außerhalb des Verstandes" bzw. das „sinnlich Seiende" vom „intelligiblen Seienden" zu unterscheiden. In der „Epitome" kritisierte er mehrfach Ibn Sina wegen neuplatonischer Annahmen. Seinen Standpunkt resümierend führt Ibn Ruschd an einer Stelle in der „Epitome" aus: „daß sinnliche Substanz in Materie und Form zerfällt, daß beide wiederum Substanzen sind, da die sinnliche Substanz ihrem Sein nach in diese beiden zerfällt und aus ihnen besteht; daß die übrigen Kategorien ihr Bestehen durch die Kategorie der Substanz erhalten; daß die Universalien und die Begriffe von all diesen Dingen keine Existenz außerhalb der Seele haben, und daß sie nicht Ursache für die Existenz ihrer sinnlichen particularia sind, sondern daß ausschließlich die partikuläre Form und die partikuläre Materie die Ursache für die Existenz der individuellen Substanz sind; daß das Agens des Individuums ein anderes, ihm der Art nach gleiches oder ähnliches Individuum ist, und daß die universelle Form und die universelle Materie weder entstehen noch vergehen". 195 In seinem „Großen Kommentar" zu Aristoteles' „De anima" („Über die Seele") gibt Ibn Ruschd die folgende typische Wertung hinsichtlich des Wesens und der Existenz der Universalien: „Alles von Aristoteles hierzu Gesagte läuft darauf hinaus, daß die Universalien kein Sein außerhalb der Seele besitzen, worauf aber Piatons Ansicht abzielte. Denn wäre dies so, dann bestünde keine Notwendigkeit, einen aktiven Intellekt anzunehmen." 196 Die aktive Rolle des „aktiven Intellekts" im Erkenntnisprozeß ist also für ihn ein Beweis dafür, daß die Universalien nicht als Platonische Ideen existieren können. Sowohl in der Erkenntnistheorie des Ibn Ruschd wie in der des Ibn Sina spielt der Terminus „intentio" (arab. „ma'na") eine zentrale Rolle. In seinem „Kitab asch-
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schifa" gab Ibn Sina folgende Erklärungen für diesen Terminus: „Die intentio ist das, was die Seele aus dem sinnlich Wahrgenommenen erfaßt, ohne daß es zunächst der äußere Sinn erfassen würde, so zum Beispiel wenn das Schaf die schadenbringende intentio im Wolf erfaßt oder die intentio, die es erfaßt, ihn zu fürchten." Und weiter: „was die inneren Vermögen erfassen, ohne daß die sinnliche Wahrnehmung es erfassen würde, dem kommt an dieser Stelle der Terminus ma'na spezifisch zu". 197 Nach H. Gätje erfaßt Ibn Ruschd mit dem Terminus „intentio" den Erkenntnisinhalt als solchen in Gegenüberstellung zum ontologischen Gesamtgebilde der betrachteten Gegenstände. Die „intentiones" existieren zunächst potentiell in den Gegenständen der Sinneswahrnehmung und erhalten ihre Aktualisierung erst innerhalb des Erkenntnisprozesses. Die Tätigkeit des Intellektes präpariert gleichsam aus den der Sinneswahrnehmung und der Vorstellung entsprungenen individuellen „intentiones" die allgemeinen „intentiones" heraus. Ibn Ruschd gebrauche den Terminus „ma'na" (intentio) im Sinne von „Bedeutung, Gehalt, Wesen". Die Lehre von den „intentiones" sowie die Intellekt-Lehre der arabischen Philosophen sind selbständige Weiterentwicklungen von Positionen der antiken Philosophie. Die lateinische Scholastik setzte sich seit der Kenntnisnahme der Werke der arabischen Philosophen, insbesondere der von Ibn Sina und Ibn Ruschd, intensiv mit diesen Lehren auseinander. Die kontroversen Debatten um das Wesen und die Existenzweise des „aktiven Intellektes" in der lateinischen Scholastik des 13. Jahrhunderts berührten auch das Universalienproblem und führten zu neuen Fragestellungen und Lösungsansätzen. Die Geschichte des Universalienstreites in der europäischen Hochscholastik ist keine einfache Fortsetzung der Auseinandersetzungen in der Frühscholastik. Die Konstituierung von unterschiedlichen, konkurrierenden philosophischen Schulen im Gefolge umfangreicher Auseinandersetzungen um die Aneignung des Erbes von Aristoteles verleiht dem Universalienstreit neue Inhalte und Impulse. Damit verbunden wird auch eine Verschiebung des Gewichtes der einzelnen Gruppierungen und Richtungen im Universalienstreit stattfinden.
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Zeller spricht von einem „cynischen Nominalismus", den die Stoiker fortgesetzt hätten (Zeller, E.: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 3. Teil, 1. Abteilung, 4. Aufl. Leipzig 1909, S. 80). Stegmüller identifiziert den „Realismus" als Grundrichtung im Universalienstreit mit dem Piatonismus (Stegmüller, W.: Das Universalienproblem einst und jetzt, in: Archiv fur Philosophie, 7 (1957), H. 1/2, S. 80 f.). Reiners verweist auf die sich wandelnde Gestalt der Universalienfrage in Antike und Mittelalter und meinte, daß der Nominalismus erst im 11. und 12. Jahrhundert als Reaktion auf den „Realismus" entstanden sei (Reiners, J.: Der Nominalismus in der Frühscholastik. Ein Beitrag zur Geschichte der Universalienfrage im Mittelalter, in: Beiträge VIII,5 (1910),
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S. 31). King, der sich in seiner Dissertation anhand der Originaltexte mit dem Universalienstreit zwischen 1070 und 1150 befaßt, läßt die eigentliche Behandlung des Universalienproblems erst im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts beginnen (King, P. 0.: Peter Abailard and the problem of Universale, Ph. Diss., Princeton 1982, S. VIII). Offner (Offner, Μ.: Nominalismus und Realismus. Ein Überblick über die Entwicklung des Problems vom objektiven Allgemeinen, Berlin 1919, S. 5 f.) und Maioli (Maioli, B.: Gli Universali. Storia antologica del problema da Socrate al XII secolo, Roma 1974, S. XIII) setzen den Beginn des Universalienstreites in die Zeit des Sokrates und der unmittelbar auf ihn folgenden Philosophen. 2 G.W.F. Hegel bezeichnete das Universalienproblem als „eine eigentümliche philosophische Frage", die „sich nahezu durch alle Zeiten der Scholastik hindurch zog"; den Ursprung des Universalienstreites verlegt er in das 11. Jahrhundert (vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 3. Band, hg. v. G. Irrlitz, Leipzig 1971, S. 95 f.). M. Buhr versteht den Universalienstreit seinem Wesen nach als „eine Erscheinungsform des Kampfes von Materialismus und Idealismus im Mittelalter" (vgl. Buhr, Artikel „Universalienstreit", in: Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, hg. v. G. Klaus und M. Buhr, 11. Aufl., Leipzig 1975, S. 1241). Demgegenüber teilt M. Novoselov die Diskussion um das Universalienproblem in antike, mittelalterliche und die der Neuzeit ein, wobei er den mittelalterlichen Universalienstreit auf das Gebiet der Theologie eingrenzt (vgl. Novoselov, Artikel „Universalija", in: Filosofskaja enciklopedija, Bd. 5, Moskva 1970, S. 278 f.). 3 So Oiserman, Τ. I.: Die philosophischen Grundrichtungen, Berlin 1976, S. 345. 4 Aristoteles, Zweite Analytik, 77 a 7. 5 Aristoteles, Peri hermeneias, 17 a 39. 6 Aristoteles, Zweite Analytik, 86 a 3, 87 b 30; Über die Seele, 417 b 22-24. 7 Aristoteles, Zweite Analytik, Buch II, Kap. 19; Über die Seele, Buch III, Kap. 8; Physikvorlesung, 247 b 1. 8 Aristoteles, Physikvorlesung, Buch I, Kap. 1. 9 Aristoteles, Metaphysik, 1042 a 21. 10 Aristoteles, Kategorien, Kap. 5. 11 Aristoteles, Von den Teilen der Tiere, Buch I, Kap. 1-5. " Ebenda, Buch I, Kap. 4, 644 a 27. 13 Aristoteles, Metaphysik, 1038 b 35 ff. Ebenda, 1017 b 35 ff. 15 Vgl. Müller, R.: Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung, in: Der Mensch als Maß der Dinge, hg. v. R. Müller, Berlin 1976, S. 239-268. 16 Vgl. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, Kap. 3, S. 84 (in unserer Ausg. S. 58). 17 Sextus Empiricus, Pyrrhonici hypotyposes, ed. H. Mutschmann/J. Mau, Leipzig 1958, Buch A, § 138, S. 36 (= Sexti Empirici Opera, Vol. I). 18 Galen. Einfuhrung in die Logik, Kommentar und Übersetzung v. J. Mau, Berlin 1960, Kap. III.2, S. 3 (= Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für griech.röm. Altertumskunde. Arbeitsgruppe für hellen.-röm. Philosophie. Veröffentlichung Nr. 8). 19 Sextus Empiricus, Pyrrhonici hypotyposes, a.a.O., Buch B, §§ 219-227, S. 120-123. 20 Ebenda, S. 122 f.
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22 23
24
25
347
Sextus Empiricus, Adversus physicos, ed. H. Mutschmann, Leipzig 1914, Buch B, § 218, S. 349 ( = Sexti Empirici Opera, Vol. II). Ebenda, §§ 234-236, S. 352. Pohlenz, M.: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 3. Auflage, Göttingen 1964, S. 69. Prantl, C.: Geschichte der Logik im Abendland, 1. Band, Berlin 1955, S. 428 (Reprint der Ausgabe von 1855); J. Thomasius berichtet über die bereits im 16. und 17. Jahrhundert kontrovers geführte Debatte, ob die Stoiker als Nominalisten oder als Gegner der Nominalisten zu betrachten sind (Thomasius, J.: Oratio XII. De secta Nominalium, a.a.O., S. 250); die Zuordnung der Stoiker zum Nominalismus zieht auch F. Jürß in Zweifel und sieht ihre Position jenseits von Realismus und Nominalismus (vgl. F. Jürß et al.: Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, Berlin 1982, S. 397 f.). Zum Problem der Authentizität der Bücher Ε - Ν des von M. Hayduck herausgegebenen „Metaphysik"-Kommentars des Alexander v. Aphrodisias" ( = Commentaria in Aristotelem Graeca, Vol. I, Berlin 1891) vgl. Moreaux, P.: Alexandre d'Aphrodise. Exegete de la Noetique d'Aristote, Liege - Paris 1942, S. 14-19. Moreaux sieht eine große Wahrscheinlichkeit gegeben, daß dieser Kommentartext Michael von Ephesos zuzuschreiben sei. Gleichzeitig räumt er ein, daß es zwischen Alexander und dem späteren Verfasser dieses Kommentartextes weitgehende inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt. Somit enthalten die Bücher Ε - Ν neben originalen Gedankengängen Alexanders v. Aphrodisias zugleich auch ein Stück späterer Interpretation durch seine Anhänger.
Aristoteles, Metaphysik, 1038 b 35,1042 a 21. Alexander von Aphrodisias, Kommentar zur Metaphysik, hg. v. M. Hayduck, Berlin 1891, CAG I, S. 497. 2 8 Ebenda, S. 497. » Ebenda, S. 525. so Ebenda, S. 472. 3 1 Ebenda, S. 684; vgl. auch Freudenthal, J.: Die durch Averroes erhaltenen Fragmente Alexanders zur Metaphysik des Aristoteles, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1884. Phil.-Histor. Abhandlungen, S. 100 f., Fragment 22. Hier gibt Freudenthal eine von dem Text der Hayduck-Ausgabe abweichende Kommentierung derselben Textstelle („Metaphysik", 1017 a 17-29) in der Vermittlung durch Averroes wieder: „Er [Aristoteles] meint, das allgemeine Prinzip existiert nicht außerhalb der Seele, sondern das Existierende ist nur das Individuelle. Denn dieser bestimmte Mensch wird nur von einem bestimmten Menschen gezeugt, nicht aber von einem allgemeinen Menschen." Sinngemäß wird damit dasselbe ausgedrückt wie in der angeführten griechischen Version bei M. Hayduck. 3 2 Ebenda, S. 670. 3 3 Ebenda, S. 544. 3 4 Ebenda, S. 463, 612. 3 5 Als Vertreter einer nominalistischen Position wird Alexander von Aphrodisias u. a. von K. Prächter (Ueberweg, F./Prächter, K.: Die Philosophie des Altertums, 12. Aufl., Berlin 1926, S. 564) und von R. Müller eingeschätzt (F. Jürß et al.:Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, a.a.O., S. 521). 3 6 Vgl. dazu Dietrich, A.: Die arabische Version einer unbekannten Schrift des Alexander von 26 27
348
Anhang
Aphrodisias über die Differentia specifica, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Jg. 1964, Phil.-Hist. Kl., Göttingen 1964, S. 85-148; Ess, J. van: Über einige neue Fragmente des Alexander von Aphrodisias und des Proklos in arabischer Übersetzung, in: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des Islamischen Orients, Berlin 42 (1966), H. 2-3, S. 148-168; Gätje, H.: Zur arabischen Überlieferung des Alexander von Aphrodisias, in: Zeischrift der deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Wiesbaden, Bd. 116 (1966), S. 255-278. 3 7 Siehe Dietrich, Α.: Die arabische Version..., a.a.O., 123-143; Dietrich gibt den arabischen Text mit deutscher Übersetzung. « Ebenda, S. 127, Nr. 8. Ebenda, S. 125, Nr. 7. 40 Ebenda, S. 141, Nr. 7 4 1 Ebenda, S. 143, Nr. 12; S. 129, Nr. 12. 4 2 Ebenda, S. 141 f., Nr. 10. 4 3 Ebenda, S. 141, Nr. 7. 4 4 Ebenda, S. 94. 4 5 Pseudo-Archytas, Über die Kategorien. Texte zur griechischen Aristoteles-Exegese, hg., übers, u. komment. ν. Τ. A. Szlezäk, Berlin-New York 1972, S. 105 ( = Peripatoi, Bd. 4). 4 6 Das Kategoriensystem des Aristoteles besteht aus folgenden 10 Kategorien: Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Raum, Zeit, Lage, Haben, Wirken, Leiden. Zur Problematik dieses Systems im Rahmen der Gesamtphilosophie von Aristoteles und zu seiner Auslegung und Entwicklung vgl. Einleitung und Kommentar von Klaus Oehler (Übersetzer) zu: Aristoteles. Kategorien, übers, u. erl. v. K. Oehler, Berlin 1984 (= Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 1, Τ. I). 4 7 Pseudo-Archytas, a.a.O., S. 52 ff. (deutsche Übersetzung S. 78 f.). 4 8 Ebenda, S. 34 (Übers. S. 71). 4 9 Simplikios, Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien", hg. v. C. Kalbfleisch, Berlin 1907, S. 13, 67 ( = CAG, Vol. VIII). 5 0 Pseudo-Archytas, Über die Kategorien, a.a.O., S. 49; Szlezäk gibt ebenfalls den griechischen Text mit deutscher Übersetzung. 51 Ebenda, S. 64 (Übers. S. 82 f.). 5 2 Beide Schriften sind kritisch ediert worden von A. Busse: Porphyrii Isagoge et in Aristotelis Categories Commentarium, Berlin 1887. ( = CAG VI,1). 5 3 Ebenda, S. 58. 5 4 Ebenda, S. 58. 5 5 Ebenda, S. 89. 5 6 Ebenda, S. 71. 5 7 Ebenda, S. 74. « Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 65. 6 0 Ebenda, S. 72. 6 1 Ebenda, S. 78. 6 2 Ebenda, S. 82. 6 3 Ebenda, S. 91. 6 4 In unserer Ausg. S. 3 - 20.
Anmerkungen zum Nachwort
349
«s Vgl. S. 7 f. sowie S. 286, Anm. 4. 6 6 Dexippos, Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien", hg. v. A. Busse, Berlin 1888, CAGIV, 2. 6 7 Ebenda, S. 6. 6 8 Vgl. Sextus Empiricus, Adversus logicos, in: Opera, Vol. II, a.a.O., Buch B, §§ 11-12, S. 106. 6 9 Dexippos, Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien", a.a.O., S. 9 f. 7 0 Ebenda, S. 14. 71 Ebenda, S. 26 f. 7 2 Porphyrios, Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien", a.a.O., S. 80 f. 7 3 Dexippos, Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien", a.a.O., S. 45. 7 " Ebenda, S. 45. 7 5 Prantl., C.: Geschichte der Logik im Abendlande, 1. Band, a.a.O., S. 642 u. 7 6 Ammonios Hermeiou, Erklärung der Fünf Wörter, hg. v. A. Busse, Berlin 1891, CAG IV,3, S. 41 f. 7 7 Ebenda, S. 43 f. 7 8 Ebenda, S. 44. 7 9 Ebenda, S. 44. 8 0 Ebenda, S. 44. 8 1 Ebenda, S. 62. 8 2 Ebenda, S. 62. 8 3 Ebenda, S. 68 f. 8 4 Ebenda, S. 86. 8 5 Ammonios Hermeiou, Kommentar zu den „Kategorien" des Aristoteles, hg. v. A. Busse, Berlin 1895, CAG IV,4, S. 41. 8 6 Olympiodoros, Kommentar zu den „Kategorien", hg. v. A. Busse, Berlin 1902, CAG XII,1, S. 18. 8 7 Ebenda, S. 18. 8 8 Ebenda, S. 41. 8 9 Ebenda, S. 58. 9 0 Simplikios, Kommentar zu den „Kategorien" des Aristoteles, a.a.O., S. 13. 9 1 Ebenda, S. 83. 9 2 Ebenda, S. 84. 9 3 Ebenda, S. 84. 94 Ebenda, S. 85. 9 5 Ebenda, S. 85. 9 6 Reiners, J.: Der aristotelische Realismus in der Frühscholastik, Diss, phil., Bonn 1907. 9 7 Reiners, J.: Der Nominalismus in der Frühscholastik, a.a.O. 9 8 Ebenda, S. 4. 9 9 Boethius, In Isagogen ed. sec., S. 167 (in dieser Ausg. S. 31). 1 0 0 Ebenda, S. 166 (in dieser Ausg. S. 30 f.). 101 Ebenda, S. 199. ι" 2 Boethius, In Categorias, PL 64, Sp. 180. 103 Ebenda, Sp. 190. 1 0 4 Ebenda, Sp. 172; vgl. Porphyrios, Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien", a.a.O., S. 77.
350 105
Anhang
Boethius, Kommentar zu Aristoteles' „Pen hermeneias", 1. Ausgabe, in: Anicii Manlii Severini Boetii commentarii in Librum Aristotelis „Pen hermeneias", hg. v. C. Meiser, 1. Teil, Leipzig 1877, S. 37. 106 Johannes von Salisbury, Metalogicus, Buch II, Kap. 17, S. 91 (in dieser Ausg. S. 208 f.). 107 Boethius, De trinitate, S. 8 (in dieser Ausg. S. 53). 108 Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, S. 120 (in dieser Ausg. S. 69). 109 Johannis Scoti Περι φύσεως μερισμού, id est De divisione naturae Libri quinque, ed. H. J. Floss, in: PL 122, S. 463. "o Ebenda, S. 469. ι » Ebenda, S. 471. ι " Ebenda, S. 471. ι " Ebenda, S. 472. ii" Ebenda, S. 507. us Ebenda, S. 527. Ii« Ebenda, S. 494. Ii? Ebenda, S. 630. 118 Anonymi Paraphrasis Themistiana (Pseudo-Augustini Categoriae decern), § 30, S. 140; §§59-60, S. 146, in: Aristoteles Latinus, Vol. I, 1-5, ed. L. Minio-Paluello, Leiden 1961. u 9 Reiners, J.: Der Nominalismus in der Frühscholastik, a.a.O., S. 21 f. 120 Marenbon, J.: John Scottus and the „Categoriae Decern", in: Eriugena. Studien zu seinen Quellen, hg. v. W. Beierwaltes, Heidelberg 1980, S. 117-134 (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. 3/1980). 121 Vgl. Johannis Scotti Annotationes in Marcianum, ed. C. E. Lutz, Cambridge/Mass. 1939; textkritische Ergänzungen auf Grund von handschriftlichen Belegen gibt G. Schrimpf: Das Werk des Johannes Scottus Eriugena im Rahmen des Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit, Beiträge, N. F. 23 (1982), S. 48 ff., 291-300. 122 Johannes Scotti Annotationes in Marcianum, a.a.O., S. 93 u. 98, zitiert nach: G. Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena . . . , a.a.O., S. 52. 123 Vgl. G. Schrimpf, a.a.O., S. 55. 124 Vgl. Johannes Scotti Annotationes in Marcianum, a.a.O., S. 96 u. 98; Johannis Scoti... De divisione naturae, a.a.O., S. 471; Schrimpf, G.: Das Werk des Johannes Scottus Eriugen a . . . , a.a.O., S. 56 f. 125 Vgl. Remigii Antissiodorensis commentum in Martianum Capellam, I—II, ed. C. E. Lutz, Leiden 1962-65. 126 Haureau, B.: Histoire de la philosophie scolastique, 1. Band, Paris 1872, S. 193 ff. 127 Rand, Ε. K.: Johannes Scottus, München 1906, S. 17 (= Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, 1. Band, 2. Heft). 128 Vgl. dazu: Ratrami Monachi Corbeiensis Liber de Anima ad Odonem Bellovacensem Episcopum contra quemdam Monachum qui unam in omnibus animam esse contendebat, in: Ratramne de Corbie. Liber de Anima ad Odonem Bellovacensem, hg. v. D. C. Lambot, Namur-Lille 1952, S. 25-144 (= Analecta Mediaevalia Namurcensia 2). - Eine Analyse der Auseinandersetzung von Ratramnus mit seinem Gegner enthält das Buch von P. Delhaye: Une controverse sur l'äme universelle au IXe siecle, Namur-Lille 1950 (= Analecta Mediaevalia Namurcensia 1).
Anmerkungen zum Nachwort 129
351
Vgl. Baeumker, C./Waltershausen, B. S.: Frühmittelalterliche Glossen des angeblichen Jepa zur Isagoge des Porphyrios, Münster 1924, Beiträge XXIV, 1. 130 Cousin, V.: Ouvrages inedits d'Abelard, Paris 1836, S. LXXXV. 131 Vgl. Reiners, J.: Der Nominalismus in der Frühscholastik, a.a.O., S. 26 ff.; Endres, J. Α.: Forschungen zur Geschichte der frühmittelalterlichen Philosophie, Beiträge XVII,2/3 (1915), S. 131-149; Werner, E.: Stadt und Geistesleben im Hochmittelalter, Weimar 1980, S. 74-82. 132 Vgl. Otto von Freising und Rahewin, Gesta Frederici seu rectius Chronica, hg. v. F.-J. Schmale, Berlin 1965, Kap. 50, S. 224. 133 Vgl. Roscelin, Brief an Abaelard, S. 75 (in dieser Ausg. S. 73). 134 Vgl. Kluge, E.-H. W.: Roscelin and the Medieval problem of Universals, in: Journal of the history of philosophy, Berkeley/Cal., Vol. 14 (1976), Nr. 4, S. 407; Kluge verzeichnet allerdings das reale Bild, wenn er Roscelins Nominalismus als Reaktion eines „reinen Aristotelikers" auf eine von Boethius ausgehende Strömung des „extremen Realismus" interpretiert (a.a.O., S. 412). 135 PeterAbaelardsTheologica„Summi Boni", hg. v. H. Ostlender, BeiträgeXXXV, 2/3 (1939), Buch II, Kap. II, Fragen 12 und 14, S. 44. 136 Anselm von Canterbury, Epistola de incarnatione Verbi, S. 9 (in dieser Ausg. S. 76). 137 Anselm von Canterbury, Monologion, in: S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Opera omnia, Tom. I, Vol. I, ed. F. S. Schmitt, Stuttgart - Bad Cannstatt 1968, S. 25. iss Ebenda, S. 48. 139 Ebenda, S. 45. 140 Vgl, Petrus Abaelard, Logica „Ingredientibus". Glossen zu Porphyrios, S. 16 (in dieser Ausg. S. 139 f.); ders., Logica „Ingredientibus". Glossen zu den Kategorien, S. 141 (in dieser Ausg. S. 160); ders., Dialectica, hg. v. L. M. de Rijk, Assen 1956, S. 597. 141 Petrus Abaelard, Logica „Ingredientibus". Glossen zu Porphyrios, S. 16 ff. (in dieser Ausg. S. 140). 142 Petrus Abaelard, Logica „Nostrorum petitioni", S. 522 (in dieser Ausg. S. 171). 143 Vgl. Wohler, H.-U.: Zur philosophischen Position des Nominalisten Petrus Abaelard, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin, 27. Jg. (1979), Heft 6, S. 678-683. 144 Petri Abaelardi Commentaria in Epistolam Pauli ad Romanos, in: Petri Abaelardi Opera theologica, Vol. I, ed. Ε. M. Buytaert, Turnhout 1969, S. 78 (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, Vol. XI). 145 Anonymi Capitula haeresum Petri Abaelardi, in: Petri Abaelardi Opera theologica, Vol. II, ed. Ε. M. Buytaert, Turnhout 1969, S. 479 (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, Vol. XII). 146 Lefevre, G.: Les variations de Guillaume de Champeaux et la question des universaux, in: Travaux et memoires de l'Universite de Lille, Tome VI, Memoire Nr. 20, Lille 1898, S. 1-17. 147 Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, übers, v. E. Brost, Berlin 1963, S. 11 f. 148 Vgl. Abaelard, Logica „Nostrorum petitioni", S. 515 ff. (in dieser Ausg. S. 164 ff.); ders., Logica „Ingredientibus", S. 37. 149 Anonymus, De generibus et speciebus, S. 163 (in dieser Ausg. S. 129). 150 Reiners, J.: Der aristotelische Realismus in der Frühscholastik, a.a.O., S. 43.
352 151
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Anhang
Vgl. Geyer, B.: Peter Abaelards philosophische Schriften. Untersuchungen, in: Beiträge XXI,4, Münster 1933, S. 595; Johannes von Salisbury, Metalogicus, S. 95. Johannes von Salisbury, Metalogicus, S. 93 (in dieser Ausg. S. 209). Reiners, J.: Der aristotelische Realismus in der Frühscholastik, a.a.O., S. 27 ff. Vgl. Johannis Scotti Περί φύσεως μερισμού, id est De divisione naturae, a.a.O., S. 469. Adelard von Bath, De eodem et diverso, S. 22 (in dieser Ausg. S. 102 f.). Gilbert de la Porree, Expositio in Boecii librum primum de Trinitate, S. 85 f. (in dieser Ausg. S. 189); gegen eine Trennung von Gott und seinem Wesen spricht sich Gilbert aber in derselben Schrift S. 90 (in dieser Ausg. S. 192 f.) aus. Ebenda, S. 102 (in dieser Ausg. S. 202 f.). Ebenda, S. 88 f. (in dieser Ausg. S. 191 f.). Ebenda, S. 101 (in dieser Ausg. S. 202). Gilbert de la Porree, Expositio in Boecii librum contra Euticen et Nestorium, S. 319 f. (in dieser Ausg. S. 207). Johannes von Salisbury, Metalogicus, S. 94 f. (in dieser Ausg. S. 210). Otto von Freising und Rahewin, Gesta Frederici seu rectius Chronica, a.a.O., Kap. 5, S. 128 f. Johannes von Salisbury, Metalogicus, S. 93 (in dieser Ausg. S. 209) u. 205 f. Ebenda, S. 91-96 (in dieser Ausg. S. 208-211). Im einzelnen nennt Johannes dort die folgenden Universalienkonzepte: - Roscelins Gleichsetzung der Universalien mit gesprochenen Worten (voces). - Abaelards Identifizierung der Universalien mit sinnvollen sprachlichen Ausdrücken (sermones). - Ciceros und Boethius' Auffassung der Universalien als Gedanken oder Begriffe (intellectus). - die Lehre Walters von Mortagne von den Universalien als besonderen „Status" der Dinge. - den platonischen Universalienrealismus des Bernhard von Chartres. - die Konzeption Gilberts von Poitiers (G.s de la Porree) von den „angeborenen Formen" (formae nativae). - die Lehre von den Universalien als „Ansammlungen" (collectiones) des Gauslenus von Soissons. - die Auffassung der Universalien als „Abart, Typ" (maneries) von Dingen. Wenn Johannes von Salisbury in seinem zeitgleich mit dem „Metalogicus" entstandenen Werk „Policraticus" bemerkt, daß man die Universalien leichter im Geiste als in dem Akt der Dinge finden könne, so spricht er sich damit noch nicht für den Nominalismus oder den Konzeptualismus aus. Vielmehr verweist er auf die gegenseitige Übereinstimmung der Dinge als realer Basis der Existenz der Universalien (Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive De nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII, ed. C.C.I. Webb, Tom. I, Oxford 1909, Lib. Π, Kap. XVin, S. 105 f.). Später äußerte sich Johannes jedoch ganz eindeutig im Sinne des Universalienrealismus gegen den Nominalismus: der Nominalismus bleibe an den Worten haften, während die echte Philosophie und mit ihr der Universalienrealismus die Dinge selbst erfasse (Brief an Magister Balduin, Archidiakon von Totnes, vom Dez. 1167/Jan. 1168, in: The Letters of John of Salisbury, Vol. II: The later Letters [1163-1180], ed. by W. J. Millor and C.N.L. Brooke, Oxford 1979, Nr. 238, S. 450).
Anmerkungen zum Nachwort 166
353
Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici..., Tom. I—II, Oxford 1909. Die „Ars Meliduna" wurde von L. M. de Rijk teilweise ediert in: L. M. de Rijk, Logica Modernorum. A contribution to the history of early terminist Logic. Vol. II, Part One: The origin and early development of the theory of supposition, Assen 1968, S. 264-390. «β Vgl. Anm. 36. 169 Vgl. Walzer, R.: Porphyry and the Arabic tradition, in: Entretiens sur l'antiquite classique. Tome XII: Porphyre, Geneve 1966, S. 275-297 (= Fondation Hardt pour l'etude de l'antiquit6 classique. Entretiens, Tome XII). 170 Dunlop, D. M. (Hg. u. Übers.): Al-Farabi's introductory sections on logic, in: The Islamic Quarterly. A Review of Islamic Culture, Vol. II, Nr. 4, London 1955, S. 264-282; Al-Farabi's „Eisagoge", in: The Islamic Quarterly, Vol. Ill, Nr. 2, London 1956, S. 117-138; Al-Farabi's Introductory Risalah on Logic, in: The Islamic Quarterly, Vol. Ill, Nr. 4, London 1957, S. 224-235; Al-Farabi's Paraphrase of the „Categories" of Aristotle, in: The Islamic Quarterly, Vol. IV, Nr. 4, London 1958, S. 168-197, und Vol. V, Nr. 1-2, London 1958, S. 21-54. Die neuere russische Übersetzung der genannten Schriften (Al-Farabi: Logiceskie traktaty, Alma-Ata 1975) basiert ebenfalls auf der Ausgabe von Dunlop. Es fehlt „Al-Farabi's Introductory Risalah on Logic". 171 Al-Farabi's „Eisagoge", a.a.O., S. 128. 172 Al-Farabi's Introductory Risalah on Logic, a.a.O., S. 233. Ebenda, S. 234. 174 Al-Farabi's Paraphrase of the „Categories" of Aristotle, a.a.O., Vol. IV, Nr. 4. S. 183-185. 175 Ebenda, S. 185. 176 Al-Farabi's Paraphrase of the „Categories" of Aristotle, a.a.O., Vol. V., Nr. 1-2, S. 42 f. 177 Chajrullaev, M.: Farabi. Epocha i ucenie, Taskent 1975, S. 259-261. 178 Als Vertreter eines solchen Konzepts charakterisierten Ibn Sina u. a. T. J. de Boer: Geschichte der Philosophie im Islam, Stuttgart 1901, S. 122; C. Prantl: Geschichte der Logik im Abendland, 2. Band, Berlin 1955, S. 356 f. Gegen eine solche einseitige Einschätzung spricht sich u. a. M. S. Asimov aus (Ibn Sina ν istorii mirovoj kultury, in: Voprosy filosofii, Moskva 1980, Η. 7, S. 45-53). 179 Horten, M.: Die Philosophie des Islam in ihren Beziehungen zu den philosophischen Weltanschauungen des westlichen Orients, München 1924, S. 24 f. 180 Vgl Avicenna, Opera omnia, Venedig 1508, fol. 12 v. A. und fol. 12 v. B., nach C. Prantl: Geschichte der Logik im Abendland, 2. Band, a.a.O., S. 356 f., Anm. 184-187. 181 Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele. Die Metaphysik Avicennas, S. 458 ff. 182 Vgl. Johannes Philoponos, Kommentar zu Aristoteles' „Kategorien", ed. A. Busse, Berlin 1898, CAG XIII, 1, S. 58; ders.: Kommentar zur „Zweiten Analytik", ed. M. Wallies, Berlin 1909, CAG XIII,3. 183 The Metaphysica of Avicenna. A critical translation-commentary and analysis of the fundamental arguments in Avicennas Metaphysica in the Danish Nama-i 'ala'i, übers, und komm. v. P. Morewedge, London 1973, S. 64 ff. 184 Ebenda, S. 35. 185 Averroes, Middle Commentary on Porphyry's Isagoge, translated from the Hebrew and Latin versions, and on Aristotle's „Categoriae", translated from the original Arabic and the Hebrew and Latin versions, with notes and Introduction by H. A. Davidson, Cambridge/ 167
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Siglen und Zeichen
PL
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unsere Ausgabe: Auslassung des Hg. unsere Übersetzung: vom Übers, hinzugef. Wort(e) Text 18 u. 20: vom Übers, des arab. Textes hinzugef. Wort(e)
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Sach- und Terminiverzeichnis
Abart, Typ (maneries): 113,210 f., 352 Abstraktion (abstractio): 146 f., 148-152, 156,190, 219,265,274, 302, 308, 338 Ähnlichkeit (similitudo): 28,30, 71, 73, 75, 89, 107, 110, 113,126,137,143,147,150, 206,212, 297,302,317, 324, 331, 336-338 Akzidens (accidens): 12 f., 16-20, 24, 39-46, 54, 58 f , 102 f , 136,193 f., 202,220 f., 250-256,265,299 f., 302, 327,336, 339 -, abtrennbares: 12,19 -, nicht-abtrennbares: 9,12,19 f. -, partikuläres (particulare): 40-46,170 -, universales (universale): 40-46 Allgemeines (commune; vgl. „Universale" u. „Gemeinsames"): 74, 77 f., 154, 298, 302, 308 f., 314, 317, 320,342 Allgemeinheit (universalitas): 62,105,140, 157, 167,169,173 Ansammlung (collectio, collectivum): 8,91, 115 f , 119,122 f , 126,128,133,137 f., 179,223,352 Ausdruck, sprachlicher (sermo): 37 f., 140, 162-164,171 f., 208, 224 f., 332, 352 Christus: 56,60-69, 75,90, 288 f., 325 Collectio-Lehre: 291 f , 333 f. Definition (definitio): 3, 9, 11,127, 164,172, 219,276-279,281-284, 295 Differenz (differentia): 9-18, 72,107,112, 125,159,194 f , 224, 245 f , 249-252,276, 300, 303, 313, 339
-, spezifische (specifica): 9,251 f., 257-259, 299,302 f. -, substantielle (substantial): 32,112,163, 202 Ding (res): 25,28 f , 37 f , 49, 55,58, 71 f , 77-84, 97-99,101 f., 104,118, 132 f , 155-157,158-160, 162, 174,208 f , 224 f , 287,291, 316,319, 324,352 Ebenbild (similitudo): 49, 90,144,146,148, 287, 340 Einheit, -lichkeit, Einzigkeit (unitas): 71, 87 f , 95,223,264 Eins (unum): 3, 28, 35 f., 54, 60, 73,155, 178 f., 192, 199,203, 220,303 -, zahlenmäßiges (numero): 28, 39, 45, 155, 209,220, 225 Einteilung (divisio): 3, 9-11, 39,48, 98, 111, 124,160,164,249, 290,299 Einzelnes, Einzelding (individuum, particulare, singulare, unum): 8,30 f., 57,97, 105, l l l f , 114, 123,125,132, 298,302, 342 Element (elementum): 61,107,127-129, 185,276 Enthaltensein (inesse, esse in aliquo): 42 f., 116, 334 Erbsünde (peccatum originale): 64, 333 Essenz (essentia): 189-193,199 f., 202 f., 205 f , 219 Existenz, existieren (esse, substare, subsistere, existere): 58 f., 60, 82,90,107, 113 f., 124, 153,175,179 f , 192-194,
364
Anhang
205 f , 215, 218, 232-235, 237, 246, 257, 265, 279,300,302,311,313,320, 337, 340,342, 347 Form (forma): 11,14, 44, 48, 53 f., 65, 97 f., 102,104,106-108,114-116, 125,128,133, 136 f , 143,152,164 f., 166, 185-193,201, 212, 218-222,225, 263-265, 270, 274-285, 302 f , 313 f , 336 f. Formen, angeborene (formae nativae): 210 f., 337, 352 Gedanke (intellectus): 3,26,49,144-150, 152,154,162 f., 175 f., 179 f., 287, 319, 324, 352 Gemeinsames (commune; vgl. .Allgemeines"): 8,28, 83, 133,138,155 f., 178, 293 Genus, Gattung (genus): 3-17, 21,26-31, 36, 46 f , 59, 62, 98,100,102,104,106, 108,124-127, 129,136,146,152,158 f., 168,172,174 f , 179,190,194 f , 206, 208, 220-226,242-255, 259 f., 276,280-282, 286 f., 292,297, 299 f., 303, 308 f., 311, 313 f., 316-329, 339 f., 343 -, oberstes (generalissimum): 6-8,15, 31 f., 102,104,108 f., 135,138,159,164, 312, 314, 340 -, subalternes (subalternum): 7,33,102,104 Göttlichkeit (divinitas): 60-69, 73, 89, 165, 189,199 f. Gott (deus): 10,13,17, 23 f , 53-56, 59, 60-69, 70 f , 74-92, 94-96,108,131,146, 150 f., 165,185, 189,192 f., 199, 202 f., 218-221,235,288 f , 300, 326, 330, 332, 336,352 Gottheit (deitas): 59, 79, 83, 87, 288, 301 Grad (gradus): 72 f., 102 Hypostase: 74,325 Idee, platonische: 186, 209 f., 222, 225, 234 f , 241,268,270 f., 273, 301, 307 f., 314, 318, 337 f., 342,344
Imposition (impositio): 117,119,122,124, 132,148,155,163 f., 180 f , 316 Indifferenz (indifferentia): 108-110,114, 128,137,167,180,223,225,230 f. Indifferenz-Lehre: 126,137, 333, 335 Individuum (individuum): 4-9,13,15-17, 32 f., 39, 45-48, 57-59, 76, 99 f., 102,104, 108 f., 114 f , 122,128,136-139,162, 168 f., 171,190,223 f., 228-239, 246 f , 254-257, 270,272,292,298, 301, 308 f., 312 f., 317 f., 322 f., 330, 334, 337, 340, 343 Intentionen, zweite (intentiones secundae): 275, 302,344 Kategorie (praedicamentum): 34,37 f., 39, 102,121, 135 f , 158,164,261, 286, 291, 313-319, 326 f , 340 f , 348 Körper, -liches, -lichkeit (corpus, corporale, corporalitas): 3, 21,23 f., 27,29, 53, 56, 65 f , 125,127-131,134,152 f , 176 f , 185, 196-198, 205,212,223,243-255, 283 f , 299, 303, 343 Konzeptualismus: 324, 352 Materie (materia): 11, 14, 44, 48, 53 f., 55, 65 f , 99,104,106-108,114-116,123,125, 127 f., 133,136 f., 165,185-189, 191 f., 200 f , 218-220,237,243-245, 252 f , 270 f , 276-285, 303 f., 312 f , 325 Mensch (als Spezies; homo): 6,13,17, 22 f., 39, 45-48, 50, 60-69,76,90 f , 99,104,107, 109,112,116,119,121,123,137,142,190, 224,311,347 Menschentum (humanitas): 30, 50 f., 54, 60-69, 89,115 f , 118,120-122,126 f , 129, 137,193, 200, 263 f., 288, 325 Modus des gedanklichen Erfassens (modus intelligendi, concipiendi): 149,179, 212, 220 - der Bedeutung, des Kennzeichnens/der Bezeichnung (significandi, significationis): 153 f , 159,161, 212 - des wirklichen Existierens (subsistendi, existendi): 149,179, 212
Sach- und Terminiverzeichnis Name (nomen): 91, 98 f., 101 f., 141,211, 295, 319 Natur, Naturgegebenes (natura, in natura, naturaler): 51 f , 55-69, 74, 76, 82, 84-88, 90 f , 102,116,119 f., 122,134,141, 146-148,167,171,187, 206,213,218, 228-238,272, 287 f , 290,298, 308, 319, 325, 335-337, 341, 344 Nomen (nomen): 117 f , 132,140 f , 175 f , 225,290,294 Nominalismus: 313, 323, 328 f., 330-334, 338, 341 f., 344 f , 347, 351 f. Partikulär(es) (particulare): 8, 39, 41, 50 f., 111, 160, 162,169,205 f., 265, 344 Partikularität (particularitas): 39-46, 52,111, 125 f. Person (persona): 56-92, 174,288 f., 310 f., 325 Piatoni tat (platonitas): 50 f., 114 f., 182 Prädikabile (praedicabile): 4, 318, 340, 343 Prädikation, Prädizieren, Prädiziertwerden (praedicatio, praedicare, praedicari): 36, 116 f , 121 f , 141,169 f , 223 f., 258 f., 292, 318, 321, 334, 340, 342 f. Proprium (proprium): 12-20,24, 77 f., 83, 196,198,200, 252-255, 258, 339 Quiddität: 265-270, 272 f., 283 Realismus (d. h. Universalienrealismus): 327 f , 331, 333, 336-339,343, 345, 347, 351 f. Relation (relatio, ad aliquid): 78 f., 81, 95, 214-217, 264,323, 328, 334 f. Sein (esse): 23, 27, 29, 36, 42 f., 53 f., 59, 85 f., 131,181,185-188,191 f., 194-198, 202,205 f., 219,222, 302 f. Seiendes (ens): 7, 33-36, 38, 41, 163, 222, 224,286,300, 308, 311, 316, 322 Singulär(es), Singularität (singulare, singularitas; vgl. „Einzelnes"): 71,73-75,105, 126,134,140,155,174,182, 199,213 f , 216 f , 220-222, 225, 292, 336
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Sokratität (socratitas): 104 f., 107-109, 114 f., 116,118,140, 182, 334 Spezies, Art (species): 5-21,23, 26-30, 46 f., 59, 76, 79, 98, 100, 102,104,106, 112, 122-126,129,152,159,174 f., 190,194 f , 219-226, 237,245 f., 256-258, 260,262, 287, 292,297, 299 f., 311, 316-329, 339 f. -, unterste (specialissima): 6-8,15,31 f., 102,127,136,208, 256 f., 292, 303 Status (status): 105 f., 109 f., 141,143 f , 146 f., 150,154,158,161,167-169,171 f , 176, 206 f., 209, 211, 217, 323, 327, 332, 334 f , 337, 352 Status-Lehre: 333-335 Subsistenz, subsistieren, Subsistierendes (subsistentia, subsistere, subsistens): 27, 47, 58-60,134,152 f., 176,185-188,190 f., 193-196,198-200, 205-207,337 Substanz (substantia): 6, 23, 39-41,44, 48, 55-59, 65 f., 70-73, 78 f., 86,109,128, 133, 135 f., 156,158-160,165 f., 172,193 f., 218, 280 f , 283, 326, 340 f , 343 -, erste, „erstes Wesen" (substantia prima): 46-48,123 f , 158-161, 312, 316 f., 324 -, partikuläre (particularis): 40-46, 57,160 f., 170 -, universale (universalis): 39-46, 57, 76, 160 f. -, zweite, „zweites Wesen", (substantia secunda): 46 f., 123 f , 158-161, 195,316, 324 Teilhabe, Teilhaberschaft (participatio): 8, 15,17,19, 79,127,133,165-167,191, 220, 307, 317,327 Trinität (trinitas): 53 f., 59, 70, 74 Universale, -ien (universale, -ia): VIII, 30 f., 39-41, 44,49, 50-52, 57 f., 99,105,108, 111 f , 117 f., 123, 125 f., 133 f , 137 f., 140 f., 144,146 f., 151-157,160,162,164, 170 f., 173 f., 178,181 f , 196, 205 f., 208-211, 213 f., 218 f., 221, 225, 227-242, 257, 264, 267 f., 272 f., 275 f , 287, 298, 300,313, 320, 332, 337-344, 352
366
Anhang
Universalienproblem, -streit: VIII-X, 290, 307-313, 315, 318,320 f., 338-341, 345 f. Universalität (universalitas; vgl. „Allgemeinheit"): 39-46, 51, 62, 111,125 f., 228, 237-241, 263 f , 298 Unkörperlich(es) (incorporate): 3,21-25,27, 30,48, 57, 65 f , 128,131,134, 152 f , 176 f , 217 f.
Wesen (essentia): 59, 70 f., 74, 86, 98,104 f , 108, 110, 115,117,127-129, 131,133, 135 f., 143, 165,233,265,298, 300, 317, 323, 325,342, 352 Wort (vox, vocabulum): 48,102,113 f., 118, 132 f., 140 f., 155, 158, 172 f., 175,208, 225,291,316, 319,324,352
Namenverzeichnis
(Es wurden nur Namen und Autoren der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit aufgenommen.) Abaelard, Petrus: X, 208, 290 f., 293 f., 330-333, 335 f., 351 f. Adelard von Bath: X, 290 f , 335, 352 Alexander von Aphrodisias: 29,178,287, 300, 302,312-314, 318, 320, 322-324, 339, 347 f. Ambrosius: 70, 73,288 f. Ammonios Hermeiou: 320-322, 342,349 Anaxagoras: 309 Andronikos von Rhodos: 320 Anselm von Canterbury (Α. von Aosta): X, 289 f., 331 f., 351 Antisthenes: 310 Archytas: 315 Areios (Arius): 72-75,289 Aristippos: 310 Aristoteles: IX, 3, 7,22, 31, 33 f , 37,39 f., 42 f., 56,100,107,113,121,124,127, 129,132,134,136,140 f , 143 f , 147 f , 158,162-166,171,174 f., 208,210 f , 213, 215, 217,221-225, 271, 277,285-288, 290-298, 301-304,307-310, 312-318, 320-322, 324 f., 327, 332, 335, 337, 339 f., 344-348 Athanasius: 72-74, 288 f. Augustinus, Aurelius: 70-73, 84, 96,210, 214,218, 221,225,288-290, 297, 326 Averroes: siehe Ibn Ruschd Avicenna: siehe Ibn Sina
Berengar von Tours: 329 Bernhard von Chartres: 209 f., 337, 352 Bernhard Silvestris: 337 Boethius, Anicius Manlius Severinus: IX, 107,110 f., 113-115,117,118-121, 123-126, 131-134,137 f., 142,145-147, 150,152 f., 155 f., 160,162-165,167 f , 174 f , 177-179, 181 f , 184, 187,189 f., 192,194,199,205,208-210,212,218 f., 224 f , 286 f , 291-298, 310, 318, 322-325, 329, 336, 346,349-352 Boethos von Sidon: 320 Chrysaorios: 3 Cicero, M. Tullius: 59, 208, 286,288,298, 352 Clarenbald von Arras: 337 Demokrit: 277 f., 309 f. Dexippos: 318-320, 349 Dionysios Thrax: 290 Euripides: 286 Eutyches: 62-64, 66-69,197, 288 Al-Farabi: 339-343, 353 Galen(os): 215, 297, 311, 339, 346 Gauslenus von Soissons: 210, 291, 297, 334, 352
368
Anhang
Al-Ghazali: 344, 354 Gilbert de la Porree: X, 210,297, 336 f , 352 Heiricus von Auxerre: 328 Heraklit: 309 Herminos: 322 Hieronymos: 71, 298 Horaz: 22, 286, 297 Iamblichos: 315,318, 322 Ibn Chaldun: 341 Ibn Ruschd: X, 300-303, 339, 343-345, 347, 353 f. Ibn Sina: X, 271, 283 f., 301, 339, 341 f , 344 f., 353 Isidor von Sevilla: 74, 289 Jepa: 329, 351 Johannes Philoponos: 339, 342,353 Johannes von Salisbury: X, 290 f., 297, 324, 334 f , 337 f , 350, 352 Johannes Scottus Eriugena: 326-328,330, 334, 337, 350, 352 Johannes Sophista: 330 Kratylos: 301
Plotin(os): 286, 301, 315-317, 319 f., 339 Porphyrios: IX, 3, 21, 23 f , 26 f , 36,106, 109 f., 112, 126,132 f., 136, 147,152,154, 160,162,164-167,170 f., 173 f., 225 f., 283, 286 f., 291-296, 317-324, 339 f., 343, 348 f., 353 Priscian(us): 121,140 f., 146 f., 154,159,163, 290, 292-295, 297, 303,316-324 Proklos: 320, 339,348 Protagoras: 310 Pseudo-Archytas: 314 f., 348 Pseudo-Augustinus: 326-328, 350 (Pseudo-)Dionysios Areopagites: 221, 297, 326 Pseudo-Rhabanus: 329 Ratramnus von Corbie: 329, 350 Remigius von Auxerre: 328, 350 Roscelin von Compiegne: X, 208, 289 f., 329-333, 336, 351 Sabellius: 71 f , 74 f., 80,288 Seneca: 209, 297 Sextus Empiricus: 303, 311 f., 346 f., 349 Simplikios: 303, 315, 322 f., 348 f. Sokrates: 271, 308, 346 Stilpon: 310
Lanfranc: 289 Macrobius: 165,287, 295 Martianus Capeila: 328 Michael von Ephesos: 347
Themistios: 271, 301,339 Theophrast(os): 52 Thierry von Chartres: 337 Thomasius, Jacob: VII, XI, 347
Nestorios: 56, 60-64, 69,288
Ulgerius von Angers: 213, 297
Olympiodoros: 322, 349 Otto von Freising: 337, 351 f. Ovid: 298
Urban II. (Papst): 289
Piaton: IX, 7, 31,100 f , 127-130,147 f , 153, 163,165,177 f., 182,185,191,209 f., 221 f., 225, 234, 271 f., 283,286,290, 293, 296, 301, 303, 307-310, 313-315,318, 324, 328, 332, 335, 338 f., 344
Victorinus, C. Marius: 21,286 Walter von Mortagne: 209, 297,334, 352 Wilhelm von Champeaux: 333, 351 Wilhelm von Conches: 337 Xenokrates: 314