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German Pages 292 Year 2015
Susanne Claußen Anschauungssache Religion
2009-09-08 15-15-49 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b4220316482046|(S.
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Susanne Claußen (Dr. phil.) promovierte in Religionswissenschaft und Empirischer Kulturwissenschaft. Sie konzipiert und begleitet Ausstellungen und lehrt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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Susanne Claussen Anschauungssache Religion. Zur musealen Repräsentation religiöser Artefakte
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Die vorliegende Veröffentlichung wurde im November 2008 an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Susanne Claußen Lektorat & Satz: Susanne Claußen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1283-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
1. Vorwort 9
2. Zu einer Museumsgeschichte der Religionen 13 2.1 „Artis pretio quam divinitate“ – Vom Kult zur Kunst 14 2.2 „Myt ain Teuffel darauff“ – Die Zeugnisse fremder Religionen in Europa 15 2.3 Spezialisierungen – Das 19. und 20. Jahrhundert 20 2.4 „Religionsmuseen“ – Das 20. und 21. Jahrhundert? 27 3. Methodische und museumstheoretische Überlegungen 39 3.1 Bedeutungen musealer Präsentationen 40 3.2 Besonderheiten der Kommunikationsform „museale Präsentation“ 47 3.3 Untersuchungsschema 53 3.4 Zu vier verwandten Kategorien 56 4. „Glaube und Bild“ im Kloster Asbach: Katholizität und Wissenschaftsgeschichte 77 4.1 Historischer Überblick 78 4.2 Wissenschafts- und Ausstellungsgeschichte: Intentionen und Interpretationen 81
4.3 Der Weg in die Ausstellung: Kulturen, räumlich verdichtet 99 4.4 Der Mensch als Gliederungselement und Bezugspunkt der Ausstellung 101 4.5 Zum Inhalt der Ausstellung: Konzentration auf den Kern der Dinge und Konstruktion desselben 112 4.6 Zusammenfassungen und Ausblicke 119 5. Das Museum Schnütgen: Zur Bedeutung und Tradierung der Verbindung von Kunst und Religion 121 5.1 Historische und inhaltliche Skizze 124 5.2 Zum Bedeutungsnetz über der Ausstellung 125 5.3 Die nicht-religiöse Inszenierung von Kult 137 5.4 Heilige als Vorbilder 144 5.5 Marienbilder: Den Blick befreien 148 5.6 Jesusdarstellungen: Mitleiden 155 5.7 Modifikationen, Zusammenfassungen und Ausblicke 163 6. Nord- und Mittelamerika im Übersee-Museum Bremen: Religion als Gegenmodell 173 6.1 Historische und inhaltliche Skizze 175 6.2 Die heutige Wirkung der Amerika-Abteilung 179 6.3 Zum Inhalt der Nord- und Mittelamerika-Abteilung 184 6.4 Die Hopi: Erklärung eines Kultes 189 6.5 Die Tarahumara: Vermittlungsstrategien für Religiosität 194 6.6 Zusammenfassungen und Ausblicke 203
7. Nordamerika im Linden-Museum Stuttgart: Respekt vor Fremdheit 207 7.1 Historische und inhaltliche Skizze zum Museum sowie zur Amerika-Abteilung 207 7.2 Der Weg in den Nordamerikasaal 210 7.3 Der Nordamerikasaal 219 7.4 Zur Ethik einer Ausstellung 228 7.5 Die Hopi-Inszenierung 233 7.6 Zusammenfassungen und Ausblicke 242 8. Anschauungssache Religion 251 8.1 Religion im Museum oder Museum als Religion? 251 8.2 Die museale Präsentation von Religion/en: Zusammenfassungen der Analysen 254 8.3 Reliquien und Authentizität 256 8.4 Tabus und Geheimnisse 261 9. Literatur 271
1. VORWORT In zahlreichen alltäglichen Zusammenhängen spielen religiöse Traditionen und Vorstellungen eine offensichtliche der versteckte Rolle. Da viele Menschen in religiös pluralen Zusammenhängen agieren, werden Informationen über religiöse Traditionen für das eigene Handeln immer wichtiger. Daneben besteht nach wie vor religiöses Interesse aus eigenen Bedürfnissen heraus. Museen und Ausstellungsveranstalter reagieren auf dieses Informationsbedürfnis, indem sie religiöse Fragestellungen und/oder Informationen über Religionen berücksichtigen. Die Darstellung von Religion/en1 im Museum ist bisher jedoch nur in wenigen Aufsätzen reflektiert worden. Sie kann in dreierlei Hinsicht untersucht werden: Wie werden Religionen dargestellt, wie können oder wie sollen sie dargestellt werden? Die vorliegende Arbeit versucht erstmals eine Bestandsaufnahme mittels ausstellungsanalytischer Verfahren. Anhand exemplarischer Analysen wird untersucht, wie Religion/en in verschiedenen Museumstypen repräsentiert ist/sind. Ausgewählt wurden diejenigen Museumstypen, die, historisch bedingt, viele religiösen Artefakte, viele „religiosa“, in ih1
Die Schreibweise „Religion/en“ entlehne ich: Bräunlein, Peter J. (Hg.): Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum. Bielefeld, 2004. Wenn im Folgenden „Religion“ in der Singularform verwendet wird, ist dies als umbrella term im Sinne Kurt Rudolphs gedacht. Rudolph, Kurt: Schwierigkeiten der Verwendung des Begriffs „Religion“ und Möglichkeiten zu ihrer Lösung. In: Haußig, Hans-Michael und Bernd Scherer (Hg.): Religion – eine europäisch-christliche Erfindung? Beiträge eines Symposiums am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Berlin, 2003, S. 37 – 48. Zur Begriffsgeschichte und -problematik sehr konzise: Stegemann, Wolfgang: Religion als kulturelles Konzept. In: Ders. (Hg.): Religion und Kultur. Aufbruch in eine neue Beziehung. Stuttgart, 2003, S. 43 – 69. Sofern die Singularform „Religion“ im Folgenden eingesetzt wird, um einen religionsphänomenologischen oder andere historische Religionsbegriffe zu beschreiben, ist sie in Anführungsstriche gesetzt oder anderweitig als Zitat kenntlich gemacht. Auch wenn die Religionswissenschaft längst aufgehört hat, von Religion im Singular zu sprechen, wirkt sich die Idee einer Religion im Singular immer noch auf das Alltagsverständnis von Religion und auch auf die Vermittlungsarbeit im Museum aus.
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Anschauungssache Religion ren Sammlungsbeständen haben: Kunst-, Völkerkunde- und Volkskundemuseen. Mit einer Zweigstelle des Bayerischen Nationalmuseums, dem Museum Schnütgen in Köln, dem Überseemuseum Bremen und dem Linden-Museum in Stuttgart wurden Häuser zur Analyse gebracht, die bei aller Eigenständigkeit keine Ausnahmen in der Museumslandschaft darstellen, sondern Präsentationen beherbergen, die wichtige Strömungen der Museumsentwicklungen aufnehmen und mitgestalten. Mit der Beschränkung auf Dauerausstellungen wurden weniger spektakuläre oder experimentelle, dafür aber umso validere Beispiele für die Präsentation von Religion/en herangezogen. Außerdem erhöht sich dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass die Leserin, der Leser die Präsentationen aus eigener Anschauung kennt. Obwohl im Fokus der Analysen die Darstellung der Religion/en liegt, werden die Ausstellungen und Ausstellungsabschnitte auf alle in ihnen enthaltenen Aussagen hin untersucht. Dafür werden semiotische Verfahren genutzt und durch weitere Interpretationsmöglichkeiten ergänzt. Da Ausstellungsanalyse ein sehr junges Forschungsgebiet ist, bilden methodologische Überlegungen ein eigenes Kapitel. Ebenfalls den Analysen vorangestellt wurden Überlegungen zu vier theoretischen Begriffen und Betrachtungsweisen, die im Grenzgebiet zwischen Religion und Museum angesiedelt sind: zum Begriff der „Aura“, zur Betrachtung des Museums als Ritus und gesellschaftlich integrierende Institution sowie zur möglichen mythenbildenden Wirkung des Museums. Den Schlussteil der Arbeit bilden weitere theoretische Überlegungen zur Darstellbarkeit von Religion/en im Museum. Von der Annahme ausgehend, dass die Vermittlung von religionswissenschaftlichem und religiösem Wissen in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird, werden die Möglichkeiten musealer Präsentationen, in diesem Bereich wirksam zu werden, diskutiert. Das nun folgende erste Kapitel verortet die Ausstellungsanalysen historisch. Indem die Museumsgeschichte auf die Darstellung von Religion/en befragt wird, werden Seh-, Wahrnehmungs- und Ausstellungstraditionen sichtbar gemacht, die die heutigen Präsentationen entweder beeinflussen oder von neueren Projekten durchbrochen werden. Die vier „Religionsmuseen“ des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, die den Abschluss dieser historischen Skizze bilden, vervollständigen die Bestandsaufnahme der Präsentationen von Religion/en im Museum. Die Arbeit wurde im Sommer 2008 an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Sie zu schreiben, wäre ohne vielfache Unterstützung nicht möglich gewesen. Darum danke ich von Herzen mei-
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Vorwort nen Doktorvätern Prof. Dr. Günter Kehrer und Prof. Dr. Gottfried Korff, die mich seit meinen ersten vagen Ideen zu dieser Arbeit ermutigten und mich in allen Anliegen unterstützten. Danken möchte ich außerdem sehr herzlich meinen Stipendiengebern, dem Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds und dem Land Baden-Württemberg, für ihre Großzügigkeit. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Wiebke Ahrndt (ÜberseeMuseum Bremen), Dr. Nina Gockerell (Bayerisches Nationalmuseum, München), Dr. Sonja Schierle (Lindenmuseum Stuttgart) und Prof. Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen (Museum Schnütgen, Köln), die mir die Türen ihrer Museen öffneten, sich für meine Fragen Zeit nahmen, mir Informationen und Anregungen gaben. Freundlicherweise nahmen sich auch Prof. Dr. Christoph Auffarth (Universität Bremen), Dr. Peter Bolz (Ethnologisches Museum Berlin-Dahlem), PD Dr. habil. Peter J. Bräunlein, Dr. Jean-Loup Rousselot (Staatliches Museum für Völkerkunde, München) und Dr. Anja Schöne (Deutsches Krippenmuseum/Heimathaus Münsterland GmbH) Zeit, mit mir zu diskutieren, ebenso die Kolloquiumsteilnehmer des Ludwig-Uhland-Institutes und der Abteilung für Religionswissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen sowie des Instituts für Religionswissenschaft an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg. Ihnen allen ein herzlicher Dank! Weiterer Dank gilt allen Diskussionspartnerinnen und Diskussionspartnern: Aleksandra Brockhues, Dr. Jan Claußen, Britta von Gadow, Gritta und Prof. Dr. Timo Heimerdinger, Dr. Stefan Michel, Dr. des. Janina Nentwig, Stefanie H. Palm, Dr. Dieter Schittenhelm, Angelika und Gerhard Schmaltz, Verena Schmaltz-Steger, Julia Sedda und allen, die Christopher und Corinna liebevoll behüteten, damit ich schreiben konnte: Jan, Tanja Britt, Aleksandra Brockhues und ihrer Familie, Wilhelmine Clauß und ihrer Familie, Maria und Dierk Claußen, Angela Kunkel-Trujillo, Anna Mirbach und Angelika und Gerhard Schmaltz.
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2. ZU EINER MUSEUMSGESCHICHTE DER RELIGIONEN Sowohl die Ideen- als auch die Institutionengeschichte des Museums, einzelner Museen und Museumstypen ist gut erforscht. Die religiösen Bezüge verschiedener Museumsprojekte, die Abgrenzungen von religiösen Ideen und Institutionen, parallele Entwicklungen oder die Übernahme religiöser Ideen und natürlich religiöser Objekte werden in der Literatur aufgezeigt. Sie lassen sich in vielen Sammlungen, Museen und Museumsutopien mitverfolgen: etwa im Einfluss der Physikotheologie auf manche Kunst- und Wunderkammern, in der Erfindung neuer Präsentationsweisen als Ersatz für Kirchenräume durch die Brüder Boisserée oder in der Entstehung einer „Kunstreligion“ in Folge romantischer Kunstbetrachtung. Aus den Einflüssen der Theologie- und Religionsgeschichte ließe sich insofern eine „Religionsgeschichte des Museums“ kompilieren. Die Frage, wie der Idee einer „Religion“ oder das Wissen über einzelne Religionen in Sammlungen und Museen verarbeitet und umgesetzt wurde, fand jedoch weniger Beachtung. Eine Museumsgeschichte der Religionen ist bislang nicht geschrieben worden. Da bis in die jüngste Vergangenheit weder einzelne religiöse Traditionen noch die Idee einer im Singular gedachten Religion zum maßgeblichen Inhalt von Sammlungs- und Ausstellungskonzepten wurde,1 müsste man die historischen Repräsentationen von Religion/en in allen verfügbaren Quellen zu Sammlungen und Museen suchen und rekonstruieren. Skizzenhaft soll das im folgenden Kapitel geschehen: Beginnend mit der sich verändernden Wahrnehmung von Bildwerken in der Spätantike wird die Geschichte religiöser Artefakte als „Kunst“ bis in die Gegenwart hinein verfolgt. Einen zweiten Strang der Museumsgeschichte bilden die religiösen Artefakte unter den ethnographica. Schließlich wird mit den Jüdischen und den Volkskundemuseen die Darstellung einzelner religiöser Traditionen nachgezeichnet. Der Kapitelaufbau folgt dem Ablauf der Geschichte nicht immer, weil einige Phänomene in ihrem systematischen Zusammenhang geschildert werden. Dadurch werden Wahrnehmungs- und Ausstellungsgewohnheiten und –neuerungen deutlich.
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Zu den Ausnahmen seit Beginn des 20. Jahrhunderts siehe Abschnitt 2.4.
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Anschauungssache Religion
2.1 „Artis pretio quam divinitate“ – Vom Kult zur Kunst Lange vor den ersten Kunstmuseen wurde durch die Möglichkeit, Dinge als „Kunst“ wahrzunehmen, eine ihrer Entstehungsbedingungen erfüllt. Die semantische Umcodierung religiöser Objekte beginnt im Christentum mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion. Kaiser Konstantin (reg. 306 – 337 n. Chr.) ließ zahlreiche Statuen und Kultbilder aus dem ganzen Reich nach Konstantinopel bringen, um die neue Hauptstadt zu schmücken (und zu legitimieren).2 In den „Götzen“, gegen die bereits die Kirchenschriftsteller des 2. und 3. Jahrhunderts, Tertullian, Origines und Clemens von Alexandria, polemisierten, sah er eine „Zierde“ für Konstantinopel. In den folgenden Jahrhunderten wurde weiter über die Bedeutung der Bildwerke, vor allem der Götterstatuen gestritten, wobei die Gegner zwischen religiöser und ästhetischer Bedeutung trennten: In der Konstitution der Kaiser Gratian, Valentinian und Theodosius aus dem Jahr 382 zum Beispiel wurde die Erhaltung eines bestimmten Tempels beschlossen, weil die darin aufgestellten Bildwerke „mehr vom Kunstwert statt vom Göttlichen (artis pretio quam divinitate) beurteilt werden müssen.“3 Norberto Gramaccini zeigt in seiner Untersuchung des „Nachlebens antiker Statuen vor der Renaissance“, wie letztlich die interpretatio christiana von Teilen der heidnischen Vergangenheit selbige für die Gegenwart nutzbar machte.4 Die rund 1200 Jahre später erfolgte, erneute Aufstellung antiker Statuen in Rom markiert einen Neuanfang in der Museumsgeschichte: Papst Julius II. (reg. 1503 – 1513), der große Kunstmäzen,5 ließ im Vatikan für seine Antikensammlung einen eigenen Bau errichten. Im 1506 fertiggestellten Belvedere-Hof waren fortan unter anderem zwei der am meisten bewunderten antiken Statuen zu sehen: der „Apoll von Belvedere“ (1455 in Frascati aufgefunden) und
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Gramaccini, Norberto: Mirabilia. Das Nachleben antiker Statuen vor der Renaissance. Mainz, 1996, S. 20ff. Zit. nach Gramaccini, 1996, S. 25; s. außerdem Wünsche, Raimund: Von Nackten, Heiden und Christen. In: Das Feigenblatt. Katalog zur Milleniumausstellung der Glyptothek München, 18. Juli bis 29. Oktober 2000. München, 2000, S. 9 – 63, hier S. 19. Gramaccini, 1996, 48ff. Aufträge unter anderem an Bramante (Vatikanpalast und Petersdom), Michelangelo (Sixtina) und Raffael (Stanzen).
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen die 1506 in der Domus Aurea des Nero entdeckte Laokoon-Gruppe. Der Cortile del Belvedere gilt damit als der „erste Museumsbau“.6 Wo die Umdeutung von Kult- zu Kunstobjekten unterblieb, haftete den antiken Statuen noch lange der Schrecken der Teufelsanbetung an. Im Landesmuseum Trier ist der weitgehend unkenntlich gewordene Torso einer Venusstatue zu sehen. Diese jetzt nahezu amorphe Steinmasse war über Jahrhunderte in der Nähe einer Pilgerkirche aufgestellt, damit die Gläubigen sie mit Steinen bewerfen konnten. Erst 1811 (!) ließ der französische Präfekt die Statue ins Museum bringen, wo sie vor weiteren tätlichen Übergriffen geschützt war.7 Diese Translozierung erscheint im Rückblick durchaus typisch. Das Vorbild hierfür findet sich in einer der museumsgeschichtlich wichtigsten Epochen, zur Zeit der Französischen Revolution: Nach einer Zeit des Ikonoklasmus an Kirchen und Palästen8 erließ der Konvent 1793 ein Gesetz, das vorsah, die Bildwerke der alten Herrschaft nicht mehr zu zerstören, sondern ins nächste Museum zu bringen. Andrew McClellan spricht von der „secularizing power“ des Museums, die während der Französischen Revolution erstmals erkannt und systematisch genutzt worden sei.9
2.2 „Myt ain Teuffel darauff“ – Die Zeugnisse fremder Religionen in Europa Die Neudefinition als „Kunst“ betraf vor allem die Bildwerke der antiken Religionen und des Christentums. Mit den Artefakten aus den fremden Kulturen, die seit dem 16. Jahrhundert „entdeckt“ wurden, wurde meines Erachtens meist ein anderer Umgang gepflegt. Die Europäer nahmen sie als von den Antiken grundverschieden wahr,
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Zur Gefahr, Museumsgeschichte rückblickend zu konstruieren: HooperGreenhill, Eilean: Museums and the Shaping of Knowledge. London, 1992, S. 7ff. Siehe dazu: Wünsche, 2000, Abbildung S. 54, Text S. 55f. Der Konvent (1792 – 1795) beschloss 1793 unter anderem die Abschaffung des christlichen Kalenders, das Verbot der christlichen Feiertage, die Einführung des „Festes der Vernunft“ und schließlich die Abschaffung des Christentums. McClellan, Andrew: Inventing the Louvre. Art, Politics, and the Origins of the Modern Museum in Eighteenth-Century Paris. Cambridge, 1994, S. 112. Er schreibt, die republikanischen Museen sollten die Besucher dazu erziehen, „in a statue only stone and in an image only canvas and oil“ zu sehen, und den Bildern so ihre gefährliche Kraft nehmen. McClellan, 1994, Kap. 3, Anm. 97.
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Anschauungssache Religion sie sahen sie gewissermaßen mit anderen Augen.10 Die Apollon- und Venusfiguren, Zeugen einer bekannten und zumindest teilweise als „eigene“ empfundenen Vergangenheit, wurden aufgefunden, wiederentdeckt, „waren schon da“. Ihre Präsenz, etwa wenn sie zufällig ausgegraben wurden, erforderte Stellungnahmen und Handlungen von den politischen und religiösen Akteuren.11 Die Objekte aus Übersee hingegen wurden von den Seefahrern, Missionaren oder Händlern neu entdeckt, sie wurden ausgewählt und absichtlich nach Europa gebracht. Die Akteure handelten in diesem Fall mit den Objekten, nicht wegen der Objekte. Die ethnographischen Stücke waren, wenn sie in Europa zu sehen waren, bereits selektiert und mit Interessen verbunden, wenn sie zum Beispiel als Beweisstücke für das Erlebte oder als Anschauungsmaterial für das Leben in den fernen Ländern dienen sollten. Als „Kunst“ wurden die Objekte generell nicht wahrgenommen. Wie reagierten die europäischen Betrachterinnen und Betrachter nun auf die Zeugen fremder, gegenwärtiger Religionen? Eine erste Antwort muss lauten: Manchmal gar nicht, weil sie die religiöse Dimension nicht erkannten. Diese Ignoranz bildet wohl einen eigenen Strang in der Museumsgeschichte der Religionen. Ein frühes Beispiel hierfür ist die Geschichte der 50 Tupinamba-Indios aus dem Amazonasgebiet, die Heinrich II., König von Frankreich (reg. 1547 – 1559), 1550 anlässlich eines Festes für seine Gattin und seine Mätresse nach Rouen bringen ließ.12 Er ließ die Tupinamba dort 10 Einschränkend muss festgehalten werden, dass zu den Objekten „aus Übersee“ in den allermeisten Fällen nur die Zeugnisse der Europäer erhalten sind, daher lassen sich semantische Umcodierungen hier viel schwerer nachweisen. 11 Als solche muss auch die sich herausbildende Gewohnheit, sie als „Kunst“ wahrzunehmen, betrachtet werden. Im Ausstellungskatalog „Das Feigenblatt“ wird von einer Reaktion berichtet, die die Akteure später korrigieren mussten. Mit Lorenzo Ghiberti (einem Florentiner!) wird darin die Geschichte einer Venusstatue in Siena erzählt: Sie „wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Siena gefunden, erregte größte Bewunderung und bekam einen Ehrenplatz vor dem Rathaus der Stadt. Als aber wenig später ein Krieg mit dem Erzfeind Florenz wenig glücklich verlief, suchte man einen Schuldigen: Und fand ihn in der nackten heidnischen Venus, derentwegen, so glaubte man, sich die Sienesen den Zorn Gottes zugezogen hatten. Der Rat der Stadt beschloß, die Venus ‚so schnell wie möglich’ zu entfernen, schließlich zertrümmerte man sie und verscharrte die Bruchstücke auf dem Gebiet der Florentiner, damit nun den Feind Gottes Zorn treffe.“ (Wünsche, in: Das Feigenblatt, 2000, S. 55.) Ausführlicher: Gramaccini, 1996, S. 206 – 217. 12 Die Verbindung zur Museumsgeschichte ist über eine Ecke gegeben: Adelhart Zippelius beginnt seine Geschichte der Völkerschauen mit dieser frühen Begebenheit, bei der „exotische“ Menschen in Europa zu bestaunen
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen ein Dorf bauen, in dem sie über Jahrzehnte lebten. Über die Tänze der Tupinamba berichteten die europäischen Zuschauer offenbar nur in sexuellen Kategorien.13 Von den vertrauten Riten der katholischen Kirche (und von den weniger vertrauten Riten diverser „Ketzer“, der Juden und Muslime) waren die Tänze so weit entfernt, dass sie nicht als religiös klassifiziert wurden. Rund 450 Jahre später führte das Nichterkennen der religiösen Bedeutung von Objekten – oder genauer gesagt, deren Missachtung zu einer der wichtigsten Entwicklungen in der jüngeren Museumsgeschichte: dazu, dass ethnische Minoritäten „anthropologisches Material“ und Kulturgut zurückforderten und damit den Umgang der Museen mit ethnographischen Objekten radikal veränderten. Einer der ersten und wichtigsten nordamerikanischen Fälle wurde als „Larsen Bay Repatriation“ bekannt. Die Smithsonian Institution, die 1989 nach langen Jahren des Konfliktes Knochen von ca. 1000 Menschen und zahlreiche dazugehörige Grabbeigaben an die Inuit von Kodiak Island zurückgab, hat die Geschichte anschließend publiziert.14 In den Stellungnahmen der Inuit wird deutlich, dass aus ihrer Sicht die Wissenschaftler die religiöse Dimension der Objekte vernachlässigten.15 Daraus ergeben sich ethische Konflikte, die die heutige Ausstellungsarbeit in den beiden Amerikas, in Australien, Neuseeland und auch in Europa prägen. In der Analyse des Nordamerikasaales des Linden-Museums Stuttgart werden sie eingehender diskutiert. waren. Die späteren Völkerschauen beeinflussten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Völkerkundemuseen. Zippelius, Adelhart: Der Mensch als lebendes Exponat. In: Jeggle, Utz, Gottfried Korff, Martin Scharfe und Hans-Jürgen Warneken (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Reinbek bei Hamburg, 1986, S. 410 – 429, hier: S. 410f. 13 S. dazu: Sixel, Friedrich W.: „Christoph Kolumbus war kein Freund von mir“. In: Kohl, Karl-Heinz (Hg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdekckungsgeschichte Lateinamerikas. Katalog zur Ausstellung des 2. Festivals der Weltkulturen Horizonte 1982. Berlin, 1982, S. 224 – 235, hier S. 226f. 14 Bray, Tamara L. und Thomas W. Killion (Hg.): Reckoning with the Dead. The Larsen Bay Repatriation and the Smithsonian Institution. Washington und London, 1994. 15 So zum Beispiel: Pullar, Gordon L.: The Qikertarmiut and the Scientist. Fifty Years of Clashing World Views. In: Bray/Killion, 1994, S. 15 – 25 und: Sockbeson, Henry: The Larsen Bay Repatriation Case and Common Errors of Anthropologists. Ebd., S. 158 – 162. Dem immer wieder vorgebrachten Einwand, mit den Rückgabeforderungen seien andere als religiöse Interessen verbunden, sei entgegnet: Wichtig ist hier lediglich, dass die Konflikte an der Trennungslinie zwischen „religiöser Bedeutung der Objekte und ihr angemessener Behandlung“ und deren Missdeutung ausgetragen werden.
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Anschauungssache Religion Wenn die europäischen Betrachterinnen und Betrachter religiöse Bedeutungen in den aus den neuen Kontinenten mitgebrachten Objekten erkannten, hatten sie mehrere Handlungsoptionen. Sie konnten sie als „Götzen“, als „Teufelszeug“ vernichten. Sie hätten sie auch in die eigenen Kulte integrieren können, was aber in Europa mit Objekten aus den beiden Amerikas, aus der Südsee und aus Australien meines Wissens nicht passierte. Die Museumsgeschichte der Religionen müsste aber vor allem Objekte zu verzeichnen haben, bei denen die Feststellung einer religiösen Bedeutung nicht zu religiös motivierten oder begründbaren Reaktionen führte. Das entspräche zumindest der Logik der Sammlungen und Museen, die die Objekte aus Sinnhorizonten und Handlungskontexten herauslösen und idealiter zu ewiger Ruhe verdammen. Zur Illustration der Handlungsoptionen sei aus dem Inventar der Sammlung des Enkhuizer Stadtarztes Bernhard Paludanus (1550 – 1633; das Inventar verfasste er 1617/18) zitiert. Die Leser erfuhren unter anderem folgendes: „Sexterley Trompetten alle onderscheyden [...] die dritte is von swartzem holtz bey den Amasonen, dass seind weiber die im krijg tzien, brauchlick myt ain Teuffel darauff is wol 4 schueg [Schuh] lanck.“16 Der nächste Posten enthielt „Tzween Pfeiffen von schinkelen [Schenkel/Knochen], die die menschenvresser in America gevressen haben.“17 In der Beschreibung werden Stereotypen („Menschenfresser“18) wiederholt und die Darstellung der fremden Gottheiten oder Geister in eine bekannte Kategorie überführt und als „Teufel“ klassifiziert. Wie sehr mag es die Leser und Betrachter vor dem Hintergrund dieser Informationen (oder aus eigener Anschauung) gegruselt haben? Haben 16 Paludanus S. 46 nr. 5. 218. Zit. nach Schepelern, H. D.: Naturalienkabinett oder Kunstkammer? Der Sammler Bernhard Paludanus und sein Katalogmanuskript in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. In: Nordelbingen. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte. Bd. 50, 1981. Heide, 1981. S. 157 – 182, hier S. 176. 17 Paludanus S. 46 nr. 219 - 220. Zit. nach Schepelern, in: Nordelbingen 1981, S. 176. Im Jahr 1592 besuchte Jörg Rathgeber, Begleiter eines späteren Herzogs von Württemberg, die Sammlung, und beschrieb seinerseits Teile dessen, was er gesehen hatte: zum Beispiel Rasseln, die im Kriegsfalle und bei der Verspeisung gefangener Feinde benutzt worden seien und „welche sy darnach auff ain spiese stellen vndt anbetten.“ Zit. ebenfalls nach: Schepelern, in: Nordelbingen 1981, S. 169. Paludanus’ Sammlung wurde 1651 über Adam Olearius an den Herzog von Schleswig verkauft (Christian Albrecht, reg. 1649 – 1659). Die Schleswiger Sammlungen wurden später den Beständen des Dänischen Hofes eingegliedert. 18 Zu den Stereotypen über Amerika s. Kohl, Karl-Heinz (Hg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Katalog zur Ausstellung des Zweiten Festivals der Weltkulturen Horizonte, 1982. Berlin, 1982.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen sich die Katholiken unter ihnen bekreuzigt? Der Arzt Paludanus notierte neben den Angaben über kriegerische Frauen, Menschenfresser und Teufel die Länge der Stücke und ihr Material. Auf die „Trompetten“ und „Pfeiffen“ richtete er also den Blick der sich selbst als nüchtern und objektiv verstehenden Wissenschaftler – und diese Art der Betrachtung setzte sich in den völkerkundlichen Sammlungen und Museen durch. Die Objekte wurden nicht von Kult- zu Kunstgegenständen umcodiert, aber ihr kultischer Gehalt wurde in einem Sprachspiel/Wissensformat/Handlungshorizont weitergegeben, der denselben gewissermaßen entmannte: Die Informationen zur religiösen Bedeutung stehen – wie es auch heute üblich ist! – neben Informationen über Herkunft, Material oder Provenienz und erhalten dadurch mindestens formal den gleichen Stellenwert wie diese. Religiöse Reaktionen auf Seiten der Betrachterinnen und Betrachter werden so unterdrückt. Im Laufe der Jahrhunderte nahmen die Kenntnisse über die fremden Völker zu. Die Objektbeschreibungen wurden insofern zutreffender, als sie den (wahrscheinlichen? imaginierten?) Beschreibungen der Herkunftsgesellschaft ähnlicher wurden. Fremd- und Feindbilder wurden und werden aber nicht nur durch einzelne Objekte und die damit verbundenen Informationen generiert. Sie werden, wie ein Aufsatz über die Verbreitung von Objekten aus muslimischen Ländern in europäischen Sammlungen nahe legt, auch über die Sammlungsbedingungen, -interessen und Möglichkeiten allgemein geformt worden sein. Julian Raby zeigt in seinem Überblick über „Exotica from Islam“, dass ein bedeutender Teil der Objekte aus muslimischen Ländern in den europäischen Sammlungen Kriegsbeute aus den Türkenkriegen ist. Dementsprechend finden sich darunter vor allem Rüstungen und Waffen.19 Die Erinnerung an die Türkenkriege wurde so nicht nur narrativ, sondern auch durch Anschauungsmaterial wachgehalten. Gleichzeitig wurde „der Islam“ mit diesen Objekten verbunden – eine Verbindung, die heute noch „funktioniert“. 19 Die „Sarazenen“ verstanden sich außerdem auf Waffentechnik, die in Europa lange nicht erreicht wurde, die türkischen Dolche und Säbel waren also auch viel bewunderte technische Meisterwerke. Julian Raby zeigt, dass die technische Überlegenheit der muslimischen Großreiche bis in die beginnende Renaissance dazu führte, dass die Europäer deren handwerkliche Erzeugnisse für sehr wertvoll erachteten und die Geschenke und Importgüter aus Persien etc. in ihren Sammlungen aufbewahrten. Als die europäischen Handwerker aber ab dem 13./14. Jahrhundert in der Webtechnik, beim Färben und Glasblasen ähnlich gute oder bessere Ergebnisse erzielten, nahm das Interesse an den Objekten aus dem Morgenland ab. Raby, Julian: Exotica from Islam. In: Impey, Oliver und Arthur MacGregor (Hg.): The Origins of Museums. Oxford, 1986, S. 251 – 258.
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Anschauungssache Religion Beschränkungen des europäischen Blickes auf fremde Kulturen durch die Sammlungsbedingungen sind selbstverständlich allgemein anzunehmen – und gerade auch für den europäischen Blick auf fremde Religionen, denn vielerorts sind religiöse Objekte geheim oder aus vergänglichen Materialien, manche werden im Ritus zerstört oder sind nicht transportabel. Insofern war und ist in den ethnologischen Museen immer nur ein Ausschnitt aus der jeweiligen Religion zu sehen.
2.3 Spezialisierungen – Das 19. und 20. Jahrhundert Als sich im 19. und zur Wende zum 20. Jahrhundert die Museumstypen immer weiter ausdifferenzierten, wurde kein „Religionsmuseum“ konzipiert.20 Statt dessen wurden die verschiedenen Regionen und Epochen auf verschiedene Museen verteilt, und dort konnten die Besucherinnen und Besucher auch etwas über die jeweiligen Religionen erfahren, in manchen mehr, in anderen weniger. Die Ägyptischen Museen zum Beispiel wurden mit zahlreichen Objekten bestückt, die aus den aufwendigen Bestattungsriten der antiken ägyptischen Kulturen geholt worden waren, und insofern wurden deren religiöse Vorstellungen museal in extenso behandelt. Der Islam hingegen war in Deutschland kaum repräsentiert, wofür mehrere Faktoren verantwortlich sind: Die Kerngebiete des Islam wurden (in den deutschsprachigen Ländern) meist nicht von den ethnologischen Museen erforscht und „besammelt“. Statt dessen wurden viele Objekte aus diesen Regionen hier als „Kunst“ gehandelt (Vasen, Teppiche, Miniaturen und anderes). Außerdem galt und gilt der Islam als anikonisch und als schwer visuell greifbar zu machen. Und schließlich gab es im 19. Jahrhundert, als die Jüdischen Mu-
20 Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden. Die Zentrierung der religionswissenschaftlichen Studien auf das Wort, auf „Heilige Schriften“ und die Bedeutung der Philologien allgemein mag ein wichtiger Grund gewesen sein. (s. dazu Kippenberg, Hans G.: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne. München, 1997.) Ein anderer Grund mag das Selbstverständnis der christlichen Konfessionen und vieler anderer Religionsgemeinschaften sein. Illustrierend nur ein Verweis auf die Weltausstellung in Chicago 1893. Dort tagte erstmals das „World Parliament of Religions“. Nur ein einziger vortragender Vertreter einer Religion hatte ein Anschauungsobjekt mitgebracht. Die anderen Redner beschränkten sich auf Worte – und das auf einer Ausstellung! S. dazu: Lancaster, Clay: The Incredible World's Parliament of Religions at the Chicago Columbian Exposition of 1893. A Comparative and Critical Study. Fontwell, Sussex, 1987.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen seen durch die Initiative jüdischer Gemeinden entstanden, noch keine muslimischen Gemeinden in Deutschland. Für die weitere „Museumsgeschichte der Religionen“ sollen nun die entstehenden Jüdischen Museen sowie die Repräsentationen des Christentums in Kunst-, kirchlichen und volkskundlichen Museen beschrieben werden.
2.3.1 „JÜDISCHE ALTERTHÜMER“ Das Judentum war als einzige der abrahamitischen Religionen in Deutschland durch eigene Museen präsent.21 Die Museen zum Judentum unterscheiden sich von den ethnologischen Museen und den Museen für islamische Kunst insofern, als sie oft von den jüdischen Gemeinden selbst errichtet wurden. Sie entstanden im Kontext der Emanzipation der jüdischen Bevölkerung und der Assimilation. Sabine Offe und Bernhard Purin zeigen in ihren Darstellungen zur Geschichte der Jüdischen Museen im deutschsprachigen Raum,22 dass die frühen Sammlungen und Ausstellungen zu „jüdi21 Die Judaica-Sammlungen beinhalten seit ihrer Anfangszeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem Kult- und Ritualgegenstände. Insofern wären Jüdische Museen besonders „ergiebig“ für eine Untersuchung der Darstellung von Religion im Museum. Ich habe dennoch kein Jüdisches Museum zur Analyse ausgewählt, weil einerseits mit dem Band „Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich“ von Sabine Offe (2000) bereits ausgezeichnete Analysen zu einigen Jüdischen Museen veröffentlicht sind, und weil es andererseits durch die dann notwendige Einbeziehung der Geschichte des Antisemitismus und der Shoah nicht möglich ist, den Blick analytisch auf das Thema „Religion“ zu begrenzen. 22 Offe, Sabine: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich. Berlin, Wien, 2000, insbes. S. 29ff; Purin, Bernhard: Dinge ohne Erinnerung. Anmerkungen zum schwierigen Umgang mit jüdischen Kult- und Ritualgegenständen zwischen Markt und Museum. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 96, 1993, S. 147 – 166. Außerdem: Offe, Sabine: Zur Musealisierung von Religion. Jüdische Museen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kippenberg, Hans G. und Brigitte Luchesi (Hg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg, 1995, S. 235 – 250; dies.: Schaustück und Gedächtnis. Jüdisches im Museum. In: Fliedl, Gottfried, Roswitha Muttenthaler und Herbert Posch (Hg.): Wie zu sehen ist. Essays zur Theorie des Ausstellens. Wien, o. J., S. 27 – 45; Pieper, Kathrin: Die Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum Berlin und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Ein Vergleich. Köln, Weimar, Wien, 2006; Rauschenberger, Katharina: Jüdische Museen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Bräunlein, Peter J. (Hg.): Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum. Bielefeld, 2004, S. 139 – 158.
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Anschauungssache Religion schen Altertümern“ und „jüdischer Volkskunde“ nicht nur der kulturellen Selbstbestimmung dienten, sondern sich auch oder vor allem an ein nicht-jüdisches Publikum wandten.23 In den häufig wiederkehrenden Bezeichnungen „jüdische Altertümer“ und „jüdische Volkskunde“ spiegelt sich einerseits die Orientierung an den sich herausbildenden Wissenschaften und den entstehenden regionaloder kulturspezifischen Museen, und andererseits fragten sich bereits kritische Zeitgenossen, was die Festlegung und Markierung bestimmter Kulturbereiche als „jüdisch“ bewirken würde, sie befürchteten eine Ghettoisierung. In der Zeit nach 1900 und vor allem nach 1918 scheinen die Jüdischen Museen bei zunehmendem Antisemitismus stärker apologetisch ausgerichtet gewesen zu sein. Gleichzeitig wurden sie von der nicht-jüdischen Bevölkerung immer weniger beachtet, sieht man von Ausnahmen auf einigen großen Ausstellungen ab.24 Die Verfolgung und Vernichtung der Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft führte in den Jüdischen Museen zunächst zu einem großen Zuwachs an Objekten. Alfred Rosenberg wollte diese Dinge ab 1942 nutzen, um in Prag ein „Jüdisches Zentralmuseum“ als „Museum einer untergegangenen Rasse“ zu errichten.25 Einer der Grundzüge des Museums, die „Nähe zwischen Tod und Museum“26 tritt hier in klarster und entsetzlichster Weise zu Tage. Die Versuche nach 1945, wieder „Jüdisches“ auszustellen, kamen spät: Von einigen Ausnahmen abgesehen, wurde die Kulturgeschichte in vielen Museen erst ab den 1980er Jahren auf jüdische Anteile befragt. Die „Entstellungen“, die die jüdische(n) Geschichte(n) dann bei ihrer musealen Aufbereitung teilweise erfuhren, zeichnet Sabine Offe nach.27 Bernhard Purin bilanziert, dass die Einrichtung jüdischer Abteilungen und Museen ohne museologi-
23 Die vielen Anführungszeichen in diesem Abschnitt sollen andeuten, dass die Bezeichnungen „deutsch“ oder „jüdisch“ nur als Zitate, nicht als Charakterisierungen zu verstehen sind. 24 Dazu zählen die „Internationale Hygiene-Ausstellung“, Dresden 1911, und die GESOLEI, Düsseldorf 1926. S. Purin, Bernhard: Die museale Darstellung jüdischer Geschichte und Kultur in Österreich zwischen Aufklärung und Rassismus. In: Posch, Herbert u. a. (Hg.): Politik der Präsentation. Museum und Ausstellung in Österreich 1918 – 1945. Wien, 1996, S. 25 – 39, hier S. 35. 25 Purin, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 96, 1993, S. 154. 26 Frei nach: Pazzini, Karl-Josef: Tod im Museum. Über eine gewisse Nähe von Pädagogik, Museum und Tod. In: Zacharias, Wolfgang (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen, 1990, S. 82 – 98. 27 Offe, 2000.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen sche Debatte über die Möglichkeiten, Folgen und Grenzen der Darstellung jüdischer Kult- und Ritualgegenstände erfolgte: „Als Folge dieses Mankos sind beim Umgang mit jüdischen Artefakten in Museum und Ausstellung große Unsicherheiten zu beobachten. Sie reichen von Verlegenheit bis hin zu Naivität und fahrlässiger Unkenntnis und Ignoranz beim musealen Sammeln, Dokumentieren und Präsentieren von Sachzeugnissen jüdisch-religiösen Lebens.“28
Dass sich Purin hier vor allem auf Kult- und Ritualgegenstände bezieht, ist kein Zufall, da die Judaica-Sammlungen seit ihrer Entstehungszeit vor allem diese Objektgruppen umfassen. Purin sieht darin eines der größten Probleme musealer Präsentationen zur jüdischen Geschichte: „Tatsächlich scheitern Versuche, jüdische Geschichte lokal, national oder international umfassend in einem Museum zu veranschaulichen, vor allem an der Praxis, dies mit Kult- und Ritualobjekten bewerkstelligen zu wollen. Immerhin haben die entsprechenden Sammlungen in Europa das Ziel, jüdische Geschichte für den von ihnen abgesteckten Raum umfassend darstellen zu wollen“,29
was immer nach dem gleichen Schema erreicht werden soll: Im Zentrum steht der jüdische Festkalender (Purin zählt die zugehörigen Objekte auf „bis hin zum unvermeidlich gedeckten Sedertisch – so, als ob die Besitzer der kostbaren Tischgeräte nur gerade eben den Raum verlassen hätten.“30), beigegeben werden Objekte der jüdischen Passageriten, die „das jüdische Leben“ illustrieren sollen, und schließlich die Tora und ihr Schmuck. „Während diese Form der Präsentation als einzig mögliche hingenommen wird, erscheint hingegen die Vorstellung, daß ein kulturgeschichtliches Museum Weihnachtsbaum und Osterei, Gebetsbuch und Weihwasserkessel zu den alles erklärenden Determinanten christlichen Lebens der letzten Jahrhunderte erhebt, als kurios.“31
Im größten „deutschen“ Jüdischen Museum, dem Jüdischen Museum in Berlin (Träger: Stiftung Jüdisches Museum Berlin), wurde dieser Reduzierung „des Jüdischen“ auf einen ahistorischen, idealen religiösen Ritus eine überbordende Menge an Zeugnissen gemeinsamer „deutsch“-„jüdischer“ Kultur entgegengesetzt. Das Weiterleben der Gleichung „typisch jüdisch = jüdische Religion“ in musealen Präsentationen wäre dennoch eine intensivere Untersuchung 28 29 30 31
Purin, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 96, 1993, S. 157. Ebd., S. 162. Ebd., S. 163. Ebd.
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Anschauungssache Religion wert, gerade weil Charakterisierungen „des Jüdischen“ immer wieder gewünscht werden und immer umstritten sind.
2.3.2 CHRISTLICHE KUNST UND RELIQUIEN Wie erging es dem Christentum, das nicht zum Museumsthema wurde, dessen Paraphernalia aber dennoch einen Großteil der Sammlungsbestände ausmach(t)en? Die oben bereits beschriebene Wahrnehmung der Bildwerke als „Kunst“ wurde fortgeführt. Sie hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts wichtige neue Impulse durch die Brüder Boisserée erhalten, die das Oberlicht erfanden.32 An der grundsätzlichen Bewertung der meisten ihrer Ausstellungsstücke als „Kunst“ hielten auch die Diözesanmuseen und Domschatzkammern fest. Ihre Entstehung verdanken sie hauptsächlich zwei Faktoren: In einigen Fällen führte die Größe der „Heiltumsschätze“ dazu, dass für die „ausgelagerten“ Teile Museen errichtet wurden, und in anderen Fällen ergriffen Kunstvereine der Diözesen die Initiativen.33 Diese Kunstvereine, deren Gründungen 1850 von der 4. Generalversammlung des Katholischen Vereins in Deutschland empfohlen worden waren, trugen Sammlungen zusammen, die kirchliche Objekte als „Kunst“ oder als „Volkskunst“ verstanden. Auch Domkapitular Alexander Schnütgen (1843 – 1918), dessen Sammlung später ausführlich vorgestellt wird, verstand die Objekte, die er sammelte, als „Kunst“ – auch wenn er mit ihnen natürlich noch viel mehr verband. Eine Ausnahme von der Bewertung als „Kunst“ stellten die Kernstücke der „Heiltumsschätze“ in den katholischen Kirchen dar: die Reliquien.34 Als älteste Schätze der Kirchen wurden sie über die Jahrhunderte hinweg gesammelt, verschenkt, geraubt und gehütet. Gewaltige Schätze entstanden, zum Beispiel in Köln, der Heimat der bereits genannten Brüder Boisserée und des Domkapitulars
32 Die Sammlung Boisserée wurde vom Bayerischen König Ludwig I. (reg. 1825 – 1848) erworben. Er ließ für sie und für die bestehende Kunstsammlung der Wittelsbacher die Alte Pinakothek in München errichten. Im 1836 eröffneten Museum wurde eine chronologische Hängung der Werke durchgeführt, die bis zum Höhepunk Raffael reichte. Die später entstandenen Werke waren regional getrennt. 33 S. dazu: Schneider, Wolfgang: Die Entwicklung kirchlicher Sammlungen zur sogenannten Volksfrömmigkeit. In: Jahrbuch für Volkskunde 24, 2001, S. 45 – 64. 34 Reliquien sind die körperlichen Überreste von Heiligen (Primär-Reliquien) sowie Gegenstände, die mit ihren Körpern oder Gräbern in Berührung gekommen sind (Sekundär-Reliquien). Die Verehrung von Reliquien ist bereits für das 2. christliche Jahrhundert nachgewiesen. Sie wird auch nach geltendem katholischen Kirchenrecht empfohlen.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen Schnütgen. Ein römisches Gräberfeld gab Köln zeitweilig die Möglichkeit, Reliquien in größerer Zahl zu verkaufen: 1106 wurde dort die Heilige Ursula geborgen, und mit ihr die Überreste ihres Gefolges von 11.000 Jungfrauen sowie weitere Heilige.35 Seinen nächsten bedeutenden Reliquienschatz erhielt Köln wenige Jahrzehnte später, als Rainald von Dassel 1164 die Gebeine der Weisen aus dem Morgenland von Mailand nach Köln „überführen“ ließ. Nahezu „überschwemmt“ wurde das Abendland mit Reliquien, als die Krieger des Vierten Kreuzzuges 1204 Konstantinopel plünderten.36 Über Unstimmigkeiten im Reliquienkult waren sich die Zeitgenossen im Klaren und ereiferten sich Kritiker immer wieder, die Faszination jedoch blieb. Als Teil der fürstlichen Schätze waren Reliquien in den Sammlungen zu sehen. Im 18. Jahrhundert aber, als die naturalia von den artificialia getrennt und die Sammlungen chronologisch geordnet wurden, wurden, wie Krzysztof Pomian zeigt, die Reliquien aus den geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Sammlungen ausgegliedert.37 Ihr Verbleib ist meines Wissens nicht systematisch erforscht. In den kirchlichen Sammlungen und Museen wurden und werden sie wohl weiterhin gezeigt, und auch in manchen anderen Museen.38 Da viele Reliquien in kunst- und wertvolle Reliquiare gefasst sind, werden sie manchmal gemeinsam mit Abendmahlsgerät, Monstranzen und anderen liturgischen Objekten ausgestellt. So wird ein Übergang zwischen den Reliquien und „Kunsthandwerk“ geschaffen. Trotzdem bleibt den Reliquien eine gewisse Ambivalenz, „Doppelwertigkeit“: Neben dem materiellen, ästhetischen und historischen Wert ihrer Fassungen steht ihr Heilswert. 35 Der Verkauf von Reliquien wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil verboten. Zu den Kölner Reliquien s.: Blom, Philipp: Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der Geschichte einer Leidenschaft. Frankfurt am Main, 2004, S. 225ff und: Legner, Anton (Hg.): Kölner Heilige und Heiligtümer. Ein Jahrtausend europäischer Reliquienkultur. Köln, 2003. 36 800 Jahre später, im Herbst des Jahres 2004, ließ Papst Johannes Paul II die Gebeine zweier damals geraubter Patriarchen (Johannes Chrysostomos und Gregorios Theologos) an die griechisch-orthodoxe Kirche zurückgeben. Ein Sonderflugzeug der griechischen Staatslinie Olympic brachte die beiden (modernen) Kristallglassärge mit den Knochen von Rom nach Istanbul, wo sie Patriarch Bartholomaios I und zahlreiche Gläubige begrüßten (SZ vom 29.11.2004). 37 Pomian, Krzysztof: Sammlungen. Eine historische Typologie. In: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 – 1800. Opladen, 1994, S. 107 – 126, hier S. 124. 38 Eine große Sammlung an Reliquien beherbergt zum Beispiel die Residenz in München. Neben den zahllosen Überresten verschiedener Heiliger ist dort unter anderem ein (blau-weißes!) Stückchen des Tischtuches zu sehen, das Jesus und den Jüngern beim Letzten Abendmahl diente.
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Anschauungssache Religion
2.3.3 RELIGIÖSER VOLKSGLAUBE Reliquien finden sich auch in einem weiteren Bereich des Christentums, der seit dem 20. Jahrhundert museal präsent ist: im „religiösen Volksglauben“. In den verschiedenen Bezeichnungen, die im 19. Jahrhundert ersonnen und zum Teil bis heute gebraucht werden („religiöse Volkskunde“, Erforschung des „Volksglaubens“, der „Volksfrömmigkeit“ et cetera), spiegeln sich verschiedene Programme.39 Volks- und Völkerkundler sowie Theologen verbanden jeweils unterschiedliche Intentionen mit ihren Forschungsanliegen. Die jeweilige Zugehörigkeit zur katholischen oder einer evangelischen Kirche stellte eine zusätzliche Trennung zwischen den Forschern dar, und weitere Abgrenzungen wurden während der nationalsozialistischen Herrschaft getroffen. Auf die Begriffs- und Forschungsgeschichte kann hier nicht näher eingegangen werden.40 Es sei nur festgehalten: Unabhängig davon, ob etwas Ursprünglicheres als das Christentum oder dessen degenerierte Ableger, ob „Aber-“ oder „wahrer“ Glauben oder die dem Theologenglauben fehlenden Elemente von Religion in den Blick genommen wurden, die entstehenden volkskundlichen Sammlungen41 und Präsentationen illustrierten meistens etwas anderes als „das“ Christentum. Das prägte den Blick auf den „Volksglauben“ und dessen museale Repräsentation. Als Beispiel seien die Planungen zum Germanischen Nationalmuseum seit 1852/53 referiert. Im neuen nationalen Museum sollten auch volkskundliche Abteilungen entstehen. Hans von Aufseß nannte 1852 „die noch im Volk lebendig erhaltenen althergebrachten Sitten und Gebräuche, Sagen und Lieder“ als Forschungs- und Sammlungsgebiet des Museums.42 Als die Pläne konkreter wurden, wurde ein Pädagoge und Historiker aus Gießen, Wilhelm Gottlieb Soldan, für die Leitung eines Bereichs „Geschichte der Magie“ vorgeschlagen. (Er hatte rund 20 Jahre früher eine „Geschichte der Hexenverfolgung“ publiziert.) Ab 1866 half das Germanische Nationalmuseum Wilhelm Mannhardt bei der Verteilung von Fragebögen zur Erforschung von agrarischen Gebräuchen, insbesondere von Ernte-
39 Vom „religiösen Volksglauben“ sprach zum Beispiel Lenz Kriss-Rettenbeck, dessen Arbeit im 4. Kapitel vorgestellt wird. 40 S. dazu: Brückner, Wolfgang, Gottfried Korff und Martin Scharfe: Volksfrömmigkeitsforschung. Würzburg, München, 1986. 41 Dies gilt nicht für die kirchlichen Sammlungen! 42 Zit. nach: Deneke, Bernward: Die Volkskundlichen Sammlungen. In: Ders. und Rainer Kahsnitz (Hg.): Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852 – 1977. Beiträge zu seiner Geschichte. München, Berlin, 1978, S. 885 – 947, hier S. 885.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen sitten.43 Hier zeigt sich nicht nur, wie Bernward Deneke noch durch zahllose andere Beispiele nachweist, dass die Volkskunde vom Impuls bestimmt war, den „Volksgeist“ zu „retten“, sondern auch, dass mindestens Teile der „Volksreligion“ als „Magie“, als Überbleibsel agrarischer Gesellschaften vom Christentum der Kirchen und Theologen geschieden wurde.44
2.4 „Religionsmuseen“ – Das 20. und 21. Jahrhundert? Obwohl es den Typus des Religionsmuseums bislang nicht gibt, entstanden seit Beginn des 20. Jahrhunderts einige wenige Sammlungen und Museen, die religiöse Artefakte als solche ausstellten. Dies ist jedoch ihre einzige Gemeinsamkeit. Ihre Gründer verbanden ganz unterschiedliche Intentionen mit den Sammlungen und Museen. Eine Skizze der „Religionskundlichen Sammlung“ (Marburg), des ehemaligen „Museums für die Geschichte der Religion und des Atheismus“ (damals Leningrad), des „St Mungo Museum for Religious Life and Art“ (Glasgow) und des „Museum of World Religions“ (Taipei) wird den historischen Abriss abschließen. Obwohl ich zwei der Museen (Leningrad und Taipei) nicht aus eigener Anschauung kenne, werden sie hier alle kurz vorgestellt: Sie zeigen, dass seit einiger Zeit mit neuen Sichtweisen auf Religion/en experimentiert wird.
2.4.1 DIE „RELIGIONSKUNDLICHE SAMMLUNG“, MARBURG Die wohl älteste religionswissenschaftliche Sammlung wurde in Marburg zusammengetragen.45 Rudolf Otto (1869 – 1937), der mit seinem Hauptwerk „Das Heilige“ 1917 die Religionsphänomenologie begründete und den Blick auf „die Religion“ bis heute nachhaltig beeinflusste, interessierte sich nicht nur für Texte, sondern auch 43 Deneke, in: Ders./Kahsnitz, 1978, S. 890ff. 44 Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Teile der volkskundlichen Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums ausgestellt worden waren (Trachten und „Stuben“), scheinen die Anstrengungen, die „bäuerlichen Alterthümer“ zu präsentieren, zunächst wieder eingeschlafen zu sein. „Religion“ wurde dann durch die Nationalsozialisten als Ausstellungsthema wiederentdeckt (1941: Sonderausstellung „Weihnacht – Rauhnacht“). Die Sammlungen zum religiösen Volksglauben blieben jedoch bis zum Ankauf der Sammlung Erwin Richter 1965 verhältnismäßig klein. S. dazu Deneke, in: Ders./Kahsnitz, 1978, S. 885 – 947. 45 Die folgenden Angaben aus: Kraatz, Martin: Rudolf Otto. In: Schnack, Ingeborg (Hg.): Marburger Gelehrte in der Ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Marburg, 1977, S. 362 – 389, insbes. S. 382ff.
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Anschauungssache Religion für dingliche Zeugnisse der verschiedenen Religionen. Bereits 1912 plante er die von ihm herausgegebene Reihe heiliger Schriften durch eine Sammlung von religiösen Artefakten zu ergänzen, konnte die „Religionskundliche Sammlung“ aber erst 1927 in Marburg als interfakultäre Lehrsammlung begründen. In den folgenden eineinhalb Jahren begab er sich auf Sammelreise. Eine erste Ausstellung wurde 1929 unter dem Titel „Fremde Heiligtümer“ eröffnet. Die Sammlung wurde unter seinen Kollegen und nachfolgenden Lehrstuhlinhabern, zunächst Heinrich Frick (1893 – 1952) und Friedrich Heiler (1892 – 1967), ergänzt. Die weiteren Leiter waren unter anderem Dr. Martin Kraatz (Leitung von 1968 bis 1998) und Dr. habil. Peter J. Bräunlein (Leitung von 2000 bis 2005). 1981 bezog die Sammlung mehrere Räume in der sogenannten Neuen Kanzlei, einem Renaissance-Bau auf dem Weg zum Schloss, wo sie auch heute zu besichtigen ist.46 Ebenfalls in der Neuen Kanzlei befindet sich der Lehrstuhl für Religionswissenschaft, deren jetzige Inhaberin Prof. Dr. Edith Franke die Sammlung seit 2006 leitet. Unterstützt wird sie von der Kustodin Dr. Katja Triplett. In der Museumsgeschichte steht die „Religionskundliche Sammlung“ als ein Solitär da. Aus den wenigen Publikationen über Rudolf Ottos Sammlung der „kultlichen [sic] und rituellen Ausdrucksmittel“47 der Religionen geht hervor, dass er die Sammlung vor allem als Lehrsammlung für Studium und Forschung begriff. Er sah einen deutlichen Unterschied zwischen der Religionskundlichen Sammlung und ethnologischen oder kunsthistorischen Institutionen, wie aus folgendem von Peter J. Bräunlein veröffentlichten Zitat Ottos hervorgeht: „Der Zweck der Sammlung ist nicht der unserer ‚ethnologischen Museen’. Denn nicht um die Darstellung der verschiedenen Volkskulturen handelt es sich bei ihr, sondern um das besondere, in sich zusammenhängende Gebiet der religiösen Kultur, die einheitlich nach ihren eigenen und besonderen Zusammenhängen und Gesichtspunkten vor Augen gestellt werden soll. Ebenso wenig steht die Sammlung unter dem Gesichtspunkt des Künstlerischen. Auch will sie nicht in erster Linie historische Denkwürdigkeiten oder ‚Altertümer’ sammeln. Sondern sie sammelt das Anschauungsmaterial der Religion, [...]. Die Lehrhaftigkeit des Objektes [...] ist bei seiner Auswahl der leitende Gesichtspunkt.“48
46 http://www.uni-marburg.de/relsamm (Stand: 12.12.2007). 47 Brief Rudolf Ottos an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin vom 29. April 1926, zit. bei Kraatz, in: Schnack, S. 383. 48 Briefe Rudolf Ottos an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin von 29.04. und 06.11.1926, zit. bei: Bräunlein, Peter J.: Shiva und der Teufel. Museale Vermittlung von Religionen als religionswissenschaftliche Herausforderung. In: Ders., 2004, S. 55 – 75, hier S. 55f.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen Deutlich zeigt sich hier Ottos substantieller Religionsbegriff, demzufolge das (von Otto definierte) Heilige der Kern aller Religionen ist. Dementsprechend stellt Otto die religiösen Artefakte auch nicht als Repräsentanten disparater Kulturen dar, wie es wohl seiner Ansicht nach ethnologische Museen tun, sondern als ein „zusammenhängendes Gebiet,“ für das es Anschauungsmaterial beizubringen gilt – das Museum als Magd der (theologisierenden) Religionswissenschaft. Von dieser Perspektive ist man inzwischen abgerückt. Sichtbar wurde dies spätestens 1975 mit der Aufnahme des Tenrikyo (eine neuere religiöse Bewegung in Japan) in die Sammlung unter Dr. Martin Kraatz, der folgendes Ziel der Ausstellung formulierte: „Religionen als lebende Organismen museal anschaulich zu machen.“49 Prof. Dr. Edith Franke und Dr. Katja Triplett wollen die Religionskundliche Sammlung wieder stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit rücken und beabsichtigen, „mit thematisch wechselnden (größeren) Sonderausstellungen die Vielfalt religiöser Kulturen sichtbar zu machen und mit einem wissenschaftlichen sowie kulturellem Begleitprogramm eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. [...] Vorträge und Veranstaltungsreihen sollen neben der musealen Präsentation von Religionen in der Religionskundlichen Sammlung auch den Raum für interreligiöse Begegnungen sowie akademische und öffentliche Diskurse zu aktuellen Fragen rund um das Thema ‚Religion’ öffnen. Hier versteht sich die religionswissenschaftlich geführte Sammlung als ein ‚Museum der Religionen’, das weltanschaulich ungebunden Informationen zur Religionsgeschichte und zur religiösen Gegenwartskultur vermittelt und über den universitären Rahmen hinaus transferiert.“50
2.4.2 DAS EHEMALIGE „MUSEUM FÜR DIE GESCHICHTE DER RELIGION UND DES ATHEISMUS“, LENINGRAD Weitere Museen zur Religion und zu den Religionen entstanden in der ehemaligen Sowjetunion. Deren bekanntestes war das „Museum für die Geschichte der Religion und des Atheismus“ im ehemaligen Leningrad. 1932 eröffnet, war es bis 1999 in der Kasaner Kathedrale, einem äußerst imposanten Bau (1811 fertiggestellt), der eine wundertätige Ikone (1904 gestohlen) beherbergte, untergebracht. 1990 wurde das Museum in „Museum der Religionsgeschichte“ umbenannt und ein Flügel der Kathedrale wurde für Gottesdienste freigegeben. Schließlich wurde der gesamte Bau an die Orthodoxe Kirche zurückgegeben, wobei das Museum kürzlich in einem frisch re49 Kraatz, in: Schnack, 1977, S. 389. 50 E-Mail von Prof. Dr. Franke an die Verf. vom 30.05.2008. Zu den aktuellen Ausstellungen und Veranstaltungen s. den Internetauftritt des Museums http://www.uni-marburg.de/relsamm, Stand: 30.05.2008.
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Anschauungssache Religion novierten Gebäude gegenüber der Hauptpost wieder eröffnet werden konnte. Quellenmaterial zu diesem Museum, vor allen zu seiner Arbeit bis 1989, ist schwer auffindbar. In älteren Reiseführern wird kaum mehr als die Existenz des Museums und seine Öffnungszeiten erwähnt, weshalb hier nur einige Angaben zu seiner jetzigen Präsentation referiert seien:51 Der Großteil der Dauerausstellung ist der Entstehung und Geschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche gewidmet. Knapper werden antike Religionen (Ägypter, Griechen und Römer), das Judentum und die Naturvölker Sibiriens dargestellt. Die Beschreibungen heben die moderne Ausstattung des Museums hervor. Mit dem Schwerpunkt auf der Russisch-Orthodoxen Kirche, der Darstellung der jüdischen und der sibirischen Religion/en scheint die jetzige Dauerausstellung „Russland“ zu erfassen; die antiken Völker werden hier möglicherweise wie so oft als „Vorfahren“ angesehen. So spiegelt das Museum offenbar die erneute enge Verbindung der Russisch-Orthodoxen Kirche mit den politischen Machthabern.
2.4.3 DAS „ST MUNGO MUSEUM FOR RELIGIOUS LIFE AND ART“, GLASGOW Ein neuartiges Museum steht in Glasgow, das „St Mungo Museum for Religious Life and Art“. Ursprünglich sollte das jetzige Museum ein Besucherzentrum für die unmittelbar benachbarte Kathedrale von Glasgow werden. Dafür ließen der Freundeskreis der Glasgow Cathedral und mehrere andere Einrichtungen, Behörden und Stiftungen den heutigen Museumsbau errichten (Fertigstellung 1989).52 Die weiteren Pläne konnte der Freundeskreis jedoch aus Kostengründen nicht mehr verwirklichen, und so übernahm 1990 das Glasgow City Council den Bau unter der Bedingung, ein eigenes
51 Quellen: http://www.petersburg.aktuell.ru/petersburg/sehenswert/ (Betreiber: Nachrichtenagentur RUFO, Gründer und Chefredakteur: Gisbert Mrozek) http://www.petersburg-info.de/html/museen_spezialgebiete.html (Betreiber: Eugen Klein, nach eigenen Angaben ein Petersburgliebhaber aus Andernach; Stand jeweils: 12.12.2007). 52 Folgende Angaben aus: Arthur, Chris: The Art of Exhibiting the Sacred. In: The Month. A Review of Christian Thought and World Affairs. Second New Series 26, 7/1993, S. 281 – 289; Dunlop, Harry: Religious Life and Art. St Mungo Museum in Glasgow. In: Fladmark, J. Magnus (Hg.): In Search of Heritage. As Pilgrim or Tourist? Shaftesbury, 1998, S. 263 – 269; Carnegie, Elizabeth, Harry Dunlop und Antonia Lovelace: The St Mungo Museum of Religious Life and Art. A New Development in Glasgow. In: Journal of Museum Ethnography 7, 1995, S. 63 – 78; Kamel, Susan: Wege zur Vermittlung von Religionen in Berliner Museen. Black Kaaba meets White Cube. Wiesbaden, 2004.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen Museum daraus zu machen. Zur Debatte stand, dort mittelalterliche Zeichnungen aus der Burrell Collection, der wohl wichtigsten Sammlung der Glasgow Museums, auszustellen, was zur Idee führte, nicht nur die Weltsicht des christlichen Mittelalters, sondern „the importance of religion in people’s lives across the world and across time“ zu beleuchten.53 Als Kuratoren wurden Soziologen, Historiker und Kulturanthropologen bestellt. Das Museum untersteht dem Verband der Glasgow Museums, von dem es beträchtliche Teile seiner Schausammlung erhielt. 1993 wurde es eröffnet. Seinen Namen erhielt es vom Hl. Mungo, dem die benachbarte Kathedrale geweiht ist.54 Das St Mungo Museums ist in drei Abteilungen aufgeteilt, in die Gallery of Religious Art, die Gallery of Religious Life und in die Abteilung Religion in the West of Scotland. In allen Abteilungen finden sich Objekte aus mehreren Religionen. In der Gallery of Religious Art werden zum Beispiel unter anderem eine Statue von Ganesha, eine Chilkat-Decke (amerikanische Nordwestküste), ein zeitgenössisches Gemälde des Seder-Abends, mehrere Buddha-Statuen und das wahrscheinlich bekannteste Objekt der Sammlung, das Gemälde „Christ of St John of the Cross“ von Salvador Dalí gezeigt.55 Die Klassifizierung der Objekte als „religiöse Kunst“ folgt teilweise dem Selbstverständnis der Künstler, teilweise nahmen die Kuratoren die Einteilung vor. Im angrenzenden Raum Gallery of Religious Life sind in Vitrinen längs der Wände und in der Mitte des Raumes sechs „Weltreligionen“ (Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum und Sikhismus) thematisiert und mehrere systematisch, religionsübergreifend bearbeitete Themen: „Birth“, „Coming of Age“, „Sex and Marriage“, „War and Peace“, „Afterlife“ und ähnliches. Für die systematischen Themen werden nicht nur die „Weltreligionen“, sondern auch noch andere Religionen berücksichtigt.56 Dazu sind Texte, Bilder, Hörbeispiele und wiederum ganz heterogene Objekte zusammengestellt: rituelle Objekte, Gebrauchsgegenstände und künstlerische Darstellungen der benannten Themen. Im dritten Raum wird die Religionsgeschichte der Region Strathclyde und der 53 Dunlop, in: Fladmark, 1998, S. 264. 54 Veröffentlichungen des Museums und seiner Kuratoren: Glasgow Museums (Hg.): The St Mungo Museum of Religious Life and Art. Edinburgh, 2. Auflage 1995 (1. Auflage 1993); Mark O’Neill.: Making Histories of Religion. In: Kavanagh, Gaynor (Hg.): Making Histories in Museums. London, New York, 1996, S. 188 – 199, sowie: Dunlop, in: Fladmark, 1998, S. 263 – 269; Carnegie, Dunlop und Lovelace, in: Journal of Museum Ethnography 7, 1995, S. 63 – 78. 55 Rückgabe des nur leihweise ausgestellten Gemäldes 2006. 56 Im Katalog werden zusätzlich genannt: Religionen der Antike, religions of small-scale societies und Taoismus.
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Anschauungssache Religion Stadt Glasgow ausgestellt. Man kann also mit Susan Kamel, die sich eingehend mit dem Museum beschäftigt hat, sagen, das Museum vereine in den drei Galerien drei Museumstypen: das Kunst-, das Völkerkunde- und das historische Museum. Zum St Mungo Museum gehören außerdem ein Raum für Wechselausstellungen, ein Veranstaltungsraum, der auch vermietet wird, und eine Cafeteria. Der Garten des Museums wurde von einer Gruppe „of professional Japanese Zen gardeners“57 unter der Leitung von Yasutaro Tanaka zu Großbritanniens erstem Zen-Garten gestaltet. Im St Mungo Museum will man in museal-akademischer Wertfreiheit die Gleichberechtigung aller Religionen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erreichen. So schreibt Mark O’Neill, Senior Curator of History der Glasgow Museums: „More explicitly than most museums, it addresses the issue of social role and its aim is stated clearly in the foyer: ‚We hope the St Mungo Museum will encourage mutual respect and understanding among people of different faiths and of none.’“58 Im Vorwort zum Ausstellungskatalog führt der erste Museumsdirektor Julian Spalding aus: „[...] we have drawn on our rich collections to provide a meaningful sample of the depth and variety of religious experience as reflected in objects. It is not our role to make judgements between the various religions represented here. […] Any apparent imbalance – for example in the allocation of space – simply reflects the availability of objects which are of sufficient visual interest to communicate something of importance to the visitor.”59
Die „Tiefe“ und „Vielfalt religiöser Erfahrung“ soll gezeigt werden, ohne über die Religionen zu urteilen. Sogar formal – im zugemessenen Platz – wird Gleichbehandlung angestrebt. Gleichwertigkeit der Religionen wird auch in der Ausstellung selbst proklamiert, zum Beispiel in zwei Sätzen der Texttafel Gallery of Religious Life: „The displays aim to show the separate dignity of each faith […]. The objects on display are sacred to believers, and are treated with respect.”60 Die Museumsverantwortlichen gehen also davon aus, dass jedem Glauben eine eigene Würde zukomme, und dass alle ausgestellten Stücke durch ihre jeweilige Bedeutung für die Gläubigen gleich viel wert seien. Der Anspruch, alle Religionen gleich zu behandeln, und dadurch auf die Gesellschaft einzuwirken, wird in der Ausstellung 57 58 59 60
Dunlop, in: Fladmark, 1998, S. 267. O’Neill, in: Kavanagh, 1996, S. 195. Spalding, Julian: Preface. In: Glasgow Museums, 1995, S. 5f. Texttafel „Gallery of Religious Life“, Stand: Mai 2005.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen durch verschiedene Maßnahmen konkretisiert, vor allem durch die enge Einbindung der in Glasgow ansässigen Religionsgemeinschaften: Zu den Glasgow Museums gehörend, ist das St Mungo Museum auf die Region Strathclyde und auf die Stadt Glasgow bezogen. Interviews mit Glaswegians und Objekte aus Glasgow sind in alle Bereiche des Museums integriert, nicht nur in der Abteilung „Religion in the West of Scotland“. Am Fuß der Treppe, die von der Gallery of Religious Art nach oben führt, hängt zum Beispiel eine Fahne, die Glasgower Sikhs anlässlich des 300jährigen Bestehens der Khalsa genäht haben. Mit diesem und anderen Objekten soll gezeigt werden, dass Glasgow zur Heimat für Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Religionen geworden ist: „As well as reflecting the beauty inspired of religion and the worldwide diversity and pervasiveness of religious experience, the museum also demonstrates the multi-faith city Glasgow has been for at least 200 years.“61 Glasgow als „multi-faith“-Stadt – das ist nicht nur eine historische Aussage, sondern auch ein politisches Statement: das klare Bekenntnis zu religiöser Pluralität.62 Das Museum zeigt und lebt also religiöse Pluralität. Es bemüht sich dabei um Gleichberechtigung der Religionen bei gleichzeitiger Einbeziehung der Gläubigen, der Besucherinnen und Besucher. Obwohl das St Mungo Museum Religionen in ihrer Vielfalt zeigt, rekurriert es doch immer wieder auf Religion im Singular. Die Konzeption des Museums folgt damit religionsphänomenologischen Ansätzen. Folgende Zitate mögen dies belegen: „The aim of this museum is to reflect the central importance of religion in human life“;63 und: „This unique museum explores the importance of religion in people’s lives across the world and across time.“64 Über alle Länder und Zeiten hinweg ist „Religion“ für die Menschen wichtig. Obwohl an anderer Stelle eingeräumt wird, dass es auch Menschen ohne Bekenntnis oder ohne Glauben gebe, gilt den Autoren Religion als zentral für das menschliche Leben.65 Die verschiedenen religions, 61 Spalding, in: Glasgow Museums, 1995, S. 5. 62 Die Glaswegians wählten 1970 als erste Stadt Großbritanniens einen muslimischen Bürgermeister. Dennoch kann auch in Glasgow die Religionszugehörigkeit zum Streitpunkt werden, wie ein bekannter Witz sagt: Man dürfe in Glasgow über alles reden, nur nicht über drei Themen: Politik, Fußball und Religion. 63 Spalding, in: Glasgow Museums, 1995, S. 5. 64 http://www.glasgowmuseums.com/venue/index.cfm?venueid=13, Stand: 01.06.2005. 65 Neben der „Religion“ tritt in den Ausstellungstexten das Heilige als eigenständige Größe auf: „People communicate with the sacred in many different
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Anschauungssache Religion faiths und beliefs zeigen gewissermaßen die erhebliche Binnenvarianz der Größe „Religion“: „the [...] variety of religious experience“.66 Diese Textausschnitte zeigen, dass im St Mungo Museum mit der Vorstellung gearbeitet wird, dass es einen Kern von Religion gibt, der allen Religionen gemeinsam ist. Dieses Wesen der Religion wird als „greatest inspiration to artists“ vorgestellt und als Begleiterin durch das Leben „from birth, through initiation into adulthood, to marriage, through the vicissitudes of adult life, and ultimately to death and beyond.“67 Damit wird dieser Religionsbegriff nicht nur in den Texten gebraucht, sondern formt auch die beiden Abteilungen Religious Art und Religious Life. Wissenschaftlich beraten wurde das Museum durch den Glasgower Religionswissenschaftler Ninian Smart (1927 – 2001), der in seinem Hauptwerk „Dimensions of the Sacred“68 ebenfalls den Variantenreichtum bestimmter Themen in allen Religionen beschrieb. Diese Konzeption ermöglicht die Idee der Ausstellung: Sie bietet das theoretische Fundament dafür, dass alle Religionen als gleichwertig angesehen werden und als prinzipiell vergleichbar gelten. Religionsphänomenologische Konzepte neigen dazu, selbst religiöse Elemente zu transportieren. Sie können als „theologisierende Religionswissenschaft“ kritisiert werden, da sie einzelne Elemente ihres christlichen Erbes nicht ausreichend reflektiert haben. Meines Erachtens können einige Schwachpunkte der Dauerausstellung, die ich an anderer Stelle dargelegt habe,69 auf die fehlende Reflexion der christlichen Traditionen und Perspektiven zurückgeführt werden.
2.4.4 DAS „MUSEUM FOR WORLD RELIGIONS“, TAIPEI Wird im St Mungo Museum die Gleichwertigkeit aller Religionen betont, so propagiert das letzte hier vorzustellende Museum einen gleichartigen Kern aller Religionen: Das „Museum of World Religions“ (MWR) in Taipei, Taiwan, betont Liebe und Frieden, die sich
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ways“, heißt es zum Beispiel einführend zum Thema „Ways of Worship“. Ausstellungstext „Ways of Worship“, Stand: Mai 2005. Spalding, in: Glasgow Museums, 1995, S. 5. Beide Zitate: Ebd. Smart, Ninian: The Phenomenon of Religion. London, Basingstoke, 1973. Ders.: Dimensions of the Sacred. An Anatomy of the World’s Beliefs. London, 1996. Claußen, Susanne: Religiöse Vorstellungen, ethische Verpflichtungen und wissenschaftlicher Anspruch: Zum St Mungo’s Museum of Religious Life and Art in Glasgow. In: Museum Heimathaus Münsterland GmbH (Hg.): Dinge – Räume – Zeiten. Religion und Frömmigkeit als Ausstellungsthema. Redaktion: Anja Schöne. Münster, 2009, S. 67 – 79.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen im Herzen aller Religionen fänden. Es will den interreligiösen Dialog und den Frieden zwischen den Religionen fördern. Die Initiative für das Museum ergriff 1991 der Mönch Meister Hsin Tao. Angaben zu seiner Biographie finden sich im umfangreichen Internetauftritt des Museums und in der ausführlichen Würdigung des Museums von Esther-Maria Guggenmoos.70 Meister Hsin Tao, 1948 im heutigen Myanmar geboren, verlor seine Eltern während der Chinesischen Revolution und zog im Alter von 13 Jahren als Soldat der Kuomintang nach Taiwan. Er berichtet, im Alter von 15 Jahren den Namen des Boddhisattva Guanyin erstmals gehört zu haben und danach Mönch geworden zu sein.71 Er übte sich in verschiedenen meditativen und asketischen Praktiken und errichtete schließlich das „Lingjiou Mountain Nonbeing Monastery“ in der Nähe von Taipei.72 1991 begründete Hsin Tao das „World Religions Museum Preparatory Office“, das die Konzeption des Museum erarbeitete, Spenden sammelte und schließlich das Museum errichtete (Eröffnung 2001). Hauptverantwortlich für die Konzeption waren neben Hsin Tao Prof. Dr. Lawrence Sullivan, Direktor des „Center for the Study of World Religions“ der Universität Harvard, und Ralph Appelbaum, Leiter des Architekturbüros RAA (Ralph Appelbaum Associates). Er war dem Vorbereitungskomitee durch das von ihm entworfene „United States Holocaust Memorial Museum“ (Washington) aufgefallen und wirkte am Planungsprozess intensiv mit. Das im 6. und 7. Stockwerk eines großen Kaufhauses eingerichtete Museum erscheint dementsprechend als ein in sich stimmiger Entwurf, bei dem Inhalt und Ausstellungsarchitektur, Medien und Objekte eng verzahnt sind. Die Besucherinnen und Besucher folgen einem vorgegebenen Parcours, der sie eingangs auf dem Pilgrims’ Way mit existenziellen Fragen konfrontiert und durch verschiedene Räume und Raumabschnitte zur Avatamsaka World als Höhepunkt der
70 Guggenmoos, Esther-Maria: Eine Welt der Liebe und des Friedens. Reflexionen über das Museum of World Religions in Taipei (Taiwan) ein Jahr nach seiner Eröffnung. In: Bräunlein, 2004, S. 159 – 194, sowie http://www. mwr.org.tw; Stand: 11.12.2007, sowie http://www.times.com/News/feat/archives/2001/03/11/77160 und http://www.hds.harvard.edu/news/article_archive/museum.html. Stand jeweils: 11.12.2007. 71 Hier zeigen sich klar hagiographische Tendenzen in der offiziellen Version. Zum Beispiel: „1963: Hearing the sacred name of the Boddhisattva Guanyin for the first time, his [= Hsin Tao] heart surges with the unlimited joy of experiencing dharma.“ http://www.mwr.org.tw/en-library/o3/03-2.htm, Stand: 11.12.2007. 72 Dort legt man, nach Guggenmoos, innerhalb der Mahayana-Traditionen großen Wert auf den Ch’an-Buddhismus und kombiniert ihn mit Elementen der Hinayana- und Vajrayana-Traditionen.
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Anschauungssache Religion Präsentation leitet. Diese Ausstellungseinheit knüpft an eine buddhistische Legende an, in der die Perspektive des Erleuchteten geschildert wird: Sudhana, die Hauptfigur der Legende, erkennt, dass alles mit allem verknüpft ist. Dies sollen die Besucherinnen und Besucher hier nachvollziehen können.73 Darstellend-informative Abschnitte werden mit eher erlebnisorientierten Einheiten kombiniert, etwa der Meditations Gallery und der erwähnten Avatamsaka World. Die Besucherinnen und Besucher werden nicht nur über Bildschirmpräsentationen zur eigenen Aktivität aufgefordert, sondern auch indem sie sich an einem Wasserfall eingangs „reinigen“ und sich am Ausgang den Segen des Meister Hsin Tao abholen können. Geräuschkulissen und zum Beispiel der Wasserfall ermöglichen vielfältige Sinneseindrücke. Leinwandund Bildschirmpräsentationen werden in großer Zahl eingesetzt. Die aufwändige Lichtführung verstärkt die visuellen Reize. Die hauptsächliche Botschaft des Museums wird im Internetauftritt gleich beim ersten Anklicken formuliert: „Respect all beliefs. Embrace all people. Cherish every life”, heißt die englische Version.74 Guggenmoos zeigt, dass sich das Museum damit einerseits innerhalb Taiwans positioniert und andererseits Gläubige rund um den Globus erreichen will.75 Da die Eröffnung des Museums zwei Monate nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York stattfand, erschien das Ziel des Museums offenkundig notwendig zu sein. Neben praktisch-politischen Erwägungen fällt auf, dass das Ziel des Museums auch in religiösen Kontexten plaziert wird, zum Beispiel durch Prof. Sullivans Mitarbeiterin Alison Edwards: Es sei nicht Aufgabe des Museums, Religionen von außen zu betrachten, sondern „from within the traditions and cultures to allow for diversity and dialogue“.76 Daher arbeiteten auf Seiten der Harvard Divinity School Studenten und Wissenschaftler vieler verschiedener Glaubenszugehörigkeiten mit. Meister Hsin Taos Engagement erhält im Internetauftritt des MWR sogar eine innerbuddhistische Begründung, mit der er nach buddhistischer Überzeugung auf die Ursache allen Leidens, nicht auf die Symptome zielt: „If one sees Buddhist monks and nuns spreading their religion or raising funds among the masses of Taiwan, the most usual explanations are that they wish
73 Wichtig Guggenmoos’ Hinweis, dass nur an dieser Stelle eine buddhistische Tradition bevorzugt gezeigt wird. 74 Die Jugendorganisation des MWR verarbeitete das Motto auch musikalisch. Guggenmoos, in: Bräunlein, 2004, S. 161. 75 Guggenmoos, in: Bräunlein, 2004, S. 162f. 76 http://www.hds.harvard.edu/news/article_archive/museum.html, Stand: 11.12.2007, letzte Änderung: 05.11.2007.
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Zu einer Museumsgeschichte der Religionen to erect a magnificent and reverent temple where monks and lay people can offer their worship to Buddha or to build a hospital or refugee center. In other words, their desire is to relieve people’s physical suffering. Master Hsin Tao does not share this point of view however. What he wishes to relieve is the suffering endured in people’s hearts and minds.“ 77
Engagiert oder neutral? Alle hier vorgestellten „Religionsmuseen“ arbeiteten und arbeiten wissenschaftlich, indem sie philologische, historische, soziologische und ethnologische Erkenntnisse verwenden und vermitteln. Dennoch variieren die Ergebnisse erheblich. Es kann angenommen werden, dass die Darstellung in der Kasaner Kathedrale im ehemaligen Leningrad dem Historischen Materialismus folgend auch die negativen Seiten der Religionen gezeigt und mit der Aufklärung und dem Kommunismus die „Befreiung“ aus religiöser Bevormundung betont hat, während die beiden rezenten Gründungen St Mungo Museum und MWR aggressive und mit modernen Vorstellungen nicht kompatible religiöse Phänomene teilweise explizit aussparen. Sie beschreiben Religion/en ausgesprochen affirmativ. Neutraler gehen da die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Religionskundlichen Sammlung in Marburg vor, wobei der Vergleich zwischen der Marburger Sammlung einerseits und dem MWR und dem St Mungo Museum andererseits die Unterschiede zwischen Außen- und Binnenperspektive deutlich werden lässt. Es variiert auch, soweit in Erfahrung zu bringen, der Umgang mit Objekten, der Einsatz von erklärenden Medien und der Grad der Inszenierungen: Während die „Religionskundliche Sammlung“ eben vor allem dies ist: eine Sammlung von Objekten, die vorwiegend durch Texte erläutert in Vitrinen ausgestellt sind, setzt die Präsentation im MWR ganz auf Inszenierung und Vermittlung von Botschaften mittels neuer Medien.78 Es liegt nahe, die Unterschiede in der Präsentation nicht nur auf unterschiedliche Budgets, sondern auch im Zusammenhang mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und religiösen Standpunkten der Museen zu sehen.
77 http://www.mwr.org.tw/en-library/02/building.htm, Stand: 11.12.2007. 78 Die Präsentation im St Mungo Museum setzt unterschiedliche Inszenierungsmittel (Lichteffekte, Geräuschkulissen, farbig und figürlich gestaltete Hintergründe et cetera) und Bildschirmpräsentationen nicht ganz so massiv ein wie das MWR.
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3. METHODISCHE UND MUSEUMSTHEORETISCHE
ÜBERLEGUNGEN
Ausstellungen1 wurden bislang selten als Medien mit eigenen Gesetzen und Möglichkeiten untersucht. Besucher wie Kritiker interessieren sich vorrangig für die Inhalte musealer Präsentationen. Von den gestalterischen und konzeptionellen Elementen bemerken sie in der Regel nur wenige, etwa die Länge der Texte oder die Lichtverhältnisse. Die Ausstellungskritiken in den Feuilletons sind ein Ergebnis dieser inhaltszentrierten Art der Ausstellungswahrnehmung, wie Friedrich Waidacher bemerkt: „Tatsächlich wird die Leserschaft zwar immer wieder über Picassos Blaue Periode, die formalen Gesetze Etruskischer Ornamentik oder die Reproduktionsgewohnheiten flügelloser Fliegen belehrt; aber kaum je erhält sie Informationen über das Ausstellungskonzept, seine Umsetzung, das Design, die Beleuchtung, die Texte – all dies, wie man erwarten sollte, gemessen an den Absichten und Zielen der Ausstellung und an den gegebenen Möglichkeiten.“2
Nicht nur Journalisten verharren beim Inhalt der Museen. Ausstellungsanalyse ist auch ein wenig entwickeltes Forschungsgebiet. In der reichen museumstheoretischen, sammlungs- und museumsgeschichtlichen Literatur finden sich bislang kaum methodologische Überlegungen zur Ausstellungsanalyse. So resümierten Bernd Tschofen, Gudrun Marlene König und Martina Eberspächer im Jahr 2002: „Obwohl Ausstellungen zu den wichtigsten und faszinierendsten Medien der Vermittlung von Kultur zählen, haben bislang weder Fach- noch öffentliche Diskurse angemessene Instrumente entwickelt, Ausstellungen als ‚Publikationen’ zu verstehen, zu analysieren und zu kritisieren.“3
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Mit „Ausstellungen“ sind im Folgenden sowohl Sonder- als auch Dauerausstellungen gemeint. „Museale Präsentation“ wird ebenfalls als Oberbegriff benutzt. Waidacher, Friedrich: Ausstellungen besprechen. In: Museologie Online. 2. Jg., 2000, S. 21 – 34, hier S. 22. Tschofen, Bernd, Martina Eberspächer und Gudrun Marlene König: Korffs Museumsdinge. Zur Einführung. In: Korff, Gottfried: Deponieren – Exponie-
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Anschauungssache Religion Erste Arbeiten zur Ausstellungsanalyse orientieren sich an semiotischen, literaturwissenschaftlichen und psychologischen Verfahren.4 Allerdings hat sich bislang keine besondere Herangehensweise etabliert, und so wählen zum Beispiel Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch einen methodisch pluralen Zugang, um Ausstellungen in Hinblick auf bestimmte inhaltliche Kategorien zu analysieren.5 So wird auch in der vorliegenden Arbeit verfahren. Nach einer Würdigung der Ausstellungen als eigenständige Werke werden die verschiedenen Präsentationen auf die Darstellung von Religion/en hin untersucht. Um das gewählte Vorgehen zu erläutern, wird im Folgenden dargelegt, inwiefern museale Präsentationen Bedeutungen generieren und wodurch sich die Kommunikationsform „museale Präsentation“ auszeichnet. Beide Themen werden auch auf die Darstellbarkeit von Religion/en befragt. Anschließend wird das Untersuchungsschema vorgestellt. Vier dem Thema Religion verwandte Kategorien, die für die Untersuchung mittelbar genutzt wurden, werden ergänzend diskutiert.
3.1 Bedeutungen musealer Präsentationen „Wie Ausstellungen bedeuten – und wann und weshalb,“6 kann hier nur ansatzweise diskutiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Auswahl von Dingen, ihre Zusammenstellung und Rahmung mit sprachlichen, architektonischen, anderen visuellen und weiteren Elementen und ihre Zurschaustellung – kurz: das Ausstellen – Bedeutungen generiert. Die wichtigsten Medien, die die Bedeutungen tragen, sowie die für Ausstellungen wichtigsten Zeichensysteme werden im Folgenden charakterisiert und in Hinblick auf das Thema Religion/en erörtert.
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ren. Hgg. von Eberspächer, Martina, Gudrun Marlene König und Bernd Tschofen, Köln, Weimar, Wien, 2002, S. IX – XIV, hier S. XIII. Bal, Mieke: Kulturanalyse. Frankfurt am Main, 2002; Offe, Sabine: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich. Berlin, Wien, 2000; Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin. Bielefeld, 2004; Pazzini, Karl-Josef: Tod im Museum. Über eine gewisse Nähe von Pädagogik, Museum und Tod. In: Zacharias, Wolfgang (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen, 1990, S. 82 – 98. Muttenthaler, Roswitha und Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld, 2006. Frei nach Goodman, Nelson: Wie Bauwerke bedeuten – und wann und weshalb. In: Das Abenteuer der Ideen. Architektur und Philosophie seit der industriellen Revolution. Ausstellungskatalog Berlin, 1984, S. 237 – 272.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen
3.1.1 DIE MUSEUMSDINGE UND IHRE UMGEBUNG Indem sie musealisiert werden, werden Dinge aus ihrem ursprünglichen Kontext, in welchem sie entweder hauptsächlich funktionierten oder hauptsächlich bedeuteten,7 herausgelöst und in einen neuen Kontext gestellt. Dort sind sie Bedeutungsträger, Semiophoren im Sinne Krzysztof Pomians.8 Dass die Museumsdinge etwas bedeuten, ist leichter festzustellen, als das, was sie im Einzelfall bedeuten, da bei jedem Ausstellungsbesuch Bedeutung neu generiert wird. Folgende Faktoren haben Einfluss auf die sich jeweils aktualisierenden Bedeutungen: Erstens gibt es für jedes Ding einen bestimmten Horizont an möglichen Bedeutungen, der ihm aufgrund seiner Materialität, seiner vormusealen und musealen Geschichte zugeschrieben werden kann. Die Liste der möglichen Bedeutungen wird durch Fehlzuschreibungen noch erheblich länger, jedoch bleiben jeweils einige Bedeutungen aus dem Möglichkeitshorizont ausgeschlossen. Zweitens schreibt „das Museum“ den Dingen einige Bedeutungen zu. Durch den Museumstyp, durch zugeordnete Texte, durch die Zusammenstellung mit anderen Dingen und durch Kontextualisierungen aller Art werden aus dem großen Horizont an Bedeutungen einige für das Museum erschlossen und betont. Gleichzeitig werden damit andere mögliche Bedeutungen unterdrückt oder ausgeschlossen. Manche Bedeutungszuschreibungen geschehen bewusst, andere eher nebenbei, unabsichtlich oder unbewusst. Drittens spielen die Besucher eine tragende Rolle: Von deren Verhalten und Vorwissen, von deren Erwartungen und Assoziationen hängt ab, welche Bedeutungen sie ihrerseits den Objekten geben und welche von den in der Ausstellungen angelegten Bedeutungen sie rezipieren. Bedeutsam sind aber nicht nur die Ausstellungsstücke. Auch die anderen Elemente einer musealen Präsentation tragen Bedeutungen: die Ausstellungsarchitektur, das Ausstellungsgebäude und natürlich die Texte. Eine Ausstellungsanalyse muss gerade auch 7
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Unterscheidung nach Umberto Eco, s. Fischer, Günther: Architektur und Kommunikation. In: Ders. u. a. (Hg.): Abschied von der Postmoderne. Beiträge zur Überwindung der Orientierungskrise. Braunschweig, Wiesbaden, 1987, S. 25 – 51, hier S. 34. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Neuausgabe Berlin, 1998; ders.: Museum und kulturelles Erbe. In: Korff, Gottfried und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt am Main, New York, 1990, S. 41 – 64 und ders.: Sammlungen – eine historische Typologie. In: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 – 1800. Opladen, 1994, S. 107 – 126.
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Anschauungssache Religion diese Elemente in den Blick nehmen und befragen. Mieke Bal und Sabine Offe zeigen, welche Bedeutung bereits die Verortung des Museums in der Stadt und die Geschichte des Gebäudes für die darin gezeigte Ausstellung haben. Bal bestimmt die Juxtaposition vom „Metropolitan Museum of Art“ und dem „American Museum of Natural History“ am Rand des Central Parks in New York als symptomatisch für ein Thema, das im „American Museum of Natural History“ immer wiederkehrt: die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur.9 Offe spürt dem Einfluss nach, den die Geschichten der Häuser auf die darin eingerichteten Jüdischen Museen haben.10 Jana Scholze wiederum erstellt eine Sammlungstypologie, deren strukturierende Kraft sie in den Dauerausstellungen wiederfindet.11 Die folgenden Analysen betreffen in erster Linie alle Teile der Ausstellung selbst, beziehen dann auch das jeweilige Ausstellungsgebäude mit ein und wählen unter den anderen rahmenden Elementen diejenigen aus, die sich insofern als aussagekräftig erweisen, als dass sie andere Aussagen einschränken oder validieren.
3.1.2 VISUELLE UND SPRACHLICHE ZEICHEN Die folgenden Ausführungen betreffen vor allem visuelle und sprachliche Zeichen. Selbstverständlich sehen und betrachten die Ausstellungsbesucher nicht nur, sondern nehmen die Ausstellung auch noch mit ihren anderen Sinnen wahr. Sie erleben Stille oder Geschäftigkeit, spüren Staub und fühlen kühle oder drückend warme Luft und so weiter. Meistens summieren sich die hör-, fühlund riechbaren Elemente zu einer besonderen Atmosphäre, die man unwillkürlich als typisch (oder untypisch) für Museen oder Ausstellungen wahrnimmt. Diese Atmosphäre ist wichtig, weil sie die Erwartungshaltung und das Verhalten der Besucherinnen und Besucher beeinflusst. Sie fließt in die Interpretationen ein. Auch dort, wo andere, besondere Eindrücke zu fühlen, zu riechen oder zu hören sind, wird dieser Empfindungsbereich in die Analysen aufgenommen. Ausstellungen werden gemacht, um Dinge zu zeigen. Sie sind darauf angelegt, gesehen zu werden. Da sich die Besucher eine Ausstellung gehend und sich bewegend erschließen, kann man eine Ausstellung als eine Reihe von Bildern ansehen. Bilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine große Menge an Information simultan vermitteln können, dass sie konkret sind, und dass sie vom Rezipienten schneller und leichter verarbeitet werden können als zum
9 Bal, 2002. 10 Offe, 1995. 11 Scholze, 2004.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Beispiel sprachliche Zeichen.12 Zwar dreht und reckt jeder Besucher seinen Kopf auf andere Weise und sieht also seine eigene Bilderfolge, aber trotzdem gibt es bestimmte Ansichten, die die meisten Besucher wenn nicht gleich, so doch mindestens ähnlich sehen, weil sie durch Licht oder auffällige Farben, durch ihren Standort oder durch die Art der Wegführung hervorgehoben sind. Dies erleichtert eine Analyse, die nicht nur rein persönliche Eindrücke wiedergeben will. In den folgenden Untersuchungen wird darum von „Hauptansichten“ ausgegangen, von denen die Ausstellungen her interpretiert werden. Sprachliche Zeichen weisen andere Charakteristika als visuelle Zeichen auf. Sie werden nacheinander wahrgenommen und erfordern andere kognitive Verarbeitungsprozesse. Als Symbole im Sinne von Charles S. Peirce (1839 – 1914) können sie alles bezeichnen, was anderen Zeichensystemen versagt ist: Bilder zum Beispiel als ikonische Zeichen im Sinne Peirces eignen sich für die Abbildung von Gegenständlichem, während die Sprache auch Abstraktes, Gefühle, Vorstellungen, Vergangenes und Zukünftiges zu benennen vermag. „Bild und Text sind also in vielerlei Hinsicht komplementär,“ fasst Wilfried Nöth zusammen: „Was dem Bild fehlt, kann durch den verbalen Text ergänzt werden. Der Überlegenheit des Bildes bei der Repräsentation von konkreten Objekten im Raum steht die Überlegenheit des Textes bei der Repräsentation von Zeit und Kausalität sowie abstrakter Gedanken und Sachverhalte gegenüber. Die Komplementarität von Texten und Bildern wird vor allem im Nebeneinander von Wort und Bild deutlich: Bilder illustrieren Texte, Texte kommentieren Bilder. Mal ist dabei die Information des Textes wichtiger, mal dominiert die Information des Bildes.“13
Die Komplementarität beider Ausdrucksmöglichkeiten wird gerade in Ausstellungen deutlich, wo visuelle und sprachliche Zeichen miteinander verschränkt werden, wie Muttenthaler und Wonisch betonen: „Ein wesentlicher Aspekt der Ausstellungsrhetorik ist das Verhältnis zwischen Bild/Objekt und Text als einer Form von versprachlichter Bedeutungszuweisung. In diesem Sinne ist die Ebene des Zeigens in der Regel von einer zweiten durchdrungen, nämlich der des Benennens.“14
12 Nöth, Wilfried: Handbuch der Semiotik. 2. Auflage, Stuttgart, Weimar, 2000, Kapitel IX.3 „Bild und Text“. 13 Nöth, 2000, S. 483. 14 Muttenthaler, Roswitha und Regina Wonisch: Zur Schau gestellt. Be-Deutungen musealer Inszenierungen. In: Barchet, Michael, Donata Koch-Haag und Karl Sierek (Hg.): Ausstellen. Der Raum der Oberfläche. Weimar, 2003, S. 59 – 77, hier S. 72.
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Anschauungssache Religion Das Benennen-Können ist im Museum, wo vieles den Besuchern fremd ist, sehr wichtig. Die „xenologische Institution“ Museum15 lehrt die Besucher den Umgang mit Fremdem. Dazu stellt sie ihnen Worte, Namen für die Dinge zur Verfügung. Auch die Besucher, die nicht alle Ausstellungstexte lesen, werden den Ausstellungstitel, einzelne Überschriften oder einige Objektbeschriftungen als Namen für das Gesehene benutzen.16 Insofern sind die durch das Museum vorgenommenen Benennungen nicht zu unterschätzen: Sie durchdringen die visuellen Eindrücke, sie sind deren erste Deutung. In den folgenden Untersuchungen werden die visuellen und sprachlichen Zeichen darum immer in Bezug aufeinander interpretiert.
3.1.3 DEUTUNG UND BEDEUTUNG DARSTELLUNG RELIGIÖSER PHÄNOMENE
BEI DER
Wenn man die Genese von Bedeutungen im Museum in Bezug auf die Darstellung von Religion/en rekapituliert, muss noch auf Zweierlei ergänzend eingegangen werden: erstens auf metasprachliche Mittel und zweitens auf die Bedeutungsveränderungen religiöser Artefakte im Museum. Die Darstellung von Religion/en ist im Museum auf sprachliche Mittel angewiesen. Da viele Bereiche von Religionen ungegenständlich oder visuell nicht greifbar sind (Geheimnisse, Gedanken- und Götterwelten), müssen sie, sofern sie vermittelt werden sollen, sprachlich gefasst werden. Beim „Reden über Religion“ wird eine weitere Besonderheit von Sprache wichtig: die Möglichkeit metasprachlicher Darstellung. Bei der sprachlichen Fassung von religiösen Phänomenen spielt die etwaige Anwendung von Metaebenen eine wichtige Rolle. Der Charakter der Texte, die darin enthaltenen Appelle und Selbstoffenbarungen hängen in hohem Maße von der Verwendung verschiedener Ebenen ab. Die metasprachliche Darstellung kann verschiedene Grade der Distanzierung gegenüber ihrem Gegenstand, der Religion, aufweisen, während die objektsprachliche Darstellung immer zur Reifizierung religiöser Phänomene neigt. In den folgenden Interpretationen werden die Sprachebenen daher genau durchleuchtet. Weiter oben war von den Dingbedeutungen im Museum die Rede. Es muss noch einmal nachgefragt werden, wie und was religiöse Artefakte im Museum bedeuten. Religiöse Artefakte unterscheiden sich von anderen musealisierten Gegenständen dadurch,
15 So Peter Sloterdijk in einem Zeitungsartikel: Museum. Schule des Befremdens. FAZ vom 17.03.989. 16 Oft ist zu beobachten, dass in Kunstausstellungen erst die Objektbeschriftung gelesen wird, bevor der Blick zum Gemälde wandert.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen dass sie bereits vor ihrer Musealisierung hauptsächlich „Semiophoren“, Bedeutungsträger, waren. Welcher Art ist also der Bedeutungszuwachs, den sie im Museum erfahren? Auf welchen Ebenen findet der Bedeutungszuwachs statt? Wie Karl-Heinz Kohl in seiner Theorie sakraler Objekte ausführt, haben alle Dinge zwei Bedeutungsebenen: Zunächst bedeutet ein Ding sich selbst.17 Diese primäre Bedeutung ist nicht arbiträr: „Maniok und Brot kann man zwar als Nahrungsmittel, nicht aber als Werkzeuge verwenden.“18 Dazu kommt eine sekundäre („symbolische“), ebenfalls nicht-arbiträre Bedeutung von Dingen, die sich aus deren Materialität und Gebrauch ergibt: Brot kann für Nahrung allgemein, für Sattheit oder Mangel stehen, nicht aber für beliebige andere Phänomene (etwa Trunkenheit oder Hitze). Für sakrale Objekte zeigt Kohl eine weitere, dritte Bedeutungsebene, die einen von den ersten beiden Bedeutungsebenen völlig verschiedenen Charakter hat: Als sakrale Objekte werden, so Kohl, Dinge zu vollkommen arbiträren Zeichen, die nach einer Kontingenzerfahrung mit einem religiösen Inhalt verknüpft werden. Das heißt, ihre religiöse Bedeutung muss in keinerlei inhaltlicher Beziehung zu den ersten beiden Bedeutungsebenen stehen. Als prototypisch für die Genese sakraler Objekte referiert Kohl die alttestamentarische Geschichte von Jakob und dem Steinheiligtum von Beth-El: Den Stein, der Jakob zufälligerweise in der Nacht, als er eine göttliche Offenbarung erfuhr, als Kopfkissen19 diente, richtet Jakob zum Steinmal auf.20 Löscht diese dritte Bedeutungsebene, die die sakralen Objekte aufweisen, die anderen beiden Bedeutungsebenen aus? Ausgelöscht werden sie meines Erachtens nicht, aber gleichsam eingefroren – ähnlich vielleicht, wie es Roland Barthes (1915 – 1980) für das erste Zeichen im Mythos als einem sekundären semiologischen System21 ausführte: Die vorherige Bedeutung ist erstarrt und aufgehoben. An
17 Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München, 2003, insbes. S. 155ff. 18 Kohl, 2003, S. 156. 19 Mit der Bezeichnung als „Kopfkissen“ verschweigen die alttestamentarischen Autoren die wahrscheinliche vormalige Bedeutung des Steins, den die „Jakob“ genannte Figur schon aufrecht stehend vorgefunden haben dürfte: In seiner phallischen Form wird er einst Teil eines Fruchtbarkeitskultes gewesen sein. 20 Kohl führt die semiotischen Besonderheiten sakraler Objekte noch weiter aus. So seien die sakralen Objekte, anders als die ebenfalls arbiträren sprachlichen Zeichen, semantischen Transformationen gegenüber offener, wie die „Wiederverwendung“ älterer Kultorte und -objekte in neuen Religionen zeigt. Kohl, 2003, S. 155ff. 21 S. dazu Abschnitt 3.4.3.
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Anschauungssache Religion das Steinmal wird als ehemaliges Kopfkissen von Jakob erinnert: Es wird jedoch nie mehr als solches verwendet werden. Auch den Museumsdingen wachsen Bedeutungsebenen zu. Auch sie verweisen nicht mehr nur auf sich selbst und ihren Gebrauch. Damit, und aufgrund anderer Analogien zu sakralen Objekten, bestimmt Karl-Heinz Kohl Museumsdinge als die Entsprechungen sakraler Objekte in der Moderne:22 Wie sakrale Objekte haben Museumsdinge keinen unmittelbaren Gebrauchswert, noch unterliegen sie den normalen Tauschgesetzen. Beide Objektklassen sind „von den profanen Dingen sorgsam separiert. / Sie sind von Tabus umgeben.“23 Sie haben „mediatorische Eigenschaften“, wie KarlHeinz Kohl Krzysztof Pomian paraphrasiert. Und, so Kohl, sie sind arbiträr24 im Sinne von austauschbar. So kann die ungeheure Anzahl an Bibelübersetzungen im Museum durch eine Bibel auf Sorbisch ebenso repräsentiert werden wie durch eine auf Suaheli. Was passiert nun, wenn ein sakrales Objekt musealisiert wird? Schiebt sich eine „vierte“ Bedeutungsebene über die „dritte“? Welche Bedeutungen werden nun von den Besuchern wahrgenommen? Erleben sie die Objekte als „sakral“ oder als „museal“? Oder kann man das eine nicht mehr vom anderen separieren? Ein Lösungsschema findet sich hierfür nicht – man muss den Einzelfall untersuchen. Je nach Inszenierung, so zeigen die folgenden Analysen, kann die religiöse Bedeutung des Objektes im Museum aktiviert oder ausgeschaltet werden. Das Museum kann profanierend oder zusätzlich sakralisierend wirken. Das Objekt kann unterschiedlich viele Bedeutungsebenen aufweisen.
22 Kohl, 2003, S. 256ff. 23 Ebd., S. 258. 24 Damit stellt Kohl Benjamins Aura-Begriff in Frage, der auf der Einzigartigkeit des auratischen Gegenstandes basiert. Kohl überlegt, ob nicht gerade die Einzigartigkeit des Gegenstandes erst durch seine zahlreichen Kopien hergestellt wird. Außerdem gibt er zu bedenken, dass es vom Ausstellungskonzept abhängt, welches Gemälde beispielsweise die Kunst der Renaissance repräsentieren soll: „Tatsächlich kann in einer alle kunsthistorischen Epochen umfassenden Sammlung ein Mantegna ohne weiteres gegen einen Giorgione ausgetauscht werden, wenn es darum geht, die Kunst der Renaissance zu repräsentieren.“ (Kohl, 2003, S. 255f) Sein Fazit: Museumsobjekte werden prototypisch verwendet, werden zu syntagmatischen Reihen zusammengestellt, „in denen eines durch ein anderes ersetzt werden kann, ohne daß sich dadurch der semantische Gehalt grundsätzlich ändert.“ (Ebd., S. 255) S. dazu auch Abschnitt 3.4.1.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen
3.2 Besonderheiten der Kommunikationsform „museale Präsentation“ Die Bedeutungen in den musealen Präsentationen werden von Menschen hergestellt und wahrgenommen. Ausstellungen sind damit eine besondere Form der Kommunikation. Nach Roman Jakobsons (1896 – 1982) Modell der kommunikativen Funktionen hat jede sprachliche Mitteilung eine inhaltliche Seite (den referentiellen Aspekt / die referentielle Funktion der Mitteilung), die die Botschaft (den poetischen Aspekt) bestimmt. Zum Ausdruck kommen jedoch auch immer die Haltung des „Senders“ (expressive Funktion) und eine Aufforderung an den „Empfänger“ (appellative Funktion). Dass die Kommunikation aufrechterhalten wird, verdankt sie ihrer „phatischen Funktion“, und dass sich Sender und Empfänger über die Kommunikation verständigen können, nennt Jakobson den „metasprachlichen Aspekt“. Wie Jakobson zeigt, stehen bei verschiedenen Mitteilungen jeweils einige Aspekte im Vordergrund und andere treten zurück, oft werden sie vermischt. Ein bekanntes Beispiel ist der Satz „Hier zieht es“, dessen referentielle Funktion es ist, darzustellen, dass ein kalter Wind weht. Mit dem poetischen Aspekt meint Jakobson, genau diese Worte gewählt zu haben. In diesen Worten kann gleichzeitig die Aufforderung enthalten sein, das Fenster zu schließen (appellativer Aspekt), und als Expression: „Mir ist kalt.“ Entgegnungen wie ein „mh-mh“ könnte man als vor allem phatisch bezeichnen, weil sie anzeigen, dass der erste Satz gehört wurde und die Kommunikation weitergehen kann. Die Nachfrage „Wie meinst Du das?“ hingegen offenbart die metasprachlichen Möglichkeiten, die Möglichkeit, sich über das Gesagte zu verständigen. Die sechs Funktionen wurden von Jakobson für sprachliche Mitteilungen beschrieben, das Modell wurde aber inzwischen auf verschiedene Kommunikationsformen übertragen.25 Auch in den folgenden Analysen wird verschiedentlich darauf Bezug genommen, denn sowohl die Ausstellung als Ganzes, als auch Teile derselben können als Mitteilungen verstanden werden. Analysiert werden in erster Linie die referentiellen, poetischen und appellativen Aspekte der Ausstellungen. In den „Verortungen“ der Museen werden außerdem die metasprachlichen Aspekte untersucht: Was sagt die Verankerung in Stadt, Geschichte, Gesellschaft über das Ausstellungsthema aus? Die expressiven Aspekte werden weniger beachtet, weil die „Sender-Seite“ meist aus mehreren Personen besteht, die zudem, wie weiter unten ausgeführt, als „Sprachrohr“ eines wieteren kulturellen Umfeldes fungieren. Wessen Selbstaussage könnte
25 S. dazu Nöth, 2000, S. 103ff. Besonders anregend die Übertragung auf Architektur durch Fischer, in: Ders. u. a., 1987.
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Anschauungssache Religion also zur Untersuchung isoliert werden? Auch die phatischen Aspekte kommen nur summarisch zur Analyse, vor allem in der oben beschrieben Ausstellungsatmosphäre und in Bezug darauf, wie sehr beispielsweise auf die Leseinteressen und Unterhaltungsbedürfnisse der Besucher eingegangen wird. Die Kommunikationsform „museale Präsentation“ weist einige Besonderheiten auf. Eines der hervorstechenden Merkmale ist die Vielzahl an Zeichensystemen, die sich in diesem „hybriden Medium“ (Siegfried Mattl) finden. Da auf die Zeichensysteme bereits eingegangen wurde, werden nun drei weitere Aspekte skizziert.26
3.2.1 ZUR AUTORITÄT DER MUSEALEN PRÄSENTATIONEN Ausstellungen sind Kommunikationsakte, deren „Botschaft“ und „Sender“-Seite mit einer gewissen Autorität ausgestattet ist. Diese Autorität fußt einerseits auf dem Wissensvorsprung in Bezug auf Objekte und Ausstellungsthema, den sich die an der Ausstellung beteiligten Personen erarbeitet haben, und der die Grundlage dessen ist, was sie den Besucherinnen und Besuchern mitteilen. Die Autorität ergibt sich, damit zusammenhängend, andererseits auch aus dem Rahmen der „Wissenschaftlichkeit“, der die meisten Ausstellungen umgibt. Die Besucherinnen und Besucher gehen in der Regel davon aus, dass das, was sie im Museum lernen und erfahren „richtig“ ist (oder zumindest sein sollte) und ihrer Weiterbildung dient. Die „Wissenschaftlichkeit“ ist jedoch nicht nur ein Grund für die Autorität der musealen Präsentationen, sondern auch eine ihrer Äußerungsformen. Wissenschaftlichkeit selbst strahlt Autorität aus. Dies zeigt sich besonders deutlich an einer Besonderheit von Ausstellungstexten: Ausstellungstexte sind, als hauptsächliche Vermittler der intendierten inhaltlichen Aussagen, zumeist als wissenschaftliche Prosa gehalten, werden aber im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht mit Autorennamen versehen, was sie als eine von mehreren möglichen Meinungen auswiesen würde. Auf mich wirken sie darum wie Stimmen aus dem Off, deren Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch den Schlagzeilen der „Tagesschau“ oder einem Eintrag im Konversationslexikon gleicht.
26 Dabei werden die Menschen „hinter“ der musealen Präsentation (= Kuratorinnen und Restauratoren, Pädagogen und Designerinnen, et cetera) immer wieder vereinfachend als „Sender“ einer „Botschaft“ (= die Ausstellung) bezeichnet, während die Besucherinnen und Besucher als „Empfänger“ von Botschaften auftreten. Selbstverständlich ist weder der Informationsfluss ausschließlich einseitig so gerichtet, noch wird dadurch die Sinngenese hinlänglich beschrieben. Das Modell dient nur der knapperen Darstellung.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Das Maß der Autorität der musealen Präsentation wird noch durch viele weitere Faktoren bestimmt: durch thematische Spezialisierungen, durch unterschiedliche Grade von Leserfreundlichkeit, durch die Anzahl der Ausstellungsstücke und vieles mehr. Ein weiteres Element kann die Architektur des Ausstellungsgebäudes sein: Architektonische Zitate von Tempelbauten lassen das Gebäude eine Wichtigkeit ausstrahlen, die sich nicht aus wissenschaftlichen Kulturtechniken, sondern aus den religiösen Traditionen ergibt. Ein Charakteristikum, auf das Günther Fischer für Architektur hinweist,27 kann ebenfalls zur Autorität musealer Präsentationen beitragen: die in wesentlichen Teilen monologische Struktur der musealen Präsentationen. Die Einflussmöglichkeiten der Besucherinnen und Besucher auf die Ausstellung sind gering. Ihr Part ist vor allem reaktiv.28 Die monologische Struktur und meines Erachtens auch die sich durch das autoritative „Sprechen“ ergebende Asymmetrie zwischen „Sendern“ und „Empfängern“ wird von vielen Kuratoren, Ausstellungsgestaltern und Museumstheoretikern als Manko empfunden. Es wird darum oft versucht, in einen Dialog mit den Besucherinnen und Besuchern zu treten. Und außerdem sind die Museumswissenschaftler immer stärker am Dialog mit den im Museum repräsentierten Menschen interessiert. Gerade bei religiösen Fraugestellungen, die eine sehr subjektive Seite haben, könnte beides zu interessanten Konzeptionen führen.
27 Fischer, in: Ders. u. a., 1987, S. 29ff. 28 Natürlich sind die Besucherinnen und Besucher nicht nur passive Empfänger; die „Sinngenese“ im Museum hängt auch von ihrem Verhalten, von ihrem Vorwissen und ihren Erwartungen ab. Sie können sich mehr oder weniger Zeit für die Ausstellung nehmen, sie können Teile ausblenden oder enttäuscht oder frierend schnell wieder hinausgehen. Manchmal können sie auch ihre Meinung über die Ausstellung veröffentlichen, etwa wenn sie sich in ein Gästebuch eintragen oder Kommentare auf kleine Zettel schreiben können. Diese Möglichkeiten werden teilweise gerne genutzt und nicht nur von den Kuratorinnen und Kuratoren, sondern oft auch von den folgenden Ausstellungsbesuchern gelesen. Großer Besucherandrang kann dazu führen, dass Sonderausstellungen verlängert werden. Aber insgesamt ist der Part der Besucherinnen und Besucher vor allem reaktiv: Sie können den Ort der Ausstellung, ihre Gestaltung und ihre Inhalte nicht mitbestimmen, sondern nur auf sie reagieren. Die vollständige Überarbeitung einer Ausstellung, wie sie die Reaktionen auf die „Wehrmachtsausstellung“ bewirkten, ist die Ausnahme.
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Anschauungssache Religion
3.2.2 DIE MUSEALE PRÄSENTATION ALS APPELL In den folgenden Untersuchungen wird immer wieder davon ausgegangen, dass die Ausstellungen Botschaften an die Besucherinnen und Besucher formulieren. Die in Jakobsons Diktion appellative Funktion von Ausstellungen wurde von verschiedenen Autoren betont. Siegfried Mattl etwa schreibt, Ausstellungen führten keine Diskurse, sondern gäben Parolen aus: „Ausstellungen sind Ereignisse und rituelle Veranstaltungen, keine bildungspolitischen und pädagogischen Unternehmungen.“29 Den Unterschied zu anderen Wissensformaten im Sprachstil und im Wahrheitsanspruch betont auch Friedrich Waidacher: „Die Museale Ausstellung ist, unabhängig vom Thema, in allen Fällen ein spezifisch künstlerisches Medium sui generis und damit das diametrale Gegenteil einer wissenschaftlichen Aussage.“30 Entsprechend unterscheidet sich die Kommunikationsform „Ausstellung“ von ihrem hauptsächlichen sprachlichen Inhalt, von den Ausstellungstexten: Basieren die (allermeisten) Ausstellungstexte auf einem wissenschaftlichen Sprachstil, bei dem die referentielle Funktion im Vordergrund steht, so stehen, mit Mattls Worten, bei der Ausstellung insgesamt „vom Sprachtypus her [...] die appellativen Akte im Zentrum.“31 Das mag prima vista nicht einleuchten: Eine Vitrine über die heimatliche Fauna oder die Gegenüberstellung von Werken des Expressionismus mit afrikanischen Masken soll den Kindern Dachs und Rotfuchs zeigen beziehungsweise die Einflüsse der „primitiven“ auf die Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts. Wo steckt hier ein Appell an die Betrachterinnen und Betrachter? In den folgenden Analysen kann immer wieder gezeigt werden, dass auch in solchen
29 Mattl, Siegfried: Ausstellungen als Lektüre. In: Fliedl, Gottfried, Roswitha Muttenthaler und Herbert Posch (Hg.): Erzählen, Erinnern, Veranschaulichen. Theoretisches zur Museums- und Ausstellungskommunikation. Wien, 1992, S. 41 – 54, hier S. 50. 30 Waidacher, in: Museologie online 2, 2000, S. 24. Waidacher schreibt „Museale Ausstellung“ immer mit großen Anfangsbuchstaben. 31 Mattl, Siegfried: Texte sehen. Bilder lesen. In: Fliedl, Gottfried, Roswitha Muttenthaler und Herbert Posch (Hg.): Wie zu sehen ist. Essays zur Theorie des Ausstellens. Wien, o. J., S. 13 – 26, hier S. 21. Siegfried Mattl betont die Unterschiede zwischen wissenschaftlichen und musealen Aussagen: Wissenschaftliche Aussagen beschreiben, wie ein Ding ist, nicht was es ist. Das wissenschaftliche Wissen ist, in Mattls Worten, „denotativ“, es bezieht sich auf rekursiv zugängliche Objekte. Ausstellungen hingegen machen „performative Aussagen“, indem sie Dinge durch den Zusammenhang, in den sie es stellen, benennen. Mattl, in: Fliedl/Muttenthaler/Posch, 1992, S. 50.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen vermeintlich „sachlichen“ Displays Vorannahmen stecken, die aus deskriptiven normative Aussagen machen. Um beim Beispiel zu bleiben: Es kann die Idee von „Heimat“ sein, die aus den biologischen kulturelle Aussagen macht; oder es kann die Aufforderung sein, die Beeinflussung zwischen Europa und seinen ehemaligen Kolonien als wechselseitige anzuerkennen. Aber die appellative Funktion der Ausstellungen verbirgt sich nicht nur in den leicht zu versprachlichenden Einzelelementen, sondern auch im Ausstellungsbesuch insgesamt: Das In-der-Ausstellung-Sein, das Sich-Bewegen darin macht die Besucherinnen und Besucher zu Teilen der Ausstellung. Die Ausstellung ist für eine Weile ihre Gegenwart und ihr Gegenüber. Sie müssen sich zu ihr verhalten – mit anderen Worten: die Ausstellung selbst ist eine Aufforderung an die Besucher (s. dazu auch Abschnitt 3.2.4).
3.2.3 INTENDIERTE UND NICHT-INTENDIERTE BOTSCHAFTEN Mit musealen Präsentationen sollen bestimmte Aussagen gemacht werden, wenn etwa die eingangs zitierten „formalen Gesetze Etruskischer Ornamentik“ vermittelt werden sollen. Die Aussagen dazu sind intendiert. Formuliert werden sie von den an der Ausstellungskonzeption und am -aufbau beteiligten Personen. Sie sind gleichwohl nicht als freie, persönliche Meinung der Volontäre, Kuratoren et cetera zu verstehen. Muttenthaler und Wonisch geben zu bedenken, dass die Kuratoren in einem bestimmten soziokulturellen Umfeld, in einem bestimmten setting handeln.32 Auch wenn ihre Persönlichkeit die Präsentation prägt, sind die Kuratoren gewissermassen das „Sprachrohr“ für ein größeres Feld. Die intendierten Aussagen fließen in alle Ebenen der musealen Inszenierung ein, von den Texten bis in die Ausstellungsarchitektur. Jana Scholze ordnet die intendierten Aussagen den museumseigenen „Kommunikationsprozessen“ zu, von denen sie die nicht-intentionalen „Signifikationsprozesse“ trennt.33 Ausstellungsanalyse muss sich auch mit den Aussagen beschäftigen, die in der musealen Präsentation zwar angelegt sind, aber von 32 „Diese [= MuseumskuratorInnen] sind zwar das Subjekt im Prozess der Bedeutungsproduktion, doch meint Subjekt hier nicht das spezifische Selbst des Kurators/der Kuratorin, sondern ist bezogen auf das gesellschaftliche Bezugsfeld, das Setting, in dem diese agieren.“ Muttenthaler/Wonisch, in: Barchet/Koch-Haag/Sierek, 2003, S. 74. Hervorhebung im Original. 33 Scholze, 2004, S. 12f. Siehe auch: Muttenthaler, Roswitha und Regina Wonisch: Grammatiken des Ausstellens. Kulturwissenschaftliche Analysemethoden musealer Repräsentation. In: Lutter, Christina und Lutz Musner (Hg.): Kulturstudien in Österreich. Wien, 2003, S. 117 – 133, insbes. S. 118ff.
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Anschauungssache Religion den Kuratoren nicht beabsichtigt waren. Sie können das genaue Gegenteil der intendierten Aussagen bilden, und finden sich, wie diese, auf allen Ebenen musealer Präsentation. Sie sind analytisch schwerer zu fassen, weil sie weniger eindeutig und schwerer zu belegen sind. Sie hängen stärker von der untersuchenden Person ab, die sie meist erstmals benennt. Sie haben in der Regel keinen konkreten Urheber. Und trotzdem können sie für eine Untersuchung sehr aussagekräftig sein, wenn sie Symptome gesellschaftlicher Befindlichkeiten oder die Wiederholung gängiger Bilder und Denkschemata sind. In der vorliegenden Arbeit wurde für alle Inszenierungen versucht, die intendierten Aussagen zu finden und darzulegen. Die Themen der Inszenierungen wurden rekonstruiert, um mit der Frage nach der Darstellung von Religion kein zu einseitiges Bild von den Ausstellungen zu vermitteln. Denn religiöse Phänomene standen ja, mit einer Ausnahme, nicht im Mittelpunkt der untersuchten Ausstellungen, sondern waren meist Inhalt nicht-intendierter Aussagen. Dementsprechend arbeiten die Analysen zur Darstellung von Religion in wichtigen Teilen mit Aussagen, die durch die Kuratoren wahrscheinlich nicht beabsichtigt waren.
3.2.4 PRÄSENZ UND RELIGION Ausstellungen senden Botschaften. Das kann man nicht nur entdecken, wenn man Ausstellungen als Sprachspiel betrachtet, sondern auch, indem man die Museumsdinge näher untersucht. Sie sind von einer besonderen Präsenz. „Die Dinge sind DA“, schreiben Muttenthaler und Wonisch mit Majuskeln.34 Und sie sind nicht zufällig da, oder richtiger: Sie scheinen nicht zufällig da zu sein.35 Gleichzeitig ist ihre Nutzungsmöglichkeit stark eingeschränkt. Die Besucher können die Dinge weder kaufen, noch benutzen oder verändern, ja, in der Regel nicht einmal anfassen – sie dürfen die Dinge nur anschauen. Um die Objekte zeigen zu können, gibt es das Museum. Waidacher spezifiziert: „Während das bloße Zeigen von Objekten Ostension ist, Sehenlassen, ist eine Museale Ausstellung Präsentation, Vergegenwärtigung.“36 Das heißt, die Objekte stehen den Besucherinnen und Besuchern zwar nicht zur Verfügung, aber sie werden sehr wohl in eine Beziehung zu ihnen gesetzt. Genauer gesagt: Die Besucherinnen und Besucher werden dazu veranlasst, sich zu den Dingen in Beziehung zu setzen, zu stellen, sich nach
34 Muttenthaler/Wonisch, in: Barchet/Koch-Haag/Sierek, 2003, S. 73. 35 Alle Zufälle, die zu ihrer Aufnahme in die Ausstellung geführt haben, werden in der Regel durch selbige unsichtbar gemacht. 36 Waidacher, in: Museologie online 2, 2000, S. 21 – 34, S. 27.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen ihnen (aus-)zurichten. Die Dinge werden für eine gewisse Zeit zur Gegenwart der Besucher. Meines Erachtens hat diese Art der Vergegenwärtigung die „normative Kraft des Faktischen“. Die Dinge als Daten, als Fakten: Ihre Existenz ist ihre Wahrheit. Insofern hat die Kommunikationsform „museale Präsentation“ eine ganz besondere Fähigkeit zur Überzeugung. Gottfried Korff, der manchmal vor der Überredungskunst durch die Dinge warnt, wenn er dafür plädiert, den Fragmentcharakter der Objekte ernst zu nehmen, spricht vom sex appeal der Dinge. Die Dinge faszinieren.37 Was heißt das für das Thema Religion? Auch religiöse Objekte können im Museum diese besondere Art der Präsenz entfalten – die sie im Kultus schon durch einen etwaigen heiligen Gehalt, durch zeitweiliges oder dauerhaftes Verbergen, durch besondere Räume und Zeiten, kurz: durch Inszenierungen hatten. Und dadurch erhalten sie meines Erachtens prinzipiell die Möglichkeit, ihre (religiöse) Botschaft im Museum zu wiederholen: Dalìs Bild „Christ of St John of the Cross“ im in Punkt 2.4.3 erwähnten St Mungo Museum for Religious Life and Art kann man (als christlich sozialisierte Besucherin) als ein gewaltiges Altarbild empfinden. Und „Jesus am Kreuz“ verkündet das Geschehnis der Kreuzigung dem Museumsbesucher genauso wie dem Gläubigen. Allerdings gilt das nicht automatisch für alle Objekte, vor allem nicht für Objekte aus religiösen Traditionen, mit denen die Besucher nicht vertraut sind. Hier wird die Art der Inszenierung wichtig: Beleuchtung und Hintergrund, Kombination oder Vereinzelung des Objektes und andere Präsentationsmittel ermöglichen den Besuchern, auch Objekte, die sie nicht denotieren können, mit den Konnotationen38 „rituell“, „kostbar“, „numinos“ et cetera zu versehen.39
3.3 Untersuchungsschema Gehend, sehend, fühlend und anderweitig handelnd eignen sich die Besucher die Inszenierungen an und konstruieren sie so mit. „Kein Besucher, keine Besucherin sieht dieselbe Ausstellung.“40 Daher sind die folgenden Analysen personenbezogen und notwendig subjektiv. Die Erfahrungen und Vorlieben, die Erwartungen und das Vorwissen der Autorin prägen die Analysen in vielfacher Weise. Sie sollen durch die Offenlegung der Quellen und Beschreibung der In-
37 Die Faszination hängt natürlich auch von der Disposition der Besucher ab. 38 Unterscheidung nach Scholze, 2004. 39 Mit anderen Worten: Die Inszenierung ermöglicht die Auratisierung; s. dazu Abschnitt 3.4.1. 40 Muttenthaler/Wonisch, in: Barchet/Koch-Haag/Sierek, 2003, S. 71.
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Anschauungssache Religion terpretationsschritte gleichwohl intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar sein.
3.3.1 VORGEHEN Die Auswahl der Museen geschah aus folgenden Überlegungen: Es wurden drei Museumstypen bearbeitet, die aus historischen Gründen zahlreiche religiöse Artefakte enthalten: das Kunstmuseum, das Volks- und Völkerkundemuseum. Mit einer volkskundlichen Zweigstelle des bayerischen Nationalmuseums, dem Museum Schnütgen in Köln als kunsthistorisch ausgerichtetem Museum sowie dem Überseemuseum Bremen und dem Linden-Museum Stuttgart mit ihren ethnologischen Sammlungen konnten Museen erforscht werden, die als ältere und größere Institutionen Museumsentwikcklungen nicht nur aufgreifen, sondern auch mitgestalten. Die volkskundliche Präsentation wurde in allen Teilen zur Analyse herangezogen. Bei der kunstgeschichtlichen Dauerausstellung war eine Beschränkung auf einige Ausstellungsabschnitte notwendig, weil die Untersuchung sonst zu umfangreich geworden wäre. Auch aus den beiden ethnographischen Präsentationen wurden Teilbereiche ausgesucht, und zwar Darstellungen zu Nordamerika mit einem speziellen Fokus auf die Hopi, weil Ausstellungen zu „den Indianern“ erstens auf ein stetes Publikumsinteresse stoßen, weil hier zweitens große museumspolitische Veränderungen stattfinden und drittens, weil die Hopi viel beforscht und besammelt wurden. Bis auf die Bremer Präsentation sind alle Ausstellungen neueren Datums, um eine gewisse Aktualität zu gewährleisten. Die Analysen basieren auf wiederholten Ausstellungsbesuchen und auf deren versprachlichten Fassungen. Die Notwendigkeit und Problematik dieses ersten Untersuchungsschrittes ist hinlänglich bekannt. Als weitere Quellen wurden die in der Ausstellung enthaltenen Texte, Bilder und Publikationen hinzugezogen. Im Versuch, die Ausstellung als zwar besonders wissbegierige, aber doch „normale“ Besucherin zu sehen und zu untersuchen, wurden die Ausstellungstexte, die leicht zugänglichen Bilder und Publikationen in den Interpretationen stärker berücksichtigt als fachwissenschaftliche Veröffentlichungen. Die in frei verkäuflichen Museumsführern, Jahrbüchern, in den Heften der Ausstellungszeitschrift „Vernissage“ und im Internet enthaltenen Bilder und Texte sind für eine größere Leser-/Zuschauerschaft gedacht und besonders breitenwirksam. Spezielle Kataloge und weitere Veröffentlichungen von und über die
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Museen wurden gesichtet und dort berücksichtigt, wo sie einzelne Interpretationen stützen oder neue Aspekte eröffnen.41 Für jedes Museum wurden wichtige Teile seiner „Verortung“ in der Stadt und in der Gesellschaft herausgearbeitet. Weit davon entfernt, dies auch nur für ein Museum erschöpfend tun zu können, wurden so nach dem Vorbild von Mieke Bal erste wichtige Bedeutungen und Botschaften extrahiert, die die Besucherinnen und Besucher wahrnehmen, noch ehe sie die Ausstellung betreten haben. Den Ausstellungsbesuch als „Weg“ ernst nehmend, wurde anschließend die Stellung des untersuchten Ausstellungsbereiches innerhalb des Museums betrachtet. So wurde einerseits der Aspekt der Bewegung berücksichtigt, andererseits konnten so weitere Sinnschichten vor der Inszenierung benannt werden. Nach einer Rekonstruktion und Interpretation der für die gesamte Ausstellung bedeutendsten Aussagen wurde anschließend der Umgang mit der Kategorie „Religion“ genauer untersucht. Dafür dienten vor allem die Untersuchungen von Muttenthaler und Wonisch als Beispiel. Sie analysieren, wie oben ausgeführt, Ausstellungen unter den Leitfragen nach „race“ und „gender“. Damit spüren sie Kategorien nach, die nicht im Interessenmittelpunkt der Kuratorinnen und Kuratoren lagen. Ebensowenig stand die Kategorie „Religion“ im Mittelpunkt der hier untersuchten Dauerausstellungen (Ausnahme: die Zweigstelle des Bayerischen Nationalmuseums, Kloster Asbach). Insofern beziehen sich, wie bereits angedeutet, die Interpretationen häufig auf nicht-intendierte Botschaften. Um zu vermeiden, dass dadurch ein zu einseitiges Bild von der Dauerausstellung gezeichnet wird, wurden auch die vordergründigen Inhalte und intendierten Botschaften der Dauerausstellung rekonstruiert und untersucht. Erst danach wurden die in der Ausstellung enthaltenen Aussagen über Religion benannt und interpretiert.
3.3.2 DIE BESTIMMUNG VON REZEPTIONSMÖGLICHKEITEN AUS VERSCHIEDENEN BLICKRICHTUNGEN Meine Frage bei der Ausstellungsanalyse ist, was man in der jeweiligen Ausstellung sehen, erleben, lernen oder erfahren kann. Die Betonung liegt dabei auf „kann“. In der vorliegenden Arbeit findet sich keine Besucherbefragung, um etwa herauszufinden, was die Besucher tatsächlich aus der Ausstellung lernen, oder eine museumspädagogische Diskussion dessen, was sie lernen sollen. Es sind viel-
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Die Museumsarchive wurden nicht berücksichtigt, ebensowenig unveröffentlichte Konzeptpapiere der Kuratoren und Ausstellungsgestalter. Damit sollte verhindert werden, die Ausstellungen zu personalisiert zu interpretieren (wobei psychologische Interpretationen sicher auch möglich wären).
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Anschauungssache Religion mehr Überlegungen, welche Aussagen und Botschaften in der Ausstellung angelegt sind, und wie diese in Hinblick auf das Thema Religion/en zu interpretieren sind. Dazu werden die Ausstellungen aus verschiedenen Richtungen in den Blick genommen: Über weite Teile dient mein eigener Blick auf die Ausstellung als Quelle. Teilweise interpretiere ich den Blick anderer auf die Ausstellung(sstücke). Was Sammler, frühere Kuratoren oder einzelne Besucher in den Stücken sahen, welche Aussagen sie aus der Ausstellung ableiteten oder mit welchen Botschaften sie sie versahen, wird als Vergleichsmöglichkeit zu meiner Sichtweise benutzt. Außerdem wird immer wieder der Blick der Kuratorinnen der aktuellen Präsentationen interpretiert. Dadurch soll eine facettenreiche, möglichst „dichte“ Beschreibung dessen entstehen, wie man die jeweilige museale Präsentation erfahren, sehen, lesen kann. Es werden Möglichkeiten beschrieben, keine Aussagen über die tatsächliche Rezeption gemacht.
3.4 Zu vier verwandten Kategorien Die bisherigen methodischen Überlegungen müssen noch durch die Diskussion von vier Begriffen und Überlegungen ergänzt werden, auf die man bei der Beschäftigung mit der Darstellung von Religion im Museum unweigerlich trifft: der Begriff der „Aura“, die Betrachtung des Museums als funktionale Äquivalente zu Religionen in Bezug auf Ritus und gesellschaftliche Integration sowie die von Roland Barthes beschriebene Arbeitsweise des Mythos.
3.4.1 ZUR AURA DER DINGE Ein Begriff, der für die Beschreibung von Kunstwerken und von Museumsexponaten allgemein oft genutzt wird, ist derjenige der „Aura“. Verwiesen wird hierbei auf Walter Benjamin (1892 – 1940), der diesen Begriff aus seinem religiösen Zusammenhang in die Kunsttheorie übertrug. Sein Konzept der Aura und eine mit diesem Konzept verbundene Schwierigkeit sollen im folgenden skizziert werden. Danach wird gezeigt, welche Möglichkeiten sich durch die Fokussierung auf den Vorgang der „Auratisierung“ eröffnen. Die „Aura“ nach Walter Benjamin Walter Benjamin führte den Begriff der Aura 1931 in seinem Aufsatz „Kleine Geschichte der Photographie“42 ein. Leicht verändert 42 Erstmals erschienen am 18.09., 25.09. und 02.10.1931 in: Literarische Welt. Im folgenden werden alle Texte Benjamins zitiert nach: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Hgg. von Rolf Tiedemann. 16 Bde. und
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen findet sich diese Beschreibung im 1936 auf französisch veröffentlichten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.43 Auf ihn beziehen sich die meisten Zitate. Walter Benjamin schrieb dort: „Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“44
Walter Benjamin bestimmte den Begriff noch an verschiedenen Stellen näher, arbeitete ihn aber nicht systematisch aus. Dies erschwert eine Diskussion seines Gehaltes.45 Der Begriff verweigere, so urteilt Josef Fürnkäs, „sowohl nach der Seite des Zeichens als auch nach der Seite des Bezeichneten hin die erwartete philosophische Klarheit“.46 Im zitierten Textausschnitt, so zeigt Marleen Stoessel, liegen mehrere Stolpersteine: Benjamin bietet darin eben keine Definition der Aura, sondern eine Illustration. Er übergeht dabei, dass die Wahrnehmung natürlicher Gegenstände nicht ebenfalls natürlich, sondern historisch bedingt ist. Die Formulierung „Ferne, so nah sie sein mag“ beschreibt ein Paradox, das sich selbst relativiert. Die elliptische Wendung verbirgt darin die Möglichkeit zur Auflösung des
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3 Supplementbde., Frankfurt am Main, 1972 – 1999. Hier: Benjamin: GS 2,1. Aufsätze, Essays, Vorträge. 1977, S. 378. L’oeuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée. In: Zeitschrift für Sozialforschung 5, 1936, S. 40 – 66. Deutsch erstmals in: Benjamin, Walter: Schriften. Frankfurt am Main, 1955. Benjamin: GS 1,2. Abhandlungen. 1974, S. 479. Im französischen Original lautet die Passage: „Qu’est-ce en somme que l’aura? Une singulière trame de temps et d’espace: apparition unique d’un lointain, si proche soit-il. L’homme qui, un après-midi d’été, s’abandonne à suivre du regard le profil d’un horizon de montagnes ou la ligne d’une branche qui jette sur lui son ombre – cet homme respire l’aura de ces montagnes, de cette branche.“ Benjamin: GS 1,2. Abhandlungen. 1974, S. 713. Die Darstellung folgt im wesentlichen: Fürnkäs, Josef: Aura. In: Opitz, Michael und Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Bd. 1, Frankfurt am Main, 2000, S. 95 – 146; Recki, Birgit: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Würzburg, 1988 und Stoessel, Marleen: Aura. Das vergessene Menschliche. Zur Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin. München, Wien, 1983. Fürnkäs, in: Opitz/Wizisla, 2000, S. 103.
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Anschauungssache Religion Paradoxons, würde man die Ferne zeitlich und die Nähe räumlich begreifen.47 Aufgrund der Unschärfe des Begriffes ist jede inhaltliche Bestimmung der Benjaminschen Aura in hohem Maße Interpretation. Einzelne Komponenten müssen umgedeutet werden, soll ein kohärentes Gebilde entstehen. Festhalten lässt sich Folgendes: Die Aura des Kunstwerks ist gekoppelt an sein einmaliges Hier und Jetzt. Sie erscheint in der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne und in der Verschränkung von Einmaligkeit und Dauer. Die Nähe ist dabei räumlich gedacht, die Ferne allerdings nicht, während Einmaligkeit und Dauer beides zeitliche Kategorien und Objektbestimmungen sein können. Die Erscheinung der Aura ist bei Benjamin an die Materialität des Kunstwerks geknüpft, hat aber gleichzeitig subjektive, rezeptionsästhetische Komponenten. Sie ist auch vom Betrachter abhängig. Bei der Beschäftigung mit dem Benjamin’schen Aura-Begriff tut sich eine Schwierigkeit auf, die sich meines Erachtens auf dessen Herkunft zurückführen lässt: die Frage, auf welche Weise die Aura mit dem Kunstwerk verbunden ist, oder ob sie ausschließlich im Betrachter entsteht. Es sei religionshistorisch ein wenig ausgeholt. Walter Benjamin benutzte mit der „Aura“ ein Wort, das nicht nur ein medizinischer Fachbegriff ist,48 sondern das um die Jahrhundertwende auch in theosophisch-spiritistischen Kreisen eine gewisse Konjunktur hatte. Die Aura galt (und gilt) letzteren als ein farbiges Schimmern, ein Fluidum oder ein „Hauchkreis“,49 der beispielsweise Menschen umgibt. Die Aura ist nicht für alle Menschen wahrnehmbar, kann aber demjenigen, der sie sieht oder fotografiert, etwas über den Zustand des Auraträgers aussagen.50 Walter Benjamin kannte unter anderem die Schriften des Generalsekretärs der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und späteren
47 Stoessel, 1983, S. 43ff. Sie vergleicht die erste und zweite Fassung des „Reproduktions-Aufsatzes“ miteinander. 48 Die „Aura“ bezeichnet Sinneswahrnehmungen, die die Vorboten eines epileptischen Anfalls sind. 49 So beschreibt Benjamin die Aura in der „Kleinen Geschichte der Fotografie“. Auf den ältesten Fotografien sei sie noch vorhanden. Benjamin, GS 2,1. Aufsätze, Essays, Vorträge, 1977, S. 376. 50 Vgl. Artikel in einschlägigen Lexika, beispielsweise: Aura. In: Miers, Horst E.: Lexikon des Geheimwissens. München, 1993. Die Aura wird darin beschrieben als „die odische Strahlungshülle des Menschen. Die A. ist eine äußerst feine und daher im allgemeinen unsichtbare Substanz [...]. Sensitive haben sie oft mehr oder weniger deutlich als ein Licht beschrieben [...]. Bisweilen zeigt dieses Fluidum [...] einen sprühenden funkelnden Farbenwechsel [...].“
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Begründers der Anthroposophie, Rudolf Steiner (1861 – 1925). Stoessel weist darauf hin, dass Benjamin in jungen Jahren die mystischen Schriften Franz von Baaders (1765 – 1851) zur Lektüre empfahl.51 Recki belegt Benjamins Kenntnis der Schriften Alfred Schulers (1865 – 1923).52 Sie zitiert aus Ludwig Klages’ (1872 – 1956) Einführung zu Schulers Nachlass Passagen, die Benjamins späteren Aura-Beschreibungen sehr ähneln. Schuler habe an Ausgrabungen teilgenommen und, wenn Relikte zu Tage traten, einen „sinnlich wahrnehmbaren Hauch“, einen „unbeschreiblichen Duft“53 und die „Seelen“ der Dinge wahrgenommen, die ihn in eine Art Rauschzustand versetzten. Diese „Paarung von Substanz, Gehalt und Alter“, die „biotische Schicht“ der Dinge, bis dato „von der Scholle bewahrt“, könne nur von dazu bereiten Seelen wahrgenommen werden.54 Von diesen Vorstellungen und von deren Autoren distanzierte sich Walter Benjamin später ausdrücklich. Entsprechend dezidiert rückte er auch seine Aura-Vorstellungen von den Beschreibungen der (summarisch so benannten) „Theosophen“ ab. Im März 1930 schrieb er über die „Mitteilungen, die ich über das Wesen der Aura“ machte: „Alles, was ich da sagte, hatte eine polemische Spitze gegen die Theosophie, deren Unerfahrenheit und Unwissenheit mir höchst anstößig war. Und ich stellte – wenn auch gewiß nicht schematisch – in dreierlei Hinsicht die echte Aura in Gegensatz zu den konventionellen banalen Vorstellungen der Theosophie. Erstens erscheint die echte Aura an allen Dingen. Nicht nur an bestimmten, wie die Leute sich einbilden. Zweitens ändert sich die Aura durchaus und von Grund auf mit jeder Bewegung, die das Ding macht, dessen Aura sie ist. Drittens kann die echte Aura auf keine Weise als der geleckte spiritualistische Strahlenzauber gedacht werden, als den die vulgären mystischen Bücher sie abbilden und beschreiben. Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt. Nichts gibt vielleicht von der echten Aura einen so richtigen Begriff wie die späten Bilder van Gogh’s, wo an allen Dingen – so könnte man diese Bilder beschreiben – die Aura mit gemalt ist.“55
51 Stoessel, 1983, S. 11. Bei anderen Autoren lässt sich ein gewisses Unbehagen dieser „Phase“ in Benjamins Leben gegenüber feststellen. 52 Schuler und Klages standen einige Zeit Stefan George (1868 – 1933) nahe. Beide suchten den „neuen Menschen“ und eine „neue Religion“. 53 Das erinnert an den oft beschriebenen Duft der Reliquien von christlichen Heiligen. 54 Schuler, Alfred: Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass, mit einer Einführung von Ludwig Klages. Leipzig, 1940. Zitiert bei: Recki, 1988, S. 47. 55 Benjamin, GS 6. Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften, 1985, S. 588. Stoessels Hinweis auf die Ästhetik des Jugendstils sei
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Anschauungssache Religion Benjamins Abneigung gegen die zeitgenössisch-mystischen Vorstellungen kommt deutlich zum Ausdruck. Sie gelten einer „banalen“ Aura, geboren aus „Unerfahrenheit und Unwissenheit“, im Gegensatz zu der seine Beschreibungen als richtig verstanden werden sollten. Von außen betrachtet schmilzt der Unterschied jedoch. Auch die Aura, die Benjamin 1927 erstmals benannte,56 entzieht sich empirischer Überprüfung und philosophischer Reflexion. Auch sie ist als rein individuelle Erfahrung nicht hinterfragbar und damit keine wissenschaftliche Kategorie.57 So liegt der Ursprung des Benjaminschen Aura-Begriffes gewissermaßen im empirischen Dunkel. Erst später machte er ihn der Analyse zugänglich. Was jedoch ungelöst bleibt, ist die Frage, wie oder wo die Aura im wörtlichen Sinne „festgemacht“ werden kann. Ihre Erscheinung ist bei Benjamin auf eigenartige Weise an das Objekt gebunden, und es wird nicht klar, ob sie das Objekt nur als gegenständliche Initialzündung für die Phantasie des Betrachters benötigt, oder ob sie nicht auch gewissermaßen materielle Korrelate hat. So findet sich in Benjamins Ausführungen zum Beispiel folgende Passage: „Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus. Analysen chemischer Art an der Patina einer Bronze können der Feststellung ihrer Echtheit förderlich sein; entsprechend kann der Nachweis, daß eine bestimmte Handschrift des Mittelalters aus einem Archiv des fünfzehnten Jahrhunderts stammt, der Feststellung ihrer Echtheit förderlich sein. Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit.“58
hier kurz erwähnt. Im Jugendstil gehen Inhalt und Rahmung oft ineinander über, Umgrenzungen lösen sich auf. Das Ornament wird neu betont. 56 Erstmals scheint er das Wort in einem Erfahrungsprotokoll zum HaschischRausch benutzt zu haben. Die in einer Gruppe durchgeführten Selbstversuche mit dem Rauschmittel fielen in die Zeit zwischen 1927 und 1934. Benjamins geplante Veröffentlichung über seine Erfahrungen kam nicht zu Stande. Die „Haschisch-Protokolle“ sind publiziert in: Benjamin, GS 5. Das Passagenwerk, 1982, S. 558 – 618. 57 Die Versuche der Forschungsliteratur, die Aura der Haschisch-Protokolle im Gegensatz zur „theosophischen“ Aura zu rechtfertigen, treffen deshalb nicht den Kern der Sache. Josef Fürnkäs zum Beispiel betont das „kontrollierte Erwachen“ aus dem Rausch, um den Begriff zu rehabilitieren (Fürnkäs, Aura. In: Opitz/Wizisla, 2000, S. 108). Birgit Recki sieht in den Haschisch-Protokollen die ästhetische im Gegensatz zur religiösen Erfahrung beschrieben: „Es ist klar, wogegen sich diese Bestimmung auch richtet: Benjamin meint mit der Aura keinen bestimmten religiösen Nimbus, nichts sonntäglich Feierliches, sondern den Schein von Leben, der in der ästhetischen Erfahrung jedem, auch noch dem einfachsten Ding zueigen ist.“ Recki, 1988, S. 44, Hervorhebung im Original. 58 Benjamin, GS 1,2. Abhandlungen, 1974, S. 476. Hervorhebung im Original.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Nur die Echtheit einer Sache garantiert ihre „Autorität“, ihre „geschichtliche Zeugenschaft“. In der Reproduktion geraten diese „ins Wanken“. Benjamin schreibt: „was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache. Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen [...].“59 Die Aura steht und fällt also mit der materiellen Echtheit des Gegenstandes. Anthroposophisch könnte man sich die Aura nun als etwas „Feinstoffliches“ vorstellen. In der Forschungsliteratur werden die materiellen Korrelate der Aura jedoch üblicherweise aufgegeben und die auratische Erscheinung wird ganz als Wahrnehmungsphänomen beschrieben. Auch diese Lesart lässt sich in Benjamins Texten begründen. Birgit Recki zum Beispiel fasst die Aura als Folge einer bestimmten Einstellung des Betrachters. Der erwartungsvolle, produktive Blick des Betrachters träfe auf den Gegenstand, der als „Projektionsfeld für die Subjektivität des Rezipienten“60 fungiere und dadurch selbst „beseelt“ erscheine.61 Trotz, oder vielleicht auch wegen seiner Offenheit wurde der Aura-Begriff in der museumstheoretischen und -praktischen Debatte immer wieder fruchtbringend genutzt. Als Museumsbesucherin leuchtet mir die Aura als Kategorie unmittelbar ein. Das dürfte allerdings meiner Sozialisation geschuldet sein und macht die „Aura“ noch nicht zum Analyseinstrument. Für die Analysen erschien sie mir unter einem anderen Blickwinkel wichtiger. Die „Auratisierung“ im Fokus Gottfried Korff spricht von der „Auratisierung“ (und „Entauratisierung“), die im Museum möglich ist.62 Er lenkt damit den Blick auf die Inszenierungsmittel, die einem Objekt eine „Aura“ geben (oder
59 Ebd., S. 477. 60 Recki, 1988, S. 24. 61 Auch Marleen Stoessel sieht die Aura nur im subjektiven Erleben (Stoessel, 1983, S. 46 – 49: „Erscheinung als Erfahrung“). Ihre feinen Analysen der Schriften Benjamins sollen ja gerade zeigen, wie Benjamin das Subjekt der Wahrnehmung auch an anderen Stellen „vergisst“. 62 Korff zur „Dialektik der Entauratisierung“: „Gemeint ist die Auratisierung der Trivial-, der Alltagskultur nach den Bemühungen um die Entauratisierung der Hochkunst. Was in den großen Museen mittlerweile passiert, [...] ist der weite Ausgriff über das Geheiligte und Anerkannte hinaus, um Kulturpanoramen und historische ‚Schaubilder’ zu entwerfen. Im gleichen Moment wird in den Lokal-Museen die örtliche und regionale Sachüberlieferung liebevoll zur Ehre der Vitrinen gebracht, und eben dadurch werden der Dreschflegel und die Mausefalle auratisiert.“ Korff, Gottfried: Aporien der Musealisierung. Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat. In: Zacharias, 1990, S. 57 – 71, hier S. 62.
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Anschauungssache Religion nehmen). Die von Hilke Doering und Stefan Hirschauer verfasste „Biographie der Dinge“ von ihrer Ankunft im Museum bis zur Entleihe aus dem Depot zur Ausstellung enthält zahlreiche Stationen zur Fabrikation einer Aura.63 Doering und Hirschauer beobachten alle Handlungen an den Objekten und fassen sie folgendermaßen zusammen: „Sie [= die Dinge] durchqueren einen Transitraum, in dem sie als Sammelstücke singularisiert und mobilisiert, als Fälle registriert und textuell dupliziert, als Werkstücke purifiziert und rekonstruiert, als Lagerstücke konserviert und archiviert werden. Falls sie dann noch eine weitere museale Verwendung finden, werden sie als Ausstellungsstücke in einen neuen öffentlichen Bedeutungskontext eingebettet [...].“64
Insgesamt werden sie dadurch ebenso weit von ihrem ursprünglichen Kontext entfernt wie auf eben diesen verpflichtet. „Sie werden gewissermaßen zu ‚sich selbst’ verwandelt.“65 Jetzt sind sie echt, jetzt können sie als gleichermaßen autorisierende wie autorisierte Elemente einer größeren Bedeutung dienen. Und dadurch wird über sie jene Bedeutsamkeit gelegt, die zur Erscheinung der Aura führen kann: „Das Museum versucht, die Dinge zum Sprechen zu bringen, indem es sie jenen Praktiken unterwirft, die in unserer Kultur Subjekte der Sinnstiftung herstellen: man enthebt sie dem schnöden Gebrauch und dem Handel, verleiht ihnen eine unverwechselbare Identität, pflegt sie als bedürftige Körper, schützt sie vor Gefahren, achtet ihre territorialen Ansprüche und unterhält ‚persönliche’ Beziehungen. Auf diese Weise nimmt man sie nicht primär in ihrer materiellen Dimension – als Leib –, sondern in ihrer symbolischen – als Kommunikatoren aus einer anderen Welt – wahr.“ 66
Die Kommunikation mit der anderen Welt ist jene Erscheinung der „nahen Ferne“ der Aura. Dass diese Erscheinung allerdings ein menschliches Produkt ist, betonen Hilke Doering und Stefan Hirschauer noch einmal nachdrücklich: „Die Verweisung auf ihren Ursprung wohnt den Dingen aber nicht inne. Sie wird ihnen beigebracht. Die ‚Aura’ wird vor allem durch zwei ‚Lücken’ hervorgeru-
63 Doering, Hilke und Stefan Hirschauer: Die Biographie der Dinge. Eine Ethnographie musealer Repräsentation. In: Hirschauer, Stefan und Klaus Amann (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main, 1997, S. 267 – 297. 64 Doering/Hirschauer, in: Hirschauer/Amann, 1997, S. 290. 65 Ebd. 66 Ebd.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen fen: durch die proxemische Lücke zwischen Betrachtern und unantastbaren Objekten, durch deren Wahrung die Besucher die Bedeutsamkeit eines Artefakt praktisch vollziehen; und durch die biographische Lücke in seiner Präsentation durch die Aussteller: die Temporalität seiner musealen Herstellung wird vollständig in seiner Ausstellungspräsenz aufgehoben. Er ist einfach da [...] – und lädt gerade deshalb zu Phantasien über seinen fernen Ursprung ein.“67
Die Auratisierung von religiosa Gilt dies auch für religiöse Artefakte? Meines Erachtens kann die Fabrikation der Aura, wie sie von Doering und Hirschauer beschrieben wird, nur mit Abstrichen auf religiöse Artefakte übertragen werden. Was passiert im (Kunst-)Museum mit christlicher Kunst? Man denke sich eine Caravaggio-Madonna: Sie kann im Museum von allem Räucherwerk „befreit“ als „Kunst“ genossen werden. Wird sie deshalb „auf sich selbst verpflichtet“, „zu sich selbst verwandelt“, wie es Doering und Hirschauer beschreiben? Meines Erachtens geschieht etwas anderes. Die „Verwandlung“ der Caravaggio-Madonna zu „Kunst“ legt ihr „Wesen“ nur scheinbar frei – denn die Wahrnehmung als Kunst ist natürlich historisch bedingt (und aus historisch kontingenten Gründen verbindet sich damit oft ein „andächtiges“ Gefühl auf der Betrachterseite). Dies wird im Museum jedoch verschleiert. Mit manchen religiösen Artefakten verhält es sich meines Erachtens wiederum anders. Hier wird wichtig, was Karl-Heinz Kohl über die Bedeutungen religiöser Artefakte feststellt. Er beschreibt, wie oben ausgeführt, die Kontingenzerfahrungen, die gewöhnliche Dinge zu sakralen Objekten machen können. Er betont, dass die religiösen Bedeutungen in keiner inhaltlichen Beziehung zu den primären und sekundären symbolischen Bedeutungen der Dinge stehen müssen. Im Museum werden durch die Fabrikation der Aura allerdings zunächst die beiden ersten Bedeutungen hervorgehoben. Illustrierend sei auf einen beliebigen profanen Gegenstand verwiesen, etwa auf einen bandkeramischen Tontopf. Sein maßgefertigter Acrylsockel belegt seinen Wert, die kleine Signatur an seinem Rand zeigt an, dass er erforscht und gut behandelt wird. Durch seine Museumsbiographie kommt der Topf zur Geltung. Ganz anders kann die Museumsbiographie religiöser Artefakte wirken. Um das wiederum an einem Beispiel zu erläutern: Ein nordamerikanisches Medizinbündel etwa wird durch museumsbiographische Behandlungsspuren (Mottenpulver!) schnell vom Glaubenszeugen zum Fellsäckchen. Gerade das, was anderswo Wert anzeigt, etwa eine Signatur, kann hier zum Marker dafür werden, dass die Dinge offenbar „nicht so heilig“ sind, als dass sie ein Forscher nicht anfassen dürfte. Das Medizin67 Ebd, S. 291. Hervorhebung im Original.
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Anschauungssache Religion bündel wird nicht „zu sich selbst verwandelt“, sondern in der Betonung seiner ersten beiden Bedeutungen auf seine vorreligiöse Existenz zurückgeworfen. Die dritte, religiöse Bedeutung der religiösen Artefakte im Sinne Kohls liegt nicht automatisch in der Reichweite der museumsbiographischen Auratisierung. Sie muss den Besuchern anderweitig nahegebracht werden. Genau diesen Vorgängen wird in den Analysen nachgegangen.
3.4.2 DAS MUSEUM ALS RITUELLER ORT Museen geraten zunehmend als rituelle Orte in den Blick der Forscher. Das Verhalten der Besucher beinhaltet Elemente, die aus anderen rituellen Zusammenhängen bekannt sind. So urteilt Peter J. Bräunlein in Bezug auf das sich im 19. Jahrhundert herausbildende Kunstmuseum: „Der Habitus des Bürgers, der seine Familie am Sonntag in ein Kunstmuseum führt, unterscheidet sich in Nichts vom Habitus des Kirchenbesuchers. Der Schritt ist gemessen, die Stimme gesenkt, die Stimmung andächtig. Verboten sind ausholende Gesten, Lärm, Lachen, Nahrungsaufnahme.“68
Aber nicht nur das Besucherverhalten, auch der Ort Museum zeigt eine Affinität zum Ritus. Die Bezugspunkte zahlreicher Museumsarchitekturen sind antike Tempelbauten. Das Museumsgebäude „konstituiert [...] die Grenze zwischen Profanem und Sakralem“.69 Was Walter Hochreiter exemplarisch für die Bau- und Bedeutungsgeschichte des Alten Museums in Berlin zeigt, gilt für alle Museen. Bazon Brock bestimmt Museen gar als die vorzüglichen Orte „gesellschaftlicher Rituale, die anderen Ortes nicht mehr stattfinden können, es sei denn, diese anderen Örtlichkeiten hätten als Schlösser, Ruinen, Kulturdenkmäler selber einen musealen Wert.“70 Die
68 Bräunlein, Peter J.: „Zurück zu den Sachen!“ Religionswissenschaft vor dem Objekt. In: Ders. (Hg.): Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum. Bielefeld, 2004, S. 7 – 53, hier S. 21. Besonders ausführlich beschreibt dieses Phänomen die Theologin Susanne Natrup: Das postmoderne Kunstmuseum als religiöser Ort. In: Liebelt, Udo und Folker Metzger (Hg.): Vom Geist der Dinge. Das Museum als Forum für Ethik und Religion. Bielefeld, 2005, S. 51 – 62, hier S. 59f. Wietere Literatur zum Museum als religiösem Ort und zum rituellen Verhalten der Besucher in: Liebelt/Metzger, 2005; Hunt, Charles: The Museum. A Sacred Arena? In: Zeitschrift für Ethnologie 118, 1993, S. 115 – 123. 69 Hochreiter, Walter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800 – 1914. Darmstadt, 1994, S. 39. 70 Brock, Bazon: Musealisierung – Eine Form der experimentellen Geschichtsschreibung. In: Zacharias, 1990, S. 51 – 56, hier S. 51.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Museen und anderen Orte mit musealem Charakter hält er darum für so geeignet, weil die Riten selbst, die Feste und Feierlichkeiten immer „unverbindlicher und beliebiger“71 würden. Zum Ritus würde das Ereignis nur noch durch seinen Vollzugsort, eben das Museum, das „über seine Kunstwerke historische Passepartouts für Ritualisierung anbietet [...] und weil das Museum als gesellschaftliche Institution Lebensformen des feudalen und bürgerlichen Zeitalters vergegenwärtigt.“72 Diese Beobachtungen ergänzen Carol Duncans Beschreibung einer besonders wichtigen gesellschaftlichen Funktion des Museums: Das Museum bietet, so Duncan, die Möglichkeit des „ritual of citizenship“.73 Sie begründet die Beschreibung des Museums als Ritual74 durch zwei Komponenten. Erstens stellten sich die Besucher im Museum auf veränderte Wahrnehmungsweisen ein.75 Und zweitens sei das, was die Besucher tun, erleben und erfahren, auf bestimmte Weise strukturiert. Sie träten in eine vorgegebene Erzählung ein, würden Teil der performance. Im Ritual „Kunstmuseum“ nun würden die Ideen von „Öffentlichkeit“, „Gleichheit“, „Kultur“ und citizenship (Staatsbürgertum) erfahrbar gemacht: Das Museen wird für alle Bürger gleichermaßen zu Nutzen und Erbauung gebaut. Es bildet den guten Willen des Staates gegenüber seinen Bürgern ab. „Thus the art museum gives citizenship and civic virtue a content without having to redistribute real power.”76 Arbeitsweise und Wirkung des Museums würden dabei nicht offenbar. Wir sind gewohnt, so Duncan, zwischen religiösen und säkularen Wahrheiten zu trennen. Museen würden der säkularen Sphäre zugeordnet. Daher gälten die Aussagen im Museum als „objective or universal knowledge.“77 So könnten Museen „the community as a whole into a civic body“ einbinden, „identifying its highest values, its proudest memories
71 Ebd., S. 52. 72 Ebd. 73 Duncan, Carol: The Art Museum and the Ritual of Citizenship. In: Pearce, Susan M. (Hg.): Interpreting Objects and Collections. London, New York, 1994, S. 279 – 286. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Beobachtung der weltweiten Bedeutung von Kunstmuseen: „As much as ever, having a bigger and better art museum is a sign of political virtue and national identity – of being recognizably a member of the civilized community of modern, liberal nations“ Ebd., S. 280. 74 Sic. Duncan schreibt „Museums as rituals“, nicht: „Museumsbesuche als Rituale“ oder ähnliches. 75 „Museumgoers [...] bring with them the willingness and ability to shift into a certain state of receptivity.“ Duncan, in: Pearce, 1994, S. 281. 76 Ebd., S. 283. 77 Ebd., S. 281.
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Anschauungssache Religion and its truest truths.“78 Der rituelle Aspekt und sein Nutzen für den Staat würden dabei durch die scheinbare Objektivität verdeckt. So betrachtet, funktionieren Museen und religiöse Veranstaltungen zumindest partiell gleich. Einige Autoren bestimmen noch näher, in welcher Hinsicht Museen dieselben gesellschaftlichen Funktionen wie religiöse Institutionen übernehmen. Dies wird im folgenden Abschnitt referiert.
3.4.3 DAS MUSEUM ALS GESELLSCHAFTLICH INTEGRIERENDE INSTITUTION Wie schon in Abschnitt 3.1.3 beschrieben, bestimmt der Ethnologe Karl-Heinz Kohl Museumsdinge als die „sakralen Objekte der Moderne“ und Museen dementsprechend als die „Kultstätten der Neuzeit“.79 Im Blick auf das 19. Jahrhundert schreibt Kohl: „Zugleich war das Museum aber auch immer ein Ort imaginärer Weltaneignung. [...] Wie der Historismus für die Aneignung der Vergangenheit und der Imperialismus für die Aneignung des Raumes, so standen Wissenschaft und Technik für die Bemächtigung der Natur. In den unterschiedlichen Sammlungstypen, die für jeden dieser Bereiche eingerichtet wurden, versicherte sich die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ihrer Verfügungsgewalt über die Welt. Nach dem Vorbild religiöser Kultstätten errichtet, repräsentierten die Museumsbauten die damalige Machtfülle des Westens. Die kulturellen und natürlichen Objekte, die sie der Öffentlichkeit darboten, wurden zu Gegenständen eines selbstbezogenen Kultes, einer Andacht, die letztlich den Beschauern galt: In ihren Museen betete sich die bürgerliche Gesellschaft selbst an.“80
Damit wendet Kohl die Religionstheorie Durkheims auf die Museen an. Nach Émile Durkheim (1858 – 1917) hat die Religion für die Gesellschaft und für das Individuum stabilisierende Wirkung, indem sie einzelne Menschen zu einer Gesellschaft zusammenfasst. Dies gelingt, weil die Religion den Kräften der Gesellschaft, die die Kräfte des Individuums übersteigen, Ausdruck verleiht. Letztlich betet sich die Gesellschaft in der Religion selbst an. Die primäre Funktion der Religion ist die Vergesellschaftung der Individuen.81 Denselben 78 Ebd. 79 Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München, 2003, Kapitelüberschriften S. 225 und 256. 80 Kohl, 2003, S. 260. 81 Die integrierenden Kräfte der Religion beschrieb Durkheim schon in seiner Studie über den Selbstmord (1897). Mit der Religion setzte er sich vor allem in „Les formes élémentaires de la vie religieuse“ (1912) auseinander. Darin beschäftigte er sich auch intensiv mit dem Ursprung der Religion, die ihrerseits „alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat.“ (Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main, 1994, hier S. 561) Diese historischen Überlegungen
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Rückgriff auf Durkheim findet man auch in den sammlungshistorischen und -theoretischen Darstellungen Krzysztof Pomians. Sie sollen im folgenden ausführlicher dargestellt werden. Krzysztof Pomian (geb. 1934) entwarf eine der komplexesten und am meisten rezipierten Museumstheorien. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage, warum Menschen sammeln. Die Existenz von Sammlungen in fast allen Gesellschaften und die Eigenschaften besonders von menschheitsgeschichtlich älteren Sammlungen führen ihn zu einer allgemeinen Definition von Sammlungen als Orten der Kommunikation mit dem Unsichtbaren. Über Pomians Darstellung des „Unsichtbaren“ gelangt man zu seiner These, die Museen würden heute dieselbe gesellschaftliche Aufgabe wie einst die Kirchen und die Religionen erfüllen. Des weiteren untersucht er die sozialen und ökonomischen Bedingungen und Folgen von Sammlungen und deren historische Entwicklung. Dadurch entsteht ein Panorama der Menschheit, entworfen auf ein paar Dutzend Seiten: „Zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem: die Sammlung“.82 Krzysztof Pomian fragt, warum Menschen sammeln. Seine Antwort lautet, weil Sammlungen dem Austausch zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren dienen.83 (Unausgesprochen bleibt die zwingende Vorannahme, dass das Bedürfnis nach einem Austausch mit dem Unsichtbaren eine anthropologische Konstante sei.) Diese sind für die Museumsdebatte natürlich irrelevant, hier geht es nur um die funktionale Seite. 82 Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Neuausgabe Berlin, 1998. Der Text erschien zuerst unter dem Titel „Entre l’invisible et le visible: la collection“ in einem Band mit mehreren Aufsätzen Pomians (Collectionneurs, amateurs et curieux. Paris, Venise, XVIe – XVIIIe siècle. Paris, 1987, S. 15 – 58). Der Aufsatz ist in der französischen Fassung geringfügig länger. Er beinhaltet weitere Ausführungen zur Möglichkeit von Sprache, Unsichtbares zu repräsentieren (S. 38f) und zur Unterscheidung zwischen Dingen und Semiophoren (S. 42f). Die englische Fassung („The Collection: Between the Visible and the Invisible“) ist abgedruckt in: Pearce, 1994, S. 160 – 174. Weitere Veröffentlichungen Pomians zum Thema: Pomian, Krzysztof: Museum und kulturelles Erbe. In: Korff, Gottfried und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt am Main, New York, 1990, S. 41 – 64; ders.: Sammlungen – eine historische Typologie. In: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 – 1800. Opladen, 1994, S. 107 – 126. 83 Und nicht, wie Susan Kamel in ihrer Dissertation schreibt, weil „sowohl Grabbeigaben als auch museale Artefakte Vermittler ‚zwischen Profanem und Sakralem’“ seien. Kamel, Susan: Wege zur Vermittlung von Religionen in Berliner Museen. Black Kaaba meets White Cube. Wiesbaden, 2004, hier S. 29.
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Anschauungssache Religion Eigenschaft ist sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner aller Sammlungen, er verbindet die in einem chinesischen Kaisergrab versammelten Gaben mit der zeitgenössischen Kunstsammlung. Pomian gießt diese Idee in den Begriff der „Semiophoren“: Gegenstände, die Bedeutungen tragen. Die Bedeutungsträger trennt er von gewöhnlichen Dingen (sémiophores – choses). Dinge sind nützlich und werden verbraucht. Semiophoren sind dem Gebrauch und dem ökonomischen Kreislauf enthoben, sie werden aufbewahrt, geschützt und in der Regel nicht veräußert – eben gesammelt. Sie werden zum Betrachten her- und / oder ausgestellt, den Blicken der Götter und Ahnen dargeboten, dem Blick der Gläubigen, oder dem Blick der Museumsbesucher. Im ersten Fall sollen sie von unsichtbaren Wesen gesehen werden, in den anderen Fällen repräsentieren sie etwas Unsichtbares. In jedem Fall dienen sie dem Austausch zwischen der sichtbaren Welt und dem Unsichtbaren (l’invisible). Der Verweis auf das Unsichtbare definiert die Semiophoren. Was ist nun dieses Unsichtbare? Pomian bestimmt das Unsichtbare nicht ontologisch oder substantiell, sondern nach seiner Funktion in der Gesellschaft. Er betont, dass die Sprache das Unsichtbare hervorbringt, denn durch die Sprache tauschen sich die Individuen über ihre „Phantasmen“ aus. Im Austausch mit anderen Menschen verwandelt sich die „intime Überzeugung des Einzelnen, in Kontakt mit etwas nie im Gesichtsfeld Vorfindlichen gewesen zu sein, in eine soziale Tatsache.“84 Mit dieser Wortwahl reiht er das Unsichtbare in die faits sociaux Émile Durkheims ein, ohne Durkheim direkt zu erwähnen. Die Gestalt des Unsichtbaren ist veränderlich: „Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, ist hier zu betonen, daß sich der Gegensatz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem ganz verschieden manifestieren kann. Unsichtbar ist, was sehr weit im Raum entfernt ist: jenseits des Horizonts; aber auch, was sehr hoch oder tief ist. Doch unsichtbar ist ebenfalls, was sehr weit in der Zeit entfernt ist: in der Vergangenheit oder in der Zukunft; außerdem was jenseits jedes physischen Raumes oder jeder räumlichen Ausdehnung liegt oder sich in einem Raum mit einer ganz eigenen Struktur befindet; doch unsichtbar ist auch, was sich in einer Zeit sui generis befindet oder außerhalb jedes zeitlichen Ablaufs: in der Ewigkeit. [...] Doch dies alles sind gleichsam leere Rahmen, in die die unterschiedlichsten Wesen und Gegebenheiten hineinpassen: Götter, Tote, andere Menschen als wir, Ereignisse, Umstände. Die Gegenstände, die zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem unterwegs sind, unterscheiden sich je nach dem Charakter ihrer Absender und Empfänger.“85
84 Pomian, 1998, S. 46. 85 Ebd., S. 43f.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Hieraus wird deutlich, dass Pomians Unsichtbares religiöse Inhalte einschließt. Das Unsichtbare, an das Opfergaben gerichtet sind, können beispielsweise Götter sein, also als religiös bestimmbare Entitäten. Pomian benutzt die Kategorie der Religion aber gerade nicht, sondern bleibt beim offeneren Konzept des „Unsichtbaren“. Für die Verwendung dieses offeneren Begriffes gibt es meines Erachtens zwei Gründe. Erstens ist das Wort hinreichend unbestimmt. Worte wie „Werte“ oder „Religion“ haben in vielen Kontexten eine inhaltliche Bestimmung, die Pomians funktionalistischer Betrachtung entgegenstünde. Und zweitens schreibt Pomian den Sammlungen und Museen im modernen Sinn neben dem Austausch mit dem Unsichtbaren eine zweite Funktion zu, die sie in Konkurrenz zu den etablierten religiösen Institutionen treten ließ: Konsens über soziale Hierarchien zu schaffen.86 Dazu benötigt Pomian eine Kategorie, die mehr als die Inhalte einer Religion und mehr als religiöse Inhalte allgemein umfasst. Museen als Orte, in denen Konsens über soziale Hierarchien geschaffen wird: Pomian benutzt die Idee der Semiophoren und der Kommunikation mit dem Unsichtbaren für eine (etwas starre, schematisierende) soziologische Theorie. Pomian beschreibt Gegenstände als nach ihrer Bedeutsamkeit geordnet. Je weniger nützlich und je bedeutender, desto wertvoller, wichtiger, höherrangig sind Gegenstände. Genauso seien Menschen mehr oder weniger bedeutsam. „Doch nicht allein die Gegenstände sind aufgeteilt in nützliche und bedeutsame, in Dinge und Semiophoren [...], ebenso verhält es sich mit den menschlichen Aktivitäten. [...] An der Spitze der Hierarchien gibt es immer einen oder mehrere Menschen, die Zeichenträger sind, Repräsentanten des Unsichtbaren, der Götter oder des einen Gottes, der Ahnen, der Gesellschaft etc. Am unteren Ende befinden sich dagegen die ‚Ding-Menschen’, die nur eine indirekte Beziehung oder nicht die geringste zum Unsichtbaren haben.“87
Menschen, deren Rolle vor allem in der Repräsentation des Unsichtbaren besteht, können diese Rolle unter anderem dadurch erfüllen, dass sie sich mit gegenständlichen Repräsentationen des Unsichtbaren umgeben. Je höher man in der Hierarchie der Repräsentation des Unsichtbaren steht, desto mehr und desto wertvollere Semiophoren gehören dazu. „Anders gesagt, es ist die soziale Hierarchie, die notwendigerweise zum Auftauchen von Sammlungen führt [...].“88 Die Semiophoren sind Ausdruck des sozialen Ortes eines In-
86 Ebd., S. 69. 87 Ebd., S. 52. 88 Ebd., S. 53.
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Anschauungssache Religion dividuums. Diese Aufgabe können Semiophoren aber nur wahrnehmen, wenn über ihren Wert gesellschaftlicher Konsens besteht. Der gesellschaftliche Konsens über den Wert von Semiophoren hängt nun vom gesellschaftlichen Konsens über das Unsichtbare ab. So lassen sich Pomians weitere Ausführungen zusammenfassen. Er schreibt, dass die Behandlung bestimmter Gegenstände als Semiophoren impliziert, dass man dem durch sie repräsentierten Unsichtbaren Realität zugesteht (als Fakt oder als Forderung). Ein einfaches Beispiel: Die Wertschätzung bestimmter Fettflecken impliziert den Wert „moderne Kunst“. Es kann jedoch zwischen verschiedenen Individuen oder zwischen verschiedenen Gruppen Uneinigkeit darüber herrschen, was als Semiophor gelten soll, und was nicht. Darin enthalten sind Uneinigkeiten über „das Unsichtbare“. „Nun können aber solche Divergenzen über die Bedeutung der Gegenstände und folglich über das Unsichtbare zu sozialen Konflikten führen.“89 Die Vermeidung solcher Konflikte ist Aufgabe der Museen. Obwohl sie sich nur mit Gegenständen befassen, legen sie über diese auch Vorstellungen vom Unsichtbaren fest. „So gesehen erscheint das Museum als eine der Institutionen, deren Funktion darin besteht, einen Konsens zu schaffen über eine bestimmte Form, das Sichtbare dem Unsichtbaren entgegenzusetzen, die sich gegen Ende des 14. Jahrhunderts abzuzeichnen begann, das heißt einen Konsens über neue soziale Hierarchien; in ihnen wird dann die privilegierte Position legitimiert durch eine privilegierte Beziehung zum neuen Unsichtbaren. In anderen Worten: die Museen lösen die Kirchen ab als Orte, an denen alle Mitglieder einer Gesellschaft in der Feier desselben Kults kommunizieren können. Daher steigt auch die Zahl der Museen im 19. und 20. Jahrhundert, denn die Bevölkerung, vor allem die städtische, löst sich nun immer mehr von der traditionellen Religion. Ein neuer Kult überlagert so den alten, der unfähig geworden ist, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu integrieren, ein Kult, in dem die Nation gleichzeitig Subjekt und Objekt wird.“90
Pomian verweist, wie oben angedeutet, in der Bezeichnung der Museen als Orte der „Integration der Gesellschaft“, in denen die Nation „sich selbst eine permanente Huldigung dar[bringt]“,91 auf die Religionstheorie Émile Durkheims. Damit beschreibt Pomian Museen als funktionale Äquivalente und gleichzeitig als die Erben der christlichen Kirchen: Die Museen „lösen die Kirchen ab“. Der einzige Unterschied zwischen Kirchen und Museen besteht im Inhalt des „Unsichtbaren“, auf das sie sich jeweils beziehen: Das Unsichtbare, das
89 Ebd., S. 69. 90 Ebd., S. 69f. 91 Ebd., S. 70.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen die heutigen Semiophoren repräsentieren, sind nicht die Götter oder andere übermenschliche Mächte, sondern es ist die Zukunft. „Die Kirchen wie die Paläste [in denen seit jeher Sammlungen aufbewahrt wurden, S. C.] weisen auf ein himmlisches Jenseits und auf die Vergangenheit. Das Museum seinerseits zeigt auf eine Zukunft hier auf Erden, obwohl es Objekte aufbewahrt, die in ihrer Mehrheit aus der Vergangenheit kommen oder die am Austausch mit dem himmlischen Jenseits teilgenommen haben.“92
Die Ablösung der Kirchen (und Paläste) durch Museen beschreibt Pomian als einen Säkularisierungsprozess. Das Jenseits, oder genereller „Transzendentes“, sowie die Vergangenheit als Bezugspunkte der Semiophoren fallen weg, an ihre Stelle rückt die immanente Zukunft. Diese Idee merkt Pomian gewissermaßen nebenbei an und arbeitet sie nicht aus. Aber er betont damit noch einmal, dass die Parallele zwischen „Museum“ und „Kirche“ allein in beider Funktion für die Gesellschaft besteht. So wie die Kirche einst den gesellschaftlichen Umgang mit dem Unsichtbaren festlegte, tut es heute das Museum. Wir feiern im Museum rituell unsere ästhetische Religiosität und vergewissern uns dadurch zentraler Werte unserer Gesellschaft – so spannend es wäre, diesem Gedanken weiter nachzugehen, muss hier ein Unterschied zwischen Museen und Religionsgemeinschaften betont werden: Museen sind ihrem Selbstverständnis nach keine religiösen Institutionen, oder genauer gesagt: weder die Besucher, noch die Museumsangestellten oder die Berichterstatter und Politiker, die etwas mit den Museen zu tun haben, erwarten von den anderen Akteuren religiöse Handlungen. Wenn, wie in den folgenden Untersuchungen, die Thematisierung von Religion/en durch „das Museum“ anvisiert wird, müssen die Trennungslinien zwischen beiden beachtet werden. Nur so kann gezeigt werden, wie das Eine im Anderen repräsentiert ist. Die nachfolgenden Analysen zeigen, dass Museen und religiöse Institutionen in ihren Möglichkeiten jeweils über die Möglichkeiten der anderen Institutionen hinausgehen.
92 Pomian, in: Korff/Roth, 1990, S. 51. An anderer Stelle schreibt er: „Dieses Unsichtbare, das sich nur in der Rede und durch sie erreichen läßt, ist die Zukunft. Indem man Gegenstände in Museen bringt, stellt man sie nicht nur für den Blick der Gegenwart aus, sondern auch für den zukünftiger Generationen, so wie man es in früheren Zeiten mit anderen Dingen für den Blick der Götter tat.“ Pomian, 1998, S. 70.
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3.4.4 MYTHEN IM MUSEUM Roland Barthes (1915 – 1980) definierte in den 1950er Jahren Mythen aus semiotischer Sicht: Mythen bestehen aus Zeichen, deren einer Bestandteil, der Signifikant, seinerseits ein vollständiges Zeichen aus Signifikant und Signifikat ist.93 Teile seiner Überlegungen sollen hier kurz referiert werden, weil sich daraus Anknüpfungspunkte für die Museumsanalyse ergeben. Ein Zeichen definiert Barthes mit Ferdinand de Saussure (1857 – 1913) als eine Einheit aus Signifikant und Signifikat. Der Mythos „bemächtigt“ sich nun dieses Zeichens und reduziert es zum Signifikanten eines zweiten Zeichens. Zusammen mit einem zweiten Signifikat entsteht eine „semiologische Kette“, ergibt sich das mythische Zeichen. Das mythische Zeichen ist damit ein sekundäres semiotisches System. Indem Barthes den ersten Signifikanten „Sinn“ und den zweiten Signifikanten „Form“ nennt, wird deutlich, was er meint: Das erste Zeichen wird gewissermaßen entleert, er wird zur Hülle, das mit anderen Signifikaten gefüllt werden kann. Der Sinn des ersten Zeichens geht dabei nicht verloren, sondern wird nur auf Abruf ausgesperrt, wie Barthes sehr eindrücklich beschreibt: „Doch der entscheidende Punkt ist bei alledem, daß die Form den Sinn nicht aufhebt; sie verarmt, sie entfernt ihn nur, sie hält ihn zur Verfügung. Man glaubt, der Sinn stirbt, aber es ist ein aufgeschobener Tod. Der Sinn verliert seinen Wert, aber er bleibt am Leben, und die Form des Mythos nährt sich davon.“94
Das mythische Zeichen nennt Barthes „Bedeutung“. Die Bedeutung habe immer zwei Seiten: den Charakter einer Nachricht und den Charakter einer Feststellung, da es sowohl Sinn und Form beinhaltet: „Diese Duplizität des Bedeutenden bestimmt freilich auch die Wesenszüge der Bedeutung. Wir wissen nun, daß der Mythos [als Beispiel nutzt Barthes einen Satz aus einem Lateinlehrbuch: quia ego nominor leo] eine viel stärker durch ihre Absichten (ich bin ein grammatisches Beispiel) als durch ihre Buchstaben (ich werde Löwe genannt) bestimmte Aussage ist. Und doch ist die Absicht darin gewissermaßen erstarrt, gereinigt und verewigt und durch den Buchstaben abwesend gemacht [...]. Diese konstitutive Doppeldeutigkeit der mythischen Aussage hat für die Bedeutung zwei Folgen: sie zeigt sich als eine Nachricht
93 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main, 1964. Nachdruck der ersten Auflage: Frankfurt am Main, 2003. (Original: Mythologies. Paris, 1957.) 94 Barthes, 2003, S. 97.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen und zugleich als eine Feststellung. Der Mythos hat einen imperativen und interpellatorischen Charakter.“95
In den folgenden Untersuchungen wird immer wieder davon ausgegangen, dass die im Museum generierten Bedeutungen diesen zweifachen Charakter haben. Aber kann man auch davon ausgehen, dass Museen sekundäre semiologische Systeme sind, indem sie den Dingen,96 die an sich bereits etwas bedeuten, weitere Bedeutungen hinzufügen? Die Museen geben den in ihnen ausgestellten Stücken schließlich mindestens eine weitere Bedeutung, sie machen aus ihnen ein „Museumsstück“ – ein Phänomen, mit dem Marcel Duchamp in seinen ready-mades spielte und dessen Nicht-Zustandekommen belacht werden kann, etwa in der Erzählung von der Raumpflegerin, die Beuys’ Installationen als „Fettflecke“ säuberte. In der Tat überträgt Sabine Offe in ihren Untersuchungen die Idee der semiologischen Kette auf das Museum. Sie zitiert Barthes zwar nicht direkt, ihre Überlegungen zu den Bedeutungen von Judaica in deutschsprachigen Museen bauen aber auf seinen Ausführungen auf.97 Judaica sind Dinge, die besondere Bedeutungsveränderungen erlitten. Offe beschreibt Kidduschbecher aus dem ehemaligen Frankfurter „Museum für Jüdische Altertümer“, die 1939 als Zeugnisse „arischen Kunstschaffens“ vor dem Einschmelzen gerettet wurden. Damit bekamen sie eine von ihrer früheren Bedeutung abweichende neue Bedeutung. „Die Abweichungen [in der zweiten von der ersten Bedeutung] sind nicht beliebig. Selbst die absichtliche Deformation der Bedeutung der ‚goldenen Becher’ aus dem ehemaligen Museum für Jüdische Altertümer bewahrte einen Teil ihrer Entstehungsgeschichte als kunsthandwerkliche Produkte.“98
95 Ebd., S. 105f. 96 Roland Barthes’ Ausführungen betreffen vor allem die Sprache, die allein er als ein autonomes Zeichensystem ansieht. (Nöth, 2000, S. 110.) Da die Dinge im Museum jedoch fast immer durch sprachliche Zeichen begleitet und gedeutet werden, kann man seine Überlegungen wohl auf Dinge im Museum übertragen. 97 Offe, Sabine: Schaustück und Gedächtnis. Jüdisches im Museum. In: Fliedl/Muttenthaler/Posch, o. J., S. 27 – 45; dies.: Zur Musealisierung von Religion. Jüdische Museen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kippenberg, Hans G. und Brigitte Luchesi (Hg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg, 1995, S. 235 – 250. In ihrer Untersuchung zweier naturhistorischer Museen rekurrieren auch Timothy Lenoir und Cheryl Lynn Ross auf die von Barthes beschriebene Funktionsweise des Mythos. Lenoir, Timothy und Cheryl Lynn Ross: Das naturalisierte Geschichts-Museum. In: Grote, 1994, S. 875 – 907. 98 Offe, in: Fliedl/Muttenthaler/Posch, o. J., S. 31.
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Anschauungssache Religion Mit Barthes gesagt: Der Mythos ist hier das „arische Kunstschaffen“. Das erste Zeichen ist der Kidduschbecher, der zum Bedeutenden/zur Form des Mythos wird. In der Form des Mythos ist der Sinn noch enthalten. Er wird deformiert, verarmt, eingeengt auf „der Becher wurde von Frankfurter Handwerkern hergestellt“ und erhält die Bedeutung „arisches Kunstschaffen“. Diese Bedeutung (in Barthes Diktion der „Begriff“) ist nach Offe nicht beliebig. Barthes beschreibt das Verhältnis folgendermaßen: Armut und Reichtum verhalten sich zu Form und Begriff umgekehrt proportional. Die Form ist qualitativ arm (der Sinn ist arm geworden) – der Begriff aber qualitativ reich: er ist „für die gesamte Geschichte offen“,99 alle Daten und Anschauungen seiner Zeit sind darin enthalten. „Der quantitativen Fülle von Formen entspricht eine kleine Zahl von Begriffen.“100 Ein- und derselbe Mythos kann sich unzähliger Zeichen bemächtigen, wofür die Ideologie der Nationalsozialisten ein gutes Beispiel bietet. Insofern ist die Abweichung nicht beliebig, aber das erste Zeichen, das Objekt. Diese Idee steht im Hintergrund auch mancher Überlegungen dieser Arbeit, wenn einzelne Objekte auf größere Zusammenhänge hin interpretiert werden. Und noch ein weiterer Teil aus Offes Essays wird in den folgenden Analysen aufgegriffen: Judaica haben ihre besonderen Rettungsgeschichten. Sie sind Fragmente einer nicht einfach fernen oder vergangenen Zeit, sondern Fragmente einer willentlich ausgelöschten Kultur, zum Teil ehemaliger Besitz ermoderter Menschen. Ihr Dasein ist damit bereits trügerisch, ihre „Rettung eine Täuschung“.101 „Die Nähe des Kidduschbechers im Museum erzeugt einen Mythos. Sie erzeugt Wunschvorstellungen, die nicht Rekonstruktionen realen jüdischen Lebens, sondern Konstruktionen der ‚rettenden’ Institution Museum sind. Aber das Museum erzeugt nicht nur diesen Mythos einer besseren Realität, sondern es unterläuft ihn zugleich: daß nämlich der Kidduschbecher im Museum steht, daß der Sabbat im Museum stattfindet, bezeugt, daß die Vergangenheit, die er repräsentiert, nicht mehr Gegenwart und Zukunft sein wird.“102
Dadurch, dass der Sinn in der Form noch enthalten ist, kann man den Mythos entziffern, man kann ihn enttarnen. Sabine Offe sieht das als Möglichkeit und Aufgabe der Jüdischen Museen an. Roland Barthes diskutierte später die ideologiekritischen Aspekte seiner 99 Barthes, 2003, S. 100. 100 Ebd. 101 Offe, in: Fliedl/Muttenthaler/Posch, o. J., S. 34. Die Grausamkeiten, die zu ethnographischen Sammlungen führten, sind nicht so systematisch. 102 Offe, in: Fliedl/Muttenthaler/Posch, o. J., S. 43.
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Methodische und museumstheoretische Überlegungen Überlegungen neu, indem er die Voraussetzung der Ideologiekritik in Frage stellte. Er bezweifelte, dass die objektsprachlichen Zeichen/die Denotationsebene, die die einzige Ebene ist, von der aus die Konnotationsebene kritisierbar wäre, je frei von Ideologie sein könnte.103 Aber auch unter der Prämisse, dass nichts je frei von Ideologie ist, kann die Idee der mythenerzeugenden Museen für die Museumsanalyse fruchtbar gemacht werden: Sie legitimiert und fordert einen ideologiekritischen Blick auf die Erzählungen des „mythomoteur“104 Museum.
103 Vgl. Nöth, 2000, S. 109. 104 Zum Begriff s. Korff, Gottfried: Volkskunst: ein mythomoteur? In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 92, 1996, S. 221 – 233, insbes. Anm. 6.
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4. „GLAUBE UND BILD“ IM KLOSTER ASBACH: KATHOLIZITÄT UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE Seit 2006 ist im Kloster Asbach, einem Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums im Landkreis Passau, die Ausstellung „Glaube und Bild. Sammlung Rudolf Kriss“ zu sehen. Sie wird dort bleiben, bis die für sie vorgesehenen Räume im Bayerischen Nationalmuseum in München saniert sind. Dann kann die Sammlung Kriss, dem Stifterwillen entsprechend, wieder im Bayerischen Nationalmuseum ausgestellt werden. Die Abteilung für Religiöse Volkskunde des Bayerischen Nationalmuseums, zu der die Sammlung Kriss gehört, ist eine der wichtigsten Sammlungen Europas auf diesem Gebiet. Sie wurde vielfach beforscht und seit nun fast 50 Jahren durch die Konservatorinnen und Konservatoren des Bayerischen Nationalmuseums museal präsentiert. In der vorliegenden Arbeit wird sie als volkskundliche Präsentation zum Thema Religion/en untersucht. Anders als die übrigen hier ausgewählten Dauerausstellungen trägt sie einen Teilbereich von Religion schon im Titel, den „Glauben“. Im Unterschied auch zu den anderen Präsentationen geht ihre jetzige Konzeption auf eine ältere Präsentation zurück und bezieht sich in wesentlichen Teilen auf eine einzelne Sammlung. Das ergibt ein verhältnismäßig festes Sammlungs- und Ausstellungs-„Korpus“, das sich für wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen eignet. Dies zu berücksichtigen, erscheint umso aufschlussreicher, als dadurch verschiedene Religionsbegriffe untersucht werden können. Im folgenden wird deshalb ein Rückblick auf die Ausstellung geworfen. Es schließen sich Überlegungen zum Aufstellungsort, zur Gliederung und Inszenierung sowie zum Inhalt der Ausstellung an.
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4.1. Historischer Überblick 4.1.1 ZUM BAYERISCHEN NATIONALMUSEUM 1867 wurde das Bayerische Nationalmuseum (BNM) in einem Neubau an der Maximilianstraße eröffnet.1 König Maximilian II. (reg. 1848 – 1864) setzte mit den Planungen zu diesem Museum die Reihe der Museumsgründungen in München, die sein Vater begonnen hatte, fort. Er legte einen starken Akzent auf die Geschichte Bayerns und seiner eigenen Dynastie und reagierte damit nicht zuletzt auf das 1853 gegründete Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. Nachdem der erste Bau (das heutige Staatliche Museum für Völkerkunde) zu klein geworden war, wurde an der eben entstehenden Prinzregentenstraße ein Neubau errichtet und am 29. September 1900 eröffnet. Die Pläne dafür lieferte Gabriel von Seidl, ein Architekt, der mit diesem eklektizistischen Museumsbau Maßstäbe setzte. Das BNM zählt heute mit 13.000 m2 Ausstellungsfläche und jährlich rund 150.000 Besuchern zu den größten Museen Bayerns. Schon in den ersten Anweisungen, die der Gründungsdirektor Karl Maria von Aretin 1855 von König Maximilian II. erhielt, war davon die Rede, Kunstwerke, die sich „auf das Volksleben und Volksthaten“ beziehen,2 zu erwerben. Sie bilden neben Kunst und Kunsthandwerk den dritten Schwerpunkt des Museums. Als erste „volkskundliche“3 Objekte wurden im Museum an der Maximilianstraße Trachten gezeigt. Direktor Wilhelm Heinrich Riehl erweiterte diesen Ausstellungsbereich zu einem eigenen Saal mit Volkstrachten und plante, im Untergeschoss „Bauernstuben“ einzurichten. Diese wurden dann in den Planungen für den Neubau berücksichtigt. Gabriel von Seidl sah im westlichen Teil des Untergeschosses „Typische Bauernstuben der acht Bayerischen Kreise“ (die heutigen sieben Regierungsbezirke und die Pfalz) vor. Im Obergeschoss wurde außerdem die Krippensammlung, die auf Schenkungen des Bankiers und Kommerzienrates Max Schmederer zurückgeht, aufgestellt, wo sie noch heute zu sehen ist. 1
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3
Angaben aus: Bauer, Ingolf und Renate Eikelmann (Hg.): Das Bayerische Nationalmuseum 1855 – 2005. 150 Jahre Sammeln, Forschen, Ausstellen. München, 2006. Darin insbesondere: Bauer, Ingolf: Die Volkskunde im Bayerischen Nationalmuseum, S. 496 – 512; Gockerell, Nina: Die Volkskundeabteilung des Bayerischen Nationalmuseums. Gedanken zu einer Neukonzeption. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2005, S. 121 – 131. Zit. nach: Anhang. 21 Dokumente zur Geschichte des Bayerischen Nationalmuseums. Zusammengestellt von Ingolf Bauer, in: Ders./Eikelmann, 2006, S. 754 – 797, hier: Anhang 2, S. 759. Zur Begriffsproblematik und für eine pragmatische Definition s. Bauer, in: Ders./Eikelmann, 2006, S. 496.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte Begleitet wurde die Entwicklung der volkskundlichen Sammlungen am Bayerischen Nationalmuseum durch immer wieder aufgenommene Diskussionen um ein eigenständiges, zentrales Volkskundemuseum für Bayern.4 Im Zweiten Weltkrieg wurde das Bayerische Nationalmuseum schwer beschädigt, unter anderem wurden die Räume der Bauernstuben zerstört.5 Aus dem Bereich der Volkskunde wurden 1946 provisorisch als erstes die Krippen wieder aufgestellt. 1950 veranstaltete Direktor Theodor Müller eine Sonderausstellung „Bayerische Volkskunst“, der 1951/52 eine erste Schau mit der Sammlung Rudolf Kriss folgte. Zum Jubiläum 1955 wurde die „Volkskunst“Abteilung neu eröffnet, die Krippenabteilung im Jahr 1958. Prof. Dr. Rudolf Kriss sammelte, wie weiter unten genauer beschrieben wird, seit den 1920er Jahren Objekte der religiösen Volkskunde, die er zunächst in Salzburg zeigte. Seine auf rund 14.000 Objekte angewachsene Sammlung vermachte er 1952 dem Bayerischen Nationalmuseum, wo sie 1961 von Dr. Lenz KrissRettenbeck6 in einer eigenen Abteilung der Öffentlichkeit präsentiert wurde.7 Sie erstreckte sich über sieben Räume im Untergeschoss West und blieb bis 1995 dort zu sehen. 1963 erschien KrissRettenbecks Begleitband „Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens“.8 In der Abteilung für Volkskunde wurde unter den folgenden Konservatoren Dr. Ingolf Bauer (1972 bis 2006) und Dr. Nina Gockerell (seit 1976) vor allem in den anderen volkskundlichen Bereichen des BNM und an Sonderausstellungen gearbeitet, außerdem wurden die Zweigmuseen aufgebaut und betreut. Lenz KrissRettenbeck bemühte sich seit 1962 erst als Konservator, später als Generaldirektor um die Sanierung des Museumsbaus. Die Arbeiten im Untergeschoss sollten Mitte der 90er Jahre in Angriff genommen werden. Um die Objekte der Religiösen Volkskunde nicht über Jahre in den Archiven zu verstauen, ließ Nina Gockerell die Dauerausstellung abbauen und zunächst im Herzogschloss Straubing, einem Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums, wiedereröffnen. Dort war sie von 1995 bis 2005 zu sehen. Publiziert wurde die Ausstellung unter dem Titel: „Bilder und Zeichen der Frömmigkeit. Die 4 5
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Bauer, in: Ders./Eikelmann (Hg.), 2006, S. 498; Gockerell, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2005, S. 122f. Zur Arbeit des BNM zwischen 1933 und 1945 s.: Koch, Michael: Das Bayerische Nationalmuseum unter Hans Buchheit 1932 – 1947. In: Bauer/Eikelmann, 2006, S. 132 – 147. Den Doppelnamen nahm er nach seiner Adoption durch Rudolf Kriss an. Spätere Ergänzungen erweiterten den Bestand auf rund 25.000 Objekte. Kriss-Rettenbeck, Lenz: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. Rudolf Kriss zum 60. Geburtstag. München, 1963.
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Anschauungssache Religion Sammlung Rudolf Kriss“.9 Nachdem der Leihvertrag mit der Stadt Straubing um fünf Jahre verlängert worden war, wurde die Ausstellung 2005/06 ins Kloster Asbach umgezogen. Nina Gockerell gibt auch für diese Aufstellung wieder ein Begleitbuch heraus, das noch in der ersten Jahreshälfte 2008 erscheinen soll.
4.1.2 DIE ZWEIGSTELLE KLOSTER ASBACH Das Bayerische Nationalmuseum unterhält Zweigmuseen, die sich über ganz Bayern verteilen. Die rechtliche Grundlage dafür bildet ein 1979 von der Bayerischen Staatsregierung genehmigtes Museumsentwicklungsprogramm, das die Präsenz der staatlichen Kulturgüter in der Region stärken soll. So wurde auch die Kooperation mit dem Eigentümer der Klosteranlage Asbach, dem „Kulturkreis Kloster Asbach e.V.“, ermöglicht, die zur Eröffnung des Zweigmuseums 1984 führte. Kloster Asbach geht auf eine Gründung aus dem 11. Jahrhundert zurück.10 Anfänglich ein Doppelkonvent für Benediktinermönche und -nonnen, wurde nach einer Plünderung im 13. Jahrhundert nur der Männerkonvent wieder aufgebaut. Die Hochzeit des Klosters scheint im 15. Jahrhundert begonnen zu haben, als die Äbte von Papst Paul II einige Privilegien, die sonst Bischöfen gebühren, erhielten. Seine jetzige Gestalt erhielt das Kloster nach seiner teilweisen Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg. Zunächst wurde das Konventsgebäude von Domenico Christoforo Zuccalli im barocken Stil neu gebaut. Die im Laufe des 18. Jahrhunderts vorgenommene Ausschmückung der Innenräume ist in mehreren Räumen noch/ wieder zu bewundern. 1771 wurde die Kirche St. Matthäus abgebrochen und unter der Planung des kurfürstlichen Oberbaumeisters François de Cuvilliés d. J. als einschiffige Wandpfeilerkirche neu errichtet. Der klaren klassizistischen Gliederung des Baukörpers steht eine reiche Rokoko-Innenausstattung gegenüber, weshalb die Klosterkirche „als ein bezeichnendes Werk des Übergangs vom Rokoko zum Klassizismus anzusehen“11 ist. Bald nach der Fertigstellung der Kirche wurde das Kloster im Zuge der Säkularisierung aufgelöst (1803). Die Klosterkirche wurde 9
Gockerell, Nina: Bilder und Zeichen der Frömmigkeit. Sammlung Rudolf Kriss. München, 1995. 10 Angaben aus: Seelig, Lorenz: 1984 Asbach, Gemeinde Rotthalmünster im Landkreis Passau. Zweigmuseum Kloster Asbach. In: Bauer/Eikelmann, 2006, S. 649 – 651; Trum, Johannes B. (Hg.): St. Matthäus, Asbach. 4. Auflage, Regensburg, 2007 [Schnell und Steiner Kunstführer Nr. 1589]. 11 Trum, 2007, S. 13. Ein Erlass vom 04.10.1770 schrieb für Bayern vor, bei Kirchenbauten alles Übermaß zu vermeiden und Einfachheit anzustreben. Ebd., S. 21.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte fortan als Pfarrkirche genutzt (und die vormalige Pfarrkirche von Asbach abgerissen), die Abteigebäude wurden verkauft, anderweitig genutzt oder abgerissen. In den 1970er Jahren war die Anlage weitgehend verfallen. 1976 konstituierte sich dann der Verein „Kulturkreis Kloster Asbach e.V.“, der das Gelände erwarb und in den folgenden Jahrzehnten sanierte und restaurierte. Seit 1984 unterhält das Bayerische Nationalmuseum dort eine Zweigstelle mit 1.400 m2 Ausstellungsfläche, wovon die Sammlung Kriss rund 400 m2 einnimmt. Außerdem nutzt es das Kulturreferat des Landkreises Passau für Ausstellungen und andere Veranstaltungen.12 Ein Saal wurde zum Trauungssaal des Landratsamtes umgewidmet, weitere Teile des Klosters wurden zum Hotel umgebaut.
4.2 Wissenschafts- und Ausstellungsgeschichte: Intentionen und Interpretationen Die Sammlung Kriss in ihren verschiedenen Aufstellungen spiegelt nicht nur den jeweiligen Stand fachwissenschaftlicher Theoriebildung wie er in jeder wissenschaftlich kuratierten Ausstellung zu konstatieren ist, sondern zeigt in stärkerem Maße als die übrigen hier berücksichtigten Ausstellungen den Einfluss religionswissenschaftlicher Theorie. Dies liegt selbstverständlich auch in den Objekten begründet, die als religiöse Artefakte gesammelt und ausgestellt wurden. Rudolf Kriss und Lenz Kriss-Rettenbeck, der Sammler und der langjährige Konservator, verstanden sich aber bei allem religionsethnologischen und -wissenschaftlichen Wissen in erster Linie als Volkskundler. Beide haben für die Volkskunde Wissenschaftsgeschichte geschrieben.13 Volkskundliche und religionswissenschaftliche Positionen, beide sollen im folgenden dargestellt werden. Denn vor dem theoriegeschichtlichen Hintergrund wird deutlich, dass und warum Rudolf Kriss und Lenz Kriss-Rettenbeck das ihnen vorliegende Material durchaus unterschiedlich interpretierten. Ihre Deutungen bestimmen die aktuelle Aufstellung immer noch mit. Statt, wie in den anderen Analysen, den „Weg zur Ausstellung“ räumlich zu bestimmen, wird der Weg zu „Glaube und Bild“ hier erst einmal wissenschafts-
12 Da der Landkreis Passau nur eine Besucherzählung vornimmt, die Sonderausstellungen sowie eine weitere Galerie einschließt, können für die Ausstellung „Glaube und Bild“ keine Besucherzahlen angegeben werden. Brief von Dr. Gockerell an die Verf. vom 23.04.2008. 13 Vgl. etwa Daxelmüller, Christoph: Volksfrömmigkeit. In: Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnographie. 3. Auflage, Berlin, 2001, S. 491 – 513.
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Anschauungssache Religion geschichtlich verstanden. Die Präsentation der Sammlung Kriss seit 1961 wird anschließend vorgestellt.
4.2.1 RUDOLF KRISS Rudolf Kriss wurde 1903 in Berchtesgaden geboren.14 Seiner Familie gehörte das dortige Hofbräuhaus Berchtesgaden und Kriss war Zeit seines Lebens finanziell unabhängig. Rudolf Kriss absolvierte in München zunächst ein Studium zum Diplomkaufmann, um das Brauhaus zu übernehmen. Anschließend wechselte er zur Volkskunde, in der er 1928 mit der Arbeit „Das Gebärmuttervotiv“ promoviert wurde. 1933 habilitierte er sich kumulativ in Wien, wo er von 1936 an lehrte. Seine Sammlung, die er seit den zwanziger Jahren aufbaute, wurde damals in der Neuen Hofburg erstmals ausgestellt, Hilfe leistete der spätere Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde und Freund von Rudolf Kriss, Leopold Schmidt (1912 – 1981). 1938 wurde Rudolf Kriss die venia legendi entzogen. Er zog daraufhin wieder nach Berchtesgaden, wo er weiter forschte. Dem Nationalsozialismus stand er kritisch gegenüber. Seine Gegenposition beruhte auf katholischen Überzeugungen und zeigte sich zum Beispiel in seinem Engagement für die Berchtesgadener Weihnachtsschützen (über die er auch wissenschaftlich arbeitete). 1944 wurde Kriss wegen Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt. Namhafte Professoren und eine berühmte Kammersängerin intervenierten und bewirkten eine Umwandlung der Strafe in lebenslange Haft. Nach dem Krieg war er kurzzeitig Bürgermeister von Berchtesgaden (weil er jedoch mehrfach Briefe über die Grenze schmuggelte, setzte ihn die Amerikanische Militärregierung bald wieder ab.)15 1947 wurde er als Honorarprofessor nach Salzburg berufen, wo er auch seine Sammlung wieder aufstellen ließ. 1949 folgte eine Honorarprofessur in München. 1952 vermachte er seine Sammlung dem Bayerischen Staat unter der Auflage, sie im Bayerischen Nationalmuseum zu zeigen. Nach einigen Zwischenstationen, die Lenz KrissRettenbeck (1923 – 2005), Wolfgang Brückner (geb. 1930) und andere begleiteten, wurde sie schließlich 1961 in der Konzeption Kriss-Rettenbecks im Bayerischen Nationalmuseum eröffnet.
14 Die biographischen Angaben wurden entnommen: Gockerell, Nina: Rudolf Kriss (1903 – 1973). Volkskundler und Religionswissenschaftler, Sammler und politisch Verfolgter. Oberbayerisches Archiv 124, München, 2000; dies.: Die Reisetagebücher von Rudolf Kriss, 1926 bis 1971. Quellen zu einer Ethnographia europea. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2005, S. 61 – 69. 15 Gockerell, in: Oberbayerisches Archiv 124, 2000, S. 218, Anm. 45.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte Schon 1949 hatte Rudolf Kriss seine Sammel- und Forschungsreisetätigkeit wieder aufgenommen, die ihn bis 1971 durch Europa und den Mittelmeerraum, in den Sudan, in den Vorderen Orient sowie nach Indien führte. Meist begleitete ihn sein Adoptivsohn, der Ethnologe und Privatgelehrte Hubert Kriss-Heinrich (geb. 1922). Die gewonnenen Erkenntnisse publizierte er, zum Teil gemeinsam mit seinen beiden Adoptivsöhnen und mit anderen Forschern. Kriss liebte die Berge und die Musik. Er starb 1973 im Alter von 70 Jahren. Der Sammler und Wissenschaftler Zu seiner Sammeltätigkeit wurde Rudolf Kriss von Marie AnreeEysn (1847 – 1929) angeregt.16 Diese Sammlerin und Forscherin hatte während der Inflation ihr Vermögen verloren und verbrachte ihre letzten Lebensjahre in Berchtesgaden.17 Rudolf Kriss sammelte bis kurz vor seinem Tod. Er selbst hielt viele besondere Umstände, unter denen er seine Objekte eintauschte, kaufte oder geschenkt bekam, schriftlich fest. Nina Gockerell und Leopold Kretzenbacher haben einige davon publiziert.18 Sie zeigen Kriss als findigen, manchmal fast gerissenen Sammler und als begeisterten, abenteuerlustigen und immer an Neuem interessierten Reisenden. Kriss selbst nahm zur Aufstellung seiner Sammlung im Bayerischen Nationalmuseum in einem Vortrag Stellung.19 Darin legt er 16 Nikitsch, Herbert: Marie Andree-Eysn. Quellenfunde zur Biographie. In: Jahrbuch für Volkskunde 24, 2001, S. 7 – 26; ders.: Marie Andree-Eysn. In: Keintzel, Brigitta und Ilse Korotin (Hg.): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Wien, Köln, Weimar, 2002, S. 17 – 21. 17 Marie Andree-Eysns Sammlungen und Veröffentlichungen beeinflussten auch zahlreiche weitere Arbeiten. Aus ihrer Biographie sei nur auf ganz wenige Daten hingewiesen: Katholisch getauft, trat sie im Jahr ihrer Eheschließung mit dem Volkskundler Richard Andree zum Protestantismus über. Nikitsch vermutet, dass dies nicht nur ihrem Ehemann zuliebe geschah (Nikitsch, in: Jahrbuch für Volkskunde 24, 2001, S. 24). Ihrem Wunsch entsprechend wurde sie kremiert und in ihrem Geburtsort Salzburg beerdigt. Da in Salzburg Verbrennungen damals noch nicht möglich waren, musste die Verbrennung in München vorgenommen werden. Schon diese beiden Fakten deuten darauf hin, dass Marie Andree-Eysn intensiv über Glaubensfragen nachdachte. Neben ihren anderen Interessensgebieten erwarb sie eine große Sammlung an Votiven und anderen Objekten des Wallfahrtswesens. 18 Gockerell, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2005; Kretzenbacher, Leopold: Wüstensteine zum Händewaschen. Erinnerungen an eine Forschungsreise nach Tunesien und Djerba mit Freund Rudolf Kriss 1971. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2003, S. 139 – 145. 19 Kriss, Rudolf: Zur Sammlung für religiöse Volkskunde im Bayerischen Nationalmuseum. In: Kommission für Bayerische Landesgeschichte (Hg.): Reli-
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Anschauungssache Religion implizit auch den wissenschaftstheoretischen Hintergrund seiner Sammlung dar. Folgende Punkte sind besonders wichtig: Kriss definiert die Volkskunde in Abgrenzung von Geschichte und Ethnologie:20 Die Geschichte erforsche die dynamischen Kräfte und das schöpferische Individuum, die Volkskunde hingegen die beharrenden Kräfte und die Gemeinschaft. Die Ethnologie sei auf den „oberschichtslosen Primitiv-Vulgus“ gerichtet, die Volkskunde jedoch auf das in der „Hochkultur“ eingebettete „Volksleben“.21 Da es Ziel der Volkskunde sei, das „geistig-seelische Erleben“ der Träger der Volkskultur zu untersuchen, sei außerdem die Psychologie eine wichtige Leitdisziplin für die Volkskunde. Als Forschungsgegenstand bestimmt Kriss den Volksglauben als besonders ergiebig. Er spricht vom „Volksglauben“, den er nicht mit der „Volksreligion“ verwechselt wissen will. Letztere wurde in der zeitgenössischen Religionswissenschaft als Gegensatz zu den Universal- oder Hochreligionen gesehen („Volksreligionen“ als das, was man heute mit „ethnischen Religionen“ bezeichnet); der „Volksglaube“ lebe aber gerade innerhalb der jeweiligen Universal- oder Hochreligion. Der „Volksglaube“ als etwas Eigenes innerhalb der Hochreligion – hier wird deutlich, was Kriss mit Gerardus van der Leeuw (1890 – 1950), den er ausführlich zitiert,22 von Lucien Lévy-Bruhl (1857 – 1939) übernimmt: das Konzept einer mentalité primitive, die in den primitiven Schichten unserer Kultur greifbar, dem Denken des modernen Menschen aber fremd ist. Alle Menschen jeder Zeit formten, so Kriss mit Leo Frobenius (1873 – 1938), den Mythos aus der „Ergriffenheit von [ihrer] Umwelt“,23 aus welchem dann schließlich diejenigen Formen des Volksglauben entstanden, die den Forschern jetzt vorliegen. Wolfgang Brückner fasst Kriss’ theoretische Position folgendermaßen zusammen: „Rudolf Kriss stammte noch ganz aus der Generation der vergleichenden Religionsethnologen mit Vorstellungen von Primitivgeistigkeit, prälogischem Denken, magischem Weltbild und entsprechend zaubertheoretischen Konstrukten der Geisteswelt so genannt ungebildeter Volksschichten.“24 Sehr deutlich wird bei der Lektüre von Kriss’ Schriften tatsächlich der vergleichende Ansatz. Um systematische Sachverhalte zu schildern, greift er souverän wahlweise auf bayerische, süditalieni-
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giöse Volkskunde. Fünf Vorträge zur Eröffnung der Sammlung für Religiöse Volkskunde im Bayerischen Nationalmuseum in München. Würzburg, 1964, S. 1 – 25. Kriss, in: Kommission für Bayerische Landesgeschichte, 1964, S. 4f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 3ff. Ebd., S. 7. Brückner, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2006, S. 123.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte sche, griechische oder nordafrikanische Beispiele zurück. Er kann von partikularen religionshistorischen Entwicklungen absehen, da er die Äußerungen des Volksglaubens als eben teilweise unabhängig von selbigen betrachtet. So schlägt er in seinem Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung im BNM vor, alle Sammlungsgegenstände nach dem Grad des Einflusses, den die jeweilige „Hochreligion“ auf das Objekt hatte, einzuteilen. Diese Passage zeigt außerdem sehr prägnant einen Teil dessen, was Kriss in seinen gesammelten Dingen sah, sie sei daher ausführlich zitiert: „Meine Sammlung hat es sich zum Ziele gesetzt, Zeugnisse des europäischen Volksglaubens vorzuweisen. Sie sind ihrem inneren Wesen nach nicht an bestimmte Konfessionen gebunden. Je ‚primitiver’ sie sind, desto mehr gehören sie dem überlieferungsgebundenen Anteil der jeweiligen Hochreligionen an, der, aus den Kräften der Tradition gespeist, in allen großen Religionen der verschiedenen Naturvölker in stärkerem oder geringerem Ausmaß zum Durchbruch kommt. In unserem besonderen Falle handelt es sich dabei um die Auseinandersetzung mit dem Christentum. Es erscheint zweckmäßig, sozusagen als geistige Führungslinie, die auch in der Aufstellung der Objekte sichtbar wird, den Weg von ‚unten’ nach ‚oben’ einzuschlagen. Wir beginnen daher mit denjenigen Objekten, an deren Gestaltung die Hochreligion keinen oder höchstens einen äußerlichen, auf jeden Fall einen relativ geringen Anteil hat. Im weiteren Verlauf werden wir Objekte zeigen, an denen der kulturschöpferische Anteil des Christentums immer größer wird, bis wir zuletzt vor Objekten stehen, die inhaltlich bereits so völlig von der Hochreligion bestimmt sind, daß sich der volkhafte Anteil mehr oder weniger auf die künstlerische und formale Gestaltung des betreffenden Denkmals beschränkt.“25
Aus diesen Absätzen geht hervor, dass Rudolf Kriss keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen des Volksglaubens sieht. Die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede führt er lediglich auf den Grad der Einflussnahme der einzelnen Hochreligionen zurück, was jedoch das „Wesen“ des Volksglaubens nicht berühre. Dass im BNM 1961 vor allem Zeugnisse des Volksglaubens aus Mittel- und Südeuropa aufgestellt wurden, entsprach sowohl den Schwerpunkten von Kriss’ Sammlung als auch den Schwerpunkten des BNM – aber Kriss nimmt primär keine regionale Gliederung seiner Sammlungsgegenstände vor, sondern eine Einteilung auf der fiktiven Skala zwischen „reinem Volksglauben“ und „stärkstem Einfluss der Hochreligion“. Anzumerken ist noch, dass mit dieser Einteilung nicht zwingend historische Abfolgen verbunden sind. Der Idee einer mentalité primitive gemäß lebt „das Primitive“ schließlich neben oder im historisch Rezenten weiter.
25 Kriss, in: Kommission für Bayerische Landesgeschichte, 1964, S. 10f.
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Anschauungssache Religion Was Rudolf Kriss außerdem in seinen Dingen sah, was sie ihm bedeuteten, darüber kann und soll hier nicht spekuliert werden. Er war der Sammler, für ihn knüpften sich also auch persönliche Erinnerungen an die Dinge. Außerdem erforschte er viele der gesammelten Gegenstände erstmals oder grundlegend neu – wie auch der spätere Betreuer der Sammlung, Lenz Kriss-Rettenbeck. Beide hatten ein enormes Detailwissen zu den verschiedenen Gegenständen. Darin glichen sie sich. Allerdings unterschieden sie sich deutlich in Bezug auf die geistige Ordnung, in die sie die Dinge einfügten. Das wird im Folgenden gezeigt.
4.2.2 LENZ KRISS-RETTENBECK Lenz Rettenbeck wurde 1923 geboren.26 Sein Vater war Schuhmacher in Gangkofen. Seine Mutter hatte vor ihrer Heirat eine Stelle als Kindermädchen für Rudolf Kriss. Dieser besuchte seine ehemalige Kinderfrau weiterhin und lernte 1940 auch Lenz, ihr sechstes Kind, kennen. Der Gymnasiast fand im Katholizismus eine Gegenposition zum Nationalsozialismus und trat für diese ein. 1941 wurden er und zwei Freunde für einige Tage inhaftiert, weil sie während der Fronleichnamsprozession demonstrativ ein großes Kreuz durch die Straßen von Landshut getragen hatten. Diese Gegnerschaft zum Nationalsozialismus führte zur Freundschaft mit Rudolf Kriss, der ihn und seine Freunde mit Lektüre und Kontakten versorgte. Einige Jahre später adoptierte Rudolf Kriss Lenz Rettenbeck. 1942 wurde Lenz Rettenbeck eingezogen. Nach dem Krieg nahm er in Salzburg sein Studium auf, studierte außerdem in München, Wien, Basel und Zürich. Er hörte Religions- und Kunstgeschichte, Philosophie, Volkskunde, Ur- und Frühgeschichte sowie Archäologie. 1951 wurde er mit einer Arbeit über die „Feige. Wort, Gebärde, Amulett“ promoviert.27 Schon 1947 half er bei der Aufstellung der
26 Die biographischen Angaben wurden entnommen: Bauer, Ingolf: Lenz Kriss-Rettenbeck und das Bayerische Nationalmuseum. In: Ders. (Hg.): Frömmigkeit. Formen, Geschichte, Verhalten, Zeugnisse. Lenz Kriss-Rettenbeck zum 70. Geburtstag. O.O., 1993, S. 9 – 11; ders.: Lenz Kriss-Rettenbeck zum 80. Geburtstag. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2003, S. 1 – 4; Brückner, Wolfgang: Lenz Kriss-Rettenbeck zum 60. Geburtstag. In: Bayerische Blätter für Volkskunde 10, 1983, S. 3 – 6; ders.: Lenz Kriss-Rettenbeck 1923 – 2005. In: Zeitschrift für Volkskunde 102, 2006, S. 91 – 93 sowie ders.: Lenz Kriss-Rettenbeck 1923 – 2005. Das wissenschaftliche Lebenswerk. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2006, S. 123 – 125. 27 Kriss-Rettenbeck, Lenz: Feige. Wort, Gebärde, Amulett. Ein volkskundlicher Beitrag zur Amulettforschung. München, 1955. Nota bene: „Feige“ wird die
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte Sammlung von Rudolf Kriss in Salzburg, mit der er in den folgenden Jahrzehnten weiterarbeitete, was zum Beispiel Wolfgang Brückner in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit anschaulich beschreibt.28 Nach einem Volontariat wurde Kriss-Rettenbeck 1960, als erster Volkskundler an einem bayerischen Museum, Konservator am BNM. Von 1974 bis 1985 leitete er es als Generaldirektor. Er forschte und publizierte bis ins hohe Alter, wobei er sich über neue Forschungen immer auf dem Laufenden hielt. Er starb 2005. Der Wissenschaftler und Konservator Eine Würdigung des wissenschaftlichen Lebenswerkes von Lenz Kriss-Rettenbeck durch Wolfgang Brückner findet sich im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2006.29 Für die Interpretation der Sammlung Kriss sind besonders die Positionen, die KrissRettenbeck in den fünfziger und sechziger Jahren vertrat, wichtig, weshalb sie hier neben seiner Tätigkeit als Konservator kurz umrissen werden. Kriss-Rettenbeck veröffentlichte grundlegend ideologiekritische Überlegungen. Besonders deutlich wird dies im 1956 erschienenen Aufsatz „Lebensbaum und Ährenkleid“,30 einer Auseinandersetzung mit dem „bisherigen volkskundlichen Denken“,31 welches immer wieder, wie Gottfried Korff schreibt, „spekulative Tiefenbohrungen in den Urschlamm vor- und frühgeschichtlicher Mythenbildung“32 vorgenommen hatte. Kriss-Rettenbeck stellt gleich zu Beginn seines Aufsatzes eine doppelte Frage, die eine Kernfrage jeder Ideologiekritik ist: Es müsse überlegt werden, ob es gelte, „einen den Erscheinungen innewohnenden absoluten Sinn zu deuten oder (einen von verschiedenen Faktoren her den Erscheinungen gegebenen) jeweili-
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Gebärde genannt, bei der man eine Faust macht, die Daumenkuppe aber zwischen Zeige- und Mittelfinger sichtbar ist. Brückner, in: Bayerische Blätter für Volkskunde 10, 1983, S. 3 – 6. Brückner, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2006, S. 123 – 125. Das Verzeichnis der Schriften von Lenz Kriss-Rettenbeck bis zum Jahre 2003: Chorherr, Edith: Bibliographie der Veröffentlichungen von Lenz KrissRettenbeck. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2003, S. 5 – 8. Kriss-Rettenbeck, Lenz: Lebensbaum und Ährenkleid. Probleme der volkskundlichen Ikonographie. Rudolf Berliner zum 70. Geburtstag gewidmet. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, S. 42 –56. Brückner, in: Bayerische Blätter für Volkskunde 10, 1983, S. 5. Korff, Gottfried: Volkskundliche Frömmigkeits- und Symbolforschung nach 1945. In: Brückner/Korff/Scharfe, 1986, S. 38 – 66, hier S. 41. Korff würdigt „Lebensbaum und Ährenkleid“ in seiner Darstellung der Geschichte der volkskundlichen Frömmigkeits- und Symbolforschung als einen der wichtigsten Beiträge zu einem Neuanfang in der „Antisymbolforschung“, Korff, in: Brückner/Korff/Scharfe, 1986, S. 47.
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Anschauungssache Religion gen Sinn zu ermitteln? Und zweitens: wie weit ist diese Frage vom Subjekt des Interpreten, wie weit vom zu interpretierenden Objekt aus zu beantworten?“33 Kriss-Rettenbeck fährt fort mit, wie Brückner schreibt, „gültig bleibenden Formulierungen einer zutreffenden Denkmusterkritik am ‚Jargon der Eigentlichkeit’ (wie Adorno zu sagen pflegte) und für eine wissenssoziologisch geläuterte ‚Verständnismöglichkeit für Vergangenes’.“34 Kriss-Rettenbeck belegt seine Position, indem er die Motive des „Lebensbaumes“ und des „Ährenkleides“ sehr genau und kenntnisreich in ihrer historischen, geographischen und sozialen Verbreitung untersucht. Mittels dieser Untersuchungen kann er die Behauptungen des Symbolforschers Karl von Spieß widerlegen, der einerseits Zusammenhänge zwischen verschiedenen Motiven, die er zur „Leitgestalt Lebensbaum“ zusammenfasst, konstruierte, und andererseits die Madonna im Ährenkleid als besonders „volkstümlich“ bezeichnete. Mit dem Band „Das Votivbild“35 publizierte KrissRettenbeck nicht nur einen Bestandskatalog aller Votivtafeln der Sammlung Kriss, sondern deutete sie auch kommunikationstheoretisch. Älteren Überlegungen zu „magischen“ Handlungen stellte er rechtliche Begriffe gegenüber, nach denen die Votivtafeln Teil einer „Promulgation“ der Gläubigen seien.36 „Kein Wunder, wenn nach solchen Grundlegungen Lenz KrissRettenbeck 1968 zu den engagiertesten Disputanten der neuen Theoriediskussion gehörte,“37 urteilt Wolfgang Brückner. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts unterzogen einige Volkskundler die Prämissen, Methoden und Erkenntnisziele des Faches einer gründlichen Prüfung. Die Diskussionen kulminierten 1970 in den später so genannten „Falkensteiner Gesprächen“, einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Die „Protokolle“ dieser Fachtagung wurden von Wolfgang Brückner bearbeitet, existieren allerdings nur als Privatdruck.38 Lenz Kriss-Rettenbeck ist darin mit Thesenblättern und Wortbeiträgen mehrfach zitiert. Er zeigt sich als scharfer Kritiker der herkömmlichen Volkskunde, die sich nicht oder unzureichend mit ihrer Verstrickung in nationalsozialistisches Denken auseinandergesetzt hatte. Gleichzeitig lehnt er die Forderungen einiger Fachkollegen ab, den Marxismus-Leninismus zur 33 34 35 36 37 38
Kriss-Rettenbeck, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, S. 42. Brückner, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2006, S. 123. Kriss-Rettenbeck, Lenz: Das Votivbild. München, 1958. S. auch Brückner, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2006, S. 123. Brückner, in: Bayerische Blätter für Volkskunde 10, 1983, S. 6. Brückner, Wolfgang (Hg.): Falkensteiner Protokolle. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1970. Volkskunde in Deutschland. Begriffe – Probleme – Tendenzen. Diskussion zur Standortbestimmung. Frankfurt a. M., 1971.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte Grundlage einer gesellschaftskritischen neuen Volkskunde zu machen. Damit hält er sich in der Mitte zwischen den die Diskussion bestimmenden Polen. Eine erste Ausstellung mit der Sammlung Kriss organisierte KrissRettenbeck 1957 im Frankfurter Karmeliterkloster.39 Als Konservator am BNM konnte er mit ihr 1961 die Abteilung für Religiöse Volkskunde eröffnen. Aus einer Stellungnahme zur Ausstellung von 1960 geht sein Konzept hervor:40 Kriss-Rettenbeck nennt als „zwei entscheidende Gesichtspunkte für die Aufstellung“41 die „doppelte Bedeutung“ der Objekte: „was bedeutet das Objekt an sich, bzw. was stellt sich im Objekt dar, und was bedeutet das Objekt für das Subjekt (Subjekt-Objekt-Beziehung).“42 Entsprechend erklärt er nicht nur die Bedeutung der Dinge, sondern ordnet sie auch nach ihrem Verwendungszusammenhang für die Gläubigen, beginnend beim Einzelnen hin zur Öffentlichkeit: „Zu Beginn galt es die Vorstellung des Gläubigen von Gott und den Heiligen zu zeigen, soweit es [sic] [...] zu seinem persönlichen Gebrauch in der Familie, in 43 Haus und Hof stand.“ Kriss-Rettenbeck stellt die Objekte der häuslichen Andacht an den Anfang, lässt die kirchliche und damit öffentlichere Jesusfrömmigkeit und Heiligenverehrung folgen und thematisiert zum Schluss die Wallfahrten und das Votivbrauchtum. Im Hintergrund von Lenz Kriss-Rettenbecks Konzeption steht somit die Frage nach dem gläubigen Menschen, der mit Gott oder den/ dem Heiligen kommuniziert. Die Kollegen damals erkannten, dass Kriss-Rettenbecks Konzeption die kirchliche Komponente der Sammlungsgegenstände stärker bewertete als Rudolf Kriss dies tat. Brückner zitiert den österreichischen Volkskundler, Freund und Weggefährten von Rudolf Kriss, Leopold Schmidt, anlässlich des Erscheinen des Begleitbandes zur Ausstellung mit den Worten: „Bei Rudolf Kriss wäre bei der Anwendung des Ausdruckes ‚religiöser Volksglauben‘ die Betonung wohl auf ‚Volksglauben‘ gelegen; bei Lenz Kriss-Rettenbeck liegt die Betonung entschieden auf dem Adjektiv, auf ‚religiös‘.“44 39 Wolfgang Brückner arbeitete daran mit. S. Brückner, in: Bayerische Blätter für Volkskunde 10, 1983, S. 3. 40 Kriss-Rettenbeck, Lenz: Zur Aufstellung der Sammlung Kriss im Bayerischen Nationalmuseum. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1960, S. 105 – 110. Kriss-Rettenbeck erörtert auf viereinhalb Textseiten grundlegende Fragen der Ausstellungsgestaltung und gibt dann einen Überblick über die Inhalte der Ausstellung. 41 Kriss-Rettenbeck, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1960, S. 105. 42 Ebd., S. 105. 43 Ebd., S. 107. 44 Zit. bei: Brückner, in: Brückner/Korff/Scharfe, 1986, S. 6.
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Anschauungssache Religion Die ersten beiden Bilder des Begleitbandes zur Ausstellung zeigen dieser neuen Gewichtung entsprechend Luftaufnahmen von Ortschaften: Im Mittelpunkt erhebt sich die Kirche. Erst danach kommen die „Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens“, die Sammlungsgegenstände. Den Auftakt macht hier, analog zur Ausstellungsabfolge, eine Fotografie eines Herrgottswinkels, dem hervorgehobenen Ort häuslicher Andacht. Auch die häusliche, private Andacht erscheint so bereits durch den kirchlichen Glauben geprägt.45 In zu Monographien erweiterten Bestandskatalogen veröffentlichte Kriss-Rettenbeck, wie oben beschrieben, die Votivbilder und später auch die Amulette der Sammlung Kriss.46 Außerdem konzipierte er aufsehenerregende Ausstellungen: 1984 veranstaltete das BNM gemeinsam mit dem Adalbert-Stifter-Verein München die Sonderausstellung „Wallfahrt kennt keine Grenzen“, zu der ein umfangreicher Aufsatzband erschien, in welchem das Thema der christlichen Wallfahrt in historischer Tiefe und europaweiter Perspektive bearbeitet wird.47 1986 eröffnete das BNM in der Zweigstelle Schloss Schleißheim eine Präsentation der Sammlung Gertrud Weinhold, „Das Gottesjahr und seine Feste“.48 Bei der Präsentation dieser Sammlung von Krippen, Osterschmuck und anderen Paraphernalia zu den christlichen Festen richteten sich Lenz Kriss-Rettenbeck und Ingolf Bauer nach den Wünschen der Sammlerin und verzichteten damit teilweise auf eigene wissenschaftliche Deutungen. Zu seinen religionswissenschaftlichen Positionen Lenz Kriss-Rettenbeck stützte sich in seinen religionskundlichen Untersuchungen unter anderen auf Gerardus van der Leeuw (1890 – 1950) und Gustav Mensching (1901 – 1978), beides Forscher mit religionsphänomenologischen Ansätzen. Gustav Mensching bestimmte Religion als „Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.“ In Kriss-Rettenbecks Überlegungen finden sich ähnliche Grundgedanken wie in den Theorien Menschings. Beispielhaft sei auf die Bedeutung, die 45 Kriss-Rettenbeck, 1963, Abb. 1 – 3. 46 Hansmann, Liselotte und Lenz Kriss-Rettenbeck: Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte. München, 1966. 47 Kriss-Rettenbeck, Lenz und Gerda Möhler (Hg.): Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu einer Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums und des Adalbert-Stifter-Vereins, München. München, Zürich, 1984. 48 Kriss-Rettenbeck, Lenz: Gertrud Weinholds „Gottesjahr und seine Feste“ 1986. In: Jahrbuch für Volkskunde 24, 2001, S. 97 – 104; Nagy, Sigrid: Gertrud Weinholds Weg als Sammlerin religiöser Volkskunst. Ebd., S. 65 – 96 und Stößl, Marianne: Sammlung Gertrud Weinhold. Fünfzehn Jahre im Alten Schloß Schleißheim. Ebd., S. 105 – 134.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte beide in ihren Veröffentlichungen zur Sammlung Kriss dem menschlichen Heilstreben zumessen, hingewiesen: Anlässlich der Ausstellungseröffnung im BNM hielt Gustav Mensching einen Vortrag zu „Wesen und Bedeutung des Volksglaubens in den Universalreligionen“.49 Darin definierte er nicht nur die verschiedenen Begriffe (wie im vorigen Abschnitt angedeutet: im Bereich der Universalreligion überleben Elemente der Volksreligion als Volksglauben), sondern erörterte auch einen wesentlichen Unterschied zwischen Volks- und Universalreligion: In der Volksreligion werde „das Heil [...] vorgefunden“, die Mitglieder der Gemeinschaft würden „den positiven Kontakt“ mit der Wirklichkeit des Heiligen erleben.50 In der Universalreligion hingegen „ist nicht das Heil, sondern das Unheil als vorgefundene Existenzform gegeben. Unheil bedeutet Nichtkontakt mit der Welt des Heiligen, Lösung und Isolierung von der Wirklichkeit des Heiligen. Dem vorgefundenen Unheil entspricht das von der Universalreligion angebotene oder erstrebte Heil, das entweder durch eigene Anstrengung oder durch göttliche Wirksamkeit, durch göttliche Gnade gewonnen werden kann.“51
Die „Heilsbedürftigkeit“, das „Heilstreben“ des Menschen ist nun auch ein zentrales Element in Kriss-Rettenbecks Argumentation. Auf ihr beruht seine Anordnung der Sammlung Kriss, die auf den einzelnen Menschen konzentriert ist. Auf das Heilsbedürfnis führt er auch die gliedernden Überschriften seines Ausstellungskonzeptes, zum Beispiel die „Andacht“, zurück, die er wie folgt definiert: „Aus der üblichen konventionellen Bedeutung herausgelöst, ist Andacht das sich in Gefühlen, Gedanken, Worten und Werken aktualisierende Heilsbedürfnis und der sich in religiöser Handlung entfaltende Heilswille.“52 Als heutige/r, sich als empirisch arbeitend verstehende/r Religionswissenschaftler/in würde man diese Sätze so wohl nicht mehr formulieren. In denjenigen der Volkskunde vergleichbaren ideologiekritischen Umwälzungen hat sich die akademische Religionswissenschaft in weiten Teilen von der Religionsphänomenologie gelöst, in der man eurozentrische und theologisierende Elemente erkannte.
49 Mensching, Gustav: Wesen und Bedeutung des Volksglaubens in den Universalreligionen. In: Kommission für Bayerische Landesgeschichte, 1964, S. 69 – 80. 50 Mensching, in: Kommission für Bayerische Landesgeschichte, 1964, S. 70f. 51 Ebd. 52 Kriss-Rettenbeck, 1963, S. 13. Man beachte traditionell religiöse Elemente in der Sprache: In „Gedanken, Worten und Werken“ gesündigt zu haben, erklärt man im Sündenbekenntnis.
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Anschauungssache Religion Daher würde man wohl kaum mehr schreiben, dass sich „der Mensch“ durch einen „Heilswillen“ auszeichnet: nicht nur dank des scheinbar systematischen Begriffes, der bei genauerer Betrachtung christlich-partikular geprägt ist („Heil“), sondern auch im Anspruch, so für alle Menschen zu gelten.53 Man würde Kriss-Rettenbeck Unrecht tun, würde man die anthropologisch-theologisierenden und philosophischen Elemente seiner Schriften zu sehr betonen. Stellenweise nutzt er anthropologische oder philosophische Aussagen nur, um die Entstehung von Kulturtechniken zu erklären, die das eigentliche Anliegen des jeweiligen Aufsatzes sind. So liest man beispielsweise zu Beginn der „Phänomenologie des Votivbrauchtums“: „Der Mensch befindet sich weitgehend im Zustande der Besorgtheit, dies sowohl im Bereich des vitalen Seins, wie auf der seelischen, geistigen und religiösen Ebene. Denn in jedem Augenblick kann eine Krise drohen [...]. Der in Jahrtausenden geprägte Lebensstil des Abendländers lässt ihn mit einer fast automatisch einsetzenden Intention nach einer persönlichen Handlung reagieren, deren Ziel die Vermeidung oder die Abhilfe des Krisenzustandes ist. Der Bogen der persönlichen Handlungsmöglichkeiten spannt sich von einer innerweltlichen, asketischen Selbstbesinnung [...] bis zur äußeren, höchst agilen Tathandlung [...].“
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Es zeigt sich: Die postulierte anthropologische Konstante „Besorgtheit“ dient nur als Einleitung für die Untersuchung eines „Kulturstiles“,55 in diesem Falle für dessen Besonderheit Votivbrauchtum. Dennoch ergibt sich bei der Lektüre der Kriss-Rettenbeck’schen Schriften für den heutigen Religionswissenschaftler ein merkwürdiger Widerspruch: Neben den genauestens historisch verankerten Detailstudien finden sich Aussagen über das Heilige und den homo religiosus, die in ihrer Globalität dem oben zitierten „Jargon der Eigentlichkeit“ ähneln.
53 Im Ausstellungskatalog zu „Wallfahrt kennt keine Grenzen“ stellen KrissRettenbeck und die Mitherausgeberin Gerda Möhler ebenfalls Überlegungen zur Verfasstheit des Menschen an. Sie beschreiben den „homo viator“, den „Menschen, der als Fremder und Pilger in dieser Welt dem himmlischen Jerusalem zustrebt.“ Kriss-Rettenbeck, Lenz und Gerda Möhler: Vorwort der Herausgeber. In: Dies., 1984, S. 8. 54 Kriss-Rettenbeck, Lenz: Zur Phänomenologie des Votivbrauchtums. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1952, S. 75 – 78, hier S. 75. 55 Ebd., S. 75.
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4.2.3 DIE PRÄSENTATION DER SAMMLUNG SEIT 1961
Abbildung 1: Blick in die Vitrine mit einer Figur des Hl. Leonhard und Eisenvotiven, 1961. Foto: Bayerisches Nationalmuseum.
Die Abteilung für Religiöse Volkskunde wurde 1961 in den Sälen 111 bis 117 im Untergeschoss West des BNM eröffnet. Von 1995 bis 2005 war sie im Herzogschloss Straubing zu sehen, bevor sie 2007 im Kloster Asbach eingerichtet wurde. Der folgende Vergleich zwischen den drei Aufstellungen zeigt Kontinuitäten und Veränderungen auf, wobei auch der Anteil der jetzigen Konservatorin, Dr. Nina Gockerell dargestellt wird.56 Anschließend wird überlegt, welche Ergebnisse der geschichtlichen Entwicklung für den Ausstellungsbesuch heute bedeutsam sind.
56 Einige Bilder von der Aufstellung von 1961 sind im Jubiläumsband „Das Bayerische Nationalmuseum 1855 – 2005. 150 Jahre Sammeln, Forschen, Ausstellen“ (Bauer/Eikelmann, 2006) veröffentlicht; im BNM konnte ich weitere Aufnahmen von den Objekten und Vitrinen sowie einige Raumeindrücke und Texttafeln einsehen, ebenso Aufnahmen von der Aufstellung in Straubing.
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Abbildung 2: Blick in die Vitrine mit Votivtafeln und Eingeweidevotiven, 2007. Foto: S. C.
Kontinuitäten und Veränderungen Die Präsentationsästhetik zur Sammlung Kriss wurde über die Jahre hinweg im Großen und Ganzen beibehalten. In allen Aufstellungen werden die Sammlungsgegenstände ohne rahmendes Beiwerk, ohne rekonstruierte Kontexte präsentiert und in Vitrinen, in Wandtableaus oder auf Sockeln ausgestellt. Sie sind gleichmäßig ausgeleuchtet und, sofern sie nicht rundum zu besichtigen sind, stehen oder hängen sie vor einfarbigem, weißem, grauen oder schwarzen Hintergrund. Zur Erklärung der Objekte sind Texte und einige wenige Fotografien beigegeben. Auf Grafiken, Zeittafeln oder ähnliches wird verzichtet. Die Ästhetik strahlt eine gewisse „Sachlichkeit“ und „Nüchternheit“ aus: die Ausstellungsmöbel weisen rechteckige Formen und unbunte Farben auf, die verwendeten Schrifttypen sind „schnörkellos“. Dadurch werden die Sammlungsgegenstände in den Mittelpunkt der visuellen Aufmerksamkeit gerückt. Die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Aufstellungen mag durch zwei Blicke in Vitrinen (Abbildungen 1 und 2) illustriert werden.57
57 Die Bedeutung dieser Art von Inszenierung wird weiter unten noch ausführlicher diskutiert.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte Einige Teile der Aufstellung von 1961 wurden für Straubing und Asbach nicht übernommen: In Straubing und Asbach wurden/werden die Amulette nicht präsentiert. Dr. Nina Gockerell begründet dies damit, dass die Amulette nicht zu den Themen „Bilder und Zeichen der Frömmigkeit“ und „Glaube und Bild“ gehörten, sondern innerhalb der Sammlung Kriss eine Sondersammlung bildeten.58 Die Amulette waren, wie weiter oben angedeutet, auch in der Aufstellung 1961 nicht in die Ausstellung integriert, sondern an deren Rand gerückt.59 In Asbach ist der Bereich „Sterben, Tod und Ewigkeit“ nicht aufgebaut worden, weil hier weniger Platz zur Verfügung stand. Außerdem werden hier keine Wachsvotive gezeigt, weil sie durch die hohen Raumtemperaturen im Sommer Schaden nehmen könnten.60 In weiten Teilen wurde die Konzeption von 1961 jedoch bewahrt.61 Die Abfolge der Themen von der „Andacht“ über die „Christusverehrung“ zu „Wallfahrt“ und „Votivbrauchtum“ blieb dieselbe, ebenso wurden die Objektensembles teilweise übernommen. So wurde beispielsweise an der Zusammenstellung der „Sondervotive“ oder der „Pilgerandenken aus dem Heiligen Land“ zu eigenen Vitrinen nichts oder wenig geändert; das in Asbach zu sehende Tableau der Silbervotive ist sogar die „Originalmontage“ von Kriss-Rettenbeck.62 Ein genauerer Vergleich ergibt allerdings einige Unterschiede, die man als „Straffung“ der Aufstellungen in Straubing und in Asbach gegenüber derjenigen von 1961 bezeichnen könnte. 1961 waren die Objekte thematisch weniger scharf getrennt und die Abfolge
58 Brief von Dr. Gockerell an die Verf. vom 23.04.2008. 59 Ein Foto von 1961 zeigt sechs nebeneinander aufgehängte, schmale, hochformatige Tableaus, auf deren rechtem ein Text zu „Amulett und Talisman“ zu lesen ist. Alle Tableaus sind mit dunklem Stoff bezogen und zeigen unter den Überschriften „Stein“, „Baum / Kraut“, „Tier / Mensch“, „Sacra und Charaktere“, „Gestalt“ und „Situation“ insgesamt 294 verschiedenartige Objekte: Rosenkränze, Breverln, Kreuze, Reliquienbehälter und vor allem Anhänger in großer Zahl (Fotoaufnahmen aus dem Archiv des BNM, Abteilung Volkskunde). Diese sechs Überschriften gliedern auch den oben erwähnten Band „Amulett und Talisman“. 60 Auskunft von Dr. Gockerell, 19.10.2007. 61 Sie lässt sich dank der genauen fotografischen Dokumentation der Aufstellung gut rekonstruieren (Fotoaufnahmen aus dem Archiv des BNM, Abteilung Volkskunde). Weiter oben wurde die Erläuterung der Sammlung durch Kriss-Rettenbeck selbst erwähnt. Er nimmt darin eine Gewichtung vor, die meines Erachtens eine subjektive Auswahl darstellt und weniger die quantitativen Verhältnisse in der Ausstellung widerspiegeln soll (KrissRettenbeck, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1960, S. 105 – 110.). 62 Hinweis von Dr. Gockerell, 19.10.2007.
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Anschauungssache Religion der Vitrinen war nicht so linear: Tableaus mit Votivbildern zum Beispiel fanden sich in allen Räumen und in vielen Vitrinen wurden Votivbilder und Weihegaben, sofern sie zum jeweiligen Heiligen oder zum gezeigten Marientypus in inhaltlicher Beziehung standen, zu den anderen Objekten hinzugefügt. Manche Themen wurden in weiter hinten liegenden Räumen wieder aufgegriffen. In Straubing und in Asbach hat Dr. Gockerell die Objekte stärker nach Sachgruppen getrennt und eine stringentere Reihenfolge eingeführt. Um dies an einem Beispiel auszuführen: Abbildung 3 zeigt eine Vitrine von 1961 mit Objekten rund um die Wallfahrt zur „Maria vom Bogenberg“. Neben den Statuen sieht man ein Votivbild und wächserne, hölzerne und eiserne Votivgaben (Hämmer und Schlüssel). In der heutigen Aufstellung sind unter den Positionen 38 bis 40 Statuen der schwangeren Maria (vom Bogenbergtypus und andere), Klosterarbeiten und andere Darstellungen der schwangeren Maria sowie Wallfahrtszettel und -medaillen vom Bogenberg ausgestellt. Die Votivgaben sind anderen Themen zugeordnet: Der Hammer (Inv.-Nr. Kr H 74) und der Schlüssel (Inv.-Nr. Kr E 364) etwa sind jetzt auf Pos. 51 bei den „Sexualvotiven“ zu sehen. Dadurch wird jetzt die Bogenberg-Madonna stärker in den Mittelpunkt gerückt: Sie wird als ein besonderer Typus der „Maria in der Hoffnung“ vorgestellt, der zum Mittelpunkt einer Wallfahrt wurde. In der Präsentation von 1961 kam hingegen durch die Beigabe der Votivgaben auch der Grund für die Wallfahrt (Kinderwunsch) in den Blick, der allerdings mehrere Wallfahrtsziele, nicht nur die Wallfahrt zur Maria vom Bogenberg, kennzeichnet. Jetzt wird der Kinderwunsch gemeinsam mit anderen Wallfahrtsanlässen (Augenleiden et cetera) zu eigenen Vitrinen unter der Rubrik „Votiv- und Weihegaben“ zusammengestellt. Aktuelle Akzente an der Sammlung Kriss Insgesamt ist die Präsentation der Sammlung Kriss im BNM, in Straubing und Asbach von hoher Kontinuität geprägt. Wesentliche Teile der Konzeption sowie die Präsentationsästhetik bestehen seit nunmehr fast 50 Jahren. Wie oben gezeigt, nahm Dr. Gockerell Änderungen vor, die die Konzeption stringenter machen. Die Themen wurden in eine festere Abfolge gebracht und die Objekte eindeutiger einzelnen Themen zugeordnet. Außerdem erarbeitete Dr. Gockerell die im Vergleich zu anderen Ausstellungen sehr zahlreichen Ausstellungstexte, bei denen sie besonderen Wert auf Leserfreundlichkeit legte: Die Texte umfassen immer nur wenige Absätze, die durch das Layout und durch Zwischenüberschriften zusätzlich gegliedert sind. Der Satzbau ist klar, außerdem wurde bei den Zeilenumbrüchen der Lesefluss berücksichtigt. Durch eine anschauliche Spra-
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte che entstanden Ausstellungstexte, die sich leicht und flüssig lesen. Sie verfasste für Straubing und Asbach Begleitbücher.63
Abbildung 3: Vitrine mit Objekten zur Muttergottes vom Bogenberg, 1961. Foto: Bayerisches Nationalmuseum.
Klassisch und souverän Die Ausstellungsgeschichte ist für die Besucherinnen und Besucher natürlich nicht sichtbar. Jedoch werden drei Charakteristika der Ausstellung „Glaube und Bild“, die mit ihrer Geschichte zusammenhängen, auch beim ersten Ausstellungsbesuch spürbar: Erstens nimmt jede Besucherin, jeder Besucher die Präsentationsästhetik wahr. Es ist eine Präsentationsästhetik, mit deren klaren Linien und zurückhaltenden Farben inzwischen der Anspruch erhoben werden kann, außerhalb der Moden zu stehen (das war zur Einführung dieser Präsentationsästhetik im Zuge der Neuen Sachlichkeit natürlich noch anders). Ihre oben beschriebene Sachlichkeit oder Nüchternheit kann auch als „klassisch“ empfunden werden. Dieses „Klassische“, dauerhaft Bleibende nimmt man, sofern man mit der Ästhetik musealer Präsentationen vertraut ist, sicherlich wahr. Es bettet die Inhalte der Ausstellung in eine scheinbar zeitlich ungebundene, überzeitlich gültige Atmosphäre ein. Zweitens gibt es keine Brüche, Risse oder überraschenden Wendungen in der Abfolge der Vitrinen. Die Besucher schreiten von einem Thema zum nächsten, jedes wird mit großer Materialfülle präsentiert, wobei Texte und Ausstellungsstücke eng aufeinander 63 Gockerell, 1995 und dies.: Glaube und Bild. Erscheint vorauss. 2009.
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Anschauungssache Religion abgestimmt sind. Der Umgang mit dem Material ist souverän – er hat nichts Tastendes, Ausprobierendes, Experimentelles. Auch ohne zu ahnen, dass dies das Ergebnis jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Sammlung ist, wird für die Besucher die Souveränität der „Gesten des Zeigens“ (Muttenthaler/Wonisch) spürbar. Damit hängt ein drittes Charakteristikum der Ausstellung zusammen. Die Ausstellungstexte liefern sehr viele Erklärungen zu Begriffen, Handlungen und Bedeutungen. Die Erklärungen sind als Definitionen und Setzungen gehalten, beispielsweise: „Andacht ist ein geistiger Akt, der eine ganz bestimmte psychische Grundhaltung voraussetzt.“64 „Der Mensch hat besonderes Zutrauen zu seinem Namenspatron und zu Heiligen ‚für besondere Anliegen’.“65 „Das Wasser des Brunnens, den diese Marienfigur zierte, galt als besonders heilkräftig, weil es durch ihre Brust hindurchfloss.“66
Diese Texte sind natürlich ebenfalls ein Ergebnis der langen Arbeit mit der Sammlung. Ihren definitorischen Grundton kann man jedoch auch beim ersten Lesen wahrnehmen. Indem die Texte Definitionen liefern, wird die durch sie vorgenommene Erklärung als richtig und als die wichtigste Deutung vorgeführt. Alles, was noch im Zusammenhang mit dem Begriff oder dem Gegenstand zu sagen wäre, wird durch die Definition als zweitrangig verdrängt. Das gibt den Besuchern das Gefühl, dass in der Ausstellung „Glaube und Bild“ sachliche, wissenschaftliche Aussagen getroffen werden. Die bisherigen Ausführungen zur Wissenschafts- und Ausstellungsgeschichte zeigen folgendes: Mit der Ausstellung „Glaube und Bild“ wird die Sammlung Kriss im Wesentlichen in der Interpretation von Lenz Kriss-Rettenbeck gezeigt. Der Volkskundler Kriss-Rettenbeck vertrat religionsphänomenologische Positionen, die sich auch in der Ausstellungskonzeption niederschlugen. Wahrscheinlich auch aufgrund der langen Arbeit an und mit dieser Sammlung erscheint sie in der musealen Präsentation weniger als eine mögliche Interpretation ihrer Gegenstände, denn als die zutreffende, richtige. Dies wird in der Präsentationsästhetik, in der Sicherheit des Präsentations-
64 Texttafel „Andacht. Der Mensch gestaltet sein häusliches Umfeld zum Andachtsraum“, Stand: Oktober 2007. 65 Überschrift der Texttafel „Heiligenverehrung. Der Mensch hat besonderes Zutrauen zu seinem Namenspatronen und zu Heiligen ‚für besondere Anlässe’“, Stand: Oktober 2007. 66 Objektbeschriftung zur Brunnenmadonna Inv.-Nr. Kr K 193, Stand: Oktober 2007.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte gestus und in der sprachlichen Gestaltung der Ausstellungstexte auch beim erstmaligen Ausstellungsbesuch spürbar. Bevor die Interpretation der Sammlungsgegenstände nun genauer untersucht wird, soll auf eine weitere Besonderheit der Asbacher Ausstellung hingewiesen werden: Den Weg zur Ausstellung kann man auch als Anmerkung zum Thema gelebter und musealisierter Kultur lesen.
4.3 Der Weg in die Ausstellung: Kulturen, räumlich verdichtet Die Entscheidung, die Sammlung Kriss in der Zweigstelle Kloster Asbach zu zeigen, fiel aufgrund eines Sachzwanges. Das Untergeschoss im Bayerischen Nationalmuseum war noch nicht saniert, als die Stadt Straubing, wo die Sammlung zuvor zehn Jahre lang zu sehen war, die Leihverträge nicht mehr verlängern konnte. Mit Kloster Asbach standen Räumlichkeiten in einer Gegend zur Verfügung, die von zahlreichen Touristen besucht wird. Der Ausstellungsort legt der musealen Präsentation jedoch immer, unabhängig von den Gründen, die zu seiner Wahl führten, erste Bedeutungen bei. Kloster Asbach ist ein kulturelles Zentrum. Im folgenden wird gezeigt, dass die Anlage und die Räumlichkeiten Abbild und Modell für verschiedene Arten von Kultur sind, wodurch die Spannung zwischen gelebter und musealisierter Kultur erlebbar wird. Kloster Asbach liegt „in landschaftlich reizvoller Situation“67 auf einem Hügel über dem Rottal, nahe beim Markt Rotthalmünster. Rotthalmünster wird dem sogenannten „Bäderdreieck“ zugerechnet, das sich zwischen Bad Füssing, Bad Griesbach und Bad Birnbach erstreckt. Ihrer Thermalquellen wegen wurden diese Orte ab den 1950er Jahren zu bekannten Kurorten. Die Gegend ist touristisch gut erschlossen. Asbach liegt in der Nähe des 5000-EinwohnerOrtes Markt Rotthalmünster. Die meisten Besucher der Ausstellung sind Kurgäste und Leute, die aus anderen Gründen in der Region Urlaub machen. Da Asbach nur wenige Male am Tag von Linienbussen angefahren wird, reisen die meisten individuell oder mit Bustouren an: über Landstraßen, durch Waldabschnitte, Wiesen und Felder zur Klosteranlage, dessen Kirchturm das höchste Gebäude der Ortschaft ist. Mit den weiten Tälern, Hügelketten und den Alpen im Hintergrund bieten sich nach allen Richtungen hin ländliche, dörfliche Ansichten. Im Schnell-und-Steiner-Kunstführer zum Kloster Asbach wird das Ensemble folgendermaßen eingeführt:
67 Seelig, in: Bauer/Eikelmann, 2006, S. 649.
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Anschauungssache Religion „Im tiefsten Herzen Niederbayerns, im Rottaler Bäderdreieck, liegen auf einer kleinen Anhöhe über dem Tal des Flusses Rott, nicht weit von Bad Griesbach entfernt, die Pfarrkirche St. Matthäus und das ehemalige Benediktinerkloster Asbach. [...] Mit seiner großartigen Cuvilliés-Kirche, einem architektonischen Juwel, gelang es Asbach in den Status eines kulturellen Wallfahrtsortes aufzusteigen. Seit 1984 beherbergen die renovierten Klostergebäude ein Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums, [...]. Das reichhaltige Angebot von Konzerten, Tagungen und Seminaren macht das Kloster mit Hotel und Restaurant zu einem Ort der Begegnung und Weiterbildung inmitten einer bezaubernden Landschaft.“68
Zur kulturellen Nutzung des Klosters kommen, wie angedeutet, noch weitere: Ein Gebäudeflügel dient als Hotel. Neben dem Eingang zum ersten Klosterhof liegt ein Restaurant. Vom ersten Innenhof aus gelangt man in den Trauungssaal des Marktes Rotthalmünster. Die Klosterkirche dient als Pfarrkirche, um die herum sich der Friedhof ausbreitet. Das ehemalige Kloster ist also nicht nur ein „kulturelle[r] Mittelpunkt des Landkreises Passau“69 und Anziehungspunkt für Touristen, sondern auch für die Einheimischen ein Zentrum, ein Treffpunkt und Schauplatz von Beerdigungen, Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten. Die Architektur verknüpft alle diese Funktionen. Kirche und „Rathaus“ (Trauungssaal), Museum, Gasthaus und Hotel funktionieren hier nicht getrennt, sondern im wörtlichen Sinne „alle unter einem Dach“. Das Nebeneinander von Klosterschänke, Kirche, Freizeiteinrichtung und so weiter macht Kloster Asbach zu einem Ort gelebter Kultur. Mit dem Betreten des Museums verlassen die Besucherinnen und Besucher die dörfliche Idylle und betreten einen deutlich als „Museum“ markierten Raum.70 Im fensterlosen Gang, der sich hinter der Eingangstür erstreckt, ist linkerhand gleich die Kasse, dahinter auf der rechten Seite ein Ständer mit Schriften und Informationsmaterialien. Zur Ausstellung „Glaube und Bild“ gelangt man durch einen Teil des ehemaligen Kreuzganges und über eine Treppe. Oben steht man im Obergeschoss des Kreuzganges und kann nun durch eine offen stehende Tür den ersten der drei Ausstellungsräume betreten oder rechts daneben die Portraitbüste von Rudolf Kriss ansehen und drei einleitende Texte zu seiner Person und zu seiner Sammlung lesen. Wie weiter oben beschrieben, lenken die
68 Trum, 2007, S. 2f. 69 Seelig, in: Bauer/Eikelmann, 2006, S. 650. 70 Die ehemalige Funktion der Räume als Konventsgebäude tritt demgegenüber zurück. Dass die Anlage einst ein Kloster war, wird zwar in allen Veröffentlichungen erwähnt, und es werden auch Kontinuitäten zur heutigen Nutzung hergestellt – aber diese Tatsache kann man meines Erachtens unter die Beschreibung der Anlage als „Zentrum“ subsumieren.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte Inszenierungsmittel die Aufmerksamkeit der Besucher auf die Objekte. Dennoch nehmen die Besucher auch die Inszenierungsmittel wahr. Diese verkörpern eine „typische“ Museumssituation: Es gibt Vitrinen mit gläsernen Einlegeböden und geschlossener Rückwand, Tischvitrinen, Sockel mit Glasstürzen, Wandtableaus und Texttafeln. Die Objekte sind gut ausgeleuchtet, es herrscht ein gleichmäßiges Licht. Die Außenwelt ist durch die milchigen Scheiben nicht sichtbar. Nichts lenkt die Aufmerksamkeit von den Ausstellungsstücken und -texten ab. Abgesehen vom gelegentlichen Knarren der Dielen oder einem leise gesprochenen Kommentar der anderen Besucher ist es still. Zwei Aufseher, die gelegentlich in den Blick kommen, zeigen, dass die Dinge bewacht werden. Die dörfliche Szenerie mit ihren Geräuschen, Gerüchen und Bildern gelangt nicht in die Ausstellungsräume. Diese fordern vom Besucher, sich ganz auf die Inhalte der Ausstellung zu konzentrieren, zu schauen und zu lesen. Wenn die Ausflügler also über den Friedhof gehen, um die frühklassizistische Kirche zu besichtigen, dann das Museum anschauen und anschließend in der Gastwirtschaft essen, werden sie zu Akteuren in ganz verschiedenen kulturellen settings. Die immer bestehende Spannung zwischen gelebter und musealisierter Kultur wird durch den Ort und die Inszenierung der Sammlung Kriss räumlich verdichtet.
4.4 Der Mensch als Gliederungselement und Bezugspunkt der Ausstellung Nach einer Beschreibung der Ausstellung wird nun gezeigt, dass der Mensch in seinen verschiedenen Frömmigkeitsformen Gliederungselement und Bezugspunkt der Ausstellung ist. Diese Beobachtung wird anschließend auf darin enthaltene Aussagen über den Menschen und die Religion befragt.
4.4.1 AUSSTELLUNGSBESCHREIBUNG Neben dem Eingang zum ersten Ausstellungssaal ist auf einer Stele eine Portraitbüste von Rudolf Kriss zu sehen. Drei Texttafeln informieren über „De[n] Sammler Rudolf Kriss“ und „Die Sammlung zum Volksglauben Europas“. Betritt man nun den ersten Raum, fällt der Blick möglicherweise zuerst auf eine Texttafel gegenüber der Tür, die die Überschrift „Andacht. Der Mensch gestaltet sein häusliches Umfeld zum Andachtsraum“ trägt. Außerdem sieht man Podeste, Tisch- und Standvitrinen sowie Wandtableaus, in denen die zahlreichen Sammlungsstücke (über 1500) aufbewahrt sind. Die Ausstellungsmöbel sind längs der Wände aufgereiht und im Raum grup101
Anschauungssache Religion piert. Der Gesamteindruck der drei Räume ähnelt sich. Es herrschen helle Grautöne und die Farben von gefasstem Holz vor, von denen sich einige buntere Objekte (im ersten Raum zum Beispiel die zahlreichen Hinterglasbilder mit Heiligendarstellungen) abheben. Größere, teilweise einzeln gezeigte Plastiken ziehen den Blick auf sich, an den Wandtableaus und in den Tischvitrinen sind verschiedene kleinformatige Objekte in oft größerer Zahl versammelt. Neonröhren und einzelne Strahler verbreiten ein helles, gleichmäßiges Licht in den hohen, weiß getünchten Räumen. Es gibt zwei Sorten von Texttafeln: sieben etwa 2,30 m hohe, im Grundriss dreieckige Pfeiler, die auf einer Seitenfläche mit jeweils einem Text und auf den anderen Seiten mit jeweils einem Schwarz-Weiß-Foto versehen sind, und zahlreiche halbhohe, querrechteckige Textpulte, auf deren schräger Oberseite lediglich Texte abgedruckt sind. Durch die Anlage der drei Ausstellungsräume hintereinander und durch die Markierung des ersten Raumes als Beginn wird den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung „Glaube und Bild“ eine Bewegungsrichtung vorgegeben. In den einzelnen Räumen sind die Ausstellungsstücke und Texte jedoch auf keiner festen Führungslinie angeordnet. Eine Gliederung der Ausstellung ergibt sich daher in erster Linie durch die sieben Text-Bild-Pfeiler, deren Überschriften die Themen der ringsum gruppierten Vitrinen und Tableaus benennen.71 Gliederung und Inhalt der Ausstellung können insofern durch die Überschriften der sieben hohen Text-BildPfeiler zusammengefasst werden: „Andacht / Der Mensch gestaltet sein privates Umfeld zum Andachtsraum.“ „Anwendung / Die Kirche stellt geweihte Dinge zur Verfügung, die den Gläubigen Schutz und Heilung verheißen.“ „Christusverehrung und Passion / In den kirchlichen Osterbräuchen erlebt der Gläubige die Geschehnisse der Passion und Auferstehung.“ „Heiligenverehrung / Der Mensch hat besonderes Zutrauen zu seinem Namenspatron und zu Heiligen ‚für besondere Anlässe.’“ „Marienverehrung / Maria gilt als wichtigste Fürsprecherin der Menschen.“ „Wallfahrt / Der hilfsbedürftige Mensch fühlt sich den himmlischen Mächten an bestimmten Orten besonders nahe.“ „Votivgaben / Der hilfsbedürftige Mensch verdeutlicht seine Bitte und seinen Dank durch Votivgaben.“72 71 Die zahlreichen weiteren Texte auf den halbhohen Textpulten sind den Einleitungstexten durch Gestaltung und Inhalt deutlich untergeordnet. Sie sind durch Layout und Zwischenüberschriften wiederum so gegliedert, dass die Leserinnen und Leser leicht zwischen allgemeiner gehaltenen und spezielleren Informationen unterscheiden können. 72 Stand: Oktober 2007. Die hier genannte Reihenfolge entspricht einem Ausstellungsbesuch vom ersten zum dritten Raum. Im Herzogschloss Straubing wurde zwischen den hier an zweiter und dritter Stelle aufgezählten
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte Diese sieben Themen werden durch die Objekte und weiteren Texte detaillierter entfaltet. Zum Einleitungstext „Christusverehrung und Passion“ beispielsweise finden sich unter anderem folgende Unterkapitel: „Passion / Palmsonntag und Palmweihe“, „Passion / Gründonnerstag“, „Passion / Karfreitag“ oder „Christusverehrung / Die Christusportraits“ und „Christusverehrung / Die Geheimen Leiden“. Meistens entspricht eine Vitrine oder ein Objektensemble einem auf einem Textpult ausgearbeiteten Unterthema, mit anderen Worten: Der Text „Palmsonntag und Palmweihe“ steht neben einer Vitrine mit Palmbuschen, Palmwedeln und Kränzchen aus Palmkätzchen; der Text „Gründonnerstag“ begleitet Abbildungen des Letzten Abendmahles und Kultgerät für den Gründonnerstagsgottesdienst und die Fußwaschung, und so weiter. Die Objekte sind also teilweise nach Sachgruppen oder Verwendungszweck, teilweise thematisch nach Abbildungen zusammengefasst. Der Rundgang endet bei Votivtafeln und Votivgaben.
4.4.2 ZUM MENSCHENBILD IN DER AUSSTELLUNG Die sieben oben zitierten Themen werden in Beziehung zum Menschen gesetzt: „Der Mensch gestaltet sein häusliches Umfeld [...]“, „Der Mensch verdeutlicht seine Bitte [...]“ und so weiter. Gleichzeitig zeigt sich eine deutliche Charakterisierung des Menschen als der „Gläubige“ oder als „hilfsbedürftig“. Im folgenden wird daher überlegt, welche „Bilder vom Menschen“ in der Ausstellung „Glaube und Bild“ generiert werden. Dazu werden die Objekte, die Ausstellungstexte und -bilder befragt. Bei den Objekten selbst, in den Vitrinen und anderen Objektensembles gibt es keine visuellen oder andersartigen Andeutungen
Stationen das Thema „Sterben, Tod und Ewigkeit / Der Mensch trifft Vorsorge für den eigenen Tod und Nachsorge für Verstorbene“ präsentiert. Aus der Reihenfolge der Überschriften kann man leicht die Idee eines dreifachen Kreises entnehmen, dem gleich sich die Religiosität um den einzelnen Gläubigen lagert. Die häusliche Andacht als direktes Umfeld, die kirchliche Verehrung von Jesus, Maria und den Heiligen als nächst öffentlichere Religionsausübung und schließlich das in der Wallfahrt öffentlich gemachte „Bekenntnis zur eigenen Heilsbedürftigkeit“ – der Einzelne übt seine Religion privat, in engerer und in weiterer Öffentlichkeit aus: Dr. Gockerell spricht von „konzentrischen Kreisen“, denen die Kriss-Rettenbeck’sche Konzeption folgt (Gespräch am 17.10.2007; S. dazu Kriss-Rettenbecks Erläuterungen von 1960, beispielsweise: „Bei der Darbringung von Votivgaben tritt die Person aus dem häuslichen und auch aus dem persönlichen Bereich heraus und sucht die Begegnung mit Gott oder den Heiligen an einem bestimmten heiligen Ort.“ Kriss-Rettenbeck, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1960, S. 107.)
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Anschauungssache Religion von Menschen. Wie bereits beschrieben, kommt die Präsentation ohne Hintergrundbilder, Rekonstruktionen, Figurinen oder ähnliches aus. So findet sich in keiner Vitrine der Schattenriss eines Menschen, der den Rosenkranz betet, eine Figurine, die ein Ausstellungsstück trägt, oder ähnliches. Lediglich auf den Schwarz-WeißFotografien der Text-Bild-Pfeiler sind Menschen portraitiert.73 Trotzdem wird alles auf den Menschen bezogen. Die ausgestellten Stücke werden als für Menschen wichtig und bedeutsam, als von Menschen hergestellt, benutzt, gekauft, verehrt oder geweiht dargestellt: Die Menschen bringen Pilgerandenken mit, weihen den Heiligen Votivgaben, beten den Rosenkranz, hängen sich Bilder von Heiligen auf, und so weiter. „Der Mensch“ ist damit nicht nur gliederndes Element der Ausstellung, wenn man die sieben Themen und die Dreiteilung der Frömmigkeit von „privat“ bis „öffentlich“ betrachtet (s. Anm. 72), sondern auch deren zentraler Bezugspunkt. Was für ein Mensch ist das? Zum einen wird in der Ausstellung von zahlreichen Persönlichkeiten erzählt, die für die Entwicklung von Frömmigkeitsformen bedeutsam waren (beispielsweise Bernhard von Clairvaux oder die Bäuerin Maria Lori, die den späteren „Wiesheiland“ bei sich aufstellte), Personen, die im Zusammenhang mit Heiligenlegenden eine Rolle spielten (etwa König Wenzel IV. von Böhmen, der den Hl. Nepomuk töten ließ) sowie von den Heiligen selbst. Zum anderen beziehen sich Texte und Bilder neben diesen konkreten, teilweise historischen Persönlichkeiten auch oft auf den Menschen im allgemeinen. In den Ausstellungstexten kehrt häufig die Wendung „der Mensch“ wieder (wie in den oben zitierten Überschriften: „Der Mensch hat [...] Zutrauen [...]“). Teilweise ist es auch „der Gläubige“ oder „der Pilger“, der in Singularform für zahlreiche andere Menschen steht. Andere Sätze weisen Passiv-Konstruktionen auf oder nennen als Subjekt der Handlung „man“, so zum Beispiel im folgenden Abschnitt:
73 Die Fotografien zeigen verschiedene Motive. Auf dreien sind keine Menschen zu sehen: auf dem in Abschnitt 4.5.1 beschriebenen Foto eines Herrgottswinkels und auf den Aufnahmen einer Lüftlmalerei mit dem Hl. Florian und eines Flurkreuzes. Auf einigen Bildern agieren Menschen in alltäglichen Lebenszusammenhängen, die die christliche Bilder- und Zeichensprache aufweisen: Ein Paar steht vor einer mit „C+M+B“ gekennzeichneten Tür; eine junge Frau tränkt ihr Vieh vor einem mit einer Heiligenfigur bekrönten Brunnen; ein Mann schmückt eine Kuh mit dem Christusmonogramm IHS. Die Mehrzahl der Bilder zeigt Menschen, die ihre Religion ausüben. Man sieht die Aufnahmen eines vor einem Altar knienden Mannes, von Prozessionen, von einer Wallfahrt, von Frauen auf dem Weg zur Kirche und ähnliches.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte „Heiligenverehrung / Volkstümliche Heilige und Namenspatrone / Als Taufnamen für Kinder wurden und werden gerne die Namen vielverehrter Heiliger gewählt. Man verspricht sich vom Namenspatron Schutz und Beistand und verehrt ihn oder sie mehr als die anderen Heiligen. [...]“74
Die Besitzer und Benutzer der ausgestellten Gegenstände bleiben also in der Regel anonym. Dies ist in vielen volkskundlichen Ausstellungen so und hängt mit der Fachgeschichte der Volkskunde ebenso wie mit der Geschichte der Sammlungen zusammen: Oft sind die vormaligen Besitzer oder die Hersteller tatsächlich unbekannt. Deren Anonymität wird in „Glaube und Bild“ nicht problematisiert, sondern in den Sammelbezeichnungen aufgehoben, was im folgenden näher betrachtet werden soll. „Der Mensch“ bleibt in der Ausstellung nicht unbestimmt. Er erhält durchaus Konturen. Schon durch die Überschriften wird er als „Gläubiger“ und als „hilfsbedürftig“ beschrieben.75 Die „Gläubigen“, die Vorbesitzer, Hersteller und Benutzer werden durch die ausgestellten Objekte, durch die Bilder und Texte außerdem implizit charakterisiert. Der Komplex der Verehrung des Hl. Leonhard zum Beispiel bezieht sich auf Menschen, die Vieh besitzen. Neben dem Hl. Leonhard werden mit Isidor und Notburga Heilige präsentiert, die als Schutzpatrone der Knechte und Mägde Verehrung genießen. Alles, was Schutz vor Gewitter verheißt,76 gehört ebenfalls zu einer bäuerlichen Gesellschaft, der es die Ernte verhageln kann. Schließlich zeigen einige Fotografien ländliche Gegenden, Menschen in alpenländischer Tracht oder Menschen, die durch ihre Beschäftigung zum bäuerlichen Umfeld zugeordnet werden können (Kuh schmücken, Vieh tränken, s. Abbildung 4). Dadurch entstehen regionale
74 Texttafel „Heiligenverehrung / Volkstümliche Heilige und Namenspatrone“, Stand: Oktober 2007. 75 Die erste Überschrift „Andacht“ bildet eine Ausnahme. Bei der „Heiligen-“ und der „Marienverehrung“ kommt zwar nicht das Wort „hilfsbedürftig“ vor, es werden jedoch Sachverhalte beschrieben, nach denen der Mensch Hilfe, Schutz oder Fürsprache erhält oder benötigt. 76 In der Abteilung „Anwendung“ sind in einer Vitrine mehrere Wettersegen ausgestellt (Inv.-Nummern Kr K 261, Kr K 263, Kr K 266, Kr K 282, Kr K 283 und andere). Außerdem wird in den Texten zu den geweihten Palmbuschen und zum Auferstehungschristus darauf hingewiesen, dass man die geweihten Kätzchen bei drohendem Gewitter ins Feuer warf, bzw. dass man die Richtung, in die die Christusfigur beim Hochziehen blickte, zum Wetterorakel benutzte (Texte „Christusverehrung / Auferstehung Christi“ und „Passion / Palmsonntag und Palmweihe“, Stand: Oktober 2007.).
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Anschauungssache Religion und soziale Zuordnungen (Alpenraum, bäuerliche Gesellschaft), die sich mit der Herkunft der meisten ausgestellten Stücke decken.77
Abbildung 4: Bildsäule „Bauer schmückt Vieh“. Foto: S. C.
Bedeutsam ist, dass diese Zuordnungen nicht thematisiert werden, sondern neben Aussagen über „den Menschen“ oder „den Gläubigen“ im allgemeinen gestellt werden. Statt mit ihnen Einschränkungen in den Frömmigkeitsformen vorzunehmen, wird durch sie gewissermaßen ein Idealtyp des gläubigen Menschen hergestellt. Dieser Idealtyp wird anschaulich in den Fotografien, die keine Unterschriften tragen und also nicht durch Angaben zu Ort, Datum, Anlass und den fotografierten Personen spezifiziert werden. Die Motive der Bilder werden damit den Bedingungen von Raum und Zeit entzogen und zu Visualisierungen des gläubigen Menschen an sich. Um die hierdurch ausgelassenen Differenzierungen aufzuzählen und die Charakterisierungen ex negativo zusammenzufassen: • Geschlecht: In der Regel wird in den Ausstellungstexten die männliche Sprachform verwendet. Hinweise auf eventuelle Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Frömmigkeitsformen sind selten. Sie kommen als Andeutungen auf frauen-
77 Zu den etruskischen Votivgaben, den griechischen Silbervotiven und anderen Objekten, die nicht aus dem Alpenraum kommen, werden natürlich Herkunftsangaben gemacht. Meines Erachtens werden diese aber weniger für regionale Unterscheidungen genutzt, als dass sie im Sinne einer überregionalen und zeitlich unabhängigen Geltung des im folgenden zu beschreibenden Idealtyps interpretiert werden können.
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spezifische „Kindsnöte“ und „Frauenleiden“ vor. Damit werden die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern thematisiert, jedoch nicht die gender-Problematik.78 Konfession: Die ausgestellten Frömmigkeitsformen sind größtenteils katholischen Ursprungs.79 Gleichzeitig wird die konfessionelle Zugehörigkeit der Akteure in der Regel nicht thematisiert. „Die Kirche“ kann in den Texten für die katholische Kirche stehen.80 Vereinzelte Hinweise auf die Entstehung einer Frömmigkeitsäußerung „nach der Gegenreformation“ oder „im Barock“ scheinen eher historische Zuordnungen zu sein und erläutern die Konfessionalisierung nicht näher.81
78 Als Beispiel sei aus dem Einleitungstext zur Marienverehrung zitiert: „Die Verehrung Mariens begann mit dem Konzil von Ephesus, das ihr im Jahr 431 den Titel ‚Gottesgebärerin’ zusprach. Maria gilt als Universalpatronin, der zahllose Kirchen geweiht, Wallfahrten eingerichtet und Feste zugeordnet wurden. In besonderer Weise ist sie Beschützerin der Kranken, der Reisenden zu Wasser und zu Land, der Krieger und der Heere, des Ledigenstandes und der Kinder. [...] Maria ist vor allem für Frauen in ihren spezifischen Nöten Fürsprecherin, denn in ihr sieht man zuallererst die Mutter. So wurden Marienwallfahrten in den zahlreichen „Kindsnöten“ aufgesucht und Kinder am liebsten unter ihren Schutz gestellt. / Dargestellt wird Maria zumeist mit dem Jesuskind [...].“ Stand: Oktober 2007. Dr. Gockerell begründet die Verwendung der männlichen Sprachform mit stilistischen Überlegungen. Die Anliegen von Frauen seien kenntlich gemacht. Brief von Dr. Gockerell an die Verf. vom 23.04.2008. 79 Ausnahmen sind vor allem das griechische und etruskische Votivbrauchtum. 80 So in der Überschrift zum Einleitungstext „Andacht“: „Die Kirche stellt geweihte Dinge zur Verfügung, die den Gläubigen Schutz und Heilung verheißen“ oder im Text zur Dreifaltigkeit: „Die volkstümliche Verehrung der Dreifaltigkeit setzte erst nach der Reformation ein. Der Versuch, die Dreifaltigkeit sinnbildlich darzustellen, führte zu Bildgestalten, die die Kirche verwarf [...].“ Anders wiederum im Einleitungstext: „Heiligenverehrung“: „Die katholische Kirche versteht unter Heiligen [...].“ Stand: Oktober 2007. 81 Beispiele für Epochenbestimmungen ohne Verweis auf die Konfessionalisierung: „[...] Diese Vorstellungen der ‚imitatio’, der Nachahmung Christi, sind für uns Heutige oft schwer verständlich, wenngleich auch in unserer Zeit Personen wie Therese von Konnersreuth oder Pater Pio, die die Stigmata der Kreuzigung an sich trugen, große Verehrung genießen. Um das Mit-Leiden der Gläubigen nachhaltiger anzuregen, wurden einzelne Motive aus der Betrachtungsliteratur nach der Zeit der Gegenreformation in Bilder umgesetzt.“ (Text „Passion / Die Geheimen Leiden“, Stand: Oktober 2007.) Oder: „[...] Viele der gotischen Mariengnadenbilder wurden in der Barockzeit mit kostbaren Seiden- und Brokatgewändern bekleidet und mit Schmuck behängt. Nachbildungen dieser Gnadenmadonnen dienten zu Hause als Erinnerung an die Wallfahrt und als privates Andachtsbild.“ Ein-
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Institution/alisierung: Die beschriebenen Frömmigkeitsformen wurden teils von Laien, teils von Klerikern oder Ordensangehörigen initialisiert und geformt. Sie wurden teils von der katholischen Kirche gefördert, teils nur geduldet und teils unterdrückt. Der Grad der kirchlichen Einflussnahme und die Zugehörigkeit der Akteure zum geistlichen oder weltlichen Stand wird jedoch nicht systematisch reflektiert. Soziale Zugehörigkeit: Zahlreiche Ausstellungsstücke und -texte sind nur vor dem Hintergrund bäuerlicher Produktionsweise verständlich, wobei die soziale Zugehörigkeit der Gläubigen nicht Gegenstand der Ausstellung ist. Nur die ausführlichen Erläuterungen zur Fabrikation der Hinterglasbilder widmen sich Arbeits- und Produktionsbedingungen.82 Auch wird nicht unterschieden zwischen Bauern und ihren von Erbe oder Heiratsmöglichkeiten ausgeschlossenen Geschwistern, Knechten und Mägden.
Kurzum: Unterschiede zwischen den Gläubigen werden nicht problematisiert, nicht systematisch erfasst. Dies lässt sich auf zweierlei Weise interpretieren. Einerseits kann man es als Aussage über die Stellung und den Wert der verschiedenen Gläubigen verstehen. Indem die Unterschiede nicht erfasst werden, rücken sie in den Hintergrund. Dadurch tritt die katholische Bäuerin „gleichberechtigt“ neben den Jesuitenpater, oder genauer gesagt, beide werden in der Ausstellung als im Glauben gleich dargestellt. Andererseits kann man folgern, dass, unterschiedslos, keine realen Menschen gemeint sein können, sondern ein Idealtyp des Menschen, ein homo religiosus präsentiert wird. Diese Interpretationen schließen sich nicht gegenseitig aus. Die eine entspricht christlichen Überzeugungen, die andere wohl auch den Intentionen von Rudolf Kriss und Lenz KrissRettenbeck, die mit der Sammlung und deren Präsentation zu einem Teilbereich von Religion forschen und vermitteln wollten.83
leitungstext: „Marienverehrung / Maria gilt als wichtigste Fürsprecherin der Menschen“, Stand: Oktober 2007. 82 Im Begleitbuch zur vorherigen Ausstellung in Straubing wird auf die bürgerliche Kleidung mancher Votanten hingewiesen (Gockerell, 1995, S. 103, Abb. 83.). Da es sich dabei um Wachsvotive handelt, werden sie in Asbach nicht gezeigt. 83 Dr. Gockerell weist darauf hin, dass Idealtypen zu konstruieren die einzige Möglichkeit für die Konservatoren sei: Für andere Aussagen fehlt es an detaillierteren Informationen. Brief von Dr. Gockerell an die Verf. vom 23.04.2008.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte
4.4.3 FOLGERUNGEN FÜR DEN RELIGIONSBEGRIFF Welches Licht wird dadurch auf die Idee von „Religion“ geworfen? Um dieser Frage nachzugehen, werden die bisherigen Interpretationen, der Ausstellungstitel, Teile des Einleitungstextes „Die Sammlung zum Volksglauben Europas“ sowie das Flyer- und Plakatmotiv weiter untersucht, denn explizite Definitionen oder Erklärungen zu den Begriffen „Glaube“, „Religion“ oder „Volksglaube“ bietet die Ausstellung nicht an. Zunächst ist festzuhalten, dass hier nicht „Religion“ ausgestellt wird, sondern „Glaube und Bild“. „Religion“ wird demnach nur als „Glauben“ fassbar, als Äußerung des homo religiosus, die privat und gemeinschaftlich gelebt wird. Genauer gesagt, die ausgestellten Gegenstände werden als bildliche Äußerung des Glaubens präsentiert.84 Dies ist die einzige direkte Erklärung zur Kategorisierung der Sammlungsobjekte, die sich in der Ausstellung findet. Sie steht im Einleitungstext „Die Sammlung zum Volksglauben Europas“, in dem festgehalten wird, dass neben dem „spontanen Handeln des einzelnen Gläubigen“ auch die „Gebundenheit an Überlieferung“ die Herstellung der Gegenstände beeinflusst: „In den bildlichen Gestaltungen der religiös geprägten Umwelt äußert sich Gebundenheit an Überlieferung ebenso wie spontanes Handeln des einzelnen Gläubigen. Der Mensch versucht mit oft einfachen gestalterischen Mitteln, theologische Aussagen und religiöse Inhalte für sich selbst verständlich zu machen, indem er sie in Bilder umsetzt. Dabei kommt es häufig zu groben Mißverständnissen und zur Einbeziehung durchaus vor- und außerchristlicher, ja sogar außerreligiöser Motive.“85
84 Das „und“ im Ausstellungstitel wird in den Ausstellungstexten nicht näher ausgedeutet. 85 Letzter Abschnitt der Texttafel „Die Sammlung zum Volksglauben Europas“. Der vollständige Text lautet: „Die Sammlung zum Volksglauben Europas / Unter dem Eindruck der volkskundlichen Sammlung seiner akademischen Lehrerin Marie Andree-Eysn begann Rudolf Kriss bereits als Student, in seiner Heimat um Berchtesgaden und im südöstlichen Bayern Zeugnisse des Volksglaubens zu sammeln. Der Radius seiner Sammeltätigkeit wie auch seiner Reisen erweiterte sich im Laufe seines Lebens über Mittel- und Südeuropa bis in den Vorderen Orient und schließlich ins christliche Äthiopien. In all diesen Gebieten hat er auf wissenschaftlicher Grundlage Votivund Weihegaben, Amulette und Gebetszettel, Zauberrollen und Andachtsbilder, religiöse Graphik, Schutz- und Segenszeichen zusammengetragen. / Rudolf Kriss hat nie nach ästhetischen Kriterien ausgewählt. Einzig und allein die Bedeutung eines Objektes entschied über dessen Aufnahme in seine Sammlung: zum einen die Bedeutung für den Hersteller, zum anderen die Bedeutung für den Besitzer und Benutzer. / In den bildlichen Gestaltungen [...].“ Stand: Oktober 2007.
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Anschauungssache Religion So werden zwar soziokulturelle Bedingungen als zweiter wichtiger Faktor benannt, aber der Text betont letztlich den einzelnen Gläubigen, der sich „theologische Aussagen und religiöse Inhalte [...] verständlich“ zu machen versucht. Durch das Motiv, das für die Plakate und Flyer zur Ausstellung verwendet wird, erhält der Begriff „Glaube“ eine weitere Ausdeutung. Das Motiv zeigt folgendes (s. Abbildung 5): Vor bordeauxfarbenem Hintergrund sind der Ausstellungstitel sowie Ort und Institution in weißen beziehungsweise hellroten Buchstaben zu lesen. Die knappe Textinformation wird durch die Abbildung einer Votivtafel ergänzt, auf der ein Unfall und die dabei helfende Maria mit Jesuskind dargestellt sind. In der oberen Mitte des Bildteils befindet sich eine Frau kopfüber im freien Fall. Der Kirschbaum, von dem sie offenbar herunterfiel, ist, die ganze Bildhöhe einnehmend, rechts dargestellt. Leiter und Henkelkorb zeigen, dass die Frau beim Kirschenpflücken war. Kopf und Arme der Frau sind leicht nach links oben gestreckt, wo in einer gelben Gloriole eine Maria mit dem Jesuskind zu sehen ist. Die Abbildung einer Kirche in der linken unteren Ecke vervollständigt den Bildteil der Votivtafel, der durch einen schwarzen Strich vom unteren Textteil abgetrennt ist. Dort steht zu lesen: „Durch die Anrufung Maria ist geholfen worden. 1882“. Das Bild ist auf den ersten Blick einfach zu verstehen: Die Darstellung beschränkt sich auf wenige, charakteristisch gestaltete Elemente. Der Text ist auch ohne paläographische Übung lesbar. Nur für die Erscheinung in der Gloriole brauchen die Betrachter ein gewisses Vorwissen. Was sagt das Gesehene aus? Erstens stellt das Bild einen Menschen in einer konkreten, physischen Gefahr dar. Die „Hilfsbedürftigkeit“ des Menschen, die in den Ausstellungstexten genannt wird, kommt schon hier zum bildlichen Ausdruck. Zweitens deutet das Bild den im Ausstellungstitel genannten „Glauben“ doppelt aus: Der „Glaube“ kann als das Vertrauen auf Beistand verstanden werden, welches die Rettung herbeiführte, oder als die gewissermaßen nachträgliche Überzeugung, dass es die Anrufung Marias war, die geholfen hat. In jedem Fall ist der Glaube eine persönliche Überzeugung. Drittens weist das Bild in seiner scheinbar einfachen Gestaltung über den dargestellten Einzelfall hinaus. Auf diesen bezieht sich nur die kleine Jahreszahl. Alle anderen Elemente entsprechen Typen, sind „typisch“. Die Kleidung der Frau (Kopftuch und Arbeitskleidung mit Schürze) erscheint als „Tracht“ den Moden und damit der Abfolge der Jahre entzogen. Das Gebäude könnte überall stehen, Kirschenpflücken wird man jedes Jahr. Die gefährliche Situation trat sicher schon oft ein und kann genau so wieder eintreten. Die Bedeutung des Dargestellten über den Einzelfall hinaus wird auch durch das nobilitierende Bordeaux als Hintergrundfarbe herausgestellt.
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Abbildung 5: Flyer für „Glaube und Bild“. Gestaltung: Florian Raff, München. Quelle: Bayerisches Nationalmuseum.
Diese drei Aussagen kombiniert heißen: Der Glaube hilft in der Gefahr, in welche alle Menschen geraten können; die Anrufung Marias hilft. Die Bildunterschrift wiederholt dies als Faktum in einer Passivkonstruktion, die frei von individuellen Anklängen und Ausdeutungen ist. Insofern stellt das Bild nicht nur „Glauben“, sondern „Glaubensgewissheit“ dar. Glauben als Gewissheit, als persönliche Überzeugung des homo religiosus – in dieser Betrachtungsweise wird ein Religionsbegriff zweitrangig. Denn für das Leben des einzelnen Gläubigen ist sein persönlicher Glaube entscheidend. Der Fokus wird in der Asbacher Ausstellung vom abstrakten, metasprachlichen Begriff weggerückt und auf die Erfahrung des Subjekts verlegt. Diese veränderte Betrachtung der Sammlung Kriss zeigt sich auch an der Folge der drei verschiedenen Ausstellungstitel: Die alte Aufstellung im Bayerischen Nationalmuseum hieß „Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens“. Die Bezeichnung „religiöser Volksglaube“, bei der es sich offensichtlich um eine wissenschaftliche Fremdbezeichnung handelt, war schon in Straubing gegen einen auch objektsprachlich zu verstehenden Begriff eingetauscht („Bilder und Zeichen der Frömmig111
Anschauungssache Religion keit“). Für Asbach strich Dr. Gockerell das abstrakte „Zeichen“ und stellte den „Glauben“ an die erste Stelle: „Glaube und Bild“. Die Singularform der beiden Worte evoziert Einheit(-lichkeit) anstelle von Pluralität. Ob und wie der Glaube durch die Ausstellung inhaltlich festgelegt wird, wird weiter unten diskutiert.
4.5 Zum Inhalt der Ausstellung: Konzentration auf den Kern der Dinge und Konstruktion desselben Zuletzt wird der Umgang mit den Dingen in der Ausstellung untersucht. Es wird gezeigt, wie Inszenierung und Erklärungen als Kern, als wichtigste Bedeutung der Objekte ihre Zeichenhaftigkeit für den „Glauben“ herausstellen. Anschließend wird diskutiert, ob und wie dieser „Glaube“ durch die Dinge weiter bestimmt wird.
4.5.1 INSZENIERUNGSMITTEL: DIE DINGE IN DEN MITTELPUNKT STELLEN Die Inszenierungsmittel in „Glaube und Bild“ rücken die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher auf die Objekte. Die Vitrinen, Podeste und anderen Ausstellungsmöbel sind in jeweils unifarbenen Grautönen gestrichen, was den Blick auf die Formen und Farben der Objekte lenkt. Einige schwarze Hintergründe wirken weniger selbst, als dass sie die Objekte hervorheben. Die Vitrinen sind Ausstellungsmöbel, wie sie für verschiedenste Arten von Dingen verwendet werden. Mit anderen Worten: als „normaler“ Museumsbesucher ist man ihre Erscheinungsform gewohnt und beachtet sie, wenn man nicht gerade ein spezielles Interesse an Ausstellungsmöbeln hat, nicht weiter. Auch die Ausstellungsräume beanspruchen kaum Aufmerksamkeit (s. Abbildung 6): Mit Dielenboden, weiß getünchten Wänden und Flachdecken, akzentuiert durch Fenster, Holztüren und eine schmale Zierleiste unter der Decke, sind die Räume viel unauffälliger als die ausgemalten, restaurierten Prunkräume in anderen Teilen der Klosteranlage oder die überwölbten Räumlichkeiten der Abguss-Sammlung. Selbst auf ihre Bewegungen müssen die Besucherinnen und Besucher nicht besonders achten (sofern sie den Museums-Habitus beherrschen und nichts anfassen): Die Größe und Aufteilung der Räume und die Gliederung der einzelnen Abschnitte ist auf einen Blick erkennbar, so dass man sich „mühelos“ zurechtfindet. Diese Art der musealen Präsentation wird alle Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher auf die Dinge und Texte (die durch Zahl und Stellung ein herausragendes Gestaltungselement sind) lenken, wird ihre Bewegungen auf die Dinge und Texte hin ausrichten. Die Besucher werden sich auf die Dinge und die Texte konzentrieren. 112
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Abbildung 6: Raum III mit Silbervotiven (li.),Votivgaben und Votivtafeln (re.). Foto: Bayerisches Nationalmuseum
4.5.2 DEKONTEXTUALISIERUNG: DIE ZEICHENHAFTIGKEIT DER DINGE BETONEN Ein Beispiel zeigt, dass die ausgestellten Dinge ihres ehemaligen Kontextes enthoben werden, wodurch ihre Zeichenhaftigkeit betont wird: Mit dem Betreten des ersten Raumes finden sich die Besucher vor einem Podest, auf dem hinter einer Absperrung ein Getreidesack, eine Tragbütte für Maultiere, ein Brotschneidemesser und ein Hobel ausgestellt sind.86 Der Sack ist hinter Glas an eine Stellwand gehängt, auch das Messer hängt dort. Der Hobel steht aufrecht vor der Wand und weiter vorne auf dem trapezförmigen Podest ist die Bütte (Abbildung 7). Alle Objekte tragen christliche Zeichen oder sind mit religiösen Themen bemalt, weshalb sie hier zum Thema „Andacht / Der Mensch gestaltet sein privates Umfeld zum Andachtsraum“ (so die Überschrift zum einleitenden Text rechts vor dem Ensemble) ausgewählt wurden.87
86 Getreidesack, Inv.-Nr. 73/246; Tragbütte, Inv.-Nr. 15/73 (Katalog-Nr. 32 in: Kriss-Rettenbeck, 1963); Brotschneidemesser, Inv.-Nr. 12/310 und Hobel, Inv.-Nr. 62/88. 87 Die vier Objekte sind, gemeinsam mit einem Schrank, die einzigen „Gebrauchsgegenstände“, die in der Ausstellung gezeigt werden. Die Unterscheidung in „Gebrauchsgegenstände“ und andere führt hier nicht weiter, da ja gerade Dinge gezeigt werden, die zwar alltäglich gebraucht wurden, aber durch ihre bildliche Gestaltung nicht rein profan zu verstehen sind. Mit anderen Worten: auch einer Trennung von „profan“ und „sakral“ entziehen sich die Gegenstände.
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Abbildung 7: Ensemble gegenüber des Eingangs. Beim Betreten des Raumes befinden sich die Besucher weiter rechts als die Fotografin. Man steht dem Podest also frontal gegenüber. Foto: Bayerisches Nationalmuseum.
Die Dinge werden als Teil des visuellen Alltags eingeführt: Durch die Überschrift zum „privaten Umfeld“ erklärt, werden Objekte aus verschiedenen Arbeitszusammenhängen gezeigt, wodurch ihre Alltäglichkeit und große Reichweite angedeutet wird: Ein Getreidesack wurde ja nicht zu Hause, in der Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände verwendet, sondern zum Müller gebracht. Ein Brotschneidemesser wird jeden Tag verwendet. Die Dinge sind, obwohl verziert, alltäglich, ubiquitär – und sie sind christlich markiert. Die christliche Markierung der Alltagsgegenstände verkörpert das, was im Begleittext die „religiöse Durchdringung des alltäglichen Lebensraumes“88 genannt wird. Gleichzeitig ist diese Inszenierung kein Nachbau, keine Rekonstruktion des Alltags: Die Objekte sind als Solitäre nebeneinander gestellt; die unregelmäßige Grundform des Podestes verhindert die Assoziation eines Innenraumes; Podest und Absperrung weisen die Dinge als Museumsstücke aus. Es wird keine Rekonstruktion ihres Entstehungs- oder früheren Verwendungszusammenhanges geboten, sondern sie werden aus ihren ehemaligen Kontexten herausgelöst. Als Solitäre ohne Verweise auf ihre Herstellung und Funktion
88 Texttafel „Andacht / Der Mensch gestaltet sein häusliches Umfeld zum Andachtsraum“, Stand: Oktober 2007.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte sind sie „nur noch sie selbst“.89 Dadurch wird das Interesse des Betrachters auf ihre Zeichenhaftigkeit gelenkt, sie werden als Zeichenträger eingeführt. Zeichenträger sind natürlich auch die anderen Objekte. Die Votivbilder, Rosenkränze, Weihegaben, Pilgerandenken, Hinterglasbilder und so weiter, die für den rituellen Gebrauch oder für die Erinnerung an religiöse Erlebnisse hergestellt wurden, sind von vorneherein „Semiophoren“, Bedeutungsträger im Sinne Krzysztof Pomians. Die Art der Inszenierung betont auch ihre Zeichenhaftigkeit. Eine Besonderheit der Inszenierung wird noch einmal besonders deutlich, wenn man eine der Fotografien neben dem Ensemble betrachtet. Es zeigt einen von der Sonne hell beschienenen Innenraum, im Fokus des Fotos ein Herrgottswinkel.90 Dieses Bild kann als Ergänzung und programmatischer Gegenentwurf zum eben beschriebenen Ensemble verstanden werden: Unter dem Thema „Der Mensch gestaltet sein privates Umfeld zum Andachtsraum“ stellt man sich, sofern man sich mit süddeutscher Volkskunde auskennt, wahrscheinlich meist einen „Herrgottswinkel“ vor: Einst und heute in katholischen Haushalten weit verbreitet, stehen „Herrgottswinkel“ für die Präsenz von Jesus, Maria und den Heiligen genau dort, wo sich die Familie versammelt. Nachgebaute Herrgottswinkel finden sich in zahlreichen Museen, zum Beispiel in den Bauernstuben im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und im Freilichtmuseum des Bezirks Oberbayern an der Glentleiten.91 Durch das oben beschriebene Ensemble aus Mehlsack, Brotschneidemesser und so weiter wird gewissermaßen ein Gegenpol dazu aufgebaut. Der Herrgottswinkel ist zwar Teil der Stube, aber er hebt die dort versammelten Dinge aus dem Alltag heraus, er schafft einen kleinen Sakralraum. Auch wenn dort Dinge aufbewahrt werden, die jeden
89 S. dazu die in Abschnitt 3.4.1 referierte, von Doering/Hirschauer beschriebene „Verwandlung von Museumsstücken zu ‚sich selbst’“. Doering, Hilke und Stefan Hirschauer: Die Biographie der Dinge. Eine Ethnographie musealer Repräsentation. In: Hirschauer, Stefan und Klaus Amann (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main, 1997, S. 267 – 297. 90 Das andere Foto auf der Bild-Texttafel „Andacht / Der Mensch gestaltet sein häusliches Umfeld zum Andachtsraum“ zeigt einen Bauern, der eine Kuh schmückt. Den Schmuck krönt das Christusmonogramm IHS. S. Abb. 4, Stand: Oktober 2007. 91 In beiden Institutionen sind Objekte der Volksfrömmigkeit auch in anderen Präsentationsweisen zu sehen: Die Ästhetik der Inszenierung „Frömmigkeit, 19. Jahrhundert“ des Germanischen Nationalmuseums ist derjenigen des BNM und von Kloster Asbach vergleichbar. Im Freilichtmuseum an der Glentleiten werden Objekte der Volksfrömmigkeit außerhalb des Museumsdorfes in Sonderausstellungen präsentiert.
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Anschauungssache Religion Tag Verwendung finden (zum Beispiel ein Rosenkranz), sind sie für den religiösen Gebrauch gemacht – anders als das Brotschneidemesser. Mit dem Brotschneidemesser, der Bütte und den anderen Dingen wird die Präsenz religiöser Zeichen immer und überall hervorgehoben.
4.5.3 ERKLÄRUNGEN: DIE RELIGIÖSE BEDEUTUNG ERFASSEN Wie weiter oben schon angedeutet, erklären die Ausstellungstexte die Bedeutung der Objekte.92 Genauer gesagt, sie fassen die religiöse Bedeutung der Bilder in Worte. Nur die schon erwähnten Texte zu den Hinterglasbildern widmen sich vorrangig einem anderen Thema, nämlich der Herstellung der Bilder. Vereinzelt finden sich weitere Hinweise auf sozialgeschichtliche Bedingungen, zum Beispiel in der Erwähnung der ortsansässigen Silberschmiede, die Silbervotive „in schlichterer oder teurer Ausführung“ herstellten.93 Im Großteil der Texte werden jedoch religiöse Bedeutungen dargelegt, wie zwei Zitate belegen mögen: „Sakramentalien / Die Zunge des Heiligen Johannes von Nepomuk / Der hl. Johannes von Nepomuk (um 1350 – 1393) war Geistlicher in Prag und Beichtvater der Bayerischen Prinzessin Sophie, der Gemahlin König Wenzels IV. von Böhmen. Als er das Beichtgeheimnis der Königin trotz Folter bewahrte, wurde er auf Befehl König Wenzels in die Moldau gestürzt. Als sein Leichnam auf dem Wasser schwamm, ohne unterzugehen, sollen fünf goldene Sterne sein Haupt umgeben haben; sie wurden als die Buchstaben des lateinischen Wortes ‚tacui’, das heißt: ‚ich habe geschwiegen’, gedeutet. / Bei der Erhebung der Gebeine des hl. Johannes im Jahr 1715 wurde im Kopf ein unverwester Teil gefunden, den man für seine Zunge – sozusagen das Instrument seiner Treue – hielt. Johannes von Nepomuk – im Jahr 1729 heiliggesprochen – wird aufgrund seiner Lebensgeschichte vor allem bei Ängsten vor Verleumdung oder übler Nachrede um Hilfe angefleht. Darüber hinaus ist er aufgrund seines Martyriums durch Ertrinken Schutzpatron der Schiffleute; seine Darstellung ziert zahllose Brücken in Böhmen und Bayern. Nachbildungen seiner angeblich unverwesten Zunge wurden in Wachs oder Silber hergestellt und als Amulette getragen.“94
92 Vorrangig werden die Objekte durch die Texte gedeutet. Da die Gegenstände oft nach Typen zusammengefasst sind (Rosenkränze, Eingeweidevotive, ...) und nicht durch Rekonstruktionen und ähnliches in Szene gesetzt sind, erfahren sie innerhalb einer Vitrine keine gegenseitige oder weitere Deutung. Die Metakonnotation im Sinne Jana Scholzes durch die Inszenierungsmittel wurde weiter oben angedeutet. 93 Texttafel „Votivgaben / Silbervotive“, Stand: Oktober 2007. 94 Texttafel „Sakramentalien / Die Zunge des Heiligen Johannes von Nepomuk“, Stand: Oktober 2007.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte „Votivgaben / Der Sexualbereich / Auf Krankheiten im Bereich der Geschlechtsorgane und auf Schwierigkeiten bei Zeugung und Geburt konnte nicht auf ähnlich deutliche Weise hingewiesen werden wie etwa auf Erkrankungen und Verletzungen der Gliedmaßen. So wurden symbolhafte Darstellungen gewählt, die bestimmte Organe zeichenhaft abbilden oder Situationen verschlüsselt wiedergeben. / Die Gebärmutter wurde entweder in Form einer Kröte aus Holz oder Wachs oder als hölzerne Stachelkugel dargestellt. Seit dem 16. Jahrhundert wird die Kröte als Symbol für Frauenleiden in den Mirakelbüchern genannt. Diese Zuordnung geht auf halbwissenschaftliche Traktate zurück, denen zufolge die Gebärmutter ein frei im Körper der Frau lebendes, krötenartiges Tier sei, das bei seinen Wanderungen im Unterleib Schmerzen verursache. Wesentlich einfacher ist die Stachelkugel mit ihrer großen Zahl spitz zulaufender, also schmerz-verursachender Stacheln zu interpretieren. / Der Schlüssel dürfte allgemein als Geburtssymbol verstanden und deshalb als Zeichen für den Wunsch nach Kindersegen geopfert worden sein. / Der Hammer gilt vielfach als Zeichen der Vereinigung von Mann und Frau und deshalb als Symbol für die Zeugung. So dürften Hämmer ebenfalls Kinderwunsch ausdrücken; darauf lässt auch der Ort ihrer Darbringung schließen: etwa bei der Muttergottes von Bogenberg.“95
Mit diesen beiden Texten kann gleichzeitig die Bandbreite der in „Glaube und Bild“ zu lesenden Erklärungen beispielhaft verdeutlicht werden: Neben detaillierten Berichten zu Heiligenlegenden und zur Kirchengeschichte finden sich Erklärungen zu Symbolen, zu einzelnen Wallfahrtsorten, zu Pilgerbräuchen und vieles mehr. Generell gilt: Die Texte beziehen sich immer auf einen Typus von Gegenständen, nicht auf einzelne Objekte, zu denen, wie gesagt, auch detaillierte Informationen fehlen. Die Texte deuten den Typus in Hinblick auf seinen religiösen Verwendungszusammenhang: Die Nepomukszungen als Amulette gegen Verleumdung, die Schlüssel als Votivgaben bei Kinderwunsch, die Kätzchen der Salweide als Mittel, das Passions- und Ostergeschehen nachzuerleben sowie als Heilmittel, et cetera. Damit verbleiben die Erklärungen in einem religiösen Sinnhorizont. Der Hl. Nepomuk zum Beispiel tritt als Beschützer und Patron auf, dessen „Bedeutung“ sich ganz aus seinem persönlichen Martyrium ergibt. Eventuelle andere Interessen, die bei der Bergung seiner Gebeine und seiner Heiligsprechung über 300 Jahre später eine Rolle spielten, werden in dieser Betrachtungsweise zweitrangig.96 Die Erklärungen der Ausstellung zur religiösen Bedeutung greifen nicht über einen religiösen Sinnhorizont
95 Texttafel „Votivgaben / Der Sexualbereich“, Stand: Oktober 2007. 96 Norbert Wolf weist zum Beispiel darauf hin, dass die Jesuiten sich um einen böhmischen Heiligen bemühten, der als Identifikationsfigur an die Stelle des 1415 verbrannten Jan Hus gesetzt werden könnte. Wolf, Norbert: Die Macht der Heiligen und ihrer Bilder. Stuttgart, 2004, S. 295.
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Anschauungssache Religion hinaus, sie führen die religiöse Bedeutung nicht auf andere Faktoren zurück.97
4.5.4 KERN UND NORM Die Objekte in „Glaube und Bild“ werden also als Zeichenträger eingeführt. Vor allem durch die Texte wird ihre religiöse Bedeutung erläutert. Mehrere Faktoren führen dazu, dass diese religiöse Bedeutung als Kern der Dinge erscheint: Erstens wird die religiöse Bedeutung in den Begleittexten sehr ausführlich erläutert. Zweitens werden kaum andere Informationen zu den Objekten gegeben. Drittens sieht man in den Vitrinen vielfach gleichartige Objekte zusammengefasst, wodurch der Typus hervorgehoben wird. Die einzelnen Anhänger, Votivgaben oder Palmbuschen erscheinen, aneinander gereiht, als Varianten eines Typus, weniger als Stücke mit einer eigenständigen Biographie.98 Was sie verbindet, ist ihr religiöser Verwendungszusammenhang. Mit anderen Worten: Die religiöse Bedeutung der Dinge wird in den Mittelpunkt gestellt. Diese Feststellung mag banal klingen, ist „Glaube und Bild“ doch schließlich eine Ausstellung der religiösen Volkskunde. Es wird damit jedoch eine Entscheidung getroffen, auf die noch einmal hingewiesen werden soll: Es entsteht hierdurch die Idee einer Religion, die nicht auf außerreligiöse Faktoren zu reduzieren ist. Religion ist nicht Projektion des Menschen, „Opium fürs Volk“ oder anderes, sondern etwas substanzhaft Gegebenes. Die in „Glaube und Bild“ präsentierte religiöse Bedeutung der Dinge erscheint als weitgehend losgelöst von soziokulturellen, psychologischen, wirtschaftshistorischen oder sonstigen Faktoren. Wie in den Überlegungen
97 Die im Einleitungstext „Die Sammlung zum Volksglauben Europas“ angesprochenen „vor- und außerchristliche[n], ja sogar außerreligiöse[n] Motive“ bei der Bildgestaltung werden in der Ausstellung sehr knapp abgehandelt (s. Abschnitt 4.4.3). Es gibt zum Beispiel Hinweise auf das Missverständnis, das zur Entstehung der Hl. Kümmernis führte, auf das Verbot bestimmter Darstellungen der Trinität und auf den Bau von Ottilienkapellen in der Nähe alter Quellheiligtümer. 98 Herkunftsort und Entstehungszeit sind auf separaten Blättern vermerkt, nicht in den Vitrinen. Dr. Gockerell arbeitet daran, die Sammelbedingungen zu erfassen. Dr. Gockerell wertet dieses Charakteristikum der Präsentation ganz anders: Statt Typen zu konstruieren, könnte durch die Menge der Ausstellungsstücke verdeutlicht werden, „wie sehr sich der jeweilige Gläubige, Wallfahrer etc. am Üblichen orientiert hat, wie stark die Normenbildung war, der sich jeder ganz selbstverständlich unterworfen hat. Es ging nicht darum, aufzufallen, sondern darum, sich so zu verhalten, wie ‚es der Brauch war’.“ Brief von Dr. Gockerell an die Verf. vom 23.04.2008.
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Katholizität und Wissenschaftsgeschichte zum Menschenbild dargelegt, werden kaum Differenzierungen des Gläubigen zum Beispiel nach Konfession, Geschlecht oder Berufsstand vorgenommen, was einem Idealtyp des Gläubigen, einem homo religiosus gilt. Ähnliches gilt für „die“ religiöse Bedeutung, denn sie wird den Dingen von eben jenem homo religiosus beigelegt. Die Votivgaben, Rosenkränze und Hinterglasbilder kommen nicht als Distinktionsmittel, kaum als regionalspezifisch, kaum als epochenspezifisch oder konfessionstypisch vor, sondern, wie gesagt, als Träger einer von historischen Bedingungen losgelösten religiösen Bedeutung. Von historischen Bedingungen abzusehen, heißt auch, die religiöse Bedeutung mindestens teilweise absolut zu setzen. Und hier eröffnet sich das Problem, dass derartig „absolute“ Bedeutungen normativ verstanden werden können. Wenn etwas als Kern einer Sache beschrieben wird, kann es zum Kriterium für Ausschlüsse werden, kann es zur Norm werden. Meines Erachtens geschieht das in „Glaube und Bild“ zum Beispiel in Blick auf die Konfessionen. Katholische Frömmigkeitsformen erscheinen nicht als historischer Spezial-, sondern als Normalfall der Glaubensäußerungen.99
4.6 Zusammenfassungen und Ausblicke 4.6.1 EXKLUSIV ODER INKLUSIV „KATHOLISCH“? Wie oben beschrieben, wird in „Glaube und Bild“ ein „Kern“ der Objekte, des Glaubens, der Religion präsentiert, der Allgemeingültigkeit beansprucht und dennoch partikular ist: Der „Kern“, der Normalfall des Glaubens wird illustriert durch Frömmigkeitsformen des bäuerlich-katholischen Alpenraumes. Das mag der Situation in Kloster Asbach durchaus entsprechen. Es wird auch einem Großteil der Sammlung Kriss gerecht. Und es kann auch mit katholischem Selbstverständnis zur Deckung gebracht werden: Nach katholischem Verständnis umfasst „katholisch“ schließlich alle christlichen Konfessionen. „Katholisch“ muss nicht exklusiv verstanden werden. Aber auch ein inklusivistisches Verständnis ist meines Erachtens höchstens in religiösen Kontexten angemessen, nicht in wissenschaftlichen. Vielleicht habe ich in der Ausstellung übersehen, dass die ausgestellten Objekte und präsentierten Bedeutungen immer nur als historische Sonderfälle gemeint sind. Explizit gemacht wird es kaum.
99 Dr. Gockerell weist auf die Möglichkeit hin, weitere Spezifizierungen durch Besucherführungen vorzunehmen. Mehr oder längere Texte hält sie für ungünstig. Brief von Dr. Gockerell an die Verf. vom 23.04.2008.
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4.6.2 REHABILITIERUNG DES VOLKSGLAUBENS Wissenschaftsgeschichtlich stellt „Glaube und Bild“ gewissermaßen eine Rehabilitierung des Volksglaubens dar. Einst als Objektivationen einer mentalité primitive gesammelt, werden die Dinge nun konsequent im Rahmen christlicher Lehren interpretiert. Die Schutzund Segensmittel zum Beispiel, in protestantischer Polemik immer als Äußerungen von Magie und Aberglauben verdächtigt, werden als von der katholischen Kirche bereitgestellt präsentiert. Und auch dort, wo Unterschiede zur Orthodoxie benannt werden, wird die praxis pietatis breiterer Schichten in Hinblick auf erstere, nicht als „Magie“, als Überbleibsel älterer Vorstellungen oder ähnliches gedeutet.100 So kommt die Gesamtheit der Frömmigkeitsformen in den Blick.
4.6.3 RELIGION ALS FESTE GRÖSSE Schließlich ist „Glaube und Bild“ eine Ausstellung, die die „Bedeutung“ von Religion auch im Sinne ihrer einstigen Verbreitung und Wertschätzung vor Augen führt. Die weite Verbreitung der religiösen Zeichenträger wird durch ihre Alltäglichkeit und auch durch ihre schiere Menge verdeutlicht. Die Menschen erscheinen als der überirdischen Hilfe „bedürftig“, sie wenden sich in kleineren alltäglichen und in existenziellen Problemen an Maria, an die Heiligen und an die Trinität. Es wird eine „Glaubensgewissheit“ präsentiert,101 die sicher auch als Stellungnahme zum religiösen Pluralismus, zu religiösen „Patchworkidentitäten“ und anderen aktuellen Diskussionen zu verstehen ist.
100 So beginnt beispielsweise der Einleitungstext zu „Heiligenverehrung / Der Mensch hat besonderes Zutrauen zu seinem Namenspatron und zu Heiligen ‚für besondere Anliegen’“ mit folgendem Abschnitt: „Der Heiligenkult steht nicht selten im Widerspruch zum Dogma, das die Verehrung der Heiligen als Fürbitter streng geschieden wissen will von der Anbetung, die nur den drei göttlichen Personen gebührt.“ Stand: Oktober 2007. Die Spannungen werden benannt, aber das Phänomen „Heiligenkult“ nicht in „Auswüchse“ und „kirchlichen Teil“ geschieden, wodurch ersteres aus dem christlichen Rahmen herausfallen würde. 101 Dr. Gockerell merkt an, dass sich dies „aus der Tatsache [ergebe], dass den Besuchern – gerade angesichts der Fülle der Themen und der Objekte – klare Aussagen angeboten werden müssen und keine Abwägungen von Meinungen.“ Brief von Dr. Gockerell an die Verf. vom 23.04.2008.
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5. DAS MUSEUM SCHNÜTGEN: ZUR BEDEUTUNG UND TRADIERUNG DER VERBINDUNG VON KUNST
UND
RELIGION
Wahrscheinlich lagern die meisten musealisierten Objekte aus den Religionen in Kunstmuseen. Schon die Bezeichnung „Kunstmuseum“ zeigt, dass die Dinge hier nicht wegen einer etwaigen religiösen Bedeutung ausgestellt, sondern als „Kunstwerke“ präsentiert werden. Der Aspekt der Säkularisierung von Altarbildern, Kultstatuen, Reliqiuenbehältern und so weiter sowie ihre semantische Umcodierung zu „Kunst“ ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen,1 ebenso die umgekehrte Bewegung, die Resakralisierung von Kunst im „Musentempel“ und die Auratisierung von Museumsdingen.2 Am 1
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Zum Beispiel: Belting, Hans: Vom Altarbild zum autonomen Tafelbild. In: Busch, Werner (Hg.): Funk Kolleg Kunst. Bd.1: Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München, 1987, S. 155 – 181; ders.: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München, 1990; Grasskamp, Walter: Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München, 1981; Hochreiter, Walter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800 bis 1914. Darmstadt, 1994; Kemp, Wolfgang: Kunst kommt ins Museum. In: Busch, Werner (Hg.): Funk Kolleg Kunst. Bd. 1: Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München, 1987, S. 205 – 229; Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin, 1988; Stoichita, Victor I.: Zur Stellung des sakralen Bildes in der neuzeitlichen Kunstsammlung. Die „Blumenkranzmadonna“ in den „Cabinets d’amateurs“. In: Grote, Andreas (Hg.): Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 – 1800. Opladen, 1994, S. 417 – 436. Beispielsweise: Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main, 1963. Doering, Hilke und Stefan Hirschauer: Die Biographie der Dinge. Eine Ethnographie musealer Repräsentation. In: Hirschauer, Stefan und Klaus Amann (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main 1997, S. 267 – 297; Duncan, Carol: Art Museums and the Ritual of Citizenship. In: Pearce, Susan M. (Hg.): Interpreting Objects and Collections. London, New York, 1994, S. 279 – 286; Hols-
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Anschauungssache Religion Beispiel des Museums Schnütgen in Köln wird dieser Problematik ausstellungsanalytisch nachgegangen. Das Museum Schnütgen ist ein international renommiertes Kunstmuseum, das auf eine jahrzehntelange, durchdachte Ausstellungsarbeit verweisen kann. 2003 erhielt es eine neue Konzeption, in der die Komplexität des Verhältnisses zwischen Kunst und Religion besonders deutlich wird: Kirchliche Kunst wird hier in einer Kirche wie in einer Kirche präsentiert. Damit hängt zusammen, dass sich das Museum Schnütgen für eine Untersuchung auch deshalb eignet, weil es viel Raum für Interpretationen lässt: Den Objekten werden zahlreiche Texte beigegeben und das Gebäude und die Präsentation stecken voller visueller Zeichen, die als Anknüpfungspunkte für die Interpretationen dienen. Und schließlich steht der Standort des Museums, Köln, für eine gewisse Routine und Professionalität im Umgang mit Religion: Köln gehört zu den geschichtlich bedeutendsten Erzbistümern, ist Ruhestätte von ungezählten Heiligen, Standort vieler gewaltiger Kirchenbauten und selbstverständlich Sitz zahlreicher Künstler. Köln war aber auch die Heimat der Brüder Boisserée, den zu Beginn des 19. Jahrhunderts wichtigsten Kunstsammlern Deutschlands. Sie holten Altarretabeln und anderes aus den Kirchen, um sie im hellen Oberlicht als „Kunst“ zu genießen – einer der wichtigsten Impulse zur Säkularisierung von Kunst kam also auch aus Köln. Die Interpretationen des Museums Schnütgen und seiner Dauerausstellungen beruhen auf Bildanalysen, Literaturstudien und eigenen Beobachtungen. Die Quellenlage zur Geschichte des Museums Schnütgen ist sehr gut: Das Museum hat zahlreiche Publikationen herausgegeben, und im Rheinischen Bildarchiv lagern Fotografien aus den verschiedenen Stadien der Museumsgeschichte. Unter den Veröffentlichungen wurden primär diejenigen, die für die heutigen Museumsbesucher am leichtesten zugänglich sind, berücksichtigt, da sie die breiteste Wirkung entfalten dürften.3 Die
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beke, Mireille (Hg.): The Object as Mediator. On the Transcendental Meaning of Art in Traditional Cultures. Antwerpen, 1996; Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München, 2003; Korff, Gottfried: Museumsdinge. Deponieren – exponieren. Hgg. von Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König und Bernhard Tschofen. Köln, Weimar, Wien, 2002. Westermann-Angerhausen, Hiltrud und Dagmar Täube (Hg.): Das Mittelalter in 111 Meisterwerken aus dem Museum Schnütgen Köln. Auswahlkatalog. Köln, 2003; Vernissage. Die Zeitschrift zur Ausstellung 2, 2003: 2003 n. Chr. Neueröffnung des Museum Schnütgen mit der Sonderausstellung Gegenwart Mittelalter; Westermann-Angerhausen, Hiltrud: Das Museum Schnütgen in Köln. Die Wiedereröffnung in der Cäcilienkirche 2003 und der
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Zur Verbindung von Kunst und Religion Skulpturenkataloge von Ulrike Bergmann und Reinhard Karrenbrock beinhalten reiches Material zu den einzelnen Objekten.4 Weitere Angaben wurden Katalogen zu Sonderausstellungen, Werken zur Museumsgeschichte und verschiedenen Monographien entnommen.5 Das reiche Bild- und Textmaterial ermöglichte es, die jetzige Präsentation mit den vorangehenden Ausstellungen zu vergleichen. Der historische Vergleich macht die Konzeptionslinien und Zuschreibungen in der heutigen Darstellung sichtbar. Veränderungen lassen sich auch auf Objektebene verfolgen: Anhand historischer Aufnahmen und dank der zahlreichen Kataloge konnten für manche Objekte „Biographien“ erstellt werden, in denen sich die Veränderungen in den zugeschriebenen Bedeutungen exemplarisch aufzeigen lassen. Es folgt zuerst eine kurze Einführung in das Museum. Die sich daran anschließenden Analysen und Interpretationen berühren drei verschiedene Ebenen. Im Kapitel „Ein Bedeutungsnetz über der Ausstellung“ wird die Verortung des Museums in Raum, Zeit und im akademischen Diskurs betrachtet. Darin wird eine Bedeutungsebene sichtbar, die den Bedeutungen und Botschaften der Dauerausstellung vorgelagert ist. Wichtige Teile der Dauerausstellung werden in den folgenden vier Kapiteln interpretiert. Im abschließenden siebten Kapitel „Zusammenfassungen, Modifikationen und Ausblicke“ werden die Ergebnisse auf ihre weitere Aussagekraft überprüft. Es wird überlegt, wie die Ergebnisse im Hinblick auf andere Museen und auf den allgemeinen Umgang mit Religion zu werten sind.
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Blick auf den neuen Kontext ab 2006. In: das münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 56, 2003, S. 17 – 26. Bergmann, Ulrike: Die Holzskulpturen des Mittelalters (1000 bis 1400). Hgg. vom Museum Schnütgen. Köln, 1989; Karrenbrock, Reinhard: Die Holzskulpturen des Mittelalters II, 1. 1400 bis 1540. Teil 1: Köln, Westfalen, Norddeutschland. Köln, 2001. Legner, Anton: Das neue Schnütgen-Museum in der alten Cäcilienkirche. In: das münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 30, 1977, S. 191 – 194; ders. (Hg.): Schnütgen-Museum Köln. Kleine Festschrift zum dreifachen Jubiläum 1981. Köln, 1981; ders.: Rheinische Kunst und das Kölner Schnütgen-Museum. Köln, 1991; Schnitzler, Hermann: Alte Kunst im Schnütgen-Museum. 100 Bildtafeln mit Erläuterungen. Essen, o. J. (1956). 4., erw. Auflage Köln, 1968; ders.: Von der Sammlung Schnütgen zum Schnütgen-Museum. Köln, 1965; Westermann-Angerhausen, Hiltrud (Hg.): Alexander Schnütgen. Colligite fragmenta ne pereant. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 150. Geburtstag seines Gründers. Köln, 1993; Witte, Fritz: Die Skulpturen der Sammlung Schnütgen in Cöln. Düsseldorf, 1910. 2. Auflage Berlin, 1912. Weitere Literaturangaben in den jeweiligen Textpassagen.
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Anschauungssache Religion
5.1 Historische und inhaltliche Skizze Das Museum Schnütgen geht auf die Sammlung kirchlicher Kunst und kirchlichen Kunsthandwerks des Domkapitulars Alexander Schnütgen (1843 – 1918) zurück, die er 1906 der Stadt Köln unter der Bedingung schenkte, sie in einem Museum zu zeigen.6 1910 wurde der dafür errichtete Anbau des Kölner Kunstgewerbemuseums am Hansaring (heute: Museum für Angewandte Kunst) eröffnet. Die erste Aufstellung der Gegenstände nahm Alexander Schnütgen selbst vor. Schon elf Jahre später wurden Teile der Sammlung unter dem ersten Museumsdirektor Fritz Witte (Direktor von 1910 bis 1937) neu arrangiert. Zu größeren Veränderungen kam es im Zuge der Neuordnung der Kölner Museen 1931/32. Die Tafelbilder des Schnütgen-Museums gingen an das WallrafRichartz-Museum, aus dem das Schnütgen-Museum im Gegenzug Plastiken und Glasgemälde erhielt. Aus dem Kunstgewerbemuseum kamen weitere Objekte hinzu. Gleichzeitig zur Umstrukturierung der Sammlungen zog das Schnütgen-Museum außerdem ins Deutzer Heribertskloster um, in dem auch das Haus der Rheinischen Heimat eingerichtet wurde. Die der Neuen Sachlichkeit verpflichtete Präsentation war für das Ausstellungswesen wegweisend. 1937 übernahm Hermann Schnitzler die Leitung des Museums, die er bis 1970 innehatte. 1939 wurden die Kölner Museen kriegsbedingt geschlossen, die Bestände evakuiert. Das Schnütgen-Museum wurde 1956 als erstes Kölner Museum nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereröffnet, es zog in die nach ihrer Zerstörung im Krieg wieder aufgebaute romanische Basilika St. Cäcilien ein. Ein im Eröffnungsjahr fertiggestellter Anbau an die Basilika bietet seitdem Platz für Eingangs- und Kassenbereich sowie für die Büros der Mitarbeiter und die Bibliothek. 1970 übernahm Anton Legner den Posten des Museumsdirektors. 1976 wurden eine Renovierung des Baus, die Sanierung der Krypta und andere bauliche Maßnahmen beschlossen. Die Dauerausstellung erhielt eine neue Konzeption. Bauliche Schäden und gewandelte technische Anforderungen machten Ende des 20. Jahrhunderts eine erneute Sanierung der Basilika nötig. Unter der jetzigen Direktorin Prof. Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen entstand während der Umbau- und Renovierungsarbeiten eine neue Ausstellungskonzeption, das Museum 6
Alle Angaben aus: Beer, Manuela, Dagmar Täube und Hiltrud WestermannAngerhausen: Museum Schnütgen, Köln. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch/ Jahrbuch für Kunstgeschichte 53, 2002, S. 393 – 397; Legner, Anton: Zur neuen Gestalt des Schnütgen-Museums. Als Lektüre nach dem Museumsbesuch gedacht [sic]. In: Westfehling, Uwe: Schnütgen-Museum. Ein Führer zur Kunst des Mittelalters. Köln, 1977. S. 3 – 5; Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 10 – 16.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion erhielt in Anlehnung an die frühen Dokumente den Namen „Museum Schnütgen“. Die neue Dauerausstellung wurde 2003 in der Basilika eröffnet. Sie war in Hinblick auf weitere Planungen erstellt worden, denen zufolge das Museum Schnütgen in ein „Kulturzentrum am Neumarkt“ eingegliedert werden wird. Die Eröffnung des Kulturzentrums ist für Frühjahr 2009 geplant.7 Reizvoll wird die dadurch geschaffene direkte Nähe zum Rautenstrauch-JoestMuseum sein: Die christliche Kunst des Museums Schnütgen wird dann neben Objekten aus den verschiedensten Teilen der Welt zu sehen sein, wovon sich beide Museen eine Bereicherung erwarten.8 Die Sammlung des Museum Schnütgen umfasst rund 13.000 Objekte vom frühen Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert aus vielen Teilen Europas, mit Schwerpunkten in den deutschsprachigen und niederrheinischen Gebieten. Sie zählt zu den wichtigsten Sammlungen auf ihrem Gebiet und ist kunstgeschichtlich sehr bedeutsam. In der Basilika St. Cäcilien werden auf rund 740 m2 vor allem Skulpturen, Schatzkunst, liturgisches Gerät und Objekte der privaten Andacht gezeigt. Das Museum hat, Sonderausstellungen nicht mitgerechnet, 180.000 Besucher jährlich. Es leistet einen erheblichen Beitrag zur kunsthistorischen Forschung, kooperiert mit anderen Einrichtungen und führt regelmäßig Sonderausstellungen durch.
5.2 Zum Bedeutungsnetz über der Ausstellung Ausstellungen schweben nicht im luftleeren Raum. Sie nehmen vielmehr bestimmte Plätze im Raum, in der Zeit und in der geistigen Landschaft ein. Diese „Verortungen“ bestimmen die Botschaften, die von der Ausstellung ausgehen, maßgeblich mit. Sie sind wie ein Netz, das seine eigenen Bedeutungen über die Ausstellung spannt. Teile dieses Netzes über dem Museum Schnütgen werden im folgenden sichtbar gemacht und interpretiert.
5.2.1 DIE KIRCHE ST. CÄCILIEN Das Museum Schütgen hat, wie angedeutet, zwei Gebäudeteile. Ein Teil des Museums ist die Basilika St. Cäcilien. Sie bestimmt die Ausstellung wesentlich mit: Die Einteilung der Ausstellung in zwölf
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Dezernat für Kunst und Kultur der Stadt Köln (Hg.): In Museen – Welt verstehen. Kulturen begreifen, respektieren, tolerieren. O.O., 2006. Dezernat für Kunst und Kultur der Stadt Köln, 2006; Engelhard, Jutta Beate: Das neue Rautenstrauch-Joest-Museum der Stadt Köln. Ein innovatives Konzept für ein zeitgemäßes ‚Museum für Völkerkunde’. In: Kraus, Michael und Mark Münzel (Hg.): Museum und Universität in der Ethnologie. Bamberg, 2003, S. 137 – 154.
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Anschauungssache Religion Abschnitte zum Beispiel orientiert sich an der architektonischen Gliederung des Raumes (Chor, Sakristei, Haupt- und zwei Seitenschiffe, Westempore, zwei zweigeteilte Nebenemporen, Kryptavorraum und Krypta). Aber St. Cäcilien gibt nicht nur den formalen Rahmen vor. Die Kirche bildet auch den ästhetischen Rahmen für die Ausstellungen des Museums Schnütgen. Sie fügt der Ausstellung eine Bedeutung hinzu, die im folgenden aufgeschlüsselt werden soll. 9 Eine Ruhezone in der Innenstadt
Abbildung 8: Blick auf das Museum Schnütgen im Mai 2008: die Cäcilienkirche, der Anbau von Karl Band und rechts im Hintergrund das Kulturzentrum am Neumarkt (im Bau). Foto: S.C.
St. Cäcilien ist von außen sofort als Kirche erkennbar. Der moderne Anbau beeinflusst diese Denotation nicht, haben doch viele ältere Kirche neuere Erweiterungen. Große Inschriften, Schilder oder Banner, die auf ein Museum hinweisen würden, gibt es nicht. St. Cäcilien liegt an einer viel befahrenen Straße am Rande der Fußgängerzone. Das heutige Straßenniveau liegt etwas höher als der Grund um St. Cäcilien. Die Besucher gehen einige Schritte hinunter und durch einen kleinen Garten an der Kirchenmauer entlang. So ist die Kirche nicht nur durch das Niveau und die Entfernung, sondern auch durch ein Stück Natur von der städtischen Infrastruktur ab-
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Die Ausstellung in der Basilika ist bereits in Hinblick auf die Erweiterung konzipiert worden.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion gerückt. Gemessen an den anderen Kirchen Kölns ist St. Cäcilien eine kleine, eher versteckt liegende Kirche. Sie verfügt über ein Mindestmaß an Abgeschiedenheit und Ruhe – zwei Begriffe, die gut zum heutigen Verständnis von Religion passen, sowie zu den weiteren Bedeutungsebenen rund um die Ausstellung. Der Weg zum Museum kommt einer Einstimmung auf die Ausstellung gleich. Ein „würdiger“ Rahmen
Abbildung 9: Blick in die Kirche nach Osten, zu sehen auf: http://www.museenkoeln.de/museum-schnuetgen/, Mai 2004, Quelle: Rheinisches Bildarchiv Köln.
Im Inneren präsentiert sich St. Cäcilien heute als eine dreischiffige Pfeilerbasilika mit Flachdecke und zweizoniger Wandgliederung. Der gegenüber dem Hauptschiff leicht erhöhte Chor mit halbrunder Apsis wird von drei Rundbogenfenstern erhellt. Das Südseitenschiff schließt im Osten ebenfalls mit einer halbrunden Apsis ab. Die Apsis des Nordseitenschiffes wurde überbaut, als im 15. Jahrhundert eine kreuzrippengewölbte Sakristei an die Nordseite des Chorjochs angefügt wurde. Der Westteil wurde im 19. Jahrhundert verändert. Zum Mittelschiff öffnen sich eine Westempore und zwei Emporenabschnitte mit Vorräumen in den beiden Seitenschiffen. Vor der Krypta liegt eine niedrige Vorkrypta. Auf der Nordseite des Langhauses befindet sich ein verschlossenes Portal, man betritt die Kirche heute über den Anbau von Nordwesten. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg geschah in Anlehnung an den Bauzustand im 12. Jahrhundert. Einige frühgotische Wandmalereien wurden im Chorjoch und in der Obergadenzone freigelegt, ansonsten ist die Kirche weiß verputzt. Der hellgraue Stein des Kirchenbaus ist an den Pfeilerarkaden und in den Gewölberippen sichtbar. Unregelmäßige Steinquader bilden den Boden. Einziger Bauschmuck im Haupt-
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Anschauungssache Religion schiff sind die Gesimse an den Pfeilern und unterhalb des Obergadens. In Stadtführern, in Publikationen und Kritiken zum SchnütgenMuseum wird meist nicht nur auf das Museum, sondern auch auf den Kirchenbau eingegangen. In der Regel werden sowohl die Kirche selbst, als auch die Verbindung von Bau und Ausstellung als schön und besonders geglückt wahrgenommen. So heißt es in einem Stadtführer des Prestel-Verlags, erschienen 1990: „Seit dem Wiederaufbau beherbergt St. Cäcilien das Schnütgen-Museum der Stadt Köln in einer wohl einzigartigen Synthese von Raum und Inhalt.“10 Ivan Bentchev, der in den siebziger Jahren die Wandmalereien der Kirche restaurierte, schrieb in der Publikation zum dreifachen Jubiläum des Museums im Jahr 1981: „Die schöne romanische Kirche St. Cäcilien in Köln bewahrt eine der großartigsten Sammlungen sakraler Kunst [...]. Es ist nicht zuletzt der kunstvolle Rahmen romanischer Kirchenarchitektur und der noch in Resten erhaltenen Innenausstattung, der den einmaligen Charakter dieses Museums ausmacht und den Besuchern geistige und ästhetische Werte vermittelt.“11
Welche Werte das sind, wird hier nicht ausgeführt. Doch die verschiedenen Beschreibungen der Kirche geben Hinweise darauf. Regelmäßig kehren die Adjektive „schlicht“, „streng“ und „harmonisch“ wieder.12 Diese Begriffe geben den Eindruck wieder, den die leicht erfassbare architektonische Gliederung des Baus und die ruhigen romanischen Rundbögen, die auf quadratischen Pfeilern aus hellem 10 Krings, Ulrich und Stefan W. Krieg: Prestel StädteFührer Köln. München, 1990, S. 90. 11 Bentchev, Ivan: Die Restaurierung der frühgotischen Wandmalereien im Chor von St. Cäcilien. In: Legner, 1981, S. 26 – 28, hier S. 26. Scheint es hier so, als bräuchten die Kunstwerke diesen Bau, findet sich auch die umgekehrte Meinung, nämlich, dass der Raum die Kunstwerke bräuchte. Im DuMont Städteführer Köln schreibt Werner Schäfke: „Vom einstigen Schmuck der Stifts- und Klosterkirche ist wenig erhalten. [...] Mit Mühe entziffert man auf der Südseite [des Chores] Szenen des Lebens Christi, auf der Nordseite Bilder aus der Legende der Hl. Cäcilia. Aber die Reichtümer des Museums sind mehr als Ersatz.“ Schäfke, Werner: Köln. Zwei Jahrtausende Kunst, Geschichte und Kultur. Köln, 1988, S. 338. 12 Zum Beispiel: „In diesem wohlproportionierten, strengen Raum [...]“ (Westermann-Angerhausen, in: das münster 56, 2003, S. 19.) oder: „Die Cäcilienkirche [...] präsentiert sich als schlichte, dreischiffige Pfeilerbasilika [...] Der schmucklose Innenraum wirkt dank seiner ausgewogenen Proportionen und einer einheitlichen Gliederung ausgesprochen harmonisch. [...] Überwiegend schlicht ist auch der Außenbau gehalten.“ (Bock, Ulrich: Ein außergewöhnlicher Ort für das Museum Schnütgen. In: Vernissage 2, 2003, S. 36 – 39, hier S. 36.)
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Zur Verbindung von Kunst und Religion Stein ruhen, beim Betrachter hinterlassen. Für Besucher, die mit der Ästhetik christlicher Kirchen vertraut sind, wirkt dieser Raum weder kleinteilig-unübersichtlich, noch voll oder reich geschmückt. Während des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Veränderungen gegenüber dem letzten Bauzustand vorgenommen, die den Eindruck von Schlichtheit und Harmonie noch steigerten: Das Dach erhielt, in Einklang mit älteren Baubefunden, statt des Kreuzrippengewölbes eine flache Holzdecke. Die vordem farbig bemalten Wände wurden weiß verputzt, nur an wenigen Stellen wurden gotische Wandmalereien freigelegt. Man setzte Scheiben in sehr zarten Grün- und Brauntönen ein, wodurch ein klarer, „schlichter“ und „strenger“ Kirchenraum entstand.13 Mit der Entfernung der großen Radleuchter zur Neueröffnung 2003, die 1977 im Schiff angebracht worden waren, setzte man diese Tendenz fort. Die Attribute „schlicht“ und „streng“ verweisen auf eine weitere Beschreibung des Museumsraums: „würdig“. In der Ausstellungszeitschrift „Vernissage“ heißt es: „Mit der Cäcilienkirche hat das Museum Schnütgen ein würdiges, für die Präsentation und Vermittlung seiner christlichen Kunstschätze geradezu ideales Domizil vorzuweisen.“14 Dass der Ausstellungsbau seines Inhaltes würdig ist, bedeutet umgekehrt: Die Ausstellungsstücke selbst sind zu würdigen. Vom Adjektiv „würdig“ als Feststellung und Behauptung im Barthes’schen Sinne ergeht eine Botschaft an die Besucherinnen und Besucher. Sie sollen sich dem Raum und den Ausstellungsstücken entsprechend verhalten: ernst, achtsam, aufmerksam. Das heißt meines Erachtens weiter, die Besucher sollen auch die Inhalte der Ausstellung würdigen. Damit bekommt der Kirchenbau die Funktion eines Verstärkers für die Inhalte des Ausstellung. Der Bau vermittelt als Teil der „ästhetische[n] und geistige[n] Werte“ die Aufforderung an die Besucher, sich auf bestimmte Weise zu verhalten, und sorgt damit für eine erhöhte Achtung gegenüber der Ausstellung. Das korrespondiert mit weiteren (in der Ausstellung nicht verbalisierten) Wünschen der Museumskuratorinnen an die Besucher. Sie sollen die ausgestellten Werke nicht schnell, sondern in aller Ruhe betrachten. Sie sollen sich konzentrieren können. „Diese Kunst braucht Ruhe, Zeit und Kontemplation“ stellt die stellvertretende Direktorin Dr. Dagmar Täube in einer Vorstellung der Neukonzeption fest.15 Das angemessene setting dafür bietet die Cäcilien13 Nachweise: s. vorherige Fußnote. Eine Fotografie aus den 1930er Jahren zeigt einen ganz anderen Raumeindruck. Abgedruckt beispielsweise in: Vernissage 2, 2003, S. 37. 14 Bock, in: Vernissage 2, 2003, S. 36. 15 Täube, Dagmar: Das Museum Schnütgen präsentiert sich neu. In: Vernissage 2, 2003, S. 6 – 9, hier S. 6.
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Anschauungssache Religion kirche. Deshalb gilt die Verbindung von Bau und Ausstellung als gelungen, wird dieser Raum als ein „geradezu ideales Domizil“16 für die Kunstwerke wahrgenommen. So betont die Direktorin Prof. Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen „welch ein Geschenk dieser Raum ist, um darin Kunst des Mittelalters nicht nur auszustellen, sondern regelrecht zum Sprechen zu bringen.“17 Die Besucher müssen nicht die Beschreibung der Cäcilienkirche lesen, um sich entsprechend zu verhalten. Wenn sie den Kirchenraum wahrnehmen, können sie wahlweise das Verhaltensmuster „Kirchen-“ oder „Museumsbesuch“ anwenden und in einen gedämpften Tonfall und gemäßigten Schritt verfallen. Dem achtunggebietenden Raum ordnet sich übrigens auch die moderne Museumstechnik unter. Alle technischen Einbauten wurden möglichst unsichtbar angebracht, wie man zum Beispiel auf der Homepage des Museums erfährt.18 Der Audioguide schließlich gibt seine Informationen nur über Kopfhörer ab. Die Stille des Museums wird nicht unterbrochen. Es wird deutlich, dass die Beziehung zwischen Ausstellungsbau und Ausstellungsinhalt im Museum Schnütgen eine besondere ist. Damit unterscheidet sich das Museum Schnütgen von den vielen Museen, in denen Bau und Inhalt nichts miteinander zu tun haben.19 Im Museum Schnütgen präsentieren sie sich auf gleicher Ebene. Der Bau könnte ebensogut ein Museumsstück sein, wie die restlichen Gegenstände der Sammlung. Tatsächlich ist ein Teil des Baus, nämlich das Tympanon vom Nordportal, der Sammlung eingegliedert.20 Insofern ähnelt das Museum Schnütgen eher zeitgenös-
16 Bock, in: Vernissage 2, 2003, S. 36. 17 Westermann-Angerhausen, in: das münster 56, 2003, S. 20. 18 „[Die] Cäcilienkirche [wurde] mit einer neuen Lichttechnik versehen, die sich weitestgehend zurücknimmt und den einzigartigen Raum besser zur Geltung bringt. Neueste Sicherheits- und Lautsprechertechnik wurde mit den Beleuchtungskörpern verbunden und damit fast unsichtbar in den Raum integriert.“ http://www.museenkoeln.de/museum-schnuetgen/, Stand: 05. 02.2007. 19 Die Geschichte der Museen, die als Patrizierhäuser, Fabriken oder Schlösser gebaut wurden, verbindet in der Regel nichts mit den Sammlungen, die heute in ihnen präsentiert werden. Eigens errichtete Museumsbauten weisen immerhin architektonische Details (Kapitellschmuck, Inschriften) auf, die auf den Inhalt schließen lassen, oder werden für die Ausstellung modifiziert. Dennoch sind sie Museumsbauten, nicht Teile der Ausstellung. 20 Tympanon von St. Cäcilien, Köln, 1160 – 1170, Kalkstein, Inv.-Nr. K 275 (Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 52). An der Außenmauer über dem Nordportal ist eine Kopie des Stückes angebracht, das für die Ausstellung im Neubau vorgesehen ist.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion sischen Museumsbauten berühmter Architekten, in denen moderne bildende Kunst ausgestellt wird. Auch in diesen Museen kann der Ausstellungsbau als ein weiteres, den ausgestellten Kunstwerken ebenbürtiges Kunstwerk betrachtet werden. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen dem Museum Schnütgen und solchen Kunstmuseen. Diese verbindet mit den in ihnen gezeigten Werken nur das Etikett „Kunst“, sie haben keine vormuseale Gemeinsamkeit. Anders beim Museum Schnütgen: viele der gezeigten Gegenstände waren vor ihrer Musealisierung Teile des religiösen Lebens in Kölner oder anderen Kirchen. Die Verbindung zwischen Ausstellungsbau und Ausstellungsinhalt reicht also gewissermaßen in die Tiefe der Vergangenheit zurück. Beides verschmilzt miteinander. Allerdings stammt keines der im Kirchenraum ausgestellten Objekte tatsächlich aus St. Cäcilien.21 Die Beziehung zwischen Bau und Inhalt ist ein „Potentialis der Vergangenheit“. Die Dinge hätten in St. Cäcilien in Gebrauch sein können, sie waren es aber nicht. Ihre Beziehung ist fiktiv, ist imaginär.22 Um zusammenzufassen: Außen sind die Hinweise auf den Museumscharakter des Gebäudes spärlich. Das Gebäude kann als Kirche wahrgenommen werden. Der Weg zum Museum markiert das Verlassen der geschäftigen Innenstadt in eine Zone der Ruhe. Ruhe als Stille und Langsamkeit werden zugleich durch die Gestaltung des Innenraumes evoziert. Sie prägen das Besucherverhalten und möglicherweise auch ihre Wahrnehmungsbereitschaft. Diese Art von Ruhe gilt den Kuratorinnen als wünschenswert. Das religiöse Element, der Kirchenbau, spielt in diesem Teil der Inszenierung eine wichtige Rolle: Er befördert das gewünschte Verhalten und bildet den „würdevollen“ Rahmen für die Ausstellung. Er verleiht den Inhalten der Ausstellung dadurch mehr Gewicht.
5.2.2 „GEGENWART MITTELALTER“ Die Besucher des Museum Schnütgen bewegen sich in einem Raum, dessen Vorläuferbauten in das siebte Jahrhundert datiert wurden, und betrachten Dinge, die vierhundert, fünfhundert oder tausend Jahre alt sind. Sie sehen das alles vielleicht zum ersten Mal, vielleicht seit vierzig Jahren immer wieder. Sie freuen sich, 21 Das Gemälde „Muttergottes mit dem Veilchen“ von Stefan Lochner hing einst in St. Cäcilien und gehört heute zum Erzbischöflichen Diözesanmuseum. S. Legner, Anton: Kölner Heilige und Heiligtümer. Ein Jahrtausend europäischer Reliquienkultur. Köln, 2003, S. 138, Anm. 213. 22 Diese Art musealer Fiktion ist vielleicht am ehesten noch mit Freilichtmuseen vergleichbar, in denen andernorts abgetragene Häuser „originalgetreu“ wieder aufgebaut wurden.
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Anschauungssache Religion dass bestimmte Objekte „immer noch da“ sind oder staunen über den guten Erhaltungszustand der gezeigten Stücke. Die Präsenz der Objekte, ihre Geschichte und die Gegenwart der Besucher treffen sich. Welches zeitliche Raster liegt über der Ausstellung, wie ist sie in der Zeit verortet? Zur Beantwortung dieser Frage werden einige Passagen in Veröffentlichungen des Museums und vor allem der Titel der Neukonzeption von 2003 betrachtet. Er lautet „Gegenwart Mittelalter“. Betrachtet man diesen Titel, fällt auf, dass die beiden Worte unverbunden nebeneinander stehen. Kein Komma und kein Strich trennen sie, keine Konjunktion klärt ihr Verhältnis. Beide bezeichnen historische Epochen, wobei sich die erste relativ zum Betrachterstandpunkt verhält und die zweite erst in der konstruierenden Rückschau auf die Vergangenheit entstand.23 In dieser Verbindung lassen sich die beiden Begriffe auf zweierlei Weise verstehen: entweder als Paradox oder als die Behauptung, Gegenwart und Mittelalter seien in irgendeiner Weise verbunden. Wenn zum Beispiel in der Gegenwart das Mittelalter enthalten wäre, oder wenn der Leserin oder dem Besucher das Mittelalter zur Gegenwart würde, bestünde kein Widerspruch zwischen den beiden Zeitangaben. In den Publikationen zur Ausstellung wird der zweite Weg eingeschlagen. Der Widerspruch zwischen beiden Begriffen wird aufgehoben, zumindest gemildert. Mittelalter und Gegenwart werden als miteinander verbunden dargestellt. „Der Besucher geht im Museum Schnütgen auf die Reise in eine andere Zeit, die doch zugleich auch heute in Köln noch vielfach gegenwärtig ist. So kann sich der Besucher über die kulturellen Wurzeln Europas informieren.“24 „Auch Menschen, denen Mittelalter oder Kirchenkunst zunächst nichts sagen, können in dieser Sammlung Dingen, Themen und Gefühlen begegnen, die ihnen vertraut sind, und ihrer Erfahrungswelt nahe kommen.“25
In der ersten Aussage wird die Verbindung zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart betont: Die Verbindung werde in der Persistenz alter Dinge und Bauwerke sichtbar und zeige sich in der Kontinuität kultureller Entwicklungen. Der kulturelle Zustand der Gegenwart lasse sich ins Mittelalter zurückverfolgen, wo seine „Wurzeln“ lägen. Mit anderen Worten: Gleich der Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese ist sozusagen ein bisschen Mittelalter immer noch in uns. 23 Die beiden Begriffe werden üblicherweise anders zu Paaren geordnet: Gegenwart – Vergangenheit und Mittelalter – Neuzeit (o. ä.). Die Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch zeigt, dass sie bewusst gewählt wurden. 24 Täube, in: Vernissage 2, 2003, S. 6. 25 Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 9.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion Die zweite oben zitierte Aussage stellt die Menschen in den Vordergrund und die Möglichkeit, fremde Themen und Erfahrungen anderer Menschen nachzuvollziehen. Prof. Dr. Westermann-Angerhausen formuliert diesen Gedanken an anderer Stelle so: „Vor jedem Kunstwerk gerät der Betrachter in eine je eigene Gegenwart, in die Gegenwart des Künstlers, seiner Zeit, seiner Möglichkeiten. Dabei erschließen sich dem Betrachter jene Bilder, die sich Menschen zu allen Zeiten von ihrer jeweiligen Gegenwart gemacht haben. Es sind Bilder für ihre Freude und Angst, ihren Glauben und die fortwährende Sehnsucht, ihre Welt verständlicher oder fragwürdiger oder schöner darzustellen.“26
Das Mittelalter wird dieser Überlegung nach für uns heutige Menschen über die Kunstwerke erlebbar, die wir als Ausdruck der Empfindungen früherer Generationen verstehen könnten. Kunst bekommt damit eine wichtige Vermittlerfunktion. Das Konzept impliziert aber noch mehr. Es setzt voraus, dass durch Jahrhunderte voneinander getrennte Menschen untereinander so viele Gemeinsamkeiten aufweisen, dass sie sich verstehen. Die postulierte Gemeinsamkeit besteht hierbei nicht in historischer Kontinuität, sondern in der „Natur“ des Menschen, darin, dass Menschen sich freuen und sich ängstigen, nachdenken und hoffen.27 Deshalb könnten sich Menschen untereinander verstehen, auch wenn sie sonst vieles trennt. Oder, etwas eingeschränkt: Deshalb könnten wir andere Menschen verstehen. Das Medium der Verständigung ist in dieser Konzeption das Kunstwerk. Ihm wird viel zugetraut. Im Kunstwerk müssen die Betrachter die Gefühle und Gedanken seines Herstellers entdecken, aufblitzen sehen. Dadurch wird den Museumsbesuchern das Mittelalter zur Gegenwart. Oder wie im Katalog zu lesen ist: „Denn in jedem Kunstwerk wird das Gewesene durch Anschauen zur greifbaren Gegenwart.“28 Die Analyse des Plakates zur Neueröffnung bestätigt die vorgenommene Interpretation: Das Motiv (Abbildung 10), das auch auf der Internet-Seite des Museums verwendet wurde, kann als griffige, visuelle Kurzform für die oben vorgenommenen Überlegungen gelten. Es zeigt einen vergrößerten Ausschnitt einer Holzplastik mit einem kurzen Schriftzug. Man sieht einen lächelnden, roten weiblichen Mund und eine gerötete Wange, Teile des Kinns und der Nase im rosafarbenen Inkarnat. Am unteren Rand des Bildes steht in weißer Schrift „2003 n. Chr.“ 26 Westermann-Angerhausen, in: das münster 56, 2003, S. 20. 27 Was wiederum die etwas problematische Annahme voraussetzt, „hoffen heute“ sei in etwa dasselbe wie „hoffen anno domini 1200“. 28 Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 9.
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Anschauungssache Religion
Abbildung 10: Plakat zur Neueröffnung 2003. Quelle: http:www.museenkoeln.de/museum-schnuetgen/, Mai 2004. Abdruck mit freundlicher Genehmigung durch das Museum Schnütgen.
Einzelne Elemente des Bildes tragen Bedeutungen, die in ihrer Kombination die vorgenommenen Interpretationen des Begriffspaares „Gegenwart Mittelalter“ stützen: Der Zustand der Farbfassung, die bröckelnden, rissigen Farbschichten, denotieren „hohes Alter“. Die starke Vergrößerung und der gewählte Ausschnitt implizieren „Nähe“. Das zarte Lächeln und die geröteten Wanden schließlich verweisen den Betrachter auf Gefühle der dargestellten Person. So ergibt sich folgende Bedeutung des Bildes: Über Gefühle rücken die Ausstellungsstücke in unsere Nähe und überwinden die Distanz, die sich aus ihrem Alter ergibt. Ein weiterer Kommentar zu „Gegenwart Mittelalter“ wird über den Schriftzug gegeben. Darin wird die Bedeutungseinheit „2003“, die für die Gegenwart steht, mit dem Zusatz „n. Chr.“ versehen, der in der Regel nur für lang zurückliegende Zeiten verwendet wird.29 Diese Kombination reiht die Gegenwart in eine chronologische Abfolge ein, in der sie nur die Fortsetzung der Vergangenheit ist.30 Numerisch fortschreitend, baut ein Jahr auf dem nächsten auf. Die Jahre sind nur quantitativ, nicht qualitativ voneinander geschieden. Der Beginn der Reihe ist die Geburt Christi. Knapper lässt sich historische Kontinuität gar nicht konstruieren. Neben dieser Deutung der zeitlichen Verortung des Museums Schnütgen findet sich noch eine zweite Sichtweise, die Gegenwart in Beziehung zur ausgestellten Kunst zu setzen: als deren Kehrseite.
29 Wenn man zum Beispiel schriebe, 1948 nach Christus wurde die D-Mark eingeführt, würde der Leser sozusagen heilsgeschichtliche Bezüge erwarten. 30 Die Gegenwart wird auch durch die Schrifttype evoziert: Leicht gelängt und serifenlos unterscheidet sie sich deutlich von zum Beispiel römischen Schriftbildern oder alten Drucktypen. Hinweis von Verena Schmaltz-Steger.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion „Diese Kunst braucht Ruhe, Zeit und Kontemplation. Sie bildet den Gegenpol zu den vielfältigen Eindrücken, zu den immer schneller wechselnden Bildern, mit denen der Mensch heute jederzeit konfrontiert wird. Ruhe statt Bewegung, Versenkung statt Oberflächlichkeit, Besinnung statt Streß und Überlastung werden möglich.“31
Hier wird die Gegenwart mit tendenziösen und negativen Worten beschrieben, insgesamt wird sie als ambivalent dargestellt. Die Kunstbetrachtung liefert die Antipoden zu den Schwächen der Gegenwart, ist ihr Heilmittel. Die Museumsbesucher sollen in der Ausstellung eine „Auszeit“ von der Gegenwart nehmen können.32 Damit verdichtet sich folgende, durch Bilder und Texte privilegierte Deutung der Dauerausstellung: Das Museum Schnütgen positioniert sich in einer als ambivalent empfundenen Gegenwart. Diese Gegenwart sollen die Besucher als durch die Vergangenheit geprägt erleben, ihre negativen Seiten sollen sie zumindest für die Dauer des Museumsbesuches vergessen. Dies kann den Besuchern durch die Betrachtung der Kunstwerke gelingen, in denen sie die Fragen, Gefühle und Hoffnungen früherer Generationen ausgedrückt sehen können. Betont wird außerdem die kulturelle Verbindung mit der Vergangenheit, die historische Kontinuität. Hier findet sich ein religiöses Element: Die historische Kontinuität ist im christlichen Erbe zu finden, die Vergangenheit wird als christlich geprägt dargestellt. Andere religiöse Traditionen werden dadurch ausgeklammert. Als christlich erzogene Museumsbesucherin kann ich mich innerhalb dieser Tradition wiederfinden, als Shinto-Anhängerin aus Japan würde ich außerhalb stehen. Gemildert wird die Exklusivität durch Verweise auf menschliche Gefühle, die allen Menschen gemein sind. Die Erlebnisse bei der Kunstbetrachtung werden so eher als Teil einer conditio humana gesehen. Sobald das Rautenstrauch-JoestMuseum eingerichtet sein wird, wird der allgemein-menschliche
31 Täube, in: Vernissage 2, 2003, S. 6. 32 In vielen Sonderausstellungen wurden und werden weitere Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt: In der Sonderausstellung „Reliquien. Verehrung und Verklärung. Die Sammlung Louis Peters“ (1989) waren einige Exemplare moderner Objektkunst zu sehen, die formal und inhaltlich an Reliquien erinnerten. In der Ausstellung „Beuys und das Mittelalter“ (1997) wurde Beuys’ Kunst mit mittelalterlichen Werken in Beziehung gesetzt. 2004 fand die Ausstellung „Das Mittelalter – Jetzt! Angewandte Kunst Köln im Dialog mit Werken des Museums Schnütgen“ statt. In der Sonderausstellung „Der verlorene Blick. Videoinstallationen von Michael Runschke zu Hauptwerken des Museums“ (27.10.2004 bis 16.01.2005) wurde auf Videobändern die Aussicht gezeigt, die einzelne Objekte heute hätten, wären sie noch an ihrem ursprünglichen Aufstellungsort.
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Anschauungssache Religion Anspruch in der Cäcilienkirche durch die benachbarten ethnographischen Präsentationen möglicherweise verstärkt: Die im Museum Schnütgen repräsentierte Lebenswelt würde dann als eine von vielen möglichen erscheinen.
5.2.3 BEZUG ZUR AKADEMISCHEN KUNSTGESCHICHTE Sowohl in der räumlichen als auch in der zeitlichen Positionierung des Museums Schnütgen begegnen den Besucherinnen und Besuchern also religiöse, genauer gesagt christliche Elemente. Daneben ist noch ein weiterer Bedeutungsstrang in der Selbstpositionierung des Museums zu nennen: Das Museum Schnütgen verortet sich akademisch in der Kunstgeschichte. Die Kuratorinnen und Kuratoren sind und waren versierte Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, die Museumsangestellten forschen und publizieren. Obwohl dieser Teil der Arbeit für die Besucherinnen und Besucher im Verborgenen geschieht, wird der wissenschaftliche Bezug des Museums schnell sichtbar: An der Kasse sieht man die Veröffentlichungen des Museums. Die Objektbeschriftungen entsprechen kunsthistorischen Gepflogenheiten. Die Texte im Museum sind mit typischem Fachvokabular verfasst und gehen auf entsprechende Fragestellungen ein. Sie klammern kunsthistorisch belanglose Fragestellungen aus. Obwohl im Museum Schnütgen der Anspruch besteht, dass die Besucher sich den Kunstwerken „neu“ nähern sollen, wird damit doch vorausgesetzt, dass nicht naiv gefragt wird – und auch nicht religiös. Der Blick auf die geistige Verortung in der Kunstgeschichte ist insofern wichtig, wenn man die Thematisierung von Religion im Museum untersucht: Allen religiösen Themen wird eine bestimmte wissenschaftliche Tradition vorgeschaltet. Zusammengefasst ergibt sich also folgende Konstruktion: Im „Bedeutungsnetz“ über der Ausstellung finden sich drei wichtige Stränge, zwei religiöse und ein nicht-religiöser. Der jetzige Museumsbau verwischt den Unterschied zwischen einer Kirche und einem Museum. Das unwillkürliche Besucherverhalten und ihre Aufnahmebereitschaft werden durch den Kirchenraum bestimmt. Ein Subtext der Ausstellung ist die Betonung historischer Kontinuität und christlicher Tradition. Auf der kognitiven Ebene wird den Besucherinnen und Besuchern jedoch eine bestimmte wissenschaftliche Sicht auf die Ausstellungsstücke vermittelt, die diese von ihrem religiösen Inhalt abrückt.
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5.3 Die nicht-religiöse Inszenierung von Kult Auch der Innenraum weist Gestaltungsmerkmale einer Kirche auf. Zu diesem Eindruck summieren sich mehrere Faktoren:33 Erstens trägt dazu, wie bereits beschrieben, der Kirchenbau bei, der den Raumeindruck innen maßgeblich prägt. Zweitens wirkt die Zurücknahme der Ausstellungstechnik und -architektur in dieser Richtung. Viele Objekte sind so montiert, dass man keine Hängevorrichtungen sieht. Die Sockel und Vitrinen sind in einem lichten, silbrigen Grau gestrichen, das zwischen den Farbtönen der Kirche kaum auffällt. Beleuchtungskörper und andere technische Einrichtungen sind unauffällig angebracht. Drittens wurden einzelne Werke „wie in einer Kirche“ aufgestellt, und viertens ist der Chor „wie ein Chor“ eingerichtet. Die letzten beiden Punkte werden im folgenden ausgeführt.
5.3.1 PRÄSENTATION DER WERKE: BETRACHTUNG AUS DEM BLICKWINKEL DER GLÄUBIGEN Drei Beispiele zeigen, wie in Teilen der Präsentation kirchliche Gepflogenheiten berücksichtigt werden. Zuerst sei eines der schönsten Stücke der Sammlung genannt, eine spätgotische, lebensgroße Christusfigur auf einem Palmesel.34 In der jetzigen Ausstellung steht sie im Mittelschiff vor der Krypta, parallel neben der Wand zur Nordempore, das Gesicht zum Chor. Ringsum ist sie von vier Prozessionsstangen umgeben. Früher stand sie, wie man aus einer älteren Abbildung ersehen kann, in einem 45°-Winkel vor einer Seitenwand, den Blick schräg ins Mittelschiff gerichtet.35 Das Fehlen von Prozessionsstangen und die schräge Aufstellung machten sie besser ansichtig, vielleicht auch gefälliger. Heute steht die Figur so, wie sie auch, wäre sie noch in Gebrauch, in einer Kirche stehen könnte. Ihre rituelle Funktion wird durch die Prozessionsstangen unterstrichen. Die sogenannte Aachener Madonna,36 ebenfalls eines der Prunkstücke der Sammlung, ist in der jetzigen Präsentation am nordöstli33 Das ist vor allem ein optischer Eindruck. Das Körpergefühl kann davon abwichen: Es ist wärmer als in vielen alten Kirchen und es fehlt der für katholische Kirchen typische Weihrauchgeruch. 34 Christus auf dem Palmesel, Köln, um 1520, Linde und Nadelholz, Inv.-Nr. A 124. Karrenbrock, 2001, Nr. 69; Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 32; Legner, 1991, Abb. S. 273. 35 Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 59, sowie Legner, 1991, Abb. S. 273. 36 Aachener Madonna, Köln, um 1230, Eiche, Inv.-Nr. A 15, Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 7; Bergmann, 1989, Nr. 15.
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Anschauungssache Religion chen Pfeiler ausgestellt, wo sie auf einem grauen Bord vor dem Pfeiler steht. Ulrike Bergmann weist im Bestandskatalog darauf hin, dass diese Figur ursprünglich wohl vor einem Pfeiler oder auf einem Altar aufgestellt war.37 Aufschlussreich ist wieder der Vergleich mit einer vorherigen Präsentation: 1977 wurde die Aachener Madonna zwischen anderen Madonnenfiguren im nördlichen Seitenschiff aufgestellt. Wie die anderen Figuren stand sie auf einem Acrylsockel, von allen Seiten ansichtig. (Die Acrylsockel sieht man im Hintergrund auf Abbildung 12.38) In der Rückwand der Skulptur sah man die Aushöhlung, vor der eine große Tür eingelassen war. Die Thronrückwand ist nur grob bearbeitet. Die Dübel und die Stelle, wo ein Stück angesetzt wurde, sind sichtbar. Alle Seiten der Skulpturen zugänglich zu machen, war damals Programm, ebenso wie die Acrylsockel. Sie sollten die Figuren schweben lassen, sollten ihren Kultbildcharakter verdeutlichen, während die Möglichkeit, um die Werke herumzugehen, die Besucher gleichsam in die Werkstatt der Künstler versetzen sollte.39 Beides ist jetzt rückgängig gemacht worden. Die Aachener Madonna thront auf einem tatsächlichen, seine Materialität nicht verbergenden Sockel vor einem tatsächlichen Kirchenschiffpfeiler. Entsprechendes gilt für das letzte Beispiel, den sogenannten Kruzifixus von St. Georg.40 Der kunstgeschichtlich sehr bedeutende romanische Kruzifixus ist auf Untersicht gearbeitet, vor allem das stark nach vorn geneigte Gesicht ist für einen unterhalb der Skulptur stehenden Betrachter geschnitzt. In der aktuellen Präsentation enden die Beine der Skulptur etwa auf Kopfhöhe der Betrachter (Abbildung 11). So kann sie die Wirkung entfalten, die der Künstler beabsichtigte, denn wahrscheinlich war der Kruzifixus „einst in der Nähe des Kreuzaltars erhöht aufgestellt“.41
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Bergmann, 1989, S. 162. Für eine bessere Abbildung vgl. das münster 30, 1977, S. 192. S. Legner, in: das münster 30, 1977, S. 191. Kruzifixus von St. Georg, Köln, letztes Drittel 11. Jahrhundert, Weide, Inv.Nr. A 9; Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 30; Bergmann, 1989, Nr. 3. 41 So im Auswahlkatalog 2003, S. 56. Die Frage um die ehemalige Aufstellung scheint nicht ganz geklärt. Bergmann geht von einer „niedrigen“ Aufstellung in Verbindung mit einem Kreuzaltar aus, „nicht etwa hoch im Kirchenraum als Triumphkreuz“, wobei sie darauf hinweist, dass in St. Georg bislang kein Kreuzaltar nachweisbar ist.
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Abbildung 11: Blick auf den Kruzifixus aus St. Georg, Köln, Museum Schnütgen, Inv.-Nr. A 9, in der Neueinrichtung von 2003. Foto: S. C.
Markant ist wiederum der Unterschied zur Präsentation von 1977 (Abbildung 12). Damals war der Kruzifix auf Besuchergröße heruntergeholt. Er stand auf einem niedrigen Acrylsockel mittig im Hauptschiff, von allen Seiten ansichtig. Die beiden großen Aushöhlungen in der Rückseite, das Reliquienfach im Hinterkopf, das grob gearbeitete Zapfloch für den rechten Arm und die Bruchstelle des anderen Armes waren für die Besucher sichtbar, also alles, was ursprünglich nicht sichtbar sein sollte.42 In der jetzigen Hängung sind diese Details dem Blick wieder entzogen. Man blickt den Pfeiler hinauf, die Biegung der schmalen Figur entlang, bis zum ausdrucksstarken Gesicht der Figur, auf das der Blick gelenkt wird. Dort bleiben die Augen hängen, die abgebrochenen Füße und die fehlenden Arme nimmt man kaum wahr. Nur noch das Bild des Gekreuzigten sieht man, nicht mehr die Technik des Bildhauers oder den Baumstamm, aus dem er geschnitzt wurde.
42 Offenbar war die religiöse Wirkung des Werkes dennoch nicht verstummt. Anton Legner erinnert sich an eine Bemerkung Kardinal Höffners, als er das Bildwerk sah: „Der Corpus Christi in der römischen Basilika“. Legner, 1991, S. 352. S. dazu auch Kapitel 5.6.3.
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Abbildung 12: Die Präsentation des Kruzifixus aus St. Georg 1977. Quelle: Rheinisches Bildarchiv Köln.
Auch die jetzige Präsentation hat eine kunsthistorische Begründung: Die Besucher sollen das Werk so sehen, wie es die Künstler und Auftraggeber wünschten. Im Falle kirchlicher Kunst folgt daraus, dass die Besucher so stehen und schauen, wie es einst die Gläubigen taten, für die die Figuren geschnitzt worden waren. Das heißt noch nicht, dass die heutigen Besucher so sehen wie früher die Gläubigen, aber sie nehmen kurzfristig deren Standpunkt ein – Standpunkt im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Diejenigen Besucherinnen und Besucher, die den Kruzifixus als Kultbild betrachten wollen, werden durch die Inszenierung nicht gestört.43 Eine religiöse Wahrnehmung wird privilegiert.
5.3.2 ZUM CHOR: DIE INSZENIERUNG VON KULT Zum Chor (Ausstellungsabschnitt 8) führen vom Mittelschiff vier Stufen hinauf. Seine Einrichtung mit Kirchenmobiliar, Kirchenschmuck, liturgischen Geräten und Reliquienbüsten folgt explizit liturgischen Gewohnheiten, denn die jetzige Inszenierung soll unter dem Titel „Gottesdienst als Himmelsschau“ die Feier des Gottesdienstes veranschaulichen, in den Worten der Museumsdirektorin: 43 Obwohl, wie oben referiert, auch die Präsentation von 1977 den „Kultbildcharakter“ der Objekte verdeutlichen wollte, können zum Beispiel die Acrylsockel irritierend wirken – aus dem einfachen Grund, dass sie in Kirchen nicht üblich sind.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion „Im Chor der Cäcilienkirche sind Werke zusammengestellt, die den Sinn und die Würde des Gottesdienstes begreiflich machen.“44
Abbildung 13: Blick in den Chor mit der Neueinrichtung von 2003. Foto S. C.
Im Einzelnen ist folgendes zu sehen: An den beiden Längsseiten des Chores steht auf flachen Podesten ein Chorgestühl. Darüber sind Arm- und Brustreliquiare auf je einem langen Regalbrett angeordnet. Rechts neben dem Gestühl auf der südlichen Seite hängt der Text „Gottesdienst als Himmelsschau“, hier finden sich noch eine Kanzeluhr und ein Lesepult. Links daneben sind zwei weitere Büstenreliquiare auf einem eigenen Brett aufgestellt. Auf der anderen Seite ist ein Reliquienkasten ausgestellt. In der Mitte liegt ein Buchdeckel in einer separaten Tischvitrine mit schmalem Sockel. Vor der Rückwand des Chores ist ein goldglänzendes Antependium aus der Kölner Kirche St. Ursula aufgebaut, rechts und links daneben stehen, paarig angeordnet, jeweils drei Engelsfiguren. Über allem hängt ein Kreuz. Der Begleittext lautet: „Gottesdienst als Himmelsschau Der christliche Glaube fand im Mittelalter seinen besonderen Ausdruck in der Feier des Gottesdienstes. Dazu gehörten die verschiedenen Elemente der Meßfeier, wie Gebete, Gesang und Lesungen, sowie die Benutzung von zahlreichen liturgischen Geräten und Büchern in prächtiger Gestaltung. Die Ausstattung der Kirchen mit Kunstwerken aller Art verlieh den Räumen besonderen Glanz. Das
44 Westermann-Angerhausen, Hiltrud: Raum für Kult und Fest. In: Vernissage 2, 2003, S. 12 – 15, hier S. 12.
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Anschauungssache Religion liturgische Zentrum war in der Regel im hohen Chor, wo sich der Hauptaltar befand. Im Chorgestühl versammelte sich der Konvent zum kanonischen Stundengebet. Die aufwendigen Darstellungen unter den Klappsitzen (Misericordien) erleichterten den Chorherren nicht nur die langen Stehzeiten während des Gebets: das Niederklappen einer Teufelsfratze war zugleich eine symbolische Handlung für den Sieg über das Böse. Nach mittelalterlicher Vorstellung bildeten die Engel in ihrer hierarchischen Abfolge den himmlischen Hofstaat Gottes. Als direkte Fürsprecher wandten sich die Gläubigen häufig direkt an die Heiligen, deren sterbliche Überreste (Reliquien) deshalb als sehr wertvoll erachtet wurden. Viele Reliquiare verraten durch ihre Form ihren einstigen Inhalt. In Büstenreliquiaren befanden sich die Schädel, in Armreliquiaren die Armknochen der verehrten Heiligen.“45
Der Begleittext nimmt eine Außenperspektive zum dargestellten Geschehen ein. Dies zeigen metasprachliche Begriffe und Wendungen wie „Nach mittelalterlicher Vorstellung“. Gewisse Kenntnisse des Christentums werden erwartet – was „Engel“ oder das „kanonische Stundengebet“ sind, wird nicht erklärt –, dabei aber keine emische Sichtweise der Religion vorausgesetzt. Der Text interpretiert einen Vorgang. Diese Interpretation wird als deckungsgleich mit dem Nachbau des Vorganges präsentiert: In der zweiten Texthälfte ist vom Hauptaltar die Rede, vom Chorgestühl, von seinen Klappsitzen und den Teufelsfratzen, von Engeln, von Arm- und Büstenreliquiaren. Alle genannten Gegenstände bekommt man mit einer leichten Drehung des Kopfes ins Blickfeld. Der Text nennt Dinge, die man dann in der Ausstellung identifizieren kann – oder andersherum: man identifiziert die Ausstellungsgegenstände und wird durch den Text bestätigt. Worte und Dinge gehen eine „Das ist das“- Verbindung ein: „Das ist ein Chorgestühl“, oder auch: „Das ist ein Engel“. Der Text konzentriert sich auf Dinge. Handelnde Menschen sind anfangs nicht auszumachen. Die Subjekte der ersten vier Sätze sind Abstrakta. Die Dinge sind da – anders als die mittelalterlichen Gläubigen. Indem der Text die Aufmerksamkeit von den abwesenden Personen auf die anwesenden Dinge lenkt, können die Besucher die Dinge als „Zeitreisemittel“ benutzen, die sie in den Glanz vergangener Epochen entführen. Kultisches Geschehen zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen bestimmte Handlungen durchführen. Im Museum Schnütgen gelingt eine Inszenierung von Kult auch ohne Handlungen, sondern allein mittels Text und Objekten als statische Momentaufnahme.46
45 Ausstellungstext im Abschnitt 8, Stand: Sommer 2004. 46 Inzwischen wird vielfach versucht, Kult als Geschehen ins Museum zu holen. Vor allem Völkerkundemuseen laden religiöse Spezialisten ein, bestimmte Riten im Museum durchzuführen. Für Diskussionen sorgte die
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Zur Verbindung von Kunst und Religion Die Einrichtung des Chores als Chor und die in Punkt 5.2.1 beschriebene Verschmelzung von Ausstellungsbau und Ausstellungsinhalt ermöglichen den Besuchern das Gefühl, in einem „richtigen“ Chor zu sein. Der Kultort erscheint authentisch. Die ausgestellten Objekte weisen den Weg zu den nicht dinghaft darstellbaren Phänomenen. In den Engeln beispielsweise können die Besucher den Hofstaat Gottes sehen und in den schön verzierten Reliquiaren die Frömmigkeit des Mittelalters. Die Dinge evozieren eine religiöse Stimmung. Vom kultischen Geschehen selbst werden diejenigen Elemente betont, deren Accessoires sichtbar sind: die Bücher, die Klappsitze, et cetera. Das aus mittelalterlicher Sicht zentrale Ereignis, das Messopfer, wird nur erwähnt, eine geweihte Hostie „fehlt“ im Chor des Museums. Der Chor der Cäcilienkirche erscheint so als Momentaufnahme kultischen Geschehens, ohne dass das Fehlen von Menschen und Handlungen negativ auffallen würde. Dadurch gelingt es besonders gut, die „Würde des Gottesdienstes begreiflich [zu] machen“:47 „Würde“ verträgt sich nach gängigen Vorstellungen schlecht mit zum Beispiel schnellen Bewegungen oder lauten, schrillen Tönen. Der in der Cäcilienkirche inszenierte Kult ist – der Natur seiner Inszenierung gemäß – ruhig und still, „erhaben“.48 Zweimal im Jahr wird die Inszenierung Realität: An Weihnachten und am Tag der Hl. Cäcilie finden in St. Cäcilien Gottesdienste statt.
5.3.3 DIE PRÄGUNG UNSERES BLICKES AUF RELIGION Ausstellungen sind „Kulturmuster“ im Sinne Clifford Geertz’: als model of und model for reality. Sie werden einerseits durch unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit bestimmt und andererseits tragen sie ihren Teil zur Formung unserer Wirklichkeitswahrnehmung bei. In den beiden letzten Abschnitten trat der zweite Aspekt besonders deutlich hervor. Der Ausstellungsabschnitt „Chor“ gibt den Besuchern Bilder und Worte für ein kultisches Geschehen. Das Abbild des Kultes, das den Besuchern präsentiert wird, ist ruhig und still, erhöht und „erhaben“. Diese Merkmale werden nicht verbalisiert oder als religiSonderausstellung „Altäre“ (museum kunst palast Düsseldorf, 2001), in der die ausgestellten Altäre „tatsächlich“ geweiht wurden. S. dazu auch die Kapitel 8 und 9. 47 Westermann-Angerhausen, in: Vernissage 2, 2003, S. 12. 48 Damit weicht er vom mittelalterlichen Gebrauch der Kirchen ab: Die Kirchen dienten auch als Gerichtsstätten und Treffpunkte und waren wesentlich „unruhigere“ Orte als heutige Kirchen.
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Anschauungssache Religion onshistorische Besonderheiten problematisiert, sondern fügen sich unserem Bild von kultischem Geschehen stillschweigend hinzu: Gottesdienste „sind“ erhabene Angelegenheiten. Die Betrachtung der Kunstwerke geschieht aus dem Blickwinkel der Gläubigen. Ihre Wirkung wird so der ursprünglichen Intention angenähert. Von technischen Details oder Herstellungsfragen wird abgelenkt. Die christlichen Kunstwerke wirken als Solitäre, wirken still und „schön“. So wird auch das Verständnis der christlichen Religion geformt: Die christliche Religion verbindet sich mit Ruhe und Schönheit, mit Erhabenheit und Würde. Lautstarkes und Bewegtes, Wunderliches und Massenhaftes gehört hier wie in weiten Teilen Europas nicht dazu.
5.4 Heilige als Vorbilder Die Gattung Skulptur und die Entstehungszeit vieler der in der Cäcilienkirche ausgestellten Skulpturen bringen es mit sich, dass im Museum Schnütgen viele Gottes- und Heiligenbilder real-menschlich wirken. Trotz idealisierter Züge sehen sie „wie du und ich“ aus. Sie haben individuelle Gesichter mit ausdrucksstarker Mimik. Sie tragen modische Kleidung und sind in ihren Bewegungen festgehalten. Das ist uns kulturell vertraut, könnte aber auch anders sein, wie ein Blick auf die Ikonen der Ostkirchen zeigt. Streng stilisiert blicken hier dieselben Figuren mit großen Augen unbewegt aus Bildern herab, in denen kaum Anzeichen eines irdischen Daseins zu finden sind. Anders im Museum Schnütgen, wo die Figuren in voller Körperlichkeit nachgebildet, Dinge und Räume greifbar realistisch sind. Zudem fehlen an diesen Figuren die Marker für Heiligkeit, die Heiligenscheine. In den Reliefs teilweise vorhanden, trägt keine der ausgestellten Skulpturen von Heiligen einen Heiligenschein, der sie schon von weitem vor anderen Menschen auszeichnen würde.49 So wird hier, wie für die Ausstellung „Glaube und Bild“, gefragt, welche „Menschenbilder“ durch die Präsentation generiert werden. Und welches Verhältnis zwischen den abgebildeten supranatural beings und den „normalen Menschen“ wird in der Ausstellung hergestellt? Dazu wird der Ausstellungsabschnitt 12, „Starke Vorbilder: Heilige“, 49 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass nicht alle ausgestellten Menschenbilder Heilige denotieren. Eine dieser Ausnahmen dient als Titelbild des Auswahlkataloges: eine Konsolbüste, die mit großer Wahrscheinlichkeit Eva, die biblische Mutter aller Menschen, darstellt. Es handelt sich um die „Parlerbüste“, Köln, um 1390, Kalkstein, Inv.-Nr. K 127; Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 58. Im Sinne Jana Scholzes kann Scholzes kann sie als ein metakommunikativer Verweis auf die berühmte Ausstellung „Die Parler“ gesehen werden. Sie gab, ebenfalls im Profil, damals das Titelbild des Ausstellungskataloges.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion auf der Westempore untersucht. Skulpturen und Reliefs von Heiligen in verschiedenen Größen sind hier frei im Raum, an den Wänden und auf Borden an zwei Stellwänden aufgehängt oder aufgestellt. Als Ausgangspunkt der Interpretation dient der Eindruck, dass die gezeigten Figuren auch nach heutigen Maßstäben schön sind. Sie zeigen schöne Menschen in überwiegend ruhigen Posen. Gewalttaten und Grausamkeiten, an denen die Heiligenlegenden so reich sind, sind kaum zu sehen. Eine Skulptur zeigt den Hl. Vitus, der während seines Martyriums gekocht wurde – aber Vitus steht aufrecht in seinem Kessel und legt die Hände im Gebet andächtig aneinander. Schmerzverzerrt ist einzig das abgeschlagene Haupt des Täufers auf einer Johannesschüssel, wobei hier kein Blut fließt. Zwei Werke können auf die heutigen Besucher vielleicht befremdlich wirken (eine Hl. Kümmernis50 und der „Kopf eines Bischofs“51). Die meisten anderen Heiligen aber stehen feierlich da. Sie blicken ernst oder lächelnd und halten ihre Attribute im Arm. Ein Hl. Georg ist im Begriff einen Drachen zu töten, als wollte er auch den letzten Schrecken bannen. Aus dem Ausstellungskatalog seien die letzten Sätze zu einer Holzskulptur der Hl. Margaretha52 zitiert, deren Tenor meines Erachtens für den ganzen Ausstellungsabschnitt gilt: „Diese Skulptur zeigt Margarethe als strahlende Siegerin. Der Drache liegt besiegt zu ihren Füßen und statt als geschundenes Opfer erscheint sie als selbstbewusste, gelehrte und hübsche junge Frau in modischer Kleidung. Welches mittelalterliche Mädchen hätte sie so nicht gerne zum Vorbild gewählt?“53
Die schaurige Geschichte Margarethas bis zu ihrer Enthauptung, die im Ausstellungskatalog nacherzählt wird, ist in ihrem Schnürmieder und in der kompliziert geflochtenen Frisur nicht sichtbar. In diesem Zustand ist sie ein Ideal, ein Vorbild. Grausamkeit und Tod haben einen anderen Platz in der Cäcilienkirche;54 hier, auf der Westempore, geht es um die „starken Vorbilder“. Als solche werden die Heiligen ja bereits im Titel des Ausstellungsabschnittes bezeichnet. Die zugehörigen Texte lauten:
50 Hl. Kümmernis, Niederrhein, um 1480/90, Eiche, Inv.-Nr. A 928. Bei oberflächlicher Betrachtung muss sie nicht befremden, denn mit der Bibel in der rechten Hand wird der Busen verdeckt. 51 Kopf eines Bischofs, Köln, um 1160/80, Eiche, Inv.-Nr. A 775. Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 44. 52 Hl. Margarethe, Brüssel, um 1500/25, Eiche, Inv.-Nr. A 1087. 53 Täube: Hl. Margarethe. In: Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 82. 54 Zu Leiden und Tod s. die Kapitel 5.6 und 5.7.1.
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Anschauungssache Religion „Heilige als starke Vorbilder / Im Mittelalter gehörten die Heiligen zur selbstverständlichen Alltagswelt und waren stets präsent. Sie haben durch ihre vorbildliche Lebensführung nach christlicher Überzeugung das ewige Leben erreicht. Jacobus de Voragine hat von 1267 bis 1277 in der Legenda aurea zahlreiche Geschichten über Heilige zusammengetragen. / Da sind zunächst die biblischen Heiligen, zu denen z. B. Maria, Josef oder Anna, aber auch die Apostel und Johannes der Täufer zählen. Die Kirchenlehrer, wie der hl. Hieronymus, und viele heilige Päpste und Bischöfe, etwa Dionysius und Eligius, hatten vor allem eine große Bedeutung für die Verbreitung und Auslegung der Heiligen Schrift.“ „Schutzheilige / Die Heiligen hatten neben ihrer Vorbild- auch eine Schutzfunktion. Es gibt eine große Gruppe solcher Frauen und Männer, die sich auf besondere Weise für den christlichen Glauben stark gemacht haben und häufig den Märtyrertod gestorben sind. Gelehrte und mutige Prinzessinnen sind ebenso darunter wie tapfere und kluge Ritter. Ihre persönliche Geschichte steht oft im Zusammenhang mit ihrer späteren Schutzfunktion. So ist die hl. Ursula z. B. Patronin der kranken Kinder und der Erzieher oder Christophorus der Schutzpatron gegen Unfälle auf Reisen oder Augenleiden. / Leben und Wirkung der Heiligen zählen neben dem Leben Christi und Mariens zu den wichtigsten Themen mittelalterlicher Kunst. So wurde die Legenda aurea zur besonders anregenden Quelle für die Meister.“55
Der erste Satz im ersten Text insistiert auf der lebensweltlichen Verankerung der Heiligen im Mittelalter. Jeder Teilsatz würde schon für sich genommen die Präsenz der Heiligen konstatieren, die Doppelung verstärkt die Behauptung. Die „Alltagswelt“ wird zudem als „selbstverständliche“ gekennzeichnet. Sie wird nicht auf bestimmte Menschen(-gruppen) bezogen, sondern galt offensichtlich für alle. So wird die beschriebene Zeit, obwohl sie vergangen ist, für uns lebendig gemacht: Das Faktische gewinnt hier normative Kraft und führt uns in eine Lebenswelt voller Heiliger, deren Existenz nicht in Frage steht. Möglicher Kritik an der Heiligenverehrung oder neuzeitlichem Unverständnis für die Heiligen wird dadurch zuvorgekommen, dass die später als „abergläubisch“ betrachteten Praktiken der Heiligenverehrung verschwiegen, bzw. in dem Wort „Schutzfunktion“ aufgehoben werden. Die Schutzfunktion teilt sich der Hl. Christophorus56 auch mit einem Airbag. Wunder verschwinden in diesem Wort. Hervorgehoben werden im Text diejenigen Seiten der Heiligenverehrung, die allgemeine Zustimmung finden dürften: erstens die
55 Begleittexte im Ausstellungsabschnitt 12, Stand: November 2004. 56 Plaketten des Hl. Christophorus, die in Bussen und Autos verwendet werden, finden im Einleitungstext des Auswahlkataloges Erwähnung. Darin wird die Bedeutung der Heiligen auch in der Gegenwart betont. Täube, Heilige als starke Vorbilder, in: Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 76.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion kulturgenerierende Seite der Heiligen („So wurde die Legenda aurea zur besonders anregenden Quelle für die Meister.“), zweitens die konfessionsübergreifenden Aspekte („Sie haben [...] nach christlicher Überzeugung das ewige Leben erreicht.“ / „[...] die sich auf besondere Weise für den christlichen Glauben stark gemacht haben [...]“). Und drittens werden die „unstrittigen“ Heiligen ausgewählt. Im ersten Text werden die biblischen Gestalten genannt, deren Bedeutung für die meisten Christen außer Frage steht, und Kirchenlehrer, Päpste und Bischöfe, deren Verdienst die „Verbreitung und Auslegung der Heiligen Schrift“ war. Diese Beschreibung entfernt sie zum Beispiel von weltlicher Macht, deren Ausübung immer wieder kritisiert wurde. Im zweiten Text werden Märtyrer, „gelehrte und mutige Prinzessinnen“ und „kluge und tapfere Ritter“ aufgezählt. Märtyrer sind generell Sympathieträger, und die Ritter und Prinzessinnen werden durch die beigegebenen Adjektive zu solchen gemacht. Solche Menschen kann man auch heute noch akzeptieren oder gar bewundern. Die ausgewählten Heiligen finden sich in der Ausstellung wieder, allerdings geht der Bestand des Museums über die genannten hinaus. Zu sehen sind unter anderem auch die erwähnte Hl. Kümmernis, die ihre Existenz einem jahrhundertealten Missverständnis verdankt, des weiteren die inzwischen aus dem Heiligenkanon gestrichene Hl. Barbara und der Hl. Eligius als Schmied, der einem unruhigen Pferd den Fuß abhackte, damit es beschlagen werden konnte, und den Fuß dann wieder ansetzte. Anhand dieser Figuren hätte man auch ganz andere Geschichten über die Heiligenverehrung erzählen können, sowohl aus kunstgeschichtlicher und kirchenhistorischer als auch aus volkskundlicher Perspektive: beispielsweise die Entwicklung der Heiligenverehrung, die theologischen Auseinandersetzungen um die damit verbundenen Praktiken oder die Wundergläubigkeit des späten Mittelalters. Prof. Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen beschreibt diesen Ausstellungsabschnitt an einer Stelle als „Heiligenpantheon“. Der Pantheon ist nicht christlichen Ursprungs, insofern suggeriert das Wort einen eher ethnographischen, distanzierten Blick auf die Welt der Heiligen. Aber die Distanz ist meines Erachtens nur vordergründig, ich empfinde das Wort als nicht ironisch gemeint. „Gegenüber [dem Chor, S. C.] erscheint die Westempore als Heiligenpantheon, ein Ort, an dem die Rolle der Heiligen als Vorbilder, Idealfiguren und Helfer für die Menschen des Mittelalters erlebbar werden.“ 57 Genau dieser Anspruch wird in der Ausstellung umgesetzt. Die Heiligen werden erstens als Menschen präsentiert. Damit wird die Entfer-
57 Westermann-Angerhausen, in: das münster 56, 2003, S. 21f.
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Anschauungssache Religion nung der heutigen Besucher zum Mittelalter überwunden, die Heiligen werden in unsere Reichweite gerückt. Zweitens bleiben die nicht mehr verständlichen Seiten der Heiligenverehrung ausgespart. Und drittens werden die Heiligen als Vorbilder präsentiert, die man heute noch akzeptieren kann. Das macht die Heiligen auf der Westempore anschlussfähig, sie werden zu Figuren, auf die man sich auch heute noch einlassen kann.
5.5 Marienbilder: Den Blick befreien Marienstatuen bilden einen bedeutenden Schwerpunkt in der Sammlung des Museums Schnütgen, zahlenmäßig und in der Qualität der Figuren. In großer Zahl sind sie im Ausstellungsabschnitt 6, „Gott wird Mensch: Christus und seine Familie“ zu sehen. Eine zentrale Botschaft dieses Ausstellungsabschnittes ist es, wenig mehr als die Figuren zu zeigen und vieles von dem, was unseren Blick auf die Objekte verstellen kann, beiseite zu halten. Der Blick auf die Madonnen wird gewissermaßen „entrümpelt“. Ältere Deutungen werden weggelassen, statt dessen wird Maria als Mensch präsentiert. Der Ausstellungsabschnitt „Gott wird Mensch: Christus und seine Familie“ setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Im folgenden wird zuerst am westlichen Teil gezeigt, wie der Blick auf die Figuren befreit wird. Anschließend wird für den östlichen Teil untersucht, wie die Kunstgeschichte zur Schilderung einer menschlichen Entwicklung genutzt wird, und abschließend wird die Interpretation anhand eines einzelnen Objektes überprüft.
5.5.1 BASISINFORMATION Im westlichen Ausstellungsbereich sieht man Anbetungsszenen mit Hirten und den Heiligen Drei Königen. Die drei Einzelfiguren der Könige des Meisters Tilman58 nehmen den Sockel der Nordempore ein. Am ersten Pfeiler gegenüber stand 2004 eine barocke Bronzestatue des Hl. Josef.59 Der Text an der Schmalseite der westlichen Stellwand trägt den Titel „Gott wird Mensch – Kindheit Christi“ und zählt die verschiedenen biblischen Themen auf, die bildlich umgesetzt wurden:
58 Hl. Drei Könige, Meister Tilman, Köln, um 1500 – 1505, Nussbaum, Inv.-Nr. A 861 a – c. Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 24. 59 Hl. Josef, Düsseldorf, um 1710, Bronze, Inv.-Nr. H 927. WestermannAngerhausen/Täube, 2003, Nr. 27.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion „Gott wird Mensch – Kindheit Christi / Das Leben Christi und Mariens zählt zu den beliebtesten Themen mittelalterlicher Kunst. Es beginnt mit der Menschwerdung Christi in der Verkündigung, wo ein Engel Maria die Empfängnis durch den Heiligen Geist mitteilt. In der Heimsuchung begegnen sich die Schwangeren, Maria und Elisabeth, die Johannes den Täufer erwartet. Die Geburt Christi durch die jungfräuliche Maria ist besonders häufig dargestellt worden, man denke nur an die Krippen zur Weihnachtszeit. Viele weitere Szenen führen die Kindheitsgeschichte fort. Da sind die Anbetung des Kindes durch die Hl. Drei Könige, die Beschneidung Christi acht Tage nach seiner Geburt oder die Darbringung im Tempel. Auch die Flucht nach Ägypten vor dem kindermordenden Herodes und die Rückkehr von dort gehören zum Repertoire. Zu den meisten Szenen der Kindheit Christi gehört auch Josef, der sog. Nährvater Jesu und von Gott erwählte Gemahl Mariens. Ab dem 16. Jahrhundert ist Josef nicht nur Begleitperson, sondern wird vermehrt alleine mit dem Jesusknaben wiedergegeben.“60
Abgesehen vom ersten und vom letzten Satz werden in diesem Text nur Themen aufgezählt. Der Text konstatiert, welche Begebenheiten aus dem Leben Jesu in der Kunst umgesetzt wurden. Dass diese Themen sehr beliebt waren, und dass Josef ab dem 16. Jahrhundert vermehrt alleine dargestellt wurde, sind die einzigen zusätzlichen Informationen. Ansonsten ist es Basiswissen, es ist die reine Aufzählung der Bildthemen. Der Text stellt sicher, dass die Betrachter eine Minimalinformation zu dem bekommen, was sie sehen, ohne ihren Blick auf weitere Details zu lenken.
5.5.2 MODELLHAFTE ENTWICKLUNGEN Richtung Osten findet man in diesem Ausstellungsabschnitt eine Christkindwiege, auf die weiter unten eingegangen wird. An der Wand dahinter thront eine Muttergottes61 aus der Zeit um 1300, vor der Wandzunge ist die sogenannte Kendenicher Madonna62 aufgestellt. Auf der anderen Seite der Wandzunge sind weitere Marienstatuen zu sehen. Einige thronend, andere stehend, halten einige einen Jesusknaben im Arm, bei anderen ist er verloren gegangen. Einige Plastiken sind auf halbhohen Sockeln einzeln aufgestellt, darunter die bereits erwähnte „Aachener Madonna“.63 Zwei gestaffelte, breite Sockel vor dem Ostabschluss tragen weitere Marienfiguren, die die Besucher anlächeln. In einer Vitrine sind Anna-Selbdritt-Figuren
60 Kapiteltext an der westlichen Wandzunge des Nordseitenschiffes, Stand: November 2004. 61 Thronende Muttergottes, Köln, um 1300, Nussbaum (?), Inv.-Nr. A 52. 62 Kendenicher Madonna, Köln, um 1270 – 1280, Nussbaum, Eiche, Inv.-Nr. A 45. Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 13. 63 Aachener Madonna, Köln, um 1250, Eiche, Inv.-Nr. A 15.
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zusammengestellt. An der Wandzunge ist diesem Bereich folgender Text beigegeben: „Christus und seine Familie / Zu allen Zeiten der christlichen Kunst nimmt die Darstellung Mariens mit dem Kind eine besondere Stellung ein. Die frühen Werke werden von der frontal ausgerichteten, thronenden Maria mit Jesus auf dem Schoß bestimmt, Maria gilt als Thron der Weisheit (sog. sedes sapientiae). Mit dem Übergang zur Gotik gewinnt die stehende Maria mit dem Jesuskind im Arm an Beliebtheit. Immer bewegter und menschlicher wird die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Maria ist dem Kind zärtlich zugewandt und spielt mit ihm. Jesus ist anfangs als erwachsener Herrscher in Kleinformat wiedergegeben, später wird seine Kindlichkeit betont. Die Darstellung der Madonna mit Kind kann durch Anna, der Mutter Mariens, erweitert werden – der sog. Anna Selbdritt. Dabei wird Anna zuweilen zur Übermutter. In den Bildwerken gegen Ende des 15. Jahrhunderts werden die Figuren vermehrt in gleicher Größe im Gespräch miteinander dargestellt.“64
Der Text lenkt den Fokus der Aufmerksamkeit auf die „bewegter und menschlicher“ werdende „Beziehung zwischen Mutter und Kind“. Das Rahmenthema dieser Entwicklung ist der im Verlauf des Mittelalters zunehmende Realismus. Anfangs auf wenige, festgelegte Bildformen beschränkt, werden Maria und der Jesusknabe zunehmend freier als Mutter mit ihrem Kind dargestellt. Dies ist ein in der Kunstgeschichte häufig bearbeitetes Thema. Seine jetzige Akzentuierung im Museum Schnütgen kann durch die Kontrastierung mit früheren Sichtweisen freigelegt werden. Dazu sei Fritz Witte zitiert, der erste Direktor des Museums Schnütgen, der 1912 einen ersten Skulpturenkatalog herausgab. Er beschrieb unter anderem die „Aachener Madonna“: „Frisch pulsiert das Leben unter den Gewändern, die Gliedmaßen runden sich und drängen sich unter den Stoffmassen durch nach außen, die Beine stehen noch schematisch nebeneinander, aber fest schieben sich die Füße nach vorn, um dem Schoß, der das Kind trägt, Festigkeit und Halt zu geben. Die Gestalt hat Leben eingehaucht bekommen, sie ist kein Bildnis mehr, kein Heiligtum an sich, als vielmehr ein Abbild, eine Wiedergabe der aus den Menschen auserkorenen Frau, die den Heiland, ihr Kind, trägt. Die neu auftauchenden Elemente gehen wie ein frischer Zug durch die Gestalt. Die Gottesmutter schaut nicht in weltenferne Weiten, der prächtige, königliche Frauenkopf mit dem leicht gewellten flaumigen Haare neigt sich nieder, und der gemessene tiefe Blick begegnet dem des Kindes. Und doch in keiner Weise ein Abirren von der hohen Auffassung der Theologie und des Glaubens von der Würde der Dargestellten. [...]“65
64 Kapiteltext im Ausstellungsabschnitt 6, Stand: November 2004. 65 Witte, 1912, Kat. Nr. 24.2.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion In diesem raffinierten Text wird eine jahrzehnte-, jahrhundertelange Entwicklung in einem einzigen Kunstwerk zusammengefasst. Die Entwicklung kondensiert in einem Schöpfungsakt, den Fritz Witte (nach-)vollzieht, und den der Leser miterleben kann. Er kann selbst sehen, wie „sich die Gliedmaßen runden“ und der „Gestalt [...] Leben eingehaucht“ wird. Maria wird zum Menschen. Aber Maria wird nicht nur zum Menschen, sie wird gleichzeitig auch zur Frau. Noch einmal Fritz Witte, der auch die „Madonna auf dem breiten Thronsitz“66 beschrieb: „Als glänzendes Beispiel dieser Glanzzeit der Madonnenbildnerei sei auf unsere thronende Maria [...] hingewiesen [...]. Fleckenloseste Reinheit, die anmutige Jungfräulichkeit neben der Mutterschaft, losgelöst beides von jeder Erdenschwere, die thronende, glückliche, triumphierende Himmels- und Engelskönigin hat der Künstler dem Volke vorführen wollen. Symbol ist der Körper als Träger der Vorzüge, Symbol ist selbst das fließende Gewand, ein rhythmischer Sang, in Holz und Farbe und Gold übertragen. [...] Alles ist Anmut und Äußerung keuschester weiblicher Reize, in Einzelheiten fast kokett und gesucht.“67
Fritz Witte verbalisiert in poetischer, rhythmischer Sprache, was der Künstler dem Volke, seinem Auftraggeber oder Gott vorführen wollte. Wittes Annahmen geben sich als kunstgeschichtliche Beschreibung, sie gelten der Madonna und sind doch gleichzeitig Weiblichkeitsmodelle, sind Idealvorstellungen für alle Frauen. Demgegenüber nehmen sich heutige Beschreibungen viel nüchterner aus. Anton Legner etwa ging 1991 in der Beschreibung der „Aachener Madonna“ auf Parallelen zur „Muttergottes mit dem Bergkristall“68 ein und hob ihre ursprüngliche Goldfassung sowie ihre Funktion als Reliquienbehältnis hervor: „Aus der Zeit, in der in Köln das größte Werk mittelalterlicher Goldschmiedekunst, der Dreikönigenschrein, seiner Vollendung entgegenging, stammen zwei der kostbarsten thronenden Madonnen des Schnütgen-Museums, die viel Gemeinsamkeiten aufweisen. Beidemal hält die Muttergottes in jeder Hand einen Apfel, beidemal legt das Gotteskind sein Händchen auf die Frucht in der Linken Mariens. [...] Nicht auf einer Kathedra mit umrißreicher, geschweifter Rückwand, deren Spitze ein ‚gotisches’ Dreiblatt krönt, wie die wegen ihrer angeblichen Herkunft sogenannten Aachener Madonna [...], sitzt die Muttergottes mit dem Bergkristall, sondern auf einem alten romanischen Ringpfostenstuhl. Auch ihr geradeaus gerichteter Blick folgt mehr der kultischen Haltung und dem Beharren auf symmetrischem Aufbau als dem Bezug zwischen Mutter und Kind.
66 Madonna auf dem breiten Thronsitz, Köln, um 1270, Eiche, Inv.-Nr. A 46. 67 Witte, 1912, Kat. Nr. 25.1. 68 Muttergottes mit dem Bergkristall, Köln, um 1220/30, Fassung 1. Hälfte 14. Jh., Eiche, Nussbaum, Inv.-Nr. A 14. Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 8.
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Anschauungssache Religion Im übrigen sind auch diese beiden Figuren Reliquienbehältnisse gewesen, und die ehemalige prachtvolle Erstfassung der Holzmadonna [= Aachener Madonna, S.C.] imitiert ein metallbeschlagenes oder getriebenes Werk der Goldschmiedekunst. Auch die metallische Härte der Gewandfältelungen scheint den technischen Stil des Goldschmieds zu reflektieren. Die Grenzen zwischen Skulptur und Goldschmiedekunst heben sich auf [...].“69
Verglichen mit dem Text von Fritz Witte ist dieser Abschnitt fast technizistisch. Zur jetzigen Ausstellung skizziert Dr. Manuela Beer am Beispiel der Aachener Madonna den Prozess der Vermenschlichung: „Während bei den frühen Darstellungen dieses Typs [= der Sitzmadonnen, S.C.] eine strenge, frontale Figurenkomposition vorherrschte, kam es im 13. Jahrhundert vermehrt zu einem dialogischen Austausch zwischen Mutter und Kind. Die Aachener Madonna, eines der bedeutendsten Bildwerke des Museums, nimmt mit sanfter Kopfneigung Blickkontakt zu dem auf ihrem Schoß sitzenden, segnenden Kind auf.“70
Die „Aachener Madonna“ ist, wie an früherer Stelle beschrieben, vor der Südseite eines Pfeilers aufgestellt. Vor der Westseite desselben Pfeilers ist eine weitere Sitzmadonna zu sehen, die vergoldete und mit Edelsteinen geschmückte „Muttergottes mit dem Bergkristall“, die auch im oben zitierten Text von Anton Legner mit der „Aachener Madonna“ verglichen wird. Diese Madonna hält wie die „Aachener Madonna“ in jeder Hand einen Apfel und trägt auf dem linken Knie einen segnenden Christusknaben. Aber beide, Maria und der Knabe, blicken gerade nach vorn. Im Auswahlkatalog ist nachzulesen, dass die „Aachener Madonna“ ursprünglich ebenfalls mit Blattgold überzogen war, so dass sich die Unterschiede zwischen beiden Skulpturen auf das Verhältnis zwischen Mutter und Kind reduzieren. Die Museumsbesucher können also die im Text beschriebene Entwicklung vom unverbundenen Nebeneinander zum Austausch selbst sehen.71 Hierin ist nichts mehr von „prächtigen Frauenköpfen“ oder „keuschesten weiblichen Reizen“ enthalten. Die jetzige Ausstellung schildert den wachsenden Realismus in der mittelalterlichen Kunst als die Entstehung von Austausch und Dialog. Erinnert sei an den oben zitierten Kapiteltext, der den Vorgang für die Entwicklung der Anna-Selbdritt-Gruppen beschreibt: Die Figuren würden „vermehrt in gleicher Größe im Gespräch miteinander“ abgebildet. Das betont
69 Legner, 1991, S. 236. 70 Beer, in: Vernissage 2, 2003, S. 20. 71 Der Audioguide fordert die Besucherinnen und Besucher ebenfalls auf, vergleichend zu sehen.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion nicht weibliche (ob tatsächliche oder erhoffte) Eigenschaften, sondern menschliche Fähigkeiten. Die Kunstwerke können so wesentlich freier von gender-Kategorien betrachtet werden. Auch wenn das Vorwissen, die Erwartungen und Stereotypen, die die Besucherinnen und Besucher mitbringen, durch die museale Präsentation nur bedingt beeinflusst werden können, wird hier doch versucht, ihren Blick frei zu machen, ihren Blick gewissermaßen zu entrümpeln.
5.5.3 DIE CHRISTKINDWIEGE: LOSLÖSUNG VON GENDER-KATEGORIEN Gestützt wird die bisherige Interpretation durch die vertiefende Betrachtung eines einzelnen Objektes in diesem Ausstellungsabschnitt: der Christkindwiege A 779.72 Dieses 31 cm hohe und 28 cm breite „Andachtsmöbel“73 steht in einer eigenen Vitrine in der Mitte des Ausstellungsabschnittes. Es hat einen prominenten Platz und man kann es von allen Seiten betrachten. Benutzt wurde es von Nonnen, also in der Regel von Nicht-Müttern, die darin Figuren des Jesuskindes wiegten. Obwohl hier also die biologische Eigenschaft der Gebärfähigkeit das Modell ist, kann auch die Auswahl dieses Ausstellungsobjektes als Versuch interpretiert werden, Geschlechterrollen zu überwinden. 1997 wurde die Christkindwiege in die Ausstellung „Joseph Beuys und das Mittelalter“ einbezogen. Im Ausstellungskatalog sind ein Foto der Wiege und einer Zeichnung von Joseph Beuys einander gegenübergestellt.74 In den hellen, feinen Linien der Zeichnung erkennt man eine stehende Frau, die ein Kind hochhebt und es herzt. Man assoziiert als Thema „Mutter mit Kind“, wobei die Zeichnung keinen Titel trägt. Christkindwiegen kamen im 14. Jahrhundert in Frauenklöstern auf. Figuren des Jesuskindes wurden darin aufbewahrt und gewiegt. Manchmal wurden die Figuren herausgenommen, gewickelt und liebkost. Das wirkt heute leicht befremdlich. Man sieht darin (wie in anderen Zeugnissen über die Praktiken und Gefühle von mittelalterlichen Nonnen) oft eine eigenartige Mischung aus religiösen und verdrängten erotischen oder sexuellen Elementen. In der Zusammenstellung mit der Zeichnung von Beuys soll meines Erachtens das Befremden gemindert und das grundlegende Gefühl betont werden: die Liebe zu einem Kind, unabhängig von leiblicher Mutterschaft.
72 Christkindwiege, Köln, um 1340 / 1350, Eiche und Pergament, Inv.-Nr. A 779. Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 17. 73 Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 40. Dort in Anführungsstrichen als „Andachtsmöbel“ bezeichnet. 74 Beuys und das Mittelalter, 1997, S. 140f (Abb. 31 und 32).
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Anschauungssache Religion Im Jahr davor, 1996, wurde die Christkindwiege in einem Auswahlkatalog des Museums von Prof. Dr. Westermann-Angerhausen publiziert.75 Beginnend mit dem Verweis auf die Fremdheit mittelalterlicher Meditationspraktiken erklärt Westermann-Angerhausen die Christkindwiegen mit einem Bezug auf das Thema der Pietà: „Es gestattet die Identifikation der Gläubigen mit der Muttergottes [...].“76 Das Wort „die Gläubigen“ ist erst einmal geschlechtsneutral. Mit dem Text im Auswahlkatalog von 2003 nimmt Westermann-Angerhausen die Meditationspraktiken wieder auf. Sie macht darin die Wiege als Mittel der „praktischen Meditation“ plausibel, ohne zu übergehen, worin diese Meditation bestand.77 Sie verbindet die Wiege mit unseren heutigen Gewohnheiten, indem sie auf die Weihnachtskrippen und auf manche Weihnachtslieder verweist: „und
75 Westermann-Angerhausen, Hiltrud: Die Heiligen Drei Könige. Meisterwerke im Schnütgen-Museum Köln. Köln, 1996, S. 28 – 30. 76 Ebd., S. 28. 77 Der Katalogtext lautet: „Christkindwiege. Nachts ist das Christkind lebendig erschienen. / Christkindwiegen gab es lange vor der Erfindung unserer Weihnachtskrippen. In Frauenklöstern dienten sie seit dem 14. Jahrhundert der praktischen Meditation über die Geschichte der Erlösung. Die Dominikanernonne Margareta Ebner berichtet 1344 in einem Brief ‚daz mit wart gesendet von Wiene ain minneklichez bilde, daz was ain Ihesus in ainer wiegen’. Nachts sei ihr das Christkind lebendig erschienen und wollte von ihr geherzt und geküßt werden. Solche kleinen Jesusbilder wurden gewickelt und gewiegt, zierliche Decken für sie gestickt und Lieder wie ‚Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein’ sang man auch damals dazu. Leider hat sich das Jesuskind mit Kleidchen und Deckchen zu unserer Christkindwiege nicht erhalten. Sie ist das älteste ‚Andachtsmöbel’ dieser Art, das wir kennen, und entstand in Köln zwischen 1340 und 1350. Durch ihre Vergoldung wirkt sie sehr kostbar und ist doch aus erschwinglichem Material. In Holz, Pergament und Gips wird feinste handwerkliche Qualität für den Devotionalienhandel einer blühenden, frommen Großstadt aufgeboten. Maßwerk, Fialen und Krabben, die wir von großen Bauten kennen, rahmen die goldenen Giebelfelder. Sie erzählen vom heilbringenden Kreuzestod Jesu und von der Anbetung der Heiligen drei Könige, die das Kind von Bethlehem als Messias verehrten.“ Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 40. Ein wichtiges Ziel des Textes ist es m. E., Befremden zu mildern. Im Untertitel des Textes („Nachts ist das Christkind lebendig erschienen“) wird die klösterliche Vision ganz objektsprachlich als Faktum hingestellt. Möglichem Erstaunen ob dieses Objektes wird zuvorgekommen: Das Jesuskind war ja da! Das Möbel hat also seine Berechtigung. Befremden mildern – so kann auch der Hinweis auf Bauart und erschwingliche Preise gedeutet werden, die zeigen, dass dieses Stück zu einer weit verbreiteten Gattung gehört, oder die Wortwahl: Es ist nicht das älteste „erhaltene“ Stück seiner Art, sondern das älteste, das „wir kennen“.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion Lieder wie ‚Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein‘ sang man auch damals dazu.“ Jede und jeder, die oder der dies singt, nimmt kurzzeitig die Stelle Marias ein, ebenso jede Frau, die an der Christkindwiege saß. Biologisches Geschlecht und leibliche Mutterschaft werden in ihrer Bedeutung kurzzeitig gemindert, sie gehen in der imaginären Beziehung zum Jesuskind auf. Insofern ist auch die Christkindwiege ein Beitrag zur Loslösung von gender-Kategorien in der Ausstellung. Sie verweist auf allgemein Menschliches. Allerdings, die Loslösung von Geschlechterrollen und deren Aufhebung im allgemein-menschlichen Gefühl ist hier für das Christentum durchgespielt. Sie funktioniert in Christus. Den Ausstellungsabschnitt 6 kann man also als Versuch interpretieren, die Objekte als Modelle für menschliches Verhalten zu interpretieren. Anhand von Skulpturen werden zunehmende Dialogfähigkeit, zunehmend menschliches Miteinander und Liebe thematisiert. Die dargestellte Liebe bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Jesus. Die Ausstellung stellt in ihrer Erzählung Gleichheit zwischen den Geschlechtern her. Gesteht man der Erzählung einer Ausstellung Appellfunktion zu, kann man von einer religiösen Botschaft in diesem Ausstellungsabschnitt sprechen. Sie ließe sich zum Beispiel so formulieren: Die Liebe zu Jesus ist ein anstrebenswertes Ideal, in der alle Christen gleich sind.
5.6 Jesusdarstellungen: Mitleiden Im Südseitenschiff sind Bilder des gekreuzigten Christus und andere Passionsszenen zu sehen. Dieser Ausstellungsabschnitt trägt den Titel „Passion und Erlösung: Gott als Opfer“. Im folgenden Kapitel wird zunächst gezeigt, dass auch dieser Ausstellungsabschnitt eine emotionale Entwicklung zum Thema hat. Anschließend wird das Verhältnis, das in der Ausstellung zum religiösen Gehalt der Bildwerke hergestellt wird, untersucht. An einigen Details kann dargestellt werden, wie die Präsentation religiöse Aussagen wachhält. Abschließend werden diese Ergebnisse mit dem Thema „Passion“ abgeglichen und überlegt, welche Konsequenzen die Verbindung des Bildthemas mit den Geschichten der Objekte hat.
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5.6.1 MITLEIDEN ALS ERGEBNIS EINER ENTWICKLUNG Das eben vorgestellte Nordseitenschiff und das Südseitenschiff sind aufeinander bezogen. In der in „Vernissage“ von Dr. Manuela Beer vorgestellten Konzeption werden Geburt und Kreuzigung als ein „Themenkreis“ verstanden.78 Die Präsentationen in Nord- und Südseitenschiff ähneln sich dementsprechend, es gibt inhaltliche und formale Parallelen.79 In beiden Ausstellungsabschnitten wird eine Zunahme an Menschlichkeit geschildert. War es in dem in Abschnitt 5.5.2 zitierten Text „Christus und seine Familie“ die menschlicher werdende Beziehung zwischen Maria und dem Jesuskind, ist es hier das Leiden des Gekreuzigten, das zunehmend in den Blick gerät, und das das Mitleiden der gläubigen Betrachter hervorrufen sollte: „Vom siegreichen König zum geopferten Gottessohn / Die Kreuzigung Christi ist das zentrale Thema der mittelalterlichen Kunst. Während aus karolingischer Zeit nur Schriftquellen von hölzernen Kruzifixen berichten, haben sich aus ottonischer Epoche die ersten Bildzeugnisse erhalten, darunter auch der sog. Kruzifixus Neuerburg im Museum Schnütgen. Bei den frühen Darstellungen des Gekreuzigten herrscht der Gedanke vor, dass Christus durch seinen Opfertod die Sünde und das Böse überwunden hat. Er erscheint als siegreicher König und Gott. Eine Krone konnte auf sein Königtum verweisen, während seine Füße auf einem Fußbrett (Suppedaneum), einem weiteren Erhöhungssymbol, ruhten. / Monumentale Kruzifixe wurden als Triumphkreuze auf einem Balken hoch oben im Chorbogen errichtet, oft durch die Figuren von Maria und Johannes dem Evangelisten zu einer Triumphkreuzgruppe erweitert. / Bereits im 12. Jahrhundert kündigte sich ein grundlegender Wandel im Christusbild an. Neben der Vorstellung vom siegreichen Erlöser wurde Christus nun stärker in seiner menschlichen Natur erfaßt. In den Kruzifixdarstellungen fanden die Qualen der
78 „Der Großteil des etwa 1200 Objekte umfassenden Bestandes an mittelalterlicher Holzskulptur des Museum Schnütgen umfasst Darstellungen aus dem Leben und der Passion Christi. Vor dem Hintergrund, dass Geburt und Kreuzigung nach christlicher Auffassung zu den zentralen Ereignissen der Heilsgeschichte gehören, vermitteln die im nördlichen und südlichen Seitenschiff zu diesem Themenkreis aufgestellten Skulpturen einen repräsentativen Ausblick auf die wichtigsten Schwerpunkte mittelalterlicher Kunst vom 10. bis zum 16. Jahrhundert.“ Beer, in: Vernissage 2, 2003, S. 18. 79 Formal: Beide Ausstellungsabschnitte sind weitgehend symmetrisch aufgebaut. Beide sind durch zwei Stellwände gegliedert, die Pfeiler sind als Stellflächen in die Ausschnitte einbezogen, die Figuren stehen oder hängen vor den Wänden und Pfeilern. Die Kunstwerke werden jeweils als „Objekte der religiösen Verehrung“ präsentiert. Hier hängt beispielsweise der in Punkt 5.3.1 beschriebene „Kruzifixus von St. Georg“.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion erlittenen Passion immer drastischere Formulierungen. Sie sollten den Betrachter zum Mitleiden aufrufen.“80
Die im Text angesprochenen Merkmale kann man direkt an den ausgestellten Kunstwerken betrachten: Der „Kruzifixus Neuerburg“81 ist rechts neben dem Text aufgestellt. Jesus steht hier aufrecht vor dem Kreuz, seine Füße ruhen, von zwei kleinen Nägeln durchbohrt, nebeneinander auf einem Suppedaneum. Seine Arme sind annähernd waagerecht ausgebreitet, der Kopf leicht nach rechts geneigt. Er markiert zwar nicht den Anfangspunkt der hier geschilderten Entwicklung, denn seine Augen sind geschlossen und seine Mundwinkel herabgezogen, aber die aufrechte Haltung und das Suppedaneum weisen auf die Interpretation als „König“. Die neben diesem ältesten Holzbildwerk des Museums aufgehängten Darstellungen des Gekreuzigten verdeutlichen die weitere Entwicklung: Der Kopf des nur wenig jüngeren „Torso eines Kruzifixus“82 rechts neben dem Kruzifixus Neuerburg ist auf die Schulter gesunken. Daneben ist ein weiterer Kruzifixtorso83 aufgehängt, dessen tief herabgesunkener Kopf Schmerz und Tod noch deutlicher ausdrücken. Die extreme Biegung des hängenden Körpers führt vom Scheitel bis zum weit nach links ausgelenkten rechten Fuß – der Kontrast zum aufrecht stehenden „Kruzifixus Neuerburg“ ist groß. Die zunehmend realistische Schilderung des Leidens wird den Besucherinnen und Besuchern deutlich belegt.
5.6.2 KUNSTWERKE ALS TRÄGER RELIGIÖSER BOTSCHAFTEN Die hier ausgestellten Bilder wurden geschaffen, um eine religiöse Botschaft zu transportieren. Meines Erachtens ist die beabsichtigte Wirkung der Bilder in diesem Ausstellungsabschnitt auch heute in besonderer Weise präsent. Die Wirkung der Bilder wird explizit gemacht, indem sie thematisiert wird. Der oben zitierte Kapiteltext endet mit den Sätzen: „In den Kruzifixdarstellungen fanden die Qualen der erlittenen Passion immer drastischere Formulierungen. Sie sollten den Betrachter zum Mitleiden aufrufen.“ Dies können die Besucher nachvollziehen, weil die drastischen Darstellungen selbst präsent sind: Man sieht die abstoßenden Peiniger Jesu, man sieht Marias schmerzverzerrtes Gesicht angesichts ihres toten Sohnes, und die dicken Blutstropfen, 80 Kapiteltext im Ausstellungsabschnitt 9, Stand: Sommer 2004. 81 Kruzifixus Neuerburg, Trier (?), Anfang 11. Jh., Weide (später ergänztes Kreuz: Nadelholz), Inv.-Nr. A 997. Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 20. 82 Torso eines Kruzifixus, Rheinland, um 1050, Weide, Inv.-Nr. A 4. 83 Torso eines Kruzifixus, Köln, um 1230/40, Eiche, Inv.-Nr. A 19.
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Anschauungssache Religion die aus dem Körper des Gekreuzigten quellen. Die Darstellung des Leidens kann den Besuchern nahe gehen, im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne. Sodann wird betont, dass die Bildwerke zur persönlichen „Zwiesprache“ gedacht waren. Auf das Thema des individuell-persönlichen Bildgebrauchs ist man bereits vorbereitet, wenn man das Südseitenschiff von der Südseitenempore kommend betritt. Der hier untergebrachte Ausstellungsabschnitt 10 trägt den Titel „Fromme Bilder für den Hausgebrauch“, ausgestellt sind unter anderem Passionsszenen. Dass die kleinen Bildnisse für die individuelle Anschauung gedacht waren, wird nun im Ausstellungsabschnitt 9 noch einmal betont. Auf einer Vitrine steht: „Viele Kleinskulpturen des Spätmittelalters illustrieren das Leiden Christi. Das kleine Format ermöglichte dem frommen Betrachter eine unmittelbare Zwiesprache.“84 Da der Leser dieses Textes der aktuelle Betrachter ist, kann er seine Art der Betrachtung auch kurzzeitig als „Zwiesprache“ gestalten und empfinden. Aus dieser Richtung kommend erfahren die Besucher einen raschen Wechsel von sehr kleinen zu sehr großen Figuren. Diese Anordnung überwältigt die Besucher. Alle diese Details tragen dazu bei, dass sich die Besucher nicht nur in die künstlerische Gestaltung, sondern auch in den Inhalt der Kunstwerke, in den Kreuzestod Jesu vertiefen. Die kunstgeschichtliche Betrachtung geht damit in religiöse Anschauung über.
5.6.3 PASSION UND PASSIONEN Im Ausstellungsabschnitt „Gott als Opfer: Passion und Erlösung“ häufen sich an den Objekten Verweise auf Ereignisse aus der Museumsgeschichte. Teilweise werden den Besuchern diese Ereignisse über Texte zugänglich gemacht85 und teilweise sind sie aus der Lite-
84 Vitrinentext im Südseitenschiff, Stand: November 2004. Das Wort „fromm“ steht hier an anderer Stelle als in der Überschrift zum Ausstellungsabschnitt 10, „Fromme Bilder für den Hausgebrauch“. Dieser Titel könnte leicht ironisch wirken, aber aus dem Vitrinentext ist die Ironie verschwunden, ja sie verbietet sich geradezu: Ein frommer Betrachter ist nicht zu verspotten. 85 Etwa durch Hinweise auf den Objektbeschriftungen, zum Beispiel: „Maria von einer Triumphkreuzgruppe, Ostalpen, um 1220 – 30, Buche, A 1085 / Geschenk zum Abschied von Hermann Schnitzler, Direktor des Museum Schnütgen von 1953 bis 1970 / Restauriert mit freundlicher Unterstützung von Inge Maria Buekers, Köln.“ Stand: November 2004. Zum Objekt s. Legner, Anton: Neuerwerbungen des Schnütgen-Museums 1970/71. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch/Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte 33, 1971, S. 383.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion ratur zu erfahren.86 Das verwandelt vorher unbeteiligte Besucher in „eingeweihte“ Betrachter. Sie verbinden etwas mit dem Objekt und sind bei seiner Betrachtung innerlich stärker beteiligt. Anhand zweier Objekte wird nun gezeigt, wie das christliche Thema „Passion“ durch die Objekt- und Museumsgeschichten in die Erfahrungswirklichkeit der Besucher geholt wird. Eine Leidens- und Rettungsgeschichte Der bereits mehrfach erwähnte „Kruzifixus von St. Georg“ zählt seit rund hundert Jahren zum Bestand der Sammlung Schnütgen. Inzwischen knüpfen sich zahlreiche Erinnerungen und Ereignisse an seine Geschichte als Museumsobjekt. Verschiedene Texte machen diese Geschichten den Besuchern zugänglich, indem sie ein kleines „kollektives Gedächtnis“ herstellen. Die Museumsgeschichte der Skulptur beginnt mit seiner Auffindung „in desolatem Zustand“87 auf einem Speicher durch Fritz Witte. Die Christusfigur wurde daraufhin der Sammlung eingegliedert und zum ersten Mal durch das Museumspersonal gerettet und gereinigt. Die zweite Rettung erfuhr die Skulptur im Zweiten Weltkrieg. Hermann Schnitzler führte den Torso als Beispiel für die „abenteuerlich[en]“ Wege an, auf denen manche Objekte während des Zweiten Weltkriegs in Sicherheit gebracht wurden: Zuerst in die Kölner Kreissparkasse ausgelagert, gelangte der Kruzifixus dann nach Ehrenbreitstein, von dort auf die Burg Hohenzollern, und nach Kriegsende wurde er in Tübingen gezeigt.88 „Die Gastfreundschaft [...], die das Schnütgen-Museum an seinen Bergungsorten genossen hat, wird nicht vergessen sein,“89 schrieb Schnitzler. Natürlich wurden auch andere Objekte über viele Stationen während des Krieges in Sicherheit gebracht, in seiner Erzählung über die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre wählte Schnitzler jedoch den Kruzifixus von St. Georg als Exemplum, an dem sich die Geschichte vollzog. Die nächste große Veränderung brachte die Neuaufstellung 1977, die in Kapitel 5.3.1 dargestellt wurde (s. Abbildung 12): „Heruntergeholt“ auf die Höhe der Besucher wirkte der Kruzifixus auf manche Menschen schockierend. Anton Legner hielt eine Äußerung Kardinal Höffners anlässlich der neuen Präsentation fest: „manche erschraken vor der unmittelbaren Konfrontation mit dem torsohaften Bild Christi und hatten diese als Blasphemie bezeichnet. Für uns war der Ein86 Anderes wiederum wird museumsintern bleiben. 87 Schnitzler, o. J. (1956), S. 7. 88 Schnitzler, Hermann: Von der Sammlung Schnütgen zum SchnütgenMuseum. Köln, 1965, o. P. 89 Schnitzler, o. J. (1956), S. 8.
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Anschauungssache Religion druck entscheidender, den die damalige Darbietung auf Kardinal Höffner machte: ‚Der Corpus Christi in der römischen Basilika’, so sagte er, als er vor dem Bildwerk stand.“90
Hier diente der Eindruck, den die Skulptur auf einen hochrangigen Vertreter der katholischen Kirche machte, als Legitimierung für die aufsehenerregende Neukonzeption. Der Kruzifixus war das Stück, an dem sich die Geister schieden. Auch in den Folgejahren wurde die Skulptur immer wieder neu gedeutet und verwendet. Für die Ausstellung „Beuys und das Mittelalter“ stellten die Kuratoren die Figur der Installation „Tramstop – Straßenbahnhaltestelle – Fermata del Tram – Monument für die Zukunft, 1961 – 1976“ gegenüber.91 Drei Jahre später war sie auf der EXPO 2000 im Christuspavillon zu sehen.92 Sie hing dort über dem Altar und war „[e]rstmals seit langer Zeit [...] wieder im Zentrum des Gottesdienstes.“93 Die Musealisierung des Objektes wurde hier also kurzzeitig (im Kontext einer Ausstellung!) rückgängig gemacht, das Objekt erhielt ein sabbatical vom Museumsalltag. Davor war die Figur „in einer spektakulären Aktion wie ein menschlicher Patient geröntgt worden. So konnte sichergestellt werden, dass das Holz im Inneren der Figur nicht brüchig war und der Transport ohne Gefährdung erfolgen konnte.“94 Es folgte eine drei Jahre dauernde Restaurierung, der im Ausstellungsheft „Vernissage“ ein ganzes Kapitel und eine eigene Seite im Internetauftritt des Museums gewidmet sind.95 Die Restaurierung war aufwändig und veränderte den Eindruck, den die Skulptur macht. Die Christusfigur wurde „freigelegt“ und damit zum bislang letzten Mal gereinigt und gerettet. Mit dem Kruzifixus verbinden sich also seit knapp hundert Jahren immer mehr Erinnerungen. Der Subtext dieser Erinnerungen summiert sich zu einer Erzählung von Gefahrensituationen und Rettungen, von drohendem Verfall und von Krieg und von gelungenen Aufstellungen der Skulptur. Es ist nicht unerheblich, dass die Hauptfigur dieser Erzählungen der Gekreuzigte ist: Das Abbild des gekreuzigten Jesus „erlitt“ sozusagen „kleine Passionen“, ihre Auf-
90 Legner, 1991, S. 352. 91 Westermann-Angerhausen/Täube, 1997, Abb. 16 und 17. 92 Wegner, Gerhard und Horst Hirschler: Die EXPO-Kirche. Der ChristusPavillon. Regensburg, 2000 [Schnell und Steiner Kunstführer Nr. 2433]; Zahner, Walter: Die kirchlichen Pavillons auf der EXPO 2000 in Hannover. In: das münster 53, 2000. S. 271 – 274, Abb. S. 273. 93 Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 56f. 94 Ebd., S. 57. 95 Beer, Manuela: Der Kruzifixus von St. Georg. In: Vernissage 2, 2003, S. 46 – 52 sowie: http://www.museenkoeln.de/museum-schnuetgen/, Stand: 20. 03.2007.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion stellungen im Museum und auf der EXPO 2000 werden als „kleine Auferstehungen“ geschildert. Die „kleinen Passionen und Auferstehungen“ berühren die Lebenswelt mancher, vielleicht vieler Besucher: Die älteren haben Krieg, Bombennächte oder Flucht erlebt. Andere wissen aus ihrer Arbeit im Heimatmuseum, wie lieb man alte, vom Speicher geborgene und restaurierte Stücke gewinnen kann. Wieder andere kannten Kardinal Höffner, waren auf der EXPO 2000 oder begeistern sich für Beuys – kurz, die hier erzählten Geschichten bieten Anknüpfungspunkte an die Erfahrungswirklichkeit zahlreicher Besucherinnen und Besucher und an ihre Emotionen. Dies hat eine wichtige Auswirkung auf die mögliche Wahrnehmung des Themas des Ausstellungsabschnittes, die Passion Christi:96 Die Passion Jesu Christi erhält durch die Erlebnisse der Skulptur Parallelen im 20. Jahrhundert. Diese Geschichten sind vielen Besuchern näher als das Passionsgeschehen, das vor 2000 Jahren stattgefunden haben soll. Anders ausgedrückt: Die Berichte der Evangelien erhalten durch die Geschichte des Objektes Verstärkung. Die Passion Christi wird in den Passionen des Objektes greifbar. Bewahrte Unvollkommenheit Am Ende der Passion Christi steht der Tod. Neben den Abbildern des gekreuzigten Jesus werden im Museum Schnütgen auch Figuren der um Jesus trauernden Personen gezeigt. Zwei davon, die Statuen von Maria und Johannes von einer Triumphkreuzgruppe aus Sonnenburg in Südtirol,97 verweisen nicht nur auf Jesu, sondern auch auf einen weiteren Todesfall. Dieses Figurenpaar regt zu einer weitergehenden Interpretation an. Die beiden überlebensgroßen Statuen stehen in der jetzigen Präsentation auf zwei Sockeln vor der Südseitenapsis. Die rechte Körperhälfte der Marienfigur ist offensichtlich gereinigt und zeigt eine helle, farbige Fassung. Ihre linke Hälfte und die Johannesfigur sind mit einer dunkleren, dicken Fassung überzogen, die über die ältere, farbenfrohere und feinere Bemalung aufgetragen wurde. Die beiden Augen Marias blicken in zwei verschiedenen Winkeln: Ihr rechtes Auge ist geradeaus gerichtet, das linke blickt zu Boden.
96 Trotz der Kapiteltextüberschrift „Gott als Opfer: Passion und Erlösung“, sind hier vor allem Darstellungen der Passion zu sehen. Was mit „Erlösung“ gemeint ist, wird nicht ganz klar. 97 Maria und Johannes von der Sonnenburger Triumphkreuzgruppe, Pustertal (Südtirol), Ende 12. Jh., Zirbelkiefer, Inv.-Nr. A 762 und A 763. Die Figuren sind in Abbildung 12 zu sehen. In der Aufstellung von 1977 rahmten sie den „Kruzifixus von St. Georg“.
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Anschauungssache Religion Man ist von dieser „halben Restaurierung“ dementsprechend irritiert. In den Ausstellungstexten wird sie nicht problematisiert. In einem Aufsatz von Anton Legner kann man den Grund für den Zustand der Figuren nachlesen: Am Ostersonntag 1977 starb der Restaurator des Museums, Friedrich Schwarz: „Während der intensivsten Arbeit starb am Ostersonntag – acht Wochen vor der Wiedereröffnung des Kölner Museums mittelalterlicher Kunst – der Restaurator des Hauses, Friedrich Schwarz. Das Tödlein, das in der Barockvitrine als ‚memento mori’ seine Sense schwingt, hielt er gerne in Bewegung fest im eigenen Film, der seinem Andenken gewidmet ist. Nur dieses Tödlein bewegt sich im Raum [...]. Mitten im Raum stehen die Sonnenburger Figuren. Ihre Restaurierung hatte gerade begonnen, als der Tod eintrat. Aber die freigelegte Gesichtshälfte der Marienfigur demonstriert, wie Übermalungen späterer Zeiten die ursprüngliche Erscheinung dieser bedeutendsten Südtiroler Skulpturen der romanischen Kunst entstellt hatten.“98
Dass sich Friedrich Schwarz gerne mit dem Abbild des Todes befasste, und dass sein eigener Tod dann so plötzlich eintrat; der doppelt bedeutsame Zeitpunkt des Todes (kurz vor der Wiedereröffnung, am Ostersonntag) – diese Ereignisse sind nun mit der halb restaurierten Marienfigur, mit ihrem halb geschwärzten Gesicht verwoben. Obwohl die meisten Besucher die darin verborgene Geschichte nicht erfahren, ist die Wirkung des Objektes ähnlich wie beim „Kruzifixus von St. Georg“: Die Besucher setzen sich mit dem Objekt intensiver auseinander. Es bleibt ihnen eher im Gedächtnis. Es wirkt stärker. Darüber hinaus könnten die Sonnenburger Figuren als Metaphern für die Museumsarbeit und vielleicht für alle menschliche Arbeit gemeint sein. Die Arbeit das Museums Schnütgen besteht, so kann man es wohl formulieren, zu einem beträchtlichen Teil aus Restaurieren, Retten und Freilegen, im konkreten wie im übertragenen Sinne: „Lassen wir sie nicht verschimmeln!“ heißt die Aktion, mit der das Museum Schnütgen Paten für Restaurierungsprojekte wirbt.99 Die Rettungsgeschichten über den „Kruzifixus von St. Georg“ wurden eben geschildert. Die vorherigen Kapitel zeigten, dass religiöse Themen durch die Inszenierungen „freigelegt“ werden, etwa der „Sinn“ des Gottesdienstes oder die Botschaften der Marienfiguren. Während der Freilegung der Sonnenburger Figuren starb ihr Restaurator. So, wie Anton Legner diese Geschichte erzählt, erhält sie Beispielcharakter von religiöser Aussagekraft: Die menschlichen Be98 Legner, in: das münster 30, 1977, S. 191. 99 http://www.museenkoeln.de/museum-schnuetgen/, Stand: 20.03.2007.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion mühungen („intensivste Arbeit“) wurden durch den Tod unterbrochen. Der Tod trat am Ostersonntag, am wichtigsten christlichen Feiertag ein, was die Frage, die sich immer aufdrängt: warum dieser Mensch sterben musste, noch schmerzlicher erscheinen lässt. Auch die Auseinandersetzung des Restaurators mit dem Tod in Gestalt des „Tödleins“, des Sensenmannes, bewahrte ihn nicht vor einem unerwarteten, unzeitigen Tod. Seine Arbeit trug zwar schon Früchte (sie demonstrierte die „Entstellungen“ späterer Zeiten), aber sie blieb unvollkommen. Die Unvollkommenheit wurde bewahrt, indem die Fertigrestaurierung der Figuren nicht erfolgte. Unter der Prämisse, dass das Faktische im Museum normative Kraft hat, und dass Museumsstücke immer als Exempel wirken, heißt dies: Menschliche Arbeit bleibt immer unvollkommen, „es ist alles eitel“. Die Sonnenburger Figuren sind das „memento mori“ des Museums.100 Für die Passions- und Kreuzigungsszenen in der Dauerausstellung insgesamt gilt, dass ihre Betrachtung durch verschiedene Mittel eine Intensitätssteigerung erfahren: Ein „religiöser Standpunkt“ wird privilegiert. Die Art der Betrachtung der Kunstwerke wird zur „Zwiesprache“ stilisiert. Das heißt, es wird eine Rezeption idealisiert und begünstigt, die nicht nur visuell abläuft, sondern bei der die Besucher kognitiv und emotional beteiligt sind. Durch die Betonung des Mitleidens allgemein wird auch auf Betrachterseite die Bereitschaft zum Mitleiden erweckt. Anknüpfungspunkte für ein Mitleiden oder mindestens Mitempfinden finden die Besucher in den Verweisen auf die Museumsgeschichte. Sie machen die Figuren für die Betrachter bedeutender, interessanter und zugänglicher. Ein Teil der Objektgeschichten sind ihrerseits Passionsgeschichten. Die „große“ Passion Christi und die „kleinen“ Passionen der Objekte treffen aufeinander und bestärken sich gegenseitig. Insofern wird in diesem Ausstellungsabschnitt auch eine religiöse Aussage getroffen: Eine für den christlichen Glauben zentrale Geschichte wird neu erzählt und gültig gemacht.
5.7 Modifikationen, Zusammenfassungen und Ausblicke Das Museum Schnütgen ist in seiner Gestalt einzigartig. Und gleichzeitig ist es ein sehr aussagekräftiges Beispiel für die Entwicklungen der europäischen Museumsgeschichte: Seine jetzige Dauerausstellung greift das lange Wechselspiel zwischen Autonomiebestrebungen für die Kunst und religiöser Inanspruchnahme künstle-
100 Zum memento mori siehe auch Kapitel 5.7.1.
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Anschauungssache Religion rischen Tuns auf. Es spielt mit der Ähnlichkeit zwischen den Wahrnehmungsweisen von „Kunst“ und „Kult“. Die Aussagen, die im Museum getroffen werden, gründen in der langen Geschichte des für die europäische Kultur prägenden Christentums. Im Medium „Kunst“ werden religiöse Inhalte transportiert, die auch allgemeine Gültigkeit behaupten. So werden die Kunstwerke mit zahlreichen Bedeutungsschichten versehen. Teilweise werden diese Schichten jedoch nicht transparent gemacht, werden Implikationen der Inszenierungen nicht diskutiert.
5.7.1 DER HINWEIS AUF DEN TOD ALS VALIDIERUNG
Abbildung 14: Blick auf Harald Naegelis Tödlein am vermauerten Westportal. Quelle: Rheinisches Bildarchiv Köln.
Die Analysen zeigen, dass Schönheit und Menschlichkeit einen wichtigen Platz in den Aussagen des Museums einnehmen: Die Schönheit der Heiligenfiguren verdeutlicht ihren Vorbildcharakter. Die Maria-mit-Kind-Darstellungen sind Modelle für menschliches Miteinander. In vielen Kunstwerken können die Besucher Modelle 164
Zur Verbindung von Kunst und Religion für ein gutes Leben sehen. Licht und hell wie der Kirchenraum ist auch dieser Teil der Aussagen des Museums. Die Gegenstücke zu diesen Themen laufen in der Cäcilienkirche wortwörtlich im Untergrund mit. Die Krypta beherbergt den Ausstellungsabschnitt „Memento mori, Kunstgenuss und Meditation“. In einer Vitrine werden kleinformatige Schnitzwerke gezeigt, die sich mit dem Tod auseinandersetzen. Ein in Elfenbein geschnitzter, verwesender Leichnam,101 ein „Tödlein“,102 Rosenkranzperlen, die auf der einen Seite ein menschliches Gesicht und auf der anderen einen Totenschädel zeigen: Diese und ähnliche Objekte unterstreichen die Mahnung „Bedenke, dass du sterblich bist“. Memento mori – diese Mahnung kann als ein Subtext der Ausstellung gelesen werden. Die Krypta ist relativ dunkel, und weil die Objekte sehr kleinteilig gearbeitet sind, müssen die Besucher ihre Köpfe nah an die Vitrinenscheibe beugen, wenn sie die Objekte betrachten wollen. Dann entdecken sie grausige Details, etwa die Würmer und Fliegen, die sich am Körper eines Leichnams gütlich tun. Schon in der früheren Konzeption gab es eine Vitrine, die memento-mori-Objekte versammelte, teilweise dieselben Objekte, die jetzt in der Krypta zu sehen sind. Allerdings stand diese „Barockvitrine“ oben auf der Empore.103 Dort konnte man die Objekte eher als Beispiele genialen Kunsthandwerks genießen, als in ihrem jetzigen, viel intimeren Rahmen, der ihre Eigenschaft als Meditationsobjekte in den Vordergrund rückt. Auf dem Weg zur Krypta passieren die Besucher ein Mauernische, die verglast und beleuchtet ist. Darin liegen ein Schädel und andere Skelettreste. In der Ausstellung findet sich kein Kommentar zu dieser Besonderheit.104 Der Blick auf die „echten“ Leichenteile kommt damit einer Validierung der Aussage „Bedenke, dass du sterblich bist“ gleich: Die Skelettreste verkörpern die Sterblichkeit des Menschen im wahrsten Sinne des Wortes.
101 Memento mori, Westschweiz, um 1520. Elfenbein und Ebenholz, Leihgabe der Sammlung Peter und Irene Ludwig, Aachen. Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 106. 102 Tödlein, Süddeutschland, 2. Hälfte 18. Jahrhundert, Weichholz, Inv.-Nr. A 995, Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, Nr. 107. 103 So von Legner, in: das münster 30, 1977, S. 191 benannt. S. Zitat zum Tod des Restaurators Franz Schwarz, Kap. 5.6.3. Eine Abbildung der Vitrine findet sich in: Dieckhoff, Reiner: Klappernd Gebein und nagend Gewürm. Memento mori im Schnütgen-Museum. In: Legner, 1981, S. 39 – 48, s. S. 39. 104 Anton Legner vermutet, man stehe hier vor den Überresten einer Inklusin. Legner, 2003, S. 138.
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Anschauungssache Religion Die Botschaft „memento mori“ wird außerhalb der Krypta wiederholt.105 Erstens kann man die Sonnenburger Figuren als Träger dieser Botschaft verstehen, und zweitens findet sie sich auch an der Außenseite der Kirche: Harald Naegeli, bekannt als der „Sprayer von Zürich“, hat 1980 an die Außenseite des Westportals ein Skelett gesprüht (s. Abbildung 14).106 Die Tatsache, dass dies das einzige zeitgenössische Kunstwerk ist, das dauerhaft zur Cäcilienkirche gehört, möchte ich so verstehen, dass der Mahnung „memento mori“ dauerhafte Gültigkeit und Aktualität zugesprochen wird. Die Aussagen in den anderen Teilen der Ausstellung, die Bilder vom guten Leben, erhalten vor diesem Hintergrund ein anderes Gewicht. Der Hinweis auf den Tod hat in unserer Geistesgeschichte schon lange die Appellfunktion, das eigene Leben nach dieser „einzigen Gewissheit“ auszurichten. Damit war lange Zeit gemeint, ein möglichst guter Christ zu sein. Die christlichen Ideale sind in der Cäcilienkirche weiterhin präsent, auch wenn sie in allgemeineren Formulierungen aufgehen. Die Besucherinnen und Besucher können das „Bedenke, dass du sterblich bist“ also traditionell oder allgemeiner verstehen, als Aufforderung, ein besseres und / oder christlicheres Leben zu führen. Christliche Ideale werden mit geistesgeschichtlicher Tradition, mit Kunst und Kultur verbunden. Der Museumsbesuch bietet Anlass zur Selbstreflexion.
5.7.2 „DIFFERENZ“
ALS INTERPRETAMENT?
Die Vielzahl der Religionen kommt im Museum Schnütgen nur am Rande vor. Mal gibt es einen Herkunftshinweis „omaijadisch“,107 mal wird auf die Interpretation der Heiligen Drei Könige als Vertreter
105 Auch im Auswahlkatalog findet sich eine „Wiederholung“ der Mahnung: Als eines von zweien der 111 vorgestellten Objekte ist das erwähnte „Memento mori“ aus der Westschweiz (Leihgabe der Sammlung Peter und Irene Ludwig) mit zwei Fotografien im Auswahlkatalog vertreten (Das andere ist der sog. Kruzifixus von St. Georg). Alle anderen Objekte wurden nur je einmal abgebildet. Das zweite Foto des Elfenbeinleichnams – eine Detailaufnahme in den geöffneten Brustkorb – wurde dem einführenden Kapiteltext beigegeben, der damit als einziger seiner Art bebildert ist. Auswahlkatalog 2003, S. 156f. 106 Müller, Michael (Hg.): Der Sprayer von Zürich. Solidarität mit Harald Naegeli. Reinbek bei Hamburg, 1984. Zur Datierung: Vernissage 2, 2003, S. 63; Naegeli, Harald: Mein Revoltieren, mein Sprayen. Dokumentation von Fotos, Zeichnungen und Texten, ausgewählt vom Zürcher Sprayer. Bern, 1979. 107 Objektbeschriftung für einen Zeremonialkamm: Omaijadisch, 7. – 8. Jahrhundert, Elfenbein, B 99.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion „fremder“ Völker verwiesen108 oder Ochs und Esel hinter der Krippe als „Sinnbilder“ für das Juden- und Heidentum erklärt.109 Innerkatholische Entwicklungen oder die Kritik der Reformation am katholischen Bildgebrauch werden nicht thematisiert. Auch die Bilder, die sich das Mittelalter von Juden und Muslimen machte, kommen nicht vor. Dadurch entsteht ein sehr homogenes, geschlossenes Bild der mittelalterlichen Religion, des vortridentinischen Katholizismus. Selbstverständlich bildet der damalige Katholizismus den Hintergrund für die meisten der ausgestellten Kunstwerke. Und da es im Museum Schnütgen darum geht, diese Kunst angemessen zu präsentieren, und nicht darum, die Glaubenswelten des Mittelalters darzustellen, ist diese Fokussierung erklärlich. Wie jedoch gezeigt wurde, werden im Museum an mehreren Stellen Verbindungen vom Mittelalter in die Gegenwart geknüpft, zum Beispiel im Titel „2003 n. Chr.“, in der Vermittlung zwischen uns und den Menschen früher im Medium der Kunstbetrachtung, in der Darstellung der Heiligen als auch heute noch gültige Vorbilder oder auch in der Aktualisierung der Botschaft „memento mori“. Diese Verbindungen in die Gegenwart berühren religiöse Themen. Wird also der Gegenwart das Idealbild einer religiösen Einheit und Einigkeit gegenübergestellt? Und welcher Appell ergeht daraus an die heutige plurale Gesellschaft? Viele, gerade kulturhistorisch-ethnographisch orientierte Museen betonen die Differenzen innerhalb einer Kultur und die Vielzahl der Kulturen, die „Geschichte von unten“ oder die „andere Kultur“. Diesen Trend vollzieht das Museum Schnütgen teilweise mit, wenn etwa die „Volkskultur“ mit der massenhaften Verbreitung der Andachtsbilder in den Blick genommen wird. In Bezug auf Religion geht das Museum Schnütgen jedoch einen anderen Weg. Pluralität und Differenz dienen ihm hier nicht als Interpretament. Statt dessen wird ein Religionsbild hergestellt, dessen Homogenität meines Erachtens normative Anklänge hat.110
108 „Die Heiligen Drei Könige waren sehr wichtig für die Geschichte der christlichen Frömmigkeit und Kunst. Ihre Geschichte galt als Zeichen dafür, dass auch Menschen fremder Religionen und Kulturen Christus als göttlichen Retter der Welt anerkennen und verehren. Später wurden sie als Könige von Persien, Indien und Arabien beschrieben oder symbolisch für die damals bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika gesehen.“ Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 47. 109 „Hinter der Krippe lassen sich Ochs und Esel erkennen, Sinnbilder für das Juden- und Heidentum, welche durch Christi Geburt überwunden werden.“ Westermann-Angerhausen/Täube, 2003, S. 38. 110 Prof. Dr. Westermann-Angerhausen merkt an, das „Außergewöhnliche dieses Hauses als – inzwischen längst historisierte – Gründung für christliche Kunst“ käme in den vorliegenden Interpretation zu wenig zum Vor-
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Anschauungssache Religion
5.7.3 WIE VIEL RELIGION BRAUCHT DIE KUNSTBETRACHTUNG? Die Sammlung Schnütgen wurde im Laufe der Jahre ganz unterschiedlich präsentiert. Mal scheint die kirchliche Funktion der Objekte betont, mal scheinen kirchliche Anklänge bewusst vermieden worden zu sein. Betrachtet man die verschiedenen Präsentationen, oder vielmehr das, was sich an Aussagen darüber und Bildmaterial davon erhalten hat, lässt sich über alle Veränderungen die Frage legen: „Wie viel Religion“ empfand die jeweilige Zeit als der Kunstbetrachtung angemessen? Die Antworten, die darauf im Museum Schnütgen gegeben wurden, scheinen mir nicht nur für die Persönlichkeiten ihrer Protagonisten, sondern auch für ihre jeweilige Zeit typisch (gewesen) zu sein. Im ersten Gebäude am Hansaring wurde eigens eine Kapelle als Ausstellungsraum errichtet. Fritz Witte berichtete darüber: „Fast noch höher ist die Anregung und Belehrung einzuschätzen, die hier das Volk gewinnt für seine künstlerischen und damit zusammenhängenden religiösen Bedürfnisse, zumal in der weihevollen Aufstellung, [...]. Kapelle mit Sakristei und Kreuzgang, sowie zwei kleine und fünf große Zimmer bilden die untere [...] Etage [...].“111
Dem Domkapitular Alexander Schnütgen waren die kirchliche Funktion und der religiöse Gehalt der Objekte wichtig. Er wollte seine Sammlung kirchlicher Kunst und kirchlichen Kunsthandwerks als Vorbild und Inspiration für das Kunstschaffen seiner Zeit verstanden wissen. (Die zeitgenössische Kunst scheint er nicht geschätzt zu haben.) Dazu kam eine zeittypische Motivation für seine Sammelzüge. „Colligite fragmenta ne pereant“, „Sammelt die Bruchstücke, damit sie nicht verloren gehen,“ wird ihm als Ausspruch zugeschrieben.112 Die nächste Präsentation, die Fritz Witte verantwortete, unterschied sich radikal vom historischen Eklektizismus des Gebäudes am Hansaring: Die Sammlung wurde 1931/32 in ein ursprünglich religiös genutztes Gebäude verlegt, in das Heribertskloster in KölnDeutz, die Präsentation vermied jedoch bewusst alle kirchlichen Anmutungen. Die Werke wurden einzeln auf weißen Sockeln vor schein. Statt dessen würde die Verf. vieles unter den Verdacht von „Missionierung“ stellen, was der Geschichte (zum Beispiel Cäcilienkirche als Gebäude) und den Sammlungsbeständen geschuldet sei. Brief von Prof. Dr. Westermann-Angerhausen an die Verf. vom 19.10.2007. 111 Witte, 1912, S. 13. 112 Westermann-Angerhausen, Hiltrud (Hg.): Colligite fragmenta ne pereant. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 150. Geburtstag seines Gründers. Köln, 1993.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion weißen Wänden gezeigt, die Präsentationsform zeigt Parallelen zu Gestaltungsprinzipien der Neuen Sachlichkeit. Fritz Witte schrieb in einer Sonderbeilage der Kölnischen Volkszeitung (19. März 1932): „erstes und letztes Prinzip [...] sei die möglichste Isolierung der Kunstwerke, als ob gewissermaßen das Museum für jeden einzelnen hochwertigen Gegenstand allein errichtet worden sei.“113 Religiöser Gehalt und religiöse Funktion der Kunstwerke gelten hier als wenig relevant. Die Präsentation zählte zur Avantgarde im Ausstellungswesen. Gerade von dieser Art der Ausstellungsgestaltung machten die Nationalsozialisten Gebrauch. Die Sammlung Schnütgen scheint einer Interpretation in ihrem Sinne jedoch entgangen zu sein. Nach dem Krieg wurde das Museum in die Cäcilienkirche verlegt. Über die Ersteinrichtung nach dem Krieg berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung folgendermaßen: „An den kirchlichen Charakter des Ortes erinnert nur der Schieferaltar mit den gotischen Marmorskulpturen von der Dom-Mensa, an dem zweimal im Jahr die Messe gefeiert werden soll, und die geschnitzte Kanzel an den Chorstufen. Sonst hat Hermann Schnitzler ein Ensemble wie in der Kirche bewußt vermieden. [...] Das Sympathische und immer wieder die Schaulust Anregende dieses Museums neuen Typs liegt wohl aber darin, daß es keine starre Doktrin vertritt, sondern aus einem künstlerischen Geist geformt worden ist.“114
Gelobt wurde das „Künstlerische“ der Präsentation, ihre Ideologiefreiheit. Angesichts der damals jüngsten deutschen Vergangenheit wird das kaum verwundern. Die vorhandenen religiösen Bezüge, der Kirchenbau und der „Altar“, wurden vom Kritiker kaum beachtet. Vielleicht verband er Kirche und Ideologie nicht miteinander, weil die Kirchen lange (und fälschlicherweise) als Institutionen galten, die sich von der NS-Ideologie fern gehalten hatten. In der Neukonzeption 1977 unter Anton Legner gerieten die religiösen Bezüge erneut in den Blick. Er selbst schrieb über die Konzeption: „Vieles in der neuen Präsentation wird merkwürdig berühren. Der Schwebezustand der Skulpturen, z.B., die dichte Fügung der zu neuen Heiligenensembles zusammengestellten Figuren. Doch vieles davon ist aus dem Nachdenken zur Gestalthaftigkeit und zur Präsenz der Bilder im Mittelalter entstanden, aus dem Nachdenken über den Verismus ihrer Existenz, über die Kategorien des Numinosen, der Aura, der Originalität, des Unikats, aber auch der Materialität. Kein Bildwerk des Museums befindet sich mehr in seinem ursprünglichen Zusam-
113 Zit. nach: Legner: Jubiläumsgedanken. In: Ders., 1981, S. 13 – 25, hier S. 17. 114 Trier, Eduard: Die Basilika als Museum. FAZ vom 15.05.1956, zit. nach: Legner, in: Ders., 1981, S. 17f.
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Anschauungssache Religion menhang. Deshalb wurden die Heiligenfiguren [...] zu neuen aufeinanderbezogenen Figurenensembles vereinigt.“115
Das heißt, in der Präsentation sollten religiöse Kategorien zur Anschauung kommen – an anderer Stelle verwies er auch auf das „Charisma“ der Bilder116 –, sie wurde jedoch nicht an traditionellkirchliche Konzepte angelehnt, sondern an Begriffe aus der Religionsphänomenologie/-wissenschaft und der Kunstgeschichte. Legner berichtete an anderer Stelle von der Beurteilung in der Presse, derzufolge sein Konzept aufging: „Von der ‚Inszenierung des Kultischen’ war jetzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Rede gewesen. Tiefer liegende [...] Schichten erschienen angesprochen [...]. Die gesamte neue Inszenierung des Schnütgen-Museums sei [...] als eine Vergegenwärtigung mittelalterlicher Weltsicht im kirchlichen Ambiente zu verstehen, wobei bewußt darauf verzichtet wurde, rekonstruktive Mittel imitierend anzuwenden. [...] Dem Rationalen hätte man dem ihm gebührenden Platz eingeräumt. Als wichtiger erweise sich für diesen Raum jedoch seine Evokation des Kultischen, das sich ‚leicht und mild, licht, frei und weich’, nicht mit einem kirchlichen Gebrauch dieses Ambientes identifizieren will. Daß es sich gleichwohl nicht nur um eine, wenn auch bestechend schöne Realisation privater Einfälle handele, erweise sich aus der Bedeutung, die das Kultische in der neuesten Produktion moderner Künstler einnähme.“117
Wie im Zusammenhang mit dem „Kruzifixus von St. Georg“ ausgeführt wurde, empfanden manche Besucher diese „Evokation des Kultischen“ als blasphemisch, von einem offiziellen Vertreter der Katholischen Kirche erfuhr Legner allerdings Bestätigung. Die Interpretation der Kunstwerke als „numinose“ Objekte, als „Kultbilder“ folgte zeitlich einer Welle religiöser Pluralisierung in Deutschland (Anwachsendes Interesse am Buddhismus, Entstehung „Neuer religiöser Bewegungen“, „New Age“). Offenbar wurde ein allgemeines Interesse an Religion auch an die kirchliche Kunst im Schnütgen-Museum herangetragen. Gemessen an der 70er-Jahre Konzeption erscheinen die religiösen Kategorien, die sich in der heutigen Präsentation finden, wieder traditionell-kirchlicher. Wie in den Analysen ausgeführt, gab Prof. Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen zum Beispiel als Ziel an, im Chor „Sinn und Würde des Gottesdienstes“ erfahrbar zu machen. Viele Details in der Präsentation der Kunstwerke nehmen ihre ursprüngliche Verwendung auf. Pointiert gesagt, nicht „das Kultische“, sondern „das Christliche“ wird evoziert. Daneben werden, wie
115 Legner, in: das münster 30, 1977, S. 191. 116 Legner, in: Ders., 1981, S. 19. 117 Ebd., S. 18.
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Zur Verbindung von Kunst und Religion in den Analysen ebenfalls gezeigt, in der jetzigen Präsentation auch allgemeine Werte vertreten. Ein Teil der Besucherinnen und Besucher wird letztere als über ersteres hinausgehen sehen, ein anderer Teil wird die allgemeinen Werte als in den christlichen Werten enthalten sehen. Das Museum Schnütgen macht beide Lesarten möglich. Die Wiederherstellung der Verbindung von Kunst und Christentum findet sich auch in anderen Museen. So ist das Museum Schnütgen also wieder Teil einer Avantgarde. Kirchliche und nicht-kirchliche Institutionen bieten Veranstaltungen an, eröffnen Museen und Ausstellungen, in denen der religiöse und vor allem christliche Gehalt von Kunstwerken im Mittelpunkt steht. Nur zwei Beispiele: 2003 eröffnete das „Museum am Dom“ der Diözese Würzburg.118 Darin werden Kunstwerke aller Art und jeden Alters Oberbegriffen zugeordnet, unter denen sich christliche Tugenden und theologische loci finden („Menschwerdung“, „Verheißung“, „Hoffnung“). Im Kurzführer zur Ausstellung steht: „Mit diesem Konzept wird [...] die Möglichkeit geschaffen, [...] in die inhaltliche Tiefe der Werke um des eigenen Gegenübers willen zu sich, der Welt und zu Gott vorzudringen.“119 Der Museumsbesuch soll vor allem anderen Anlass zur Reflexion sein, als Bezugsrahmen dient die christliche Tradition. Das Kunstmuseum des Kantons Thurgau organisierte 2005/06 die Ausstellung „Gott sehen. Das Überirdische als Thema der zeitgenössischen Kunst“ in der Karthause Ittingen.120 Ziel der Ausstellung war es einerseits, sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, wie das Überirdische abzubilden ist, und andererseits die religiösen Bezüge der zeitgenössischen Kunst aufzuspüren und diese als wichtige Komponente hervorzuheben. Die Einträge im Besucherbuch zeigten, dass sich die Besucher anlässlich der Ausstellung
118 http://www.museum-am-dom.de, Stand: 20.03.2007; Vernissage. Die Zeitschrift zur Ausstellung 33, 2002. Museum am Dom. Eine neues Museum in Würzburg; Klein, Rüdiger: Architektur und Vernetzung. Museum am Dom im Kontext von Raum und Zeit. Regensburg, 2004. 119 Lenssen, Jürgen: Museum am Dom. Die Ausstellung. Hgg. von der Diözese Würzburg. O.O., 2004, S. 3. 120 Messmer, Dorothee und Markus Landert (Hg.): Gott sehen. Das Überirdische als Thema der zeitgenössischen Kunst. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Karthause Ittingen, 02.10.2005 bis 23.04.2006. Sulgen, 2005. Das Christentum mit seinen verschiedenen Traditionen wurde in der Ausstellung zwar nur als eine Religion unter vielen behandelt, rein quantitativ dominierten jedoch die Kunstwerke mit christlichen Bezügen. Der Titel der Ausstellung erhebt die monotheistischen Traditionen zum Normalfall.
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Anschauungssache Religion auch mit ihrem Glauben auseinandersetzten. Die Ausstellung war eine „Wiederentdeckung“ des Religiösen in der Kunst. In einigen Jahren wird man beurteilen können, warum die christliche Fundierung von Kunst und ihr religiöser Gehalt gerade jetzt wieder stärker in den Blick genommen werden.
5.7.4 DIE TRADIERUNG DER VERBINDUNG VON RELIGION UND KUNST Um es noch einmal zu betonen: Das Museum Schnütgen versteht sich als Kunstmuseum, es geht darin nicht in erster Linie um Religion. Aber viele religiöse Themen sind mit denjenigen Themen, um die es im Museum Schnütgen eigentlich geht, verknüpft. Damit spiegelt das Museum Schnütgen allgemeine gesellschaftliche Verfasstheiten. Europäische Kultur ist in vielen Bereichen eng mit dem Christentum verwoben. Gerade unser „visuelles Erbe“, das kollektive Bildgedächtnis ist durch das christliche Zeichenrepertoire geprägt. Zwischen religiöser Tradition und „allgemein“ gültigen Werten fehlt manchmal die Unterscheidungsmöglichkeit. Die Verbindung beider wird sogar oft betont. In der Kunstbetrachtung werden religiöse Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen aktiviert. Das kann kunstgeschichtlich begründet werden und wird in vielen Museen genutzt. Im Museum werden jedoch Verfasstheiten nicht nur gespiegelt, sondern auch tradiert, geformt, bestätigt, modifiziert. In Bezug auf das Thema Religion wirkt das Museum in dieser Hinsicht konservativ: Es schreibt die Verbindung von Kunst und Religion, von Kunst und Selbstreflexion und die Einbettung unserer Kultur in christliche Tradition fort. Die Öffnung des Blicks auf andere Kulturen als die traditionelle „Leitkultur“, wie sie zum Beispiel für die Repräsentation der gender-Fragen oder die Öffnung des Blickes auf die Kulturen breiterer Schichten festzustellen ist, fehlt in Bezug auf andere Religionen. Dies wird sich ändern, wenn das geplante Kulturzentrum am Neumarkt fertig gestellt ist. Wie schon angedeutet, wird hier das Rautenstrauch-Joest-Museum mit seinen ethnographischen Sammlungen einziehen. Die christliche Kunst wird dann durch die Abteilung „Der Mensch und andere Welten“ direkt mit Objekten anderer Religionen121 vergleichbar gemacht werden, was die in der Cäcilienkirche getroffenen Aussagen modifizieren dürfte und von beiden Seiten als Bereicherung empfunden wird.122 121 Engelhardt, in: Kraus/Münzel, 2003, S. 151ff und dies.: Das neue Rautenstrauch-Joest-Museum. Außereuropäische Kunst und Kulturen. In: Dezernat für Kunst und Kultur der Stadt Köln, 2006, S. 15 – 34, insbes. S. 31 – 33. 122 Engelhardt, in: Kraus/Münzel, 2003, S. 142 und Westermann-Angerhausen, in: das münster 56, 2003, S. 17.
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6. NORD-
UND
MITTELAMERIKA IM ÜBERSEE-MUSEUM
BREMEN: RELIGION ALS GEGENMODELL Mit Kloster Asbach und dem Museum Schnütgen wurden in den vorherigen Kapiteln Ausstellungen untersucht, die mittels Objekten überwiegend aus christlichen Kontexten verschiedene Bereiche des Glaubens und der vor allem mittelalterlichen Kunst präsentierten. Mit den im folgenden darzustellenden ethnologischen Dauerausstellungen soll beispielhaft die museale Präsentation von Religionen, die ganz anders als das Christentum strukturiert sind, erforscht werden. Ausgewählt wurden zwei Präsentationen zu den Religionen der Native Americans, weil Ausstellungen zu „Indianern“ in kaum einem Völkerkundemuseum fehlen und weil in der Repräsentation der Native Americans in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen stattfanden.1 Außerdem stoßen ihre Kulturen und Religionen in Deutschland vielfach auf positive Vorurteile.2 Viele Versatzstücke 1
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Überblicke über die Entwicklungen in USA und Kanada: Archambault, JoAllyn: American Indians and American Museums. In: Zeitschrift für Ethnologie 118, 1993, S. 7 – 22; Fabricius, Susanne und Nancy J. Fuller: Native American Museums and Cultural Centers: Historical Overview and Current Issues. In: Ebd., S. 223 – 237; Feest, Christian: Museum Representations of Native American Issues in an Ongoing Debate. In: Acta Americana 9, 2001, S. 5 – 15; Nicks, Trudy und Tom Hill: Turning the Page. Forging New Partnerships between Museums and First Peoples. Ottawa, 1991; Price, Marcus H.: Disputing the Dead. U.S. Law on Aboriginal Remains and Grave Goods. Columbia, 1991; West, Richard W.: The Changing Presentation of the American Indian. Museums and Native Culture. Washington, Seattle, 2000. Zur Auswirkung dieser Entwicklungen in Deutschland s. Kapitel 7 und 9.2. Literatur zum Beispiel: Berkofer, Robert F.: White Conceptions of Indians. In: Handbook of North American Indians, Bd. 4. Washington, 1988, S. 522 – 547; Bolz, Peter: Life among the „Hunkpapas“. A Case Study in German Indian Lore. In: Feest, Christian (Hg.): Indians and Europe. An Interdisciplinary Collection of Essays. Aachen, 1989, S. 475 – 490; Gerber, Peter R.: Der Indianer – ein homo oekologicus? In: Stolz, Fritz (Hg.): Religiöse Wahrnehmung der Welt. Zürich, 1988, S. 221 – 244; Schmidt, Dorotha: Indianer als Heilsbringer. Ein neues Klischee in der deutschsprachigen Literatur? Frankfurt am Main, 1988.
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Anschauungssache Religion ihrer Religionen sind hier bekannt (Namen, Objekte und Rituale: „Manitou“, „Wakan Tanka“, die sogenannte Friedenspfeife, der Sonnentanz und vieles mehr), was für die Vermittlungsarbeit durch das Museum eine besondere Herausforderung darstellt. Wie wird das mit Vorkenntnissen und Vorurteilen beladene Fremde inszeniert? In vielen Religionen der nordamerikanischen Indianer gibt es Geheimwissen, gibt es Objekte und Rituale, die nur Eingeweihten zugänglich sind. Wie gehen die Kuratorinnen und Kuratoren mit diesen Elementen um? In beiden ausgewählten Museen wurde die Darstellung der Hopi fokussiert, weil die Untersuchung beschränkt werden musste und die Religion der Hopi auf besonderes wissenschaftliches, Sammlerund Publikumsinteresse trifft. Seit über hundert Jahren erforschen Wissenschaftler die Kultur der Hopi und erwerben Sammler ihre Objekte.3 Die Hopi sind dank ihrer Bemühungen um territoriale und
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Der wohl berühmteste Wissenschaftler, der die Hopi studierte, war Aby M. Warburg (1866 – 1929). Während seiner Reise durch die USA 1895/96 besuchte er die Hopi und konzipierte später, nach den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs und seiner psychischen Erkrankung, auf seinen Beobachtungen des Schlangenrituals aufbauend, eine religionshistorische Theorie (Warburg, Aby M.: Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff. Berlin, 1988; Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg, 2006, S. 237ff). Unter den heutigen Ethnologen und Religionswissenschaftlern sei Armin W. Geertz (geb. 1948) genannt. Er beschäftigt sich nicht nur mit den Hopi selbst, sondern auch intensiv mit ihrer Rezeption in verschiedenen Medien (Literatur s. weiter unten, sowie: http://person.au.dk/en/awg@teo. au.dk/, Stand: 22.03.2008). Katsinam wurden seit der Wende zum 20. Jahrhundert gesammelt. Das Ethnologische Museum Berlin zum Beispiel erwarb die ersten Katsinafiguren 1901. Auch zahlreiche Künstler sammelten Katsinafiguren, darunter Marcel Duchamp (1887 – 1968), Max Ernst (1891 – 1976), André Malraux (1901 – 1976) und Horst Antes (geb. 1936). Im Rahmen neuerer religiöser Bewegungen wurde Frank Waters (1902 – 1995) „Das Buch der Hopi“ zum Bestseller (Book of the Hopi, zuerst erschienen 1963). Die „Weissagungen der Hopi“ fanden weite, unter anderem auch filmische Verbreitung („Koyaanisqatsi“, 1982, Regie: Godfrey Reggio. Stellvertretend noch ein Autor: Buschenreiter, Alexander: Unser Ende ist Euer Untergang. Die Botschaft der Hopi und anderer U.S.-Indianer an die Welt. Düsseldorf, München, 1983). Siehe zur Hopi-Rezeption unter anderem: Geertz, Armin W.: Hopi-Forschung, Literarische Gattungen und Frank Waters’ „Das Buch der Hopi“. In: Duerr, Hans Peter (Hg.): Betrug und Authentizität in der Ethnologie. Frankfurt am Main, 1987, S. 111 – 136; Kelly, Richard S.: Hobby? Hopi! Some Remarks on the Hopi Reception in Germany. In: European Review of Native
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Religion als Gegenmodell kulturelle Autonomie vielfach Sympathieträger. Sie selbst sind uneins in der Frage, wie sie der dominanten nordamerikanischen Kultur begegnen sollen.4 Das folgende Kapitel ist der Nord- und Mittelamerika-Abteilung des Übersee-Museums Bremen gewidmet. Die Präsentation wurde nach der umfassenden Sanierung und Neukonzeption des Hauses in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder eröffnet und ist damit die älteste der in dieser Arbeit untersuchten Dauerausstellungen. Die Inszenierung führt Teile des Katsina-Kultes der Hopi weitgehend deskriptiv und neutral vor, proklamiert jedoch ein Vorbild an gelebter Religion für ein anderes Volk, für die Tarahumara aus dem Norden Mexikos. Die empathische Schilderung ihrer religiösen Haltung inszeniert ihre Lebensweise als besser als die „des Westens“. Im folgenden kommt nach einer kurzen Einführung zum Übersee-Museum Bremen zunächst die Konzeption der Nord- und Mittelamerika-Abteilung zur Darstellung, die den Geist der 1970er Jahre atmet. Anschließend wird der unmittelbare Kontext für die HopiInszenierung, der Ausstellungsteil Mittel- und Nordwestamerika erschlossen, bevor die Inszenierungen zu den Hopi und zu den Tarahumara analysiert werden.
6.1 Historische und inhaltliche Skizze Das Übersee-Museum Bremen besitzt natur-, völker- und handelskundliche Sammlungen. Schon der erste Direktor des Museums, Dr. Hugo Schauinsland, zeigte seine ethnographischen Sammlungsbestände im Verbund mit naturkundlichen Themen. Der Verbund der drei Fachgebiete ist seitdem ein spezifisches Merkmal des Übersee-Museums. Sie intensiv zu vernetzen, wurde auch in der Neukonzeption der späten siebziger Jahre angestrebt, zu der der untersuchte Ausstellungsabschnitt gehört. In seinem heutigen Museumsgebäude wurde das Übersee-Museum als „Städtisches Museum für Natur-, Völker- und Handelskun-
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American Studies 3, 1989, S. 13 – 16; Mit Einschränkungen: Kunze, Albert (Hg.): Hopi und Kachina. Indianische Kultur im Wandel. München, 1988. Zur Ethnographie unter anderem: Clemmer, Richard O.: Hopi History, 1940 – 1974. In: Handbook of North American Indians, Bd. 9. Washington, 1979, S. 533 – 538; Connelly, John C.: Hopi Social Organisation. Ebd., S. 539 – 553; Dockstader, Frederick J.: Hopi History, 1850 – 1940. Ebd., S. 524 – 532; Frigout, Arlette: Hopi Ceremonial Organization. Ebd., S. 564 – 576; Griffith, James Seavey: Kachinas and Masking. In: Handbook of North American Indians, Bd. 10. Washington, 1983, S. 764 – 777.
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Anschauungssache Religion de“ 1896 eröffnet.5 Seine Vorgeschichte reicht indes gut hundert Jahre weiter zurück. 1776 gründete sich in Bremen die „Physikalische Gesellschaft“, eine Lesegesellschaft mit angeschlossenem Naturalienkabinett. Die Naturaliensammlungen der später in „Gesellschaft Museum“ umbenannten Vereinigung wuchsen in der Folgezeit an und wurden einige Jahrzehnte später um erste ethnographische Objekte bereichert: 1808/09 kamen chinesische Pantoffeln und Mokassins nordamerikanischer Indianer dazu. Die ethnographischen Objekte wurden 1872 in eine eigene Sammlung überführt, für die eine „Anthropologische Kommission“ zuständig war. Dem Stil der Zeit entsprechend bemühte sich die Anthropologische Kommission auch um Knochenfunde und „Alterthümer“ jeglicher Region. Beide Sammlungen wurden 1875 der Stadt übergeben, die sie zu den „Städtischen Sammlungen für Naturgeschichte und Ethnographie“ zusammenfasste. 1890 führte die Bremische Kaufmannschaft eine Gewerbe- und Industrieausstellung durch, die als großer Erfolg wahrgenommen wurde, und letztlich zum Beschluss führte, ein Museum zu errichten. Auf der Ausstellung war eine „Handelshalle“ zu besichtigen, an deren Konzeption der damalige Direktor der Städtischen Sammlungen, Hugo Schauinsland, mitwirkte. Den dort gezeigten Importgütern wurden Objekte beigegeben, die die Kulturen der jeweiligen Herkunftsländer veranschaulichen sollten: lebende Pflanzen, ausgestopfte Tiere, lebensgroße menschliche Figuren und Ethnographica. Die Objekte gingen nach der Gewerbeausstellung in den Bestand der Städtischen Sammlungen ein. 1896 bezogen die Städtischen Sammlungen ein eigenes Gebäude, das städtebaulich zentral neben dem Bahnhof errichtet worden war: Das „Städtische Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde“ wurde eröffnet. Hinter dem großzügigen Vorplatz führen breite Treppen und große Portale ins
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Zur Geschichte des Übersee-Museums siehe: Abel, Herbert: Vom Raritätenkabinett zum Bremer Überseemuseum. Die Geschichte einer hanseatischen Sammlung aus Übersee anlässlich ihres 75jährigen Bestehens. Bremen, 1970; Briskorn, Bettina von: Zur Sammlungsgeschichte afrikanischer Ethnographica im Übersee-Museum Bremen 1841 – 1945. TenDenZen 2000, Supplement 2000, hgg. vom Übersee-Museum Bremen. Bremen, 2000; Lüderwaldt, Andreas: Vom Kolonialmuseum zum Informationszentrum Dritte Welt. Die neue Konzeption des Übersee-Museums Bremen. In: Auer, Hermann (Hg.): Das Museum und die Dritte Welt. Bericht über ein internationales Symposium, veranstaltet von den ICOM-Nationalkomittees der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und der Schweiz vom 07. bis 10.05.1979. München, New York, London, Paris, 1981, S. 255 – 264; und seit 1991: TenDenZen. Jahrbuch des Übersee-Museums Bremen. Hgg. vom Übersee-Museum Bremen. – Eine umfassende, neuere Darstellung der Geschichte des Übersee-Museums fehlt.
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Religion als Gegenmodell Innere des reich verzierten, kubischen Baukörpers. Im Inneren umgeben Galerien einen zentralen Lichthof. Die Präsentation orientierte sich an der Darstellung auf der Gewerbeausstellung. Schauinsland hatte sich zum Ziel gesetzt, „die Welt unter einem Dach“6 zu zeigen. Die völkerkundliche Dauerausstellung im Erdgeschoß war regional gegliedert, Pflanzen und „Schaugruppen“ verdeutlichten die Herkunft und den Gebrauch der gezeigten ethnographischen Objekte. 1911 wurde das Museum um einen zweiten Lichthof erweitert. Hugo Schauinsland blieb bis 1933 Direktor des Museums. Bald nach Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft erwirkte Carl Friedrich Roewer, ein Lehrer und Privatgelehrter, seine Versetzung in den Ruhestand, indem er Schauinslands Alter und seine Ansichten über die Nationalsozialisten ins Feld führte. Roewer versuchte auch, zwei wissenschaftliche Mitarbeiter des Museums zu entlassen, beide fielen jedoch unter die Ausnahmeregelungen des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Seine Bestrebungen, das Museum als „Deutsches Kolonialmuseum“ zu profilieren, wurden vom Bremischen Senat unterstützt. 1934 wurde das Projekt Adolf Hitler vorgestellt, der seine Zustimmung gab, aber außenpolitische Rücksicht anmahnte – Deutschland sollte nicht mit den kolonialen Bestrebungen Großbritanniens in Konflikt geraten.7 Eine umfassende Neuordnung des Museums stellte Roewer nicht fertig, da das Museum 1939 kriegsbedingt geschlossen wurde. Teile des Gebäudes, viele Objekte und weite Teile der Dokumentation wurden im Krieg zerstört. Die museumseigene Bibliothek, die ausgelagert worden war, blieb nach dem Krieg verschollen. Nach dem Krieg lösten sich in rascher Folge mehrere Wissenschaftler als Direktoren ab. Erste Teile des Museums wurden 1949 unter Herbert Abel (Direktor 1945/46, 1949/50 und 1971 – 1975) wieder eröffnet. Unter dessen Nachfolger Hellmuth Otto Wagner (1951 – 1962) erhielt es 1951 seinen jetzigen Namen „Übersee-Museum“.8 Zwischen 1976 und 1979 blieb das Museum wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Geleitet wurde es seit 1975 von Herbert Ganslmayr. Er und seine Mitarbeiter engagierten sich in der Debatte um Selbstverständnis, Aufgaben und Zukunft der Völkerkundemuseen, sie wiesen auf die ethischen Verpflichtungen der Museen hin und setzten sich für die Zusammenarbeit mit den sogenannten Dritt-Welt-Staaten ein.9 Diskurs und Zusammenarbeit mit den rep6 7 8 9
Lüderwaldt, in: Auer, 1981, S. 258. Briskorn, 2000, S. 82ff. Auskunft Prof. Dr. Ahrndt, 26.03.2008. Ganslmayr, Herbert: Ethik einer Ausstellung – am Beispiel der PangweSammlung in Lübeck. In: Rammow, Helga (Hg.): Neukonzeption eines Völkerkundemuseums. Planung für Lübeck. Lübeck, 1980, S. 127 – 135; ders. und Gert von Paczensky: Nofretete will nach Hause. Europa – „Schatzhaus
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Anschauungssache Religion räsentierten Völkern werden am Übersee-Museum fortgeführt.10 Die Kuratoren um Ganslmayr erarbeiteten in den Jahren der Sanierung ein neues Konzept. 1979 wurden erste Teile der Dauerausstellung wieder eröffnet. Der weitere Umbau der einzelnen Abteilungen benötigte mehrere Jahre, die Abteilung „Bremen – Handelsstadt am Fluß“, die im zweiten Obergeschoß zu sehen ist, beschloss 1996 die Umbauten. 1992 übernahm Prof. Dr. Viola König den Posten der Direktorin, den davor Dr. Elisabeth Kuster-Wendenburg zwei Jahre lang kommissarisch innehatte. Seit 1999 ist das Übersee-Museum eine Stiftung. Das Stiftungsgesetzt regelt unter anderem die Bestallung des wissenschaftlichen Leiters, der alle acht Jahre abgelöst wird. Ebenfalls im Jahr 1999 wurde in einem eigenen Gebäude das „Übermaxx“ eröffnet, das mit 30.000 Objekten größte Schaumagazin der Welt.11 Im Jahr 2000 übernahm Dr. Andreas Lüderwaldt die kommissarische Leitung des Museums, bevor 2002 Prof. Dr. Wiebke Ahrndt zur Direktorin bestellt wurde. Seit 2001 werden am Museum wieder Renovierungsarbeiten durchgeführt, und nach und nach sollen alle Schausammlungen neu gestaltet werden. 2003 wurde als erstes die Ozeanien-Abteilung im ersten Lichthof neu eröffnet, 2006 im zweiten Lichthof „Asien – Kontinent der Gegensätze“. Die Nord- und Mittelamerika-Abteilung wird Anfang 2009 abgebaut werden. Einzelne Regionen und Sachthemen fokussierend, werden Natur-, Völker- und Handelskunde wieder stärker verwoben.12 Unter dem Motto „völker, handel und natur“ sollen nach und nach alle 9000 m2 Ausstellungsfläche neu bespielt werden.
der „Dritten Welt“. München, 1984; ders.: Stillstand oder Wandel? Zur Entwicklung der Völkerkundemuseen seit den Siebziger Jahren. In: KroeberWolf, Gerda und Beate Zekorn (Hg.): Die Zukunft der Vergangenheit. Diagnosen zur Institution Völkerkundemuseum. Beiträge und Diskussionen einer Tagung der Arbeitsgruppe Museum und des Museums für Völkerkunde Frankfurt vom 10. bis 12. 10. 1988 in Frankfurt. Frankfurt am Main, 1990, S. 19 – 27; Lüderwaldt, in: Auer, 1981. 10 Schulze, Dorothee: Die Restitution von Kunstwerken. Zur völkerrechtlichen Dimension der Restitutionsresolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Veröffentlichungen aus dem Übersee-Museum Bremen. Reihe D, Bd. 12, Bremen, 1983; Walter, Bernhard: Rückführung von Kulturgut im Internationalen Recht. Hgg. vom Überseemuseum Bremen. Diss., Bremen, 1988. 11 Seinen Namen erhielt es in Verbindung mit dem im gleichen Gebäudekomplex untergebrachten CinemaXX-Kino. 12 König, Viola: Interdisziplinäres Ausstellen. Die Integration von Natur und Kultur im Museum. In: Museumskunde 61, 1996, S. 53 – 60.
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Religion als Gegenmodell Das Übersee-Museum Bremen kann jährlich sechsstellige Besucherzahlen vorweisen. Es unterhält weltweite Kooperationen, seine Mitarbeiter forschen und publizieren und verantworten ein weit gefächertes Programm.
6.2 Die heutige Wirkung der Amerika-Abteilung Die Dauerausstellung zu Mittel- und Nordamerika stellte sich 2005/06 im Wesentlichen so dar, wie sie 1982 wiedereröffnet wurde.13 Sie ist damit die älteste in dieser Arbeit besprochene Ausstellung. Ihre geistige Verortung und ihre Wirkung im Vergleich mit heutigen Ausstellungsgewohnheiten wird darum im folgenden kurz skizziert. Daran anschließend wird gezeigt, welche Auswirkungen der Tenor der Ausstellung auf den Umgang mit religiösen Themen hat.
6.2.1 DER GEIST DER 1970ER JAHRE ... Die Dauerausstellung zu Mittel- und Nordamerika atmet gewissermaßen noch den Geist der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der die damalige Neukonzeption des Übersee-Museums prägte. Diese Konzeption war stark von der Idee beeinflusst, das Museum zum „Lernort“ und zum Ort gesellschaftlicher und politischer Aufklärungsarbeit zu machen. Statt mit Palmen Südseezauber zu evozieren, sollte über die fremden Völker „informiert“ werden, statt alte Artefakte aneinander zu reihen, sollte über aktuelle Situationen berichtet werden: „Das Übersee-Museum als Informationszentrum und Forum für aktuelle Fragen, Meinungen und Tendenzen“,14 heißt es im Internetauftritt des Museum heute über die damaligen Ideen. Einen guten Eindruck davon, wie die Ideen umgesetzt wurden, vermittelt der kleine Fotobildband „Übersee-Museum Bremen“, der 1979 bald nach der Neueröffnung erschien und im Museumsshop erworben werden kann.15 Man sieht darin zum Beispiel Besucher 13 Veränderungen in einer Ausstellung werden im Allgemeinen nicht dokumentiert. In der Nord- und Mittelamerika-Ausstellung des Übersee-Museums wurden seit 1982 einzelne Objekte und Beschriftungen ausgetauscht (wie spätere Ankaufsdaten und Veränderungen in der Schreibweise verraten), die Konzeption und die Gestaltung der Vitrinen und Displays scheinen jedoch nicht verändert worden zu sein. Die anderen Bereiche der Amerika-Abteilung (Kulturen des Andenraumes und die „Goldkammer“ mit den bedeutenden Goldobjekten des Museums) folgen neueren Konzeptionen. 14 http://www.uebersee-museum.de/Geschichte_3.html, Stand: 27.04.2007. 15 Übersee-Museum Bremen (Hg.): Übersee-Museum Bremen. Ein Rundgang mit Fotos von Hed Saebens-Wiesner und Erläuterungen von Rainer Mammen. Bremen, 1979.
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Anschauungssache Religion abgebildet, die Zeitungen aus fernen Ländern lesen und sich über Fernsehaufnahmen über das Weltgeschehen informieren. Das Selbstverständnis des Museums prägt auch die Begleittexte des schmalen Bändchens. Auf den Punkt gebracht ist es zum Beispiel in der Bildunterschrift zum Foto des Kassenbereichs: „Modern, hell, weitläufig: Das Eingangs- und Kassenfoyer des Übersee-Museums vermittelt eine erste Idee von der sachlichen und untheatralischen Atmosphäre, in der hier über ferne und nähere Weltgegenden informiert wird.“16 Die Museumsleitung stellte sich offenbar eine kritische, wissbegierige Öffentlichkeit als ideale Besucherschaft vor. Mehrfach wurde in der Dauerausstellung auf die Gegenwart und auf gegenwärtige Entwicklungen hingewiesen, besonders auf aktuelle gesellschaftliche, politische und ökologische Probleme. Gerade die ökologischen Fragestellungen schienen die Erfüllung eines zentralen Anliegens des Museums, die Verbindung von Mensch und Natur zu zeigen, zu erfordern: „Ökosysteme erfordern schon innerhalb der Naturwissenschaften eine fächerübergreifende Erforschung und Darstellung [...]. Auch der Mensch lebt, wie alle anderen Organismen, in Ökosystemen und ist von deren Funktionieren abhängig. In einem Ausmaß, wie es bei keiner anderen Organismenart vorkommt, wirkt er aber auf diese Systeme zurück, gefährdet ihre Funktionsfähigkeit und damit auch seine eigene Existenz. So erfordert einerseits die vollständige Darstellung von Ökosystemen die Einbeziehung des Menschen wegen seiner Rückwirkungen. Andererseits ist auch die Darstellung der menschlichen Kulturen und Zivilisationen unvollständig ohne die ökologische Dimension, [...]“17
zitiert Viola König die damaligen Leiter der Abteilungen Völkerkunde und Naturkunde, Dieter Heintze und Herbert Hohmann. Die beiden Wissenschaftler definierten auch das gesellschaftliche Engagement, das sie aus dieser Arbeitsweise ableiten: „Eine Lösung der sich abzeichnenden globalen zivilisationsbedingten Ökokrise ist nur durch interdisziplinäre Betrachtungsweisen und Strategien möglich. Das Übersee-Museum sieht seine wichtigste Aufgabe darin, in dieser Richtung aufklärerisch zu wirken.“18 Auf der ICOM-Tagung „Das Museum und die Dritte Welt“ formulierte Andreas Lüderwaldt das Anliegen des Übersee-Museums als mögliches Ziel für alle Völkerkundemuseen: „Wir sollten [...] davon wegkommen, nur zu erbauen und zu erfreuen. Betroffenheit und kritische Einsicht beim Besucher sollten die Ziele sein.“19
16 17 18 19
Ebd., nicht paginiert. Hervorhebungen S. C. Zit. nach: König, in: Museumskunde 61, 1996, S. 56f. Ebd., S. 57. Lüderwaldt, in: Auer, 1981, S. 264.
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Religion als Gegenmodell Das Engagement des Übersee-Museums ging über die Ausstellungsgestaltung hinaus. Wie schon angedeutet, setzte sich Herbert Ganslmayr für die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kolonien ein. Unter seiner Leitung wurde ein Programm zur Ausbildung von Restauratoren und Präparatoren aus Dritt-Welt-Staaten initiiert. Das Museum stellte fünf in Bremen tätigen entwicklungspolitischen Arbeitskreisen einen Raum zur Verfügung, in dem sie über ihre Arbeit berichten konnten. Das Veranstaltungsprogramm nahm aktuelle Themen auf.20 „Kritisch zu berichten“, „aufklärerisch“ zu wirken, gesellschaftspolitisch Position zu beziehen – diese Ziele prägen die Nord- und Mittelamerika-Abteilung. Deutlich wird das zum Beispiel im Bereich über die Plains und Prärien, wo über die industrialisierte Landwirtschaft in den USA berichtet wird: Grafiken zeigen die stark erhöhte Winderosion und ein Text mit der Überschrift „Weizen als Waffe“ thematisiert die Möglichkeiten der USA, über Nahrungsmittellieferungen politisches Wohlverhalten zu erzwingen. Neben ökologischen und wirtschaftspolitischen Themen werden noch andere aktuelle gesellschaftliche Bereiche aufgegriffen: Eine große Bild-Text-Tafel ist der Geschichte der Prärie- und Plains-Indianer vor allem im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet, die als Geschichte der Unterdrückung der Indianer erzählt wird, von den Vertragsbrüchen der Weißen über das Verbot des Sonnentanzes, vom Massaker am Wounded Knee und der Niederschlagung der Geistertanz-Bewegung bis zu den Aktionen des „American Indian Movement“. Dabei sind die Daten als historische Fakten, als wissenschaftlich-neutrale Informationen wiedergegeben. Allerdings reicht(e) die Wiedergabe dieser „Fakten“, um sich tendenziell mit den Indianern solidarisch zu erklären. Alles in allem wird in der Mittel- und Nordamerika-Abteilung mittels ökologischer, wirtschaftspolitischer und mittels ethnographischhistorischer Darstellungen eine ethische und politische Position bezogen. Die „Politisierung“ der Dauerausstellung ist auch für die heutigen Besucherinnen und Besucher deutlich.21
20 Ebd., S. 262f. 21 Ein kritischer Rückblick auf die damalige Konzeption der Dauerausstellung findet sich zum Beispiel in der Rede von Viola König zum hundertjährigen Bestehen des Museums. Sie macht die Betonung tagespolitischer Themen im Museum für rückgängige Besucherzahlen verantwortlich und sieht in ihr den Grund, dass „museale Traditionsaufgaben, wie ‚Sammeln, Bewahren, Erforschen’“ lange Zeit vernachlässigt wurden. König, Viola: Jubiläumsansprache. In: TenDenZen 5, 1996, S. 10 – 18.
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Anschauungssache Religion
6.2.2 ...
ZU
BEGINN DES 21. JAHRHUNDERTS
Die Nord- und Mittelamerika-Abteilung ist inzwischen fast ein Viertel Jahrhundert alt. Ihre Gestaltung, damals ganz modern, entspricht nicht mehr heutigen Gepflogenheiten. Dieser Punkt muss hier kurz angesprochen werden, da er die Wirkung der Ausstellung berührt. Er verändert den Inhalt zwar nicht, aber er färbt ihn. In der Mittel- und Nordamerika-Abteilung werden die verschiedenen Informationen über verhältnismäßig viele und lange Texte an die Besucher weitergegeben, wie sie in neueren Ausstellungen nur noch selten zu sehen sind. Die massiven Vitrinen, die gewählten Farbtöne und der Teppichboden sind ein bißchen démodé. Obwohl viele verschiedene gestalterische Mittel (Dioramen, „lebensechte“ Inszenierungen, klassische Vitrinen in verschiedenen Höhen) visuell beleben, wirkt die Ausstellung inzwischen etwas „angestaubt“. Das wird besonders deutlich, wenn man sie mit der neuen, 2003 fertiggestellten Ozeanien-Abteilung vergleicht, die man durchqueren muss, um „nach Amerika“ zu gelangen. Die Ozeanien-Abteilung ist ganz als Ozean- und Inselwelt gestaltet: Leuchtend blau ist der Boden gestrichen, wo über das Meer berichtet wird, grasgrün erheben sich daraus die als Inseln und Atolle stilisierten Podeste, auf denen Fauna, Flora und Kultur der Inseln thematisiert werden. Hier müssen die Besucherinnen und Besucher ihre Hälse recken und nach oben und nach unten schauen, sie müssen ihren Weg durch die Inselwelt selbst finden und können wählen, wieviel Information sie lesen, hören oder auf den Bildschirmen anklicken möchten. Ihre Sinne werden durch die auffälligen Farben angesprochen, durch Musikbeispiele, Erzählungen und durch die Texturen der Gegenstände. Die Objekte werden mit großer Geste inszeniert, als riesig, gruselig, selten und geheimnisvoll. Im Vergleich mit der kurzweiligen Inszenierung von „Ozeanien“ wirken die Texte in der Nord- und Mittelamerika-Abteilung trockener, ihre Farben verblasster. Möglicherweise befördert die etwas altmodische Gestaltung eine weit verbreitete Haltung gegenüber zentralen inhaltlichen Anliegen der Ausstellung. Viele Menschen reagieren auf die Erklärung ökologischer Probleme, auf Hinweise auf die ungerechte Verteilung von Rechten und Ressourcen auf dem Globus oder auf das Ausmalen von drohenden Zukunftsszenarien etwas gelangweilt oder gar ablehnend: Man hat von diesen frustrierenden Themen schon so oft gehört. Wenn die Mahnungen im „altmodischen Gewand“ daherkommen, könnte die negative Wirkung verstärkt werden. Diese Aussage muss etwas eingeschränkt werden, sie gilt keinesfalls für alle Teile der Nord- und Mittelamerika-Abteilung: Die Inszenierung des jagenden Plains-Indianers zum Beispiel, das Tipi,
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Religion als Gegenmodell die ausgestopften Tiere und vieles mehr stehen außerhalb tagespolitischer Bezüge. Sie wirken daher auch nicht überholt. Allerdings sind sie in anderer Hinsicht etwas veraltet: Großfiguren, wie sie hier zu sehen sind, werden in ethnographischen Präsentationen kaum noch verwendet.22
6.2.3 ZUR KONTEXTUALISIERUNG VON RELIGION In welche Kontexte werden hier also religiöse Themen gestellt? Die Frage ist wegen des Alters der Dauerausstellung schwer zu beantworten. Die damaligen Kontexte sind nicht mehr rekonstruierbar, dafür sind neue hinzugekommen, die sich außerhalb der Reichweite der damaligen Ausstellungsmacher befinden. Außerdem ist das Übersee-Museum in verschiedene Abteilungen untergliedert, die alle die Handschrift ihrer jeweiligen Kuratoren tragen. Je nach gewähltem Vergleichspunkt wirkt die Nord- und Mittelamerika-Abteilung anders. Darum seien hier nur einige wichtige Merkmale herausgegriffen. Durch das Gebäude werden kaum religiöse Bezüge hergestellt. Seine Architektur lehnt sich an Renaissance-Paläste an. Die Fassade des kubischen Baukörpers ist durch das rustika-verblendete erste Geschoß, durch die zwei Fensterzonen des zweiten Geschosses und durch ein Kranzgesims horizontal gegliedert, in der Mitte tritt ein Risalit hervor, in dem die rundbögigen Eingangstore liegen. Der Risalit wird von einem antikischen Giebel bekrönt, und neben den Treppen thronen zwei Sphingen. Dies sind jedoch die einzigen Anleihen an Tempelarchitektur. Die Lichthöfe im Inneren des Gebäudes mit ihren umlaufenden Galerien stehen ebenfalls in der Tradition italienischer Palazzi und sind zur Entstehungszeit bereits architektonischer Topos von Museumsbauten. Die Größe des Gebäudes und seine Lage machen es zu einem imposanten Bau, der die Tradition selbstbewusster Bürgerbauten zitiert. Architektonisch wird hier Städtestolz beschworen, nicht der „Musentempel“ evoziert. Auch das neue Museumsmotto „völker, handel und natur“ kann als areligiös gelesen werden.23 Zwar zeigten Marx und verschiedene Ethnologen, dass man „Handel“ durchaus religiös verstehen kann 22 Hinweis von Prof. Dr. Ahrndt, Brief an die Verf. vom 26.03.2008. 23 Dass alle Worte klein geschrieben sind, gibt ihnen einen plebejischen und internationalen Charakter. „Gleichwertigkeiten“ auch durch den Wegfall der Großschreibung auszudrücken, war eine Idee linker Denker. Heute lassen manche Menschen die Großschreibung im e-mail-Verkehr weg. Das Geschriebene wirkt dadurch schneller und geschäftiger und ähnelt dem englischen Schriftbild. Für die Erörterung der Kontexte religiöser Themen in der Nord- und Mittelamerika-Abteilung ist die Schreibung des Mottos meines Erachtens belanglos.
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Anschauungssache Religion und dass Handel rituelle Komponenten hat, aber daran dürften wohl die wenigsten Museumsbesucher denken. Gleich hinter dem Eingang sehen die Besucher in den Bauch eines vollbeladenen Schiffes und auf den imposanten Schreibtisch eines Kaufmanns – beides darf wohl als Exemplifizierung von rein profanem Handel gelten. In ähnlicher Weise sind die Begriffe „Völker“ und „Natur“ vom Begriff „Religion“ abgerückt. Die im Museum dargestellten religiösen Themen erhalten ihre Daseinsberechtigung also nur aus dem Anspruch der Völkerkunde, über fremde Völker zu informieren: Zur vollständigen Darstellung gehört ein Abschnitt über die Religion. Dabei werden die Religionen der Völker nicht wichtiger genommen oder nicht grundlegend anders behandelt als Wohnformen, Jagdweisen oder Musikinstrumente. Die Religionen sind nicht Kernthema des Museums, sondern bilden „Unterkapitel“ in der „Erzählung“ des Übersee-Museums. Ihr Bezugspunkt ist das jeweilige dargestellte Volk, oder, im Fall von Nord- und Mittelamerika, die jeweilige Region. Sie stellt den wichtigsten Rahmen dar und wird daher im nächsten Abschnitt untersucht.
6.3 Zum Inhalt der Nordund Mittelamerika-Abteilung Die Amerika-Abteilung ist in mehrere Einheiten untergliedert. Die Gliederung erfolgt nicht durch Überschriften oder die Museumsarchitektur, sondern teilt sich wesentlich über gestalterische Mittel mit: verschiedene Fußbodenbeläge, verschiedene Vitrinenfarben und Abgrenzung durch die Stellung der Vitrinen. Von der ursprünglichen Inszenierung von 1982 waren zum Zeitpunkt der Untersuchung (2005/06) noch drei Einheiten erkennbar: Der Norden Nordamerikas, Prärie und Plains sowie Mittelamerika mit Mexiko und dem Südwesten der USA. In dieser letztgenannten Einheit werden die Hopi verortet, außerdem werden hier präkolumbianische Kulturen, andere rezente Indianervölker, Phänomene aus der heutigen Alltagskultur, botanische und zoologische Themen präsentiert.
6.3.1 AUFBAU DER ABTEILUNG Eine Skizze des Grundrisses ist in Abbildung 15 wiedergegeben. Die Vitrinenflächen sind darin weiß belassen, die Umbauten um die Vitrinen sind quer schraffiert und freistehende Inszenierungen schräg. (Die Skizze ist nicht maßstabsgetreu und erhebt keinen Anspruch auf Detailgenauigkeit. Die Größenverhältnisse kann man aus den Abbildungen 16 bis 18 erschließen.) Aus Tabelle 1 kann man die Themen der Ausstellung entnehmen. 184
Religion als Gegenmodell
Abbildung 15: Mittelamerika, Mexiko und der Südwesten der USA, Grundrisse der Einbauten, nicht maßstabsgerecht. Grafik: S. C.
Nr. in Abb.15
„Titel“ / Thema
Inhalt
1
Wüste
2 3 4
„Korbwaren der Hopi und Navajo“ Katsinam „Silberschmuck der Navajo“
Gemalte Darstellung einer Wüstenlandschaft Vitrine mit Korbwaren
5
„Betatakin“
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Die Tarahumara
7
„Geräte des indianischen Bodenbaus“ „Lebensbaum“/ Día de los Muertos in Mexiko Vögel „Der Mais“ Der Mais
8
9 10 11
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Vitrine mit Katsina-Figuren Vitrine mit Werkzeug zur Schmuckherstellung, Rohmaterial und Schmuckstücken Diorama eines cliff-dwelling im Tsegi-Canyon, bewohnt von 1250 bis 1300 n. Chr. Inszenierung: Figurine bei einer Zeremonie vor einer Hütte; Vitrine mit Alltagsgerät, Touristenandenken und Zubehör zu den Wettläufen der Tarahumara Podest mit Ackergerät der Tarahumara Vitrine mit einem großen Kerzenleuchter, der zum Allerheiligenfest verwendet wird. Vitrine mit präparierten Vögeln Bebilderter Text: „Der Mais“ Vitrine mit Erzeugnissen aus Mais und anderen Pflanzen,
Anschauungssache Religion
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„Herbolarium“
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„Hochtal von Mexiko“
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„Oaxaca“
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„Westmexiko“
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„Chamula-Indianer“
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„Huichol-Indianer“
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„Die Charra“
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„Charro in Mexiko“
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Schmetterlinge
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Truthahn
Exportgüter, Gegenständen zur Maisverarbeitung. Hintergrund: Ein gemaltes Maisfeld Vitrine mit Regalbrettern, auf denen vor allem medizinisch wirksame Pflanzen lagern Vitrine mit vor allem präkolumbischen Töpferwaren aus dem Hochtal von Mexiko Vitrine mit Töpferwaren der Oaxaca… … und mit vor allem präkolumbischen Töpferwaren aus Westmexiko Vitrine mit der Figurine eines Chamula mit Harfe und AlltagsGegenständen… … und mit einer Figurine eines Huichol am Webstuhl… … und mit einer Figurine einer Charra (Frau der berittenen Viehhüter in Mexiko)… … und mit einer Figurine eines Charro und seiner Ausrüstung Vitrine mit präparierten Schmetterlingen Vitrine mit einem präparierten Truthahn
Tabelle 1: Themen der Ausstellungseinheit „Mittelamerika mit Mexiko und dem Südwesten der USA“.
Die verschiedenen Themen werden in Schaukästen, Vitrinen, Dioramen und Inszenierungen präsentiert, die miteinander verbunden und alle in gleicher Weise gestaltet sind. Sie sind, wie man auf Abbildung 16 sehen kann, Bestandteile größerer Einbauten, die alle die gleiche Höhe haben und im selben Rot (einem Rost- oder Ziegelrot) gestrichen sind. Für die Vitrinenrückwände wurde ein zweiter Farbton immer wieder verwendet, ein stumpfes Türkis. Dies macht „Mittelamerika, Mexiko und Südwesten der USA“ zu einer räumlichen Ausstellungseinheit von großer Einheitlichkeit. Die verschiedenen Themen werden optisch zusammengehalten.
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Religion als Gegenmodell
Abbildung 16: Blick in einen Ausstellungsteil zum Südwesten der USA und Mexiko. Foto: Gabriele Warnke, Übersee-Museum Bremen.
Inhaltlich handelt es sich jedoch um sehr disparate Einblicke in botanische, zoologische, ethnographische, gegenwärtige und historische Bereiche, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben: Präparierte Vögel stehen Wand an Wand mit der Puppe eines Harfe spielenden Chamula-Indianers; das Miniaturmodell einer präkolumbischen Siedlung ist zwischen neuem Silberschmuck und der Inszenierung einer religiösen Zeremonie plaziert; die KatsinaFiguren blicken auf mexikanische Kräuter. Die Auswahl und Zusammenstellung der Themen wird durch keine Überschrift oder einleitende Texttafel erklärt,24 weshalb ihre innere Logik hier rekonstruiert werden soll.
6.3.2 INHALTLICHER ZUSAMMENHALT: DER MAIS Der inhaltliche Zusammenhalt ergibt sich meines Erachtens über das Thema Maisanbau. Alle hier vorgestellten Kulturen betrieben oder betreiben Ackerbau. Dieser wird an zentraler Stelle, auf dem Podest in der Ausstellungsmitte, mit Geräten belegt und besprochen. Als wichtigste angebaute Pflanze wird der Mais in einem Schaukasten ausführlich präsentiert. Der Schaukasten „Mais“ und die begleitende Bild-Text-Tafel (auf der Abbildung 15 die Nummern 10 und 11) umfassen alle in dieser 24 Im benachbarten Abschnitt „Prärie und Plains“ finden sich sowohl Überschrift als auch einleitender Text.
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Anschauungssache Religion Ausstellungseinheit zusammengefassten Zeiten und Regionen: Die zeitliche Spanne reicht von der Umzeichnung eines Maya-Reliefs bis zu zeitgenössischen Maisprodukten; die räumliche Erstreckung reicht von den „feinen Maisfladenrollen der Hopi“ bis nach Guatemala.25 Im Begleittext wird die kulturgenerierende und die wirtschaftliche Rolle des Mais betont: Ohne die Züchtung und den Anbau von Mais hätten sich die mesoamerikanischen Kulturen nicht entwickeln können, steht dort zu lesen; heute sei Mais ein wichtiges Grundnahrungsmittel.26 Im Schaukasten blickt man auf verschiedene Produkte aus Mais sowohl aus traditioneller als auch aus technisierter Landwirtschaft, und auf Produkte, die im weiteren Sinne mit Mais zu tun haben (Tortillas und Nachos, Backformen, ein Reibstein, eine Packung Maismehl, eine Packung wassertreibenden Maisbartes aus einer Bremer Apotheke, eine Maisstrohmaske der Seneca und anderes mehr). Über den Mais werden also die Themen Ernährung, Medizin, Landwirtschaft, globale Wirtschaftsbeziehungen und Religion angesprochen – es eröffnet sich gewissermaßen „die Welt des Mais“, oder besser gesagt: „Die Welt im Mais“, denn alle hier ausgestellten Kulturen werden darin zusammengefasst und erklärt. Aber der Mais ist nicht nur ein Schwerpunkt dieser Ausstellungseinheit, er verkörpert auch eines der Hauptanliegen des Museums: Die Maispflanze ist auf Kultivierung angewiesen, sie kann sich nicht allein aussähen, wie im Begleittext erklärt wird. Damit ist sie die Verbindung von Natur und Kultur, auf deren Zusammenhänge das Übersee-Museum insgesamt hinweisen will. Im Sinne Jana Scholzes hat der Mais hier eine metakommunikative Funktion. Natur als Grundlage von Kultur, genauer: Maisanbau als Grundlage der mittel- und südwestamerikanischen Kulturen – das ist also das
25 Sie reicht sogar noch weiter: Auf der Texttafel „Der Mais“ sieht man das Bild eines „deutschen Maisfeldes“ (so der Untertitel) und liest Verweise auf die Verbreitung des Mais nach Europa, Asien, Afrika und Australien. 26 So heißt es im ersten, fettgedruckten Absatz des Begleittextes: „die Kultivierung des Mais vor etwa 5500 Jahren in Mesoamerika führte zu den ersten agrarischen Zivilisationen, denn hiermit wurden große Mengen Grundnahrungsmittel verfügbar, die einen deutlichen Anstieg der Bevölkerung bewirkten [...].“ Weiter unten wird wiederholt: Ohne die Kultivierung des Mais wären „die mesoamerikanischen Ackerbauzivilisationen nicht möglich gewesen [...].“ Zur wirtschaftlichen Rolle des Mais wird vermerkt: „Mais steht heute neben Reis und Weizen an der Spitze der Getreideproduktion der Welt.“ Darüber hinaus erhält man hier ausführliche Informationen über den wahrscheinlichen Verlauf der Züchtung von Mais, über seine erste Kultivierung und über seine Verbreitung in alle Welt. Texttafel „Der Mais“, Stand: Oktober 2005.
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Religion als Gegenmodell Grundthema dieser Ausstellungseinheit. Alle weiteren kulturellen Phänomene sind vor diesem Hintergrund zu sehen, auch die Religionen, die ebenfalls mit dem Mais verknüpft werden: Es werden Riten der Hopi und Tarahumara vorgestellt, die eine ausreichende Maisernte sichern sollen. Der Sinn der Riten verklammert die Religionen mit den anderen Lebensbereichen. Das heißt, dass die Religionen als integrale Bestandteile der Kulturen vorgestellt werden, nicht als Akzidentien, nicht als Produkte bestimmter sozialer Verhältnisse oder der menschlichen Psyche, nicht als Mysterien, die von außen in die Lebenswirklichkeit der Indianer hereinbrechen oder ähnliches. Vielmehr werden die Religionen als Teile des agrarisch geprägten Lebens inszeniert.
6.4 Die Hopi: Erklärung eines Kultes
Abbildung 17: Blick auf die Katsina-Vitrine. Foto: Gabriele Warnke, Übersee-Museum Bremen.
Abbildung 17 zeigt eine Fotografie der Vitrine mit den KatsinaFiguren (Objekt Nr. 3 in Abbildung 15). Die polygonale, außen rot gestrichene Vitrine hat einen grauen Boden, auf dem die Objekte drapiert sind. Vom Besucher aus gesehen links in der Vitrine liegen einige Tonwaren, die mit Katsina-Darstellungen verziert sind. Den größten Teil des Vitrinenbodens nimmt ein gutes Dutzend KatsinaFiguren ein. An der türkisfarben gestrichenen Rückseite der Vitrine hängt über den Tonwaren ein Kleidungsstück, auf der anderen Sei-
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Anschauungssache Religion te die Reproduktion eines Gemäldes von Raymond Naha,27 das Katsina-Tänzer auf einem Dorfplatz samt Zuschauern zeigt. Außer den kleinen Tafeln mit Objektbeschriftung gibt es noch einen begleitenden Text, der auf dem Vitrinenboden liegt. Er lautet: „Kachina Figuren der Hopi Kachinas sind wohlwollende Geister der Pueblo Völker. Die Hopi stellen sich vor, daß die Kachinas die eine Hälfte des Jahres in den Gipfeln der San Francisco Berge leben. In der Zeit von Dezember bis Juli steigen sie von dort herab und nehmen an den Zeremonien der Hopi teil, in denen es um Regen, gute Ernte und Fruchtbarkeit geht. In den Zeremonien werden die Kachinas von den Angehörigen der verschiedenen Bünde verkörpert. Die aus dem Wurzelholz der Pappel geschnitzten Kachina Figuren (tithu, Sing. tihu) sind den bei den Zeremonien dargestellten Geistern nachempfunden. Die Figuren werden an Mädchen und Frauen verschenkt, und in den Häusern an den Wänden angebracht. Auf diesem Wege sind die Kachinas das ganze Jahr über bei den Hopi präsent. Auch lernen die Kinder so die Bedeutungen der vielen verschiedenen Figuren kennen. / Kachina Figuren sind heute begehrte Artikel bei Sammlern und Touristen. Auf dem Kunstmarkt werden für besondere Figuren hohe Preise erzielt.“28
Rechts neben dem Begleittext ist eine Karte der USA mit dem vergrößerten Ausschnitt von Arizona und der Hopi-Reservation ausgelegt, zwei größere Siedlungen, Oraibi und Keams Canyon, sind darin besonders gekennzeichnet.
6.4.1 DISPLAY-STRATEGIE: MINIATURMODELLE DER TÄNZE Zwei der Katsina-Figuren, die älteren, sind geometrisch-flächig stilisiert. Stark stilisiert sind auch die Katsina-Motive auf den Töpferwaren.29 Der Großteil der ausgestellten Katsinam jedoch wurde in den 1970er Jahren hergestellt. Die Stilisierung ist bei ihnen zugunsten einer naturalistischeren Gestaltung aufgegeben, und sie sind in verschiedenen, lebensnahen Posen festgehalten. So breitet etwa der Adler-Katsina die Arme mit den Flügeln aus, andere halten
27 Raymond Naha (Hopi-Tewa), 1933 – 1974, wurde vor allem durch seine Darstellungen der Katsina-Zeremonien der Hopi und der Zuñi bekannt. Die ausgestellte Reproduktion zeigt acht Katsina-Tänzer und zwei traditionell gekleidete Frauen auf der plaza sowie modern gekleidete Zuschauer auf den Dächern rund um die plaza. 28 Texttafel in der Katsina-Vitrine, Stand: Oktober 2005. 29 Stilisierung begegnet den Betrachtern auch auf den Korbwaren im Schaukasten „Korbwaren der Hopi und Navajo“ auf der Rückseite der KatsinaVitrine (Nr. 2 in Abbildung 15).
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Religion als Gegenmodell
ihre Attribute hoch.30 Sie wirken auch dank ihrer menschlichen Proportionen wie Miniatur-Ausgaben von Katsina-Tänzern. Der Bezug zu den Tänzen wird durch den Rock eines echten Tänzers und durch das Bild verstärkt. Es zeigt in naiv-naturalistischer Manier eine Zeremonie, bei der die Tänzer so gekleidet sind, wie die ausgestellten Katsina-Figuren. Das Bild wurde so in die Vitrine eingefügt, dass sein illustrativer Charakter hervortritt; es wird nicht als Kunstwerk präsentiert (Kennzeichnung des Künstlers nur durch seine abgekürzte Unterschrift auf dem Bild, keine Objektbeschriftung für das Bild, keine Datierung, kein Hinweis auf das Original). In den Objektbeschriftungen der Katsina-Figuren werden diese benannt und durch ihre Funktion in den Zeremonien charakterisiert (zum Beispiel: Kooyemsi – „Oberhaupt der Wettläufer“). Sie sind nicht nebeneinander aufgereiht, sondern stehen versetzt, was den Eindruck von Aktivität, vielleicht sogar Tanz hervorruft. Die Figuren sind nicht groß. Größere Kinder und Erwachsene blicken auf die Katsinam herunter, denn sie stehen in etwa auf Oberschenkelhöhe. Der Blickwinkel der Besucher ähnelt also demjenigen der gemalten Zuschauer auf dem Bild von Raymond Naha (Hopi-Tewa), die von den Häuserdächern auf das Geschehen auf die plaza herunterschauen. Auf Nahas Bild scheint die Sonne. Die Figuren in der Vitrine sind hell und gleichmäßig ausgeleuchtet und gut ansichtig. Die geheimen, unterirdischen Teile der Riten sind in der Vitrine und im Bild ausgespart. Die Katsina-Vitrine führt uns eine sonnige Zeremonie vor Augen, die nicht geheimnisvoll-bedrohlich, sondern harmlos ist. Die Katsina-Figuren werden also als Abbilder der Tänzer inszeniert. Das Display lässt ihre Ikonographie, ihren Herstellungsprozess, ihren Entstehungszusammenhang als Geschenke oder Touristenartikel oder ihren Weg nach Bremen in den Hintergrund treten und betont statt dessen ihren Charakter als Abbilder einer religiösen Zeremonie. Gleichzeitig werden sie als Miniatur-Modelle dargestellt, was die bedrohliche Seite ihrer Fremdartigkeit ausblendet.
6.4.2 TEXT-STRATEGIE: DESKRIPTION UND BETONUNG DES WERTES Der Begleittext beschreibt die Religion der Hopi aus einer Außenperspektive. Die Glaubensinhalte sind darin als solche gekennzeichnet („Die Hopi stellen sich vor, daß [...]“) und inhaltlich knapp dargestellt. Es findet keine Bewertung statt, statt dessen wird die „Arbeitsweise“ des Kults (Die Katsinam werden „von den Angehörigen
30 Neuere Katsina-Figuren sind zum Teil noch bewegter – und andere wieder stärker abstrahiert.
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Anschauungssache Religion der verschiedenen Bünde verkörpert“) und sein vorrangiger Sinn vorgestellt: Es geht darin um die Sicherung einer guten Ernte. Mit relativ viel Sachinformationen wird hier also Religion erklärt. Mit anderen Worten: Diese Religion kann erklärt werden, sie ist nichts Geheimes oder Geheimnisvolles. Außerdem verweist der Text darauf, weshalb und wofür die Figuren hergestellt wurden. Demnach erfüllen sie zwei Zwecke: Erstens machen sie die verehrten Wesen „das ganze Jahr über präsent“ und zweitens dienen sie als Lernmittel für die Kinder. Beides können der durchschnittliche Besucher, die durchschnittliche Besucherin wahrscheinlich gut nachvollziehen. Die Figuren werden dadurch für sie sinnvoll und sie können die Katsina-Figuren wertschätzen. Die mögliche Wertschätzung erfährt durch den Hinweis, dass die Figuren inzwischen recht teuer sind, eine Steigerung.
6.4.3 RELIGION ALS IN EINEN BESTIMMBAREN SINNHORIZONT EINGEFÜGT Insgesamt ermöglicht die Ausstellung eine neutrale oder wohlwollende Wahrnehmung der Hopi und ihres Katsina-Kultes. Befremden oder gar Angst vor einem unbekannten Kult kann hier nicht aufkommen: Man blickt schließlich von oben auf kleine, bunte Puppen herab.31 Die Besucher können sich belehren lassen und an den Objekten erfreuen. Die Verbindungen in die Lebenswelt der Besucher sind spärlich: Da ist der Verweis auf „Kinderspielzeug“, was es bei uns ja auch gibt, aber der Sprung von den Katsina-Bünden zu „deutschen“ Geheim- und Maskenbünden, oder von den Regenzeremonien der Hopi zu den Sorgen unserer Landwirte wird nicht getan. Insofern wird hier den Besuchern eine fremde Religion erklärt, aber nicht bewertet, kaum emotional nahe gebracht. Dementsprechend gibt es hier auch keine speziellen Appelle an die Besucher. Die Hopi werden nicht zu Vorbildern gemacht, ihre Religion wird nicht romantisiert. Die Katsinam sind durch eine Glasscheibe von ihren Betrachtern getrennt. Auch metaphorisch gesprochen ermöglicht das Display kaum ein „Näherkommen“ (Zur Rolle der Vitrinen siehe auch Abschnitt 6.6.1).
31 Angst oder zumindest einen Schauder angesichts fremder Kultobjekte kann man in der neuen Dauerausstellung der Afrika-Abteilung im Ethnologischen Museum Berlin-Dahlem erleben. In stockfinsterer Umgebung werden einzelne Masken und „Fetische“ (s. dazu Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München, 2003.) mit grellen Spots teilweise nur von unten beleuchtet. Das Licht ist kalt, Raum und Weg verschwinden in der umgebenden Schwärze, man sieht von Angesicht zu Angesicht in starre Maskenaugen.
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Religion als Gegenmodell 1982 wurden die Hopi im Übersee-Museum nur als eine von vielen Kulturen der Region Mittel- und Südwestamerika vorgestellt. Den Tarahumara, denen das nächsten Kapitel gewidmet ist, wurde in der Dauerausstellung mehr Platz eingeräumt. Sie sind eine im Westen weitgehend unbekannte Ethnie. Die Hopi erfreuen sich hierzulande eines viel stärkeren Interesses. Der Museumsführer von 1996 trägt diesem unterschiedlich starken Besucherinteresse Rechnung: Die Tarahumara finden hier keine Erwähnung, statt dessen werden nach einer kurzen Einführung in die Kulturen des amerikanischen Südwestens die Hopi und der Katsina-Kult näher betrachtet.32 Als Abbildungen sind dem Kapitel „Südwesten“ ein Ausschnitt aus der Vitrine „Der Mais“ beigegeben (in schwarz-weiß) und das Farbfoto dreier Katsinam. Die Hopi stehen damit auch visuell für den Südwesten. So spiegelt der Museumsführer das gestiegene Interesse an den Hopi wider, und er thematisiert es auch: „Einen besonderen Bekanntheitsgrad erlangten seit den siebziger Jahren die auf acht Dörfer verteilten Hopi-Indianer. Ihre Kultur übt eine große Faszination aus: Kachina-Kult, Kachina-Figuren, umweltbewußte und damit dem Zeitgeist entsprechende Vorstellungen, ihre apokalyptischen Prophezeiungen sowie der Widerstand gegen die Ausbeutung von Bodenschätzen wie Kohle und Uran auf ihrem Wohngebiet, schließlich die kunsthandwerklichen Fähigkeiten auf den Gebieten der Töpferei und Flechterei, haben die Kenntnisse über die Kultur der Hopi-Indianer gefördert, nicht nur bei weißen Amerikanern, sondern gerade auch in Deutschland.“33
Auch in diesem Text wird die Kultur der Hopi nicht romantisiert, es überwiegt weiterhin die Information. Die „Faszination“, die die Hopi auf das weiße Amerika und auf Deutschland ausüben, wird unter anderem mit dem Zeitgeist begründet und damit auch ein Stück weit relativiert. Der Blick auf die Hopi bleibt deskriptiv-nüchtern. Interessanterweise erlebt die Darstellung von Religion als Teil der agrarischen Kultur eine „Modernisierung“: Anstelle der Verbindung „Mais – Fruchtbarkeitsriten – Regen“ tritt die Reihung „Umweltbewusstsein – Apokalyptische Prophezeiungen – Widerstand gegen Umweltzerstörung“.
32 König, Viola (Hg.): Menschen, Meere, Kontinente – die Erde in 80 Minuten. München, Berlin, 1996. Der Museumsführer von 1996 ist geographisch anders gegliedert als die Ausstellung. Die Tarahumara werden auch im entsprechenden anderen Kapitel nicht erwähnt. 33 König, 1996, S. 93. Es folgt der Abschnitt „Der Kachina-Kult“, der in anderen Worten und mit anderen Detailinformationen den Inhalt des Vitrinentextes wiederholt.
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Anschauungssache Religion Die Religion der Hopi wird also im Übersee-Museum Bremen in einen bestimmten Sinnhorizont eingefügt: in den einer agrarischen Kultur. Die Religion wird als sinnvoll präsentiert, ihr Sinn ist bestimmbar, und damit, mathematisch und theologisch gesprochen: endlich. Das Unendliche bleibt in dieser Darstellung außen vor. Ein ganz anderer Zugang zu Religion findet sich im Display zu den Tarahumara ein paar Meter weiter.
6.5 Die Tarahumara: Vermittlungsstrategien für Religiosität Zwei Ausstellungseinheiten sind ausschließlich mit Objekten der Tarahumara, einem Volk im Norden Mexikos, bestückt: das Podest „Geräte des indianischen Bodenbaus“ und die Inszenierung eines Mannes bei einer Zeremonie.34 Hier gibt es, anders als bei den „Hopi-“ und den übrigen Vitrinen, keine Glasscheiben, die die inszenierte Lebenswelt von derjenigen der Besucher abtrennen. Dieser Unterschied in den Inszenierungen zu den Hopi und den Tarahumara spiegelt den Unterschied im inhaltlichen und emotionalen Zugang zu den Religionen der beiden Ethnien. Im folgenden wird gezeigt, wie die Religion der Tarahumara präsentiert wird.
6.5.1 DIE INSZENIERUNG Die Tarahumara leben im Bergland im Norden Mexikos. Ihnen wird innerhalb der Ausstellung relativ viel Platz eingeräumt: Objekte aus der Sierra Tarahumara finden sich in der Mais-Vitrine und in der Mexiko-Vitrine, außerdem ist das Podest „Geräte des indianischen Bodenbaus“ ausschließlich mit Werkzeugen der Tarahumara bestückt. Darüber hinaus werden die Tarahumara mit einer eigenen Inszenierung und einem Schaukasten präsentiert. Dass so viel von den Tarahumara ausgestellt wird, liegt sicherlich auch daran, dass der damalige Leiter der Nordamerika-Abteilung, Claus Deimel, bei den Tarahumara Feldforschung betrieb und mit einer Arbeit über die Tarahumara promoviert wurde.35 In der Inszenierung (Abbildung 18; Nr. 6 in Abbildung 15) blicken die Besucherinnen und Besucher auf die Außenwand eines einstöckigen Hauses und auf ein Stückchen Erdboden davor. Blechdosen, Körbe, eine Spindel, ein Hocker und andere Gebrauchsgegenstände
34 Objekte Nr. 6 und Nr. 7 in Abbildung 15. 35 Deimel, Claus: Die Missionierung der Tarahumara. „Plan de gran visión“. Diss., Frankfurt a. M., 1979; ders.: Tarahumara. Indianer im Norden Mexikos. Frankfurt a. M., 1980.
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Religion als Gegenmodell beleben die Szene. Links vor dem Haus (vom Besucher aus gesehen) steht eine Figur, in Hautfarbe und Physiognomie als „Indio“ erkennbar, in roter und weißer „Tracht“ gekleidet. Er wendet sich drei Holzkreuzen, die vor der linken Szenenwand stehen, zu und hält eine Rassel in der Hand. Das mittlere, größte Kreuz ist mit Perlenschnüren mit weißen und türkisfarbenen Perlen behängt. Die Wand hinter den Kreuzen ist hellgrau gestrichen, ansonsten ist die Szene naturalistisch gestaltet. Nach vorne begrenzt ein etwa kniehoher Schaukasten die Szene. In ihm werden mehrere kleinformatige Objekte gezeigt, die zu den Wettläufen der Tarahumara gehören, weitere zeremonielle und alltägliche Gegenstände (zum Beispiel ein als Bürste verwendeter, geschnitzter Kiefernzapfen) und für den Verkauf an Touristen hergestellte Dinge. Ein Objekt wird als „Schellenbündel. Es wird von Tänzern zum Anrufen der göttlichen Pflanze Peyotl (híkuri) benützt“ ausgewiesen, ein anderes als „Maske für die Weihnachtszeremonien (matachines)“. Zwei Farbfotos links und rechts des Schaukastens zeigen einen Mann im Freien sitzend („Bei einer Ratsversammlung“) und kostümierte Menschen in einer bergigen Landschaft („Prozession der Matachine-Tänzer“).
Abbildung 18: Blick auf die Inszenierung zu den Tarahumara. Foto: Gabriele Warnke, Übersee-Museum Bremen.
Vom Betrachter aus gesehen links neben der Inszenierung hängen zwei Texttafeln (s. Abbildung 16). Der obere Text lautet:
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Anschauungssache Religion „Bergland Nordmexiko Unendliche Weiten TARAHUMARA – RARAMURI mit dem Rücken zur westlichen Zivilisation wartend und still tanzen sie und singen für den Mais“36
Unter diesem Text hängt das Farbfoto eines Mannes, der auf einem umgegrabenen Stück Erde inmitten eines weiten Tales steht und eine Rassel hält. Vor ihm steckt ein Kreuz im Boden, im Mittelgrund sieht man Mais. Unter diesem Bild hängt eine weitere Texttafel mit folgendem Inhalt: „In der Sierra Madre Occidental im Norden Mexikos leben etwa 50 000 Tarahumara nach gesellschaftlichen Regeln, die sie seit mehreren Jahrhunderten nicht veränderten. Sie bauen Mais und Bohnen an und sind von den Weißen relativ autonom geblieben. Sie wohnen verstreut über ihr Bergland in kleinen Gehöften und gründeten keine Dörfer. Mittelpunkt der Gesellschaft ist die kleine Familie, die von Zeit zu Zeit mit ihren Nachbarn zu Maisbier-Festen sich trifft, dort den Göttern Speisen opfert und gemeinsam für eine gute Maisernte tanzt. Der Alltag der Tarahumara ist von einer eigenartigen Zurückhaltung des Einzelnen gegenüber dem Anderen bestimmt. Die Menschen hier sind Einzelgänger. Dem widerspricht aber nicht – entgegen der allgemeinen Meinung der Weißen –, daß sie ihre Probleme durch ein ausgeprägtes Bewußtsein der Solidarität und der sozialen Übereinkunft regeln, ohne weitreichender Staatsformen und politischer Hierarchien zu bedürfen. Sie gehen ritualisiert miteinander um und leben in äußerster Friedlichkeit. Trotz relativer Armut sind sie ein fröhliches Volk. / Diese Form hoher Zivilisation hat die weiße Gesellschaft immer bekämpft. Sie beutet die Wälder der Tarahumara aus, nimmt ihnen ihr Land, bezahlt ihnen die niedrigsten Löhne, bevormundet sie politisch und verbreitet mit ihrer Propaganda, ihnen Kultur bringen zu wollen. Was die Weißen in ihrem Land verbreiteten, waren Verwirrung und schlechte Umgangsformen. / Die Tarahumara haben sich in ihrem weiten Bergland bis heute zu großen Teilen von der Wohlstandsgesellschaft zurückziehen können. Es gibt kaum Landflucht unter ihnen, und unser Materialismus ist bisher nicht weit vorgedrungen, aber sie sind durch politische und religiöse Missionierungen bedroht. Nicht selten gehen die Tarahumara in die Städte der Weißen und sehen sich an, wie diese leben. Sie nennen sich selbst Rarámuri, die ‚Fußläufer’, nach ihren Wettläufen, bei denen Frauen und Männer in den Bergen Entfernungen von fast 150 Kilometern zurücklegen.“37
36 Texttafel neben der Inszenierung „Tarahumara“, Stand: Oktober 2005. Zur Form des Textes s. Abschnitt 6.5.7. 37 Texttafel neben der Inszenierung „Tarahumara“, Stand: Oktober 2005.
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Religion als Gegenmodell
6.5.2 ZUM VERHÄLTNIS ZWISCHEN „UNS“
UND DEN
„ANDEREN“
Der untere, ausführlichere Text geht auf die heutige Lebenssituation der Tarahumara und auf bestimmte Aspekte ihrer Geschichte ein. Besonders herausgegriffen wird darin die Bedrohung ihrer Lebensweise in Folge der Einwanderung der Europäer. Sie ist ein Faktum, das nicht bestritten werden soll. Aber in die Darstellung dieses Faktums mischen sich hier viele Topoi, die sich in der Beschreibung fremder Völker stereotyp wiederholen. Sie formen sich zu folgenden Aussagen: Die Tarahumara leben heute noch nach Regeln wie vor Hunderten von Jahren. Sie sind arm, aber fröhlich. Die Familie steht im Mittelpunkt. Sie brauchen keinen Staat und keine Politik, sie regeln ihr Zusammenleben friedlich und gemeinschaftlich. Ihr Leben ist von Religion bestimmt („[...] tanzen sie und singen für den Mais [...]“, „[...] gehen ritualisiert miteinander um [...]“), sie sorgen für sich selbst. Die Gemeinschaft der Tarahumara wird also durch Phänomene charakterisiert, die Gegensätze zu modernen westlichen Gesellschaften bilden, und die im Allgemeinen positiv besetzt sind. Für „unsere“ westliche Kultur werden dagegen ausschließlich negative Merkmale und schlechtes Verhalten aufgezählt. Die Kurzform würde in etwa lauten: Die durch „Materialismus“ geprägte „Wohlstandsgesellschaft“ bedroht, bekämpft, unterdrückt die Tarahumara und beutet sie aus. Damit wiederholt der Text ein Denkmuster, das den meisten Museumsbesuchern auch aus der Beschreibung anderer Völker vertraut sein dürfte. Die Tarahumara werden zu einer Spätform der „Edlen Wilden“ (von der sanften Sorte), akut bedroht von „den Weißen“, die deren Lebensform nicht gelten lassen können.38
6.5.3 ARM,
ABER RELIGIÖS
Die Inszenierung verstärkt und betont einzelne Aspekte des Bildes, das im besprochenen Begleittext von den Tarahumara entworfen wird: Vor allem Armut und Religiosität39 der Tarahumara werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
38 Das drohende Verschwinden von Eingeborenen-Kulturen war seit dem 19. Jahrhundert ein wesentlicher Motor für ethnographisches Sammeln. Bettina von Briskorn zeigt, dass dieser Topos auch in den Strategien des ÜberseeMuseums wiederkehrte (Briskorn, 2000). Wortwahl und Inhalt der in diesem Ausstellungstext enthaltenen Kritik an den westlichen Kulturen verweisen hingegen klar in die 1970er und frühen 1980er Jahre. 39 „Religiosität“ hier als innere Haltung des Individuums im Gegensatz zur Religion als (in Mindestmaßen) normiert und überindividuell.
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Anschauungssache Religion Es wird zwar nicht erklärt, was die Tarahumara-Figur in der Inszenierung eigentlich genau macht, aber ihre Handlung ist auch ohne sprachliche Erklärungen als religiöse Zeremonie dechiffrierbar. Darauf weisen zum Beispiel die aufwendige Kleidung des Mannes, seine konzentrierte Haltung, die Rassel in seiner Hand und die drei Holzkreuze hin. Die Denotation als „religiöse Zeremonie“ könnte auf Besucherseite auch ex negativo erfolgen: Aus welchen, wenn nicht religiösen Gründen, sollte ein Mann vor seiner Hütte allein eine Rassel schwingen und dabei auf drei Holzkreuze blicken?40 Die groben Bretter der Tür, die unverputzte Ziegelwand, die als Gefäße verwendeten Blechdosen und der trockene, staubige Boden der Szenerie verweisen auf Armut und Einfachheit, vielleicht auch auf Unterdrückung und Ausbeutung. Zu den beiden hervorstechenden Inhalten „Armut“ und „Religiosität“ kommen weitere Themen, die durch die Inszenierung visualisiert und durch die Texte benannt werden. So entsprechen sich zum Beispiel die Aufstellung einer einzelnen Puppe und das Farbfoto, das trotz des Titels „Bei einer Ratsversammlung“ nur einen einzelnen Mann zeigt, sowie der im Text vorkommende einzelgängerische Charakter der Tarahumara. Ebenso verweisen die Drehung der Puppe und die beschriebene Haltung der Tarahumara als „mit dem Rücken zur westlichen Zivilisation“ aufeinander.
6.5.4 DIFFERENZIERUNG IM DETAIL Insgesamt können die Museumsbesucherinnen und -besucher durch sprachliche und visuelle Eindrücke ein sehr konsistentes Bild der Tarahumara gewinnen, das Bild eines armen, unterdrückten, aber eigentlich zufriedenen und zutiefst religiösen Volkes. Wenn das auch meines Erachtens die in diesem Ausstellungsabschnitt dominierenden Aussagen über die Tarahumara sind, so sprechen viele Objekte doch eine differenziertere Sprache. Im Schaukasten vor der Inszenierung werden für Touristen hergestellte Objekte gezeigt, unter anderem ein kleines Kruzifix, das, wie die Objektbeschriftung informiert, in Kooperativen auf Anregung von Jesuiten geschnitzt wurde.41 Dieses und die anderen Kreuze auf
40 Einer meiner Freunde überlegte sich freundlicherweise weitere mögliche Gründe: Vollrausch, Depression oder Trauer. Um dies ernstzunehmen: Letzteres ist ebenfalls meist von religiösen Kulturmustern geprägt, während die anderen beiden durch das setting Museum und sein Thema als Assoziationen auf Besucherseite weitgehend ausgeschlossen sein dürften. 41 „Figuren aus Kiefernrinde und Holz. Erst seit wenigen Jahren stellen die Tarahumara solche Zierfiguren her, die den Touristen zum Kauf angeboten werden. Sie werden in Handwerkskooperativen geschnitzt, die auf Anre-
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Religion als Gegenmodell dem Foto und in der Inszenierung sind christliche Symbole.42 An der nachgebauten Hüttenwand hängen, wie erwähnt, Blechdosen, die Aufschriften europäischer und amerikanischer Firmen tragen (Nestlé und Quakerstate). Diese Objekte verweisen also auf Kontakte zwischen Weißen und Indianern, die über das Schema „Ausbeutung / Bedrohung / Rückzug“ hinausgehen. Es verbergen sich touristische, vielleicht freundlich-neugierige Kontakte, wirtschaftliche Verflechtungen und religiöse Inkulturationsprozesse darin. Sie ermöglichen eine Differenzierung des oben geschilderten Bildes von den Tarahumara.43
6.5.5 INHALTLICHE AUSSAGE: RELIGIOSITÄT Der Ausstellungsabschnitt über die Tarahumara weicht vom wissenschaftlich-deskriptiven Impetus der restlichen Abteilung ab. Die Beschreibung ihrer Lebensweise ist einerseits unspezifisch und ungenau, und andererseits wird sie durch deren Bewertung überlagert. Verfolgt man die Sachebene im Einzelnen weiter, so fällt auf, dass die Informationen vor allem in Bezug auf die Religion der Tarahumara spärlich werden. So wird zum Beispiel nichts konkretes über die Religion(-szugehörigkeit) der Tarahumara ausgesagt. Die „Zeremonie“, die in der Inszenierung und auf dem Foto abgebildet ist, wird nicht erklärt, ja, nicht einmal benannt.44 Die Einzelinformationen zur Religion (sprachlich: Speiseopfer für die Götter, Tanzen für die Maisernte, Weihnachten; visuell: Kreuze) stehen unverbunden nebeneinander. Die christlichen Elemente befinden sich in einem unbenannten, unaufgelösten Spannungsverhältnis zu „den Göttern“. Was den Besuchern über die Religion der Tarahumara mitgeteilt wird, bleibt insgesamt diffus. Aber obwohl unbestimmt, wird Religion als wichtig für die Tarahumara dargestellt. Die innere Haltung der Tarahumara wird in Szene gesetzt, aber ethnographisch-religionswissenschaftliche Beschreibungen der religiösen Vorstellungen, der Riten oder der Religionsgeschichte fehlen. Insofern erzählt die Ausstellung weniger etwas über die konkrete Religigung der Jesuitenmissionare entstanden.“ Objektbeschriftung im Schaukasten Tarahumara, Stand: Oktober 2005. 42 Dass die Tarahumara Christen sind, wird in der Ausstellung nicht mitgeteilt. 43 Selbstverständlich können die Gegenstände auch völlig anders interpretiert werden: In den Dosen könnte man etwa „unseren Abfall“ sehen, den die Indígenas bekommen, oder eine „Verfälschung“ ihrer Kultur. Damit würden sich auch diese Gegenstände in die Erzählung von den „armen“ Indígenas einfügen. 44 Wie oben beschrieben, ist die Denotation auf Besucherseite höchstwahrscheinlich „Religion“. Genaugenommen wird sie nicht bestätigt.
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Anschauungssache Religion on der Tarahumara, als über deren Religiosität. Nicht, was sie glauben, wird mitgeteilt, sondern dass sie glauben. Da die referentielle Funktion der Zeichen (nach Jakobson) hier zurückgenommen ist, sollen andere Funktionen dieses Ausstellungsabschnittes untersucht werden.
6.5.6 APPELL UND SELBSTAUSSAGE Die Inszenierung formuliert einen Appell an die Betrachterinnen und Betrachter. Die Lebensweise der Tarahumara wird als positives Gegenmodell zu unserer Gesellschaft dargestellt. Als ein besonders wichtiges Element ihrer Lebensweise wird ihre Religiosität herausgestellt. Die Besucher werden damit implizit aufgefordert, sich an der religiösen Haltung der Tarahumara ein Beispiel zu nehmen. Diesen Appell zu akzeptieren, wird den europäischen Besucherinnen und Besuchern gerade dadurch ermöglicht, dass so wenig Konkretes ausgesagt wird. Sie erfahren kaum etwas, was ihnen fremd oder unangenehm sein könnte oder was sie ablehnen könnten (etwa über den Ruf der Maisbierfeste, siehe weiter unten). Salopp ausgedrückt: Was sollte es uns stören, wenn arme Indígenas ein bisschen für den Mais singen und tanzen? Christlicher Missionseifer ist passé (zumindest unter einem großen Teil der europäischen Bevölkerung), dagegen ist eine gewisse Sakralisierung der Natur durchaus üblich. Sie wurde durch das Bewusstsein fortschreitender Umweltzerstörung seit den 1970er Jahren befördert, und besonders oft wird ein besseres, spirituelles Verhältnis zur Natur bei den Indianern lokalisiert. Die Haltung der Tarahumara, wie sie hier inszeniert wird, fügt sich in dieses Denkmodell ein und bekommt Vorbildcharakter. Wie jede Botschaft hat auch dieser Ausstellungsabschnitt eine expressive Funktion. Wie schon erwähnt, lebte und forschte Claus Deimel bei den Tarahumara, bevor er am Übersee-Museum zu arbeiten begann.45 Mit ihrer Religion setzte er sich besonders intensiv
45 Zwischen 1973 und 1977 bereiste er dreimal die Sierra Tarahumara. Promotion s. o. Weitere Veröffentlichungen von Claus Deimel zu den Tarahumara: Deimel, Claus: Die rituellen Heilungen der Tarahumara. Mit einer Einführung in die Literatur. Monografía rarámuri I. Berlin, 1997; ders.: Peyote Scraping – Rarámuri (Tarahumara) in North-West-Mexico. In: Jahrbuch für Ethnomedizin, 1997/98, S. 223 – 226; ders.: Nawésari. Texte aus der Sierra Tarahumara. Monografía Rarámuri II. Berlin, 2001. An der Amerika-Abteilung arbeiteten außer Dr. Claus Deimel Dr. Dieter Heintze (seit 1976 Leiter der Abteilung Völkerkunde), Dr. Götz Mackensen, Dr. Andreas Lüderwaldt und Dr. Claudius Giese. Schriften zur Konzeption
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Religion als Gegenmodell auseinander. In seiner Promotion arbeitete er die Geschichte ihrer Missionierung auf, auch nahm er mehrfach an den „Maisbierfesten“ teil. Wie seinen Veröffentlichungen zu entnehmen ist, galten und gelten die Maisbierfeste unter Nicht-Tarahumara als wüste Saufgelage, die sexuelle Libertinage einschließen. Diesem Vorwurf, einem klassischen polemischen Topos gegen andere Religionen, geht Deimel in seinen Feldforschungen nach, und entkräftet ihn. Deimel ist also ein Experte, was die Religion der Tarahumara betrifft. Demnach entschied er sich bewusst dagegen, sein Wissen über ihre Religion in der Dauerausstellung umfassend zu versprachlichen. Offenbar hielt er es für angemessener, den Besucherinnen und Besuchern die innere Haltung der Tarahumara über eine Inszenierung nahe zu bringen und sonst nur Fragmente ihrer Religion darzustellen (zum Beispiel „Jesuiten“, „Peyotl“ als einzelne, unverbundene Marker). Nach seinem Aufenthalt bei den Tarahumara wollte Deimel dem Publikum „daheim“ möglicherweise lieber auf Gefühlsebene vermitteln, was es bedeutet, ein Tarahumara zu sein, als distanzierte Ethnographie zu betreiben.46
6.5.7 DIE POETISCHE FUNKTION: RELIGION ALS DAS GANZ ANDERE In Bezug auf den Umgang mit Religion ist neben der inhaltlichen meines Erachtens die poetische Ebene besonders wichtig. Schon rein formal sprengt einer der Begleittexte die Gattungsgrenzen, die Museumstexten als einer besonderen Art wissenschaftlicher Prosa gesetzt sind, und die in den anderen Texten auch eingehalten werden. Er ist so gedruckt, wie ich es auch im Zitat (s. Abschnitt 6.5.1) wiederzugeben versuchte: Mittig gesetzt, geben Absätze zwischen den einzelnen Zeilen einen Leserhythmus vor. Der Satzbau folgt teilweise rhythmischen Gesichtspunkten („tanzen sie und singen“), es gibt keine Satzzeichen. Damit wird der Text in die Nähe von Lyrik gerückt. Es liegt nahe, die Verwendung lyrischer Elemente als Hinweis darauf zu deuten, dass die wissenschaftliche Prosa die intendierte Botschaft nicht ausreichend oder nicht angemessen transportierten kann, und dass die Religion der Tarahumara mit lyrischen Mitteln besser vermittelt werden kann. Durch die Wahl dieses Zugangs wird sind nicht erhalten. Auskunft von Frau Prof. Dr. Ahrndt und dem ÜberseeMuseum Bremen. 46 Den Einfluss der Feldforschung auf die Museumspraxis reflektiert Deimel später auch anhand seiner Erfahrungen in der Sierra Tarahumara. Er plädiert dafür, die Subjektivität der Forscher in der Ausstellungspraxis stärker zu berücksichtigen. Deimel, Claus: Feldforschung und ethnologische Ausstellung. In: Kraus, Michael und Mark Münzel (Hg.): Museum und Universität in der Ethnologie. Bamberg, 2003, S. 131 – 140.
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Anschauungssache Religion die Religion der Tarahumara mindestens teilweise der Ratio entzogen und zu einer Sache des Gefühls oder des ästhetischen Empfindens gemacht. Dort, wo Religion als „gut“, als „vorbildlich“ vorgeführt wird, wird sie nicht wissenschaftlich erklärt. Da aber die Darstellung der Religion der Tarahumara auf sprachliche Mittel angewiesen ist, kann man ein zweifaches Ziel in der Textstrategie beobachten: Der Text schwankt zwischen Verschweigen von vielen Fakten und Benennen einiger Details und Eindrücke. In der Inszenierung kommt ein ähnliches Paradox zum Vorschein, nämlich der Versuch, sowohl zu zeigen als auch zu verbergen: Die naturalistisch gestaltete Figur ist so aufgestellt, dass die Besucher sie nur von der Seite und hauptsächlich von hinten zu sehen bekommen. Dies ist in ethnographischen Darstellungen (Fotos, Zeichnungen, Filmen, Inszenierungen) ausgesprochen unüblich. Es kommt nur vor, wenn die Rückansicht einer Figur von größerem Interesse ist als ihre Vorderansicht, was hier nicht der Fall ist. Tätigkeiten werden im Allgemeinen von vorne festgehalten oder nachgestellt, so dass sich der Beobachter seinem Studienobjekt gegenüber befindet. Es ist ein großer Unterschied, ob man jemanden von vorne ansieht, oder ob man ihm über die Schulter sieht, wie es in der Tarahumara-Inszenierung angelegt ist. Beim Blick über die Schulter schlüpft der Betrachter teilweise in die Rolle dessen, der sich vor ihm befindet. Der Blick des Betrachters wird nicht auf den vorderen, sondern wie der des vorderen Menschen gelenkt. Natürlich können die Besucherinnen und Besucher im Übersee-Museum die Figurine des Tarahumara samt seiner aufwändigen Tracht examinieren. Aber sie werden ihm eben auch über die Schulter sehen, werden ansatzweise in seine Rolle schlüpfen. Hier sei noch mal darauf hingewiesen, dass die Inszenierung vom Bewegungsraum der Besucher nicht durch Glaswände getrennt ist. Gleichzeitig hat die Drehung der Figur einen verbergenden, ausgrenzenden Charakter: Das Gesicht des „Studienobjektes“ ist nicht zu sehen. Damit wird der forschende Blick auf den betenden Gläubigen beschränkt, dem Gläubigen wird eine Privatsphäre zugestanden, wie es sie im Museum sonst nicht gibt. Um diese Besonderheiten in der Inszenierung noch einmal als die poetische Funktion des Ausstellungsabschnittes zu würdigen: Die üblichen Gestaltungsmittel eines Museums werden hier abgewandelt (Lyrik als Textgattung, Wegdrehen des Studienobjektes, Verzicht auf eine Vitrine). Die Gestaltung ist anders als sonst im Museum üblich. Meines Erachtens liegt es nahe, dies in Korrespondenz zum Ausstellungsinhalt zu werten: Die Religion der Tarahumara entzieht sich den üblichen Vermittlungstechniken des Museums. Sie wird damit den Besuchern als etwas nahe gebracht, das
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Religion als Gegenmodell
sich von der restlichen Lebenswirklichkeit grundsätzlich unterscheidet. Das wiederum ist eine Aussage über das Wesen von Religion: Religion wird hier als der restlichen Lebenswelt entgegengesetzt aufgefasst, als etwas, das sich den gängigen Kategorien und Vermittlungsstrategien entzieht.
6.6 Zusammenfassungen und Ausblicke 6.6.1 ETISCH –
EMISCH
–
ETHISCH?
MULTIPERSPEKTIV!
Wie gezeigt wurde, wurden für die Religion der Hopi und für die Religion der Tarahumara zwei sehr unterschiedliche Darstellungswiesen gewählt. Die Religion der Hopi wird aus einer Außenperspektive gezeigt. Ihre Beschreibung ist Ethnographie, es ist eine neutrale, etische Darstellung. Die Religion der Tarahumara wird auf andere Weise vermittelt. Die Aussagen betreffen, wie gezeigt wurde, eine Realität, die sich wissenschaftlicher Empirie entzieht. Ist diese Inszenierung folglich eine emische, eine Darstellung aus der Innenperspektive? In der Dauerausstellung sind keine Selbstaussagen von Tarahumara enthalten. Die Inszenierung erfolgte durch ein Team von Europäern, sie enthält Aussagen über die Tarahumara, nicht von den Tarahumara. Mit der Inszenierung wird jedoch versucht, zu vermitteln, was es heißt, wie ein Tarahumara zu leben, zu denken und zu glauben. Es wird eine Annäherung an die Innenperspektive, den insight view gewagt. Mehr als eine solche Annäherung ist für einen Wissenschaftler, und erst recht für die Museumsbesucher, nicht möglich. Wie sind diese Vermittlungswege zu werten? Eine museumsethische Diskussion kann hier nicht erschöpfend geführt werden, vor allem, weil sich die ethischen Standards in den letzten 25 Jahren sehr verändert haben. Ich möchte daher nur auf eine Besonderheit in der Präsentation aufmerksam machen, die, wenn man sie bewusst einsetzt, meines Erachtens museumsethisch zukunftsfähig ist: Die Mittel- und Südwestamerika-Abteilung macht die Besucherinnen und Besucher zu Beobachtern verschiedenen Ranges, verschiedener Nähe zum Studienobjekt. Zur Religion der Hopi beispielsweise wird eine erklärende Distanz hergestellt, die auf Besucherseite keine oder wohlwollende Emotionen weckt. Die Besucher sind angesichts dieser Vitrine Wissensempfänger. Die Figur in der Tarahumara-Inszenierung hingegen erlaubt ihnen ansatzweise, in das Leben der Tarahumara hineinzuschlüpfen. Sie werden hier sehr nahe an das Thema heran gelassen. In den anderen Vitrinen dieser Abteilung wird das Betrachten noch auf viele weitere Arten koloriert oder akzentuiert: Das Diorama „Betatakin“ etwa, mit seinem Modell
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Anschauungssache Religion eines cliff-dwelling, ist ein Guckloch in die Vergangenheit. Ein Modell schaut man ganz anders an, als zum Beispiel wertvolle Originale (hier in den Katsina-Figuren präsent) oder das „echte Silber“ in der Vitrine neben dem cliff-dwelling. Aus dieser Vitrine werden die Besucher von der Fotografie einer reich geschmückten Navajo angeblickt. Die Besucher finden sich dadurch eher in der Rolle von Touristen wieder, die lebendige Traditionen und unbekannte Kunstfertigkeiten bestaunen. Das „Herbolarium“ vis à vis der Katsina-Vitrine wiederum hat den Charakter eines Schaufensters, die Museumsbesucher können sich ihm wie potentielle Käufer nähern. Kurzum, den Besucherinnen und Besuchern werden, ob intendiert oder nicht, auf engem Raum ganz unterschiedliche Betrachterrollen angeboten. Ein schwerwiegendes Problem in der Völkerkunde ist das Denken in und Vermitteln von Zentrismen und Stereotypen. Das Angebot verschiedener Betrachterrollen kann dieses Problem meines Erachtens mildern. Wenn die Besucher wirklich die Möglichkeit haben, verschiedene Perspektiven einzunehmen, verfestigen sich die Fremdbilder nicht so sehr. Dies ist in der Mittel- und Südwestamerika-Abteilung angelegt.
6.6.2 RELIGION ALS GEGENMODELL Die Religion der Tarahumara wird, wie gezeigt wurde, als wichtiger Bestandteil eines Lebens dargestellt, das ein Gegenmodell zu unserem westlichen Lebensstil ist. Sie wird als „gute“, als „bessere“ Religion inszeniert. Die Vorstellung von einer guten Religion vermischt sich im allgemeinen Sprachgebrauch oft mit einem normativen Religionsbegriff, mit der Vorstellung von „echter“ oder „wahrer“ Religion. Insofern kann man wohl sagen, bei den Tarahumara werde die „wahre Religion“ lokalisiert. Sie ist tief empfunden, findet sich im armen, einfachen Leben, gibt den Menschen Halt in Krisensituationen und spendet auch in schwierigen Umständen ein wenig Glück. Dies alles können die Besucherinnen und Besucher am Beispiel der Tarahumara sehen. Deren Religion zeichnet sich des weiteren dadurch aus, dass sie sich auf die Natur bezieht und dass sie mit Empirie, Verstand und Logik nicht erschöpfend greifbar ist. Außerdem sind ihre Anhänger abwartend-passiv. Besonders diese drei Merkmale – Naturnähe, Antirationalismus und Passivität – stehen im Gegensatz zu grundlegenden Erfordernissen und Merkmalen unserer heutigen europäischen Lebensweise: Arbeitsteilung und Technisierung, das Ideal von Berechenbarkeit, Initiativkraft und Aktivität. Es werden also Phänomene mit Religion verbunden, die Antipoden zu unserem Alltag sind. Das hat eine deskriptive und eine normative Seite: Religion wird als das, was sich vom Alltag unterscheidet, be-
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Religion als Gegenmodell schrieben, als Gegenpol zum sonstigen Leben. Gleichzeitig wird Religion zum Gegenmodell, zum Gegenentwurf für ein als schlecht erkanntes Leben gemacht: Mit der Religion der Tarahumara ginge es uns und dem Globus besser. Meines Erachtens proklamiert die Tarahumara-Inszenierung den hilfreichen, vorbildlichen Charakter der Tarahumara-Religion nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch für unsere gesamte Gesellschaft. Die Tarahumara-Inszenierung ist, wie mehrfach betont, rund 25 Jahre alt. Das hierin nachgewiesene Denkmodell ist älter. Es wird auch weiterhin benutzt und tradiert, mit wechselnder Religionspräferenz. Gerade in Religionen, die erst seit kurzer Zeit mit den Entwicklungen der europäischen und amerikanischen Geistes- und Technikgeschichte konfrontiert sind, wird diesem Denkmodell zufolge eine Lösung für Probleme unserer heutigen Welt lokalisiert. Man kann den letzten Begriff der drei oben genannten Merkmale der Tarahumara-Religion, „Passivität“, wohl durch einige andere, sich inhaltlich ergänzende und überschneidende Begriffe (Mitleiden, Geduld, „Achtsamkeit“, Empathie, „Yin“, Friedfertigkeit) ersetzen.47 Dadurch erhält man eine Reihe von Eigenschaften, die immer wieder für nicht-christliche und insbesondere für indianische und ostasiatische Religionen proklamiert werden. In der Konzeption von 1979 wollte das Übersee-Museum, wie im Abschnitt 6.2.1 gezeigt, informieren und berichten, Problembewusstsein schaffen und aufklären. Sicher wurden nicht nur Fragen aufgeworfen, sondern auch Lösungen und Handlungsmöglichkeiten angeboten, zum Beispiel durch die fünf entwicklungspolitischen Arbeitsgruppen, denen das Übersee-Museum einen Raum zur Verfügung stellte. Insofern war das going native der TarahumaraInszenierung nicht die einzige Antwort auf die selbst gestellten Fragen. Es war nur ein kleiner Teil der im Museum transportierten Botschaften, der möglicherweise auch nur dank des zeitlichen Abstands erkennbar ist. Doch sollte festgehalten werden, dass die Vorstellung, die Religion einer „vormodernen“, agrarisch geprägten Kultur könne uns nicht nur individuell, sondern auch systemisch helfen, auch in „aufgeklärten“, kritischen Berichterstattungen fortleben kann.
47 Zur Ausstellungsanalyse mittels Ersetzungen s. Muttenthaler und Wonisch mit Sabine Offe in: Muttenthaler, Roswitha und Regina Wonisch: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld, 2006, S. 58ff.
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7. NORDAMERIKA IM LINDEN-MUSEUM STUTTGART: RESPEKT VOR FREMDHEIT 2005 wurde im Linden-Museum Stuttgart die Nordamerika-Abteilung in neuer Konzeption wiedereröffnet. Die Ausstellung zeigt den Besucherinnen und Besuchern zunächst eine Einleitung zu Nordamerika insgesamt und gliedert sich dann in sechs Ausstellungseinheiten, die jeweils einem ausgewählten kulturellen Aspekt bei einem oder zwei Völkern zu einer bestimmten Zeit sowie einem Sammler gewidmet sind. Die Nordamerika-Abteilung des LindenMuseums Stuttgart wurde zur Analyse ausgewählt, weil sie aktuelle Lösungen für museumsethische Fragen anbietet. Diese werden nach einer Einleitung zum Museum diskutiert, bevor die Inszenierung zu den Hopi eingehender betrachtet wird.
7.1 Historische und inhaltliche Skizze zum Museum sowie zur Amerika-Abteilung Die Geschichte des Linden-Museums Stuttgart beginnt mit dem „Württembergischen Verein für Handelsgeographie und Förderung Deutscher Interessen im Ausland e. V.“, der am 27. Februar 1882 in der Stuttgarter Gewerbehalle gegründet wurde.1 Ziel des Vereins 1
Zur Geschichte des Linden-Museums erschien 1994 eine Foto-CD: LindenMuseum Stuttgart (Hg.): Die Geschichte des Völkerkunde-Museums seit 1882. Stuttgart, 1994. Im Internetauftritt des Linden-Museums (http:// www.lindenmuseum.de/html/deutsch/museum/geschichte/geschichte.php Stand: 24.05.2007) und im Internetauftritt von Museums of the World (http://www.museum.com/, Cartwrite GmbH, Am Busch 3, 59439 Holzwickede, Stand: 24. 05. 2007) sind wesentliche Teile der Photo-CD verwendet. – Eine monographische Darstellung der Geschichte des Linden-Museums neueren Datums fehlt. Weitere Informationen aus: Jahresbericht des Württembergischen Vereins für Handelsgeographie und Förderung Deutscher Interessen im Ausland. Stuttgart, 1/2, 1882/84 (1884) bis 46/49, 1927/30 (1931); Jahresbericht des Württembergischen Vereins für Handelsgeographie. Stuttgart, 50, 1931/32 (1932); Jahrbuch des Linden-Museums, Museum für Länder- u. Völkerkunde. Hgg. vom Württembergischen Verein für Handelsgeographie e. V. Stuttgart, Heidelberg, N.F. 1, 1951 und:
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Anschauungssache Religion war es, geographisches Wissen zu erwerben und weiterzugeben. Dem Verein traten auch bedeutende württembergische Firmen bei, denn ein weiteres Vereinsziel war, die heimische Produktion auf den Geschmack der „Wilden“ abzustimmen, um bessere Verkaufszahlen zu erzielen. Ein Mittel, um diese Ziele zu erreichen, erschien der Aufbau einer ethnographischen Sammlung zu sein. Dazu wurden im Ausland lebende Württemberger aufgefordert, Objekte nach Stuttgart zu schicken, was zunächst verhältnismäßig folgenlos blieb. Erst mit der Unterstützung Königs Wilhelm II. von Württemberg (reg. 1891 – 1918) konnte eine Sammlung aufgebaut werden,2 mit der 1889 eine erste Dauerausstellung in der Stuttgarter Gewerbehalle eröffnet wurde. In diesem Jahr übernahm Karl Graf Heinrich von Linden (1838 – 1910) den Vereinsvorsitz, der sich vom Hofdienst zurückgezogen hatte und sich ganz den Belangen des Vereins widmen konnte. Von Linden interessierte sich sehr für die Völkerkunde als akademische Disziplin und konnte viele verschiedene Personen dazu bewegen, Ethnographica zu sammeln und dem König von Württemberg zu übersenden, der sie dann dem Verein für Handelsgeographie überließ. Von Lindens großes Ziel war der Bau eines Museums. Auch dafür trieb er Spenden auf und setzte überdies sein Privatvermögen ein. Die Grundsteinlegung konnte er noch erleben, starb aber, bevor das Museum 1911 eingeweiht wurde. Ihm zu Ehren wurde es „Linden-Museum“ genannt. Zum ersten Direktor wurde Augustin Krämer (1865 – 1941) berufen, ein Arzt, Forschungsreisender und Ozeanograph, später Honorarprofessor für Völkerkunde an der Tübinger Universität. Nach dem Tode Graf von Lindens übernahm Wilhelm Herzog von Urach den Vereinsvorsitz, widmete sich jedoch ausschließlich repräsentativen Aufgaben. Das Museum wurde faktisch von Theodor Wanner (1875 – 1955) geleitet, der neben dem Museum eine Firma leitete und heute als Prototyp eines schwäbischen Unternehmers portraitiert wird.3 Wanner arbeitete bis in die Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts für das Linden-Museum. In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft konnte sich das Linden-Museum offenbar der Kontrolle des Gaukulturamtes
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Tribus. Jahrbuch des Linden-Museums. Hgg. vom Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde. Stuttgart, 2/3, 1952/53 –. Unter anderem stellte er dem Verein für Handelsgeographie ethnographische Objekte aus dem Königlichen Naturalienkabinett zur Verfügung. Bspw.: http://www.lindenmuseum.de/html/deutsch/museum/geschichte/ geschichte.php, Stand: 24.05.2007. Im Nachruf, der in Tribus veröffentlicht wurde, steht zu lesen, „Theodor G. Wanner war tatsächlich das Linden-Museum, wie er es selbst einmal aussprach [...]“. Glück, J. F.: Nachruf auf Th. G. Wanner. In: Tribus 4/5, 1954/1955, S. 411f, hier S. 412.
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Respekt vor Fremdheit entziehen.4 1944 wurden das Museum und die meisten seiner Großobjekte durch Bomben zerstört. Noch im Jahr 1945 fing Theodor Wanner an, die Mittel für den Wiederaufbau des Museums zu beschaffen, mit dem bald begonnen werden konnte. 1953 gingen dem Verein für Handelsgeographie jedoch die Gelder aus. Die Stadt Stuttgart stellte finanzielle Hilfe in Aussicht, machte sie aber vom Erhalt von Mitsprachrechten abhängig. Der Verein für Handelsgeographie und die Stadt wurden sich einig, woraufhin der inzwischen 74jährige Theodor Wanner zurücktrat. Leiter des Museums wurde 1957 Hans Rhotert. Ihn löste 1971 Friedrich Kußmaul ab, der seit 1954 am Linden-Museum tätig war. Kußmaul setzte sich dafür ein, das Museum in eine öffentliche Trägerschaft zu übergeben, was 1973 verwirklicht wurde (Träger: Land Baden-Württemberg und Stadt Stuttgart). Der Verein, inzwischen umbenannt in „Gesellschaft für Erd- und Völkerkunde“, unterstützt das nun staatliche Museum weiterhin. Friedrich Kußmaul leitete das Museum bis 1986. Er baute die Orient-, Süd- und Ostasienabteilung auf und verantwortete eine Neukonzeption, die während der Sanierungsarbeiten von 1979 bis 1985 ausgearbeitet wurde. 1985 wurde mit den Abteilungen Afrika, Amerika, Orient und Südsee das Museum wiedereröffnet. 1986 löste Peter Thiele Friedrich Kußmaul als Direktor ab. Er blieb bis 2000 im Amt. Nach einer Vakanz wird das Museum seit 2001 von Prof. Dr. Thomas Michel geleitet. Das Linden-Museum Stuttgart zählt zu den wichtigsten Völkerkundemuseen Europas. Es unterhält weltweite Beziehungen, seine Mitarbeiter forschen und publizieren. Die 3.363 m2 Dauer- und 430 m2 Sonderausstellungsfläche locken jährlich Besucher in sechsstelliger Höhe an. Die wichtigsten Sammlungen des Museums zu den beiden Amerikas beziehen sich auf Alt-Peru und auf die Kulturen der Plains und Prärien.5 Die „reichhaltige[n] und alte[n] Präriebestände“6 des LindenMuseums wurden von Herzog Paul von Württemberg, Maximilian Prinz zu Wied, Charles Schreyvogel, Karl Graf Heinrich von Linden und anderen angelegt. In den 1960er Jahren wurden die Bemühungen intensiviert, die Sammlungen aus dem übrigen Amerika zu vergrößern. Bald wurden auch zeitgenössische Gegenstände in den 4
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Linden-Museum Stuttgart, 1994. Theodor Wanner wurde seines Vorsitzes beim Deutschen Auslands-Institut (heute ifa, Institut für Auslandsbeziehungen e.V.), das er mitbegründet hatte, enthoben, als dieses gleichgeschaltet wurde. Die folgenden Angaben aus: Schulze-Thulin, Axel: Die Amerika-Abteilung des Linden-Museums Stuttgart. In: Tribus 30, 1981, S. 75 – 88 und ders.: Linden-Museum Stuttgart. Amerika-Abteilung. Stuttgart, 1989. Schulze-Thulin, in: Tribus 30, 1981, S. 75.
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Anschauungssache Religion Sammelfokus genommen. 1973 fand im Linden-Museum eine Ausstellung mit Werken indianischer Künstler statt. Die Hopi-Sammlung, die vor allem auf Karl Graf von Linden zurückgeht, wurde Ende der 1970er Jahre von Axel Schulze-Thulin um mehrere Stücke ergänzt,7 und seitdem immer wieder durch Schenkungen und, soweit es der Etat zulässt, durch Ankäufe bereichert. Eine der wichtigsten Erwerbungen in letzter Zeit war der Ankauf der Privatsammlung Dreis, bestehend aus 72 Katsina-Figuren, im Jahr 2004. 1967 wurden im ersten Obergeschoß des Linden-Museums Räume frei, die bis dahin die Pädagogische Hochschule genutzt hatte. Fritz Jäger konnte die Amerika-Abteilung 1968 dort neu aufbauen. Im Jahr darauf übernahm Heinz Kelm die Leitung des Referates Amerika. Da Kelm schon 1972 zum Direktor des Museums für Völkerkunde in Frankfurt am Main berufen wurde, nahm Axel SchulzeThulin seine Stelle am Linden-Museum ein. 1978 wurden wegen umfassender Sanierungsarbeiten alle Ausstellungstrakte geschlossen. Weitere Räume wurden frei, da die Berufspädagogische Hochschule nach Esslingen umzog, gleichzeitig beschlossen die Träger des Museums jedoch, keinen Erweiterungsbau zu errichten. Die Amerika-Abteilung musste daher von 900 m2 auf 600 m2 verkleinert werden. Die 1985 neu eröffnete Dauerausstellung wurde auf Nordamerika und den Andenraum beschränkt. Für Nordamerika wurden sieben Kulturareale ausgewählt, darunter auch der „Südwesten“. Neben der Präsentation der Objekte in Vitrinen gab es auch Inszenierungen und Einbauten zu sehen (beispielsweise den Nachbau eines Erdhauses der Mandan).8 Bis 1997 umfasste das Referat „Amerika“ beide Teilkontinente. Im Februar 1997 wurde das Referat Amerika unterteilt. Dr. Sonja Schierle, die seit 1985 am Linden-Museum arbeitet, ist seitdem für „Nordamerika“ zuständig. Mit Dr. Doris Kurella, der Leiterin des Referates Lateinamerika teilt sie sich zudem das Referat Museumspädagogik. Dr. Schierle erarbeitete zusammen mit der wissenschaftlichen Volontärin Jutta Steffen-Schrade eine neue Dauerausstellung zu Nordamerika, die 2005 eröffnet wurde.
7.2 Der Weg in den Nordamerikasaal Wie für die anderen Museen auch, wird im Folgenden überlegt, welche Bedeutungen der Museumsbau seinen Inhalten beigibt, und welche Lesarten der Ausstellung durch die ersten Eindrücke privilegiert werden. Dabei zeigt sich, dass den Besucherinnen und Besu-
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Ebd., S. 82f. Schulze-Thulin, in: Tribus 30, 1981, S. 75 – 88.
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Respekt vor Fremdheit chern auf ihrem Weg zu den Hopi zwei wichtige Botschaften, die in Spannung zueinander stehen, mitgegeben werden.
7.2.1 VERZAUBERN DURCH PRAGMATISMUS
Abbildung 19: Das Linden-Museum im Mai 2007. Foto: S. C.
Zum Linden-Museum kommt man nur gezielt. Es liegt abseits der Fußgängerzone und zu Stuttgarts „Kulturmeile“, die sich zwischen Altem Schloss, Neuem Schloss und Hauptbahnhof entlang der Parkanlage und der Konrad-Adenauer-Straße erstreckt, ist man zu Fuß rund 20 Minuten unterwegs. Dort stehen die anderen großen Museen Stuttgarts,9 das Hauptstaatsarchiv und die Württembergische Landesbibliothek. Um sie herum laden Grünflächen, Freitreppen, Terrassen, Brunnenanlagen und Cafés zum Flanieren ein, Oper und Theater liegen in der Parkanlage gegenüber. Das LindenMuseum hingegen wurde am Hegelplatz erbaut, einer inzwischen viel befahrenen Kreuzung (s. Abbildung 19). In seiner Nähe befinden sich die Liederhalle und ein großes Krankenhaus, hinter dem Museum erstreckt sich ein Wohngebiet. Ein zufälliges Vorbeikommen während eines Stadtbummels ist recht unwahrscheinlich. Das Gebäude wurde als Museumsbau von Georg Eser, einem heute unbekannten Architekten,10 entworfen. Der Baukörper setzt sich aus mehreren hintereinander gestaffelten Kuben zusammen, 9
Württembergisches Landesmuseum, Alte und Neue Staatsgalerie, Haus der Württembergischen Geschichte. 10 In den einschlägigen Nachschlagewerken sind keine weiteren Bauten von ihm genannt.
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Anschauungssache Religion die sich um einen Turm gruppieren. Trotz Turm, Erker und Dachgauben wirkt der Bau kompakt und massig. Der Fassadenschmuck besteht aus schweren Natursteinen, die dem Erdgeschoss vorgeblendet sind, den Sprossenfenstern und umlaufenden Gesimsen. Dazu kommen einige neoklassizistische Elemente, wie der Zahnschnitt unter dem Dach und die dorischen Säulen am Portal. Von außen betrachtet, könnte es sich bei diesem Bau auch um ein ehemaliges Fabrikgebäude, um ein Krankenhaus, eine Schule oder um einen Verwaltungsbau handeln. Die Architektur nimmt keine typischen Museumsformen an. Einzig die Fahne auf dem Vorplatz und der Portalschmuck weisen darauf hin, dass sich hier ein völkerkundliches Museum befindet. Das Portal wird von zwei dorischen Säulen gerahmt. Außen herum läuft ein steinernes Reliefband aus Ornamenten, die mesoamerikanischen Reliefs nachempfunden sind. Im Giebel über dem Portal sieht man die steinernen Skulpturen zweier Männer, die sich, Atlanten ähnlich, unter das Giebelrund drücken. Durch Haartracht, Schmuck und physiognomische Charakteristika sind sie als NichtEuropäer kenntlich. Einer scheint einen Afrikaner darzustellen, der andere vielleicht einen Assyrer. Zum Portal führt eine Steintreppe hoch. Dahinter liegt ein kleiner Vorraum, von dem die Besucherinnen und Besucher nach rechts zur Garderobe und zu den Toiletten abbiegen können, und von dem eine weitere, steile Treppe nach oben führt. Rechts und links der Treppe hängen zwei große Gemälde. Auf einer Texttafel kann man lesen, dass dies die „Linden-Stone Poems I und II“ eines kalifornischen Künstlers sind.11 Oben angelangt, sehen die Besucherinnen und Besucher ins Treppenhaus, das weiter in die Höhe führt, zu einem tiefer gelegenen Veranstaltungssaal und zum Restaurant. Im Treppenhaus hängen ein großer Teppich hinter Glas und daneben die Hinweistafeln zu den verschiedenen Abteilungen („2. Stock / Ostasien / Kultur und Kunst Chinas und Japans / Südasien / Wirkung, Wandel und Einfluss indischer Kultur [...]“). Der kleine Museumsshop, in dem die Kasse aufgebaut ist, befindet sich, zunächst unsichtbar, linker Hand um die Ecke. Der Steinfußboden und die hohen weißen Wände lassen den Eindruck, man könnte beispielsweise auch in einem Verwaltungsgebäude sein, weiter bestehen. Die Eingangssituation ist also nüchtern-praktisch. Die Architektur eröffnet keine Räume, in denen man verweilen würde, es laden keine Sitzgruppen oder Leseecken zum Ausruhen ein. Große Beleuchtungskörper, Grünpflanzen, Kunstwerke oder Pressespiegel,
11 Harry Fonseca (Maidu): Linden-Stone Poems I und II, 1992. Mit einem Zitat wird Fonsecas Inspirationsquelle erläutert.
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Respekt vor Fremdheit
die Repräsentativität erzeugen, fehlen weitgehend. Das bedeutet, dass sich die Besucherinnen und Besucher in diesen Teilen des Gebäudes nicht länger als nötig aufhalten werden. Sie werden zügig zu ihren eigentlichen Zielen weitergehen: zu den einzelnen Abteilungen, „nach Südasien“ oder „nach Nordamerika“. Aber auch dieser äußerst „praktische“ Rahmen schafft eine eigene Illusion. Ein praktischer Rahmen wird leicht übersehen. Indem das Gebäude und seine Lage Nüchternheit und Pragmatismus ausstrahlen, geben sie vor, sie seien nur Nebenfiguren in der „Erzählung Museum“. Den Nutzern des Gebäudes wird suggeriert, das wirklich Wichtige seien hier „Südasien“ und „Nordamerika“, also die ethnographischen Inhalte der Ausstellungen. Die Auswahl, die Interpretationen, die Kontextualisierungen und die Vermittlungsarbeit, die Südasien und Nordamerika betreffen, die Konstruktionsarbeit, die das Museum leistet, werden in den Hintergrund geschoben. Die Entstehungsgeschichte des Museums in der Zeit der deutschen Kolonialbestrebungen und seine wirtschaftlichen und innenpolitischen Funktionen werden tendenziell vergessen gemacht. Der Unterschied zur Stuttgarter „Kulturmeile“ ist groß: Deren repräsentative Bauten sollen nicht nur Wissen speichern und vermitteln, sondern eben auch von der Größe Stuttgarts erzählen, davon, dass Stuttgart ein attraktiver Standort und kultureller Mittelpunkt ist. Die Besucherinnen und Besucher des Linden-Museums wollen zu den völkerkundlichen Ausstellungen. Das Gebäude und seine Lage machen den Museumsbesuch zu einer Expedition, bei der gerade nicht „der Weg das Ziel ist“. Statt dessen führt die Expedition glatt und zügig in die Inszenierung fremder Welten. Das Museum selbst nimmt sich in seiner Architektur und Ausstattung zurück. Es „verzaubert“ durch Pragmatismus. Der Konstruktionscharakter der Ausstellungen wird in den ersten Minuten des Besuches verdeckt, den Besucherinnen und Besuchern werden die ethnographischen Inhalte als das Eigentliche und als frei von nicht-wissenschaftlichen Intentionen erscheinen.
7.2.2 EINE EINLEITUNG FÜR DEN NORDAMERIKASAAL Öffnen die Besucherinnen und Besucher die Holztüren zur Nordamerika-Abteilung, gelangen sie zunächst in eine Art Vorraum: In einem durch Stellwände abgegrenzten Bereich werden ihnen mit Bildern und Textinformationen grundlegende Informationen zu Indianern und Inuit gegeben, außerdem können sie sich visuell auf das Thema einstellen und bekommen eine Anleitung für den Ausstellungsbesuch. Im folgenden Abschnitt wird dieser „Einleitungsraum“ kurz beschrieben, danach werden einzelne Bereiche analy-
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Anschauungssache Religion siert.12 Es zeigt sich, dass hier der Konstruktionscharakter, der aller ethnographischen Vermittlungsarbeit eignet, verhältnismäßig deutlich gemacht wird. Durch eine massive, zweiflügelige Tür betritt man den dunklen Ausstellungsraum. Da man aus dem Hellen kommt, muss man kurz inne halten, damit sich die Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnen können. Vor dem Besucher liegt ein Felsbrocken, der mit roten Piktogrammen bemalt ist. Vom Felsbrocken führt ein silberner Streifen auf dem Fußboden zwischen zwei Stellwänden, die den „Einleitungsraum“ begrenzen, hindurch in den Ausstellungsraum. An der linken Stellwand sind eine Karte von Nordamerika und eine Texttafel angebracht. Gegenüber, an der Eingangswand, hängen rund 30 kleine Texttafeln, auf denen jeweils ein nordamerikanischer Ortsname, das indianische Wort, von dem er abgeleitet wurde und seine Übersetzung abgedruckt sind (z. B. „Toronto. Stadt in der kanadischen Provinz Ontario. Mohawk: k’taronto = Baumstämme im Wasser (als Fischwehre)“ oder „Tennessee. U.S.-Bundesstaat und Nebenfluss des Ohio. Cherokee: tanase = Siedlung der Cherokee“13). Auf der anderen Seite, vor der rechten Stellwand, stehen Stühle, auf denen man Platz nehmen kann, um Dias anzusehen, die lautlos an die Eingangswand projiziert werden. „Impressionen“ liest man an der Stellwand. Die farbigen Dias, immer zwei nebeneinander, zeigen Landschaften, Pflanzen und Tiere, Menschen, Kunsthandwerk und Gebäude (zum Beispiel Kakteen, einen Hund mit Tragegestell, einen Mann neben einer schweren landwirtschaftlichen Maschine, Karibus, eine Frau am Telefon vor Bildern mit indianischen Motiven, Glasperlenstickerei). Vieles davon ordnet man automatisch Nordamerika, „Indianern“ oder Inuit zu, und so ist man versucht, auch die restlichen Motive für indianisch oder mindestens nordamerikanisch zu halten. Von der rechten Wand blickt aus zweieinhalb Metern Höhe ein großer, ausgestopfter Bisonkopf mit funkelnden Glasaugen herab (s. dazu den weiter unten folgenden Exkurs). Der Text auf der Tafel lautet folgendermaßen: „Vor mehr als 12000 Jahren zogen Bevölkerungsgruppen von Nordostasien nach Nordamerika über eine in der Eiszeit freigelegte Landbrücke, heute Beringstraße genannt. Weitere Einwanderungen folgten. Auf der Suche nach Wild besiedelten sie das Land und breiteten sich allmählich über den gesamten Kontinent aus. Dieser durch archäologische Funde gestützten Annahme stehen mündliche Überlieferungen entgegen, die von innerhalb des Landes liegenden
12 Eine einleitende Texttafel findet sich am Anfang vieler Ausstellungen, eine „Einleitung“ von solchem Umfang gibt es hingegen selten. 13 Texttafeln links vom Eingang, Stand: Juli 2005.
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Respekt vor Fremdheit Orten, Wanderungen und Taten mythischer Schöpfungswesen erzählen. / Viele tausend Jahre später, 1492, wurde Amerika durch Christoph Kolumbus „entdeckt“. (Die Wikinger, die schon 500 Jahre früher in Nordamerika waren, werden meist vergessen.) Kolumbus glaubte, im reichen Indien angekommen zu sein, und nannte die Bewohner „Indianer“. In Wahrheit war die Vielfalt dort lebender Gruppen und ihrer Sprachen verwirrend. Sie entsprach einem Mosaik verschiedener jahrtausendealter Gesellschaften. Man nimmt an, daß es in Nordamerika rund 500 Sprachen und noch mehr Dialekte gab. Viele Namen von Gruppen lassen sich mit „Mensch“ übersetzen. Andere wurden unter Namen bekannt, die ihnen Nachbarn, gar Feinde, oder seit dem 16. Jahrhundert Entdecker, Siedler, Forscher, Händler und Missionare gaben. Jede Gruppe lebte auf eigenem Territorium, mit eigener Sprache und einzigartigen Traditionen. Ihr Lebensraum erstreckte sich von der Eiswüste im Norden (Arktis) bis zur Halbwüste im Süden (Südwesten), von den Regenwäldern der Nordwestküste über die Prärien und Plains zu den nord- und südöstlichen Waldländern im Osten. Wie groß die indigene Bevölkerung vor Ankunft der Weißen in Nordamerika war, weiß niemand genau. Die Zahlen schwanken zwischen zwei und 18 Millionen. Sicher ist, daß im Zuge der Kolonialisierung die Bevölkerungszahl dramatisch zurückging. Von Weißen und Afrikanern eingeschleppte Krankheiten (z.B. Pocken, Keuchhusten, Grippe, Masern und Cholera), Kriege und andere Gewalttaten, Hungersnöte, Zwangsumsiedelungen und das Elend auf Reservationen hatten ihren Tribut gefordert. War man um 1900 vom Aussterben der indigenen Bevölkerung überzeugt, kann heute keine Rede mehr davon sein. Im Jahr 2000 zählte die USA knapp 2,5 Millionen Indianer und „Eskimo“, Kanada ca. 900 000. Die genaue Zahl weiß auch heute keiner, denn wer als Indianer, Yuit oder Inuit gilt, hängt nicht nur von der jeweiligen Regierung und Stammesregierung, sondern auch von der Selbstdefinition des Einzelnen ab. / Heute treten Indianer und Inuit („Eskimo“) aus dem Schatten ihrer Geschichte heraus. Sie melden sich selbst zu Wort, fordern ihre Rechte ein, erheben Anspruch auf politische und kulturelle Souveränität, um ihre Sprachen und ihre Traditionen zu schützen und zu stärken. Sie übernehmen Führungspositionen, gründen eigene Unternehmen und entwickeln neue Perspektiven für die Zukunft ihrer Kinder – ein Prozeß, der gerade erst begonnen hat.“14
In etwas kleinerer Schrifttype steht neben diesem Text: „Die Ausstellung ‚Expeditionen zu Indianern Nordamerikas und Inuit’ entführt Sie in fremde Lebenswirklichkeiten vergangener Zeiten. Vom Pfad der Gegenwart führen sechs Wege in die Vergangenheit indigener Kulturen. Unterwegs passieren Sie drei Orientierungsmarken. Die erste Marke zeigt an, auf welches Volk Sie treffen. Die zweite und dritte Marke beziehen sich auf Ereignisse in der Geschichte des jeweiligen Volkes. Auf diese Weise gelangen Sie in jene Zeit, als Forscher, Händler, Künstler und Missionare zwischen 1834 und 1903 mit zahlreichen Sammlungsstücken von ihren Reisen zurückkehrten. Die Ausstellung
14 Texttafel links gegenüber des Eingangs, Stand: Juli 2005.
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Anschauungssache Religion lädt Sie ein, verschiedene Kulturen unter besonderen Aspekten des Lebens zu entdecken sowie Facetten des indianischen Kunsthandwerks kennen zu lernen.“
Entwurf einer zeitlichen Struktur Der „Einleitungsraum“ beginnt mit der Vergangenheit: Durch einen Lichtstrahl aus der Dunkelheit herausgehoben, liegt der Felsbrocken, der mit roten Pitkogrammen bemalt ist, unübersehbar im Weg. Man denkt automatisch an „Steinzeitliche Kunst“. Der Einleitungstext beginnt mit den Worten „Vor mehr als 12000 Jahren“. Damit wird eine weit entfernte Vergangenheit eröffnet. Von beiden Zeitangaben geht es dann in die Gegenwart. Die historische Entwicklung, die im Text skizziert wird, führt über wenige Zwischenschritte zu den Ereignissen, die die heutigen Lebensumstände der Native Americans prägen. Der letzte Teil des Textes gilt ganz der Gegenwart. Der Fels erfährt durch seine Objektbeschriftung eine sprachliche Deutung: „Vergangenheit – wie Zukunft sind nur Formen der Gegenwart. / Christian Morgenstern / (1871 – 1914) / Der Stein steht für die Zeit und zeigt Motive von archäologischen Fundorten in Nordamerika.“ Dieses Zitat kann man als Betonung der Kontinuität der Zeit oder als Betonung des Hier und Jetzt verstehen. Die Gegenwart wird in den „Fluss der Zeit“15 gestellt. Auch die weit entfernte Zeit, präsent im Stein, geht in die Gegenwart ein. Vom Stein weg führt auf dem Fußboden ein Streifen aus Silberfolie – die Visualisierung des im Einleitungstext genannten „Pfades des Gegenwart“. Der „Pfad der Gegenwart“ beginnt demnach mit den archäologischen Verweisen. Im Einklang mit dem MorgensternZitat könnte man das so interpretieren, dass der Stein weniger auf das hohe Alter indianischer Kulturen verweisen soll, als vielmehr die Tiefe der Zeit ausloten, in deren gegenwärtigem Abschnitt wir als Besucher leben. So lassen sich auch die Erklärungen der nordamerikanischen Ortsbezeichnungen sehen: Im gegenwärtig gebräuchlichen Namen ist die indianische Vergangenheit enthalten, die durch die Ausstellung ans Licht geholt wird. Die Gegenwart ist im Einleitungsraum noch auf andere Weise präsent: visuell in der Diashow. Allein schon das Medium „Diashow“ vermittelt Gegenwärtigkeit. Fotos implizieren Faktizität, Wirklichkeit, Tatsächlichkeit. Farbfotos stehen besonders im Museum für Aktualität im Gegensatz zu historischen Aufnahmen in SchwarzWeiß. Die Diashow schließlich ist ein Medium, das oft für Reiseberichte benutzt wird. So verbindet man mit einer Diashow die Vorstellung, dass der Fotograf gerade eben dort war, dass man das Ge-
15 So ein Ausstellungstitel von Sonja Schierle: „Im Fluss der Zeit. Mandan, Hidatsa, Arikara“. S. dazu die Abschnitte 7.3.3 und 7.4.
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Respekt vor Fremdheit zeigte jetzt dort so sehen könnte. Man nimmt die Bilder als aktuelle Realität auf: Der Mann neben der Maschine arbeitet jetzt wahrscheinlich weiter, die Frau setzt ihr Telefongespräch fort und der Hund bellt zum Aufbruch. Es werden also im „Einleitungsraum“ mehrere „Formen der Gegenwart“ aufgebaut: durch die steinzeitlichen Piktogramme, durch die Ortsbezeichnungen und durch die Diashow. Dadurch wird eine Ausstellungszeit konstruiert und explizit gemacht. Das ist eine Besonderheit dieser Ausstellung, denn Museumsepistemologien werden oft implizit vermittelt. Durch die hier eröffnete Zeitstruktur können einerseits die Besucher die Geschichte bewusster wahrnehmen, und andererseits werden die indianischen Kulturen ausdrücklich in historische Zusammenhänge gestellt. Gerade dadurch gelingt es, auch deren Gegenwart darzustellen, die, wie noch zu zeigen ist, einen besonderen Schwerpunkt der Dauerausstellung bildet. Dieser historische Ansatz hat unter anderem eine fachgeschichtliche Seite: Die Betonung historischer Entwicklungen ist auch als Stellungnahme zur Ethnologie zu verstehen, die die historischen Entwicklungen und die Gegenwart der nicht-westlichen Völker lange Zeit vernachlässigte. In der Nordamerika-Abteilung des Linden-Museums werden die Indianer aus dem ahistorischen Nebel der europäischen Darstellung herausgeholt und neu erkundet. Anrede und Anleitung „Die Ausstellung [...] entführt Sie in fremde Lebenswirklichkeiten vergangener Zeiten.“ So beginnt der zweite Teil des Einleitungstextes. Die Besucher werden im Text mehrfach direkt angesprochen. Sie können nachlesen, wie sie die Ausstellung verstehen sollen und was die Kuratorin mit ihrer Ausstellung beabsichtigt. Dies ist eine weitere Besonderheit im „Einleitungsraum“. Die Anrede der Besucher und die Formulierung von Wünschen an sie werden, wenn es solche gibt, meistens nur in Informations- und Werbetexten über die Ausstellung abgedruckt, selten in der Ausstellung selbst. Hier werden die Besucherinnen und Besucher durch den Text aus einer unpersönlichen Menge, aus der Anonymität herausgeholt, weil der Text die Illusion zulässt, die Besucher seien persönlich angesprochen. Er erklärt ihnen, was sie sehen werden und tun sollen. Die Handlungen der Besucher erhalten dadurch einen konkreteren Sinn. Sie „schauen“ nicht einfach nur „ein Museum an“, sondern folgen Pfaden, passieren Wegmarken und lernen bislang Unbekanntes kennen. Die Besucherhandlungen werden gelenkt und konkretisiert. Dieser Konkretisierung entspricht das Bemühen, auch in der Ausstellung möglichst konkret zu bleiben, wie im Abschnitt 7.3.1 gezeigt wird.
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Lässt das Gebäude, wie weiter oben geschildert, den Eindruck zu, im Linden-Museum gäbe es sozusagen „reine Wissenschaft“, kommen durch den Einleitungsraum im Nordamerikasaal auch andere Aussagen hinzu. Zwei Größen, deren Vorhandensein ebenso notwendig ist, wie es selten thematisiert wird, werden hier benannt und sichtbar gemacht: Eine Zeitstruktur wird definiert und das Verhältnis zwischen Besuchern und Ausstellung konkretisiert. Dies lässt gewisse Rückschlüsse auf eine dritte Größe zu, die sonst ebenfalls meist hinter den Ausstellungsinhalten verborgen bleibt: auf diejenigen, die die Ausstellung gemacht haben.16 Sie werden auch namentlich genannt: Rechts neben dem Eingang sind alle, die an der Ausstellungskonzeption und an ihrem Aufbau beteiligt waren, aufgeführt.17 Insofern werden die Besucherinnen und Besucher darauf aufmerksam gemacht, dass hier bestimmte Personen etwas über die Indianer vermitteln. Es wird nicht in Frage gestellt, dass die vermittelten Inhalte richtig sind – aber es wird offengelegt, dass sie vermittelt und ausgewählt sind. Die Besucherinnen und Besucher sind dadurch theoretisch in der Lage, die Beeinflussung der Inhalte durch die Auswahl und die Konzeption zu erkennen. Exkurs zum Bisonschädel Im „Einleitungsraum“ hing während meiner Besuche im Jahr 2005 neben der Diainstallation ein ausgestopfter Bisonschädel.18 Die Glasaugen des mächtigen Tieres glitzerten im Halbdunkel unter den dunklen Zotteln des Fells. Er hatte keine Objektbeschriftung und stand in keinem direkten Zusammenhang mit den nachfolgenden Themen. Was konnte dieser Solitär besagen? Bisonherden zählen zu den vielen stereotypen Bildern, die man über Indianer im Kopf hat. Manch einer mag durch den Bisonschädel einfach in seinem Bild von „den Indianern“ bestärkt werden. Durch das besondere setting hier waren aber auch andere Deutungen möglich: Da er wie eine Jagdtrophäe an der Wand hing, erinnerte er an die Bisonjagd. Die Betrachterinnen und Betrachter konnten von dieser Assoziation ausgehend in ihren historischen Kenntnissen kramen und sich daran erinnern, dass die Bisonherden von weißen Jägern stark dezimiert wurden, dass die Bisons zuletzt sogar von der Eisenbahn aus abgeschossen wurden, und dass damit vielen
16 Bislang werden diese Leute so wenig wahrgenommen, dass sie keine eigene Bezeichnung haben. Es gibt „Kuratoren“, „Ausstellungsdesigner“, „-gestalter“, „-architekten“, „Museumswissenschaftler“, „Szenographen“ und so weiter, aber keinen Sammelbegriff für alle. 17 Für Sonderausstellungen werden diese Informationen oft weitergegeben, in Dauerausstellungen ist es (noch?) eher unüblich. 18 2007 war er entfernt worden, siehe dazu weiter unten.
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Respekt vor Fremdheit indianischen Kulturen die Lebensgrundlage genommen wurde – der Bisonschädel als traurige Mahnung. Man konnte den Bisonschädel, da er hier so vereinzelt in der Nähe des Eingangs hing, aber auch anders, vielleicht ein bisschen augenzwinkernd, verstehen: als einen Schutzgeist, der über die Ausstellung wacht. Der Bison als Totem der Ausstellung? Und schließlich ließ er sich auch in Hinblick auf das oben Geschilderte interpretieren: Wie er dort hing, glich er einem Wohnzimmerschmuck. Zusammen mit der Diashow, die daneben läuft, wurde der Betrachter auf private Diaabende verwiesen, bei denen Fremdes und Exotisches im gemütlichen Rahmen vorgeführt wird. Ähnliches geschieht im Museum: Die Entführung des Besuchers in ferne Welten ist ja nur eine virtuelle. Die Besucher können Platz nehmen und die fernen Welten werden „vorgeführt“. Insofern könnte der Bison die Konstruktionsarbeit im Museum betont haben und die Frage verkörpern, wieviel Fremdverstehen im Museum überhaupt möglich ist. 2007 ist der Bisonschädel entfernt. Statt dessen hängt auf der anderen Seite des Raumes eine Holzmaske. Auf dem zugehörigen Täfelchen steht zu lesen: „Mondmaske / Calvin Hunt, Kwk waka’ wakw / (Kwakiutl), 1985 / Aus Red Cedar (Thuja plicata) geschnitzt, mit Pigmentfarben bemalt, mit Kupfer und Haliotis verziert. / Als Gestirn begleitet der Mond den Menschen und ist ihnen als Beschützer wohlgesonnen.“19 Die Aufhängung betont das, was die Maske darstellen soll: den Mond – und nicht zum Beispiel ihre Funktion als Maske. Das Objekt ist dicht unter die Decke gehängt, schräg nach unten geneigt und mit einem Spotlight erhellt. Da der Ausstellungsraum (aus konservatorischen Gründen) recht dunkel ist, lässt die Objektpräsentation an den Mond am Nachthimmel denken. Der Text geht ebenfalls auf die Bedeutung des Mondes, nicht auf die einer Maske ein. Die Mondmaske wird den Besucherinnen und Besuchern also als Mond, als Begleiter und „Beschützer“ mitgegeben. In Analogie hierzu kann man auch die Deutung des Bisons als „Schutzgeist“ bevorzugen.
7.3 Der Nordamerikasaal Bevor die Hopi-Inszenierung genauer betrachtet wird, soll der Nordamerikasaal als Ganzes untersucht werden, denn einige Besonderheiten der Ausstellung, die für das Thema Religion relevant sind, erschließen sich nur im Blick auf die Gesamtkonzeption. Nach der Beschreibung des Saales werden im folgenden Kapitel vier Themen
19 Objektbeschriftung zur Mondmaske, Stand: Mai 2007.
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Anschauungssache Religion verfolgt. Im darauf folgenden Abschnitt wird der Nordamerikasaal in seinen ethischen Bezügen diskutiert. Die Dauerausstellung besteht aus dem bereits beschriebenen Einleitungsraum und sechs thematischen Abschnitten, die in einem L-förmigen Raum präsentiert werden. Es handelt sich dabei um sechs Schwerpunktthemen aus dem Leben von sechs Stämmen (genauer gesagt: von vier einzelnen und je zwei Völkern, die in engem Kontakt miteinander leben). Für jeden thematischen Abschnitt wurde eine Überschrift gefunden, die aus dem Namen des oder der Stämme, einem Motto und einer Zeitangabe besteht. Die Überschriften stehen in großen Lettern auf den Glaswänden, die die Inszenierungen abtrennen: „Crow / Hoch zu Ross / um 1880“ „Mandan Hidatsa / Zusammen stark / um 1830“ „um 1900 / Hopi / Das kostbare Naß“ „Hupa / Reich und mächtig / um 1890“ „Tsimshian Tlingit / Tierisch menschlich / um 1890“ „Labrador Inuit / Im neuen Gewand / um 1900“.20
Die sechs thematischen Abschnitte sind alle gleichartig aufgebaut (zur Illustration s. Abbildung 20). Eine Ausstellungseinheit besteht aus drei der im Einleitungstext genannten „Orientierungsmarken“, einer etwa 1,50 m hohen Säule, der Vitrine mit den Ausstellungsstücken und zwei beidseitig der Vitrine angebrachten Bild-Text-Tafeln. Auf der ersten „Orientierungsmarke“ werden statistische Angaben zum vorgestellten Stamm („Name, Selbstbezeichnung, Sprache/Sprachfamilie, Bevölkerung, Reservation“21) gemacht. Darunter zeigt ein Display Datum und Uhrzeit an. Auf der zweiten und dritten Marke sind Ereignisse aus der Geschichte des Stammes abgedruckt. Von den Orientierungsmarken etwas abgerückt steht eine runde, etwa 1,50 m hohe Säule, auf der Bilder und Texte zu einem Sammler aufgebracht sind. Er wird durch seine Profession gekennzeichnet und ausführlich portraitiert.22 Der Ausstellungsbereich
20 Im Nordamerikasaal sind Name, Motto und Zeitangabe nur durch Zwischenräume voneinander getrennt. Bei den Hopi weicht die Reihenfolge der Angaben von den anderen Überschriften ab. Nordamerikasaal, Stand: Juli 2005. 21 Orientierungsmarken, Stand: Juli 2005. 22 In der Reihenfolge der Stämme: „Western-Maler Charles Schreyvogel“, „Naturforscher und Sammler Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied“, „Sammler und Museumsgründer Karl Graf von Linden“, „Journalist und Künstler Rudolf Cronau“, „Geograph und Entdecker Henry G. Bryant“ und „Missionar Friedrich Nestle“, Stand: Juli 2005.
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Respekt vor Fremdheit selbst ist auf ganzer Raumhöhe durch eine Glasscheibe abgetrennt. Die Inszenierung dahinter folgt dem gewählten Thema. Für die Crow („Hoch zu Ross“) zum Beispiel wurde die Kontur eines Pferdes auf die Vitrinenscheibe gemalt und dahinter sind auf einem Gestell Zaumzeug und Stirnrosette, Sattel, Satteltasche, Schabracke et cetera eines Pferdes so ausgestellt, dass sie gemeinsam mit der Kontur ein aufgezäumtes Pferd ergeben. In der Vitrine der Labrador Inuit („Im neuen Gewand“) werden Gewänder und kunsthandwerkliche Erzeugnisse ähnlich wie in einem Lager präsentiert. Die Vitrine der Tsimshian und Tlingit („Tierisch menschlich“) ist mit den Schattenrissen von Tiermotiven im Nordwestküstenstil dekoriert.
Abbildung 20: Blick auf die Vitrine „Tsimshian Tlingit / Tierisch menschlich“. Links im Bild die „Sammler-Säule“ zu Karl Graf von Linden, rechts dahinter eine der Orientierungsmarken zur Inszenierung der Tsmishian und Tlingit. Rechts im Bild ein Pfeiler mit Farbfotos, s. dazu Abschnitt 7.3.2. Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart.
Die Vitrineneinbauten sind also unterschiedlich, das restliche Ausstellungsdesign ist allerdings einheitlich. Die Vitrinenwände und Vitrinenböden sind alle in einem matten Blaugrün gestrichen, alle Marken und Säulen sind einheitlich gestaltet. Eine der beiden BildText-Tafeln zeigt jeweils schwarzen Text auf weißem Grund, sie enthält allgemeine Informationen zum vorgestellten Volk; die andere zeigt weiße Schrift auf dunkelrosafarbenem Grund, sie ist dem Spezialthema gewidmet. Auf ihr gibt es jeweils einen weißgrundigen Absatz, der Informationen zu „Heute“ enthält.
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Anschauungssache Religion In der Mitte des L-förmigen Nordamerikasaales steht ein dicker Pfeiler. Auf dessen Seiten wurden Farbfotos von Native Americans aufgebracht. Auf zwei Seiten sind Menschen unterschiedlichen Alters zu sehen, die nicht näher bezeichnet wurden, die anderen beiden Seiten zeigen Portraits von Edward E. Bryant (Tsimshian), aus dessen Hand mehrere Objekte in der Ausstellung stammen, und von Tex Hall (Mandan/Hidatsa), der zum Präsidenten des National Congress of the American Indian gewählt wurde. Die Viten beider Männer werden kurz erläutert und mit Fotos illustriert. Der Pfeiler unterbricht den Silberstreifen, der von hier aus ein Stück weiter geradeaus und dann im rechten Winkel bis an die Rückwand des zweiten Raumteiles führt. Er wurde ein Stück die Wand hochgezogen und läuft unter einer Bärenmaske von der Westküste23 aus.
7.3.1 KONKRETISIERUNG: VERKNAPPUNG ODER EXEMPEL? In der Dauerausstellung wird nicht „die ganze Welt der Indianer und Inuit“ (re-)konstruiert, sondern es werden eng umrissene Phänomene aus verschiedenen Lebensräumen thematisiert. Für die sechs (plus zwei) präsentierten Völker wurde jeweils ein Schwerpunktthema gewählt, das für einen genau bestimmten Zeitraum beleuchtet wird. So entstehen zeitlich, räumlich und thematisch klar begrenzte Schlaglichter. Auch hier wird der ahistorische Nebel gelüftet, um konkret zu erzählen. Aus der Perspektive des Wissenschaftlers ist dies gleichzeitig bescheidener und schwieriger: bescheidener, weil der wissenschaftliche Anspruch nicht lautet, alles über die Inuit zu wissen, sondern nur möglichst viel zu einem besonderen Thema; und schwieriger, weil der Teufel bekanntlich im Detail steckt. Die Konkretisierung der Themen wird im Nordamerikasaal für die Besucherinnen und Besucher in erster Linie durch die Vitrinenaufschriften deutlich. Gewählt wurden griffige Formeln („Tierisch menschlich“). Ähnlich wie Zeitungsüberschriften sind die bekannten Wendungen und Wortspiele leicht eingängig. Sie sollen die Leserinnen und Leser in erster Linie anlocken und neugierig machen. Sie verknappen dementsprechend. (Die Begleittexte wiederum sind verhältnismäßig lang.) Was durch die Ausstellungsautorinnen nicht kontrollierbar ist, ist folgendes Problem: Gerinnen diese bewusst konkret gehaltenen Themen für die Rezipienten nicht doch zu Exempeln, die „die Indianer“ illustrieren, gerade durch die Verknappung? Formeln wie „Hoch zu Ross“ und „Zusammen stark“ bleiben leicht im Gedächt-
23 Bärenmaske, geschnitzt von Edward E. Bryant (Tsimshian), 1997, gelbes Zedernholz, mit Kupfer und Perlmutt verziert.
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Respekt vor Fremdheit nis, leichter als die Ausschnitte aus den Kulturen der Crow und Mandan/Hidatsa, auf die sie sich beziehen. Es besteht das Problem, dass die Besucherinnen und Besucher diese knappen Formeln auch auf gängige, stereotype Bilder von „den Indianern“ übertragen und diese dadurch bestätigt sehen. Aus dem konkreten Ausschnitt würde das Exempel. Was die Wahrnehmung als Exempel begünstigt, ist meines Erachtens die Tatsache, dass die Auswahl des gezeigten Themas in der Ausstellung nicht erklärt, nicht begründet wird.24 Das Thema ist absolut in zweifacher Richtung: „losgelöst“ von Zusammenhängen und Begründungen und deshalb „uneingeschränkt“ in seiner Wirkung: Aus dem Titel „Crow / Hoch zu Ross“ beispielsweise würde also die Botschaft „Indianer reiten“.25 Eine solche Deutung der Inszenierung widerspräche den Intentionen der Ausstellungsautorinnen. Das Problem, dass Besucher Ausstellungen anders wahrnehmen als intendiert, besteht freilich immer. In der Ausstellung angelegt ist der Fokus auf bestimme Phänomene: Das Konkrete wird dem Allgemeinen vorgezogen.
7.3.2 BILDER VON MENSCHEN
Abbildung 21: Farbfotos im Ausstellungsraum. Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart.
24 Dr. Schierle begründet die Auswahl der Themen einerseits mit den Sammlungsschwerpunkten des Linden-Museums, und andererseits damit, dass alle Themen zusammen ein Spektrum bilden sollen, „das es den Besuchern erlaubt, Einblick in soziale, wirtschaftliche und religiöse Zusammenhänge zu erhalten.“ E-Mail von Dr. Schierle an die Verf. vom 26.06.2007. 25 Ähnliches kann auf der Ebene der Ausstellungsstücke passieren: „Die Hopi“ werden visuell von „den Katsinam“ beherrscht.
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Anschauungssache Religion Wie oben ausgeführt, werden im „Einleitungsraum“ die Besucherinnen und Besucher angesprochen. Welche Botschaften werden durch die Dauerausstellung über die Menschen vermittelt, deren Kulturen gezeigt werden? In den Inszenierungen gibt es keine Repräsentationen von Menschen. In den Vitrinen finden sich keine Fotos, Figurinen oder ähnliches. Nicht einmal die Aufhängungen für Kleidungsstücke sind anthropomorph gestaltet. Genau genommen gibt es gar keine Repräsentationen von Lebewesen in den Vitrinen. Das Paradepferd der Crow existiert nur als Silhouette auf Glas und in der Tsimshian/Tlingit-Vitrine werden nicht Tiere, sondern Tierdarstellungen an die Rückwand projiziert.26 Die Vergangenheit wird ausschließlich durch Objekte belegt. Die Gegenwart hingegen wird lebendig gemacht. Sie wird durch Menschen ins Museum geholt. Wie oben ausgeführt, läuft im „Einleitungsraum“ die Diashow, und auf allen Seiten des zentralen Pfeilers sind Farbfotos von Menschen zu sehen (Abbildung 21). Die Medien Diashow und Farbfotos vermitteln Gegenwärtigkeit. Sie setzen einen starken visuellen Akzent gegen die restliche Dauerausstellung: Der Raum ist aus konservatorischen Gründen relativ dunkel. Es herrschen dunkle, matte Farbtöne vor.27 Die Farbfotos der Menschen stechen daraus optisch hervor. Der Einleitungstext endet mit den Sätzen: „Heute treten Indianer und Inuit („Eskimo“) aus dem Schatten ihrer Geschichte heraus. Sie melden sich selbst zu Wort, fordern ihre Rechte ein, erheben Anspruch auf politische und kulturelle Souveränität, um ihre Sprachen und ihre Traditionen zu schützen und zu stärken. Sie übernehmen Führungspositionen, gründen eigene Unternehmen und entwickeln neue Perspektiven für die Zukunft ihrer Kinder – ein Prozeß, der gerade erst begonnen hat.“28
Diese Sätze kann man durchaus auf die Ausstellungskonzeption beziehen: Die in den Fotos auf dem Pfeiler und in der Diashow gezeigten Native Americans sind Menschen, die „aus dem Schatten treten“. Es sind aktive, fröhliche Menschen, darunter viele Kinder, die, wie es für Kinder oft heißt, „die Zukunft noch vor sich haben“. Die
26 Die Sammler werden auf den runden Säulen schräg vor den Vitrinen portraitiert. 27 Die meisten Flächen sind blaugrau gestrichen. Die „Orientierungsmarken“ sind metallfarben, die Farbakzente der Bild-Text-Tafeln dunkelrosa. Die Objekte in den Vitrinen weisen großteils unterschiedliche Brauntöne auf (Korbgeflecht, Ton, Leder, Holz), und auch die mehrfarbigen Objekte, die Quillworks und die Katsinam zum Beispiel, sind dank der verwendeten Farben und dank ihres Alters für heutige Sehgewohnheiten blass. 28 Texttafel links gegenüber des Eingangs, Stand: Juli 2005.
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Respekt vor Fremdheit Menschen der vergangenen Zeiten bleiben gestaltlos. Die heutigen Native Americans werden als bunte Gegenwart präsentiert. Da viele Menschen auf den Fotos lachen, ist ihre Gegenwart fröhlich.
7.3.3 RÜCKWÄRTS DENKEN Das Thema „Zeit“ muss noch ein wenig näher betrachtet werden, denn die Zeitstrukturen im Nordamerikasaal des Linden-Museums sind besonders gestaltet. Im allgemeinen erzählen Museen auf eine ganz bestimmte Art von der Zeit, sie wiederholen Geschichte als fortlaufenden „Zeitstrahl“.29 Auch in Völkerkundemuseen wird in der Regel so gearbeitet, auch der Einleitungstext im Nordamerikasaal des LindenMuseums erzählt eine Geschichte Nordamerikas von der Besiedelung via Beringstraße vor 12.000 Jahren über Kolumbus bis heute. Meistens endet die museale Darstellung in der Vergangenheit (in der hier untersuchten Ausstellung zum Beispiel mit Zeiten zwischen 1830 und 1900). Wie erfahren, erleben, verarbeiten das die Besucher? Hier muss ein bisschen spekuliert werden. Ich nehme an, dass sich viele Europäer ein Art Zeitstrahl oder Zeitleiste vorstellen, auf der sie die Informationen verorten – so, wie die Größe t auf einer x-Achse verzeichnet wird. Unabhängig davon, wo man sich auf der imaginierten Zeitleiste befindet, die Zeit hat darin eine Richtung (anders als auf wissenschaftlichen Achsen): vorwärts, von der Vergangenheit in die Gegenwart in die Zukunft. Im Nordamerikasaal werden die Besucherinnen und Besucher eigentlich dazu gebracht, anders herum zu denken. Die drei „Orientierungsmarken“ geben eine Reise in die Vergangenheit vor. Die Displays der Uhren auf den sechs ersten Marken zeigen die aktuelle Gegenwart auf die Sekunde genau an. Die jeweils zweiten und dritten Marken sind wichtigen Ereignissen in der Geschichte des museal dargestellten Volkes gewidmet, die in einem kurzen Text erläutert werden. An ihnen entlang geht es in die in der Vitrine thematisierte Zeit. Für die Hopi zum Beispiel lautet die Zeitfolge: „Jetzt (jeweilige Gegenwart der Besucher) – 1974 – 1906 – um 1900“.30 Damit wird also die Richtung der Geschichtserzählung umgedreht. Wenn dies so punktuell wie in der Dauerausstellung geschieht, muss das den 29 Man stelle sich ein idealtypisches, ortsgeschichtliches Museum vor. Darin werden die Fossilien gezeigt, die in der Umgebung zu finden sind, daran anschließend bandkeramische Scherben oder Terra sigillata, dann werden die Überreste des Mittelalters präsentiert und schließlich die Objekte aus der jüngeren Vergangenheit. 30 1974 wurde der Streit der Hopi mit den Navajo um Landbesitz per Gesetz entschieden. 1906 gründeten Hopi, die sich der U.S.-Gesellschaft nicht anpassen wollten, zwei neue Dörfer.
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Anschauungssache Religion Lesern nicht unbedingt auffallen. Als Erzählung jedoch irritiert es, wie das Heft zur Sonderausstellung „Im Fluss der Zeit“ zeigt.31 Schierle stellt darin die letzten sieben Generationen der „Three Affiliated Tribes“ vor und beginnt mit der zeitgenössischen. Deren jetzige Lebensbedingungen entwickelten sich selbstverständlich aus vorherigen Ereignissen – diese werden aber erst später erzählt.32 Im Nordamerikasaal können die Besucher also versuchen, rückwärts zu denken. Möglicherweise erfahren sie dadurch den Ausstellungsbesuch nicht als ein visuelles Erlebnis à la windowshopping, sondern als intellektuelle Arbeit, als Expeditionen zu den Indianern und Inuit, wie es der Titel der Ausstellung verheißt. Die Besucherinnen und Besucher sollen sich nicht nur körperlich bewegen, um die Objekte zu sehen, sondern auch geistig.
7.3.4 WISSENSCHAFT, RELIGION, ENGAGEMENT Die Dauerausstellung setzt auf Information. Dies zeigt sich an den verhältnismäßig langen Texten in der Ausstellung, an der Menge wissenschaftlicher Daten, die in der Ausstellung verarbeitet sind, und auch an der Art der Inszenierung: Die Objekte sind hinter Glas verschlossen, es gibt keine Figurinen und keine Nachbauten. Ein Tipi mit Indianerfiguren zum Beispiel, wie es in der Prärie- und Plains-Abteilung des Übersee-Museums Bremen aufgebaut ist, holt die Indianer viel näher an die Besucher heran als die Inszenierungen im Linden-Museum: Ein Tipi lässt auf Besucherseite die Illusion zu, gleich eintreten zu dürfen und sich dann mitten unter den Indianern zu befinden. Die Inszenierungen im Linden-Museum sind damit verglichen streng und nüchtern. Alle Mittel, die Kontexte und Assoziationsfelder für die Objekte eröffnen, sind stilisiert: Die „Erste“ bis „Vierte Welt“ der Hopi-Mythen zum Beispiel sind zu hellen Ringen abstrahiert und das Paradepferd der Crow ist als Silhouette gegeben, und das heißt im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Man will es nicht „am liebsten streicheln“. Eine emotional einfache, ungebrochen-direkte Aneignung der Ausstellungsinhalte wird so verhindert.33 31 Schierle, Sonja: Im Fluss der Zeit. Mandan, Hidatsa, Arikara: Indianer am Oberen Missouri / In the River of Time. Mandan, Hidatsa, Arikara: Native Life Along the Upper Missouri River. Vernissage 20, 2000. 32 Genau genommen wird alles immer als Gegenwart erzählt. Auch die Orientierungsmarken könnten als drei verschiedene Gegenwarten verstanden werden, wollte man das Morgenstern-Zitat aus dem „Einleitungsraum“ noch ein wenig strapazieren. 33 Das Linden-Museum bietet ein reiches Programm für Kinder an. Wenn Kinder im Rahmen dieser Aktivitäten in die Rolle fremder Völker schlüpfen und sich zum Beispiel als „Indianer“ verkleiden, entspricht das meines Er-
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Respekt vor Fremdheit Indem dem Informationswert der Ausstellung Vorrang gegenüber den Unterhaltungs- und Identifikationsmöglichkeiten eingeräumt wird, zeigt sich das Selbstverständnis des gesamten Museums. Dieses wird auf der Homepage des Museums anhand des Museumslogos erläutert. Das Logo basiert auf einer Loxodrome: Das ist eine mathematische Figur (eine Linie, die alle Meridiane einer Kugeloberfläche im gleichen Winkel schneidet), die einst Seeleuten beim Navigieren half. Die Berechenbarkeit der Figur wird in Analogie zur Museumsarbeit gesetzt: „Das Linden-Museum zeichnet ‚Weltbilder’, indem es detailreiche Informationen von Kulturen aus allen Kontinenten der Erde vermittelt. / Weltbilder sehen aus den Perspektiven unterschiedlicher Kulturen verschieden aus. Diese Unterschiede nachvollziehbar zu machen fordert uns als Erzähler und Übersetzer. / Glaubwürdige Erzählung und verständliche Übersetzung bedürfen gesicherter Informationen. Diese erarbeitet das Linden-Museum auf wissenschaftlichem Wege. [...] / So repräsentiert unser Zeichen auf abstrakte und zugleich anschauliche Weise, wie sich das Linden-Museum als Forum der Kulturen dieser Welt sieht. Mit Leichtigkeit umschreibt die Kurslinie den Globus, verbindet Orte und Kulturen [...] und behält bei all ihren Deutungsmöglichkeiten eine in der Wissenschaft begründete Form.“34
Wissenschaft als Grund und Begründung der Museumsarbeit – das ist die implizite Absage an die Übernahme nicht-wissenschaftlicher Weltbilder im Museum. In diesem Licht erscheint der Umgang mit Zeit im Nordamerikasaal noch einmal neu: Wie gezeigt, leitet die Dauerausstellung dazu an, „rückwärts zu denken“. Bei aller geistigen Beweglichkeit, die dies verlangt, wird dabei doch nicht die Linearität der Zeit in Frage gestellt. Die Besucherinnen und Besucher werden „Zeit“ weiterhin als etwas linear Fortlaufendes verstehen, und nicht zum Beispiel als Zyklus. Religiöse Aussagen, die „unserem“ wissenschaftlichen Weltbild widersprechen, werden dementsprechend in indirekter Sprache wiedergegeben. So heißt es im Einleitungstext in Bezug auf die Besiedelung Amerikas über die Beringstraße nach Süden: „Dieser durch archäologische Funde gestützten Annahme stehen mündliche Überlieferungen entgegen, die von innerhalb des Landes liegenden Orten, Wanderungen und Taten mythischer Schöpfungswesen erzählen.“35
achtens kindlichem Lernverhalten. Die hier für die Dauerausstellung getroffenen Aussagen bleiben davon unberührt. 34 So zu lesen auf: http://www.lindenmuseum.de/html/deutsch/museum/ zeichen/zeichen.php, Stand: 26.05.2007. 35 Texttafel links gegenüber des Eingangs, Stand: Juli 2005.
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Anschauungssache Religion Über die Geschichtserzählungen der Natives wird berichtet. Sie werden dadurch, dass die wissenschaftliche Geschichtserzählung als „Annahme“ klassifiziert wird, sogar als grundsätzlich gleichberechtigt dargestellt. Allerdings kommt durch den Hinweis auf die „archäologischen Funde“, die die wissenschaftliche „Annahme stützen“ das Unterscheidungskriterium „wahr / falsch“ ins Spiel und die wissenschaftliche Geschichtserzählung erscheint als die richtige. Insgesamt ist der Blick auf andere Weltbilder im Nordamerikasaal durch und durch etisch – auch wenn er gewissermaßen voller Sympathie ist, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird.
7.4 Zur Ethik einer Ausstellung Die Kuratorin des Nordamerika-Referates, Dr. Sonja Schierle, setzt sich in ihren Forschungen und in ihrer Museumsarbeit intensiv mit den gegenwärtigen Lebensbedingungen der Native Americans auseinander. Interesse an und Zusammenarbeit mit den Native Americans gehen dabei Hand in Hand. Die Präsentation im Nordamerikasaal trägt Spuren dieser Arbeitsweise. Im Folgenden werden die gesellschaftspolitischen und ethischen Implikationen der Ausstellung unter Berücksichtigung der sonstigen Arbeit von Sonja Schierle diskutiert. Ende der 1970er Jahre erforschte Schierle die „Heart of the Earth Survival School“ in Minneapolis, Minnesota, in der Kinder der in Minneapolis und St. Paul lebenden Ojibwa unterrichtet wurden, die andere Schulen vorzeitig verließen oder Jugendstrafen verbüßten.36 Die Kinder lernten dort die Sprache ihre Volkes, ihre Geschichte und ihre Traditionen kennen. Die politischen Inhalte des Unterrichts waren damals weitgehend durch das American Indian Movement bestimmt. Das übergeordnete Ziel der Schule war es, den Schülern ein positives Verhältnis zu ihrer indianischen Herkunft zu ermöglichen und ihnen damit die Chance auf bessere Lebensbedingungen zu geben. Um Erziehung und Identität ethnischer Minoritäten ging es auch in ihrer Dissertation „Ethnische Identität und Erziehungserfahrungen der Tohono O’odham (Papago) und Yoemem
36 Schierle, Sonja: Funktion einer Survival School für Städtische Indianer. Heart of the Earth Survival School: Indianische Alternativschule in Minneapolis, Minnesota. Wiesbaden, 1981. Der Name der Schule wird heute zuerst auf Ojibwa genannt („Oh Day Aki“). Internetauftritt: http:// www.americanindian education.org, Stand: 02.05.2007).
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Respekt vor Fremdheit (Yaqui) in Tuscon, Arizona“.37 Darin untersuchte sie mittels Leitfaden-Interviews, wie die Erfahrungen, die Angehörige verschiedener Generationen während ihrer Schulzeit machten, ihr Selbstbewusstsein prägten. Außerdem diskutierte sie darin aktuelle Schulprogramme für die beiden Völker. Fragen nach indianischer Identität, nach dem Weiter- und Wiederbeleben von Traditionen und den Wandlungen der Lebensweisen in der Gegenwart stellte Dr. Schierle auch in den Sonderausstellungen „Rosebud Sioux“, „Im Fluss der Zeit. Mandan, Hidatsa, Arikara“ und in ihrer weiteren Museumstätigkeit.38 Die Ausstellung über die Rosebud Sioux wurde von Claes-Håkan Jacobson und Eva Anderson im Rahmen eines Forschungsprojektes der Swedish Pioneer Historical Society entwickelt und nach Stationen in Schweden, Dänemark und Finnland im Linden-Museum Stuttgart, kuratiert von Dr. Schierle, sowie im Völkerkundemuseum der Universität Zürich gezeigt.39 Historische Aufnahmen aus den 1880er und 1920er Jahren von den Rosebud-Sioux werden darin Fotografien der Nachfahren gegenübergestellt. Zu den Bildern von Federhauben, Tipis und Prärielandschaften kommen die Portraits der heute lebenden Natives. Von 1998 an entwickelte Dr. Schierle die Ausstellung „Im Fluss der Zeit. Mandan, Hidatsa, Arikara“.40 Ausgangspunkt war ihr Besuch in der Fort Berthold Reservation, wo sie Fotografien von Objekten aus dem Linden-Museum zeigte, um mit den „Three Affiliated Tribes“ in Dialog zu treten. Aus dem Austausch von Wissen entstand die Idee, eine Ausstellung über die Stämme der Mandan, Hidatsa und Arikara zu konzipieren. Die folgenden Erfahrungen schilderte sie als positives Beispiel für die Kooperation zwischen einem Museum und den Stämmen.41 Potentielle Konfliktfelder sparte sie dabei nicht aus: Religiöse Objekte zum Beispiel wurden in der Ausstellung nicht gezeigt, weil Schierle durch die Arbeit mit den Stämmen das Gefühl hatte, dass dies ein Vertrauensbruch wäre. Manche
37 Schierle, Sonja: Ethnische Identität und Erziehungserfahrungen der Tohono O’odham (Papago) und Yoemem (Yaqui) in Tuscon, Arizona. Frankfurt am Main, 1991. 38 So führte sie zum Beispiel 1989 ein Kulturfestival in Stuttgart durch („Indian Summer in Stuttgart“), das mit Vorträgen, Konzerten, Filmen und unter anderem einen powwow Ausschnitte aus den Kulturen der in Wisconsin ansässigen Stämme nach Baden-Württemberg brachte. S. dazu Schierle, Sonja: Presentation of Native American Cultures as Intercultural Dialogue. In: Acta Americana 9, 2001, S. 23 – 36, insbes. S. 28f. 39 Claes-Håkan Jacobson: Rosebud Sioux. Lebensbilder einer Indianer-Reservation. Kolding (DN), 2001. 40 Vernissage 20, 2000. 41 Schierle, in: Acta Americana 9, 2001, S. 29ff.
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Anschauungssache Religion Objekte gelten den Mandan, Hidatsa und Arikara als heilig und ihre Handhabung durch Unbefugte als gefährlich. Schierle schrieb: „Here it is not a question whether I personally share that belief or not, it is out of respect to the people who share the belief that one should not ask for those religiously sensitive items.“42 Dr. Schierle erarbeitet ihre Ausstellungsethik aus den Gesprächen mit der indigenen Bevölkerung und in der Konfrontation mit praktischen Fragen. Im Gespräch mit der Verfasserin sagte sie: „Der Respekt vor den Menschen und deren Würde muss sich in der Ausstellung widerspiegeln.“43 Es ist ihr wichtig, frei von Stereotypen über die indigene Bevölkerung zu berichten. Sie möchte weder die „Edlen Wilden“ noch die bemitleidenswerten Opfer der Kolonialpolitik vorführen, sondern Menschen zeigen, die heute wie früher ihr Schicksal gestalteten. Das schließt Widersprüchlichkeiten in der komplexen Kontaktgeschichte zwischen Indigenen und Einwanderern ein, wie sie in der Person Wilson Tawaquaptewas (s. Punkt 7.6.1) sichtbar werden.44 Eine Konsequenz in der Ausstellungsarbeit ist der Verzicht darauf, Objekte, die als heilig gelten, zu zeigen. Das Linden-Museum besitzt zwei Katsina-Masken, die im Depot gelassen wurden. Gebetsstäbe der Hopi, die in der vorherigen Dauerausstellung zu sehen waren, sind jetzt ebenfalls im Depot.45 Eine weitere Konsequenz ist die Rücksprache mit einzelnen Vertretern der Stämme bei der Ausstellungsgestaltung und deren dankende Erwähnung.46 Außerdem wird im Linden-Museum generell darauf geachtet, nur Stücke zu erwerben, die für Uneingeweihte „freigegeben“ wurden.47 Hier (und in anderen Museen) ist man also sensibler für mögliche Konfliktthemen als früher. Aber auch darüber hinaus hat die Stuttgarter Nordamerika-Inszenierung einige besondere ethische Komponenten.
42 43 44 45 46 47
Ebd., S. 31. Gespräch mit Dr. Schierle, 07.07.2005. Mail von Dr. Schierle an die Verf. vom 26.06.2007. Schulze-Thulin, in: Tribus 30, 1981, S. 88. Texttafel rechts vom Eingang, Stand: Juli 2005. 2005 zum Beispiel wurden zwei Tier-Masken der Küsten-Salish angekauft. Sie sind neueren Datums, wurden aber in Zeremonien verwendet „und haben die dafür notwendigen zeremoniellen Weihen erhalten. Auch sind beide Masken, wie das die indianische Rechtsprechung verlangt, für den Erwerb durch das Linden-Museum freigegeben worden. Auch hierfür gab es eine Zeremonie, die (allerdings nach westlichen Kriterien) mit einer Urkunde belegt ist.“ (Michel, Thomas: Bericht des Direktors über das Linden-Museum Stuttgart im Jahr 2005. In: Tribus 55, 2006, S. 7 – 24.) Zu den Erwerbungen siehe die jährlichen Berichte in Tribus.
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Respekt vor Fremdheit
7.4.1 TROTZ ALTER BESTÄNDE DAS NEUE FOKUSSIEREN Oft wird bedauert, dass die europäischen Museen wenig neue oder zeitgenössische Objekte besitzen. Durch das Übergewicht alter Objekte würden neuere Entwicklungen und die Gegenwart der repräsentierten Völker tendenziell ausgeblendet und vernachlässigt. Die ausgestellten Relikte ließen auch deren Hersteller zu Relikten vergangener Zeiten werden, die statt kulturellen Wandels ihren Untergang erlebten. Auch im Nordamerikasaal des Linden-Museums werden überwiegend alte Objekte gezeigt. Daneben wird aber die Gegenwart der Native Americans betont, wie in Abschnitt 7.3.2 ausgeführt. Dies ist die Grundbedingung für einen Dialog mit den Natives. Die Ausstellung erweitert den Blick auf sie und wird ihnen eher gerecht.
7.4.2 DIE GEGENWART ALS ERFOLG DARSTELLEN Im Einleitungstext wird das „Elend der Reservationen“48 angesprochen. Davon abgesehen, wird die Gegenwart als Erfolgsgeschichte geschildert: Im Einleitungstext wird der Bevölkerungsanstieg der indigenen Bevölkerung gegen ihr früher prophezeites Aussterben gesetzt. Auf dem Bildpfeiler werden mit Tex Hall (Mandan/Hidatsa) und Edward E. Bryant (Tsimshian) zwei Männer portraitiert, die mit ihrer indianischen Identität und für ihr kulturelles Erbe erfolgreich arbeiten. Lachende Kinder und arbeitende oder feiernde Erwachsene beherrschen die Bilder sowie die Schönheit der Landschaft und des indianischen Kunsthandwerks. Nicht das Elend der Reservationen (Arbeitslosigkeit, unterdurchschnittliche Bildung, schlechte Gesundheit, Abhängigkeiten) wird ausgebreitet, sondern die „neue[n] Perspektiven für die Zukunft ihrer Kinder“.49 Dies befördert auf Besucherseite eine neue Haltung gegenüber den Native Americans: Die Besucherinnen und Besucher werden dazu gebracht, den heute lebenden Native Americans Respekt zu zollen, sie zu bewundern oder sich mit ihnen zu freuen. Manchmal erzeugen Erfolgsgeschichten Neid und Missgunst. In Nordamerika werden die Angehörigen der Stämme teilweise wegen der Privilegien, die ihnen zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsversorgung gewährt werden, von anderen beneidet. Auf Seiten europäischer Besucher halte ich Neid jedoch für eine sehr unwahrscheinliche Konsequenz aus den Erzählungen der Dauerausstellung. In den meisten Fällen dürften sich die Besucher als den Natives ebenbürtig betrachten – und eben nicht als die überlegenen
48 Texttafel links gegenüber des Eingangs, Stand: Juli 2005. 49 Ebd.
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Anschauungssache Religion und/oder schuldigen Weißen, die für die armen Indianer sorgen müssten.50
7.4.3 DISTANZ WAHREN Die Beziehung zu den Natives, in die die Besucherinnen und Besucher durch die Ausstellung gestellt werden, hat noch eine weitere Komponente. Die Ausstellung hält die Besucherinnen und Besucher in einer gewissen Distanz zum Gezeigten. Die Glasscheiben der Vitrinen, das abstrakte Ausstellungsdesign, der Verzicht auf Nachbauten und Figurinen, die langen Texte – alle diese Elemente verhindern den „Tipi-Effekt“: die Illusion, die Szenerie betreten zu können und zum Indianer zu werden. Der Nordamerikasaal des Linden-Museums ist weniger leicht zugänglich. Wie oben ausgeführt, kann der Ausstellungsbesuch wirklich als geistige Expedition, als kognitive Arbeit angesehen werden, denn das Fremde wird als fremd dargestellt. Es wird jedoch nicht exotisiert, sondern wertneutral als anders beschrieben. Meines Erachtens ist die Ausstellung damit frei von (spät- oder neu-)kolonialen Allüren. Indem die Besucher auf Distanz gehalten werden, wird ihnen die Aneignung und Einverleibung des Fremden oder eine Identifikation damit erschwert.
7.4.4 DIE KOMMUNIKATIONSSITUATION VERÄNDERN Vor allem ausstellungstheoretisch interessant ist, dass die Prinzipien der Ausstellung teilweise offengelegt werden. Wie weiter oben gezeigt wurde, wird den Besuchern mitgeteilt, dass die im Museum gezeigte Wirklichkeit ausgewählt und konstruiert ist, wie die verwendete Zeitstruktur beschaffen ist und wer die Ausstellung erarbeitet hat. Dadurch verändert sich die Kommunikationssituation der Ausstellung. In vielen Museen erschallen die Botschaften des Museums als ewiggültige Wahrheiten. Wie mit der Stimme eines allwissenden Erzählers kommen sie gleichsam aus dem Off. Eine solche Situation schafft ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Teilnehmern am Kommunikationsprozess: Der Ausstellungsautor ist der allwissende Sender, der dank seiner Unauffindbarkeit unangreifbar ist, während der Besucher nur als passiver Empfänger fungiert. Der Nordamerikasaal des Linden-Museums verringert den Unterschied zwischen beiden Kommunikationspartnern: Beide Seiten sind identifizierbar und beide haben bestimmbare Aufgaben (s. Ab-
50 Hier spiegelt das Museum ein geändertes Verständnis von Entwicklungshilfe: Von „Hilfe“, die die passiven Empfänger erhielten, zur Zusammenarbeit, bei der beide Seiten ihr Wissen und ihre Interessen einbringen.
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Respekt vor Fremdheit schnitt 7.2.2). Obwohl die Botschaften weiterhin nur in eine Richtung ergehen und weiterhin den Anspruch fast aller Museumserzählungen erheben, nämlich inhaltlich richtig zu sein, verlieren sie durch die Angabe ihres Autors und durch den Verweis auf ihren fragmentarischen Charakter den Anstrich einer Epiphanie.
7.5 Die Hopi-Inszenierung Die bisherigen Analysen gelten auch für die Hopi-Inszenierung. Zwei Themenkomplexe müssen für die Hopi-Inszenierung noch näher untersucht werden: der Umgang mit Fremdheit und der Umgang mit Religion. Zunächst wird jedoch die Inszenierung beschrieben.
7.5.1 AUFBAU UND INHALT DER INSZENIERUNG Die Vitrine mit der Hopi-Inszenierung „um 1900 / Hopi / Das kostbare Naß“ ist in Abbildung 22 zu sehen. Die drei Orientierungsmarken auf dem Weg zur Vitrine tragen folgenden Texte: „Hopi / Selbstbezeichnung / Hopsinom / („anständige Menschen“) Sprache, Sprachfamilie / Hopi, uto-aztekische Sprachfamilie Bevölkerung / Ca. 10.000 Hopi Reservation / Hopi Reservation, Arizona / (6.240 km2)“51 „1974 Hopi-Navajo-Landdisput / Nach einer Reihe von Prozessen verabschiedet der US-amerikanische Kongress das so genannte Hopi-Navajo-Landschlichtungsgesetz. Es sieht die Aufteilung des von beiden Völkern gemeinsam genutzten Gebietes (Joint Use Area) in eine Hopi- und eine Navajo-Hälfte vor. Die Opfer der Zwangsumsiedelung leisten erbitterten Widerstand.“52 „1906 Streit im Hopi-Land / Die Frage, wieweit sich die Hopi an die amerikanische Gesellschaft anpassen sollen, spaltet das Volk. Die „Freundlichen“ sind zu gewissen Kompromissen bereit (z. B. Einführung der Schulpflicht), die (U.S.-)„Feindlichen“ dagegen nicht. Letztere verlassen Oraibi und gründen die Dörfer Hotevilla und Bacavi.“53
Die Vitrine besteht aus zwei im rechten Winkel zueinanderstehenden Hälften. Die Ecke wird durch den Einbau einer schrägen Rückwand überspielt, so dass sich drei Zonen ergeben. In der rechten Vitrinenzone sind Textilien und Keramikprodukte ausgestellt. Im hinteren Teil und an den Wänden sind fünf Kleidungsstücke aufgehängt, die jeweils zeremonielle Verwendung fanden, worauf die Objektbeschriftungen hinweisen (unter anderem ein Brautgürtel, des-
51 Erste „Orientierungsmarke“ der Hopi-Inszenierung, Stand: Juli 2005. 52 Zweite „Orientierungsmarke“ der Hopi-Inszenierung, Stand: Juli 2005. 53 Dritte „Orientierungsmarke“ der Hopi-Inszenierung, Stand: Juli 2005.
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Anschauungssache Religion sen Fransen „Regenschnüre“ symbolisieren, Kilt, Schärpe und Tanzschurz eines Katsina-Tänzers). Weiter vorne liegen auf dem Boden vier bemalte Gefäße aus Keramik.54 Der Text am rechten Vitrinenrand beschreibt Lebens- und Wirtschaftsweise der Hopi um 1900 und geht besonders auf die soziale Ordnung der Dörfer mit den unterschiedlichen Zugehörigkeiten zu Haushalten, Klanen und Bünden ein.55 54 Ein Täfelchen informiert darüber, dass die Keramikfertigung seit ca. 500 n. Chr. im Südwesten bekannt, um 1900 aber „nahezu vergessen“ war. Die archäologischen Ausgrabungen hätten zur Wiederbelebung der alten Technik geführt, die auf der Tafel ebenfalls beschrieben wird. Stand: Juli 2005. 55 Der Text lautet: „Die Hopi (ältere Bezeichnung Moqui) leben im Südwesten der USA (Arizona) auf eigenem Territorium. Sie zählen wie die benachbarten Zuni (New Mexico) zu den Pueblo-Völkern (span. pueblo „Dorf“). Die Hopi-Dörfer liegen auf oder am Fuße von drei südlichen Ausläufern des Black Mesa-Massivs. Um 1900 waren die Dörfer autonom. Die wichtigste politische und religiöse Instanz bildete das Dorfoberhaupt (Kikmongwi) nebst einem Rat. Letzterer setzte sich aus den männlichen Oberhäuptern der Zeremonialgesellschaften und den Klanältesten zusammen. Die wichtigsten sozialen und ökonomischen Einheiten waren Haushalt und Klan. / Der Haushalt bestand aus einer älteren Frau, ihren Töchtern und unverheirateten Söhnen, den Schwiegersöhnen und den Enkeln. Gewöhnlich schlossen sich die Frauen eines Haushaltes zum Maismahlen, zum Kochen und zur Bewirtschaftung der Gärten zusammen. In den künstlich bewässerten Gärten kultivierten sie Zwiebeln, Chili und andere Gemüsepflanzen, während der Feldanbau von Mais, Bohnen, Kürbissen, Melonen und auch Tabak von Männern besorgt wurde. Die Jagd auf Hasen, Hirsche, Gabelböcke und Bergschafe war Männersache, ebenso das Weben. Die Töpferei und das Korbflechten zählte zur Domäne der Frau, der in der Hopi-Gesellschaft eine besondere Position zukam. / Da sich die Abstammungsgruppe über die mütterliche Linie bestimmte, gehörte jeder Hopi sein ganzes Leben dem Klan seiner Mutter an. Die Zugehörigkeit zu einem Klan nahm Einfluss auf die Wahl des Ehepartners, der nicht dem gleichen Klan angehören durfte. Die wichtigeren Klane besaßen eigenes Land, bestimmte Quellen und Schreine. Die älteste Frau eines Klans („Klanmutter“) kontrollierte die Landnutzung, übernahm die Zuweisung von Anbauflächen und war für die wichtigsten Sakralobjekte des Klans verantwortlich. Jedem Klan oder mehreren von ihnen war eine Kiva (ein halbunterirdisches Zeremonialgebäude) zugeordnet. In der Kiva trafen und versammelten sich die Mitglieder des ihm zugeordneten Zeremonialbundes. Von den Bünden standen neun den Männern und drei den Frauen zur Mitgliedschaft offen. Haushalte, Klane, Kiva-Gruppen und Bünde mussten kooperieren, sollten ihre Zeremonien Erfolg haben. Im Mittelpunkt der Zeremonien stand das Kostbarste, das eine Trockensteppe beziehungsweise Halbwüste mit kalten Wintern, heißen Sommern und nur 250 mm Niederschlag im Jahr zu bieten hatte: Regen und Mais.“ Dazu sind Fotos mit folgenden Bildunterschriften abgebildet: „Hopi-Mann beim Weben, Walpi. Foto: John K. Hillers, 1879. Bildarchiv Lin-
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Abbildung 22: Blick auf die Vitrine „Hopi / Das kostbare Naß“. Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart.
Die mittlere Vitrinenzone wird durch eine schräg eingezogene Rückwand markiert. Das auffälligste darin ist der Katsina-Sockel. Er ist kein Sockel im herkömmlichen Sinne, sondern besteht aus vier übereinander liegenden, nach links geneigten Halbkreisen, die an der Rückwand befestigt sind. Die Halbkreise tragen die Aufschrift „1., 2., 3. und 4. Welt“. (Ein Text geht auf die Schöpfungsmythen der Hopi ein, in denen der Aufstieg der Menschen aus der Ersten bis in die Vierte Welt geschildert wird.) Auf dem obersten Halbkreis sind zehn Katsina-Figuren befestigt. Durch ihre Ausrichtung und die Neigung der Halbringe scheinen sie hintereinander die Bahn entlang zu tanzen. Über kleine Nummern kann man sie den Beschreibungen auf einer Texttafel in der Vitrine zuordnen. Darauf werden sie dem Jahreslauf zugeordnet, ihr Name wird genannt und übersetzt, außerdem erhält man Informationen über ihre Funktion und / oder Herkunft, zum Beispiel: „Januar. (2) Der Schwarze Salimopia (Salimopia Shikan’ona) ist ein Wächter. Bei den Zuni bewacht er eine von sechs Kammern auf dem Grund des heiligen Sees.“ / „Februar (7) Shulawitsi oder Kokosori („Kleiner Feuergott“) wird immer von einem Knaben dargestellt. Gewöhnlich hält er eine Wacholderfackel in seiner Hand und führt damit Feuerrituale durch. Im Februar begleitet er Ahöla auf der Zweiten Mesa, wenn dieser die Segnung der Klanhäuser vornimmt.“56
den-Museum“ und „Hopi-Frau beim Kämmen der Haare ihres Mannes“ (Foto: dito). Stand: Juli 2005. 56 Texttafel in der Hopi-Vitrine, Stand: Juli 2005.
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Anschauungssache Religion An der Wand über den Katsina-Figuren hängen zwei Tanzbretter und zwei tablitas (Kopfschmuck bei Tänzen) sowie ein Korbteller mit Katsina-Motiv. Links neben dieser zentralen Zone leitet eine einzelne kleine Katsina-Figur auf einem niedrigen Sockel in die dritte, linke Vitrinenzone über. Dieser Katsina-Figur ist eine Erklärungstafel zugeordnet, auf der zu lesen ist, dass die Figur von Wilson Tawaquaptewa angefertigt wurde, der die Merkmale verschiedener Katsina-Figuren vermischte, um „falsche“ Katsinam für den Touristenmarkt herzustellen.57 Außerdem stehen und hängen hier Trommeln und Rasseln. Die Objektbeschriftungen verzeichnen dazu unterschiedliche Informationen (Material und / oder Bezug zu den Katsina-Zeremonien wie etwa „Kürbisrasseln. Geschenke der Katsinam an kleine Jungen“). Am linken Vitrinenrand steht folgender Text zu lesen: „In der ersten, unteren Welt lebten die Menschen in völliger Harmonie mit Tieren und Pflanzen. Es gab ausreichend Regen, fruchtbares Land und damit genug Nahrung. Dann wurden die Menschen böse und egoistisch. Als Folge davon blieb der Regen aus, die Pflanzen verkümmerten und die Menschen litten Hunger und Krankheit. Gute Menschen beschlossen, das verdorbene Leben hinter, beziehungsweise unter sich zu lassen, und stiegen in die zweite Welt auf. Als sich abermals das Gute ins Böse verkehrte, erfolgte der Aufstieg in die dritte und schließlich in die jetzige vierte Welt. Maasaw, der Herr und Hüter dieser Welt, der Gott des Feuers und des Todes, wies die Menschen an, in kleinen Gruppen vier Wanderungen in alle vier Himmelsrichtungen zu unternehmen. Als die Klane nach und nach zurückkehrten, hatte ein jeder spezielles Wissen und Kräfte auf seinen Wanderungen erworben. So beginnen die Erzählungen vom Aufstieg der Menschen und den Klanwanderungen, an die rituelle Aufführungen im Zeremonialjahr der Hopi erinnern. Das komplexe Zeremonialwesen, das den Bodenbau von der Aussaat bis zur Ernte begleitet, spiegelt das Leben unter extremen Bedingungen wieder. Dies setzt die Zusammenarbeit aller Klane und Gruppen der Gemeinschaft voraus, denn die richtige Durchführung der Zeremonien entschied über Regen und Fruchtbarkeit, über Gesundheit und
57 Texttafel: „Verfremdete Figur von Wilson Tawaquaptewa (1867 – 1960) / [...] Tief in die Glaubensvorstellungen der Hopi eingebunden, doch seit Ende des 19. Jahrhunderts als Souvenirs bei Sammlern und Touristen gleichermaßen beliebt, löste die Herstellung von Katsina-Figuren für den Verkauf heftige Kritik aus. / Tawaquaptewa, Angehöriger des Bärenklans, Dorfoberhaupt von Oraibi und Leiter der Soyal-Zeremonie, schnitzte ebenfalls Figuren für den Verkauf. Nach seiner religiösen Überzeugung sollten akkurat dargestellte Katsina-Figuren nicht in die Hände Fremder gelangen. Aus diesem Grund veränderte er die Figuren, die Ähnlichkeit mit existierenden Katsinam besaßen, durch zusätzliche Details und Bemalung. Die hier gezeigte Figur vereint Merkmale von Leetayo (Gelber Fuchs), Mongwu (Große gehörnte Eule) und Kooyala (Hano-Clown). Typisch für Tawaquaptewas Figuren sind rote Gürtel mit schwarzen Punkten.“ Stand: Juli 2005.
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Respekt vor Fremdheit Harmonie. Von Dezember bis Juli finden die Zeremonien des Katsinahalbjahres statt, zwischen Juli und Dezember die der anderen Männerbünde sowie der Frauenbünde. Katsinam (Sing. Katsina) sind Ahnengeister der Hopi – Boten und Mittler zwischen Menschen und Göttern. Sie werden von den männlichen Mitgliedern des Katsina- und des Powamuy-Bundes verkörpert, die nach ritueller Vorbereitung besondere Masken und Kleidung anlegen. Die komplexeste Katsina-Zeremonie im Februar (Powamuy beziehungsweise „Purifikation des Lebens“) umfasst das rituelle Pflanzen von Bohnen in der Kiva, den Bohnentanz und die Initiation der Kinder in einen der beiden Bünde, bei der sie erstmals in die Geheimnisse der Katsina-Religion eingeweiht werden. Am letzten Tag der Powamuya und nochmals im Juli zum Nímaniw, wenn die Katsinam in die San Francisco-Berge und andere sakrale Orte heimkehren, verteilen die Katsinam Geschenke an Jung und Alt. Die kleinen Mädchen erhalten bemalte, den Katsinam nachgebildete Holzfiguren, die Jungen Rasseln, Bögen und Pfeile und die Erwachsenen Nahrungsmittel und Utensilien. Das wichtigste Präsent kam allen zugute: der Regen. Heute / Drei Viertel der 10.000 Hopi leben und arbeiten auf der Reservation. Die bereits 1906 kontrovers diskutierte Frage, wie weit sich die Hopi an die dominante amerikanische Gesellschaft anpassen sollten, spaltet die Hopi noch immer. Die Traditionen der Hopi sind lebendig geblieben, auch wenn die Landwirtschaft zugunsten von Lohnarbeit, kunsthandwerklicher Tätigkeit und anderen Erwerbsquellen an Bedeutung verloren hat.“58
Links vor der Vitrine steht die „Sammlersäule“. Auf ihr wird Karl Graf von Linden mittels eines Textes und einiger Bildern vorgestellt.59
58 Texttafel zu den Hopi am linken Vitrinenrand. Kursivdruck im Original. Die Unterschriften unter den drei beigegebenen Bildern lauten: „Ostansicht von Oraibi: Pfirsiche und andere Früchte wurden zum Trocknen auf das Dach gelegt“; „Mitglieder des Maraw-Bundes beim öffentlichen Tanz in Walpi. Die Frauen halten Tanzbretter in ihren Händen, die sie am Vortag in der Kiva angefertigt und bemalt haben“; „Tanzfelsen in Walpi“ (Alle Fotos: John K. Hillers, 1879. Bildarchiv Linden-Museum.) Stand: Juli 2005. 59 Sie ist auf Abbildung 20 links im Bild zu sehen. Auf der Säule ist sein Portrait, ein Foto von der Einweihung des Museums und die Abbildung der Mitgliedskarte des Königs im Württembergischen Verein für Handelsgeographie e. V. abgedruckt. Der Text lautet: „Karl Graf von Linden / Das Sammeln von Ethnographica wurde für den in Ulm geborenen Karl Graf Heinrich von Linden (1838 – 1910) zum Lebensinhalt. Nach absolviertem Jurastudium war er als Hofmarschall und Oberkammerherr für den Württembergischen König tätig. Die Heirat mit der vermögenden Maria Bech aus New York erlaubte Karl Graf von Linden, bereits 1886 seinen Ruhestand anzutreten. In der darauf folgenden Zeit widmete er sich der Erd- und Völkerkunde, trat dem Württembergischen Verein für Handelsgeographie e. V. (gegründet 1882) bei und unterhielt als langjähriger Vorsitzender internationale Kontakte zu Forschern und Sammlern. / Das Linden-Museum ist nach Karl Graf von Linden benannt, der den Grundstock für die Sammlun-
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7.5.2 FREMDHEIT UND NÄHE Wie weiter oben gezeigt wurde, lädt die Ausstellungsgestaltung nicht zur vorschnellen Aneignung der Inhalte oder zu einer einfachen Identifikation mit den dargestellten Völkern ein. Die Ausstellung baut Respekt vor den dargestellten Menschen auf und wahrt Distanz. Trotz dieser Grundhaltung finden sich im Detail Versuche, Distanzen zu überwinden und Befremden gegenüber anderen Lebensweisen zu mildern. Die für die Zeit um 1900 beschriebene Lebensweise der Hopi unterscheidet sich in vielen Punkten vom Lebensstil der allermeisten Besucher. In den Begleittexten werden unter anderem folgende Merkmale erwähnt: Zugehörigkeit zum Klan der Mutter, andere Rollenverteilung der Geschlechter, Mythos vom Aufstieg in diese Welt, Bünde und Kiva-Gruppen. Andersartigkeiten, Devianzen haben ein hohes Potential, befremdlich, sonderbar, komisch oder in irgendeiner Weise negativ zu wirken. In der Dauerausstellung mildern verschiedene Mittel ein mögliches Befremden: Erstens bewirkt der wissenschaftliche Sprachstil hier (wie so oft), dass die Faktizität des Beschriebenen mit hoher Autorität versehen wird. Wenn zum Beispiel das Gegenteil unserer überwiegend patriarchalischen Tradition beschrieben wird, die Stellung der Frauen als Oberhäupter der Klane, dann überdeckt die Wissenschaftlichkeit der Daten deren Befremdlichkeit: „Das war eben so!“ Ein Wundern darüber wäre unwissenschaftlich. Zweitens ist die Hopi-Vitrine in sich schlüssig. Die Objekte und Themen sind alle unter das Oberthema „Katsinam als Regenbringer“ eingebunden. Die Objekte und Informationen fallen dadurch nicht auseinander, sondern haben einen Sinn. Auch dies macht die einzelnen Bereiche weniger sonderbar. Und drittens wird durch die wichtigste und auffälligste Textinformation das Fremde näher heran geholt. Der Titel der Inszenierung, „Das kostbare Naß“, ist in einem besonderen, einem etwas altmodischen Deutsch gehalten. Inhaltlich drückt die Wendung die Wertschätzung von Wasser als Lebensspender aus, formal geht sie über die Sachebene hinaus und eröffnet in ihrer Poesie, in ihrer Traditionalität den ganzen Horizont der deutschsprachigen Kultur. „Das kostbare Naß“ lässt den Leser, die Leserin gleich daran denken, wie wichtig das Wasser für uns und für alles Leben ist. Es ist eine Formulierung, die den Lesern das Thema emotional nahe bringt. Hier wird sie auf die Hopi bezogen: Auch für sie ist Wasser
gen des Museums legte. 218 Objekte in der Nordamerikasammlung, die vorrangig aus dem Südwesten und dem Plains-Gebiet stammen, gehen auf den Museumsgründer zurück.“ Stand: Juli 2005.
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Respekt vor Fremdheit offenbar ein „kostbares Naß“. Unsere eigene Wertschätzung des Wassers und die Bedeutung des Wassers für die Hopi werden dadurch vergleichbar, die Emotionen der Besucher und die durch den Titel imaginierten Emotionen der Hopi werden als ähnlich oder gleich vorgestellt. Das bringt uns und die Hopi näher.
7.5.3 IM MITTELPUNKT:
DIE
RELIGION
Optischer und inhaltlicher Mittelpunkt der Inszenierung sind die Katsina-Figuren. Sie füllen die Mitte der Vitrine aus und auf sie beziehen sich die meisten anderen ausgestellten Objekte und weite Teile der Textinformation. Die in Abschnitt 7.3.1 beschriebene Konkretisierung heißt hier also: Für die Kultur der Hopi, wie sie um 1900 bestand, wird die Bedeutung der Katsinam in den Blick genommen. Zu ihnen erhalten die Ausstellungsbesucher sehr detaillierte Informationen. Zwei Punkte seien zur Religionsdarstellung noch angemerkt: Selbstdarstellung und Außenwahrnehmung Optisch dominieren die Katsina-Figuren. In dieser Schwerpunktbildung treffen sich die Interessen der Hopi und diejenigen der „Weißen“. Seit über hundert Jahren interessieren sich weiße Sammler für die Katsina-Figuren. Zu den berühmtesten frühen KatsinaSammlern zählen Aby Warburg (1866 – 1929), Marcel Duchamp (1887 – 1968) und Max Ernst (1891 – 1976). Auch die ethnologischen Museen legten bald Katsina-Sammlungen an. Die Hopi bedienten – unter Interessenskonflikten – diesen Sammlermarkt. Die Katsina-Figuren wurden zu Kunstobjekten, die immer wieder neu gestaltet und weiterentwickelt wurden. Andere Bereiche ihrer Religion wollen die Hopi heute geheim halten. Das Schlangenritual, das Aby Warburg beschrieb, oder die Altäre in den Kivas, über die Armin W. Geertz forschte, und einige Ritualgegenstände (Gebetsstäbe und Katsina-Masken) werden heute in Einklang mit den Wünschen der Hopi in den meisten Ausstellungen nicht mehr thematisiert. Im Umgang mit Darstellungen der Tänze, zum Beispiel von Raymond Naha (Hopi-Tewa), sind viele Museen vorsichtig geworden. Da auch die weißen Forscher, Museumsleute und Ausstellungsbesucher großes Interesse an den Katsina-Figuren zeigen,60 treffen sich hier also Selbstdarstellung und Außenwahrnehmung.
60 Auch die „Prophezeiungen“ der Hopi und deren religiöses „Wissen“ interessieren dank Büchern wie Frank Waters’ „The Book of the Hopi“ oder der Filme von Godfrey Reggio weite Kreise. Diese Themen werden in den meisten Ausstellungen ignoriert. Eine Ausnahme dazu bildet zum Beispiel die
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Regen statt Religionstheorie Was wird in der Stuttgarter Ausstellung über die Katsinam und die Religion der Hopi ausgesagt? Welcher Art sind die Verbindungen, die zwischen der Religion und den anderen Lebensbereichen hergestellt werden? Gibt die Ausstellung Begründungen für die Entstehung oder Gestalt der Religion oder deren Funktionen an? Mit anderen Worten: Im folgenden Abschnitt wird überlegt, welche Religionstheorien möglicherweise im Hintergrund der Darstellung stehen. Die Dauerausstellung geht vor allem auf die Rolle der Katsinam ein. Die Katsinam werden als „Ahnengeister“ der Hopi vorgestellt, die in Zeremonien von den Angehörigen zweier Bünde verkörpert werden. Die Katsinam sollen das im Titel der Inszenierung genannte „kostbare Naß“ bringen. Daran werden weite Teile der Informationen auf der ersten Texttafel angeknüpft, zum Beispiel die Informationen zur sozialen Ordnung, die ihren Sinn im Zeremonialwesen hat: „Haushalte, Klane, Kiva-Gruppen und Bünde mussten kooperieren, sollten ihre Zeremonien Erfolg haben. Im Mittelpunkt der Zeremonien stand das Kostbarste, das eine Trockensteppe beziehungsweise Halbwüste [...] zu bieten hatte: Regen und Mais.61 Das heißt, die Religion der Hopi wird über die Katsina-Zeremonien mit einigen anderen Lebensbereichen verknüpft. Entsprechend der Reichweite ihrer Erklärungskraft sind es folgende: • Rituelle Dimension: Die meisten ausgestellten Objekte gehören zu den Katsina-Zeremonien. • Künstlerische Dimension: Katsinam als wiederkehrende Motive auf Keramik, Kleidung und anderem. • Soziale Ordnung: Soziale Einheiten kooperieren bei den Zeremonien. • Wirtschaftsweise: Abhängigkeit vom Regen, Zeremonien zur Regensicherung.62 Die ersten drei Verbindungen zwischen Religion und „restlichem Leben“ sind eher konturlos, sind gewissermaßen friedliche Koexistenzen: hier die Tradition der Keramikerstellung, da die Keramik mit Katsina-Motiven; hier die soziale Ordnung, da die Kooperation der Bünde bei den Katsina-Zeremonien. Die Dauerausstellung schafft
Nordamerika-Präsentation des Ethnologischen Museums Berlin-Dahlem, in der „Bilder“ von Indianern ausführlich thematisiert werden. 61 Text auf der Tafel am rechten Vitrinenrand, Stand: Juli 2005. 62 Darüber hinaus werden zwei weitere Unterthemen von „Religion“ in der Inszenierung thematisiert: die Inhalte der Religion (Vermittlung primär durch Text) und das Problem der Geheimhaltung (Vermittlung durch ein Objekt und den dazugehörigen Text „Verfremdete Katsina-Figur von Wilson Tawaquaptewa“), s. Abschnitt 7.6.1.
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Respekt vor Fremdheit „Und“-Verbindungen zwischen den einzelnen Bereichen. Sie stellt keine Begründungen her, nutzt beispielsweise keine religionssoziologischen Modelle, um die soziale Ordnung und die Religion wechselseitig zu erklären. Auch keine anderen Theorien zum Beispiel religionsphänomenologischer Art sind erkennbar. Welcher Art ist die Verbindung zwischen Katsina-Zeremonien und Wirtschaftsweise? Beide Texttafeln enden mit Sätzen, in denen die Verbindung zwischen Kult und Fruchtbarkeit betont wird: „Am letzten Tag der Powamuya und nochmals im Juli zum Nímaniw [...] verteilen die Katsinam Geschenke an Jung und Alt. Die kleinen Mädchen erhalten bemalte, den Katsinam nachgebildete Holzfiguren [...] Das wichtigste Präsent kam allen zugute: der Regen.“63 „Im Mittelpunkt der Zeremonien stand das Kostbarste, das eine Trockensteppe beziehungsweise Halbwüste [...] zu bieten hatte: Regen und Mais.“64
Kann man daraus schließen, dass die Katsina-Religion ihre Begründung und Funktion im Regenmachen hat? So weit geht die Ausstellung nicht. Genau genommen wird keine kausale Verknüpfung zwischen Kult und Fruchtbarkeit hergestellt. Es heißt vielmehr, das „Zeremonialwesen spiegelt“ das Leben unter extremen natürlichen Bedingungen „wider“. Die oben zitierten Sätze beschreiben keine tatsächlichen, sondern die von den Gläubigen erhoffte Funktion der Kulte. In den Texten wird nicht behauptet, daß die Katsinam tatsächlich Regen brachten, sondern nur, dass der Regen „im Mittelpunkt der Zeremonien“ stand. Damit bleibt die Darstellung rein deskriptiv. Ausstellungsbesucher, die sich auf der Suche nach Erklärungen und Kausalitäten befinden, mögen sich vielleicht doch noch näher für den Zusammenhang zwischen Kult und Regen interessieren. Brachten die Katsinam denn nun den Regen? Möglicherweise unbewusst reagierten die Ausstellungsautorinnen auch auf diese unter Wissenschaftlern verpönte Frage. Das lässt sich zumindest aus dem Gebrauch der Zeiten im Text schließen. Der einleitende Mythos wird im Imperfekt erzählt. Alle nachfolgenden Sätze sind im Präsens gehalten – mit zwei Ausnahmen. Es heißt: „[...] die richtige Durchführung der Zeremonien entschied über Regen und Fruchtbarkeit, [...].“ und „[...] Das wichtigste Präsent kam allen zugute: der Regen.“65 Die beiden (Teil-)Sätze im Imperfekt berühren eben dieses Problem, ob die Kulte tatsächlich „Regen machen“ können, was einen 63 Text auf der Tafel am linken Vitrinenrand, Stand: Juli 2005. 64 Text auf der Tafel am rechten Vitrinenrand, Stand: Juli 2005. 65 Text auf der Tafel am linken Vitrinenrand, Stand: Juli 2005. Hervorhebungen S. C.
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Anschauungssache Religion Widerspruch zu unserem naturwissenschaftlichen Verständnis darstellen würde. Indem diese Sätze anders als die restlichen Textpassagen in die Vergangenheit gesetzt wurden, wird das Problem umschifft: Die Aussagekraft der Sätze wird gemildert. Falls tatsächlich einst die Katsinam den Regen brachten, dann ist es heute nicht mehr so. Alles in allem verzichten die Ausstellungsautorinnen auf die Angabe von Funktionen für die Hopi-Religion und damit auf Religionstheorien.
7.6 Zusammenfassungen und Ausblicke 7.6.1 FRAGMENTCHARAKTER UND POLYSEMIE DER OBJEKTE Von museologischer Seite wird gefordert, die Dinge im Museum nicht als Illustrationen oder Belege für Behauptungen zu verwenden. Statt dessen soll man sie als Dinge, die einen eigenen, besonderen Erkenntniswert haben, anerkennen. Dazu muss man sich ihres Charakters als Ausschnitt aus der Geschichte, ihrer Fragmentarik bewusst sein, und sie als Ergebnis einer oder mehrerer semantischer Umcodierungen in ihrer Vieldeutigkeit ernst nehmen.66 Sowohl Fragmentcharakter als auch Polysemie der Objekte werden meines Erachtens in den Inszenierungen des Nordamerikasaals berücksichtigt: Durch die Hinweise auf die Sammler werden Teile des Musealisierungsprozesses offengelegt. Es wird durch die „Sammlersäulen“ klar gemacht, dass die Objekte von bestimmten Menschen mit bestimmten Interessen erworben wurden. Es wird nicht versucht, die Objekte in naturalistisch gestalteten Kontexten zu präsentieren, was sie auf eine bestimmte Bedeutung festlegen würde. Die abstrahierende, stilisierte Ausstellungsgestaltung bringt vielmehr die verschiedenen Dimensionen der Objekte zum Sprechen. Die Ausstellungsgestaltung gebietet Distanz, eine einfache, (vor-)schnelle Aneignung der Objekte und eine daraus resultierende 66 Korff, Gottfried: „Was sich zunächst als Defizit ausnimmt, die Fragmentarik, erweist sich als Vorteil bei der historischen Imagination. Das Bruchstückhafte fordert zur Erklärung, zur Deutung, zur jeweils neuen und aktuellen Aneignung heraus. Der Deutungszusammenhang richtet sich nach den Proportionen heutiger historischer Erkenntnis.“ In: Zur Eigenart der Museumsdinge. In: Museumsdinge. Deponieren – exponieren. Hgg. von Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König und Bernhard Tschofen. Köln, Weimar, Wien, 2002, S. 140 – 145, hier: S. 143, sowie ders.: Aporien der Musealisierung. Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat. In: Zacharias, Wolfgang (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S. 57 – 71.
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Respekt vor Fremdheit Identifikation mit „den Indianern“ wird unterbunden. Die Konzentration auf wenige Objekte entspricht der thematischen Konzentration und verdeutlicht, dass nur winzige Ausschnitte aus den Kulturen gezeigt werden. In der „Verfremdeten Katsina-Figur“ von Wilson Tawaquaptewa, die in der Hopi-Vitrine ausgestellt ist, kondensieren diese Bestrebungen (s. Abbildung 23). Auf einer Texttafel erfahren die Museumsbesucher folgendes: „Verfremdete Figur von Wilson Tawaquaptewa (1867 – 1960) / [...] Tief in die Glaubensvorstellungen der Hopi eingebunden, doch seit Ende des 19. Jahrhunderts als Souvenirs bei Sammlern und Touristen gleichermaßen beliebt, löste die Herstellung von Katsina-Figuren für den Verkauf heftige Kritik aus. / Tawaquaptewa, Angehöriger des Bärenklans, Dorfoberhaupt von Oraibi und Leiter der Soyal-Zeremonie, schnitzte ebenfalls Figuren für den Verkauf. Nach seiner religiösen Überzeugung sollten akkurat dargestellte Katsina-Figuren nicht in die Hände Fremder gelangen. Aus diesem Grund veränderte er die Figuren, die Ähnlichkeit mit existierenden Katsinam besaßen, durch zusätzliche Details und Bemalung. Die hier gezeigte Figur vereint Merkmale von Leetayo (Gelber Fuchs), Mongwu (Große gehörnte Eule) und Kooyala (Hano-Clown). Typisch für Tawaquaptewas Figuren sind rote Gürtel mit schwarzen Punkten.“
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Das gezeigte Objekt ist also keine „richtige“ Katsina-Figur. Sie entstand, weil Tawaquaptewa vielleicht Geld verdienen wollte, oder weil er die Bitten der Touristen nicht enttäuschen wollte, und vor allem, weil er seine religiösen Überzeugungen in bestimmter Weise auslegte. Damit sind bereits drei mögliche Bedeutungen des Objektes angesprochen. Außerdem kann es in Bezug auf die „echten“ KatsinaFiguren gedeutet werden oder als Kunstwerk Tawaquaptewas. Man kann an ihr die „Dummheit“ der weißen Sammler belachen und man kann sich mit der Ethnologin freuen, die die Figur als Tawaquaptewas Werk entdeckte. Man kann an diesem einen Objekt viel über die Religion der Hopi erzählen. Gerade dieser kleine Splitter aus der Kultur der Hopi trägt viele Bedeutungen – und die Inszenierung im Linden-Museum macht einige davon zugänglich.68
67 Texttafel in der Hopi-Vitrine, Stand: Juli 2005. 68 Der Einfachheit halber habe ich mich hier auf die versprachlichten Bedeutungsebenen beschränkt. Denn ihr für europäische Besucherinnen und Besucher „fremdartiges“ Aussehen lässt meines Erachtens den Text zum wichtigsten Deutungsmittel werden. Außerdem wird sie auf Distanz zu ihrem hauptsächlichen Ding-Kontext gehalten: Der kleine Sockel, auf dem die Figur präsentiert wird, hebt sie aus dem Verbund der anderen Katsinam heraus.
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Abbildung 23: Die Figur von Wilson Tawaquaptewa. Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart.
Gottfried Korff unterscheidet zwischen „epistemisch“ und „kompensatorisch“ eingesetzten Dingen im Museum.69 „Kompensatorische Dinge“ sind die Dinge im Museum, die die Verlusterfahrungen der Gegenwart ausgleichen. Sie sichern Vertrautheit in einer Welt, die beschleunigtem kulturellen Wandel unterliegt.70 Anders wirken die „epistemischen Dinge“: Sie befördern in ihrer „Überraschungsmächtigkeit“ neue Erkenntnisse, weil sie etwas „unvertraut Gegebene[s]“71
69 Korff, Gottfried: Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen. In: te Heesen, Anke und Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln, Wiemar, Wien, 2005, S. 89 – 107. Mit dem Begriff der „epistemischen Dinge“ bezieht er sich auf Hans-Jörg Rheinberger, den er auch mit dem Begriff der „Überraschungsmächtigkeit“ zitiert. 70 Korff verweist auf die Museumstheorien von Odo Marquard und Hermann Lübbe. Medientheoretische Ansätze, denen zufolge die Materialität und Authentizität in einer medialen Welt besondere Affekte und Erlebnisse zulassen, rückt er in die Nähe der „kompensatorischen Dinge“. Korff, in: te Heesen / Lutz, 2005, S. 91. 71 Ebd., S. 92.
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Respekt vor Fremdheit sind. Verfremdete Katsina-Figuren72 sind für mich epistemische Dinge. Sie liegen dem Betrachter als vieldeutige Fragmente einer fremden Kultur gegenüber und erlauben ihm neue Einsichten.73
7.6.2. EXKURS ZUR MÖGLICHEN VERÄNDERBARKEIT VON MUSEUMSEPISTEMOLOGIEN Edwina Taborsky gibt ihren Forderungen für die Museumsarbeit eine eigene erkenntnistheoretische Note.74 Sie wendet die Zeichentheorie von Charles S. Peirce (1839 – 1914) auf das Museum an, und fordert letztlich, die Polysemie der Objekte so ernst zu nehmen, dass die Besucher die Objekte nicht nur innerhalb ihrer eigenen Gewohnheiten interpretieren können, sondern dass das Museum auch die Interpretationsmöglichkeiten im Sinne zum Beispiel der Herkunftsgesellschaft der Objekte bereitstellen muss. Taborsky arbeitet mit den Peirce’schen Kategorien der Quali-, Sin-, und Legizeichen75 und der Unterscheidung von Erkenntnistheorien in ein „Beobachter-“ und ein „diskursives Paradigma“.76 Nach ersterem wirkt ein Objekt nur als „media channel“, durch den eine bestimmte Menge an Information zum Empfänger fließt. Unabhängig vom Kommunikationsprozess existiere diesen Theorien zufolge, so Taborsky, eine Realität, über die in der Kommunikation etwas ausgesagt wird.77 Sie bevorzugt ein Vorgehen nach dem zweiten, dem diskursiven Paradigma, das Realität nur als Kommunikationsprozess anerkennt. Nur in sozialer Interaktion würden Bedeutungen hergestellt und
72 Auch das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln besitzt drei Figuren, die die Kuratoren für absichtliche Fälschungen für den Verkauf halten, da sie Attribute verschiedener Katsinam vereinen. Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln, Stand: Sommer 2003. 73 Dank mangelnder Vorkenntnisse auf Betrachterseite ist die erkenntnisfördernde Wirkung dieser und vieler anderer ethnographischer Objekte auf Vermittlungsarbeit angewiesen. Korff betont in seinen Ausführungen oft die sinnliche Anmutungsqualität der Dinge, also die Tatsache, dass die Erkenntnis, die man aus Museumsdingen schöpfen kann, auch ohne sprachliche Vermittlung auskommt. 74 Taborsky, Edwina: The discursive object. In: Pearce, Susan M. (Hg.): Objects of knowledge. London, 1990, S. 50 – 77. 75 Die Unterscheidung von Qualizeichen, Sinzeichen und Legizeichen ist die erste der drei Peirces’schen Zeichentrichotomien. Ein Zeichen ist ein Qualizeichen, Sin- oder Legizeichen „je nachdem ob das Zeichen an sich eine bloße Qualität [Erstheit], etwas tatsächlich Existierendes [Zweitheit] oder ein allgemeines Gesetz [Drittheit] ist.“ Zitiert nach: Nöth, Wilfried: Handbuch der Semiotik. 2. Auflage, Stuttgart, Weimar, 2000, S. 65. 76 Übersetzung S. C. 77 Taborsky, in: Pearce, 1990, S. 59.
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Anschauungssache Religion nur sie konstituierten die Realität. Wollte ein Beobachter Wissen über ein Objekt erlangen, müsse er in „discursive interaction“ mit dem Objekt treten.78 Taborsky empfiehlt Museen, dieses Paradigma zu berücksichtigen. Die Bedeutungsmöglichkeiten eines Objektes im Museum auszuschöpfen, hieße dementsprechend, auch die Legizeichen für eine diskursive Interaktion im Sinne zum Beispiel der Herkunftsgesellschaft parat zu halten. (Denn die Kenntnis der gruppenspezifischen Legizeichen ist ein notweniger Bestandteil der Kommunikation.) Taborskys praktische Folgerungen sind wenig überzeugend.79 Als Beispiel verwendet sie die museale Darstellung australischer Totemsymbole. Sie schreibt, man könne nicht erwarten, dass der Besucher die Legizeichen seiner Herkunftsgesellschaft aufgibt. „I do not believe that the observer can ever function within the original society’s conceptual format. He cannot ‘be’ a discursive member of an Australian tribe. [..] he remains in the museum society and the museum should not deceive him into thinking that he can abandon his conceptual base.” 80
Deshalb sollte das Museum die Objekte nicht nur als Qualizeichen ausstellen, weil dann automatisch die Legizeichen der Museumsgesellschaft aktiviert werden, um sie als Sinzeichen zu verstehen. Ein solches Vorgehen sei, so Taborsky, der erste Umgang der „Entdecker“ mit den „Wilden“ gewesen. „The museum must present all three parts of the sign and locate them within the original society. It should also help the museum visitor to understand that there are three parts of the sign.“81 Also sollen die Legizeichen als analytische Basis für die ursprünglichen Bedeutungen der australischen Objekte in der ganzen Ausstellung über Australien eingebracht werden. Taborsky äußert sich nicht dazu, wie das praktisch aussehen soll. Ich halte das für theoretisch und praktisch unmöglich. Wie oben ausgeführt, wird im Linden-Museum die der Ausstellung zugrunde liegende Zeitstruktur thematisiert. Die Besucher werden sogar aufgefordert, sich einmal anders als gewöhnlich in der Zeit zu bewegen. An der Wahrnehmung der Zeit als linear fortschreitender Größe ändert dies jedoch nichts. Das Museum kann meines Erachtens keine zyklische Zeitwahrnehmung auf Seiten eines europäisch sozialisierten Besuchers evozieren. Entsprechendes gilt für mehrere Bedeutungsebenen eines australischen Totemtieres. Entscheidende Grö78 Ebd., S. 58. 79 Zum Beispiel sehe ich keinen grundlegenden Unterschied zwischen ihren Darstellungen einer „diskursiven“ Museumsarbeit und derjenigen, die dem „Beobachterparadigma“ folgt. 80 Taborsky, in: Pearce, 1990, S. 74. 81 Ebd.
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Respekt vor Fremdheit ßen, die die Interpretation fremder Objekte beeinflussen, sind nicht veränderbar. Insofern sind die Interpretationsmöglichkeiten der Objekte auch bei maximaler Offenlegung ihrer Polysemie und Fragmentarik endlich.
7.6.3 ZUR ENTSCHÄRFUNG KONFLIGIERENDER WELTBILDER: RELIGION ALS KULTURGUT Nachdem die meisten Entdecker, Kolonisatoren und Siedler und die meisten Menschen, die in Europa geblieben waren, lange Zeit von der Richtigkeit und Überlegenheit ihres Weltbildes ausgegangen waren, versucht man inzwischen auch von „westlicher“ Seite, die Weltbilder anderer Kulturen anzuerkennen. Unterschiede in ethischen und religiösen Anschauungen und den damit zusammenhängenden Rechtsauffassungen führen dabei immer wieder zu Konflikten. Museen haben mehrere Möglichkeiten, mit diesen Problemen umzugehen. Im Nordamerikasaal des Linden-Museums kommen Konflikte zwischen „unserem“ und den Weltbildern der Indianer kaum vor. Eine Ausnahme ist zum Beispiel die Frage, wie Nordamerika besiedelt wurde. Hier wird die wissenschaftliche Perspektive als tendenziell „richtiger“ als die indigene dargestellt (s. Abschnitt 7.3.4.). Warum aber empfindet der Museumsbesucher sonst kaum ein Thema als problematisch? Meines Erachtens hat dies drei hauptsächliche Gründe: Erstens wird sich auf Besucherseite eine positive Grundstimmung gegenüber den Native Americans einstellen (wie in Abschnitten 7.4.1 und 7.4.2 dargestellt). Das Bild, das in der Ausstellung von den Natives erarbeitet wird, erhält durch die Fokussierung der erfolgreich an einer besseren Zukunft arbeitenden Menschen freundlich-fröhliche, positive Züge. Die Besucherinnen und Besucher sollen die Indianer als Menschen einer anderen, aber großartigen Kultur kennen lernen. Dies färbt die Wahrnehmung der Ausstellungsinhalte in tendenziell harmonisierender Weise. Zweitens werden bestimmte Konflikte externalisiert: Sie werden in die Vergangenheit oder in andere Menschengruppen verlegt. Im Einleitungstext beispielsweise wird der Genozid an den Indianern, den die „Entdeckung“ Amerikas auslöste, ins Plusquamperfekt gesetzt: „Von Weißen und Afrikanern eingeschleppte Krankheiten (z. B. Pocken, Keuchhusten, Grippe, Masern und Cholera), Kriege und andere Gewalttaten, Hungersnöte, Zwangsumsiedelungen und das Elend auf Reservationen hatten ihren Tribut gefordert.“82 Mit anderen Worten: Er ist vorbei, er gehört nicht mehr zur Realität der Leserinnen und Leser. In einem anderen Fall wird das Problem kon-
82 Einleitungstext, Stand: Juli 2005.
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Anschauungssache Religion fligierender Weltbilder als Problem der Indianer untereinander geschildert: „Die Frage, wieweit sich die Hopi an die amerikanische Gesellschaft anpassen sollen, spaltet das Volk [gemeint: die Hopi, S.C.]. Die ‚Freundlichen’ sind zu gewissen Kompromissen bereit (z.B. Einführung der Schulpflicht), die (U.S.-)‚Feindlichen’ dagegen nicht. [...]“83 Einige Konflikte werden also vom Besuchererleben abgerückt. Die problematischen und negativen Bereiche indianischen Lebens werden im Nordamerikasaal des Linden-Museums tendenziell von den Besuchern entfernt. (Das Gegenteil wurde für die Nord- und Mittelamerikaabteilung des Übersee-Museums Bremen gezeigt: Dort wird die weiße, materialistische Wohlstandsgesellschaft so gegeißelt, dass sich viele Leserinnen und Leser angesprochen fühlen dürften.) Und drittens werden einige Konflikte, die sich aus religiösen Vorstellungen ergeben können, ausgespart. „Religion“ wird als Kulturgut betrachtet, das es mit Respekt zu behandeln gilt. Die Tänze und Zeremonien der Hopi zum Beispiel werden zu kultureller Tradition, die Eigentum der Hopi ist, welche darüber verfügen dürfen, was damit passieren soll. Meines Erachtens ist dieses Vorgehen zumindest im Museum ethisch richtig, es soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass sich durch solche Prozesse unser Verständnis von und unser Umgang mit Religion verändern wird. Wenn Religionen tatsächlich zu „Kulturgütern“ werden, werden sie dann Urheber- und Eigentumsrechten unterliegen? Wer hat die Verfügungsgewalt über eine Religion? Wer definiert „die“ Religion? In der Praxis stellen sich diese Fragen schon lange, zum Beispiel unter den Hopi. Interessant wird es, wenn sich solche Überlegungen auf Religionen ausdehnen, die nicht an ethnische Zugehörigkeit gekoppelt sind.
7.6.4 KATSINAM SIND KATSINAM SIND KATSINAM ... : SELBSTREFERENTIALITÄT UND THEORIEVERZICHT Katsina-Figuren werden in vielen Nordamerika-Ausstellungen gezeigt, oft werden den Besuchern auch große Mengen an Information zu den Figuren mitgegeben. Aber welcher Art sind diese Informationen eigentlich? Wenn man der Art der Informationen, die den Besuchern zu den Katsinam mitgegeben werden, nachgeht, kann man sich an die „Selbstreferentialität“ religiöser Symbolsysteme erinnert fühlen, die Burkhard Gladigow beschreibt: Religiöse Zeichen verweisen immer wieder auf andere religiöse Zeichen. Dieser Vorgang ist in vielen Museen zu beobachten, zum Beispiel dort, wo die Attribute christlicher Heiliger erklärt werden. Sie werden zum Beispiel als Marterinstrumente erklärt, also wieder als Zeichen mit einem
83 Dritte „Orientierungsmarke“ der Hopi-Inszenierung, Stand: Juli 2005.
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Respekt vor Fremdheit bestimmten religiösen Sinn. Die „Erklärung“ der Zeichen ist keine Überführung in ein außerreligiöses Sinnsystem, sondern ein weiterer Verweis auf – religiöse Zeichen. Die Erläuterungen zu den Katsina-Figuren, die im Linden-Museum zu lesen sind, können ebenfalls als Beispiel für ein solches Vorgehen dienen: „Februar (7) Shulawitsi oder Kokosori („Kleiner Feuergott“) wird immer von einem Knaben dargestellt. Gewöhnlich hält er eine Wacholderfackel in seiner Hand und führt damit Feuerrituale durch. Im Februar begleitet er Ahöla auf der Zweiten Mesa, wenn dieser die Segnung der Klanhäuser vornimmt. / März (8) Ma’lo, hier mit geflochtener Kindertrage und Blitzstäben in den Händen, betet für Regen und für eine gute Ernte. Er nimmt v. a. an den Angktiwa-Tänzen (März) und gelegentlich am Heimkehrtanz auf der Ersten Mesa (Juli) teil.[...] “84
Dieser Text hilft den Besucherinnen und Besuchern, einige Attribute der Katsinam zu denotieren („Wacholderfackel“, „Kindertrage“) und die Konnotation zu den Zeremonien herzustellen („Segnungen der Klanhäuser“, „betet“, und ähnliches). Vereinzelt gibt es Verweise auf den Ablauf der Zeremonien und auf Parallelen etwa bei den Zuñi. Insgesamt verbleibt der Text im Symbolsystem „Religion“. Er wiederholt die Religion auf der Zeichenebene. Letztlich gilt: Katsinam sind Katsinam sind Katsinam ... Warum werden Katsinam überhaupt ausgestellt? Dass eine solche Frage berechtigt ist, mag folgende Episode belegen: Der der jetzigen Dauerausstellung im Linden-Museum vorangehende Ausstellungsaufbau wurde in den 1980er Jahren erarbeitet. Axel SchulzeThulin stellte die neue Konzeption 1981 im Jahrbuch des LindenMuseums vor. Er hatte sieben Kulturareale ausgewählt, begründete in „Tribus“ die Auswahl und gab einen Ausblick auf die Präsentation. Zum Südwesten schrieb er: „Schon seit einigen Jahren wird versucht, die Museumsbestände aus dem Südwesten Nordamerikas kontinuierlich zu ergänzen. Die ist besonders deshalb wichtig, weil diese Region (Arizona und New Mexico) heute die kulturell stärkste Einflußzone im indianischen Nordamerika ist. Doch auch in kulturhistorischer Beziehung muß diesem Gebiet großes Gewicht beigemessen werden, haben wir hier doch ein eindeutiges, bis zu 2000 Jahre altes Pflanzertum vorliegen. Vornehmlich Zeremonialobjekte (Kachina-Figuren, Gebetsstäbe), Körbe und Keramiken werden ausgestellt.“85
Schulze-Thulins Ausführungen zur Bedeutung des Südwestens können erklären, warum Körbe und Keramiken ausgestellt wurden: Sie belegen die Wirtschaftsweise und das Alter der Kulturen. Sie
84 Texttafel in der Hopi-Vitrine, Stand: Juli 2005. 85 Schulze-Thulin, in: Tribus 30, 1981, S. 88.
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Anschauungssache Religion können aber streng genommen nicht erklären, warum die KatsinaFiguren und die Gebetsstäbe ausgewählt wurden. Figuren und Stäbe illustrieren weder das hohe Alter der Kulturen noch deren heutigen Einfluss. (In dem, was man als „panindianische Identität“ bezeichnet, spielen Katsinam kaum eine Rolle, wohingegen sich andere religiöse Vorstellungen und Praktiken aus verschiedenen Gründen durchaus über Stammesgrenzen hinweg ausbreiten.) Dabei gibt es gute Gründe für die Präsentation von Katsina-Figuren und Gebetsstäben, zum Beispiel Sammlungsbestand und Besucherinteresse, die Schulze-Thulin jedoch nicht anführt.86 Meines Erachtens muss man in erster Linie die „Anmutungsqualität“ (Korff) der Katsinam (oder der Heiligenfiguren oder anderer religiosa) als Begründung für deren museale Präsentation betonen. Katsinam sind interessant anzusehen. Möglicherweise wird die Selbstreferentialität der Katsinam als religiöse Zeichen durch den für die Hopi-Inszenierung festgestellten Theorieverzicht noch deutlicher. Eine reduktionistische Religionstheorie würde der Erklärung der Symbole, wie sie in der Ausstellung abgedruckt ist, noch eine zweite Ebene hinzufügen und sie als Ausdruck für etwas außerhalb der Religion liegendes deuten. Da die Hopi-Religion in der Ausstellung nicht in dieser Weise theoretisch gedeutet wird, bleibt den Besuchern nur die Ebene der religiösen Symbole. Insofern kann man das Fortbestehen religiöser Symbolsysteme im Museum auf zweierlei Weise deuten: Entweder nimmt man an, die religiösen Symbolsysteme seien besonders „wirkmächtig“, und setzten sich auch in anderen Kontexten durch. Oder man erklärt ihr Bestehen mit dem Fehlen anderer Deutungssysteme.
86 Dr. Schierle vermutet als Gründe die Möglichkeit, durch sie eben noch ein anderes Thema zu erschließen, und die Tatsache, dass das Linden-Museum sonst nur über wenige Objekte der Hopi verfügt (Mail an die Verf. vom 26.06.2007.).
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8. ANSCHAUUNGSSACHE RELIGION In der Literatur werden, wie schon eingangs gezeigt, immer wieder Vergleiche zwischen „Religion“ und „Museum“1 gezogen. Meines Erachtens gehen Museen in der Präsentation von Religion/en weit über eine reine Wiederholung religiöser Inhalte oder die Übernahme religiöser Funktionen hinaus. Das Verhältnis zwischen beiden soll jedoch anhand der vorangegangenen Analysen noch einmal bestimmt werden. Außerdem werden zwei Themen diskutiert, die bei der musealen Präsentation von Religion/en besondere Beachtung verdienen: Erstens muss die Frage nach Authentizität für religiosa neu überdacht werden, und zweitens stößt man bei der musealen Präsentation von Religion/en besonders oft auf ethische Schwierigkeiten.
8.1 Religion im Museum oder Museum als Religion? Die vorangegangenen Analysen wurden unter der Annahme erstellt, dass Museen und religiöse Institutionen getrennte gesellschaftliche Systeme sind und unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Ginge man hingegen davon aus, dass Museen wie Religionen funktionieren, erschienen alle musealen Aussagen über Religion/en im neuen Licht. Die Bedeutungen der musealen Präsentationen, wie sie in der vorliegenden Arbeit aufgeschlüsselt und verbalisiert wurden, würden dann von weiteren Bedeutungen überlagert und verändert. Die Ausstellungsinhalte zum Beispiel wären beliebig, wenn der Ausstellungsbesuch nur dem Ziel diente, sich rituell gesellschaftlicher Werte zu vergewissern. Diese Sicht aufs Museum ist in den eingangs dargelegten Überlegungen von Carol Duncan, Krzysztof Pomian und anderen angelegt (s. Abschnitte 3.4.2 und 3.4.3). Ihr soll hier noch einmal nachgegangen werden, denn einige Strömungen der gegenwärtigen Museumsentwicklungen deuten darauf hin, dass Museen als rituelle Veranstaltungen und / oder als gesellschaftlich integrierend wirkende Kräfte tatsächlich sehr gefragt sind. Vier Punkte seien hierzu kurz angeführt: die Wertschätzung von Objekten aus bestimmten Museen, die Durchführung von Riten im Museum, das
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Beide Worte hier in der Singularform ohne fundamentum in re.
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Anschauungssache Religion Ereignis der „Langen Nacht der Museen“ und die Ausrichtung neuerer Religionsmuseen. Zum ersten Punkt: Museumsobjekte werden global ausgeliehen. In Sonderausstellungen ziehen sie ein großes Publikum an. Meines Erachtens wirken sie dann nicht nur qua Alter, kunsthistorischem oder Seltenheitswert als Publikumsmagneten, sondern auch als Schätze eines besonderen Museums. Die Anziehungskraft zum Beispiel von Gemälden, die aus dem Museum of Modern Art, New York, oder aus der Eremitage in St. Petersburg nach Deutschland ausgeliehen wurden, beruht möglicherweise nicht nur auf der (scheinbar) einmaligen Gelegenheit, sie anzuschauen, sondern wird durch ihren Herkunftsort gesteigert. Denn ein durchschnittliches kunsthistorisches Interesse lässt sich auch in nahe gelegenen Sammlungen befriedigen. Aber bedeutende Museen wirken selbst faszinierend. Und sie üben ihre Faszination auch durch ihre Sammlungsbestände aus. Wenn das Museum „Aura“ verleiht, welche „Macht“ wird ihm dann zugeschrieben? Zweitens nehmen Museen über Aufführungen, Konzerte oder Kurse zunehmend Handlungen ins Programm. Damit reagieren sie auf ein klassisches Manko und überwinden die Beschränkungen, die dem Medium „Ausstellung“ auferlegt sind. So kann man im Linden-Museum Stuttgart an einer japanischen Teezeremonie teilnehmen und sich Märchen erzählen lassen oder im Überseemuseum Bremen einem Gamelanorchester zuhören oder einen Qigong-Kurs besuchen und dabei Sinne stimulieren, die beim klassischen Museumsbesuch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Gleichzeitig steigt die emotionale, affektive Beteiligung der Besucherinnen und Besucher, werden aus Zuschauern Protagonisten, aus eher passivem Erleben wird ein aktives. Damit verstärkt sich die Nähe zu religiösen settings. Außerdem werden auch im engeren Sinne religiöse Riten in Museen durchgeführt, die allerdings vom normalen Publikumsverkehr oft getrennt sind: In der Cäcilienkirche des Museums Schnütgen zum Beispiel wird zwei Mal jährlich eine Messe gefeiert, was jedoch nicht im Museumsprogramm aufgeführt wird. Das Ethnologische Museum Berlin-Dahlem lud inzwischen mehrfach Hopi ein, um dort deponierte Tanzmasken aus ihrer Kultur zu besuchen. Die Hopi beteten mit den Masken und opferten ihnen Maismehl (in einer nicht-öffentlichen Zeremonie).2 Geweiht wurden, aus ganz anderen Überlegungen heraus, zahlreiche Altäre in der gleichnamigen Sonderausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf.3 Wird 2 3
Bolz, Peter und Hans-Ulrich Sanner: Indianer Nordamerikas. Die Sammlungen des Ethnologischen Museums Berlin. Berlin, 1999, S. 128. Martin, Jean Hubert: Altäre. Kunst zum Niederknien. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Kunstpalast Düsseldorf, 2001. OstfildernRuit, 2001; ders.: Das Museum – weltliches oder religiöses Heiligtum? In:
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Anschauungssache Religion durch solche Entwicklungen der Unterschied zwischen Museum und Ritus erst recht deutlich, oder schmilzt er? Drittens sei auf ein in den letzten Jahren erfundenes Großereignis hingewiesen, das sich im besonderen Maße dazu eignet, mit Durkheim interpretiert zu werden: „Die lange Nacht der Museen“, die inzwischen in zahlreichen Städten durchgeführt wird. Museen und Galerien haben bis spät in die Nacht hinein geöffnet und bieten Themenführungen, Konzerte, Workshops und andere Sonderveranstaltungen, meist auch gastronomischen Service. Die Stadtverwaltung unterstützt das Ereignis durch besondere Verbindungen im ÖPNV, und natürlich können auch andere Lokalitäten von diesen events profitieren. Die Besucherzahlen sind gigantisch: Stuttgart vermeldete 2006 über 28.000 Besucherinnen und Besucher. In Hamburg wurden für dasselbe Jahr über 30.000 Menschen erwartet. In München wurden in der „Langen Nacht“ 2005 allein in der Pinakothek der Moderne 10.000 Besucher gezählt. Was bringt die Leute dazu, sich nachts um zwölf noch indonesische Trommelklänge oder einen Vortrag über Schwarze Löcher anzuhören? Und dafür auch noch überfüllte Busse und Warteschlangen vor dem Eingang in Kauf zu nehmen? Mit Émile Durkheim ließe sich argumentieren, dass es gerade die Menschenmenge und das damit verbundene Erlebnis des Kollektivs ist, das die Attraktivität ausmacht. „Damit die Gesellschaft sich ihrer bewußt werden kann und dem Gefühl, das sie von sich hat, den nötigen Intensitätsgrad vermitteln kann, muß sie versammelt und konzentriert sein.“4 Der Erfolg der „langen Nächte der Museen“ wäre insofern ein Hinweis darauf, dass Museen tatsächlich die Gesellschaft als solche zusammenfassen und sie mit ihren zentralen Werten abbilden. In den „langen Nächten“ wird der dafür nötige „Gefühlsüberschwang“ (Durkheim) erzeugt. Die Menschen feiern in den Museen Kunst und Wissenschaft, sie huldigen den Ergebnissen der Forschung und der Kreativität, und damit sich selbst: ein religiöses Ereignis? Und viertens müssen in diesem Zusammenhang noch die eingangs vorgestellten neueren „Religionsmuseen“ in Taipei und in Glasgow (Abschnitte 2.4.3 und 2.4.4) genannt werden. In beiden werden insight views auf Religion/en präsentiert. In beiden finden sich im von den Kuratoren verantworteten Teil engagierte, affirmative Haltungen zum Thema Religion. Auch wenn dies möglicherweise den Intentionen der Kuratorinnen und Kuratoren nicht entspricht, schlagen die Ausstellungen jeweils einen normativen Blick auf Reli-
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Liebelt, Udo und Folker Metzger (Hg.): Vom Geist der Dinge. Das Museum als Forum für Ethik und Religion. Bielefeld, 2005, S. 39 – 50. Durkheim, Émile: Die elementaren Formen der religiösen Lebens. Frankfurt am Main, 1994, S. 565. (Les formes élémentaires de la vie religieuse, 1912.)
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Anschauungssache Religion gion/en vor, zum Beispiel in der Ablehnung von Fundamentalismen und religiös motivierter Gewalt. Damit können die Ausstellungen auch eine religiöse Wirkung ausüben. Wie weit gehen also die Parallelen zwischen Museen und Religionen?
8.2 Die museale Präsentation von Religion/en: Zusammenfassungen der Analysen Die Ausstellungsanalysen zu „Glaube und Bild“ in Kloster Asbach, zum Museum Schnütgen und zu den Präsentationen zu Nord- und Mittelamerika beziehungsweise Nordamerika im Übersee-Museum Bremen und im Linden-Museum Stuttgart zeigen, dass Museen mehr sind als die „Kultstätten der Moderne“ (Karl-Heinz Kohl).5 Sie zeigen und interpretieren Religionen, wählen einzelne ihrer Aspekte aus, stellen sie in Kontexte und zur Diskussion. Sie gehen in ihrer Erzählung über Religion/en über eine Wiederholung religiöser Inhalte oder eine Neuauflage religiöser Funktionen hinaus. Das sei für die vier Museen noch einmal zusammengefasst. Die Auswahl, die Vermittlungsarbeit und die Interpretation der Objekte und Themen im Museum durch die Kuratorinnen und Kuratoren sollte meines Erachtens ganz generell zugänglicher und transparenter gemacht werden. Das bedeutet nicht, dass „Neutralität“ im Blick auf die Ausstellungsthemen anzustreben sei, sondern es bedeutet im Gegenteil, die Subjektivität der Kuratorinnen und Kuratoren ernst zu nehmen und kenntlich zu machen, damit sich die Besucherinnen und Besucher dazu verhalten können. In der Nordamerika-Abteilung des Linden-Museums Stuttgart kann man Wege sehen, wie das möglich ist. Die ethnologische Vermittlungsarbeit wird darin verhältnismäßig deutlich. Gleichzeitig wird den Besucherinnen und Besuchern ein subjektiv gefärbtes, ein positives Bild der heutigen Native Americans vermittelt. Die Religion der Hopi wird den Besuchern emotional nahe gebracht und ausführlich beschrieben. Die genaue Deskription ersetzt dabei Deutungen und Theorien. Es geht darum, Religion als Teil einer fremden Kultur verständlich zu machen. Ethnographische Deskription, Wissensansammlung findet man auch in der Mittel- und Nordamerikaabteilung des Überseemuseums Bremen: Die Katsinatänze der Hopi werden dort mittels Objekten erklärt. Wichtige Bereiche ihrer Religion werden hier erforscht und den Besuchern vermittelt. Erklärungen sind wohl immer noch das wichtigste Mittel gegen Angst und Aggression vor Fremdem –
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Von der anderen Seite her betrachtet, gilt natürlich dasselbe: Auch Religionsgemeinschaften gehen über das hinaus, was Museen zu leisten im Stande sind.
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Anschauungssache Religion und gegen dessen romantische Überhöhung. Wie für das Überseemuseum auch gezeigt wurde, finden sich, im Unterschied zur Darstellung der Hopi, in der Präsentation zu den Tarahumara relativ wenig Erklärungen. Sie werden statt dessen in romantischer Weise als bessere Menschen präsentiert. Wenn man darin nicht den wissenschaftlichen Irrtum anmahnen will, kann man sagen: Die museale Präsentation einer Religion dient hier der Selbst- und Ideologiekritik. Wie sich aus dem Verhältnis zwischen christlicher Kunst und christlicher Religion eine vielschichtige Ausstellung ergibt, sieht man im Museum Schnütgen, Köln. Die Analysen zeigen, dass hier die religiösen und künstlerisch-kunsthistorischen Zuschreibungen an die Objekte in ein spannungsvolles Wechselspiel gebracht werden. Dadurch entsteht ein facettenreiches kulturhistorisches Panorama. Religion wird hier nicht isoliert, sondern in einen größeren Zusammenhang gestellt. Dieser Zugang zu Religion kann gerade im Museum gelingen, das es mit per se vieldeutigen Objekten zu tun hat: Wird der Polysemie der Dinge Raum gegeben, können viele Bereiche von Kultur dargestellt werden. Einem speziellen Ausschnitt von Religionen gilt die Ausstellung „Glaube und Bild“ des Bayerischen Nationalmuseums im Kloster Asbach. Hier zeigt sich in besonderem Maße der Einfluss wissenschaftlicher Theorie und die Tatsache, dass Museumsdinge auch unter gewandelten wissenschaftlichen Paradigmen interessant bleiben. Ganz im Gegensatz zur Darstellung im Museum Schnütgen wird hier ein Bereich von Religion aus seinen Kontexten herausgelöst und isoliert. Dadurch wird die Idee eines „religiösen Volksglaubens“ konstruiert. Da letztlich jede Wissenschaft ihren Gegenstand konstruiert, ist das nicht abwertend gemeint. Sie macht ihn dadurch auch zugänglich, erforschbar, diskutabel. Geht man davon aus, dass erstens religiöse Fragestellungen für viele Menschen wichtig bleiben, dass zweitens Wissen über das Christentum oft nicht (mehr?) Teil der familiären oder kirchlichen Sozialisation ist, sondern als Teil der europäischen Kultur anderweitig gelernt werden muss, und dass drittens das Wissen über andere Religionen in einer pluralen Gesellschaft immer wichtiger wird, kann man Museen nur empfehlen, sich des Themas „Religion“ öfter und aufmerksamer anzunehmen. Denn sie haben alle Voraussetzungen dafür, Religion/en spannend und ernsthaft zu präsentieren: Die Objekte, die Inszenierungsmittel und das Fachwissen. Freilich bleibt die Darstellung von Religion/en schwierig. Exemplarisch auf den Punkt gebracht und graphisch zusammengefasst finden sich die Probleme, die entstehen, wenn die Religionen fremder Zeiten und Völker ausgestellt werden sollen, bei Christoph Auf-
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Anschauungssache Religion farth.6 Ausgehend davon, dass die Kommunikationssituation einer Ausstellung durch „die zeitliche Distanz zwischen den Objekten und Situationen vor hundert Jahren und ihrer Präsentation in der Gegenwart in einer anderen Kultur“7 gegenüber einer einfachen Kommunikationssituation „verschoben“ ist, fragt er, wie man „dialogisch“ ausstellen könne, „das heißt die Stimme hörbar zu machen, die in den Quellen kaum und meist gefiltert durch die Kolonialherren beschrieben ist, und nun durch den Regisseur der Ausstellung erneut [...] präsentiert wird.“8 Diese Frage wird für jedes Ausstellungsprojekt neu gestellt und beantwortet werden müssen. Sie schließt ethische Fragen ein. Auf diese stößt man bei der Bearbeitung von Religion/en als Ausstellungsthemen besonders häufig. Sie sollen darum abschließend unter den Stichworten „Tabus und Geheimnisse“ noch einmal aufgegriffen werden. Davor soll noch ein zweiter Punkt diskutiert werden, der bei der Präsentation von Religion/en bislang noch nicht genügend bedacht wurde: die Frage nach der „Authentizität“ von religiösen Objekten.
8.3 Reliquien und Authentizität Ein oft betonter Wert von Museumsdingen ist ihre Authentizität. Authentizität ist aufs Engste mit der Dinghaftigkeit des Objektes verbunden, sie durchtränkt seine Physis. Ein authentisches Objekt ist „echt“ in Bezug auf sein Material oder sein Alter, seinen Herstellungsprozess oder seinen ursprünglichen Verwendungszusammenhang.9 Für viele Theoretiker, unter anderem Walter Benjamin,
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Auffarth, Christoph: Die Dschagga-Neger „aufgehoben“ zwischen Kolonialherrn und Missionar. Ein religionswissenschaftliches Ausstellungsprojekt zu Mission und Kolonialismus in Tanganjika um 1900. In: Bräunlein, Peter J. (Hg.): Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum. Bielefeld, 2004, S. 223 – 239. Auffarth, in: Bräunlein, 2004, S. 230. Ebd., S. 231. Das Wort „authentisch“, dessen griechische Wurzel den „(Selbst- oder Verwandten-)Mörder“ und später allgemeiner den „Urheber einer Tat“ bezeichnete, wurde über die lateinische Fassung in die modernen Sprachen übernommen (dt. 16. Jh., fr. 18. Jh.) Das kirchenlateinische „authenticus“ bezog sich auf Schriften und bezeichnete die „eigenhändige, urschriftliche“ Fassung im Gegensatz zur Kopie. So bekam „authenticus“ die Bedeutungen „echt, original, zuverlässig“ und „anerkannt, rechtmäßig, verbindlich“. Das Zettelchen, auf dem einer Reliquie ihre Echtheit beschieden wird, heißt „Authentik“. Immanuel Kant unterschied „authentisch“ und „doktrinal“. In Bezug auf die Bibelauslegung bezeichnete er philologische Echtheit in der Exegese mit „authentisch“, die sinngemäße Echtheit mit „doktrinal“. Der Begriff erfuhr weiteren Bedeutungszuwachs. Er wurde sowohl philoso-
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Anschauungssache Religion macht ihre Authentizität die Faszination der Museumsobjekte aus. Gottfried Korff spricht von der „Erinnerungsveranlassungsleistung“, die das authentische Objekt erbringt.10 Authentizität gilt manchen Autoren als ein Charakteristikum, das gerade in der Gegenwart gesucht ist. So schreibt etwa der Ausstellungsgestalter HG Merz: „Die Verehrung heiliger und profaner Reliquien war schon immer ein Grundstock für Sammlungen und damit auch für Museen. Der Drang nach Authentischem wird in Zeiten virtueller Überfütterung immer größer.“11 Und tatsächlich erwarten Museums- und Ausstellungsbesucher „echte“ Objekte: echtes Inkagold oder einen echten Rembrandt. Kopien, Repliken, Faksimiles sind (in der Regel) nur zweite Wahl.12 Aber gilt das auch für Objekte aus dem Bereich der Religionen? Welchen Stellenwert und welche Bedeutung hat hier „Authentizität“? Um das Problem zu verdeutlichen, stelle man sich ein Ausstellungsplakat vor, auf dem mit „authentischen Teilen der Hl. Barbara“ oder mit „echter Milch Mariens“ geworben würde, oder mit den echten Barthaaren Mohammeds, mit authentischen Voodoo-Puppen oder Leichen. Solche Ankündigungen würden wohl nicht nur Interesse wecken, sondern sicher auch Belustigung, Verärgerung, Skandale hervorrufen. Nicht, dass es diese Objekte nicht gäbe, oder dass sie dem Verständnis der jeweiligen Gläubigen zufolge nicht gesehen werden dürften – aber Museumskuratorinnen und Ausstellungsgestalter sowie ein bürgerliches Publikum würden über ihre phisch verwendet (z. B. in der Ästhetik Adornos; im Französischen wird Heideggers Terminus „eigentlich“ mit „authentique“ wiedergegeben), als auch in die Alltagssprache übernommen. Alltagssprachlich werden mit „authentisch“ heute nicht mehr nur Dinge bezeichnet, sondern auch Gefühle und Erlebnisse, Menschen und Lebensweisen. Mit diesem Gebrauch wird ein Teil des kirchenlateinischen Wortgehaltes abgespalten, der Bereich der Rechtmäßigkeit und Verbindlichkeit. Die Entscheidung darüber, was als „authentisch“ gilt, liegt bezogen auf Erlebnisse beim Individuum. Allgemein „anerkannt, rechtmäßig, verbindlich“ kann ein „authentisches“ Erlebnis nicht sein, es ist im Gegenteil höchst subjektiv und privat. Angaben aus: Röttgers, Kurt und Rainer Fabian: Authentisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hgg. von Joachim Ritter. Völlig neu bearb. Ausgabe des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Basel, 1971 – 2007; Krückeberg, Edzard: Authentizität. Ebd. 10 Korff, Gottfried: Zur Eigenart der Museumsdinge. In: Ders.: Deponieren – Exponieren. Hgg. von Eberspächer, Martina, Gudrun Marlene König und Bernd Tschofen, Köln, Weimar, Wien, 2002, S. 140 – 145, hier S. 143. 11 Merz, HG: Lost in Decoration. In: te Heesen, Anke und Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln, 2005, S. 37 – 43, hier S. 42. 12 Sofern diese Kopien nicht selbst schon altehrwürdige Stücke sind, die auf ihre Art wiederum authentisch sind – man denke an manche „Gypse“.
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Authentizität entweder nicht reden oder sie nicht ausstellen und ansehen. Das hätte einen Beigeschmack von Sensationslüsternheit und Voyeurismus. Meines Erachtens gilt in unserer Gesellschaft für alle religiösen Objekte, die nicht gleichzeitig als Kunst oder als Alltagsgegenstände13 wahrgenommen werden: Die Frage nach ihrer „Authentizität“ hat einen leichten haut goût. Moderne Theologen stellen sie ebensowenig wie moderne Skeptiker – schließlich lehrte Lessing, dass es nicht darauf ankäme, den echten Ring zu besitzen, sondern sich so zu verhalten, als ob man ihn besäße. Dass „Authentizität“ für religiosa nicht im selben Maße als Wert gilt wie für andere Objekte, hat wahrscheinlich einen entscheidenden Grund und zwei weitere, die den ersten Effekt verstärken. Entscheidend ist meines Erachtens, dass religiöse Objekte über zwei Arten von Echtheit / Authentizität verfügen: über eine materielle und eine immaterielle. Die materielle Authentizität ist der Überprüfung mit (natur-)wissenschaftlichen Methoden zugänglich. Alter, Herstellungsart oder Herkunftsort zum Beispiel von vielen Dingen kann man verhältnismäßig leicht feststellen. So lassen sich manche Objekte, beispielsweise Kunstwerke, als Fälschungen „entlarven“. Aber diese Seite ihrer Echtheit scheint für religiosa nicht entscheidend zu sein. Entscheidend ist vielmehr ihre immaterielle Echtheit, die von den Gläubigen erlebte Authentizität, die sich den naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden entzieht. Sie genügt meistens, um religiosa weiterhin zu verehren und im religiösen Umfeld auszustellen. Ein bekanntes Beispiel dafür bietet das Turiner Grabtuch, das trotz einer ziemlich gesicherten Datierung ins 13./14. Jahrhundert von vielen Gläubigen weiterhin als Leichentuch Christi angesehen wird.14 Von außen betrachtet fällt auf,
13 Hier wiederum ist Authentizität sehr wohl gefragt: Thailändische Buddhastatuen oder niederrheinische Madonnenfiguren sollen wie alle anderen Kunstwerke „echt“ sein. „Authentisch“ sollen auch Dinge sein, die so etwas wie „religiösen Alltag“ illustrieren sollen, also das Zubehör zu alltäglichen Ritualen oder Gebrauchsgegenstände mit geringem religiösen Bezug (Gebetsteppiche, Wohnungsschmuck und ähnliches). 14 1979 gab es die katholische Kirche erstmals zur naturwissenschaftlichen Untersuchung frei. Die damals durchgeführten Analysen der Pollen, Blutflecken und des Abdrucks selbst konnten alle als Beweis für seine Echtheit gedeutet werden: Die Pollen stimmten mit denjenigen des Vorderen Orients überein, das Blut war menschliches Blut und für den Abdruck wurden keine Ursachen gefunden, weder Pigmente noch Temperatureinwirkung. Ein Datierung durch die Radiokarbonbestimmung wurde damals noch nicht durchgeführt, weil man dazu noch zu viel Stoff benötigt hätte. Sie wurde 1988 mit Proben von wenigen Quadratmillimetern nachgeholt. Drei Laboratorien gaben übereinstimmend eine Entstehungszeit zwischen 1260
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dass beide Authentizitätsarten, die materielle und die immaterielle, oft vermischt werden oder versucht wird, sie gegeneinander auszuspielen. Dabei kann keine „Lesart“ über die andere triumphieren, da sie inkompatibel und inkommensurabel sind. Im Sinne von Karl-Heinz Kohl ist es das Kontingenzerlebnis, das ein Ding zum Heiligen Ding macht (Abschnitt 3.1.3). Genau dieses kann nicht so ohne weiteres ins Museum transportiert werden. Dieses Problem spiegelt sich in den Veränderungen im Gebrauch des Wortes „authentisch“: Da Authentizität zunehmend im individuellen Erleben und Empfinden lokalisiert wird, werden Objekte vor allem dann als authentisch gelten, wenn sie mit einem Erlebnis verbunden sind: das Digderidoo, das an den letzten Abenteuerurlaub erinnert, die Gugelhupfform, die man mit glücklichen Kindertagen verbindet und ähnliches. Solche Erinnerungen knüpfen sich freilich nicht an alle Museumsstücke, und schon gar nicht an Zeugnisse fremder Religionen. Manche Museen versuchen diese Lücke zwischen Objekten und Besuchern zu schließen, indem sie ihre Besucher auffordern, persönliche Gegenstände mitzubringen, indem sie die Besucher deren „Geschichten erzählen“ lassen, oder indem sie den Ausstellungsstücken Texte mit persönlichen Erinnerungen beigeben. Sowohl die Präsentation des St Mungo Museum of Religious Life and Art als auch die Sonderausstellung „Glaubenssache“15 arbeite(te)n mit ausführlichen, persönlichen Aussagen von Gläubigen, die den ausgestellten Objekten beigegeben sind. Damit wird „Authentizität“ durch Sprecher erzeugt, nicht in den Objekten selbst lokalisiert. Die Immaterialität religiöser Authentizität ist es also, die „Authentizität“ zu einem für religiöse Artefakte problematischen Wert macht. Dazu kommen aber noch zwei weitere Gründe: Das Thema Tod – dem die meisten Religionen große Beachtung schenken – unterliegt in unserer Gesellschaft gewissen Tabus. Tod und Sterben
und 1380 n. Chr. an. (Riederer, Josef: Echt und falsch. Schätze der Vergangenheit im Museumslabor. Berlin, Heidelberg, New York, 1994, S. 286f.) Wie man an vielen folgenden Veröffentlichungen und lebhaft auch in Internetforen zum Thema sieht, ist die Diskussion um die „Echtheit“ des Turiner Tuches aber damit nicht beendet. Weil sich die Untersuchungsergebnisse angeblich widersprechen, bleibt genug Platz für Spekulationen. Außerdem wurde das Tuch 1997 aus einem Feuer gerettet, was von manchen als göttlicher Fingerzeig für dessen Echtheit gedeutet wird. Siehe dazu beispielsweise http://www.grabtuchvonturin.de, http:// www. diewunderseite.de/auferstehung/index.htm oder den umfangreichen Eintrag in Wikipedia: http:// www.wikipedia.org. Stand jeweils: 22.04. 2008. 15 Stapferhaus Lenzburg (Hg.): Glaubenssache. Ein Buch für Gläubige und Ungläubige. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg, 2006. Baden, 2006.
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sind weitgehend aus dem öffentlichen Gesichtsfeld verbannt.16 Die Ausstellung von Leichen ist in der Regel heftig umstritten, selbst wenn die Leichen sehr alt sein sollten (altägyptische Mumien) oder noch als Lebende ihre Zustimmung gegeben haben („Körperwelten“Ausstellungen des „Plastinators“ Gunther von Hagens).17 Und schließlich wird die Authentizitätsfrage noch dadurch erschwert, dass sich die Eigenschaft „authentisch“ auch auf Handlungen und Wirkungen beziehen kann. Würde man nun zu Beispiel Voodoofiguren als „echt“ einstufen, wäre nicht klar, ob damit nur ihre Herkunft gemeint ist oder nicht auch ihre magische Wirksamkeit. Letzteres passt nicht zum Selbstverständnis der meisten Museen. Dass sich Museen mit der Authentizitätsfrage bei religiösen Objekte im allgemeinen zurückhalten, schließt freilich nicht aus, dass in manchen Ausstellungsprojekten genau damit gearbeitet wird. Für die Ausstellung „Altäre. Kunst zum Niederknien“ zum Beispiel wurden 66 verschiedene Altäre errichtet, die zum Teil von religiösen Spezialisten geweiht wurden.18 Der Ausstellungskurator, Jean-Hubert Martin, schreibt, dass dadurch die Altäre „als Orte der Gottheit mit sakraler Kraft aufgeladen“ worden seien.19 Was kann man damit bezwecken? Ein Mehrwert an Information ist für die Besucher nicht zu erwarten – nur die Gewissheit, „echte“ Altäre zu sehen. Dieses Konzept zeigt, dass auch bei religiösen Objekten das Interesse an Echtheit besteht.20 Kuratoren und Ausstellungsgestalter müssen jedoch gut überlegen, was „Authentizität“ für ihre jeweiligen religiosa heißen kann und soll.
16 Nur einige wenige Museen nehmen sich des Themas an, in Deutschland zum Beispiel das Museum für Sepulkralkultur in Kassel (http:// www.sepul kralkultur.de, Stand: 22.04.2008). 17 Hohe öffentliche Aufmerksamkeit erregte zuletzt der Künstler Gregor Schneider mit seinem Vorschlag, einen Toten oder Sterbenden im Museum auszustellen. Liebs, Holger: Da geht noch was. Der Tod als Kunstwerk. SZ vom 18.04.2008. 18 Martin, 2001 und ders., in: Liebelt/Metzger, 2005. Zur Ausstellung s. außerdem: Lanwerd, Susanne: Religion in Ausstellungen. In: Bräunlein, 2004, S. 77 – 96 und Ziese, Maren: Visuelle Glaubenssuche? Zwei Kunstausstellungen inszenieren Religion. In: vorgänge 1 / 2006, S. 71 – 80. 19 Martin, in: Liebelt/Metzger, 2005, S. 47. 20 Die Konzeption sagt außerdem viel über unser Verständnis von Religion aus, zum Beispiel dass wir den religiösen Spezialisten als die entscheidende, Authentizität verleihende Instanz betrachten, und nicht die Gläubigen, die den Altar benutzen, oder den Ort, an dem er „eigentlich“ stehen würde.
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8.4 Tabus und Geheimnisse Das Sammeln und Ausstellen von religiösen Artefakten führt auch auf einer sehr praktischen Ebene zu Schwierigkeiten: Wie sollen Museumsangestellte und Ausstellungsgestalter mit Geheimnissen und Tabus umgehen, mit denen manche Objekte umgeben sind? Wie sollen sie auf Vorstellungen fremder Völker reagieren, die nicht mit unseren Vorstellungen übereinstimmen? Vor allem Museumsethnologen setzen sich mit diesen Fragen auseinander, seitdem ethnische Minderheiten auf kulturellem Gebiet immer mehr Rechte erlangt haben. Die Museumspraxis wird durch diese Debatten teilweise grundlegend verändert, wie besonders in Nordamerika und Australien zu beobachten ist. In Deutschland agieren die Museen wesentlich unabhängiger von den Vertretern ethnischer Minderheiten. Diskutiert wird jedoch auch hier. Die schwierigsten Fragen betreffen immer religiöse Vorstellungen. Dabei sind die Probleme nicht neu. Teilweise sind sie eine Art „Neuauflage“ von Konflikten zwischen Religion und Staat, Religion und Wissenschaft, wie sie auch in der europäischen Geschichte auftraten und hier in langen Prozessen allmählich gelöst wurden. Im Museum werden diese Konflikte jetzt mit anderen Völkern wieder virulent und müssen im Zeitraffer bearbeitet werden. Da es sich dabei oft um Völker handelt, die lange Zeit von europäischen Staaten oder europäischstämmigen Einwanderern ausgebeutet wurden, können diese Fragen nicht frei von machtpolitischen Überlegungen bearbeitet werden. Sie lösen sich auch nicht durch den Hinweis darauf, dass es sich bei den Bemühungen um kulturellen Besitz oft um einen Stellvertreterkrieg handelt, wenn ethnische Minderheiten ihre wirtschaftlichen oder politischen Interessen nicht gegenüber staatlichen Institutionen oder Firmen durchsetzen können.21 Dass die einst nur beforschten Völker heute verstärkt selbst zu Wort kommen, ist ein Ergebnis verschiedener Entwicklungen seit den 1960er Jahren. Dazu zählt das Überdenken und Neudefinieren 21 „In Nordamerika sind in den letzten Jahrzehnten die ethnologischen Museen zunehmend zu einem Feld der ‚modernen Indianerkriege’ um Selbstbestimmung geworden. [...] Es hat sich einfach [...] gezeigt, dass im Kampf um die letztlich entscheidenden Landrechte die Regierung der USA als Kontrahent zu stark ist, als dass durchschlagende Erfolge zu erzielen wären, und dass gleichzeitig mit Forderungen nach der Rückgabe von Land nur wenig Sympathien bei der Mehrheitsbevölkerung zu gewinnen sind, die sich im ruhigen Besitz des einst geraubten Landes nicht stören lassen will. Anders ist das im Fall der ethnologischen Museen, von denen die Mehrheit der Mehrheitsbevölkerung ohnehin nicht weiß, wozu sie gut sind.“ Feest, Christian F.: Menschen, Masken und Moneten. Ethnologische Museen und Moral. In: Museumskunde 67, 2002, S. 82 – 91, hier S. 82.
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Anschauungssache Religion ihrer Fachtraditionen und Arbeitsweisen, dem sich die akademische Ethnologie unterzog. Dazu zählt auch, dass sich das Verhältnis zwischen ehemaligen Kolonialmächten und ehemals kolonisierten Staaten veränderte. Außerdem ist die Entstehung supranationaler Institutionen zu nennen, die sich um internationale Richtlinien zum Beispiel im Bereich des geistigen Eigentums bemühen und als Ansprechpartner für ethnische Minderheiten fungieren können.22 Die Entwicklungen im Einzelnen aufzuzeigen, führt zu weit. Daher sei hier nur skizzenhaft auf die USA und Kanada verwiesen: Hier kommt als weitere wichtige Entwicklung die Revitalisierung indianischer Kultur und das Erstarken des indianischen Selbstbewusstsein seit den 1960er Jahren hinzu (politisch aktiv zum Beispiel im American Indian Movement). Die ersten daraus resultierenden Veränderungen in der Museumsarbeit sind in die 1980er Jahren zu datieren, wie Michael Ames, Anthropologe und Museumsdirektor an der University of British Columbia, darstellt. Er nennt das Ausstellen in den Glaskästen der Museen das „Boxing in“ von Menschen und Kulturen: „What is significant is that by the 1980s, after one hundred years and more of boxing others, museums (and their academic counterparts) are only now beginning to hear what the objects of classification, especially [the] indigenous groups, have been saying all along: they want to be out of the boxes, they want
22 Damit sind drei Linien benannt, die aus unzähligen, teils untereinander verbundenen Einzelentwicklungen bestehen. Sie aufzuzählen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. In Bezug auf die supranationalen Institutionen sei nur kurz auf die UNESCO hingewiesen, deren Arbeit die Museen direkt beeinflusst. Die UNESCO bemüht sich seit 1970 um die Restitution von Kulturgütern. 1978 wurde das „Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in case of Illicit Appropriation“ in Paris gegründet. Diesem Komitee gehören 22 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen an, die alle zwei Jahre wechseln. Im Bereich der Restitution von Kulturgütern arbeitet die UNESCO eng mit dem ICOM zusammen, wodurch die Diskussionen auch direkt in die Museen getragen und auf nationaler Ebene weitergeführt wurden. Die deutsche Sektion des ICOM etwa lud 1979 zur Tagung „Das Museum und die Dritte Welt“ ein. Die Diskussionen um die Restitution von Kulturgütern sind keineswegs abgeschlossen. S. dazu: Bolz, Peter: Repatriation of Native American Cultural Objects – Confrontation or Cooperation? In: Zeitschrift für Ethnologie 118, 1993, S. 69 –77, hier S. 71; Kramer, Dieter: Alte Schätze und neue Weltsichten. Museen als Orientierungshilfe in der Globalisierung. Frankfurt am Main, 2005; sowie (etwas älter): Paczensky, Gert von und Herbert Ganslmayr: Nofretete will nach Hause. Europa – Schatzhaus der „Dritten Welt“. Gütersloh, 1984.
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Anschauungssache Religion their materials back, and they want control over their own history and its interpretation […].” 23
In den USA wurden inzwischen in vielen Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die ein Verfahren festlegten, wie mit archäologischen Funden und mit dem Besitz von menschlichen Knochen umzugehen sei.24 Auch auf föderaler Ebene wurden Gesetze verabschiedet, die die Museen betrafen. Hier ist zuerst der „National Museum of the American Indian Act“ (NMAIA) von 1989 zu nennen. In diesem Gesetz wurde das in diesem Zusammenhang wichtigste nationale Museumsprojekt beschlossen: Das neue „National Museum of the American Indian“ (NMAI) wurde inzwischen auf der Mall in Washington, D.C., als Teil der Smithsonian Institution errichtet und übernahm die Sammlungen der George Gustav Heye Foundation in New York.25 Alle staatlich anerkannten und mit staatlichen Mitteln geförderten Sammlungen außer der Smithsonian Institution betraf das zwei Jahre später verabschiedete Gesetz, der „Native American Graves Protection and Repatriation Act“ (NAGPRA). NAGPRA verpflichtet alle genannten Einrichtungen, ihre Bestände nach Objekten von besonderer religiöser Bedeutung und nach Objekten zweifelhafter Herkunft zu durchsuchen, Inventare zu erstellen und in Frage kom-
23 Ames, Michael: Cannibal Tours, Glass Boxes and the Politics of Interpretation. In: Pearce, Susan M. (Hg.): Interpreting Objects and Collections. London, New York, 1994, S. 98 – 106, hier S. 99. 24 Price, Marcus H.: Disputing the Dead. U.S. Law on Aboriginal Remains and Grave Goods. Columbia, 1991. In Nebraska beispielsweise wurde 1989 der „Unmarked Burial Sites and Skeletal Remains Protection Act“ verabschiedet. Auf den Weg gebracht hatte dieses Gesetz der Native American Rights Fund. Es bezieht sich auf bundesstaatliches und privates Eigentum und ermöglichte die vielbeachtete Rückgabe von 401 Skeletten, die sich im Besitz der Nebraska Historical Society befunden hatten. Die Knochen wurden zusammen mit rund 37.000 Objekten wieder begraben. Bolz, 1993, S. 71. 25 In New York verbleiben sollte das George Gustav Heye Center als zweiter Teil des NMAI. Es öffnete 1994 mit neuer Konzeption seine Tore neu; das „National Museum of the American Indian“ in Washington konnte 2005 eingeweiht werden. Gründungsdirektor der beiden Projekte ist der Jurist W. Richard West (Cheyenne). Vertreter der Natives waren bei der Konzeption der Ausstellungen maßgeblich beteiligt. Beide Häuser wurden nicht nur von, sondern auch für die Natives errichtet: „The museum is established for the benefit of the general public, but priority is given to Indian interests.” Price, 1991, S. 31. Gleichzeitig wurde im NMAIA festgelegt, wie die Smithsonian Institution mit Artefakten und Knochen der Native Americans, beziehungsweise mit Rückgabeforderungen umzugehen hat. Ebd.
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Anschauungssache Religion mende Stämme über die Objekte zu informieren. Auch das Rückgabeverfahren ist in NAGPRA geregelt.26 NAGPRA veränderte die u.s.-amerikanische Museumsarbeit nachhaltig. Obwohl es den Museen einige Rechte nimmt, scheint es inzwischen überwiegend positiv bewertet zu werden.27 Gleichwohl hat NAGPRA, so schreibt Michael F. Brown, Anthropologe in Harvard, einige „unanticipated effects“:28 Dank NAGPRA können mündliche Traditionen angeführt werden, um Ansprüche geltend zu machen. Genauer gesagt, plaziert es „religious beliefs and oral histories of Indian tribes on the same footing as science [...]”,29 was den ehemals schriftlosen Kulturen besser gerecht werden soll. Das Gesetz legt nicht fest, wie im Konfliktfall zu verfahren sei, welcher Geschichte dann Recht gegeben werden soll.30 Eine weitere Schwierigkeit kann entstehen, wenn geheime mündliche Traditionen vor Gericht offen gelegt werden sollen. Als Beispiel führt Brown hier einen Vorfall mit dem Sprecher des Hopi Cultural Preservation Office (HCPO), der die Forderung erhob, ausnahmslos alle Gegenstände als „heilig“ zurückzuerhalten, dem Gericht aber genauere Begründungen versagte.31 26 Price, 1991, S. 33. Privates Eigentum ist durch NAGPRA nicht erfasst. Bolz berichtet von einer Initiative in New York, auch Privatsammler zu Rückgaben zu bewegen. Bolz, 1993, S. 47. 27 „Although grumbling continues in some quarters, many curators today hail NAGPRA as one of the best things ever to have happened to American museums.“ Brown, Michael F.: Who owns Native Culture? Cambridge (Massachusetts), London, 2003, hier. S. 18. 28 Brown, 2003, S. 18. 29 Ebd., S. 19. 30 Brown führt als Beispiel die Konflikte zwischen Hopi und Navajos an, die sich beide als Nachfahren der Anasazi-Kultur (inzwischen „Ancestral Puebloans“ genannt) sehen, und daraus Landrechte ableiten und das Recht beziehungsweise Verbot, Katsinam herzustellen. Wissenschaftlich ist „erwiesen“, dass die Navajos erst in den Südwesten wanderten, als die AnasaziKultur schon untergegangen war, die Navajos jedoch pochen auf ihre Erzählungen. „Both Indian and government officials cite science, when it suits their purposes. Pueblo officials, for instance, insist, that there is no archaeological evidence linking Navajos to Ancestral Puebloans. When scientific perspectives deviate from native ones, however, science is denounced as ethnocentric.” Brown, 2003, S. 21. 31 „When challenged to show how utilitarian household objects could be considered sacred, Clyde Qotswisiuma of the HCPO replied, ‘Even something like a digging stick could have a ritual use, but we’re not about to say what it is.” Brown, 2003, S. 20f. Bei Brown ohne Quellenangabe. Schließlich hat NAGPRA vor allem den ganzen Stamm als möglichen Eigentümer im Auge. Familien oder einzelnen Künstlern können dadurch Nachteile erwachsen. Brown, 2003, S. 21 und Price, 1991, S. 14.
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Anschauungssache Religion Diese Entwicklung enthält einiges Konfliktpotenzial. Sie kann dazu führen, emische Sichtweisen über das zu stellen, was wir Wissenschaft nennen. Geht man davon aus, dass Wissenschaft etwas qualitativ anderes ist, als die Weltanschauungen indigener Völker, muss das nachdenklich stimmen. Folgende Unterpunkte lassen sich diskutieren: Erstens geht es manchmal ganz konkret um den Erhalt der Objekte: Aus der Diskussion um die Rückgabe von griechischen Antiken ist der Hinweis bekannt, dass sie ihr „Überleben“ allein den europäischen Sammlern und Museen zu verdanken hätten. Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen religiösen Artefakten aus vergänglichen Materialien in ethnologischen Sammlungen.32 Im Interesse des physischen Erhalts der Objekte wäre es natürlich am besten, man beließe sie in den Depots. Jede Nutzung, ob im Ritus oder in einer Ausstellung, schadet ihnen. In der Regel werden beide Interessen (Erhalt vs. Nutzung) gegeneinander abgewogen und es werden Lösungen gefunden. Zweitens geht es um Validität und Repräsentativität der jeweiligen Innensichten: Auch in den insight views finden sich Stilisierungen und Stereotypisierungen, die Konstruktion von Identität und invention of tradition. Ein bekannt gewordenes Beispiel dafür ist das Verbot, rituell verwendete Pfeifen der nordamerikanischen Indianer, die Kalumets, so aufzubewahren, dass der Pfeifenkopf auf dem Stiel sitzt. Beides dürfe nur für den Ritus zusammengesteckt werden. 32 Knochen, die jetzt zurückgegeben werden, werden teilweise erneut bestattet, und sind damit dem Verfall ausgesetzt. (Daher enthalten viele entsprechende U.S.-Gesetze Passus über die Erforschung.) Bei den Artefakten sorgen inzwischen die Stämme und die Museen sowie Forschungseinrichtungen wie die Smithsonian Institution dafür, dass sie sicher aufbewahrt werden, oft in neuen tribal museums. In anderen Fällen stimmen die tribal councils zu, Objekte im Museum zu belassen, und sie nur bei einzelnen Anlässen zu holen, oder sie dort zu besuchen. Einige Museen öffnen ihre Depots Vertretern der Natives auch dann, wenn die Besitzfrage nicht zur Diskussion steht, so zum Beispiel das Berliner Ethnologische Museum, das mehrfach von Hopi besucht wurde, die mit dort deponierten KatsinaMasken beteten und ihnen Maismehl opferten. Der Kurator der Sammlung schreibt zu den Zeremonialmasken: „Aus ethischen Gründen ist das Sammeln, Erforschen und Ausstellen dieser Objekte heute nicht mehr vertretbar. Für die Hopi sind es lebendige Wesen, die als ‚Freunde’ bezeichnet und mit heiligem Maismehl (hooma) rituell ernährt werden. Deshalb sind sie unter regulären Umständen unveräußerlich. Hopi-Gäste des Dahlemer Depots haben in den letzten Jahren mehrfach die dort aufbewahrten Kachinas, darunter auch einige alte Exemplare, besucht und mit Gebeten und hooma bedacht. Vielleicht ist dies ein tragbarer Kompromiss zwischen der Forderung nach Rückgabe und der musealen Profanisierung dieser Objekte.“ Bolz/Sanner, 1999, S. 128.
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Anschauungssache Religion Ethnologen weisen darauf hin, dass dieses Verbot früher in manchen Völkern galt, der jetzige Bezug auf alle Pfeifen aber in Richtung „erfundener Traditionen“ geht. Michael Ames beurteilt diesen Sachverhalt sehr pragmatisch. Da die Europäer und Euro-Americans über Jahrhunderte die Möglichkeit hatten, fremde Kulturen zu konstruieren, sollten die betroffenen Kulturen jetzt selbst zu Wort kommen dürfen, auch wenn sie ebenfalls konstruieren. Die akademische Ethnologie sieht er nur als eine weitere Reflexionsebene: „Indigenous peoples are equally prone to ‚inventing culture’, of course, and they should have equal rights to do so. One task for anthropology is to make that process [...] more visible, comprehensible and accessible to all the audiences.”33 Was logisch und gerecht klingt, kann trotzdem problematisch werden, sobald aus den Konstruktionen Handlungen und Rechte abgeleitet werden. Michael F. Brown berichtet von bizarren Fällen in den USA, zum Beispiel von der „Washitaw Nation“, die in Louisiana unter der afroamerikanischen Bevölkerung Anhänger fand: eine Glaubenssache, aus der für die Behörden Handlungsbedarf erwuchs, als die selbst ernannte Herrscherin der „Washitaw Nation“ begann, Geburtsurkunden, Führerscheine und Fahrzeugpapiere auszustellen und ihr Volk von den staatlichen Steuern „befreite“.34 Im Museum hat man es mit weniger spektakulären Fällen zu tun. Aber das Dilemma bleibt dasselbe, auch wenn es „nur“ um Kalumets geht. Der dritte Punkt betrifft die Bildungsaufgabe der Museen. Die Ethnologin Bettina E. Schmidt sieht in der Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen die wichtigste Aufgabe der Museen. Im George Gustav Heye Center, das in Folge von NMAIA mit einer neuen Konzeption versehen wurde, sieht sie diese Aufgabe nicht mehr erfüllt, denn jetzt, so Schmidt, würden Selbstaussagen der Natives die wissenschaftlichen Aussagen nicht mehr nur ergänzen, sondern ersetzen. So diene das ganze Museum nur der Selbstdarstellung einiger ethnischer Gruppen, nicht mehr der Vermittlung. Statt eine fremde Kultur zu erklären, werde die jeweils eigene Kultur möglichst unterhaltsam dargestellt. Da Unterhaltung ein in Nordamerika hoch geschätzter Wert für Ausstellungen ist, sieht Schmidt „zwei Tendenzen [...]: der gesteigerte Unterhaltungswert von Ausstellungen und die Grundhaltung, Auseinandersetzungen mit indigenen 33 Ames, in: Pearce, 1994, S. 105. 34 Verdiacee Tiari Washitaw-Turner Goston El-Bey beanspruchte Millionen Hektar Land im Süden, da sie und die Angehörigen ihres Volkes von Schwarzen abstammten, die schon vor Tausenden von Jahren am Unterlauf des Mississippi gelebt hätten. Dort hätten sie auch ihre heiligen Orte: Erdwälle, die nach archäologischen Erkenntnissen jedoch von den indianischen Ureinwohnern gebaut worden waren. Brown, 2003, S. 201f.
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Anschauungssache Religion Gruppen um jeden Preis zu vermeiden. Die Bildung, aber auch die Vermittlung zwischen den Kulturen, bleiben dabei auf der Strecke.“35 Der vierte Diskussionspunkt, der eng mit dem vorigen und dem folgenden verbunden ist, betrifft die Forschungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wie sollen Museumsangestellte mit Tabus und Geheimnissen umgehen, wie sollen sie mündliche Traditionen werten? Auch diese Fragen sind für Ethnologen keineswegs neu. Sie werden nur drängender, weil die Museen mehr Besucher haben als die meisten ethnologischen Veröffentlichungen Leser. Bettina E. Schmidt warnt davor, aus Gründen der political correctness die Wissenschaftlichkeit fahren zu lassen.36 Michael Ames schildert den Sachverhalt gelassener. Die Frage „If museums empower people to speak for themselves, will they consequently lose their own institutional or professional voices?“37 verneint er und schreibt, die Museumswissenschaftler sollten nicht aufhören zu sprechen, sondern nur aufhören, für andere zu sprechen. Statt Fakten über andere Kulturen zu verbreiten, sollten sie über das Wesen der Fakten aufklären. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf freie Forschung sieht er nicht gefährdet, wenn klug abgewogen wird: „The rights to privacy always need to be balanced with the rights to know.“38 Damit kommen wir zum letzten Problem, dem Gleichheitsgrundsatz. Religiöse Tabus schließen bestimmte Personenkreise von bestimmten Handlungen aus. In Nordamerika waren es oft Bünde, deren Mitgliedern die Ausübung bestimmter Rituale vorbehalten war. Außenstehenden war es verboten, bestimmte Dinge zu sehen, zu berühren oder zu wissen. Liest man entsprechende ethnographische Informationen über die Geheimbünde der Hopi oder über die Medizingesellschaften der Irokesen, stellt man sich die Hopi und die Irokesen als zweigeteilte Gesellschaften von Eingeweihten und Uneingeweihten vor, während man selbst eine Beobachterrolle einnimmt. Die neuen Entwicklungen holen uns jedoch aus dieser Beobachterrolle heraus und drängen uns in die Rolle von Beteiligten – und zwar meistens in die Rolle der Uneingeweihten: Wir dürfen Masken nicht sehen, Rituale nicht erleben und Geschichten nicht hören. Diese Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, die in religiösen Zusammenhangen nach wie vor meist akzeptiert wird,39 muss 35 36 37 38
Schmidt, in: Kraus/Münzel, 2003, S. 99. Ebd. Ames, in: Pearce, 1994, S. 104. Ebd., S. 105. Zum Begriff der cultural privacy siehe wiederum Brown, 2003. 39 Zum Beispiel Berufsverbote für Frauen in der Katholischen und den Orthodoxen Kirchen.
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Anschauungssache Religion für das Museum, sofern es sich als wissenschaftliche Institution versteht, gründlich durchdacht werden. Egalité, zuerst vor allem machtpolitisch verstanden, gilt im Museum als Ideal und Ziel. Obwohl man den Museen vorwerfen kann, de facto bürgerliche Angelegenheiten zu sein, und also auch nur partikulare Interessen zu bedienen, sollten sie seit rund 200 Jahren Genuss und Bildung für alle bieten. An diesem Anspruch wurden Museumskonzepte immer wieder gemessen und überdacht. Neuere Entwicklungen können dazu führen, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts von Teilen der Museen ausgeschlossen werden. KarlHeinz Kohl macht beispielsweise auf die Tjurunga-Sammlung des South Australian Museum in Adelaide aufmerksam. Diese heiligen und sehr geheimen Objekte der Aborigines werden dort in unterirdischen sogenannten „Sacred-Secret“-Räumen deponiert, zu denen außer initiierten Aborigines nur der Kustode Zugang hat. Dieser Kustode muss, um die Tjurungas betreuen zu dürfen, beschnitten und Familienvater sein.40 Auch in anderen australischen Museen müssen weibliche Angestellte Verbote akzeptieren.41 Es sei darauf hingewiesen, dass ethnische Minderheiten und die Bevölkerungen ehemaliger Kolonien tatsächlich immer noch vielfach von kultureller Teilhabe ausgeschlossen sind, von materieller Gleichberechtigung mit den Industrienationen ganz zu schweigen. Vielleicht kann man es also als „ausgleichende Gerechtigkeit“ bezeichnen, wenn sie uns einige wenige (!) Dinge vorenthalten. Kant’schen Imperativen hält dieses Argument natürlich nicht stand. Sobald individuelle Rechte stärker bedroht sind, muss man den Sachverhalt überdenken.42 Aber alle diese Schwierigkeiten können überwunden werden. Die Museen finden Lösungen im Dialog mit den ethnischen Minderheiten. „[...] progress will be built on small victories, innovative local solutions, and frequent compromise,” beschließt Michael F. Brown sein Buch „Who owns Native Culture?“43 Und innovative Lösungen finden sich auch in zahlreichen Museums- und Ausstellungsprojekten zum Thema Religion. Museale Präsentationen sind ein Medium mit besonderen Möglichkeiten, deren Nutzung zu „neuen Weltsichten“ führen kann, wie Dieter Kramer schreibt. Er nennt Museen gar eine „Orientierungshilfe in der Globalisierung“. Insbesondere bezieht er sich dabei auf kulturge40 Kohl, Karl-Heinz: Sakrale Objekte im Museum. In: Liebelt/Metzger, 2005, S. 29 – 38, hier S. 36. 41 Brown, 2003, S. 32. 42 Zur Frage nach der Bedrohung individueller Rechte bei gleichzeitiger Wahrung der cultural privacy s. Brown, 2003, S. 40ff. 43 Ebd., S. 252.
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Anschauungssache Religion schichtliche, archäologische und ethnographische Museen, die er „Kulturmuseen“ nennt. Deren Sammlungen beschreibt er als Wissensreservoire, aus denen die Benutzer für ihr eigenes Leben schöpfen können.44 Für Kramer geht es dabei nicht nur um Bildungsvergnügungen an verregneten Sonntagnachmittagen, sondern um Erfahrungen, die existenziellen Charakter annehmen können: „Kulturmuseen lassen ahnen, dass es anderswo andere Auffassungen von Menschsein und Geschichte gibt [...]. Sie können dazu anregen, über Grundfragen des Menschseins nachzudenken: Was bin ich, was will ich, was kann ich, was darf ich hoffen?“45 Zu den Herausforderungen der Gegenwart zählt in hohem Maße das Zusammenleben von verschiedenen Religionen. Museen haben die Mittel, um Religionen anschaulich und in ihrer Komplexität zu präsentieren. Sie haben die Möglichkeiten, Fragen und Antworten zu Religion/en zu präsentieren und Diskussionen anzuregen. Sie zu nutzen, ist angebracht.
44 „Diese Kulturmuseen [...], die fremden oder vergangenen Formen von Kultur und Lebensweise gewidmet sind, besitzen [...] ein außerordentliches Potenzial, wenn es um neue Orientierungen in der intensiv veränderten Welt von heute geht.“ Kramer, Dieter: Alte Schätze und neue Weltsichten. Museen als Orientierungshilfe in der Globalisierung. Frankfurt am Main, 2005, S. 18. 45 Ebd., S. 67. Die partikular-abendländische Prägung dieser Probleme und ihre Nähe zu religiösen Fragestellungen sei hier nur noch konstatiert, nicht mehr diskutiert.
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Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft Juni 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5
Thomas Hecken Pop Geschichte eines Konzepts 1955-2009 September 2009, 568 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-982-4
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Kultur- und Medientheorie Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Juni 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9
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Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Von Monstern und Menschen Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive November 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1235-6
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Dezember 2009, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8
Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht April 2009, 326 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0
Rebekka Ladewig, Annette Vowinckel (Hg.) Am Ball der Zeit Fußball als Ereignis und Faszinosum Juli 2009, 190 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1280-6
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien November 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Sacha Szabo (Hg.) Kultur des Vergnügens Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nicht-alltäglicher Orte Oktober 2009, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1070-3
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