Texte - Fakten - Artefakte: Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung 9783666539626, 9783727815591, 3727815590, 9783525539620, 3525539622


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Texte - Fakten - Artefakte: Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung
 9783666539626, 9783727815591, 3727815590, 9783525539620, 3525539622

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ΝΤΟΑ 59 Max Küchler / Karl Matthias Schmidt (Hg.) Texte - Fakten - Artefakte

Novum Testamentum et Orbis Antiquus Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Herausgegeben im Auftrag der Stiftung BIBEL+ORIENT Freiburg Schweiz von Max Küchler, Peter Lampe und Gerd Theissen

Band 59

Academic Press Fribourg Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen

Max Küchler / Karl Matthias Schmidt (Hg.)

Texte - Fakten - Artefakte Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung

Academic Press Fribourg Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz und der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Katholischen Neutestamentier (AKN) Die Druckvorlagen der Textseiten wurden von den Herausgebern als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. © 2006 by Academic Press Fribourg / Paulusverlag Freiburg Schweiz Herstellung: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN-13: 978-3-7278-1559-1 ISBN-10: 3-7278-1559-0 (Academic Press Fribourg) ISBN-13:978-3-525-53962-0 ISBN-10:3-525-53962-2 (Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen) ISSN 1420-4592 (Novum Testam. orb. antiq.)

Vorwort

Thema und Tagungsort ließen es sinnvoll erscheinen, dass die Beiträge zur Tagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen katholischen Neutestamentler (AKN), die vom 21. bis 25. Februar 2005 in Freiburg (Schweiz) stattfand, in der Reihe Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments erscheinen: Die Vorträge befassten sich mit dem Thema «Archäologie und Text», um den Kontakt zwischen biblischer Archäologie und Textwissenschaft zu vertiefen, zwei Disziplinen, die noch zu selten miteinander ins Gespräch kommen, obwohl sie sich oft fur die gleichen Menschen und ihre Geschichten interessieren. Freilich sollte man die Distanz zwischen den beiden Disziplinen nicht überbewerten. Archäologen sind keine Analphabeten und lesen Originaldokumente anstelle kritischer Editionen mitunter besser als manche Textwissenschaftler. Diese bemühen sich ihrerseits in der Regel darum, die Ergebnisse der Archäologie in die eigene Analyse einzubinden. Können sie doch die Tatsache, dass ihre Texte einem materiellen Ursprung verhaftet bleiben, da sie vor aller Duplikation erstmalig auf Papyrus geschrieben oder in Stein gemeißelt wurden, so wenig verleugnen, wie die Erkenntnis, dass kein Text die Realität objektiv abbildet. Lediglich drei Punkte seien genannt, um zu verdeutlichen, wie sehr die Textwissenschaft vom Gespräch mit der Archäologie profitieren kann: a) Texte müssen geerdet werden, fragt man nach ihrem historischen Gehalt. Kreieren sie doch mit all zu großer Leichtigkeit fiktive Welten aus Satzgebilden. In hochfliegenden Worten lässt sich unbeschwert ein himmlisches Jerusalem errichten, das in seinen Ausmaßen alles Bekannte überragt. Was aus Steinen erbaut wurde und erhalten blieb, liegt dagegen als reales Monument vor, mit Mühe von Menschenhand errichtet. Das Sebasteion in Aphrodisias ist keine Fiktion, es lässt sich zumindest partiell vermessen, seine Ausmaße und die aufwändige, in Teilen rekonstruierte Ausgestaltung lassen noch heute Funktion und Wirkung in Ansätzen erfahrbar werden. Das Bildprogramm seiner Portikus, das in erster Linie der kaiserzeitlichen Propaganda diente, kann aber bereits nicht mehr in allen Belangen als bare Münze gegen die Faktizität der Historie eingetauscht werden. Das gilt erst recht fur die Visionen, die der Seher Johannes in Begriffe fasst, um die imperiale Politik Roms in Frage zu stellen.

VI

Max Küchler und Karl Matthias Schmidt

Obwohl die historische Rückfrage nur eine von vielen Herangehensweisen an den Text darstellt und die Textwissenschaft sich nicht weniger um die kreierte Erzählwelt müht, lebt die historisch-kritische Exegese doch auch von der Utopie, dass sich Fiktion und Faktizität voneinander scheiden lassen. Oft genug ist es die Archäologie, die Exegetinnen und Exegeten daran erinnert, dass die Möglichkeit einer exakten Sezierung des Textes lediglich ein Konstrukt bleibt. Im Kontext der Grabung, lässt sich die harmonisierende Kombination verschiedener Welten oder die Modifikation vorgefundener Artefakte, mit denen man sich konfrontiert sieht, nicht bewerkstelligen. Was auf materieller Grundlage nicht passt, lässt sich schwerlich passend machen. b) Texte müssen entgrenzt werden, will man den Graben zwischen heutigem und damaligem Lektürekontext überbrücken. Sie sind selektiv und präsentieren mitunter nur kleinste Ausschnitte aus ihren Erzählwelten. Die Leserin kann nur wahrnehmen, was ihr der Erzähler zeigt. Gerade die biblischen Texte beschreiben selten genug die Welt, in der sich die Erzählfiguren bewegen. «Was für Steine, was für Bauten!» (Mk 13,1), mehr wird nicht geboten. Die Erzählperspektive gibt der Leserin kaum eine Möglichkeit, mit den Augen des Protagonisten zu sehen, lässt sie allenfalls einen kurzen Blick auf die Welt der Erzählfiguren erhäschen. Welcher Art waren die Anlagen, in denen die Kranken in Jerusalem Heilung und Erholung suchten; wie ließen sich die Honoren der Gesellschaft bestatten? Wie sah das neutestamentliche Nazaret aus; welches Bild hatte der Seher Johannes vor Augen, als er den Sturz der «großen Dirne Babylon» beschrieb? Antworten auf diese Fragen liefert der Text oft nicht, wohl aber die Archäologie. Artefakte sind oft nur fragmentarisch erhalten geblieben oder wurden bislang nur partiell ausgegraben. Sie eröffnen ebenfalls nur begrenzte Einsichten in das Leben der Antike; auch sie sind selektiv. Der Künstler, der die «Trunkene Alte» schuf, wählte einen ganz bestimmten Blickwinkel, um seine Figur in Szene zu setzen. Der Betrachter eines Artefakts hat jedoch die Möglichkeit, das Objekt als Ganzes in den Blick zu nehmen und seine eigene Perspektive zu wählen; der Blick auf das Ganze vermittelt dabei auch die Einsicht in das Fehlen einzelner Elemente. Die gesicherten Räume einer Wohninsel lassen sich aus der erhaltenen Bausubstanz so wenig ausblenden, wie sich fünf Säulenhallen ergraben lassen, wenn sie nie errichtet wurden. Die Archäologie tritt im Rahmen der neutestamentlichen Analysevielfalt allerdings nicht in erster Linie als Korrektiv auf, um als Dienstleisterin Ergebnisse der Textwissenschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Sie fordert ohne, gegen oder mit, in jedem Fall aber unabhängig vom Text, ihre eigenen Erkenntnisse zu Tage, die sie ins Gespräch mit

Vorwort

VII

der Exegese einbringt, oft genug solche Erkenntnisse, die sich anhand der Texte nicht gewinnen lassen. Eine Textwissenschaft, die sich auf das Gespräch mit der Archäologie einlässt, muss nicht um ihren Stand furchten. Jede Statue zeigt nur eine Momentaufnahme, erst von Texten wird sie zum Leben erweckt, erst Geschichten machen die archäologisch gesicherten Baustrukturen eines Hauses zum Heim seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Der Text fuhrt den Leser entlang jener Wege, die für die Nachbarwissenschaft längst verweht und ihr somit verwehrt sind. Außerhalb der Reliquienverehrung war trotz aller Sehnsucht nach handfesten Beweisen bisher kein Artefakt zu finden, das mit Jesus von Nazaret in direkter Verbindung steht, auch nicht das Ossuar seines vermeintlichen Bruders. Auf die Ergebnisse der Archäologie gestützt lässt sich über den Menschen Jesus nichts sagen. Weder in Galiläa noch in Betsaida oder bei den Prophetengräbern im Kedrontal kreuzt man seinen Weg, lässt man die neutestamentlichen Texte außer Acht. Für die unmittelbare Umwelt sieht es nicht viel besser aus. Kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, alles sollte zerstört werden. Einige Quader der herodianischen Baukunst blieben zwar erhalten, über die Stützmauern des Plateaus ragt jedoch kein Stein des Tempels mehr hinaus. Erst Texte lassen in mitunter trügerischen Erinnerungen, manchmal auch aus farbenfrohen Wunschträumen ihrer Autorinnen und Autoren den einen oder anderen Tempel wieder entstehen. c) Texte müssen verortet werden, will man sich ihrem Ursprung nähern. Sie sind trotz aller materiellen Verankerung abstrakte Gebilde, die in der Regel ohne ihren Abfassungskontext und Informationen über ihren Entstehungsprozess tradiert und kopiert wurden. Zwar haben auch zahlreiche Artefakte ihren ursprünglichen Platz im Laufe der Zeit eingebüßt, die Archäologie findet Mobilien wie Immobilien jedoch in situ und damit in einem singulären, eindeutig vorgegebenen topographischen Kontext vor. Die wenigen Texte, die eingegraben in Tempelmauern in situ gelesen werden können und zumindest topographisch in ihren ursprünglichsten Abfassungskontext eingebettet sind, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich gerade die neutestamentliche Textwissenschaft mit Kopien zufrieden geben muss, die sich einer langen Textgeschichte verdanken. Texte lassen sich daher nicht immer ohne weiteres im spannungsreichen Zueinander von abstrakter Textwelt, materiellen Dokumenten und dem Sitz im Leben eines Textes einordnen. Im Rahmen der biblischen Wissenschaft macht wohl kaum eine Ortslage dieses Spannungsverhältnis so transparent wie Qumran. Text und Archäologie liegen selten so eng beieinander und doch auch so weit auseinander. Die Siedlung gewinnt die von ihr ausgehende Faszination nicht zuletzt

VIII

Max Küchler und Karl Matthias Schmidt

durch die Nachbarschaft der Rollen, deren Texte Welten entwerfen, die nicht ergraben werden können. Die Eingänge der Höhlen werden so zu Pforten fremder Universen. Texte wie derjenige der Kupferrolle bieten einen Zugang zu einer fiktionalen Welt, aber auch Einblicke in das reale Leben und die Hoffnungen einer Gemeinschaft. Der Fundort erzählt seinerseits etwas über die Menschen, denen an den Rollen gelegen war. Wer auch immer die niedergeschriebenen Welten vor Vernichtung oder Verlust zu bewahren suchte, versteckte die Texte in unmittelbarer Nachbarschaft der noch bewohnten Siedlung und im Fall der Höhlen 7-9 kaum unbemerkt von deren Bewohnerinnen und Bewohnern. Fraglich bleibt, ob und in wie weit der zweifelsohne in Sichtweite der Siedlung in situ gemachte Textfund auch in situ gesammelt wurde oder gar in situ entstand. Trägt die archäologische Erforschung der Siedlung nichts zum Verständnis der Rollen bei, wird Qumran zu einer Ortslage unter anderen, die Texte gleichsam zu einem Fund «ex situ». Archäologen, die am Zusammenhang von Siedlung und Rollen zweifeln, schaufeln zwar nicht das Grab der Bedeutungslosigkeit für die Qumran-Archäologie, aber einen Graben zwischen der Welt Qumrans und der Welt der Höhlen. Die Archäologie verliert dadurch nicht ihre immense Bedeutung, aber sie bietet keinen unmittelbaren Zugang mehr zur - theologischen - Welt der Schriftrollen. Insofern arbeiten einige Archäologinnen und Archäologen in Qumran auch an der Dekonstruktion der eigenen Publicity, die sich aus dem Textfund speist. Die unvoreingenommene Sichtung aller archäologischen Ergebnisse ist im Kontext der biblischen Wissenschaft in jedem Fall unabdingbar. Eine Textanalyse, welche die - mitunter unbequemen - Ergebnisse der Archäologie nicht zur Kenntnis nimmt, ist jedoch kaum ignoranter als eine Archäologie, die jegliche Faktizität der gebotenen Textwelten negiert oder gar die Existenz der Rollen samt ihres Inhalts als archäologisches Faktum aus den Augen verliert. Gerade im Miteinander von Textwissenschaft und Archäologie zeigen sich die Leistungen beider Disziplinen. Diesem Miteinander widmen sich exemplarisch die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes. Jürgen Zangenberg hat für eine Tagung, auf der die Archäologen gegenüber den Textwissenschaftlerinnen zweifelsohne die Minderheit bildeten, den einleitenden systematischen Aufsatz zum Dialog der beiden Disziplinen beigesteuert ( Von Texten und Töpfen. Überlegungen zum Verhältnis von literarischen und materiellen Relikten antiker Kulturen bei der Interpretation des Neuen Testaments). Artefakte müssen mit Worten beschrieben werden, eine Grabung will gelesen werden. Die Archäologie kreiert so ihrerseits eine Welt aus Deutungen. Wie unterschiedlich diese Welten aussehen können, die aufgrund der Grabungen in Qumran interpretierend entworfen werden, zeigen die beiden

Vorwort

IX

Beiträge von Jürgen Zangenberg {Region oder Religion? Überlegungen zum interpretatorischen Kontext von Chirbet Qumran) und Heinz-Josef Fabry (Archäologie und Text. Versuch einer Verhältnisbestimmung am Beispiel von Chirbet Qumran). Während sich Zangenberg gegen die bisher stark verbreitete Qumran-Essener-Hypothese wendet und im Zuge seiner Kritik einen über die Topographie hinausgehenden Zusammenhang von Rollen und Siedlung grundsätzlich in Frage stellt, hält Fabry mit anderen Argumenten an der sozialen Verknüpfung der beiden Ortslagen fest. Vom Toten Meer fuhrt der Weg nach Norden, zunächst zu den Gräbern des Kedrontals. Max Küchler (Die hellenistisch-römischen Felsgräber im Kedrontal. Priesterlich-aristokratische Grabpracht im Angesicht des Zweiten Tempels) stellt die Baugeschichte der einzigen weitestgehend unversehrt gebliebenen Monumente Jerusalems aus neutestamentlicher Zeit dar und bietet so einen denkbaren architektonischen Hintergrund für die Jesusworte in Mt 23,27-29 (par Lk 11,47-48). Im Anschluss daran sichtet Christian Cebulj (Texte, Teiche, Theorien. Zum Stellenwert archäologischer Befunde für die Exegese von Joh 5) den archäologisch gut erhaltenen topographischen Hintergrund der Erzählung in Joh 5,1-13 am Nordrand der Stadt, um so dem johanneischen Text sein spezifisches Lokalkolorit zu unterlegen. Anhand der im Norden Israels gelegenen Dörfer Kafarnaum und Nazaret sowie der Region Galiläa weist Willibald Bösen in seinem Beitrag (Mehr als eine freundliche Gesprächspartnerin. Zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Exegese) auf, dass der Dialog mit der Archäologie unabhängig von der Qualität der neutestamentlichen Textbasis überaus fruchtbringend ist. Zuletzt führt der Weg nach Kleinasien, dessen Reichtum an archäologisch gut erschlossenen Ortslagen und ikonographischen Artefakten sich Hans-Josef Klauck (Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie) mit Blick auf das letzte Buch des Neuen Testaments widmet, um so exemplarisch die vielfaltigen Möglichkeiten eines Diskurses zwischen Archäologie und Textwissenschaft zu umreißen. Unser Dank gilt zuvorderst den Autoren, die ihre Beiträge für diesen Sammelband zur Verfügung gestellt haben. Darüber hinaus danken wir Ulrike Zurkinden-Kolberg, aus deren Hand die neu erstellten Zeichnungen stammen, und Siegfried Ostermann, der zahlreiche Abbildungen für den Druck bearbeitet oder neu erstellt hat, sowie Andreas Grandy, der bei Korrektur und Layout mitwirkte. Freiburg (Schweiz), im August 2006 Max Küchler

Karl Matthias Schmidt

Inhaltsverzeichnis

JÜRGEN ZANGENBERG

Von Texten und Töpfen. Überlegungen zum Verhältnis von literarischen und materiellen Relikten antiker Kulturen bei der Interpretation des Neuen Testaments

1

JÜRGEN ZANGENBERG

Region oder Religion? Überlegungen zum interpretatorischen Kontext von Chribet Qumran

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HEINZ-JOSEF FABRY

Archäologie und Text. Versuch einer Verhältnisbestimmung am Beispiel von Chirbet Qumran

69

M A X KÜCHLER

Die hellenistisch-römischen Felsgräber im Kedrontal. Priesterlicharistokratische Grabpracht im Angesicht des Zweiten Tempels

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CHRISTIAN CEBULJ

Texte, Teiche, Theorien. Zum Stellenwert archäologischer Befunde für die Exegese von Joh 5

143

WILLIBALD BÖSEN

Mehr als eine freundliche Gesprächspartnerin. Zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Exegese

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HANS-JOSEF KLAUCK

Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie

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AUTOREN UND HERAUSGEBER

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Jürgen Zangenberg

Von Texten und Töpfen Überlegungen zum Verhältnis von literarischen und materiellen Relikten antiker Kulturen bei der Interpretation des Neuen Testaments

Die folgenden, ursprünglich als Eröffnungsvortrag des Kolloquiums konzipierten Gedanken sind Denkanstöße zu einem Thema, das erfreulicherweise auch unter Neutestamentlern in letzter Zeit zunehmende Aufmerksamkeit findet:1 die Bedeutung materieller Hinterlassenschaften derjenigen Kulturen, in denen das NT entstanden ist, für die Interpretation der neutestamentlichen Textüberlieferung. Ganz wesentlichen Anteil für dieses gewachsene Interesse hat nicht zuletzt das Biblische Institut Fribourg unter der weitsichtigen und unermüdlichen Leitung von Max Küchler. Insofern ist dies der passende Kontext für einen Beitrag über das Verhältnis von «Texten und Töpfen», wenn ich auch nicht ganz das Gefühl abstreifen kann, mit meinen Überlegungen eigentlich Eulen nach Athen (bzw. - um im Bild zu bleiben Säulen nach Fribourg) zu tragen. Der Gattung «Eröffnungsvortrag» gemäß werden die grundsätzlichen Reflektionen über die spezifischen methodischen und inhaltlichen Bedingungen, unter denen das «Studium der Töpfe» im Rahmen der Arbeit am Neuen Testament derzeit geschieht und weiterhin geschehen kann, im Mittelpunkt der folgenden Seiten stehen. Da die Archäologie aber stets von den Konkretissima des Lebens und seinen Hinterlassenschaften lebt, möchte ich nicht schließen, ohne die Relevanz der theoretischen Überlegungen noch kurz anhand von vier m. E. besonders gelungenen Beispielen fruchtbarer Symphonie zwischen «Texten» und «Töpfen» zu demonstrieren. Die weiteren Beiträge des vorliegenden Bandes werden dies noch entscheidend vertiefen und erweitern.

Ich danke Walter Radi, Rudolf Hoppe und Max Küchler für die freundliche Einladung zum Vortrag in Fribourg sowie Stefan Alkier, Stefan Münger, Robert Wenning und Wolfgang Zwickel für das kontinuierliche und fruchtbare Gespräch zum Thema Archäologie und Text. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums danke ich für wertvolle Rückfragen und Kommentare und meinen Kolleginnen und Kollegen an der Theologischen Fakultät der Universität Tilburg für kontinuierlichen Ansporn, den Spagat zwischen Töpfen und Texten immer wieder zu versuchen. Diese Publikation wurde im Rahmen des TransCoop-Programms der Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

2

Jürgen Zangenberg

I. Hinfuhrung: Archäologie als Aufgabe neutestamentlicher Wissenschaft Beginnen wir zunächst mit dem nächstliegenden: Als Neutestamentlerinnen und Neutestamentier sind wir alle - ich nehme mich da nicht aus - primär Textforscher. Wir arbeiten täglich in und mit einer Welt aus Worten, Sätzen und Schriften und sind selbst Meister im Verstehen und Verfassen von Texten. Unsere Aufgabe ist die Erforschung und Auslegung des Grunddokuments der Christenheit, der Bibel Alten und Neuen Testaments. Darin liegt unsere Stärke, die uns keiner nehmen kann. Gerade heute ist das Bewusstsein um diese klar umrissene Aufgabe und Kompetenz eine wichtige Voraussetzung, um in einem immer stärker auf interdisziplinäre Kooperation ausgerichteten Wissenschaftsbetrieb gesprächsfähig zu bleiben. Die ntl Wissenschaft steht ja seit langem im Gespräch mit anderen Wissenschaften und hat sich von diesen befruchten lassen. Philologie, Philosophie, Judaistik, Geschichts-, Sozial- und Religionswissenschaften gehören heute zu Recht zu den ständigen Gesprächspartnern der ntl Wissenschaft und tragen zu deren Professionalität und Diskursfähigkeit entscheidend bei. In letzter Zeit ist im Zuge der Verfeinerung geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Fragestellungen auch verstärkt die Archäologie ins Blickfeld der ntl Forschung getreten, von uns in der traditionell stark auf Texte und theologische Inhalte ausgerichteten deutschsprachigen Exegese oft noch als zwar punktuell hilfreich angesehen, kaum aber als wirklicher, kontinuierlicher Gesprächspartner akzeptiert.2 Dies ist m. E. dringend zu korrigieren, denn erst wenn auch die ntl Bibelwissenschaft die Ergebnisse der Archäologie in ihre Arbeit mit einbezieht und sich mit ihren Methoden genauso intensiv auseinandersetzt wie etwa mit denen der Philologie, P. PLLHOFER, Zur lokalgeschichtlichen Methode, in: Ders., Die frühen Christen und ihre Welt. Greifswalder Aufsätze 1996-2001. Mit Beiträgen von J. Börstinghaus und E. Ebel (WUNT 145), Tübingen 2002, 1-57 (bes. 3-9). Symptomatisch für diese Situation ist nach Pilhofer, dass in den gängigsten Methodenbüchern zum NT (die ja das zusammenfassen, was Studierende lernen sollen und was daher von den Lehrenden als zentral angesehen wird) nur selten etwas über den Nutzen der Beschäftigung mit der materiellen Kultur für die Interpretation des NT steht bzw. dies methodisch fruchtbar gemacht wird. Hier ist deutlich mehr Innovation vonnöten. Davon, dass dies tatsächlich geschieht, legen ζ. B. die grundlegenden Beiträge zu Ikonographie und NT von A. WEISSENRIEDER/F. WENDT, Phänomenologie des Bildes. Ikonographische Zugänge zum Neuen Testament, in: ZNT 16 (2005) 3-12; A. WEISSENRIEDER/F. WENDT, Images as Communication. The Methods of Iconography, in: A. Weissenrieder/F. Wendt/P. von Gemünden (Ed.), Picturing the New Testament. Studies in Ancient Visual Images (WUNT II 193), Tübingen 2005, 3-49, ebenso Zeugnis ab wie die - neben Pilhofer - wegweisenden Arbeiten von Cilliers Breytenbach zu Galatien, Christoph von Brocke zu Thessaloniki oder Peter Lampe über die frühchristlichen Gemeinden in Rom und das ländliche Phrygien mit seinen Kulturen. Es kommt nun darauf an, dass solche Pionierarbeiten nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch in die Breite der ntl Forschung aufgenommen werden.

Von Texten und Töpfen

3

nimmt sie ihr Selbstverständnis als historisch und kritisch arbeitende Disziplin ernst, denn die Welt, aus der die ntl Texte stammen, bestand nicht nur aus Texten und Gedanken, sondern ebenso aus Töpfen und Gebäuden. Beides, Texte wie auch Relikte materieller Kultur sind auf ihre je eigene Weise Produkte kognitiver Konstruktion von Wirklichkeit und bilden Lebensvollzüge und -deutungen symbolisch ab. Wer sich daher den Menschen der Zeit des Neuen Testaments annähern will, verstehen will, wie sie lebten und wie sie glaubten, kann ohne Archäologie nicht vorankommen. Die Erforschung der materiellen Welt zur Zeit des Neuen Testaments ist gerade deshalb auch theologisch eminent wichtig, insofern die Exegese mit den Worten des Greifswalder Alttestamentlers die Aufgabe hat, «die biblischen Texte in ihren je eigenen sozio-historischen Erfahrungszusammenhängen zu erfassen, um ihrem textimmanenten Wirkpotential einer theologischen Lebensorientierung auf die Spur zu kommen, das selbst Teil dieser Lebenswelt war»3. Archäologie bietet bei der Erfüllung dieser Aufgabe die einzigartige Möglichkeit, die Kontingenz und Kontextualität menschlichen Daseins, seine Strukturen und symbolischen Vergegenständlichungen in einer ganz eigenen Art und Weise zum Ausgangspunkt theologischer Überlegungen zu machen. Max Küchler hat dies sehr schön als «Spurensicherung des abwesenden Kyrios an Texten und Steinen» bezeichnet und von einer archäologisch bewanderten Exegese gefordert, «die Steine Palästinas und die Füße des Herrn zusammenzubringen, um die Gesamtgestalt Jesu besser zu verstehen»4. Freilich braucht kein Neutestamentier, der sich mit archäologischen Hinterlassenschaften befasst, das Rad neu zu erfinden. Zuallererst können Neutestamentlerinnen und Neutestamentier viel von atl Kollegen lernen, für die die Erforschung der natürlichen und materiellen Umgebung der Bibel schon seit langem zum Grundbestand der Disziplin gehört. Auch im Bereich der Patristik hat sich die Erforschung der materiellen Kultur des frühen Christentums schon längst als Disziplin etabliert. Es sollte daher für uns Neutestamentler nicht allzu schwer sein, die angeblich «100 Jahre archäologiefreie Zone», die Peter Pilhofer beklagt hat,5 zu füllen. So gibt es ja auch in unserer eigenen Disziplin wegweisende Beispiele dafür, dass man sich auch als C. HARDMEIER, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Steine, Bilder, Texte. Historische Evidenz außerbiblischer und biblischer Quellen, Leipzig 2001, 5-8, hier 5. Hardmeier beklagt in diesem Zusammenhang zu Recht die wachsende Diastase zwischen literaturwissenschaftlicher und soziohistorischer Exegese und warnt davor, dadurch die Kernaufgabe der Exegese nicht aufs Spiel zu setzen. 4 M. KÜCHLER, Die

// 'Brunner

Brüder

moslem. Fried hofJ

kopt. Kirche

Mensa Christi Maroniten Karmeliten -Ο

If.St. Joseph

cingl. Kirche ^v7verkundigungs>7 kirche""

franz. Hospital

Abb. 3: Die Grenzen des antiken Nazaret.

Vgl. W. BÖSEN, Galiläa (Anm. 7) 113-117. Vgl. W. BÖSEN, Galiläa (Anm. 7) 101 A. 30. 25 Vgl. R. WAGNER, Die Geschichte der Franziskaner in Nazaret, in: Im Land des Herrn 2 (2005) 44—54, hier 48-51; S. LOFFREDA, Nazareth ä l'epoque evangelique, in: Le Monde de la Bible 90(1995) 10-13. 26 Aus: P. BOCKEL, Nazareth, la secrete, in: Le Monde de la Bible 90 (1995) 4 (Abb. 4). 24

Mehr als eine freundliche Gesprächspartnerin

173

scheint dadurch interessant, dass sie die Reste einer möglich alten Synagoge miteinschließt. Einerlei, welcher man auch folgt, das antike Dorf war mehr als bescheiden. Nach Westen und Osten hin bildeten jeweils Talsenken die Grenze, in denen sich in den Wintermonaten reißende Bäche bildeten. (Die Niederschlagsmenge im südlichen Galiläa ist gleich hoch wie in London, verteilt sich aber lediglich auf fünf Monate, wodurch gewittrige Regenschauern in dem «Amphitheater» von Nazaret nicht selten zu gefährlichen Sturzbächen entarten.) Im Norden begrenzten Grabanlagen, im Süden fruchtbare Felder das Dorf. Im Nordosten des Felssporns, ca. 500 m von der Verkündigungskirche entfernt, entsprang die einzige Quelle, die das Dorf mit Trinkwasser versorgte (sie ist heute in der griechisch-orthodoxen Kirche St. Gabriel eingefasst). Nach Loffreda zählte die evangelische Siedlung etwa zwanzig Häuser,27 die Zahl der Einwohner dürfte nach übereinstimmenden Schätzungen zwischen 150 und (maximal) 400 Einwohnern anzusetzen sein. Die Enge der auszumachenden Grenzen, die Tatsache einer einzigen Wasserquelle und die von der Archäologie freigelegten Reste der Behausungen machen es sicher, dass das Nazaret der Zeitenwende ein bescheidenes Bergdorf, nach damaligem Sprachgebrauch ein Kaf, war. 2. Farblos und blass Wir kennen die idyllischen Bilder der Nazarenermaler aus dem 19. Jahrhundert, die Nazaret als kleines, sauberes Städtchen aus weiß getünchten Häusern zeigen. Ein blauer Himmel, eine strahlende Sonne, immergrüne Zypressen, ölbaumbestandene Terrassen und saftige Felder und Wiesen machen die Idylle perfekt. Doch die Wirklichkeit zur Zeit Jesu sah anders aus! Was die Archäologie im Bereich des südlichen Hügels, dem Herz des alten Dorfes in der evangelischen Zeit, zutage forderte, ist frei von jeder Romantik.28 a) Nazaret war ein typisch palästinisches Dorf. Wer nach Besonderem in ihm Ausschau hielt, entdeckte schnell, dass der kleine Ort sich zur Hälfte in der Erde versteckte. Die archäologischen Ausgrabungen haben ein richtiges Labyrinth mit Stufen, Durchgängen und Luftschächten offengelegt. Jedes der kleinen Häuser verfugte über einen unterirdischen Komplex aus Höhlen und Grotten, die man teils vorgefunden, teils durch Grabungen erweitert oder durch Vorbauten nach vorne hin vergrößert oder überbaut hatte. In den Fels gehauene glockenförmige Silos, Zisternen oder Behälter, die manch-

V g l . S. LOFFREDA, N a z a r e t h ( A n m . 2 5 ) 10.

Vgl. W. BÖSEN, Galiläa (Anm. 7) 97-110.

174

Willibald Bösen

mal in drei Etagen übereinander angelegt waren und von denen man insgesamt einige hundert gezählt hat, nutzte man meist für die Lagerung von Getreide oder von Trockenfrüchten. Zugang in ihr Inneres verschaffte man sich über Stufen oder Leitern. Sich fest machend an der Beobachtung, dass das Dörfchen sich ja nicht nur in einem Talkessel, sondern zur Hälfte auch noch in der Erde bzw. im Felsen verbirgt, möchte Loffreda «Nazaret» lieber von der semitischen Wurzel «nsr» ableiten, was mit «verbergen» oder «bewahren» zu übersetzen ist, so dass Nazaret die «Verborgene» bzw. die «Bewahrte» bedeuten würde.29 Die zuweilen in der Literatur zu findende Charakterisierung der Nazaretaner als Troglodyten (= Höhlenbewohner) geht auf Fra Francesco Suriano (1485) zurück, der sich mit dieser Kennzeichnung in polemischer Absicht gegen den damals entstehenden Volksglauben wandte, nach dem Engel das kleine Haus der Verkündigung nach Loretto transportierten, wo es als «Santa Casa de Loretto» bis heute verehrt wird. Apodiktisch stellt Loffreda fest: «Die Bewohner von Nazaret waren keine Troglodyten»30. b) Im Nordosten des Franziskanerklosters wurden Säulenbasen mit hebr. Buchstaben gefunden, bei denen es sich wahrscheinlich um Überreste einer byzantinischen Synagoge handelt, die der anonyme Pilger von Piacenza im Jahr 570 n. Chr. erwähnt. Da es für sakrale Orte, für alte Synagogen wie alte Kirchen gleichermaßen, so etwas wie ein Gesetz der «Konstanz des heiligen Ortes»31 gibt, ist davon auszugehen, dass sie sich auf demselben Platz erhob, auf dem jene Synagoge stand, in der Jesus als Kind gelernt und später gepredigt hat. Vermutlich handelte es sich bei diesem neutestamentlichen Vorgängerbau um «eine bescheidene Haussynagoge ... ohne architektonische Besonderheiten»32. Für eine Synagoge in dem kleinen Nazaret spricht die Tatsache der weiten Verbreitung des Synagogeninstituts um die Zeitenwende. Als eine Art Dorfgemeinschaftshaus mit vielerlei Funktionen (συναγωγή = Synagoge; hebr. Bet Knesset = Haus der Versammlung) war sie selbst in dem kleinsten Dorf unentbehrlich. Wer nach steilem, mühsamem Anstieg aus der Jesreel-Ebene (100 m) endlich im Talkessel von Nazaret (350 m) ankam und sich umsah, hatte Mühe, dieses kleine Dorf auszumachen. Heutigen arabischen Dörfern gleich, passte es sich in Form und Farbe ganz der Landschaft an, so dass man seine Häuser oft erst aus der Nähe als solche erkannte. Statt weißer Häuschen zogen sich, halb versteckt in der Erde und in-, über- und mitein9

30 31 32

S. LOFFREDA, N a z a r e t h ( A n m . 2 5 ) 12.

Ebd. 11. R. RIESNER, Die Synagoge von Kafarnaum, in: BiKi 3 (1984) 136-138, hier 137. R. RIESNER, Nazareth, in: GBL 2 (1988) 1031-1037, hier 1034.

Mehr als eine freundliche Gesprächspartnerin

175

ander verschachtelt, gelblich-graue, quaderförmige Würfel den Hang hinauf (Abb. 4).

Abb. 4: So etwa könnte Nazaret um die Zeitenwende ausgesehen

haben.33

So hat sich das geschichtsträchtige Dörfchen viele Jahrhunderte hindurch erhalten. Als die Franziskaner 1620 erstmals nach Nazaret kommen, finden sie ein fast unbewohntes Dorf mit einem einzigen katholischen Christen vor.34 Mehr als 200 Jahre später hat sich an dem Gesamtbild nicht viel geändert; in dem, was ein Forscher 1850 hier vorfindet, scheint sich die Zeitenwende widerzuspiegeln: «Die gassen sind schmal, uneben, unregelmäßig und liegen ziemlich steil über einander. Ungepflastert wie sie sind, belästigen sie in der regenzeit durch schmutz und unrat und in der trockenen jahreszeit durch den staub»35. 3. Ein armes Dorf Vermutlich lebten die Nazaretaner in der Hauptsache von der Landwirtschaft, vom Kleinhandel und vom Handwerk. a) Dem Dorf im Talgrund vorgelagert, breitet sich eine kleine fruchtbare Ebene aus. Ihr Boden und das hier herrschende milde Klima erweisen sich als günstig für den Getreide- und Flachsanbau. Die Berghänge, die das Dorf Aus: W. BÖSEN, In Betlehem geboren. Die Kindheitsgeschichten der Evangelien, Freiburg 1999, 102. 34

V g l . R . WAGNER, G e s c h i c h t e ( A n m . 2 5 ) 5 1 f.

35

Zitiert nach W. BÖSEN, Galiläa (Anm. 7) 109f.

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Willibald

Bösen

im Norden, Westen und Osten umschließen und immerhin 100 m ansteigen, sind geradezu ideal für den Anbau von Weinreben, außerdem für Feigenund Ölbäume. Dass auch Jesu Familie Grund und Boden in der Talebene besass, hat alle Wahrscheinlichkeit für sich. Die Evangelien enthalten jedenfalls eine ganze Reihe von Texten, in denen Jesus neben einer großen Vertrautheit mit der bäuerlichen Welt einen geschulten Blick für die Natur zu erkennen gibt. Die auszumachenden Bilder und Vergleiche sind - wie Ebner richtig bemerkt «scheinbar banale, eben selbstverständliche Sachverhalte»36 und doch auch kleine «Offenbarungen» über eine feine Beobachtungsgabe für Pflanzen, Tiere und Wetter, die dem abgeht, der sich nicht damit beschäftigt. So ist man erstaunt über die Beobachtung, dass der Westwind Regen und der Südwind Hitze bringt (Lk 12,54f.). Oder über die anderen, dass die Henne bei Gefahr ihre Küken schützend unter den Flügeln birgt (Mt 23,37), dass dort, wo ein Aas ist, sich die Geier sammeln (Lk 17,37), und dass Skorpione und Schlangen gefahrlich sind (Lk 10,19; 11,11 f.) u. a. m. Wenn Jesus beispielsweise im Gleichnis vom Wachsen der Saat (Mk 4,26-29) die drei Stadien des Wachstums beschreibt (V. 28: wie die Erde zuerst den Halm, dann die Ähre und schließlich das volle Korn in der Ähre hervorbringt), dann verrät er damit eine kontinuierliche Beobachtung des Wachstumsprozesses von Pflanzen. b) Was man in der Ebene und in den Hängen ringsum erntete und selber nicht brauchte, bot man auf den umliegenden Märkten, in dem nur zwei Kilometer entfernten Japhia oder dem nur wenig weiter entfernten Sepphoris (s. u.), zum Verkauf an. Für besondere handwerkliche Produkte (wie Keramik in Kaf Hananina, Glaswaren in Tiberias, Leinen in Magdala und Sepphoris) ist Nazaret nicht bekannt, sein Handel beschränkte sich auf landwirtschaftliche Erzeugnisse. c) Wie in jedem Dorf des damaligen Palästina dürfte es auch in Nazaret Handwerker gegeben haben. Begegnet Jesus Sirach im 2. vorchristlichen Jahrhundert dem Handwerk noch recht despektierlich, weil seiner Meinung nach Weisheit nur erlangen kann, «wer frei ist von schwerer Arbeit» (Sir 38,24—34), genießt es in neutestamentlicher Zeit hohes Ansehen. Priester und Schriftgelehrte erlernen zum größten Teil ein Handwerk. Paulus ist stolz darauf, sich als Zeltmacher selbst versorgen zu können. Die Nähe zu Sepphoris (s. u.), der Hauptstadt Galiläas für zwei Jahrzehnte (von 2 v. Chr. bis 18 n. Chr.), bringt es mit sich, dass in Nazaret um die Zeitenwende das Bauhandwerk blüht. Viele nazaretanische Männer dürften 36

M. EBNER, Der Mann aus Nazaret. Was können wir historisch von Jesus wissen?, in: BiHe 141 (2000) 6-11, hier 9.

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beim Wiederaufbau der von Varus im Jahre 4 v. Chr. verbrannten Stadt und später, ab 18 n. Chr., bei der Neugründung von Tiberias am See Gennesaret, beschäftigt gewesen sein und ihr Brot verdient haben. Trotz dieser drei Verdienstmöglichkeiten war Nazaret ein armes, wenn auch aufgrund eines bescheidenen Besitzes kein bettelarmes Dorf. Wie die Mehrzahl der Galiläer stöhnten auch seine Einwohner unter der Last der Abgaben. Wenn die von Tilly aufgestellte Besteuerungsberechnung stimmt,37 blieben den Bewohnern von Galiläa und Peräa lediglich 54 Prozent ihres Einkommens; die Summe der anfallenden Ausgaben aus der Tempelsteuer, dem Ersten und Zweiten Zehnten, der Priesterhebe, den römischen Steuern und Tributen und dem Saatgut bzw. den Materialien betrug insgesamt 46 Prozent. Die Nähe zur Hauptstadt hatte für die Nazaretaner insofern einen großen Nachteil, als es angesichts der allgegenwärtigen Steuerbeamten so gut wie unmöglich war, «weiterhin wie üblich einen Teil ihres Getreides ... zu verstecken»38.

C. Die Bedeutung der archäologischen Ausgrabungen für das Nazaret der Evangelien Die evangelischen Texte zu Nazaret sind - wie oben gezeigt - mehr als mager. Sie sichern mehr oder weniger allein die Tatsache der Verbindung Jesu mit diesem kleinen Dorf im südlichen Galiläa. «Leider wissen wir über die Zeit Jesu im familiären Lebenszusammenhang in Nazaret so gut wie nichts»39, über mehr als 30 Jahre der Vita Jesu tappen wir im Dunkeln. Kein Wunder, dass diese Lücke schon früh die Phantasie vieler reizte. Es entstanden bald schon nach den kanonischen Schriften die sog. Apokryphen, die diese verborgenen Jahre zu füllen suchten.40 Dass wir es in ihnen mit phantasievollen Ausmalungen und nicht mit historischen Berichten zu tun haben, ist inzwischen Konsens. Wie nun aber hilft uns hier die Archäologie, die Lücken in den Evangelien zu füllen? Das Ergebnis erstaunt: Im Falle Nazarets verteidigt, korrigiert, präzisiert und erhellt sie die mageren Texte der vier Evangelien.

M. TILLY, Der Fuchs auf dem Herrscherthron. Herodes Antipas, Tetrarch von Galiläa und Peräa, in: WUB 24 (2002) 15-20, hier 18. 38 R. A. HORSLEY, Jesus gegen die neue römische Ordnung, in: WUB 24 (2002) 27-31, hier 28. 39 R. HOPPE, Jesus. Von der Krippe an den Galgen, Stuttgart 1996, 40. 40 Vgl. w . BÖSEN, Betlehem (Anm. 33) 204-211.

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1. Die Archäologie in der Funktion der Apologie: Nazaret - keine spätere Gründung Da Nazaret weder im Alten Testament, noch in den Apokryphen und Pseudepigraphen, noch bei Josephus oder in der rabbinischen Literatur erwähnt wird, vermuteten Kritiker im 19. Jh., der Ort sei erst später in byzantinischer Zeit gegründet worden, um Jesus als den Mann aus Nazaret bzw. als den «Nazarener» vorstellen zu können. In Wirklichkeit aber - so die polemische Behauptung - habe es Nazaret um die Zeitenwende nicht gegeben, Nazaret sei ein Ort ohne eine frühe Geschichte. So verpönt es auch ist, die Archäologie aufgrund fundamentalistischer Missbräuche zu apologetischen Zwecken heranzuziehen41 - hier scheint es erlaubt, gibt sie doch in einer wichtigen Frage eine deutliche Antwort. Ausgrabungen weisen auf der uns interessierenden Felsterrasse wie in den sie umgebenden Abhängen menschliche Spuren bis ins 3. vorchristliche Jahrtausend nach. Das Schweigen in der Literatur erklärt sich überzeugend aus der Jahrhunderte dauernden Bedeutungslosigkeit des Ortes. Als Philippus seinen Freund Natanael mit der frohen Nachricht überrascht: «Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs!», fragt Natanael, der aus dem 14 km entfernten Kana kommt, leicht entsetzt und skeptisch: «Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?» (Joh l,45f.). «In der ironischen Frage liegt der Zweifel, dass aus dem unbedeutenden Ort der Messias stammen sollte ... Tatsächlich ist Nazaret politisch und religiös nie hervorgetreten...»42. Ähnliches gilt für Chorazin, Betsaida und Kafarnaum. In den sog. «Wehesprüchen» erhebt Jesus seine Donnerstimme über die drei Städte im Norden des Sees (Lk 10,13-15 par Mt), von denen die Forschung sagt, dass sie das Zentrum des Wirkens Jesu darstellen. Um 1900 noch wusste niemand, wo sie genau zu suchen waren; ihre Ruinen verbargen sich unter wild wucherndem Gras und dienten Beduinen zum Bau von einfachen Hütten und Ställen. Für Betsaida hat sich das Rätsel erst vor weniger als zehn Jahren gelöst. Dank einer rührigen Archäologie sind alle drei inzwischen so weit ausgegraben, dass wir uns mehr oder weniger ein lebendiges Bild von ihnen machen können.

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Vgl. J. M. OESCH, Die fundamentalistische Versuchung im Spannungsfeld von Bibel und Archäologie. Die biblische Welt als Kulisse für das Gotteswort, in: BiKi 3 (1988) 119-122, hier 119f. 42 R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium. Teil 1: Einleitung und Kommentar zu Kap. 1-4, Freiburg/Basel/Wien 6 1986, 314.

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2. Die Archäologie in der Funktion der Korrektur: Nazaret - ein winziges Dorf, keine Stadt Die Archäologie korrigiert falsche Vorstellungen. Das Dorf Jesu, das nach Hoppe «in erster Linie die Welt Jesu war»43, erscheint in den Evangelien recht blass. Angeregt durch Mt (2,23) und Lk (1,26; 2,4.39; 4,29), die beide von Nazaret als einer πόλις sprechen, hat sich in vielen Köpfen die Vorstellung von einer größeren Stadt festgesetzt. Die Formulierung suggeriert ein ausgedehntes Gemeinwesen, das von breiten Straßen durchzogen wurde und mit Plätzen, Märkten, Villen und offiziellen Gebäuden geschmückt war. In Wirklichkeit war Nazaret - wie die Archäologie nachgewiesen hat ein kleines, ja, ein winziges Dorf mit nur einer Wasserquelle im Osten des Talkessels und mit nur wenig fruchtbarem Ackerland im vorgelagerten Talgrund. Mit ihrer Umschreibung als «Stadt» suchen die beiden Evangelisten, die das Kaf aus eigener Anschauung kaum kannten, es für ihre kritischen Zeitgenossen aufzuwerten. Der am Schandpfahl des Kreuzes Hingerichtete sollte wenigstens in einer ansehnlichen «Stadt» zu Hause gewesen sein. Zudem bleibt zu bedenken, dass das griech πόλις die Übersetzung des hebr. «'ir» ist, dass «'ir» aber - wie das deutsche «Ort» - sowohl «Stadt» als auch «Dorf» meint. Auch Kafarnaum wird in Mt 9,1 eine πόλις genannt. Dass es die Bezeichnung einer «Stadt» im klassischen Sinn aber nicht verdiente, hat die Archäologie aufgezeigt (s. o.). Als Jesus sich vermutlich im Jahre 27/28 n. Chr. dort niederließ, um von ihm aus zur Verkündigung der nahe gekommenen Gottesherrschaft aufzubrechen, war Kafarnaum nicht mehr als ein großes Dorf, eine πόλις nur im technischen Sinn. 3. Die Archäologie in der Funktion der Präzisierung: Jesus als τέκνων (Mk 6,3) - ein Bauhandwerker, nicht nur ein Zimmermann Nach seiner Predigt in der Dorfsynagoge fragen die Nazaretaner voller Staunen: «Ist das nicht der τέκτων...?» (Mk 6,3). Wie ist der Begriff zu übersetzen? Luther und die EÜ geben τεκτων mit «Zimmermann» wieder, übersehen aber dabei, dass es den Zimmermann in dem heutigen Sinn damals gar nicht gab. Das Dorf war nicht nur holzarm. In einem «Höhlendorf» wie Nazaret, das sich zur Hälfte im Felsen versteckte, übersetzt man τέκτων richtiger mit «Bauhandwerker». Im Unterschied zum Zimmermann war der Bauhandwerker gleichermaßen mit Holz- und Steinarbeiten vertraut. Als τέκτων dürfte Jesus in Nazaret vornehmlich Höhlen begradigt und erweitert, Silos und Luftschächte im Inneren gegraben haben. R. HOPPE, Jesus (Anm. 39) 40.

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Die Tätigkeit eines Handwerkers erforderte viel Kraft und machte schmutzig. So schreibt denn G. Papini, ein viel gelesener Autor im letzten Jahrhundert: «Man darf nie vergessen, dass Jesus ein Arbeiter gewesen ist..., dass er selber ums tägliche Brot körperlich gearbeitet hat, bevor er seine große Botschaft verkündete. Diese Hände, die später segneten und heilten, sie sind vorher nass geworden vom Schweiß der Arbeit; das waren nicht mehr feine, empfindliche Hände, sie waren schwielig geworden von der Arbeit, das waren ... Handwerkerhände» 44 . Nazaret war zu klein, um einem Bauhandwerker ausreichend Brot geben zu können. Genügend Arbeit dagegen gab es nur wenige Kilometer weiter. Seit Herodes Antipas das verbrannte Sepphoris zu seiner Hauptstadt gemacht hatte, boomte dort die Konjunktur (von 2 v. Chr. bis etwa 18 n. Chr.). Und als Sepphoris endlich als schönste Stadt Galiläas fertiggestellt war, kam Antipas auf die Idee, 30 km entfernt am See Gennesaret eine ganz neue Stadt aus dem Boden zu stampfen und zu seiner Hauptstadt zu machen. Zu Ehren seines Gönners in Rom, des Kaisers Tiberius, nannte er sie Tiberias. So gab es in den Jahren, als Jesus 15-30 Jahre alt war, zwei Großbaustellen in Galiläa, wo Tausende Bauhandwerker gesucht wurden. War Jesus einer von ihnen? Ist er arbeitsuchend in Galiläa unterwegs gewesen? Ebner ist sich sicher: «Jesus war . Das brachte sein Beruf mit sich»45. Skeptisch dagegen Hoppe: «Sicher kann man die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Jesus den kleinen Ort Nazaret zwischenzeitlich verlassen hat, da ein Ort mit 100 bis 200 Einwohnern einer Handwerkersfamilie kaum hinreichend Arbeit zur eigenen Existenz gab und mobile Wanderhandwerker in Palästina keine Seltenheit waren. Aus dieser Möglichkeit kann man gleichwohl nicht folgern, Jesus habe schon zu dieser Zeit in den benachbarten Ortschaften von Nazaret, eventuell sogar in der ganz in der Nähe liegenden Verwaltungshauptstadt Sepphoris gewirkt. Das lässt sich schwerlich hinreichend belegen»46. 4. Die Archäologie in der Funktion der Erhellung: Nazaret als Verstehenshintergrund der Option Jesu für die Armen Jesu Herz schlägt ungeteilt für die Armen (πτωχοί; hebr. anawim), d. h. für die wirklichen Habenichtse, die genötigt sind, von der Hand in den Mund zu leben. «Es ist überwiegend die arme und ärmste Bevölkerung der Dörfer und Kleinstädte, an die er (= Jesus) sich wendet und mit denen er sich soli44 45 46

G. PAPINI, Lebensgeschichte Christi, München o.J., 49. M. EBNER, Mann (Anm. 36) 6. R. HOPPE, Jesus (Anm. 39) 40.

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