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German Pages 275 [276] Year 2019
Texte der formalistischen Ästhetik
Texte der formalistischen Ästhetik Eine Quellenedition zu Johann Friedrich Herbart und zur herbartianischen Theorietradition Herausgegeben von
Ingo Stöckmann
De Gruyter
Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds. Kniha vychází za podpory Česko-německého fondu budoucnosti.
ISBN 978-3-11-058964-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061540-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061529-6
Library of Congress Control Number: 2019938422 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Friedrich Herbart, Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung als ein Cyklus von Vorübungen im Auffassen der Gestalten. 2. Aufl. Göttingen 1804, unpag. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt
Ingo Stöckmann Reine Form. Johann Friedrich Herbart und die formalistische Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Dokumente I. Begründung der formalen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (1813) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Robert Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft (1862) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Otakar Hostinský: Herbarts Ästhetik (1891) . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Alfred Ziechner: Herbarts Ästhetik (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II. Herbartianische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5. Johann Friedrich Herbart: Allgemeine praktische Philosophie (1808) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6. Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie (1816/21834) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7. Georg Eduard Bobrik: Freie Vorträge über Ästhetik (1834) . . 130 8. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Theorie der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 9. Friedrich Konrad Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik (1827) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 10. Georg Eduard Bobrik: Freie Vorträge über Ästhetik (1834) . . 145 11. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 12. Theodor Vogt: Form und Gehalt in der Aesthetik (1865) . . . . 157 13. Hermann Siebeck: Das Wesen der ästhetischen Anschauung (1875). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
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IV. Formale Analytik: Proto-Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 14. Johann Friedrich Herbart: Kurze Enzyklopaedie der Philosophie (1831) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 15. Friedrich Konrad Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik (1827) 173 16. Robert Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft (1862) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 17. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 18. Otakar Zich: Von den dichterischen Typen (1917/18) . . . . . . 182 19. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 20. Josef Durdík: Poetik als Ästhetik der Dichtkunst (1881) . . . . 208 21. Otakar Zich: Von den dichterischen Typen (1917/18) . . . . . . 211 V. Die Form und die Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 22. Otakar Hostinský: Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk (1877) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 23. Adolf Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893/7/81910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 24. Otakar Zich: Die ästhetische Wahrnehmung der Musik (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Text- und Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Ingo Stöckmann Reine Form. Johann Friedrich Herbart und die formalistische Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts I. In der Geschichte der philosophischen Ästhetik, wie sie in ihren Grundlagen auf Alexander Gottlieb Baumgarten und Kant zurückgeht, ist die an Johann Friedrich Herbart (1776–1841) anschließende Ästhetik weitgehend vergessen. Dabei haben das Wissenschaftsprogramm und die Ästhetik Herbarts im neunzehnten Jahrhundert einmal eine hegemoniale Bedeutung besessen, zumal in den Zentren des Herbartianismus Leipzig, Wien und Prag. In philosophiegeschichtlicher Hinsicht zählt Herbart zu den Autoren, die in ihrem Widerstand gegen die Systemphilosophie und das spekulative Denken die Vorherrschaft des Idealismus aufbrechen und an seine Stelle einen ‚realistischen‘ Welt- und Gegenstandsbezug setzen. Zudem leitet Herbart als Lehrstuhlnachfolger Kants in Königsberg eine einschneidende Neubewertung der kantischen Philosophie ein, die wertphilosophische und geltungslogische Theoriebestände ausbaut und diese folgerichtig in den Neukantianismus münden lässt. In ästhetikgeschichtlicher Hinsicht provoziert der Herbartianismus eine Trennungsgeschichte, die die Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts seit der Jahrhundertmitte prägt und bis in das zwanzigste Jahrhundert, bis Heidegger und Adorno, fortdauert: hier eine an Hegel anschließende gehaltsästhetische Tradition, die Formen – zumindest in der Wahrnehmung der Herbartianer – nur als geschichtlich relative Medien eines vorgängigen Gehalts verstehen kann; dort eine den absoluten Formenwert des Ästhetischen betonende formalistische Ästhetik, die weder spekulativ noch historisch verfährt, stattdessen einen ‚objektiven‘ Sachbezug etabliert und in vielerlei Hinsicht den Positionen von Formalismus und Strukturalismus vorarbeitet. Im Gegensatz zu seiner im neunzehnten Jahrhundert noch ungebrochenen Virulenz ist der Herbartianismus dem gegenwärtigen Wissenschaftsbewusstsein beinahe vollständig entrückt. Bedenkt man nur, dass die habsburgische Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Grundlagen seit der Gymnasialreform von 1848/49 herbartianisch geprägt
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war, jeder Autor von Rang auf die eine oder andere Weise mit herbartianischer Propädeutik und Psychologie in Berührung kam und kaum ein Berufungsverfahren in den philosophischen Fakultäten ohne die Beteiligung herbartianischer Netzwerke vonstattenging, wird deutlich, welche wissenschaftsgeschichtliche Zäsur der um 1900 erfolgende Untergang des Herbarti anismus bedeutet. Entsprechend unübersehbar und gegenwärtig noch nicht systematisch erschlossen ist die Wirkungsgeschichte Herbarts, wie sie sich in den Disziplinbildungsprozessen nach 1890 niederschlägt. Tatsächlich gehen von der Herbart-Schule aufgrund ihres methodologischen Universalismus vielfältige Impulse und Einflüsse aus.1 Immerhin reicht sie nach 1890 in die Entstehung der Kunstwissenschaft (Alois Riegl, Heinrich Wölfflin), die Lwow-Warschauer Schule, den amerikanischen Pragmatismus, die Theorie des Naturalismus und die literaturwissenschaftliche Formanalyse Oskar Walzels, dessen 1917 erschienene Wechselseitige Erhellung der Künste einen Nachklang entsprechender Überlegungen Robert Zimmermanns, des einflussreichsten herbartianischen Ästhetiktheoretikers, zur Konzeption einer ‚allgemeinen Kunstwissenschaft‘ darstellt. Der Prager Strukturalismus (Jan Mukařovský) geht in seinen Grundlagen, durchaus im Einklang mit seiner eigenen Gründungslegende, weniger auf den russischen Formalismus als vielmehr auf die tschechischen Herbartianer Josef Durdík, Otakar Hostinský und Otakar Zich zurück. Auch mit der Entstehung der modernen, einen ‚absoluten‘ Formbegriff favorisierenden Musikwissenschaft (Eduard Hanslick) verbinden den Herbartianismus gemeinsame formtheoretische Überzeugungen. Für die Völkerpsychologie der Herbartianer Lazarus und Steinthal, in deren Schlagschatten noch Simmels (formale) Soziologie entsteht, ist er grundlegend. Welche Bedeutung Herbarts Psychologie, die bereits die Mechanismen der ‚Hemmung‘ und ‚Verdrängung‘ von Vorstellungsgehalten kennt, für die Freudsche Psychoanalyse besitzt, ist seit längerem bekannt. Noch weitgehend unbekannt ist dagegen die Bedeutung Robert Zimmermanns für die Philosophie des Wiener Kreises. Georg Lukács’ Rezeption der Herbartschen Ästhetik im Kontext seines Heidelberger Frühwerks wiederum ist verlässlich erschlossen, wofür allerdings in erster Linie das seit Mitte der 1980er Jahre sichtbar belebte Interesse an der Entstehung des Neukantianismus verantwortlich zu machen ist. Zu den verblüffenden Befunden ist es zu zählen, dass die erst seit 2011 in einer deutschen Übersetzung vorliegende Vollständige Harmonielehre (1912/13) des tschechischen Komponisten Leoš Janáček auf der Wahrnehmungspsychologie Herbarts beruht. In Herbarts neben der
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Vgl. Andreas Hoeschen/Lothar L. Schneider (Hg.): Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert. Würzburg 2001; Rudolf Koschnitzke: Herbart und Herbartschule. Aalen 1988.
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Philosophie zweiten wichtigen Stammdomäne – der Pädagogik – dominiert das herbartianische Denken, bis ihm die Reformpädagogik ab 1890 ein Ende bereitet.
II. Die vorliegende Edition versammelt in Auswahl und nach konzeptuellen Gesichtspunkten geordnet Texte, die bis etwa 1920 in unterschiedlicher Weise eine formalistische Ästhetik im Sinne Herbarts begründet haben. Neben den einschlägigen Texten Herbarts, die mehrheitlich in Herbarts Königsberger Zeit fallen und zwischen 1808 und 1834 erscheinen, handelt es sich um Ästhetiken, Kunstlehren, Lehrbücher der Psychologie und philosophische Propädeutiken, die von Herbartianern wie Eduard Bobrik, Friedrich Konrad Griepenkerl, Hermann Siebeck, Theodor Vogt und Robert Zimmermann verfasst worden sind. Erstmals werden hier auch in Teilübersetzungen Ästhetiken der tschechischen Herbart-Linie berücksichtigt, die zwischen 1880 und 1920 erschienen sind und eine autarke, wenngleich mit der deutschen Herbart-Tradition korrespondierende Theoriebildung repräsentieren. Man muss angesichts des Vergessens, in das Herbarts Ästhetik getaucht ist, erneut an ihre Bedeutung erinnern. Ihre Relevanz liegt erstens in einer Neukonzeption des abendländischen Formdenkens. Die formalistische Ästhetik stellt den Versuch dar, den Formbegriff in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Formalismus Kants und seinen urteilslogischen Prämissen als theoretischen Grundlagenbegriff zurückzugewinnen, ‚die‘ Form aber in neuartiger Weise und unter Ausscheidung jeder Inhaltlichkeit in einem relational-differentiellen Paradigma zu verankern. Form ist bei Herbart eine Verhältnisform, in der Elemente, gleich welcher Art, in einer strukturierten Relation zueinander stehen. Damit werden die aus der Antike stammenden (Aristoteles), substantialistischen, hylemorphen und eidetischen Traditionen des Begriffs zurückgedrängt, gleichwohl bleibt dessen Grundlagenanspruch im Zuge seiner Funktionalisierung bewahrt. In diesem Umbau der theoretischen Fundamente hat die formale Ästhetik Anteil an einer epistemischen Grundorientierung der Moderne, die man als ‚formalistisch‘ bezeichnen kann. Formalistisch meint die Betonung von Strukturen, Relationen, Verfahren und Funktionen gegenüber Inhalten, Stoffen und Substanzen. Zu den Konsequenzen dieses frühen Formalismus gehört eine Analytik, die Werke bereits als distinkte Zeichenordnungen konzipiert und insofern auf Strukturexplorationen im Umgang mit ästhetischen und kulturellen Symbolsystemen zielt. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass die Formalismen und Strukturalismen des (frühen) zwanzigsten Jahrhunderts ‚nur‘ konzeptgeschichtliche Nachwirkungen der formalen Ästhetik sind, die deren Inst-
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rumentarien auf verändertem Methodenniveau aufnehmen und für die Beschreibung unterschiedlicher Zeichensysteme (Sprache, Literatur, Mythen etc.) neu konzeptualisieren.2 Neuartig ist zweitens, dass die formale Ästhetik, ebenfalls in Analogie zu ihrem differentiellen Formbegriff, nicht an bestimmte Gegenstandsbereiche gebunden ist, während sich ihr andere entzögen. ‚Form‘ impliziert keine Präferenz für diesen oder jenen Gegenstand. Ganz im Gegenteil weitet der ‚Formalismus‘ der formalen Ästhetik die Beschreibung ästhetischer Relationen zu einer allgemeinen Theorie formaler Strukturen, die ‚Theorie‘ gerade dadurch wird, dass sie von konkreten Gegenständen und Sachbereichen abstrahiert. Diese Abstraktionsebene ist gemeint, wenn im zwanzigsten Jahrhundert in den Geistes- und Kulturwissenschaften von ‚Theorie‘ die Rede ist: nicht mehr sektorale Theorien des Geistes, des Absoluten oder des Willens in den Blick zu nehmen, sondern eine Reflexionsweise, deren Gegenstände im Sinne eines spezifischen Realitätsausschnitts nicht fixiert sind. Wer, wie die herbartianische Ästhetik, Formen beobachtet, begründet in zweierlei Hinsicht Theorie: zum einen durch eine theoretische Grundlagenebene, die nicht disziplinär oder gegenstandsabhängig ausgeformt ist, gleichwohl disziplinäre Ausformungen ermöglicht; zum anderen insofern, als Formverhältnisse allgemeine Formverhältnisse sind, die auch kulturelle Sachverhalte beschreibbar machen, soweit sie als formale Sachverhalte angesprochen werden können. Für die gegenwärtigen Orientierungen der Geistes- und Kulturwissenschaften liegen in dieser Theoriestruktur zentrale Quellgründe; das gilt für die seit längerem zu beobachtende Wiederkehr des Formbegriffs, für die Historisierung von Theorie als ‚Theoriegeschichte‘ wie für die Frage nach der Genese von ‚Kulturwissenschaft‘. Umso verblüffender ist das wissenschaftsgeschichtliche Schicksal des Herbartianismus. Nach 1900 scheidet er aus der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung wie auch aus der weiteren Entwicklung der Ästhetik aus. Wie in vergleichbaren Fällen sind die intellektuellen Erosionen, die zum Vergessen des Herbartianismus geführt haben, ebenso diskret wie kompliziert. Entscheidend ist zunächst, dass der Herbartianismus ästhetik- und formtheoretisch durchgreifende Innovationen erarbeitet, diese Innovationen aber um 1900 in den Grundlagen anderer disziplinärer Zusammenhänge zerstreut. Mitbedacht werden müssen zudem Ursachen, die in der intellektuellen Faktur dieses frühen Formalismus selbst liegen. Zu ihr gehört ein tief verankerter Unwille, ‚Geschichte‘ zu denken. Eine Philosophie, die sich durch alle ihre Disziplinen (Logik, Metaphysik, Ethik, Ästhetik) hindurch als
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Vgl. Verf.: Form, Theorie, Methode. Die formale Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 90 (2016). H. 1, S. 57–108.
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„Bearbeitung“ von „Begriffen“3 versteht, erweist sich gegenüber jeder Geschichte als theoretisch unempfindlich. Auf in sich widerspruchsvolle Weise hat diese Geschichtsvergessenheit, die vor allem an Hegel und seinem ‚historischen Begreifen‘ polemisch geschult wurde, einerseits den Untergang der formalistischen Ästhetik verursacht, andererseits dazu geführt, Ästhetik erstmals als Exploration der Strukturlogik ästhetischer Artefakte denken zu können. Was der herbartianischen Ästhetik als Ganzer zum Verhängnis geworden ist, hat ihr ein Überleben in Form von Denkfiguren und methodologischen Prinzipien gesichert, die andere Theorieentwicklungen, vor allem die Strukturalismen des zwanzigsten Jahrhunderts, nur aufnehmen mussten. Nicht übersehen werden darf zudem, dass die Rezeptionsvoraussetzungen, die ein unmittelbares Verständnis der Herbart-Tradition ermöglichen würden, heute nicht mehr ohne Weiteres zur Verfügung stehen. Die Grundlagen der herbartianischen Philosophie sind hierfür zu eigenwillig und zielen zu entschieden am kanonischen philosophischen Ordnungswissen vorbei. Herbart verknüpft in seiner Philosophie noch wissenschaftliche Kompetenzen, die am Übergang von älteren Gelehrtentraditionen und philosophischmetaphysischen Grundlagenreflexionen einerseits und einem gegenüber Kant und dem Idealismus neuartigen Disziplinenbewusstsein andererseits angesiedelt sind. Man wird den erheblichen Erfolg und die für lange Zeit paradigmatische Bedeutung des herbartianischen Wissenschaftsprogramms auch in der Art und Weise sehen müssen, wie es Herbart gelingt, die philosophisch-begriffliche Reflexion auf die Ebene der Einzeldisziplinen und ihre Forschungspraxis durchgreifen zu lassen. Anders als im Idealismus steht die Philosophie damit der Entfaltung von einzelwissenschaftlicher Forschung – auch der empirischen – nicht länger abweisend gegenüber. Philosophie ist für Herbart, zumal aufgrund einer gegenüber Kant eigenwillig verschobenen Bestimmung der Metaphysik, dasjenige Denken, das die methodologischen Prinzipien für die Ebene der Einzelwissenschaften bereitstellt. Diese gegenläufigen, aber doch Kontakt haltenden und darin für den heutigen Blick unorthodoxen Wissenstendenzen stehen Herbart noch als Zusammenhang zur Verfügung, wandern aber im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts in die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen und ihre je eigenen Methodologien ein, ohne dass es noch ein übergreifendes, Geistes- und Naturwissenschaften integrierendes Wissenschaftsprogramm gäbe. Damit büßt die herbartianische Philosophie ihren ehemals Zusammenhang und fachliche Differenzierung zugleich prägenden Charakter ein.
3 Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813]. Textkritisch revidierte Ausgabe mit einer Einleitung hg. von Wolfhart Henckmann. Hamburg 1993, S. 29.
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Man kann diese für heutige Beobachter verblasste, gleichwohl virulente Wissenschaftsprogrammatik in besonderer Weise an einem der wissenschaftsgeschichtlich folgenreichsten Elemente der herbartianischen Philosophie studieren, an der Begründung der Psychologie. Zwar löst Herbart die Psychologie aus der langwährenden Umarmung durch die Philosophie und ihren vermögenspsychologischen Traditionen. Zugleich verpflichtet er sie aber als empirisch fundierte Wissenschaft methodologisch auf die Mathematik. Zudem rückt sie mit dem Argument an die Seite der musikalischen Tonlehre, dass die Ordnungen der Töne und die Prozesse des Psychischen in einer gleichartigen Relationalität verankert sind. Entsprechend erscheint die Musikästhetik als Psychologie der Tonverhältnisse und bildet in dieser ‚exacten‘ Wissenschaftlichkeit die „Prinzipienwissenschaft“ der allgemeinen Ästhetik.4 Noch 1873 verknüpft Robert Zimmermann in einem Vortrag Ueber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie herbartianische Philosophie, Psychologie und Hermann von Helmholtz’ seinerzeit bahnbrechende Einsichten in die Struktur der „Tonempfindungen“ (Die Lehre von den Tonempfindungen, 1863) auf eine Weise, die für die heutige Musikwissenschaft wohl nur noch schwer zu durchdringen sein dürfte. Für das weitere Schicksal der herbartianischen Philosophie spielt schließlich der Neukantianismus eine wichtige Rolle; auf seine eigene Weise hat er ihren Untergang mitbesiegelt, wenngleich das Verhältnis zwischen Herbartianismus und Neukantianismus nicht einsinnig ist.5 Einerseits weist die herbartianische Philosophie in vielem auf das neukantianische Denken voraus. Das gilt für den gemeinsamen Rückbezug auf Kant, der den Vorwurf mitführt, der Idealismus habe Kant verlesen; das gilt darüber hinaus für Herbarts Überzeugung, dass die Ästhetik neben der Ethik als Wertlehre zu begründen sei, was den werttheoretischen Grundlagen der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus (Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert) vorgearbeitet hat. Ausdrücklich hat Herbart die ästhetischen Urteile, die sich unmittelbar, ohne theoretische Begründung einstellen, als „Werthbestimmungen“6 bezeichnet. Andererseits hat der Neukantianismus seinen Rückgang auf Kant in einer autarken Gründungsgeschichte entfaltet – zu denken ist an Otto Liebmanns Kant und die Epigonen von 1865 –, die an Herbart 4
Vgl. Nadia Moro: Der musikalische Herbart. Harmonie und Kontrapunkt als Gegenstände der Psychologie und der Ästhetik. Würzburg 2007, S. 55. 5 Vgl. Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt a. M. 1993, S. 119. 6 Johann Friedrich Herbart: Kurze Enzyklopaedie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen [1831]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 9. Langensalza 1897. Neudruck Aalen 1964, S. 17–338, S. 80.
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vorbeiführt und dessen (mögliche) Vermittlerrolle in der neukantianischen Genealogie unsichtbar werden lässt. Nicht zuletzt der Vorbehalt gegen die Psychologie, wie er bei den Neukantianern Friedrich Albert Lange und Paul Natorp sichtbar ist, hat das herbartianische Denken im Kern getroffen. In der Legende vom Neubeginn der Philosophie im Namen Kants ist der Kantianer Herbart verblasst.
III. Johann Friedrich Herbart wurde 1776 in Oldenburg geboren und ist 1841 in Göttingen gestorben. Nach dem Besuch einer Lateinschule (1794) nimmt Herbart 1794 in Jena das Studium der Rechte auf, hört allerdings auch Philosophie bei Fichte. Zwischen 1797 und 1800 ist er als Hauslehrer in Bern tätig, setzt das Studium im Mai 1802 aber in Göttingen fort; hier erfolgen in kurzer Zeit Promotion und Habilitation. In Göttingen lehrt er zunächst als Privatdozent und wird 1805, nachdem er Rufe nach Heidelberg und Landshut ablehnt, zum außerordentlichen Professor ernannt. 1809 folgt Herbart einem Ruf an die Universität Königsberg auf den ehemaligen Lehrstuhl Kants; sein Vorgänger ist der unmittelbare Kant-Nachfolger Wilhelm Traugott Krug, der Königsberg im selben Jahr in Richtung Leipzig verlassen hatte. Herbarts Königsberger Verpflichtung verdankt sich nicht nur seinem Ruf als herausragender Pädagoge, sondern auch dem Umstand, dass das reformwillige Preußen nach 1807 massiv auf bildungspolitische Fragen Einfluss nimmt. In Königsberg verbringt Herbart 24 Jahre, hier entstehen, nachdem 1808 zunächst noch in Göttingen die Allgemeine Praktische Philosophie erschienen war, in dichter Folge Herbarts Hauptwerke: 1813 erscheint die erste Auflage des Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie, 1816 die erste Ausgabe des Lehrbuchs zur Psychologie, 1824/1825 die Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik in zwei Teilen, 1828/1829 die zweiteilige Allgemeine Metaphysik, nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre. 1831 erhofft sich Herbart eine Berufung auf den Berliner Lehrstuhl Hegels; da sie ausbleibt, nimmt er 1833 einen Ruf auf ein Ordinariat an der Universität Göttingen an. 1837 distanziert er sich als Dekan der Philosophischen Fakultät vom Protest der Göttinger Sieben. 1839/40 erscheinen die späten Psychologischen Untersuchungen, die Herbarts musiktheoretische Überlegungen zur Tonlehre enthalten, an die nach 1870 Carl Stumpf anknüpfen wird. Bemisst man den Begriff Ästhetik an der systematischen Qualität, den er bei Baumgarten, Kant, Schelling oder Hegel besitzt, hat man es bei Herbart mit einer eigentümlichen Leerstelle zu tun. Herbart hat keine Ästhetik geschrieben. Lediglich das 1813 erschienene Lehrbuch zur Einleitung in die Phi-
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losophie enthält einen ausführlicheren Abschnitt unter dem Titel Einleitung in die Ästhetik; alle anderen Äußerungen Herbarts zu Fragen der Kunst und der Ästhetik muss man aus seinem umfänglichen Gesamtwerk zusammensuchen; wichtig hierfür sind die Allgemeine Praktische Philosophie (1808), die Kurze Enzyklopädie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen (1831) und die Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik (1824/25), Herbarts Hauptwerk. Insofern ist die herbartianische Ästhetik das Produkt späterer Exegese, Ausschreibungen und Systematisierungen durch Dritte. Man wird diesem Umstand – dass die Ästhetik zwar ein gewichtiges Teilstück in Herbarts Philosophie bildet, aber keinen Niederschlag in einer systematischen Darstellung gefunden hat – wie der sie tragenden philosophischen Konzeption am ehesten gerecht, wenn man beides auf den problemgeschichtlichen Zusammenhang bezieht, den Kant und der deutsche Idealismus hinterlassen haben. Nur so ist Herbarts Versuch zu verstehen, die angestammten philosophischen Disziplinen – Metaphysik und Logik, Erkenntnistheorie und Psychologie, Ethik und Ästhetik – zu bewahren, ihren Zusammenhang aber anders zu denken als bisher. Ähnlich wie Kant steht auch Herbart vor einer epistemologischen Kluft, die die Philosophie zu schließen hat. Für Kant stellte sich bekanntlich das Problem, dass die transzendentale Vernunft in zwei Seiten zerfällt, die zunächst nicht miteinander vermittelbar sind: Einerseits ist sie empirische (Natur-)Wissenschaft (Kritik der reinen Vernunft, 1781) ohne jeden normativen bzw. postulierenden Charakter insofern sie auf jede Zweckbehauptung in der Natur verzichtet; andererseits ist sie als Ethik (Kritik der praktischen Vernunft, 1788) nicht-empirisch, weil es Freiheit als Erfahrung nicht durchgängig gibt. Freiheit kann auch nicht einfach behauptet werden, gleichwohl verfährt die Ethik normativ: Sie fordert die Willensfreiheit bzw. einen transempirischen Freiheitsbegriff als ihre notwendige Prämisse, um freies Handeln überhaupt denken zu können. Genau in diese Spaltung der transzendentalen Vernunft tritt die Ästhetik ein. Sie dient Kant dazu, die Kluft zwischen den beiden Erkenntnisweisen zu schließen, weil sie zwischen Natur und Freiheit, zwischen empirischer Naturerkenntnis und normativem Freiheitsbegriff eine Urteilskraft setzt, die die Form einer empirischen Tatsachenbeschreibung annimmt, aber in keinerlei begrifflicher Reflexion zum Abschluss gelangt. Das ästhetische Urteil kann seine Rationalität lediglich behaupten, indem es seine transzendentalen Bedingungen als allen und vor jeder Erfahrung a priori gegeben annimmt. Für Herbart stellt sich dieses Problem nicht mehr in derselben Weise; das verhindern schon der Vorbehalt gegen das idealistische Systemdenken und die gewachsene Bedeutung der empirischen Wissenschaften. Insofern erscheint Kants Problem im Licht einer Verschiebung, die bei Herbart einen pragmatisch-‚realistischen‘ Impuls besitzt und vor den Zwang führt, Kants
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transzendentalen Rationalismus und den neuartigen erfahrungswissenschaftlichen Empirismus aufeinander beziehen zu müssen. Ohne wechselseitige Vermittlung läuft der Rationalismus Gefahr, leer und ohne eine empirische Grundlage zu bleiben, während der Empirismus ohne eine begriffliche Reflexion bloße Erfahrungstatsachen schafft, die unverstanden bleiben. Herbarts Bestimmung der Philosophie als „Bearbeitung“ von „Begriffen“7 resultiert aus diesem Vermittlungsbedürfnis. Seit 1803, dem Jahr der in den Grundlagen nicht mehr veränderten Konzeption seiner Philosophie, differenziert Herbart zwischen Logik und Metaphysik als Bestandteilen der theoretischen Philosophie, während Ästhetik und Ethik den Bereich der praktischen Philosophie bilden. Dabei reagieren theoretische und praktische Philosophie auf ein gemeinsames Grundproblem. Dieses Grundproblem besteht darin, dass die in der (äußeren) Erfahrung gewonnenen Begriffe zwar vordergründig evident erscheinen, bei genauerer Prüfung aber widersprüchlich und inkohärent sind. Was sich der Erfahrung darbietet, wird zwar in Begriffen ausgesagt, ihr Zusammenhang aber ist ungesichert. Die Philosophie hat daher die Aufgabe, die in der Empirie gewonnenen Begriffe zu bearbeiten. „Bearbeitung“ bedeutet dabei: Umwandlung und Respezifikation dieser Begriffe. Logik, Metaphysik und Ästhetik bzw. Ethik bilden Modalitäten, mit denen die Widersprüche im Verhältnis der Begriffe wie im Verhältnis ihrer einzelnen Merkmale umgangen, verwandelt, eben: bearbeitet werden können, damit sie kohärente Aussagezusammenhänge bilden. Weil diese Bearbeitung den Begriffen und ihren Merkmalen Modalitäten ihrer Vermittlung und Verbindung wie ein Drittes hinzufügt, diese Modalitäten also zu den Begriffen als ihre Verhältnisformen hinzutreten, handelt es sich um „Ergänzungen“ (S. 51). Diese Ergänzungen werden in der Logik, der Metaphysik und der Ästhetik auf dreifache Art geschaffen; sie bilden analog zu „den Hauptarten der Bearbeitung der Begriffe […] die Hauptteile der Philosophie“ (S. 51). Grundlage dieser dreiteiligen Erkenntnistheorie ist die Logik. Sie ist Herbart zufolge rein formal aufzufassen, weil sie nicht die Ebene der begrifflichen Konstitution betrifft, sondern auf die Klärung der immer schon vorgefundenen Begriffe zielt. Ihrem formalen Charakter gemäß kann sie den Begriffen keinen Gehalt vorschreiben, sondern befindet lediglich über die Form von Aussagen. Darin trennt die Logik den Denkakt vom Gedachtem, so dass jedes Urteil von seinem Gehalt unterschieden und nach den Modalitäten der Verknüpfung von Denkinhalten gefragt werden kann. „In der Logik ist es notwendig, alles Psychologische zu ignorieren, weil hier lediglich diejenigen Formen der möglichen Verknüpfung des Gedachten sollen nachgewiesen werden, welche das Gedachte selbst nach seiner Beschaffen7
Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813] (wie Anm. 3), S. 29.
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heit zulässt“ (S. 82). Im Ergebnis fragt die Logik nach der Modalität, mit der Begriffe – darin ein Reflex der leibniz-wolffschen Schultradition – klarer und deutlicher bestimmt werden können; die Klarheit betrifft die Verhältnisse der Begriffe, die Deutlichkeit die Merkmale eines Begriffs in ihrem Verhältnis zueinander. Sind Begriffe in diesem Sinne klar und deutlich, ermöglichen sie gesicherte Urteile und Schlüsse. Für das Hauptstück der theoretischen Philosophie – die Metaphysik – hat das weitreichende Konsequenzen. Wenn die Metaphysik bislang einen transempirischen, der Erfahrung vorausliegenden Bereich begrifflicher Spekulation erfasst hatte, so erscheint sie bei Herbart als Erkenntnistheorie der äußeren Erfahrung, soweit diese in Begriffen erkannt und ausgesagt wird. Diese Begriffe werden geprüft, indem sie auf ihre Herkunft und ihre Geltung befragt werden. Auch wenn die Metaphysik im Unterschied zur Logik primär über den Inhalt von Urteilen befindet, besitzt auch sie einen formalen Charakter, insofern sie als „Methode der Beziehungen“ nicht nur „die Form, sondern auch die Materie“ (S. 357) der Begriffe verändert. Weil sich das vielfältig Gegebene, das erkannt werden soll, immer als inkohärent erweist, muss die Metaphysik die vorhandenen Begriffe so ergänzen, dass sie aufgrund ihrer Vollständigkeit und Widerspruchlosigkeit, d. h. als Konstruktionsleistung ihres begrifflichen Zusammenhangs, in die Lage versetzt werden, „das Reale“ darstellen zu können. Metaphysik ist daher die Erfahrung in der Form begrifflicher Bearbeitung, d. h. eine „Construction von Begriffen, welche, wenn sie vollständig wäre, das Reale darstellen würde, wie es dem, was geschieht und erscheint, zum Grunde liegt“8. Die Ästhetik schließlich betrifft diejenige Klasse von Begriffen, die, anders als in der Metaphysik, keine Ergänzung, sondern einen Zusatz erfordern. Dieser Zusatz besteht in einer Wertbestimmung des Verwerflichen und Vorzüglichen bzw. Missfallenden und Gefallenden. Formal betrachtet bilden diese Wertzusätze logische Prädikate, die zu den als logische Subjekte gedachten Objekten hinzutreten.9 Diese Objekte aber sind keine empirischen Objekte bzw. Objekte in der Summe ihrer empirischen Eigenschaften und Erscheinungsweisen, sondern Vorstellungen – ‚Vorstellungsbilder‘ – in der ästhetischen Apperzeption. Noch wesentlich in der Tradition Kants fungiert Ästhetik damit als Reflexion einer Klasse von Urteilen, deren Evidenz sich nicht durch die Synthese der Begriffe, sondern durch die Unmittelbarkeit 8
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Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Metaphysik, nebst den Anfaengen der philosophischen Naturlehre. Zweiter, systematischer Theil [1829]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 8. Langensalza 1893. Neudruck Aalen 1964, S. 12. Vgl. Herbart: Kurze Enzyklopaedie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen [1831] (wie Anm. 6), S. 80.
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einer spontanen Wertbesetzung herstellt. Ihre Prädikate bleiben ohne Begründung, so dass sich das ästhetische Urteil zwar kategorial vom theoretischen Urteil unterscheidet, nicht aber, so Herbarts eigenwillige Auffassung, vom moralischen. Auch das Feld des Sittlichen gehört, anders als in Kants Theorie der praktischen Vernunft, in die Klasse der Geschmacksurteile, weil beide – sittliche und ästhetische Urteile – ohne theoretische Begründung Verhältnisse als gefallend oder missfallend qualifizieren, gleich, ob es sich um ästhetische Verhältnisse im engeren Sinne oder um Relationen von Willensakten handelt. Der Grund für diese eigenwillige Neuordnung eines im weitesten Sinne ästhetischen Geltungsbereichs liegt in Herbarts Versuch, ästhetischen Urteilen Objektivität zu verleihen, ohne deren Geltungsquelle, wie Kant dies getan hatte, in den fragilen Universalismus eines „sensus communis aestheticus“10 zu verlegen. Auch die kantische Fiktion einer „Ähnlichkeit“ zwischen logischem und ästhetischem Urteil, aus der die quasi-objektive „Gültigkeit desselben für jedermann“ (S. 49) geschlossen werden kann, verfolgt Herbart nicht weiter. Was bei Kant die systematische Funktion besaß, das zwischen den Bereichen von empirischer Naturerkenntnis und normativem Freiheitsbegriff aufgebrochene epistemische Feld zu schließen, reformuliert Herbart geltungstheoretisch, indem er unter Bezug auf ein gegebenes Objekt sicherstellt, dass überhaupt etwas als etwas beurteilt werden kann. Nur insofern ein Gegenstand als objektiver Geltungsgrund gegeben ist, stellt sich ein ästhetisches Urteil ein. Es bildet keinerlei subjektiven Zusatz zum Objekt, sondern ist lediglich als Apprehension einer objektiven Gegenständlichkeit zu verstehen, die als Vorstellung realisiert ist. Herbart hat die Begründung der formalen Ästhetik noch in einer weiteren Hinsicht vollzogen. Auch dieser Begründungsstrang sucht die Auseinandersetzung mit Kant, trifft aber dessen Ethik und deren formalistische Voraussetzungen. Abstrakt besehen, besteht Kants ‚Formalismus‘ in der Überzeugung, dass eine Theorie der Sittlichkeit ihrer Materie, also Willensakten oder Handlungsantrieben, keinen substantiellen Gehalt vorschreiben kann. Sie bestimmt lediglich die Modalität, wie die Vermögen in ihrer Ausübung mit einer Materie bzw. dem Gehalt, auf den sich Willensakte richten, verfahren. Entsprechend kommt in Kants formaler Grundlegung der Ethik ein Vorbehalt gegen alle Positionen zum Ausdruck, die Sittlichkeit material interpretieren und Willenshandlungen auf Güter des Willens beziehen. Diesen ‚Materialismus‘ hat Kant in der Metaphysik der Sitten als den „sanften Tod“11 aller Moral bezeichnet und stattdessen die Freiheit der inneren 10 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790]. Hg. von Karl Vorländer, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 71990, S. 146. 11 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In: Ders.: Werkausgabe in 12 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 8. Zürich 1977, S. 506.
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Gesetzgebung gegenüber aller Inhaltlichkeit betont. Der Wille der praktischen Vernunft ist rein, weil die Ethik ein von allen stofflich-materialen Bestimmungen des Willens freies und nur durch eine generalisierte Norm angeleitetes Handlungsprinzip meint: „In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit.“12 Genau dieses Prinzip einer von den Objekten wie der empirischen Wirklichkeit der einzelnen Willensakte abstrahierenden Ethik erklärt Herbart auf dem Weg einer Analogie zum Fundament der formalen Ästhetik. Diese Analogie begründet nicht nur von einer anderen Seite her nochmals die prinzipielle Affinität von Ethik und Ästhetik. Sie macht auch den Umstand einsichtig, dass ein zunächst in der Ethik gewonnenes Prinzip formaler Abstraktion in die Ästhetik einwandert, um dort eine analoge Abstraktion von aller Materie zu leisten. Streng genommen wird die formale Bestimmung der Ethik im Feld der Ästhetik lediglich im Begriff der Form reformuliert und insofern ästhetisch zum Ausdruck gebracht. Diese Analogisierung besitzt für Herbart die Funktion, die in seinen Augen zentrale Schwäche der kantischen Ethik – ihre normative Leere – zu umgehen. „Kant, der diese Verlegenheit am besten unter allen empfand, schiebt […] die Form des Gebotes, die Allgemeinheit […] in die Stelle des Inhalts. […] Wer unbefangen ist, der erkennt die leere Stelle für leer.“13 Der Kantianer Herbart setzt sich damit dem Widerspruch aus, den formalen Impuls Kants zu teilen und ihn zugleich als „leere logische Hülse der blossen Gesetzlichkeit“14, d. h. als ‚formalistisch‘ zurückzuweisen. Herbart löst den Widerspruch dadurch, dass er an die Stelle einer abstrakten Normativität eine Verhältnismäßigkeit setzt, nach der die Vorstellungen der Willensakte in Verhältnisse eintreten und dadurch Anschaulichkeit gewinnen. Diese Anschaulichkeit ist aber keine Erscheinung eines Inhalts, der von seiner Form als seiner äußeren Gestalt abzuheben wäre. Vielmehr erscheint der Inhalt ausschließlich unter dem Aspekt seiner differentiellen Strukturiertheit, d. h. 12 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft [1788]. In: Ders.: Werkausgabe in 12 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 7. Zürich 1977, S. 144. 13 Johann Friedrich Herbart: Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung [21804]. In: Ders.: Johann Friedrich Herbarts Pädagogische Schriften. Mit Herbarts Biographie hg. von Dr. Fr. Bartholomäi. 6. Aufl., neu bearb. und mit erl. Anmerkungen vers. von E. von Sallwürk. Bd. 2. Langensalza 1896, S. 205. 14 Johann Friedrich Herbart: Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. Briefe an Prof. Griepenkerl [1836]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 10. Langensalza 1902. Neudruck Aalen 1964, S. 207–313, S. 254.
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hinsichtlich der Frage, wie der Gehalt als in der Vorstellung gegebener Zusammenhang seiner Verhältnisse rekonstruiert werden kann. Als Inhalte sind Inhalte ästhetisch gleichgültig; sie erscheinen ausschließlich in der Perspektive ihrer Organisationsweise, d. h. als Komplexionen ihrer strukturierten Elemente und elementaren Verhältnisse, wobei das Einzelne, solange es nicht in eine Relation eintritt, bedeutungslos ist. 1865 hat Robert Zimmermann auf diesen Gedanken die Konzeption der formalistischen Ästhetik im Ganzen aufgebaut: „Kein Einfaches gefällt oder missfällt ästhetisch. An dem Zusammengesetzten gefällt oder missfällt nur die Form. Die Theile außerhalb der Form, die Materie, sind ästhetisch gleichgiltig. In diesen drei Sätzen ruht die Grundlage einer Aesthetik als Formwissenschaft nicht nur, sondern als Wissenschaft überhaupt.“15
IV. Philosophie und Literaturwissenschaft neigen traditionell dazu, die Geschichte der philosophischen Ästhetik als eng geknüpften Zusammenhang ihrer Konzepte und Ideen zu denken. Sie geben ihrerseits Aufschluss über Einflüsse oder Diskontinuitäten, über Rezeptionsverhältnisse und philosophische Schulen. Das Band, das diese Geschichte durchzieht, ist das Band der Probleme, das sie eint, so dass sich im Wandel der Antworten, die die Denker und ihre Systeme geben, die Probleme, auf die sie sich beziehen, als Kontinuität erweisen. Problemgeschichtliche Rekonstruktionen dieser Art, die ihren Ursprung nicht zufällig im Neukantianismus, bei Wilhelm Windelband und Nicolai Hartmann, haben,16 unterhalten zur Geschichte insofern ein untergründig spannungsvolles Verhältnis, als sie die Geschichte ihres Gegenstands eigentlich methodologisch verfehlen. In der Dauerhaftigkeit ihrer Problemsubstanz ist die philosophische Problemgeschichte tendenziell ebenso geschichtslos, wie die Geschichte der Antworten, die das philosophische Denken auf die gestellten Probleme findet, auf ein sachliches Fundament bezogen bleibt, das Entwicklung und Wandel gerade nicht kennt. Auch die methodologischen Verfeinerungen, die Hartmann 1936 gegenüber Windelband geltend gemacht hatte, um den sachlichen „Problemgehalt“ der Probleme von der Divergenz historischer „Problemlagen“ und systembe-
15 Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft. Wien 1865, S. 21. 16 Vgl. Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 1928; Nicolai Hartmann: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte [1936]. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 2. Berlin 1957, S. 1–48.
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zogener „Problemfassungen“17 zu unterscheiden, haben hieran nichts geändert. Für die Geschichte der philosophischen Ästhetik erweisen sich problemgeschichtliche Zugriffe noch in einer anderen Hinsicht als zu voraussetzungsvoll. Ihrer ursprünglichen, gleichermaßen gegen Positivismus und Historismus gerichteten Intention gemäß, der Philosophie ihre „Geschichte als ihr eigenes und wesentliches Thema“18 wiederzugeben, richtet sich ihr Blick auf eine gewissermaßen ‚reine‘ Problemevolution, die außerhalb dieser Problemevolution liegende Gesichtspunkte nicht integrieren kann. Für den Herbartianismus ist diese ‚exoterische‘ Dimension allerdings entscheidend, weil seine ehemals paradigmatische Bedeutung auch auf wissenschaftsprogrammatischen und forschungspraktischen Aspekten beruht, die tief in der Institutionen- und Bildungsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts verankert sind. Herbartianische Ästhetik ist disziplinäre Ästhetik, d. h. zentraler Teil der in der Universität als akademische Disziplin gepflegten Philosophie. Alle Herbartianer im deutschen und habsburgischen Kulturraum bekleiden nach 1840 z. T. reputierte Lehrstühle und machen erfolgreiche universitäre Karrieren; Eduard Bobrik, Robert Zimmermann, Gustav Hartenstein oder Wilhelm Drobisch, prominente Herbartianer in Zürich, Wien und Leipzig, beenden ihre Karrieren als Universitätsrektoren und bestimmen insofern Forschungspraxis, Wissenschaftsprogrammatik und Berufungspolitik ihrer Heimatuniversitäten wesentlich mit. Fraglos ist schon die Ästhetik Hegels in einem spezifisch akademischen Milieu entstanden und ihr Autor ein universitärer Philosoph, der dem preußischen Staat als Beamter dient; überhaupt ist der deutsche Idealismus ohne die Erfindung der modernen Universität um 1800 bekanntlich nicht denkbar. Aber das herbartianische Denken ist so entschieden an das universitäre Milieu gebunden, dass es hier systematisch Filiationen ausbildet, Schulen gründet, eigene Publikationsforen schafft und bis in die Bildungsbürokratie vordringt. In den Zentren, in denen das herbartianische Wissenschaftsprogramm nach 1840 für mehrere Jahrzehnte dominiert, ist der Herbartianismus eine ganz handgreifliche universitätspolitische Macht mit stabilen Einflussnetzen.19 17 Hartmann: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte [1936] (wie Anm. 16), S. 4. 18 Hans-Georg Gadamer: Zur Systemidee in der Philosophie. In: Festschrift für Paul Natorp zum siebzigsten Geburtstage von Schülern und Freunden gewidmet. Berlin, Leipzig 1924, S. 55–75, S. 56. 19 Vgl. Eduard Winter: Frühliberalismus in der Donaumonarchie. Religiöse, nationale und wissenschaftliche Strömungen von 1790–1868. Berlin 1968, S. 167–169, S. 264–266, S. 304–306; Andreas Hoeschen/Lothar L. Schneider: Herbartianismus im 19. Jahrhundert. Umriss einer intellektuellen Konfiguration. In: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S. 447–477, S. 454–460.
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In Leipzig etabliert sich nach Herbarts Tod 1841 unter der Führung des Psychologen, Mathematikers und Logikers Wilhelm Drobisch (1802–1896) ein Zentrum der Herbart-Pflege, das in seiner dominant psychologischen und pädagogischen Ausrichtung, die durch Friedrich Heinrich H. Theodor Allihn (1811–1885), Otto Flügel (1842–1914), Gustav Hartenstein (1808– 1890), Ludwig Strümpell (1812–1899) und Tuiskon Ziller (1817–1882) vertreten wird, den Kontakt zu Herbart programmatisch bewahrt. 1861 gründet Ziller, ähnlich wie Herbart in Königsberg, ein pädagogisches Seminar. Ebenfalls in Leipzig entsteht die erste, auf 12 Bände bemessene Herbart-Ausgabe, die Hartenstein zwischen 1850 und 1852 herausgibt; eine zweite, 19 Bände umfassende Ausgabe, herausgegeben von Otto Flügel und Karl Kehrbach (1846–1905), erscheint zwischen 1887 und 1902. Mit der zwischen 1861 und 1875 zunächst in Leipzig, dann zwischen 1883 und 1896 in Langensalza angesiedelten Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren philosophischen Realismus, die z. T. in Zusammenarbeit von Flügel, Tuiskon und Ziller herausgegeben wird, entsteht das für viele Jahre einflussreichste Publikationsorgan des Herbartianismus. Zudem wird die Leipziger Gruppe von zahlreichen Lehrer-Schüler-Verhältnissen zusammengehalten; Drobisch ist Lehrer von Moritz Lazarus, neben Heymann Steinthal Begründer der Völkerpsychologie. Ähnliches gilt für Flügel, der von Carl Sebastian Cornelius (1819–1896), einem unmittelbaren Schüler Herbarts, beeinflusst wurde, oder Hartenstein, der in Leipzig ebenfalls Drobisch-Schüler war. Strümpell hatte 1833 in Königsberg bei Herbart selbst promoviert. Auch wenn die Leipziger Schule in ihren psychologischen Anteilen weniger klare Konturen besaß als in ihren pädagogischen Hauptlinien, weil sie in ihrer mathematisch-formalen Wissenschaftsprogrammatik den Naturwissenschaften nahestand und damit der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundts vorarbeitete, lässt sich doch ihr Grundimpuls erkennen. Er zielt darauf, einen gewissermaßen urkundlichen Herbart zu kanonisieren, der in einer seiner Stammdisziplinen, der Pädagogik, weiterwirkt und zugleich als Stifterfigur einer anti-idealistischen, ‚exacten‘ Philosophie zu betrachten ist, die, von Kant angestoßen, durch Herbart und seine Exegese manifest werden soll. Etwa zeitgleich hatte sich mit der 1831 erfolgten Berufung des Philosophen und späteren österreichischen Ministerialrats Franz Serafin Exner (1802–1853) an die Prager Universität auch in Prag eine Herbart-Schule eigenen Zuschnitts gebildet. Sie lebt von der disziplinären Breite, mit der der Herbartianismus in Prag vertreten wird, aber auch von der größeren konzeptuellen Heterogenität, die allein im Feld der Ästhetik deutliche Konfliktlinien erkennen lässt. Sie schlagen sich Mitte der 1860er Jahre zum Teil in öffentlichen Auseinandersetzungen nieder. Zum Prager Herbartianismus zählen der Philosoph und Ästhetiker Robert Zimmermann, der, ab 1850 zu-
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nächst Professor in Olmütz, ab 1852 für neun Jahre in Prag lehrt und eine ganze Schülergeneration – darunter den Kunstwissenschaftler Alois Riegl – beeinflusst, der Philosoph und Pädagoge Wilhelm Nahlowsky (1812–1885), der ab 1848 als Exners Assistent tätig ist, der Psychologe Wilhelm Fridolin Volkmann (1822–1877), der für die Fachgeschichte der Soziologie wichtige Sozialpsychologe Gustav Adolf Lindner (1828–1887) und die Philosophen František Čupr (1821–1882) und Mathias Amos Drbal (1829–1885). Eine genuin tschechische Linie repräsentieren Josef Durdík (1837–1902), Otakar Hostinský (1847–1910) und Otakar Zich (1879–1934). Ihr Zusammenhang ist eng geknüpft und geht ebenfalls genealogisch auf die Prager Wirkungsjahre Robert Zimmermanns zurück. So ist Josef Durdík, der als Philosoph über 30 Jahre an der Prager Universität wirkt, Schüler Zimmermanns, Durdík seinerseits Lehrer Hostinskýs, Otakar Zich wiederum nicht nur dessen Schüler, sondern zwischen 1924 und 1934 auch Jan Mukařovskýs Lehrer und Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Ästhetik an der Karls-Universität. In Prag hat der Herbartianismus seine institutionelle und wissenschaftsprogrammatische Bedeutung am reinsten entfaltet, und hier hat er im Gefolge der 1882 vollzogenen Universitätsspaltung und der Einrichtung von Doppellehrstühlen auch seine größte ästhetiktheoretische Wirkung besessen.20 Ende der 1890er Jahre gibt es für Beobachter keinen Zweifel, dass die Eigenständigkeit der tschechischen Ästhetik-Tradition im Herbartianismus zu suchen ist. 1898 betont ein Überblicksartikel zur tschechischen Philosophie, der auch den in Prag geborenen, zu diesem Zeitpunkt aber in Wien lebenden und auf Deutsch publizierenden Musiktheoretiker Eduard Hanslick mit einschließt, dass der „Stand ästhetischer Forschung […] sich kurz mit dem Hinweis bezeichnen [lässt], dass der Formismus bzw. die formale Ästhetik vorherrschte, und wenn wir über den Namen Hanslicks und Zimmermanns reflektieren könnten oder wollten, so könnten wir sicher mit vollem Recht von einer Prager ästhetischen Schule sprechen.“21 Schon 1875 hatte Josef Durdík Hostinský gegenüber betont, dass innerhalb der Genealogie „Herbart, Helmholz, Hanzlík [sic!], Hostinský […] die beiden letzten slavische Namen“22 seien.
20 Vgl. Karel Mácha: Die philosophischen Traditionen im Gebiet der vormaligen Tschechoslowakei. In: Helmut Dahm/Assen Ignatow (Hg.): Geschichte der philosophischen Traditionen Osteuropas. Darmstadt 1996, S. 389–447, S. 401. 21 Zit. nach Irina Wutsdorff: Die prästrukturalistische Theorielinie der tschechischen Ästhetik und die (deutschsprachige) Musikästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Steffen Höhne/Andreas Ohme (Hg.): Prozesse kultureller Integration und Desintegration. Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. München 2005, S. 309–332, S. 310. 22 Zit. nach Wutsdorff: Die prästrukturalistische Theorielinie der tschechischen Ästhetik und die (deutschsprachige) Musikästhetik des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 21), S. 310.
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Formulierungen dieser Art machen deutlich, dass der Prager Herbarti anismus Teil einer kulturellen Segregation ist, die das überlieferte geistige Gefüge des Vielvölkerstaats in Frage stellt; die Art und Weise, wie Hanslick – kein Herbartianer in einem genealogischen Sinn, aber dem Herbarti anismus in der Ablehnung eines semantisch-affektiven Musikbegriffs nahe stehend – für die Belange des sog. tschechischen ‚Formismus‘ Verwendung findet, spricht eine eindeutige Sprache. Immerhin lassen sich in Hanslicks 1854 erstmals erschienener Studie Vom Musikalisch-Schönen deutliche Spuren der formalistischen Ästhetik Zimmermanns nachweisen; spätere Auflagen der Schrift übernehmen Formulierungen aus Zimmermanns Rezension der Erstausgabe von 1854.23 Eine nachgerade kulturoffizielle Beglaubigung dieser tschechischen Eigentradition liefert der Herbartianer Durdík 1883 mit einem Aufsatz Über die Verbreitung der Herbart’schen Philosophie in Böhmen, der erstmals das Netzwerk der böhmischen Herbartianer in einem diachronen Aufriss entfaltet. In dieselbe Richtung weist Hostinskýs 1891 auf Deutsch publizierte Schrift Herbart’s Aesthetik in ihren grundlegenden Teilen quellenmässig dargestellt und erläutert; ein Versuch, Herbarts nicht geschriebene Ästhetik auf dem Weg einer Kompilation dennoch zu schreiben und Herbart im Rückgang auf die Quellen gegen seine Exegeten, vor allem gegen Zimmermann und seinen ‚abstrakten Formalismus‘, in Schutz zu nehmen. Kaum zu überschätzen ist der Umstand, dass sich noch Jan Mukařovský, der Begründer des Prager Strukturalismus, 1940 auf die „Wurzeln“24 der Herbartianischen Ästhetik bezieht. Blickt man auf diese wissenschaftspolitische Konstellation, dann erhärtet sich nicht nur die These, der Prager Herbartianismus habe eine eigene theoretische Identität besessen. Sie legt zudem den Gedanken nahe, dass die Entstehungsgeschichte des Prager Strukturalismus in einem anderen Licht zu schreiben ist als bisher. Jedenfalls müsste er aus seiner gewissermaßen ‚esoterischen‘ Formierungsgeschichte, die ihre Voraussetzungen traditionell nur in der Ausarbeitung des strukturalen Paradigmas selbst fundiert, gelöst und stattdessen stärker in die herbartianische Wissenschaftstradition und ihre Prager Eigengenealogie eingerückt werden. Tatsächlich ist Herbarts Ästhetik 1931 und 1932 Gegenstand einer Auseinandersetzung, die Mukařovský noch vor seiner 1937 erfolgten Berufung nach Prag mit ihr führt. Während Mukařovskýs Preßburger Vorlesungen dieser Jahre aber noch in missverständlicher Weise an Herbarts Stoff-Begriff Anstoß neh23 Vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Leipzig 111910 [11854]. 24 Jan Mukařovský: Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft [1940]. In: Ders.: Kapitel aus der Poetik. Aus dem Tschechischen übers. von Walter Schamschula. Frankfurt a. M. 1967, S. 7–33, S. 26.
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men,25 stellen sich seine Überlegungen über Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft drei Jahre später ausdrücklich auf die Fundamente der herbartianischen Ästhetik. „Die Entstehung der strukturellen Ästhetik“, schreibt Mukařovský 1940, „liegt zwar nicht weit zurück, doch muss man ihre Wurzeln in der ziemlich entfernten Vergangenheit der Ästhetik selbst auf der einen Seite suchen, ferner in der Linguistik als dem bisher am intensivsten bearbeiteten Zweig der Wissenschaft vom Zeichen. Unter den ästhetischen Vorläufern muss an erster Stelle die Ästhetik Herbarts genannt werden, deren tschechische Anhänger J. Durdík und O. Hostinský den Weg ebneten, auf dem sich in seinen letzten Arbeiten der Schüler Hostinskýs, O. Zich, der strukturalistischen Auffassung näherte […]. Im gegenwärtigen Stand ist die Entwicklung der strukturellen Ästhetik ein Phänomen der tschechischen Wissenschaft“.26 Selbstverständlich prägt diese Genealogie das Bemühen, den Prager Strukturalismus nicht als bloße Fortführung des russischen Formalismus erscheinen zu lassen. Zwar betont Mukařovský, dass die „heimische tschechische Entwicklung […] durch die Begegnung mit dem russischen Formalismus […] methodisch vertieft“ wurde. Aber „mit der Konzeption von der Struktur als Gesamtheit der Zeichen“ (S. 26) sei sie entschieden über ihn hinausgegangen. Insofern macht der Hinweis auf eine konzeptuell eigenständige Tradition aufmerksam, die ihre Grundlagen nicht nur in Axiomen der herbartianischen Ästhetik, sondern auch im herbartianischen Schulzusammenhang findet, in dessen historischer Linie Mukařovský den Strukturalismus sehen möchte.
V. Wien bildet neben Leipzig und Prag das dritte große Zentrum des Herbartianismus (ein viertes kann man mit Blick auf die Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal in Berlin sehen). Spätestens mit der 1861 erfolgten Berufung Robert Zimmermanns an die Wiener Universität hatte sich der Herbartianismus nicht nur als offizielle Staatsphilosophie im Habsburger Kulturraum etabliert.27 Dass Wien neben Prag eine entsprechende Schlüsselstellung gewann, macht zudem deutlich, dass das herbartianische 25 Vgl. Jan Mukařovský: Einführung in die Ästhetik. Universitätsvorlesung Breslau 1931/32. In: Wolfgang F. Schwarz (Hg.): Prager Schule. Kontinuität und Wandel. Frankfurt a. M. 1997, S. 7–42, S. 20. 26 Mukařovský: Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft [1940] (wie Anm. 24), S. 26. 27 Vgl. Georg Jäger: Die Herbartianische Ästhetik – ein österreichischer Weg in die Moderne. In: Herbert Zeman (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1830–1880). Graz 1982, S. 195–219.
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Wissenschaftsprogramm nach dem Muster einer travelling theory, d. h. eines Theorietransfers, zu verstehen ist, in dem theoretische Basisannahmen und Schlüsselkonzepte einerseits disziplinäre Grenzen queren bzw. verschiedene Disziplinen durchwandern, andererseits unterschiedliche kulturgeographische Räume besiedeln und Traditionslinien ausziehen. Es wäre allerdings zu einfach, diese Wanderbewegung der Theorie entlang der letztlich kontingenten Biographien einzelner Autoren nachzuvollziehen. Dass Zimmermann 1850 zunächst nach Olmütz, 1852 nach Prag, 1861 schließlich nach Wien berufen wird, um die dortige Professur bis zu seiner Emeritierung für ganze 35 Jahre innezuhaben, könnte diesen Gedanken nahelegen, er übersieht aber, dass biographische Konstellationen dieser Art auf gewissermaßen tieferliegenden Strukturen und Ermöglichungsbedingungen beruhen, die für den heutigen Blick tendenziell unsichtbar geworden sind. Dass die österreichische Universität so aufnahmefähig für das herbartianische Wissenschaftsprogramm gewesen ist, hängt erstens mit den sehr spezifischen Traditionen der österreichischen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte im neunzehnten Jahrhundert zusammen. Sie ist in bewusster Distanz zu den Verhältnissen in Deutschland von einer mindestens latenten Aktualität der leibnizschen Philosophie geprägt.28 Ihr logifizierter, nicht spekulativer Denkstil steht entschieden quer zum deutschen Idealismus, zumal der Hegel-Schule, die die philosophische Ästhetik in Deutschland über Hegel hinaus mit dessen Denken imprägniert – man denke an Friedrich Theodor Vischers sechsteilige Aesthetik von 1846 – und es noch bis in die 1890er Jahre in einer Vielzahl populärer Ästhetiken, zumal im Einflussbereich des bürgerlichen Realismus (Moritz Carrière, Julius Hermann von Kirchmann), kanonisiert. Präsent gehalten wird die leibnizsche Philosophie im Habsburger Raum durch den Prager Mathematiker, Theologen und Philosophen Bernard Bolzano (1781–1848), von dem wichtige Impulse noch für die Phänomenologie und die analytische Philosophie ausgehen.29 Robert Zimmermann ist bezeichnenderweise kein Herbart-, sondern Bolzano-Schüler, der mit dessen Denken vor allem durch die 1837 erschienene, vierbändige Wissenschaftslehre vertraut wird; die Synthese von ‚Bolzanismus‘ und Herbartianismus kann für die österreichische Geistesgeschichte nicht überschätzt werden. Dieser im Zeichen Bolzanos stehende österreichische ‚Sonderweg‘ verläuft phi28 Vgl. Peter Stachel: Leibniz, Bolzano und die Folgen. Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften. In: Karl Acham (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen. Wien 1999, S. 253–296. 29 Vgl. Heinrich Ganthaler/Otto Neumaier (Hg.): Bolzano und die österreichische Geistesgeschichte. Beiträge zur Bolzano-Forschung. Bd. 6. Sankt Augustin 1997; János Kristóf Nyíri (Hg.): Von Bolzano zu Wittgenstein. Zur Tradition der österreichischen Philosophie. Wien 1986.
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losophiegeschichtlich in zwei Richtungen: Nach der einen Seite führt er auf die Traditionen der aufklärerischen, an Leibniz und Wolff orientierten Schulphilosophie, also ins achtzehnte Jahrhundert, zurück, nach der anderen Seite mündet er unter dem Einfluss der positiven Wissenschaften in die empiristische Philosophie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die enge Verbindung von Bolzano und Herbart ruht insofern auf epistemologischen Affinitäten, die den Idealismus im Kern treffen; das betrifft eine Wissenschaftstheorie, die Geistes- und Naturwissenschaften methodologisch homogenisieren will; das betrifft den Rückgriff auf die Mathematik und die entschiedene Abwendung von der Geschichtsphilosophie; das betrifft aber auch die Arbeit am Begriff als Quellgrund gesicherter philosophischer Aussagen. Entsprechend versteht sich Bolzanos Wissenschaftslehre als Metatheorie aller Wissenschaften. Sie sollen in die Lage versetzen werden, ihre spezifischen Erkenntnisinteressen und disziplinären Grenzen durch eine geordnete Summe wahrer Sätze zu bestimmen und sie methodisch durch eine gewisse Menge axiomatisch fundierter Ableitungsregeln anzuleiten. Es ist vor dem Hintergrund dieser epistemologischen Konvergenzen von Herbartianismus und Bolzanismus eine nachrangige Frage, ob, wie behauptet worden ist, der Name Herbart nach 1850 auch die Funktion besaß, den seit seiner 1819 erfolgten Suspendierung in Verruf geratenen Namen Bolzanos zu camouflieren, so dass, wer Herbart sagte, eigentlich einen vom böhmischen Reformkatholizismus geprägten Theologen meinte, der das Metternichsche System in seinen sonntäglichen „Erbauungsreden“ und „Exhortationen“ offen kritisierte. Entscheidend ist, dass sich unterhalb der im Einzelnen divergenten Philosophien Herbarts und Bolzanos eine im Kuhnschen Sinne paradigmatische Ebene gemeinsamer wissenschaftstheoretischer und methodologischer Grundorientierungen ausbildete, die als Basisannahmen das Denken in der Donaumonarchie prägte. Seine gegen den Idealismus und Hegel gerichtete Identität hat sich im zwanzigsten Jahrhundert zu einem historiographischen Topos der habsburgischen Geistesgeschichte verdichtet, der im Kern auf das Schlagwort ‚Herbart statt Hegel‘ lautet. Noch der ab 1918 sich konstituierende Logische Empirismus hat sich – wie Otto Neuraths 1929 verfasstes Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung zeigt – in dieser Tradition gesehen.30 So zutreffend diese historiographische Konvention grundsätzlich ist, sie verdeckt, dass die Herbart-Rezeption in der Donaumonarchie – sieht man davon ab, dass Herbart sie nie betreten hat – ambivalent ist. Das Interesse an Herbart erklärt sich zweitens nämlich aus den politischen Konstellationen Österreichs nach etwa 1820. Für das restaurative politische Klima der Metternich-Ära erweist sich der Herbartianismus in seinem Verzicht auf die 30 Vgl. Rudolf Haller: Zur Historiographie der österreichischen Philosophie. In: Nyíri (Hg.): Von Bolzano zu Wittgenstein (wie Anm. 29), S. 41–53.
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begriffliche Spekulation als besonders affin – anders als der hochfliegende, metaphysisch geprägte Denkstil der Idealisten. Nur so sind die von Annäherung und punktueller Skepsis geprägten Beziehungen zwischen der Metternichschen Politik, die die weltanschauliche Nüchternheit des Herbarti anismus zu nutzen suchte, und der universitären Wissenschaft zu erklären, wie sie verstärkt seit dem Vormärz zu beobachten sind. Tatsächlich versucht der Metternichsche Staat nicht nur, am kulturellen Prestige der universitären Bildungseliten zu partizipieren, sondern auch ihren Bildungsauftrag für die eigenen Zwecke zu nutzen. Herbart scheint, nicht zuletzt aufgrund seines Verhaltens während der Göttinger Unruhen, einen Denkhabitus zu kultivieren, der die Metternichschen Ideale zumindest nicht in Frage stellt. Das ist die eine Seite. Die andere betrifft die spezifische Rezeptionsstruktur, die die Wahrnehmung Herbarts in Österreich prägt. Sie kann an den Rezensionen abgelesen werden, die der Berliner Privatdozent der Philosophie, Friedrich Eduard Beneke (1798–1854), zwischen 1822 und 1827 in den Wiener Jahrbüchern der Literatur publiziert.31 Die Jahrbücher sind zwischen 1819 und 1849 erschienen und dienten dazu, den Kontakt zu den Wissenschaften außerhalb Österreichs herzustellen; das erklärt den hohen Anteil an Rezensionen und Literaturberichten. Aufschlussreicherweise bespricht Beneke in der Hauptsache Herbarts psychologische Arbeiten, vor allem das 1816 erschienene Lehrbuch zur Psychologie und die 1824/1825 publizierte Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik in zwei Teilen. Dieser Fokus auf die Psychologie erklärt sich daraus, dass sie einerseits eine ‚realistische‘ Erfahrungswissenschaft darstellt, die von Hegels spekulativer Philosophie denkbar weit entfernt ist: Psychologie ist für Beneke schlicht Empirie. Andererseits ist sie durch den Umstand, dass sie von Herbart auf die Metaphysik gegründet wird, anfällig für eine begriffliche Spekulation, die die empirische Psychologie als „reine Auffassung der Erfahrung“32 gerade abzuweisen hätte. In den Augen Benekes läuft die herbartianische Psychologie in der Art und Weise, wie sie heuristische Bedingungen für die Metaphysik schafft, Gefahr, sich hinterrücks mit den Trübstoffen der Spekulation anzureichern und unter der Hand Idealismus zu betreiben. Im Ergebnis hat das zu einer selektiven Aneignung der herbartianischen Philosophie geführt. Sie kündigt den heuristischen Zusammenhang zwischen einer Psychologie, die die Herkunft der Begriffe aus den Strukturen der in31 Vgl. Barbara Otto: Der sezessionierte Herbart – Wissenschaftsrezeption im Staatsinteresse zur Zeit Metternichs. In: Michael Benedikt/Reinhold Knoll/Josef Rupitz (Hg.): Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Bd. 3: Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820–1880). Klausen-Leopoldsdorf, Ludwigsburg, Klausenburg 1995, S. 141–155. 32 Friedrich Eduard Beneke: Psychologie als Wissenschaft, von Johann Friedrich Herbart. Zweyter Theil. In: Wiener Jahrbücher der Literatur Bd. 37 (1827), S. 75–140, S. 126.
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neren Erfahrung aufklärt, und einer Metaphysik, die im beschriebenen Sinne eine „Ergänzung“ der in der Empirie gewonnenen Begriff betreibt, auf und verengt die herbartianische Psychologie auf eine rein empirische Disziplin. Alle Lehrbücher zur Psychologie, die in der Donaumonarchie im Anschluss an Herbart publiziert werden, stehen im Schlagschatten dieses gegen Herbart gerichteten Empirismus. Eine dritte Ursache für die Affinität des Herbartianismus zum habsburgischen Kulturraum liegt in seiner bildungsgeschichtlichen Entwicklung seit der Jahrhundertmitte. Zu den unmittelbaren Folgen der gescheiterten Revolution von 1848 zählt die Unterrichtsreform, die unter Leitung von Leo Graf von Thun-Hohenstein (1811–1888) 1848 begonnen wurde und bis 1853 andauerte.33 Sie ruht in den Grundlagen auf Franz Serafin Exners Entwurf der Grundzüge des öffentlichen Unterrichtswesens in Österreich, der in allen Details den Prinzipien der herbartianischen Wissenschaftspropädeutik folgte. Exner, zu dessen Prager Schülern Graf von Thun-Hohenstein zählte, hatte seine Prager Professur 1848 verlassen und war seit April des Jahres zunächst als wissenschaftlicher Beirat im Ministerium für öffentlichen Unterricht, ab September 1848 als Ministerialrat tätig. Gemeinsam mit Hermann Bonitz (1814–1888), der in Leipzig Philosophie und Philologie studiert hatte und 1849 auf Exners Vermittlung nach Wien berufen worden war, hatte Exner 1849 seinem Ministerium den Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Österreich vorgelegt. Beide Reformwerke haben die Strukturen geschaffen, die das österreichische Schul- und Bildungswesen in den Grundlagen bis heute prägen; dazu zählt die Maturitätsprüfung am Ende der Gymnasialausbildung, die die Voraussetzung für das Universitätsstudium bildet, sowie die Neuregelung der Gymnasiallehrerausbildung, für die eine gesonderte Lehramtsprüfung und ein Probejahr verpflichtend wurden. Insbesondere der erste Gesichtspunkt hat den bis 1848 dominant schulischen bzw. curricularen Charakter der österreichischen Universität verändert. Man muss dabei bedenken, dass die habsburgische Universität schwerpunktmäßig Lehraufgaben wahrgenommen hat und mit kleinen Kollegien ausgestattet war. Entsprechend waren die Studienfächer in aller Regel mit nur einer Pro33 Vgl. Rainer Leitner: Das Reformwerk von Exner, Bonitz und Thun: Das österreichische Gymnasium in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Kaderschmiede der Wiener Moderne. In: Sonja Rinofner-Kreidl (Hg.): Zwischen Orientierung und Krise. Zum Umgang mit Wissen in der Moderne. Wien, Köln, Weimar 1998, S. 17–70; Peter Stachel: Das österreichische Bildungssystem zwischen 1749 und 1918. In: Acham (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften (wie Anm. 28), S. 115–146; Johannes Feichtinger: Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen. Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938. Bielefeld 2010, S. 132–151; Christof Aichner/Brigitte Mazohl (Hg.): Die Thun-Hohenstein’schen Universitätsreformen 1849–1860. Konzeption – Umsetzung – Nachwirkungen. Wien, Köln, Weimar 2017.
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fessur vertreten, die alle Teildisziplinen des jeweiligen Fachs einschließlich ihrer Hilfswissenschaften zu betreuen hatte. Forschungsarbeit im engeren Sinne leisteten sie nur selten. Zudem war die heute übliche Differenzierung nach Denominationen, die ein Universitätsfach in historische und systematische Teilkompetenzen gliedert, noch kaum bekannt. Mit der Einführung der Maturitätsprüfung als Bedingung für ein Universitätsstudium war zumindest pro forma die Möglichkeit geschaffen, Universitäten im Unterschied zu Gymnasien am Grundsatz der Lehr- und Lernfreiheit und der Verbindung von Forschung und Lehre auszurichten. Damit waren sie deutlicher als zuvor als Forschungseinrichtungen konzipiert. Das Engagement der Herbartianer Exner und Bonitz im Kontext der Thunschen Schulreform markiert nicht nur den engen Zusammenschluss von Herbartianismus, Kultusbürokratie und Politik, der auch persönliche Filiationen nicht ausschloss. Dass Zimmermann ab 1880 für 15 Jahre die einzige ordentliche Professur im philosophischen Institut innehatte und als späterer Rektor der Wiener Universität wiederholt eigene Schüler auf vakante Professuren berief, verdankt sich auch der Tatsache, dass Zimmermanns Vater als Schulrat im Thunschen Ministerium tätig gewesen war. Gute Beziehungen zur Kultusbürokratie und zur ministerialen Politik zeichnen Herbartianer grundsätzlich aus. In der Hauptsache aber ist damit auch die tiefe herbartianische Prägung erklärt, die die habsburgische Geistesgeschichte bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein kennzeichnet. Dabei betrafen die Bildungsreformen vor allem das mittlere und höhere Schulsystem und hier insbesondere den Philosophieunterricht. Die bislang an den Universitäten abgehaltenen philosophischen Elementarkurse der ersten beiden Jahre wurden in die Kompetenz der gymnasialen Mittelschule überstellt, wenn auch Spurenelemente des alten akademischen Philosophiepensums in Form des Philosophicums erhalten blieben. Dies führte gemäß der Doppelerlasse vom 18. August 1848 und 22. Juli 1849 zu einem schrittweisen Übergang vom sechs- zum achtklassigen Gymnasium, in dem der Philosophieunterricht in die beiden Bereiche der formalen Logik und der empirischen Psychologie zerfiel. Diese empirische Psychologie war, abzüglich ihrer epistemologischen Fundierung, der Psychologie Herbarts verpflichtet und an die Vermittlung von Literatur und Literaturgeschichte gebunden. Getragen wurde das Exnersche Reformprogramm von den zahlreichen herbartianischen Lehrwerken und Propädeutiken; allein Robert Zimmermanns Philosophische Propädeutik, erstmals 1852 erschienen und u. a. ins Ungarische, Polnische und Niederländische übersetzt, blieb ein halbes Jahrhundert in Gebrauch und erlebte noch 1867 eine dritte Auflage. Auch Herbarts Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, 1813 erschienen, war bis 1900 im gymnasialen Unterricht präsent; noch 1912 erschien es in der vierten Auflage. All das erklärt, warum jeder österreichische Autor von Rang mit herbartianischer Propädeutik und
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Psychologie in Berührung kam.34 Sigmund Freud hat in seinem letzten Gymnasialjahr 1873 das Lehrbuch der empirischen Psychologie nach genetischer Methode des Herbartianers und Sozialpsychologen Gustav Adolf Lindner gelesen.
VI. Die Edition gliedert sich den systematischen Schwerpunkten und theoriegeschichtlichen Nachwirkungen der formalistischen Ästhetik gemäß in fünf Quellenteile. Grundlage sind Auszüge aus Herbarts Schriften, soweit sie sich für die Bedürfnisse einer Edition eignen bzw. ihrer Rezipierbarkeit keine allzu großen Hindernisse entgegensetzen. Herbarts Texte stellen gewisse Anforderungen an den Leser, schon weil sie gegenüber den Hauptlinien der heute als kanonisch geltenden Philosophie und Ästhetik eigenwillige Verschiebungen vornehmen. Herbart verwendet den Begriff der Ästhetik in einer Weise, die sich dem heutigen Verständnis des Begriffs ebenso entzieht wie die historische Gestalt, die ihm Kant und Hegel gegeben haben. Ergänzt werden die Texte Herbarts durch Schriften von Autoren, die auf Herbart folgen und explizit auf ihn Bezug nehmen. Weite Teile der herbartianischen Ästhetik stammen nicht von Herbart und sind das Produkt von Applikationen, die den Grundlagenanspruch der herbartianischen Philosophie systematisch in alle Bereiche der Kunst- und Ästhetiktheorie erweitern. Das erklärt, warum auch Texte zur Musiktheorie und zur Kunstwissenschaft ebenso wie zur Psychologie, die die Grundlage seiner Ästhetik bildet, aufgenommen wurden. Man muss, um den ästhetiktheoretischen Neuansatz der formalen Ästhetik (vgl. Quellenteil I.) ermessen zu können, daran erinnern, wie die große metaphysische Tradition von der Antike bis in das frühe neunzehnte Jahrhundert hinein den Formbegriff dachte. Form, griechisch morphé bzw. eidos, meint seit der Antike, insbesondere seit Aristoteles, die eine Seite einer substantiellen Verbindung, die die Form mit der hylé, dem Stoff, der Materie, der Substanz unterhält.35 Diese hylemorphe Form steht zu etwas, entweder zu einem Nicht-Geformten oder Formlosen, das der Form aber als etwas Substantielles vorausliegt, oder zu einem Geistigen, das durch die Form zu 34 Vgl. Wolfgang Neuber: Paradigmenwechsel in psychologischer Erkenntnistheorie und Literatur. Zur Ablöse des Herbartianismus in Österreich (Herbart und Hamerling, Freud und Schnitzler). In: Herbert Zeman (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980). Teil 1. Graz 1989, S. 441–474. 35 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur ersten Philosophie. Übers. und hg. von Franz F. Schwarz. Bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart 1984, 1041a–1041b, 1048a–1051b, 1069b–1070. Vgl. Art. Hylemorphismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1974, Sp. 1236–1237; Art. Form und Materie (Stoff). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1972, Sp. 977–1030.
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Existenz und Sichtbarkeit gebracht wird. ‚Formal‘ ist das bestimmende Element, ‚material‘ das bestimmte: Aus etwas, der Materie, wird durch etwas, die Form, ein Gegenstand hervorgebracht. Bei Aristoteles ist der Zusammenhang entelechisch gedacht, so dass in jeder Substanz bereits ein ihr immanentes Werdeziel verborgen ist. Hylé bezeichnet insofern die Voraussetzung des Entstehenden, die Grundlage (hypokeimenon), der die Möglichkeit, die Potenz, die Kraft innewohnt, konkretes Sein zu werden. Eidos, Idee im Sinne von Form bzw. Gestalt, ist demgegenüber als perfekte Realisation und Ziel dieses Werdens zu denken, als Energie, als das tätige Element des Seins, das etwas Seiendes hervorbringt, indem es ihm eine Gestalt verleiht. Charakteristisch für diese hylemorphe Konzeption ist die starke Sublimierung des Formbegriffs, der im Unterschied zur ontologischen Defizienz der Materie, ihrer Zeitlichkeit und metaphysischen Hinfälligkeit, als überzeitlich und ewig gedacht wird. Mit dieser noch (wenigstens in Spurenelementen) bis zu Hegel reichenden Formtradition bricht die formale Ästhetik. Sie tilgt alle metaphysischen und entelechischen Bedingungen der Form. Form ist in der formalen Ästhetik Formalismus, d. h. die Betonung funktionaler Beziehungen zwischen Elementen oder Verhältnisgliedern, wobei das Formale der Form nicht mehr mit Blick auf einen wie immer geformten Gehalt gedacht ist, sondern mit Blick auf die differentiellen Beziehungen, die an einem Gehalt hervortreten, ganz gleich, an welchem. Otto Flügel hat 1864 sehr prägnant von der „Gleichsetzung von Verhältnis und Form“36 gesprochen. Formen sind hier nicht mehr als Substanzen, etwa als anschauliche Gestaltwirklichkeit, zu denken, sondern als Verhältnis-Formen, die sich aus der funktionalen Bezogenheit der Elemente ergeben. Damit ist eine Funktionalisierung angesetzt, die nach Maßgabe von mindestens zwei, aber grundsätzlich auch mehreren Verhältnisgliedern Schönheit allein an die Funktionsbeziehungen von Relationen bindet, während das Einzelne, solange es nicht in eine Relation eintritt, bedeutungslos ist. „Alle einfachen Elemente“, hatte Herbart 1813 betont, „können nur Verhältnisse sein, denn das völlig Einfache ist gleichgültig.“37 Herbart hat die Ästhetik auf dieser Grundlage in die Belange der „allgemeinen Ästhetik“ und in das Feld verschiedener „Kunstlehren“ differenziert (vgl. Dok. 1). Während die allgemeine Ästhetik das Schöne und das Hässliche als ursprüngliche, d. h. theoretisch nicht begründungsnotwendige Evidenzen vom Nützlichen unterscheidet, sollen die gehalts- und gattungsspezifischen Kunstlehren eine „Anleitung geben, wie unter Voraussetzung eines bestimmten Stoffs, unter Verbindung ästhetischer Elemente, ein gefallendes 36 Otto Flügel: Über den formalen Charakter der Ästhetik. In: Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren philosophischen Realismus 4 (1864), S. 349–370, S. 350. 37 Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813] (wie Anm. 3), S. 143.
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Ganzes könne gebildet werden“ (S. 45). Diese Unterscheidung ist unter Herbartianern Konsens. Zimmermann greift sie 1865 auf, wertet die besonderen Kunstlehren allerdings als empirische „Wissenschaft vom Seienden“ ab, von der die „Aesthetik als Wissenschaft von den ästhetischen Formen nichts“38 zu wissen habe. Entsprechend unterscheidet Hostinský 1891 die allgemeine von der „angewandten“ Ästhetik, die die einzelnen Kunstlehren übergreift (vgl. Dok. 3). Noch die späte, 1908 erschienene Schrift Alfred Ziechners über Herbarts Ästhetik – ähnlich wie Hostinskýs Herbart-Studie von 1891 als Versuch zu verstehen, die Ästhetik Herbarts aus den Quellen zu kompilieren – folgt dieser Unterscheidung. Allerdings fundiert sie die Ästhetik als praktische Philosophie in den nicht-materialen, d. h. formalen Prinzipien des Willens und der Handlungsantriebe, die per Analogie auf die Sachverhalte der Ästhetik übertreten (vgl. Dok. 4). Die Bedeutung dieser je unterschiedlich begründeten „allgemeinen Ästhetik“ liegt nicht in dem, was sie der um 1810 noch jungen Tradition der philosophischen Ästhetik verdankt. Über der Differenz von Schönem und Nützlichem, von (ästhetischer) Autonomie und Heteronomie errichtet sich seit Karl Philipp Moritz und Kant beinahe jede Ästhetik bis ins zwanzigste Jahrhundert; darin ist sie Teil einer theoretischen Sprache über Kunst, die einmal verdächtigt worden war, ‚ästhetische Ideologie‘ zu sein. Neuartig und folgenreich ist an der Unterscheidung von allgemeiner Ästhetik und einzelnen, anwendungsbezogenen Kunstlehren vielmehr, dass die allgemeine Ästhetik auf einen endlichen Vorrat an „Musterformen“ zielt, die in den ästhetischen Objekten bzw. Werken realisiert sind. Tatsächlich zielt der Impuls der herbartianischen Ästhetik darauf, Grundformen bzw. „Grundverhältnisse“ zu „konstruieren“39 – Herbart nennt als „Aesthetische Grundformen“ etwa Rhythmus, Symmetrie, Parallelismus, gerade oder gekrümmte Linie etc.40 –, so dass jedes ästhetische Objekt als Anwendung bzw. Manifestation dieser Grundformen sichtbar wird. Eine derartige Neufundierung der Ästhetik in Methodologie, d. h. in der analytischen ‚Konstruktion‘ von zunächst ‚diskreten‘ Formzusammenhängen, bildet für Herbartianer die Hauptlinie, an der entlang die Auseinandersetzung mit der idealistischen Ästhetik verläuft. Robert Zimmermann setzt Hegel und die Hegel-Schule, namentlich Friedrich Theodor Vischer, wiederholt dem Vorwurf aus, lediglich das „historische Begreifen“ ästhe38 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. VIII. 39 Otakar Hostinský: Herbarts Ästhetik in ihren grundlegenden Teilen quellenmässig dargestellt und erläutert. Hamburg, Leipzig 1891, S. 15. 40 Vgl. Johann Friedrich Herbart: Zur Aesthetik/Aphorismen zur Einleitung in die Philosophie [1813]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 4. Langensalza 1897. Neudruck Aalen 1964, S. 598–610, S. 598.
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tischer Formen betrieben und „die Aesthetik“ damit in bloße „Kunst- und Literaturhistorie verwandelt“41 zu haben. Formen erscheinen bei Hegel und seinem Entwurf einer Weltgeschichte der Kunst in einer grundsätzlichen theoretischen Befangenheit, weil alle Formgestalten – die symbolische, die klassische und die romantische Kunstform – immer nur historische „Verkörperungsstufen“ (S. 254) in der Selbstrealisierung des absoluten Geistes darstellen, so dass umgekehrt keine Form je absolute Bedeutung gewinnen kann, da keine die Totalität des Weltgeistes jenseits seiner historischen Prozessualität repräsentieren kann. Fast symbolische Bedeutung für diese Differenz besitzt die Kontroverse, die sich von 1854, dem Jahr von Zimmermanns schon im Titel als antiidealistisch gekennzeichnetem Aufsatz Die spekulative Aesthetik und die Kritik42, bis 1887 zwischen Zimmermann und Vischer über die Frage des Symbols entzündet. 1858 führt Zimmermann im Rahmen des historischen Teils seiner Aesthetik erneut eine umfängliche Auseinandersetzung mit Hegel, 1862 erscheint Zimmermanns wichtigster Programmaufsatz Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft, in dem die idealistische Ästhetik nochmals im Ganzen, von Kant über Fichte und Schelling bis Hegel und Vischer, einer Kritik unterzogen und dem Verdacht ausgesetzt wird, der Idealismus sei seinem Wesen nach selbst ästhetisch (vgl. Dok. 2). Zimmermanns Überlegungen treiben darin auf ein Gründungsschisma zu, das die Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts in zwei Seiten zerteilt und das in dieser Form die ästhetische Theorie bis heute prägt. Gemeint ist die Differenz von Form- und Gehaltsästhetik. Sie wird von Zimmermann 1862 vor allem an Vischers Ästhetik abgelesen und auf den Vorwurf gegründet, der Idealismus verstricke sich in eine Amphibolie, weil er „[a]ller behaupteten Identität des Ideellen und Reellen zum Trotz“ die ideelle Seite primär setze, während die Seite der „Erscheinung“ bzw. der „Form“ allein „durch das Innewohnen des Höheren“ ihren „Werth“ (S. 250) empfange. In der Konsequenz besitzt das Schöne einen doppelten und doppeldeutigen, aber logisch unreinen Ursprung: Einerseits ist es das Prädikat eines substantiellen Gehalts bzw. eines „ethisch Werthvollen“, das Formen nur „leihweise“, als bloße „Erscheinung“, in Anspruch nimmt; andererseits besitzt es als „adäquate Erscheinung“ eines ideellen Gehalts eine rein „ästhetische“ Herkunft, weil es die Leistung der Form, „ohne Rücksicht auf das, was darin erscheint“, als „selbstständigen Formenwerth“ (S. 250) hervorhebt.
41 Robert Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft [1862]. In: Ders.: Studien und Kritiken zur Philosophie und Ästhetik. Bd. 1. Wien 1870, S. 223–265, S. 254. 42 Vgl. Robert Zimmermann: Die spekulative Aesthetik und die Kritik. In: Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst. Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener Zeitung Nr. 6. 6. Februar 1854, S. 37–40.
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VII. „Wer sich mit der Geschichte der Psychologie beschäftigt“, schreibt Theodor Ziehen im Jahr 1900, „wird sich etwa ebenso eingehend mit Herbart beschäftigen müssen wie die Geschichte der Physik mit Newton oder die Geschichte der Botanik mit Linné.“43 Schenkt man diesem Urteil Glauben, dann ist Herbart um 1900 in den Rang eines Klassikers eingetreten, der seine Bedeutung dem Umstand verdankt, die Psychologie als Fachwissenschaft begründet zu haben. Mag diese Perspektive auf Herbart auch rein historiographischen Interessen folgen, sie verweist auf einen Klärungsprozess, der Ordnung und Eindeutigkeit bzgl. der verschlungenen Wege der psychologischen Fachgeschichte im neunzehnten Jahrhundert schafft. Man kann Herbarts Psychologie nämlich in recht unterschiedliche Traditionslinien stellen. Einerseits setzt sie fort, was in der Philosophie Kants marginal geblieben bzw. als bloß anthropologisch verdächtigt worden war; andererseits führt sie hinter Kant zurück, indem sie die Impulse der spätaufklärerischen Anthropologie bzw. der erfahrungsseelenkundlichen Psychologie aufgreift und im neunzehnten Jahrhundert fortführt.44 Einerseits wird man in Herbart tatsächlich den Gründer einer neuartigen ‚philosophischen Psychologie‘ sehen müssen,45 die das psychologische Denken aus der Vormundschaft der Philosophie befreit und ihre überlieferten Problemgehalte – vor allem die Frage, wie die Einheit des Bewusstseins nach dem Ende der apriorischen Garantien Kants zu denken ist – an der Seite der Experimentalpsychologie Gustav Theodor Fechners und der Psychophysik Wilhelm Wundts weiterführt; andererseits kann man das antizipatorische Potential Herbarts für die Freudsche Tiefenpsychologie in den Blick nehmen und Herbart damit gerade an den Hauptlinien der Psychologie im neunzehnten Jahrhundert vorbeiführen.46 Nicht zuletzt stößt die herbartianische Psychologie Entwicklungen an, die im eigenen theoretischen Paradigma fundiert sind, aber sich disziplinär verselbstständigen; das gilt für die formale, orthodox herbartianische Psychologie Wilhelm Drobischs, für die (Ton-)Psychologie Carl Stumpfs (1848–1936), für die Sozialpsychologie Lindners, die in die nach 1880 entstehende Fachsoziologie weiterwirkt, nicht zuletzt für die Völker43 Theodor Ziehen: Das Verhältnis der Herbart’schen Psychologie zur physiologisch-experimentellen Psychologie. Berlin 1900, S. 71. 44 Vgl. Thomas Borgard: Immanentismus und konjunktives Denken. Die Entstehung eines modernen Weltverständnisses aus dem strategischen Einsatz einer ‚psychologia prima‘ (1830– 1880). Tübingen 1999, S. 34. 45 Vgl. Klaus Sachs-Hombach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Entstehung und Problemgeschichte. Freiburg, München 1993. 46 Vgl. Wilhelm W. Hemecker: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse. München, Wien 1991, S. 108.
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psychologie von Lazarus und Steinthal, die im neunzehnten Jahrhundert eine frühe Konzeption von ‚Kulturwissenschaft‘ begründet und mit ähnlich gerichteten Theorieentwicklungen Wilhelm Wundts – man denke an seine zehnbändige Völkerpsychologie – korrespondiert. Disziplingeschichtliche Fragen dieser Art müssen an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden, wenngleich sie Herbarts Ästhetik im Kern betreffen. Entscheidend ist, dass die herbartianische Ästhetik in allen ihren Teilen auf Herbarts Psychologie gründet und damit disziplinären Entwicklungen vorarbeitet, in denen die Psychologie als Trägerwissenschaft für literatur-, kunst-, sprach- und kulturwissenschaftliche Fachkonzeptionen dient. Entsprechendes findet sich später in der psychologischen Fundierung der Sprachwissenschaft bei Heymann Steinthal oder in Wilhelm Diltheys psychologistischer Hermeneutik als Grundlage der ‚verstehenden‘ Geisteswissenschaften. Allerdings setzt das Verständnis dieser psychologistischen Ästhetik ein Grundverständnis der herbartianischen Psychologie voraus (vgl. Quellenteil II.). In der Geschichte der Psychologie stellt Herbarts Psychologie insofern einen Neuansatz dar, als sie Distanz zur traditionellen Vermögenspsychologie sucht. In ihren Grundlagen auf Aristoteles zurückgehend, hatte die philosophische und anthropologische Tradition die Seele lange Zeit als Summe eigenständiger ‚Vermögen‘ gedacht, die als Substanzen bzw. angeborene seelische Fähigkeiten (facultas) einer zielgerichteten Verwirklichung (potentia) entgegen streben.47 Im Gefolge dieser Bestimmungen hat sich um 1800, nach unterschiedlichen Systematisierungen durch Wolff, Baumgarten, Sulzer und Mendelssohn, ein dreigliedriges System aus den eigenständigen Vermögen des Denkens, Wollens und Fühlens durchgesetzt; in dieser Form wirkt es noch in die psychologischen Grundlagen des kantischen Erkenntnissystems fort.48 Herbarts Kritik trifft die Vermögenspsychologie von zwei Seiten. Zum einen zerteilt sie Herbart zufolge das Seelenganze in Teile, die qualitativ voneinander unterschieden sind; das verwandelt die Psychologie in den Augen Herbarts in eine „Mythologie“49, deren Wesen einen „wahren bellum omnium contra omnes“50 entfachen. Zum anderen unterscheidet die Vermögenspsychologie obere und untere Seelenteile; darin ist sie noch ganz dem alteuropäischen Denken in hierarchischen Substanzen verpflichtet, ohne dass der dynamische Zusammenhang dieser Substanzen beschreibbar wäre. Dies ge47 Vgl. Aristoteles: Metaphysik (wie Anm. 35), 1047b–1051a. 48 Vgl. Sachs-Hombach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert (wie Anm. 45), S. 72. 49 Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie [1816/21834]. Hg. von Margret KaiserEl-Safti. Würzburg 2003, S. 8. 50 Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft. Neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster synthetischer Theil [1824]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 5. Langensalza 1890. Neudruck Aalen 1964, S. 177–434, S. 216.
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lingt Herbart zufolge nur im Kontext einer nicht mehr substantialistischen Psychologie, die das Denken, Fühlen und Wollen als unterschiedliche, ihrer Herkunft nach aber strukturell gleichartige Momente der Vorstellungsaktivität fasst. Insofern trennt sich die herbartianische Psychologie auch von den transzendentalphilosophischen Prämissen Kants, bleibt aber der durch Kant aufgegebenen Problemstellung, wie die Einheit des Bewusstseins zu denken ist, verbunden. In dieser Trennungsbewegung, die Kant auf verwinkelte Weise beerbt und erst mit Hermann von Helmholtz und Wundt zu einem vorläufigen Abschluss gelangt, liegen die Fundamente einer nur mehr psychologisch begründeten Psychologie. Bekanntlich hatte Kant noch eine Verschränkung von Seelenlehre und Transzendentalphilosophie betrieben und auf diesem Weg eine jeder Erkenntnis vorausliegende, epistemologische Letztbegründung behauptet, die in den apriorischen Strukturen der ‚reinen‘ Vernunft und ihrer Kategorien verankert ist. Einheit, Synthese, Ordnung des Mannigfaltigen in der Seele leistet der Verstand in einem spontanen Akt, weil die Sinne selbst zu keiner Synthese finden und beziehungslos bleiben. Während das „empirische Bewusstsein“, so Kant, an „sich zerstreut und ohne die Beziehung auf die Identität des Subjekts“ bleibt, leistet die ‚reine‘ Apperzeption jene „trans zendentale Einheit […], durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird“.51 Herbarts Vorbehalte treffen diese Voraussetzungen in zwei Hinsichten. Zunächst betont Herbart die immanente Dynamik des seelischen Geschehens. Seine Prozessualität verweist darauf, dass ihm Zeit nicht als defizienter Modus gegenübersteht. Vielmehr sind die Strukturen und Prozesse des Seelenlebens selbst konstitutiv zeitlich. In seinem 1816 erschienenen Lehrbuch zur Psychologie hatte Herbart im Rahmen eines neuartigen psychogenetischen Ansatzes gefordert, dass die Psychologie ihr „Augenmerk“ auf ein „zeitliches Geschehen“52, d. h. auf „die wechselnden Zustände“ des Seelischen zu richten habe, weil nur „[d]iese (nicht aber jene Vermögen) […] unmittelbar [erfahren]“ (S. 7) werden. Wer in der Folgezeit – wie Wilhelm Wundt oder Theodor Lipps – vom Seelenleben spricht, hat eine ‚aktualistische‘ Theorie der Psyche vor Augen, die alles Seelische, anders als es der Substanzcharakter der alten Seelenvermögen nahelegt, als dynamische „Tätigkeit“53 und „reine Actualität“54 versteht. Des Weiteren richtet sich Herbarts Interesse auf die Grundelemente des Seelischen – die Vorstellungen und ihre Zu51 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [1781]. In: Ders.: Werkausgabe III: Kritik der reinen Vernunft 1. Hg. von Wilhelm Weischedel. Zürich 1977, S. 137. 52 Herbart: Lehrbuch zur Psychologie [1816/21834] (wie Anm. 49), S. 11. 53 Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. 3. 6. umgearb. Aufl. Leipzig 1911 [11874], S. 279. 54 Wilhelm Wundt: Zur Kritik des Seelenbegriffs [1885]. In: Wundts Philosophische Studien. Bd. 2. Leipzig 1885, S. 483–494, S. 484.
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stände –, deren Analyse die vermögenspsychologischen Begriffe bislang verstellt hatten. Auch in dieser Hinsicht markiert Herbarts ‚aktualistischer‘ Seelenbegriff einen Neubeginn, weil er es gestattet, dem beständigen Fluss von psychischen Grundelementen auf der Spur zu sein, die sich immer nur situativ zu komplexen seelischen Gebilden verbinden. Ihre Synthese erfolgt nicht mehr unter Bezug auf die a priori gegebenen Garantien der transzendentalen Einheitsform, sondern nur mehr mit den Mitteln einer von Vorstellung zu Vorstellung voranschreitenden Aktualität. Wenn es in Herbarts Psychologie noch eine Größe von transzendentalem Rang gibt, dann liegt sie in der Prozessualität des seelischen Lebens, d. h. in einer auf tautologische Weise in sich selbst eingeschlossenen Transzendentalität. Die Psychologie ist für Herbart noch in einer anderen Hinsicht zentral. Im eigenen Erkenntnissystem nimmt sie jenen frei gewordenen Platz ein, den die Metaphysik in der Philosophie Kants besaß. Herbarts Psychologie beerbt die Frage nach den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, stellt sie aber in eine erkenntnistheoretische Kontinuität mit der Gestalt, die Herbart der Metaphysik als „Bearbeitung“ von Begriffen gegeben hatte. In gewisser Weise betreibt die herbartianische Psychologie eine Anwendung der Fragestellung der Metaphysik auf die innere Erfahrung als Frage nach den vorausliegenden Erfahrungsformen, die in der Metaphysik allererst zu Begriffen fortentwickelt werden. Auch wenn die nach-kantische Erkenntnisfrage unweigerlich psychologisch fundiert ist, ist diese Engführung von Metaphysik und Psychologie schon deswegen geboten, weil die Metaphysik davor geschützt werden muss, mit den empirischen Sachverhalten des „psychologischen Mechanismus“ zu konvergieren. In einer Herbart nicht fernstehenden Theoriesprache ließe sich das Verhältnis von Metaphysik und Psychologie als Verhältnis der Emergenz fassen, insofern als „alle Theile der Metaphysik von psychologischen Fragen“ nach Ursprung und Genese der Vorstellungen „begleitet“ werden, „metaphysische Untersuchungen“ bzgl. der Begriffe und ihrer Verhältnisformen aber „nicht mit Rückblicken auf den Ursprung unserer Vorstellungen […] verwechselt werden [dürfen]“55. Tatsächlich darf man in diesem emergenten Verhältnis von Psychologie und Metaphysik, das dazu nötigt, die „Reihe der Erfahrungs-Formen“ durchgängig „doppelt“56 zu beschreiben, so dass genetisch-psychologische und begrifflich-geltungslogische Fragen einen Zusammenhang je eigener de-
55 Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813] (wie Anm. 3), S. 228. 56 Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Metaphysik nebst den Anfaengen der philosophischen Naturlehre. Erster, historisch-kritischer Theil [1828]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 7. Langensalza 1892. Neudruck Aalen 1964, S. 1–346, S. 159.
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skriptiver und disziplinärer ‚Sprachen‘ ausbilden, ein weit über Herbart hinausführendes Problemlösungspotential für die Psychologie sehen. Es gehört zu den Schwierigkeiten einer im beschriebenen Sinne aktualistischen Psychologie wie der Herbarts, dass sie ausgerechnet auf einen eigentümlich unbewegten Seelenbegriff gegründet wird. Während Herbart das ‚Ich‘ als raum-zeitliche, der Entwicklung unterliegende Realität denkt, konzipiert er die Seele analog zum leibnizschen Monadenbegriff als „Reale“. Demzufolge ist die Seele eine ausdehnungslose, unveränderliche und von Raumbestimmungen freie Substanz. Ihre einzige ‚Tendenz‘ besteht in ihrer Selbsterhaltung, die aber ohne Tendenz, d. h. ohne Zustandsveränderung ist. Dynamisiert wird diese unbewegte Realität durch sinnesreizbasierte Wahrnehmungen, die gegensätzliche Kräfte freisetzen und als Entgegensetzungen erfahren werden (vgl. Dok. 6). Insofern setzt Herbart seinen aktualistischen Seelenbegriff der Psychologie nicht axiomatisch voraus. Ihr Aktualismus resultiert vielmehr aus den zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Vorstellungen, die sich, an sich ohne Richtungsimpuls und inaktiv, affizieren und als Kräfte in ein relationales Verhältnis zueinander setzen. „Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen. Dieses geschieht, wenn ihrer mehrere entgegengesetzte zusammentreffen.“57 Auf der Grundlage eines Kontinuums zu- und abnehmender Intensitäten treten die Vorstellungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einen partiellen oder vollständigen Widerstreit ein, so dass die Zustände des Bewusstseins immer neue und andere Kräftekonstellationen bilden. Das „Bewußtseyn“, so Herbart, ist die „Gesammtheit des jedesmal gleichzeitig zusammentreffenden Vorstellens.“58 Analog zum formalen Paradigma des Herbartschen Systems besitzen die Vorstellungen daher nicht an sich eine Bestimmtheit als widerstreitende Intensitäten, wie auch die Gegensätzlichkeit der Vorstellungen kein natürliches Prädikat dieser Vorstellungen selbst ist; vielmehr ist beides nur das Produkt einer differentiellen Bezüglichkeit, die die Vorstellungen in ein zeitpunktbezogenes Verhältnis zueinander setzt. In gewisser Hinsicht ist das Bewusstsein die Geschichte seiner vorstellungsbasierten Formen, d. h. der widerstreitenden und sich wechselseitig hemmenden Vorstellungsrelationen, die von Aktualität zu Aktualität voranschreiten: „Dass unter mehrern, einander entgegengesetzten Vorstellungen die Hemmung gegenseitig seyn, folglich die Objecte sämmtlich in gewissem Grade verdunkelt, und die Thätigkeiten des Vorstellens in eben dem Grade in Strebungen verwandelt werden müssen: dies leuchtet so unmittelbar ein, dass der Beweis überflüssig seyn würde. […] Dieser Gegensatz ist […] kein Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln genommen; sondern eine formale Bestimmung, welche 57 Herbart: Lehrbuch zur Psychologie [1816/21834] (wie Anm. 49), S. 369. 58 Herbart: Psychologie als Wissenschaft [1824]. 1. Teil (wie Anm. 50), S. 294.
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nur in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und Bedeutung hat“ (S. 277–278). Noch in das Seelenleben trägt Herbarts Formalismus damit eine Relationalität hinein, die die Vorstellungen von ihren Vorstellungsgehalten entkleidet. Entsprechend tritt auch die Überzeugung der älteren Assoziationspsychologie (David Hartley, John Priestley) zurück, nach der sich die Vorstellungen im Modus der Kontiguität oder der Ähnlichkeit in Wechselwirkungen befinden. Entscheidend ist, dass das Bewusstsein einen unablässigen Prozess der Hemmungen und Verdrängungen anstößt, so dass Vorstellungen relativ zu anderen unter eine Bewusstseinsschwelle sinken, aus deren Verdunkelung sie aber erneut hervorzudringen suchen. Vorstellungen gehen daher auch nicht verloren, sondern ändern nach dem Gesetz der wechselseitigen Proportionalität lediglich ihren Zustand: Nimmt die Kraft einer Vorstellung innerhalb einer gegebenen Relation zu, so antwortet ihr eine andere Vorstellung mit einer proportionalen Abnahme ihrer Kraft. Apperzeption meint daher einen Zustand, in dem die Vorstellungen aufgrund ihrer Verdrängung einerseits ‚verdunkelt‘, also in die Latenz versetzt sind, andererseits insofern ‚erhellt‘ werden, als sie das „Streben“ (S. 278) besitzen, die Schwelle des Bewusstseins gegen das Maß ihrer ursächlichen Hemmung erneut zu übersteigen und sich in den Kontext aktuell bewusster Vorstellungen einzufügen. Psychologie als Wissenschaft ist daher im Kern Berechnung der Hemmungsgrade von Vorstellungen, d. h. Darstellung apperzeptiver Verhältniskräfte und formaler Relationen mit den Mitteln der Mathematisierung; insofern erklärt sich Herbarts Überzeugung, dass die Psychologie als Wissenschaft neben „Erfahrung“ und „Metaphysik“ auf „Mathematik“ zu gründen sei. Für die Ästhetik ist insbesondere Herbarts Begriff des „vollendeten Vorstellens“59 von Bedeutung (vgl. Dok. 5). Vollendetes Vorstellen bedeutet bei Herbart und später bei Zimmermann (vgl. Dok. 8): reine Präsenz und absolute Gegenwart des Vorstellungsbildes. Im vollendeten Vorstellen ist die Dynamik der über sich hinaustreibenden Vorstellungen beruhigt und der Beobachter in einem Zustand sanfter Kontemplation gefangen, der alle Begehrlichkeiten des Subjekts stillstellt, so dass es sich läutert – läutert zu einem Subjekt, das eigentlich keins mehr ist, weil es, aus allen lebensweltlichen Zusammenhängen gelöst, ein apperzeptiver ‚Schauplatz‘ des Vorgestellten wird. Wenn das Bewusstsein ansonsten ein Prozess sich hemmender und aktualisierender Vorstellungen ist, dann ist es im vollendeten Vorstellen geläuterte Prägnanz, unbewegter Moment einer reinen Gegenwart. „Die erste Bedingung“ aller Ästhetik, so Zimmermann, „muss die Absonderung aller 59 Johann Friedrich Herbart: Allgemeine praktische Philosophie [1808]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 5. Langensalza 1887. Neudruck Aalen 1964, S. 329–458, S. 342.
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individuellen Erregungen, das vollendete Vorstellen des Vorstellungsinhaltes selbst sein. […] Das Begehren ist Bewegung, das vollendete Vorstellen Ruhe. […] Denn die Begierde ist dahin gerichtet, die erstrebte Vorstellung in jenem Grade der Klarheit und Ungehemmtheit zu besitzen, wie sie das Kennzeichen der Gegenwart ihres Gegenstandes ist. Das vollendete Vorstellen besitzt sie schon in diesem Grade. Jene sucht das Zukünftige zur Gegenwart zu machen, das vollendete Vorstellen ist vollendete Gegenwart. […] Aller bloss individuelle Gemüthsinhalt ist abgestreift; nicht der Mensch hat das Objekt, das Objekt hat ihn.“60 Man muss das vollendete Vorstellen als Beitrag zum großen ästhetischen Phantasma der Reinheit lesen, wie es das neunzehnte Jahrhundert seit der Goethezeit durchquert. „Nicht sicherer“, hatte Herbart betont, „kann der ästhetische Gegenstand [in das Gemüt, I.S.] eingreifen, als indem er affiziert; nicht besser kann der Affekt endigen, und von ihm das Gemüt sich reinigen, als durch Übergang in das zurückbleibende ästhetische Urteil.“61 Das Gewicht dieser Reinheit wächst mit der Einsicht, dass der Reinigungsprozess dazu dient, den aufgefassten Formzusammenhang deutlich wahrzunehmen. Was an ihm bislang ‚verworrene‘ „Complexion“ war, beginnt sich im vollendeten Vorstellen zu entmischen, weil die Verwirrungen und „Complexionen“ des relationalen Gefüges zurück-, während dessen einzelne Relationen hervortreten. Im vollendeten Vorstellen ist die Form daher nichts Betrachtetes, sondern die Aktivität des Erscheinens ihrer eigenen Struktur. In der explizit psychologistischen Ästhetik Bobriks (vgl. Dok. 7) ist diese „Entwickelung aus der bisherigen dunkeln Ruhe in die Klarheit des Bewusstseyns hinein“ entsprechend „mit dem Namen der Form bezeichnet“62. Entsprechend ist das Subjekt nur mehr eine Funktion der Form, weil seine Vorstellungen aus der „vollendeten Gegenwart“63 des Vorgestellten alles aussondern, was seinen Ursprung im Subjekt besitzt. Weil die Wahrnehmung eines Objekts zunächst eine Aktivität des Subjekts ist, kann diese Aktivität in der Vorstellungstätigkeit des Subjekts so weit erlöschen, bis das Vorgestellte in völliger Prägnanz als Vorstellung realisiert ist. Was einmal Differentialität war – hier das vorgestellte Objekt, dort das vorstellende Subjekt – ist im vollendeten Vorstellen für einen Moment Identität. „In diesem Zustand der ästhetischen Contemplation decken“, so Zimmermann, „Bild und Zusatz, Objektives und Subjektives einander gänzlich“ (S. 19).
60 61 62 63
Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 18–19. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813] (wie Anm. 3), S. 137. Eduard Bobrik: Freie Vorträge über Ästhetik gehalten zu Zürich. Zürich 1834, S. 56–57. Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 19.
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VIII. Es wäre unangemessen, Herbarts Formdenken als singuläres Phänomen aufzufassen, das verloren gehen musste, weil es keinen Rückhalt in den Theorieentwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts gefunden hat. Die semantikgeschichtlichen Prozesse, die den überlieferten Formbegriff im achtzehnten Jahrhundert erfassen, verlaufen weder nach dem Muster von einzelnen, gewissermaßen prädominanten Innovationen, noch setzen sie sich derart gegen die Begriffstraditionen durch, dass diese einfach in Vergessenheit geraten würden. Für den Formbegriff ist vielmehr festzuhalten, dass sich die diversen theoretischen Traditionen ‚der‘ Form an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert punktuell überlagern, so dass ältere Begriffstraditionen – wenigstens für eine gewisse Zeit – funktional für die Begründung neuer Entwicklungen in Anspruch genommen werden. Man hat es hier mit dem aus der historischen Semantik bekannten Sachverhalt zu tun, dass sich begriffliche Transformationen nicht in Rissen und abrupten Neueinsätzen, sondern in einer diskreten Re-Semantisierung von ‚Sprachen der Tradition‘, d. h. durch den überlieferten, aber gewissermaßen ‚unorthodox‘ werdenden Begriffshaushalt hindurch vollziehen. Ähnliches lässt sich am Formbegriff beobachten, dessen aus der Antike stammende, substantialistische Traditionen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von einem neuartigen, endogen-prozessualen Formkonzept überlagert werden.64 In den diversen konzeptuellen Strängen, die diesen neuartigen Formbegriff vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts an tragen – von der Epigenesis über die Morphologie bis zur energeia, aber auch in den vielfältigen Umdeutungen der Organismustheorie, die in allem noch den Bezug auf ‚Natur‘ und ‚Leben‘ als (Ver-)Wandlungsformen mitführt –, gehen die hylemorphen und eidetischen Konzepte der Tradition nicht restlos verloren. Solche Überlagerungen schlagen sich auch im herbartianischen Formbegriff insofern nieder, als sein relationales Formverständnis in Teilen gerade durch die hylemorphen Begriffstraditionen hindurch entwickelt wird. Sie zwingen den Formbegriff in eine Ambivalenz, die immer wieder Kontaminationen zwischen substantialistischen und funktionalen Formschemata, zwischen ‚Idee‘ und ‚Form‘, erzeugt. Andererseits sind die horizontbildenden Leistungen des herbarti anischen Formbegriffs nicht zu übersehen. In zentralen Aspekten nimmt er das differenzbasierte Formschema, das um 1900 in einem nochmaligen
64 Vgl. David E. Wellbery: Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800. In: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes ‚anschauliches Denken‘ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin, Boston 2014, S. 17–42.
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Transformationsschub der Begriffsmasse entsteht, vorweg. In dem Maße, wie dieses Formschema die Reproduktion von Formen als Wiederholung bzw. Iteration denkt und Formen von anderen Formen differenziert, gilt dies in Teilen auch für die konstruktivistisch-systemtheoretischen Weiterungen, die der Formbegriff im zwanzigsten Jahrhundert erlebt. Vor diesem Hintergrund kann man mit Blick auf das Spektrum an formtheoretischen Überlegungen der Herbart-Schule (vgl. Quellenteil III.) drei konzeptuelle Schichten unterscheiden. Die erste betrifft die Art und Weise, wie die formalistische Ästhetik den Formbegriff verzeitlicht und dynamisiert. Form ist nicht länger ruhende Gestalt, sondern Prozessform, temporalisierter Übergang von einer Relation zu einer anderen. Ein früher Beleg hierfür findet sich in Konrad Griepenkerls 1827 erschienenem zweibändigen Lehrbuch der Ästhetik (vgl. Dok. 9). Griepenkerl (1782–1849) gehört zur Generation der unmittelbaren Herbart-Schüler – er studierte zwischen 1805 und 1808 u. a. Philosophie und Pädagogik in Göttingen – und hat als Braunschweiger Gymnasiallehrer Mitte der 1840er Jahre seinerseits den späteren Begründer der Völkerpsychologie, Moritz Lazarus (1824–1903), beeinflusst und mit Herbarts Schriften vertraut gemacht. Gegenüber Herbart nimmt Griepenkerl eine zusätzliche Bestimmung vor. Ästhetisch relevant sind nicht schon Verhältnisse von einfachen Elementen (a:b), sondern erst Verhältnisse von Zusammengesetztem (ax:ay), bei denen gleiche und verschiedene Elemente zugleich auftreten. Logisch resultiert diese Zusatzbestimmung aus dem Umstand, dass bei nur gleichen Elementen keine Relation entstünde, sondern nur Identität, während bei nur verschiedenen Elementen umgekehrt kein Verhältnis entstehen kann, weil hier nichts in einer strukturierten Weise zusammenhängt. Das gilt für das gesamte Spiel der Formbeziehungen – das Verhältnis der Symmetrien, Proportionen, Harmonien, Rhythmen, Konsonanzen und Dissonanzen –, die die formale Ästhetik beschreibt, und resultiert, wie Zimmermann später ausarbeiten wird, im Falle der Musik aus dem Verhältnis von Grund- und Obertönen, in der Malerei aus dem von Grundund Komplementärfarben und in der Literatur aus den nach bestimmten Assoziationsgesetzen sich einstellenden Apperzeptionen: „Das Verhältnis fordert zum wenigsten zwei Glieder, welche gegenseitige Beziehung auf einander ausüben, sich gegenseitig bestimmen, ohne in einander zu fließen. Wegen der gegenseitigen Beziehungen und Bestimmungen müssen beide Glieder gleichartig sein; denn von dem völlig Ungleichartigen und Entgegengesetzten löscht eins das andere aus, und beide beharren nicht beim Zusammendenken in gegenseitiger Ausschließung. Auch dürfen beide Glieder nicht völlig gleich sein, sonst schwinden sie in einander, und das gegenseitige Bestimmen hört auf. […] Durch das gemeinschaftlich Gleiche werden die Glieder des Verhältnisses im Denken zusammen gehalten,
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durch den zwischen ihnen bestehenden theilweisen Gegensatz bleiben sie getrennt.“65 Man muss diese Bestimmungen in zweierlei Hinsicht verstehen. Zum einen markieren sie in der für den gesamten Herbartianismus verpflichtenden Überzeugung, dass das Einzelelement außerhalb einer strukturierten Relation ästhetisch irrelevant bleibt, den Versuch, die Identität der Form nicht mehr als Identität ihrer Substanz, des eidos, zu bestimmen. Vielmehr geht es um den Akt, der das als Form Bestimmte von dem trennt, was unbestimmt und formlos ist, weil es außerhalb des die Form konstituierenden Verhältnisses verbleibt. Form impliziert eine Grenze, die Formen von Nicht-Formen unterscheidet und die dennoch mit dem Eintritt von Elementen in eine Relation überschritten werden kann. Ein und dasselbe Element kommt zweifach vor, je nachdem, ob die Innen- oder die Außenseite eines formalen Verhältnisses bezeichnet wird: außerhalb einer Relation als dieses Einzelne, das, wie Griepenkerl betont, „gleichgiltig“ bleibt, „wie sehr“ es „uns auch sonst interessiren“ (S. 7) mag, innerhalb einer Relation als Realisierung eines Formverhältnisses. ‚Form‘ ist hier nicht mehr ontologisch als Gegensatz zu ‚Materie‘ gedacht, vielmehr erscheint, da es keine anderen als formale Beziehungen im Feld der Ästhetik geben kann, jede Materie, jeder Gehalt, als Form, sobald an ihm differentielle Beziehungen rekonstruiert werden können. Zum anderen wird deutlich, dass der herbartianische Formbegriff eigentlich eine doppelte Relation meint. Formen sind Verhältnisse, in denen Elemente zugleich in Äquivalenz und Differenz zueinander stehen. Logisch gesehen wirkt die Form wie ein Drittes, das kraft Äquivalenz Elemente verbindet und zugleich kraft Differenz trennt, und dies als ein Moment differentieller Spannung, in dem Identität und Gegensatz, abhängig von der Stellung der Elemente, zugleich wirken. Vor diesem Hintergrund kreisen Griepenkerls Überlegungen um den Begriff der „Dissonanz“ (S. 14). Der Begriff wird ausdrücklich seiner musikalischen Bedeutung entkleidet und auf „alle Künste“ (S. 14) angewendet, deren formale Konfigurationen als Konfigurationen in der Zeit gedacht werden können. Ähnliches gilt für den „Kontrast“-Begriff (S. 24). Dissonanz und Kontrast sind in diesem Sinne dynamische Formen, die ein formales Verhältnis unter Nutzung von Zeit in ein anderes Verhältnis übergehen lassen. Die Dissonanz verändert ein Ausgangsverhältnis, das als Horizont für eine neue Verhältnisform und als Prozess in einer Werksyntaktik genutzt wird, die einen „Zusammenhang zwischen dem Vorhergehenden und dem Nachfolgenden“ (S. 25) schafft. Was psychologisch als Spannung im Werkzusammenhang, als langsam oder rasch erfolgender, „unerwarteter 65 Friedrich Konrad Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik. In zwei Theilen. Braunschweig 1827, S. 7–8.
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Übergang“ (S. 25) in der Zeichenfolge erscheint, wird auf der Ebene der Formverhältnisse als Zusammenhang seiner auseinander hervorgehenden Prozessformen sichtbar. In gewisser Weise setzt dieses Formschema bereits einen Beobachter voraus, der seine Beobachtungen insofern temporalisiert, als er ein Formverhältnis, das „nicht auf den ersten Blick zu erkennen“ (S. 25) ist, als Zusammenhang von Anschlussselektion rekonstruiert. Insofern stellt sich der „Übergang“ von einer Verhältnisform in die andere als Vollzug eines zunächst diskret gebliebenen („nicht auf den ersten Blick“ wahrnehmbaren), in der Beobachtung sich aber explizierenden Formverhältnisses dar. Entsprechend vollziehen Form und Beobachtung dieselbe Operation, indem sie ein in der Syntaktik des Werks früheres Formverhältnis relativ zu einem späteren als dessen selektiven Kontext und insofern als ein „rein ästhetisches Verhältnis“ (S. 25) rekonstruieren. Entscheidend ist, dass das Denken in Verhältnissen bei Griepenkerl auf Verweisungsüberschüsse zuläuft, die aufgrund der Vieldeutigkeit der Fortschreitungen mehrfache Anschlussmöglichkeiten bereithalten: „Jeder Einklang taugt zur Vorbereitung mehrerer Dissonanzen, fast jede Dissonanz lässt mehrere Auflösungen zu; nichts liegt in der allgemeinen Idee, was diese Freiheit beschränkte“ (S. 80). Ähnliche Einsichten in eine Syntax temporalisierter Formen finden sich in der Ästhetik Eduard Bobriks von 1834 (vgl. Dok. 10). Eine zweite Schicht innerhalb der herbartianischen Formtheorie betrifft das Verhältnis von Form und Nichtform. Von der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein ist die Nicht- bzw. Unform durchgängig noch Teil einer ontologischen Differenz, in der die Form Bestimmtheit besitzt, während die Nichtform nur eine defiziente Materie bzw. die Abwesenheit von gestalteter Wesenhaftigkeit bildet. Als etwas, das ohne eine formale Bestimmung bleibt und insofern keine Anschaulichkeit, keine Realität, gewinnt, unterliegt sie der Vergänglichkeit und der metaphysischen Hinfälligkeit. In der formalistischen Ästhetik rücken Form und Nichtform dagegen in einen relationalen Bezug. Ihr Verhältnis ist nicht mehr qualitativ, als Divergenz ontologisch unterschiedlich substantieller Wesenheiten zu verstehen, sondern als ein formaler Zusammenhang, der eine Ausgangsform auf andere Möglichkeiten strukturierter Relationen hin öffnet. Insofern ist die Nichtform keine Schwäche des formalen Zusammenhangs, keine bloße Abwesenheit von Form, sondern Entzug der Form in der Form und damit Moment eines Übergangs, der auf eine veränderte formale Konfiguration zielt. Der entsprechende begriffliche Sachverhalt lautet in der Ästhetik Zimmermanns „Unterschiebung“ und „Ausgleich“ (vgl. Dok. 11). Unter „Unterschiebung“66 versteht Zimmermann den Umstand, dass das vollendete 66 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 54.
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Vorstellen kein dauerhafter, sondern ein fragiler Zustand ist, der schnell wieder der Dynamik der Vorstellungsbildung weicht. In der „Unterschiebung“ löst sich das Subjekt aus dem sanften Schlaf seiner „Contemplation“ (S. 19) und ergänzt die kontemplierte Form um einen anderen Vorstellungsgehalt. Die wiedererwachte Aktivität der Apperzeption stößt eine Ergänzung an, die einen in der Objektivität der Form nicht gegebenen Formzusammenhang produziert und der „gegebenen“ (S. 54) Form buchstäblich ‚unterschiebt‘. Entsprechend stellt die „Ausgleichung“ (S. 54) den Abschluss des Formprozesses dar. Sie lenkt den untergeschobenen Vorstellungsgehalt in die Ausgangskonstellation zurück. Insofern dient der ganze Prozess, der „Weg“ und notwendiger „Umweg“ (S. 77) zugleich ist, nur der Amplifikation der Form, die sich aus einer gegebenen Identität zur Differenz fortentwickelt, um wieder zur Identität zurückzukehren. Auch diese Abschlussbewegung bestätigt, dass die Qualität der Form nicht in ihrer Bestimmtheit bzw. in der Grenze zu ihren Unbestimmtheitsmomenten liegt, sondern dass Bestimmtheit und Unbestimmtheit gleichermaßen Vollzüge der Form sind. „Jeder derselben“, so Zimmermann, „ist ein absolut Wohlgefälliges, aber erst die Zusammenfassung beider ist das ganze Schöne“ (S. 62). Zu diesem „ganzen Schönen“ zählt es, dass die Form ihrer anderen Möglichkeit nach unbestimmt bleibt, weil der „Bewegungsprocess“ (S. 58) von „Unterschiebung“ und „abschliessender Ausgleichung“ (S. 60) nicht zwangsläufig zur Bestätigung der Ausgangsform, sondern zu einer neuen Formkonstellation führen kann. Form ist für Zimmermann konstitutiv prozessual, weil nur eine prozessualisierte Form die Fülle der im Werk verarbeiteten Relationen hervorheben kann. In diesem Sinne sind Werke polyvalente Zeichenkomplexe: In der „Freiheit der Fortbewegung“ (S. 78) liegt es begründet, dass sich die Form zwar an keinem anderen Stoff, aber in anderen Relationen zeigen kann. Insofern ist die Form zugleich festgelegt und nicht festgelegt: Festgelegt ist sie hinsichtlich des im Werk verwobenen und insofern begrenzten Zeichenvorrats, frei ist sie hinsichtlich der formalen Konkretionen, zu denen sich die Zeichen anordnen. In der Konsequenz läuft das ganze Spiel von „Unterschiebung“ und „Ausgleichung“ auf einen Formbegriff zu, der als Möglichkeitshorizont für unterschiedliche Konkretionen dient und insofern als Vollzug seiner eigenen Komplexität gedacht ist: „In der Form der harmonischen Ausgleichung liegt die Freiheit der Fortbewegung. […] Die […] Ausgleichung […] muss nicht zu jener concreten Harmonie führen, die ursprünglich gegeben war, sie ist […] nur der Form nach gebunden, dem Stoff nach frei. […] Ihre Richtung […] ist ihr vorgezeichnet wie der Ausgleichung, aber da ihr Ziel nicht rückwärts im Status quo ante liegen muss, sondern auch vorwärts in einem Status post liegen kann […], so muss auch ihre Richtung […] eine nach vorwärts […] gerichtete sein, d. h. sie ist Fortschritt […] zum Neuen“ (S. 78–79).
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Eine dritte Schicht innerhalb der herbartianischen Formtheorie betrifft die Bemühungen, gehaltsästhetische Theorieelemente zur Geltung zu bringen und insofern zwischen Form- und Gehaltsästhetik zu vermitteln. Ähnliches betrifft den Rückgriff auf die eidetischen Traditionen der Form, d. h. den Versuch, Form als Idee zu denken. Welche Spannungen sich hieraus ergeben, zeigt die Kontroverse, die 1863 und 1864 zwischen Wilhelm Nahlowsky und Zimmermann entbrennt. In einer Reihe von Beiträgen unter dem Titel Ästhetisch-kritische Streifzüge behandelt Nahlowsky Form und Inhalt programmatisch als gleichwertige „Beziehungsbegriffe“67. 1865 publiziert Theodor Vogt (1835–1906) eine Schrift unter dem Titel Form und Gehalt in der Aesthetik (vgl. Dok. 12), in der im Anschluss an Herbart einerseits die „Methode der Beziehungen“68 auf die Ästhetik Anwendung finden soll, soweit „Verhältnisse“ ästhetische „Werthurtheile“ (S. 3) begründen, andererseits aber Verhältnisse und Verhältnisformen im Stoffbegriff gebündelt werden. Unter „Stoff“ (S. 3) versteht Vogt ausdrücklich zweierlei: zum einen das je einzelne Element bzw. Verhältnis-„Glied“ (S. 3) das in eine Relation einrückt, zum anderen den thematisch-semantischen Komplex eines Werks, an dem „ein ganzes System von […] Elementarverhältnissen“ (S. 4) sichtbar wird, soweit er unter dem Gesichtspunkt seiner Strukturiertheit rekonstruiert wird. Auf eine eigenwillige Weise werden hier Sachverhalte der Form – Relationen und Relationen von Relationen – im Begriff des Gehalts bzw. des Stoffs zum Ausdruck gebracht. Ähnliche kategoriale Doppelbildungen zeigen sich in der gemäßigt herbartianischen Position Hermann Siebecks (1842–1920) und seiner Schrift über das Wesen der ästhetischen Anschauung von 1875 (vgl. Dok. 13). Der Text lässt form- und gehaltsästhetische Theoriesprachen so aufeinandertreffen, dass sie kaum noch aneinander vermittelbar sind und in gestalttheoretischen Hilfskonstruktionen wie der „erscheinenden Persönlichkeit“69 aufgefangen werden müssen. Einerseits realisiert sich in der ästhetischen „Anschauung“ ganz herbartianisch „die Vorstellung eines Gegenstandes als eines Complexes von Verhältnisgliedern“ (S. 24), andererseits sollen die Formen auf einen „Ausdruck“ zielen, der sie zu „Trägern eines Geistigen“ (S. 79) werden lässt. Die Konzeption impliziert einen zweiseitigen Werkbegriff, der Formen und Formrelationen als „Qualität seiner Oberfläche“ (S. 101) ansetzt, während die „Formen“ von „innen heraus“ (S. 71) dem „Gesetz“ einer sie individuell ‚beseelenden‘ „Persönlichkeit“ (S. 71) folgen. Die Konstruktion verbindet 67 Wilhelm Nahlowsky: Ästhetisch-kritische Streifzüge. In: Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren philosophischen Realismus 3 (1863), S. 384–440, S. 409. 68 Theodor Vogt: Form und Gehalt in der Aesthetik. Eine kritische Untersuchung über Entstehung und Anwendung dieser Begriffe. Wien 1865, S. 2. 69 Hermann Siebeck: Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Psychologische Untersuchungen zur Theorie des Schönen und der Kunst. Berlin 1875, S. 70.
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das alte neuplatonische Erbe der ‚inneren‘ Form (Plotin), wie es durch die Goethezeit lebendig gehalten wurde,70 mit einem Innen-Außen-Schema bzw. einer Topik von Oberfläche und Tiefe. Ihr zufolge ist das formale Element auf der „Oberfläche“ des Werks angesiedelt, während aus seinem Inneren die inkommensurable Art und Weise hervortritt, mit der die Formen individualisiert, d. h. unverwechselbar angeordnet und strukturiert werden. Dieses (an Georg Simmels spätere Rede vom „individuellen Gesetz“ erinnernde) ‚Gesetz‘ der ‚Persönlichkeit‘ übersieht allerdings, dass die formalistische Ästhetik keinerlei Primat für Oberflächenstrukturen besitzt, sondern auf die Strukturiertheit ästhetischer Objekte an sich zielt. Diese Strukturiertheit kennt keine Tiefe und keine Oberfläche, kein Innen und kein Außen. Siebeck nimmt diese theoretische Inkongruenz von neuplatonischem und formalistischen Formbegriffen in Kauf, weil er die ihm offenbar als formalistisch und ‚leer‘ erscheinende Formseite der ästhetischen Objekte mit Gehalt und Bedeutung auffüllen will. Formen müssen ‚beseelt‘ werden, sie bleiben bedeutungsleer, solange in ihnen nicht die Spur einer sie individuell beseelenden Persönlichkeit sichtbar wird. Unter der Hand macht Siebecks Entwurf eine Spaltung in zwei Formtraditionen sichtbar, die zwischen den Alternativen von ‚Struktur‘ und ‚Bedeutung‘, von ‚Funktion‘ und ‚Gehalt‘, bzw. methodologisch gewendet: von Strukturexplikation und Sinndeutung, verlaufen und die in dieser Dichotomisierung noch die geisteswissenschaftliche Theorieund Methodengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts prägen werden.
IX. Herbarts eigenwilliger Zugriff auf Begriff und Sache der philosophischen Ästhetik betrifft nicht nur die auffällige Extension des Ästhetikbegriffs, der, wie gesehen, Geltungsbereiche außerhalb des Kunstschönen i. e. S. erschließt. Die theoriegeschichtliche Bedeutung der herbartianischen Ästhetik liegt vor allem darin, dass sie die diskursive Identität der Ästhetik im Ganzen transformiert. Diese Transformation besteht darin, Formzusammenhänge als Zeichenzusammenhänge zu denken und damit Verfahren ihrer strukturierten Verknüpfung in den Blick zu rücken. Streng genommen ist diese proto-semiotische bzw. proto-strukturale Konzeption der herbartianischen Ästhetik ein Niederschlag des Formbegriffs selbst, weil Formen, die als zeichenhafte Strukturzusammenhänge konzipiert sind, eine Klärung bzgl. der Frage nahelegen, wie mit ihnen zu verfahren ist und wie die Instrumentarien ihrer Beschreibung beschaffen sind. Ästhetik ist seit Herbart in neuartiger Weise 70 Vgl. Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart 2004, S. 119.
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Verfahren in der Beschreibung von Formen und d. h. Umschreibung des älteren Substanzparadigmas der Form in ein Problem der Methode. Methode ist Form in anderer, eben: methodologischer Gestalt. „Was dieser Form der wissenschaftlichen Aesthetik“, so Zimmermann 1862, „die Analogie mit der empirischen Naturwissenschaft gibt, ist ihre Methode. Wie die Naturwissenschaft grosse verwickelte Erscheinungen auf ihre einfachsten Elemente, so sucht diese Gestalt der Aesthetik den complicirtesten Geschmackseindruck, welchen Natur- und Kunstwerke hervorbringen, zuerst auf seine ursprünglichen, nicht weiter zerlegbaren Faktoren zurückzuführen. Ist sie mittelst dieses analytischen Verfahrens zu den einfachen Geschmackselementen gelangt, so sucht sie rückwärts synthetisch aus der Combination derselben die Erscheinungen des Gefallens und Missfallens im Grossen begreiflich zu machen.“71 Diese zukunftsträchtige Umwidmung von Substanz in Methode hat es schon der formalen Ästhetik in rudimentärer Weise ermöglicht, ein ästhetisches Objekt als Produkt von strukturierten Elementen und der Kombinatorik ihrer differentiellen Verhältnisse sichtbar zu machen. Darin arbeitet die formale Ästhetik zentralen Antinomien und Begriffen der späteren, im zwanzigsten Jahrhundert sich etablierenden Formalismen und Strukturalismen voraus.72 Man kann diese proto-strukturale Tendenz der herbartianischen Ästhetik (vgl. Quellenteil IV.) an mindestens drei Theorieelementen ablesen. Das erste betrifft das Verhältnis von Segmentierung und Kombination bzw. von Determination und Manifestation bzw. exécution. Die entsprechenden theoretischen Fundamente liegen bereits bei Herbart bereit, der dem Ästhetiker 1831 empfohlen hatte: „[D]ie Vorstellungsreihen muss er aus ein ander nehmen, welche das Kunstwerk in einander verwoben hatte; und sie theils einzeln, theils ihre Verknüpfung studiren, so lange, bis er die Elemente des Schönen und dessen Bedingungen findet“73 (vgl. Dok. 14). Entsprechend ist die zitierte Äußerung Zimmermanns zu verstehen, die Methode der formalen Ästhetik bestehe darin, ein ästhetisches Objekt in seine „nicht weiter zerlegbaren Faktoren“ zu dekomponieren und „rückwärts synthetisch“ zur „Combination“ zusammenzuführen (vgl. Dok. 16). Allerdings verfehlt der methodologische Entwurf noch die Art und Weise seiner Durchführung. Blickt man auf Zimmermanns Strukturanalyse des Hamlet (vgl. Dok. 17), dann treten die
71 Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft [1862] (wie Anm. 41), S. 260–261. 72 Vgl. Verf.: „Überhaupt stammt der Strukturalismus ja aus Deutschland“. Zur theoriegeschichtlichen Bedeutung der formalen Ästhetik im 19. Jahrhundert. In: Scientia Poetica 19 (2015), S. 88–135. 73 Herbart: Kurze Enzyklopaedie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen [1831] (wie Anm. 6), S. 111.
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unterschiedlichen Reihen zwar aus ihrer „Complexion“74 heraus, sie treten aber nicht mehr zusammen, weil die Analyse sie als isolierte Strukturebenen nebeneinander treten lässt. Während Zimmermann theoretisch begreift, dass die Reihen als „gleichzeitig anwesende oder ablaufende“ (S. 29) Elementverknüpfungen miteinander verbunden sind, bleibt die ‚rückwärtige‘ Synthese, die den funktionalen Zusammenhang der Stoffreihen zu erhellen hätte, aus. Auf diesem Weg verwandelt sich die Heterogenität der im Werk gegebenen „Complexionen“ lediglich in eine Heterogenität anderer Art: Ihre Heterogenität besteht darin, dass die Segmentierung der Zeichenebenen zu „unter sich homogenen“ (S. 29) Materialreihen zwar „distincte“75 Elemente hinterlässt, ihr funktionaler Zusammenhang aber unbegriffen bleibt. Darüber hi naus ist das „Einheitssystem“76 noch nicht in der Lage, die Identität der Elemente durch funktionale Zuordnung, d. h. mit Blick auf ihren relationalen ‚Strukturort‘, ihren ‚Wert‘ zu bestimmen. Entsprechend erarbeitet Zimmermann lediglich eine Isotopie, d. h. eine semantisch-thematische Grundreihe, die sämtliche Einzelelemente des Textes durch Rekurrenz und Variation desselben sememischen Vorrats strukturiert. Zwar sieht Zimmermann in allen Elementen des Hamlet die Isotopie ‚Schein/Scheinhaftigkeit‘ realisiert, aber dieses Grundelement resultiert aus einer der Reihenstruktur äußerlichen, thematischen Bestimmtheit und nicht aus der „distincten“77 Bezüglichkeit, in der die Elemente stehen. Weil es im „Einheitssystem“ nur „Verwandtes“78 geben soll, ist der Blick auf die Äquivalenzen des Textes gerichtet, nicht aber auf die Positionalität, die sie hervorbringt. Stärker auf Herbart Bezug nimmt Griepenkerls Nachweis von ‚Musterformen‘ (vgl. Dok. 15). Er verläuft in einer Verbindung von älterem Substanz- und neuem Funktionsbegriff durch eine nochmals als Idee, als eidos, gedachte Form, die Idee aber nur noch insofern ist, als sie als Menge bestimmter Musterformen zu denken ist, die sich in den ästhetischen Objekten manifestieren. Zwar bewahren die als Idee gekennzeichneten „Musterbilder“79 ihren Sinn als partikulare Einzelformen, weil die „Nachbildung“ der Ideen deren Substantialität niemals „entsprechen“ (S. 32) kann. Dennoch tritt an die Stelle unterschiedlich substantieller Formniveaus – hier die Form als unwandelbare Substanz ihres eidos, dort die Form als partikulare Entität – ein Verhältnis von ‚Musterbild‘ und Einzelform, die eine Ebene der Determi74 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 29. 75 Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft [1862] (wie Anm. 41), S. 261. 76 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 83. 77 Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft [1862] (wie Anm. 41), S. 261. 78 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 83. 79 Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik [1827] (wie Anm. 65), S. 29.
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nation von einer Ebene der exécution unterscheidet. Damit ist eine Analytik angesetzt, die durch die Rekonstruktion der im Werk komplex miteinander verbundenen Bezüglichkeiten – das „Vielfachzusammengesetzte“ (S. 30) – elementare „Musterbilder“ isoliert, deren Zahl und deren Identität an sich noch nicht bekannt sind. „Wie viele solcher allgemeinen ästhetischen Ideen es überhaupt geben mag, lässt sich im Voraus nicht bestimmen […]; es muss bei der Analyse der vortrefflichsten Kunstwerke jedes Volkes, jeder Zeit und jeder Art der Versuch gemacht werden“ (S. 30–31). Theoriegeschichtlich erweist sich damit die spätere Grundantinomie des Strukturalismus, die eine Ebene der langue von einer Ebene der parole unterscheidet, als Niederschlag einer formtheoretischen Transformation des neunzehnten Jahrhunderts. Sie nimmt eine eidetische Begriffstradition auf, denkt aber jedes Werk als Vollzug – als exécution – einer gewissen Menge an Musterformen, die nur in den Manifestationen der Objektstruktur greifbar sind und auf dem Weg der „Analyse“ (S. 31) rekonstruiert werden können. Ähnliches lässt sich in der tschechischen Herbart-Linie beobachten. 1881 unternimmt Josef Durdík den Versuch, „Sprache als Zeichensystem“80 zu konzipieren und sie in ihrem „Akt“-Charakter, d. h. als immer erneute ‚Tätigkeit‘ und Manifestation ihrer elementaren Strukturen, zu verstehen (vgl. Dok. 20). Entsprechendes liegt theoriegeschichtlich mit Humboldts Unterscheidung von Sprache als „Werk (Ergon)“ und als „Tätigkeit (Energeia)“, in der sich die „ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen“81, bereit. Allerdings steht sie ihrer aristotelischen Herkunft nach dem semiologischen Impuls der Herbart-Schule fern. Er verhindert im Falle Durdíks freilich nicht, dass diese Proto-Semiologie in dem Maße halbherzig bleibt, wie Durdík das Zeichen als äußerliche Materialisierung einer inneren Konzeption versteht, die dem Zeichen immer schon vorausliegt. Entsprechend wird auch das bereits erkannte Problem der Arbitrarität mit dem Argument abgefangen, Zeichen und Sache stünden in einem Verhältnis innerer Motiviertheit. Methodologisch ähnlich zukunftsweisend wie Zimmermanns Unterscheidung von Segmentierung und Kombination sind Otakar Zichs Bemühungen, die „Formationsqualität“82 von „ästhetischen Objekten“ aufzuhellen, die sich im Zusammenspiel von sog. „Reproduktionsfaktoren“ 80 Josef Durdík: Poetik als Ästhetik der Dichtkunst [Poetika jakožto aesthetika umění básnického]. Prag 1881. Übers. von Alžbeta Peštová, Fachkorrektur von Jörg Krappmann. Olmütz 2017, S. 84. In dieser Ausgabe S. 208–210. 81 Wilhelm von Humboldt: Einleitung zum Kawi-Werk [1830]. In: Ders.: Schriften zur Sprache. Hg. von Michael Böhler. Stuttgart 1973, S. 30–207, S. 36. 82 Otakar Zich: Von den dichterischen Typen [O typech básnických]. In: Zeitschrift für moderne Philologie und Literatur 6 (1917/1918). Übers. von Alžbeta Peštová, Fachkorrektur von Jörg Krappmann. Olmütz 2017, S. 18. In dieser Ausgabe S. 182–203.
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konstituieren (vgl. Dok. 18). Diese Reproduktionsfaktoren bilden „kollektiv“ (S. 18) gewusste Distributionsregeln, nach denen bestimmte Abweichungsverfahren in literarischen Texten Anwendung finden, etwa Verfahren der Rekurrenz, der Selektion, der Häufung, der Projektion, der Auslassung und des Kontrasts. Theoriegeschichtlich führt diese Systematisierung von sprachlich-linguistischen Abweichungskategorien nicht nur in die generativstrukturalen Entwürfe der Rhétorique générale (Groupe µ), die, ausgehend von einer angenommenen „Nullstufe“, durch die Projektion von Klassifikationsebenen ein vollständiges System sprachlicher Devianzen erarbeitet.83 Sie macht vor allem ein folgenreiches Interesse an der Frage geltend, „worin sich die dichterische Sprache von der alltäglichen oder sogar wissenschaftlichen Sprache unterscheidet“84. Insofern besitzt die Theorie der Literarizität der literarischen Sprache, die in die Fachgeschichte der Literaturwissenschaft als Errungenschaft des russischen Formalismus (Viktor Šklovskij, Roman Jakobson) eingegangen ist, eine noch unerschlossene herbartianische Genese. Eine zweite Theorielinie, die den Herbartianismus mit dem Strukturalismus, insbesondere der zweiten Generation des Prager ‚Cercle‘ (Felix Vodička), verbindet, betrifft den Gedanken der „Konkretisation“ und der „Leerstelle“. Bekanntlich sind beide Begriffe für die späteren Rezeptionstheorien zentral. Im Gegensatz zur gängigen Auffassung entspringen sie allerdings nicht dem Prager Strukturalismus, erst recht nicht der zunächst in dessen Unkenntnis entwickelten Rezeptionsästhetik Konstanzer Prägung, sondern besitzen ihren Ursprung in der herbartianischen Psychologie. 1865 leitet Robert Zimmerman aus ihren Vorgaben eine Theorie der „psychischen Gemeinbilder“85 ab, die auf sog. „leer gelassene Stellen“ (S. 280) bzw. auf „Concretionen“ (S. 279) als ihr Korrelat bezogen sind. Unter „psychischen Gemeinbildern“ versteht Zimmermann Vorstellungsbilder, die noch auf die sie erzeugenden, aber apperzeptiv ‚abgesunkenen‘ Elementarvorstellungen transparent sind. Diese als „dunkle Punkte“ „noch merklich“ (S. 279) bleibenden Vorstellungen erzeugen ‚Leerstellen‘ im psychischen Kontinuum, werden aber mit einem Vorstellungsgehalt wieder aufgefüllt und insofern in individuellen „Concretionen“ aktualisiert: „Das psychische Gesamtbild theilt mit der Einzelanschauung die Form; es braucht also nur seine leer gelassenen Stellen mit den specifischen Merkmalen irgend einer Einzelanschauung zu erfüllen d. h. die Hemmung, welche bisher auf denselben lastete, aufhören zu lassen, so steht die concrete Einzelanschauung vollständig 83 Vgl. Jacques Dubois u. a.: Allgemeine Rhetorik [1970]. Hg., übertragen und mit einem Vorwort von Armin Schütz. München 1974, S. 59. 84 Zich: Von den dichterischen Typen [1917/1918] (wie Anm. 82), S. 33. In dieser Ausgabe S. 182–203. 85 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 279.
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im Bewusstsein dar“ (S. 280). Zimmermann hat die formale Ästhetik damit nicht auf eine rezeptionstheoretische Perspektive hin überschritten; schon ihre strikte Orientierung an der Objektivität formaler Werkzusammenhänge hat dies verhindert. Auch die hierdurch nahe liegende Möglichkeit, die spezifische Strukturiertheit der Objekte als Vor-Strukturierung des Konkretisationsprozesses zu denken, Konkretisationen also wie Roman Ingarden86 als Produkt der sie auslösenden Objektstrukturen zu fassen, ergreift Zimmermann noch nicht. Und ebenso wird der „individuelle Vorstellungskreis“, den die Subjekte im Akt der „Concretion“ an die Wahrnehmung von Formen herantragen, aus der Ästhetik ausgeschlossen, weil er die ‚weichen‘ Aprioris von „Gewohnheit“ und „Erziehung“87, Nation und Geschichte, Physiologie und Sitte, Tradition und ‚Herkommen‘ betrifft. „Es ist hier“, so Zimmermann, „ein reiches Feld für physiologische, culturhistorische und ethnographische Untersuchungen. Die Einmischung des individuellen Vorstellungskreises des Subjects öffnet der Wandelbarkeit des Geduldeten in Sachen des Geschmacks einen weiten Spielraum“ (S. 52). Wie diese „Vorstellungskreise“ beschaffen sind, ist kein Gegenstand der Ästhetik, sondern eines kulturgeschichtlichen Tiefenraums, der in einer noch zu konzipierenden Kulturwissenschaft beheimatet wäre. Dennoch eröffnen Zimmermanns Begriffe der „leer gelassenen Stellen“ und der „Concretion“ ein Konzeptnetz, das sich, zum Teil in Bezug auf andere Ansätze innerhalb der herbartianischen Psychologie, über den russischen Formalismus, die phänomenologische Kunsttheorie Roman Ingardens und den Prager Strukturalismus erstreckt und insofern einen konzeptuellen Grundstock sichtbar macht, der in Einzelfällen als dieser Grundstock noch gewusst wird, in anderen Fällen ‚nur‘ als problemgeschichtliches Kontinuum zu werten ist. Zu diesem Kontinuum gehört neben der Theorie der „Verbindungsmerkmale“88, wie sie der Völkerpsychologe und Linguist Heymann Steinthal 1871 auf der Grundlage der herbartianischen Psychologie ausarbeitet, auch Otakar Zichs Theorie der „dichterischen Typen“ von 1917/18 (vgl. Dok. 21). Ihr zufolge zeigen sich die strukturierten Relationen der Formen, ihre literarische Autoreflexivität, gerade nicht im Schriftmedium. Weil die Schrift über die Syntaktik der Verhältnisglieder hinwegspielt und sie diskret werden lässt, zeigen sie sich allein in der prägnanten Klanglichkeit und Rhythmisierung der gesprochenen Sprache. In gewisser Weise gründet diese phonozentrische Autoreflexivität in den Spielräumen, die die lautlich-klangliche Konkretisation eines Textes 86 Vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen im Theaterschauspiel. 3., durchges. Aufl. Tübingen 1965 [11931], S. 358. 87 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 52. 88 Heymann Steinthal: Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft. 2., mit Zusätzen vers. Aufl. Berlin 1881 [11871], S. 118.
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ermöglicht. 1927 wird der Formalist Sergej Bernštein ähnliche Überlegungen in seiner Schrift über die Ästhetischen Voraussetzungen einer Theorie der Deklamation anstellen. Eine dritte Theorielinie führt zum russischen Formalismus und seiner Theorie der Dominante. Sie resultiert aus den Bemühungen der Formalisten, ihre Mitte der 1920er Jahre als statisch erkannten Werkkonzepte zu revidieren und für die Probleme der literarischen Evolution aufzubereiten. 1924 arbeitet Jurij Tynjanov ein „dynamisches“ Werkverständnis aus, das einen strukturdominanten „konstruktiven Faktor“ als spezifische „Deformation“ des literarischen „Materials“89 ansetzt; 1927 nennt Tynjanov diesen an der Verssprache gewonnenen Faktor „Dominante“, um „die spezifischen Sinnund Bedeutungsveränderungen des Wortes in Abhängigkeit von der Vers konstruktion“ (S. 37) zu bezeichnen. Entsprechende Ansätze zur Bestimmung der Dominante lassen sich auch bei Zimmermann nachweisen (vgl. Dok. 19). Insofern führt deren Genese an der bekannten Herleitung aus Broder Christiansens Philosophie der Kunst (1909) vorbei, die dem Formalismus eine Reihe seiner zentralen Kategorien – neben der Dominante auch die Begriffe der „Differenzqualität“ und des „ästhetischen Objekts“ – vermittelt hat.90 Bei Zimmermann resultiert diese Quasi-Dominante bezeichnenderweise aus den skizzierten Schwierigkeiten der formalen Methode. Ihr Problem bestand ja darin, dass sie zwar Strukturreihen lautlicher, semantischer oder rhythmischer Natur segmentieren, aber keine Einsichten in ihren funktionalen Bezug gewinnen konnte. Wie Zimmermanns Überlegungen zur „literarischen Gedankenphantasie“ (den „Kunstwerken des durch Worte ausdrückbaren Vorstellens“91) aber zeigen, bleiben die Materialschichten nicht einfach unverbunden. Vielmehr fügen sie sich je nach ästhetischem Medium, bspw. im Verhältnis von Musik und Poesie, in unterschiedliche Strukturanweisungen der Unter- und Überordnung und bilden insofern unterschiedliche Formen struktureller Integrität aus: „Daher ist auch das Phonetische des Poetischen ein ganz anderes als das des Musikalischen. […] Das Phonetische der Musik beansprucht vollständige, das der Poesie nur dem Gedanken sich unterordnende Geltung“ (S. 348). Offenkundig geht es Zimmermann um eine Objektstruktur, die durch nicht beliebig geschichtete Materialreihen gekennzeichnet ist. Sie verschafft den unterschiedlichen ästhetischen Medien dadurch eine innere Integrität, dass sie die 89 Jurij N. Tynjanov: Das Problem der Verssprache. Zur Semantik des poetischen Textes [1924]. Aus dem Russischen übers., eingel. und mit Registern vers. von Inge Paulmann. München 1977, S. 41. 90 Vgl. Broder Christiansen: Philosophie der Kunst. Berlin 1912 [EA Hanau 1909], S. 242, S. 121, S. 50. 91 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 275.
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Sukzession der Zeichen mit Blick auf je unterschiedliche lautliche, semantische oder rhythmische Dominanten ordnet und zu unterschiedlichen Primärtypen konkretisiert; in gewisser Weise sind die Künste nur typologische Produkte der je unterschiedlichen Schichtung ihrer Reihen. Zwar bewegen sich die phonetischen, rhythmischen und semantischen Komponenten im Falle von Poesie und Musik in der Parallelität ihres syntagmatischen Vollzugs, aber nur je eine der möglichen Materialreihen dient mit Blick auf die unterschiedlichen ästhetischen Medien als Integrationszentrum des Werk syntagmas. Alle anderen Strukturkomponenten begleiten die dominante Materialreihe nur bzw. treten in ihrer ‚Fühlbarkeit‘ hinter sie zurück, weil sie funktional auf sie bezogen sind. Gegenüber der ‚reifen‘ strukturalistischen Theorie der Dominante, wie sie 1935 von Roman Jakobson ausgearbeitet wird,92 ist diese Strukturbeschreibung noch sichtlich reduktionistisch. Gleichwohl trifft Zimmermann Jakobsons Dominante in dem elementaren Sinn, dass eine einzelne Strukturkomponente alle anderen im Werkzusammenhang reguliert; im Falle der „gebundenen Rede“ die „prosodische Struktur“ (S. 212) bzw. ihre Versform. Nur dies erklärt, warum in Zimmermanns Auffassung eine dominante phonetische Struktur im Falle der Poesie, die auf ihren Sinn als ihr übergeordnetes (dominantes) Strukturprinzip hin gerichtet ist, droht, bloßer „,Klingklang‘“93 zu werden. Als Dominante gesetzt, würde das „Phonetische des Poetischen“ (S. 348) fortwährend über den Sinn der Texte hinwegspielen und ihre Bedeutung in der Eigenbewegung der Lautlichkeit zerstreuen. Das erklärt aber auch, warum das „Phonetische“ andererseits nicht zum „blossen gleichgiltigen Lautzeichen erniedert“ (S. 349) werden darf. Als reines Klangzeichen reduziert es die ‚Intelligibilität‘ der poetischen Äußerung. Insofern läuft Zimmermanns Theorie der Poesie auf eine Binnenverteilung von Strukturkomponenten hinaus, die das ‚Gedankliche‘ der Poesie primär setzt, das Phonetische aber so aufwertet, dass es dieses ‚Gedankliche‘ sekundär trägt, ohne es zugleich in seiner asemantischen Lautlichkeit hinwegzureißen.
X. 1862 hat Zimmermann angeregt, „das Wort ‚Form‘“ als einen „in der Musik eben so gut wie in der Malerei, in der Poesie wie in der Plastik, in der Architektur wie in der rhythmischen Kunst […] anwendbaren Begriff“ aufzufassen, und der Ästhetik nahe gelegt, „sich zu einer allgemeinen Kunst92 Vgl. Roman Jakobson: Die Dominante [1935]. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979, S. 212–219. 93 Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft [1865] (wie Anm. 15), S. 349.
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wissenschaft aufzubauen.“94 Zimmermanns Impuls hat im zwanzigsten Jahrhundert eine reiche Nachgeschichte provoziert; sie führt von Oskar Walzels 1917 erschienener Wechselseitiger Erhellung der Künste über die in den 1960er Jahren angestrengten Bemühungen um eine allgemeine Kunst- und Medienwissenschaft bis in die gegenwärtigen Intermedialitätstheorien. Noch die jüngsten Konzepte der sog. Comparative Arts stehen in dieser Tradition. Zu den frühesten Versuchen, eine „allgemeine Kunstwissenschaft“ auf herbartianischer Grundlage zu schaffen (vgl. Quellenteil V.), gehört Otakar Hostinskýs 1877 erschienene Schrift über das Gesammtkunstwerk vom Standpuncte der formalen Aesthetik (vgl. Dok. 22).95 In gewisser Weise geht es hier um eine Intermedialitätstheorie, die ihre Instrumentarien schon sehr entschieden am Fall des Gesamtkunstwerks erprobt. Hostinský, der sich 1877 unter Beteiligung von Ernst Mach in Prag habilitiert hat, verknüpft in einer vordergründig unvereinbaren Weise das Hanslicksche Paradigma der Instrumentalmusik mit Wagners Gesamtkunstwerk. Hostinskýs Argument lautet, dass die relational strukturierten Einzelkünste im Gesamtkunstwerk ihrerseits in eine Relation treten. Szene, Poesie und Musik folgen derselben temporalen Sukzession, wobei die Wagnersche Technik des Leitmotivs gegen den musikalischen Prozess Rekursionen, d. h. zurückliegende Erinnerungsschichten, aktualisiert, so dass sich durch das dramatische Geschehen ein narratives Verweisungssystem legt. Musik und Poesie sind dabei insofern eng verbunden, als die Poesie als Sukzession von Vorstellungen in der Musik auf dieselbe Verlaufsform trifft, weil sich die Musik im Nacheinander der Tonfolgen und damit ebenfalls als zeitliche Sukzession strukturiert. Man muss zum richtigen Verständnis vor Augen haben, dass Hostinský das Gesamtkunstwerk vollständig von den sozialutopischen Implikationen entkleidet, wie sie den Begriff seit seinem ersten Auftauchen bei Karl Friedrich Eusebius Trahndorff (Ästhetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst, 1827) und im Gefolge Wagners, der den Begriff allerdings nur episodisch und ohne terminologisches Gewicht verwendet hatte, begleiten. Zu dieser Tradition, die Musik- und Literaturwissenschaft bis heute dominant nachbilden, steht Hostinský in dem Maße quer, wie das Gesamtkunstwerk ‚nur‘ der Name für die Strukturtheorie eines Objekts ist, die im Nachvollzug der funktionalen Verknüpfung seiner Materialschichten eine Selbstexplikation formalistischer Objekttheorien vollzieht. In gewisser Weise verschafft sich die herbartianische Formanalyse bei Hostinský eine Redeskription, indem sie ihre Instrumentarien an der Strukturintensität des Objekts ausrichtet und durch sie hindurchführt. 94 Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft [1862] (wie Anm. 41), S. 256. 95 Vgl. Otakar Hostinský: Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk vom Standpuncte der formalen Aesthetik. Eine Studie. Leipzig 1877.
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Zu den Disziplinen, die herbartianische Formkategorien frühzeitig aufgenommen haben, zählt nicht ohne Grund die Kunstwissenschaft. Ihre gewissermaßen natürliche Affinität zur herbartianischen Ästhetik mag man darin sehen, dass Alois Riegl ein Wiener Schüler Zimmermanns war; überhaupt ist die Erinnerung an das formalästhetische Erbe der Kunstwissenschaft in ihrer Gründergeneration (Heinrich Wölfflin, Konrad Fiedler) am ehesten lebendig geblieben. In den entsprechenden Fachgründungsimpulsen ist Adolf Hildebrands formalästhetische Grundlegung der Kunstwissenschaft allerdings bis heute weitgehend unbekannt. Dabei erweist sich die kleine Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst (vgl. Dok. 23), 1893 zum ersten Mal und noch 1910 in einer achten Auflage erschienen, als ein heimlicher Referenztext für eine ganze Reihe kunst- und kulturwissenschaftlicher Konzeptualisierungen um und nach 1900. Ernst Cassirer hat ihn nachweislich um 1928 im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner Symbolischen Formen gelesen und exzerpiert, Šklovskij hatte schon 1919 in seinen Überlegungen zum Suprematismus auf Hildebrand zurückgegriffen.96 Hildebrand (1847–1921) verknüpft Thesen zur konstruktiven Autonomie des Bildaufbaus mit dem Versuch, die noch junge Kunstwissenschaft mithilfe elementarer Antinomien („Daseinsform“ vs. „Wirkungsform“ bzw. „Gesichtsvorstellung“ vs. „Bewegungsvorstellung“) zu fundieren. Dies stellt Hildebrand an die Seite anderer Fachbegründungen und konvergiert mit ähnlichen Dichotomisierungen, die die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe Wölfflins (1915) oder Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung von 1908 prägen. In der leitenden Unterscheidung von „Daseinsform“ und „Wirkungsform“97 liegt der Fokus allerdings entschieden auf der „Wirkungsform“. Während die „Daseinsform“ lediglich die räumlich-plastische Gestalt eines beliebigen Objekts bezeichnet, distanziert die „Wirkungsform“ dasselbe Objekt in ein „Fernbild“ (S. 8), das es in seiner immanenten Relationiertheit, d. h. als Verhältnis von aufeinander Bezug nehmenden Gestalt-, Größen-, Helligkeits- und Farbwerten sichtbar macht. Ganz herbartianisch besteht die ästhetische Relevanz dieser Kompositionselemente nicht in dem Maß ihrer mimetischen Übereinstimmung mit einer außerästhetischen Realität. Vielmehr bemisst sie sich an der Strukturdichte, mit der die Kompositionselemente relationale Momente in einem übergreifenden Kompositionszusammenhang bilden und sich in dieser konstruktiven Autonomie der Realität 96 Vgl. Michaela Hinsch: Die kunstästhetische Perspektive in Ernst Cassirers Kulturphilosophie. Würzburg 2011, S. 150; Viktor Šklovskij: Der Raum in der Malerei und die Suprematisten [1919]. In: Larissa A. Shadowa (Hg.): Suche und Experiment. Aus der Geschichte der russischen und sowjetischen Kunst zwischen 1910 und 1930. Dresden 1978, S. 323–326. 97 Adolf Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst. 7. und 8. verm. Aufl. Straßburg 1910 [11893], S. 16–17.
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entwinden. In gewisser Weise übersetzt diese Relationalität die empirische Gegenstandswelt in eine autonome Konstruktion, von der aus kein Durchgriff in die Welt der Objekte mehr erfolgt. Von der „Daseinsform“ führt kein unmittelbarer Weg in die „Wirkungsform“, vom Objekt kein Weg in die bildnerische Relationalität, und wenn, dann nur noch auf dem Weg einer gewissermaßen relational-zeichenhaft aufzuweisenden Umwandlungsbilanz. Hildebrands Konzeption endet damit ebenso konsequent in einer frühen Theorie der bildnerischen Abstraktion, wie die herbartianische Ästhetik in einer ihrer ideengeschichtlichen Hauptlinien in das moderne Abstraktionsdenken als solches mündet.98 Gleichwohl liegt das eigentliche Primat der herbartianischen Ästhetik auf der Musik. Diese Vorrangstellung hat zunächst normative Gründe, weil die Musik bei Herbart dazu dient, der in ihrem szientifischen Status ungeklärten Ästhetik verlässliche Prinzipien – „Grundregeln“99 – zu vermitteln, wie sie im Kontrapunkt und in den einfachen Tonverhältnissen der Intervalle angelegt sind. Diese musiktheoretische Fundierung der Ästhetik ist ein durchgehendes Motiv der Herbart-Schule und findet 1863 durch die sinnesphysiologischen Einsichten von Helmholtz (Die Lehre von den Tonempfindungen, 1863) in die Struktur der Obertöne nochmals neue Nahrung. Für das Primat der Musik gibt es allerdings auch einen theoriegeschichtlichen Grund. Er stützt sich auf den schon im antiken bzw. pythagoreischen Konzept der musiké angelegten Umstand, dass Musik adäquat ohnehin nur in Begriffen des Verhältnisses beschrieben werden kann. Vor allem die Instrumentalmusik nach 1800 ist hierfür von Bedeutung, weil deren nicht-semantischer Charakter eine formalästhetische Beschreibung nachgerade auf sich gezogen hat. Man muss vermuten, dass die kulturellen Festlegungen hinsichtlich der Frage, welche auditiven Phänomene im neunzehnten Jahrhundert im Unterschied zu anderen als (Kunst-)Musik zu gelten haben, maßgeblich von dieser formalästhetischen Präsupposition angeleitet worden sind. Noch Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen stellt den Versuch dar, unter Verweis auf die Autonomie instrumentalmusikalischer Formen bestimmte auditive Strukturen als eigentliche zu ermitteln und das entsprechende epistemische Feld im Paradigma ‚reiner‘ bzw. ‚absoluter‘ formaler Beziehungen zu stabilisieren. Insofern verlaufen die Begründungszusammenhänge umgekehrt, weil die ästhetischen Prozesse, die im neunzehnten Jahrhundert zu einer bis heute andauernden Determination von musikalischen Praktiken und Rezeptions98 Vgl. Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven formaler Ästhetik. Neuaufl. Frankfurt a. M., New York 2008 [Hamburg 11997]. 99 Johann Friedrich Herbart: Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre [1811]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 3. Langensalza 1888. Neudruck Aalen 1964, S. 97–118, S. 117.
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gewohnheiten geführt haben, von formalästhetischen Konzepten gesteuert werden. Was im neunzehnten Jahrhundert als Musik ansprechbar ist und entsprechende Produktions- und Rezeptionsmuster festlegt, wird von formalästhetischen Impulsen so vorstrukturiert, dass sich die anthropologischen Muster, d. h. gewisse Erfahrungsmodalitäten im Umgang mit Musik, erst sekundär einstellen. Musikspezifische Aneignungsweisen lagern sich gewissermaßen an eine ihnen vorgängige diskursive Festlegung an, was als Musik zu gelten hat und in welcher Hinsicht sie, wenn sie erst einmal im Paradigma der Instrumentalmusik verankert ist, als Erleben formaler Zusammenhänge begriffen werden kann. Insofern ist der moderne Musikbegriff in weiten Teilen das Produkt seiner sich im neunzehnten Jahrhundert verfestigenden formalästhetischen Beschreibbarkeit und der deskriptiven Erfolge, die sich aus den Affinitäten zwischen (in dieser Reihenfolge) Methode und Gegenstand, zwischen Beobachtung und Sache ergeben. Otakar Zichs 1911 erschienene, vom „Standpunkt der formalen Ästhetik“100 argumentierende Studie über die Ästhetische Wahrnehmung der Musik (eigentlich seine Habilitationsschrift) steht ausdrücklich in dieser Tradition (vgl. Dok. 24). Lediglich die „Instrumentalmusik“ (S. 69) erhält den „noetischen“ (S. 96) Status eines „musikalischen ästhetischen Objekts“ (S. 53), während Vokalmusik, Melodrama und Programmmusik als „zusammengesetzte“, „musikalisch-poetische Objekte“ (S. 53) von der Betrachtung ausgeschlossen werden. Damit rückt Zich unter Bezug auf den Begriff der „Bedeutungsvorstellung“, den er Johannes Volkelts (1848– 1930) 1905 erschienenem System der Ästhetik101 entnimmt, den Bedeutungsaufbau ästhetischer Objekte in den Mittelpunkt. Zwar bleibt die ästhetische Wahrnehmung in der Tradition Herbarts psychologisch fundiert, aber die Bedeutung des ästhetischen Objekts liegt auf einer kategorial anderen Ebene. Es besitzt, ähnlich wie im russischen Formalismus und seiner Konzeption des ‚Faktums‘, den Status eines „Dings“. „Dinge“ sind die unterschiedlichen „musikalischen Gebilde“102, soweit sie reale, von funktionalen Zusammenhängen strukturierte Sachverhalte sind, die im Verhältnis zu anderen musikalischen „Dingen“ – Harmonie, Tonhöhe, Klangfarbe etc. – beschrieben werden können. Entsprechend stellt sich der Zusammenhang des musikalischen Objekts nicht durch eine semantische, d. h. stimmungs hafte Projektion von Gedankeninhalten auf den musikalischen Prozess 100 Otakar Zich: Die ästhetische Wahrnehmung der Musik [Estetické vnímání hudby]. Prag 1911. Übers. von Alžbeta Peštová, Fachkorrektur von Jörg Krappmann. Olmütz 2016, S. 7. In dieser Ausgabe S. 233–245. 101 Johannes Volkelt: System der Ästhetik. Bd. 1. Grundlegung der Ästhetik. 2., stark veränd. Aufl. München 1926 [11905], S. 123. 102 Zich: Die ästhetische Wahrnehmung der Musik [1911] (wie Anm. 100), S. 54.
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her. Vielmehr ergibt sich seine Bedeutung aus dem strukturierten Bezug der Klangfolgen, d. h. der Tonhöhen und Klangfarben, der harmonischen Fortschreitungen und rhythmischen Veränderungen; aus diesem Grund sind die „Bedeutungsvorstellungen“ auch „rein musikalischen Ursprungs“ (S. 53). Im Gegensatz zu einer semantischen Musikauffassung, die Zich als „,literarisches‘ Schematisieren“ (S. 61) diskreditiert, erschließt sich die Bedeutungsvorstellung nicht von einer dem musikalischen Zeichen vorgängigen Affektivität. Bedeutung resultiert hier allein aus der Autoreflexivität musikalischer Strukturen und ihrer Verhältnisse. Diese „präsemantische“103 Theorie der Bedeutung leitet in eine semiotische Konzeption über, weil sie Bedeutungen nicht mehr als Affektsubstrate, d. h. durch eine den Klangzeichen vorausliegende Semantik fasst, sondern als eine gegenüber der Apperzeption eigensinnige Ebene der Strukturierung von Zeichenzusammenhängen. Theoriegeschichtlich erweist sich das strukturale Denken des zwanzigsten Jahrhunderts damit auch als ein Produkt der Autonomie des musikalischen Zeichens.
XI. Eine Edition, die den Leser mit vergessenen bzw. mehrheitlich unbekannten Texten vertraut machen will, muss über die Prinzipien ihrer Auswahl Rechenschaft ablegen. Einerseits besitzen die hier versammelten Texte für die ästhetiktheoretischen Positionen der Herbart-Schule paradigmatischen Charakter. Andererseits sollen sie horizontbildende Leistungen sichtbar machen, indem sie hervortreten lassen, was an ihnen für die weitere Theoriegeschichte der Ästhetik, überhaupt für die Theoriebildung in den Geistes- und Kulturwissenschaften, impulsgebend und folgenreich gewesen ist. Dabei ist mehrheitlich zugunsten längerer Passagen und relativ großer Textoberflächen entschieden worden; zum einen, weil die Argumentationen oft schwierig und voraussetzungsvoll sind; zum anderen, weil es darum gehen musste, Redundanzen zu vermeiden. Wie bei anderen Denkschulen auch lassen sich in einem so ausgeprägten Schulzusammenhang wie dem Herbartianismus leicht gemeinsame und wiederkehrende Grundüberzeugungen nachweisen und quellenförmig belegen. Anders aber als bei Editionen, die ein synchrones Diskursfeld – man denke bspw. an die Theorie des bürgerlichen Realismus – dokumentieren und darin ein kollektiv verankertes, z. T. um Schlagworte geronnenes, ‚breites‘ Wissen erfassen, geht es im Falle der Herbart-Tradition – ungeachtet aller Schulbildungseffekte – um möglichst 103 Oleg Sus: Die Genese der semantischen Kunstauffassung in der modernen tschechischen Ästhetik. In: Die Welt der Slaven 17 (1972), S. 201–224, S. 207.
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prägnante Positionen. Das ist nicht im Sinne einer Wiederentdeckung von zu Unrecht vergessenen Autoren zu verstehen. Einer Einsicht der historischen Diskursanalyse zufolge sind Autoren lediglich Zurechnungsgesichtspunkte für Argumente und Denkfiguren. Es liegt jedenfalls im grundlagentheoretischen Charakter der herbartianischen Ästhetik, dass es auf die Frage, wer innerhalb des Paradigmas welche Position bezieht, nur sekundär ankommt; dass Autoren wie Griepenkerl, Bobrik, Hostinský oder Zimmermann kaum mehr bekannt sind, hängt nicht nur mit höchst selektiven Rezeptionsprozessen zusammen, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gewichtige theoretische Impulse abschneiden, sondern auch mit der Struktur eines Theoriebestands, der eine eigene, Autornamen und Werkgrenzen übersteigende Applikationsneigung besitzt. Offenbar hat der herbartianische Formbegriff Konzeptualisierungsmöglichkeiten bereitgehalten, die sich als strukturierte Möglichkeiten jenseits der Einzelautoren und unterhalb ihrer ästhetischen Positionen etablieren und gewissermaßen auf ihre Artikulation ‚warten‘. Der Edition liegen die jeweils einschlägigen Textausgaben zugrunde. Die Texte Herbarts folgen der von Otto Flügel und Karl Kehrbach herausgegebenen Ausgabe der Werke Herbarts, in zwei Fällen beruht die Edition auf jüngeren Einzelausgaben, die auch außerhalb der Werkausgaben leicht erreichbar sind. Die Texte der anderen Autoren folgen mehrheitlich den Erstausgaben. Bei den Übersetzungen der Texte Josef Durdíks und Otakar Zichs, die Alžběta Peštová und Jörg Krappmann besorgt haben, galt das Prinzip größtmöglicher Nähe zum Original; das betrifft auch die ausgeprägt wortschöpferische Tendenz der Texte Durdíks, die das Tschechische des neunzehnten Jahrhunderts stark geprägt hat. In den zum Teil eigenwilligen Duktus der periodenorientierten Syntax, die Durdík im Unterschied zu Zich noch verwendet, ist ebenso zurückhaltend eingegriffen worden, wie das Lexikon der Texte nicht zwanghaft modernisiert wurde. Auslassungen sind in allen Texten durchgängig kenntlich gemacht worden; kursivierte Hervorhebungen entsprechen den Hervorhebungen in den Quellen. In einigen Fällen sind die umfangreichen Anmerkungsapparate der Quellen aus Gründen der Lesbarkeit getilgt worden. Die Brauchbarkeit einer Edition bemisst sich nicht zuletzt daran, wie sie dem Leser Kontextinformationen zur Verfügung stellt, die er selbst mühselig beschaffen müsste. Die vollständigen bibliographischen Angaben der Quellentexte, denen die Textauszüge entnommen sind, finden sich in den Textnachweisen am Ende des Bandes. Ein Autorenverzeichnis skizziert überblickshaft die Biographien der Autoren. Die Auswahlbibliographie versammelt einführende und grundlegende Literatur zum Thema. Der Herausgeber hat zu danken: An erster Stelle dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds für die Förderung der Drucklegung der Edition;
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sodann Alžběta Peštová und Prof. Dr. Jörg Krappmann (Olmütz) für die Teilübersetzung der tschechischsprachigen Ästhetiken; Jana Hohn, M.A., Fabian Schallenberg und Marco Weber für die Erfassung und Transkription der Quellentexte; Cordula Haak, M.A., für die redaktionelle Betreuung der Edition im Ganzen.
Dokumente
I. Begründung der formalen Ästhetik 1. Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (1813) § 81. Das Schöne und Häßliche, insbesondere das Löbliche und Schändliche, besitzt eine ursprüngliche Evidenz, vermöge deren es klar ist, ohne gelernt und bewiesen zu sein. Allein die Evidenz durchdringt nicht immer die Nebenvorstellungen, welche teils begleitend, teils von jenem selbst verursacht, sich einmischen. Daher bleibt es oftmals unbemerkt; oft wird es gefühlt, aber nicht unterschieden; oft durch Verwechslungen und falsche Erklärungen entstellt. Es bedarf also, herausgehoben, und in ursprünglicher Reinheit und Bestimmtheit gezeigt zu werden. Dieses vollständig zu leisten, und die, teils unmittelbar gefallenden, teils durch die Aufgabe, das Mißfallende zu meiden, herbeigeführten Musterbegriffe (Ideen) geordnet zusammenzustellen, ist die Sache der allgemeinen Ästhetik; worauf die verschiedenen Kunstlehren sich stützen müssen, welche Anleitung geben, wie unter Voraussetzung eines bestimmten Stoffes, durch Verbindung ästhetischer Elemente, ein gefallendes Ganzes könne gebildet werden. Die Einleitung in die Ästhetik hat das Geschäft, die ersten Schwierigkeiten hinwegzuräumen, welche entstehen, wenn sich die verschiedenen, hier in Betracht kommenden, Reihen von Begriffen verwirren. Das Geschäft ist also das logische der Auseinandersetzung und Anordnung. Erstlich nun liegt das Schöne im allgemeinsten Sinne (das καλὸν, welches das sittlich Gute unter sich befaßt), in einer Reihe anderer Begriffe, welche auch ein Vorziehen und Verwerfen ausdrücken; von diesen muß es gesondert werden. […] § 82. Der gemeinen Verwechslung des Schönen und Guten mit dem Nützlichen und Angenehmen muß zuerst Erwähnung geschehen; obgleich diejenigen davor beinahe sicher sind, welche mit irgendeiner Kunst oder Wissenschaft sich gehörig, d. h. deren innere Vortrefflichkeit anerkennend, beschäftigen. Das Nützliche hat einen außer ihm liegenden Beziehungspunkt; es setzt irgend etwas anderes voraus, wozu es nütze. […] Zu dem Angenehmen im weiteren Sinne wird die Befriedigung der Begierden mit gerechnet; welche sich von dem Schönen und Guten, als einem
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stetigen, und sich gleichbleibenden Gegenstande sehr leicht unterscheidet, indem die Befriedigung eine Begehrung voraussetzt, das Begehren aber ein zeitlich wechselnder, zufälliger Zustand ist. Allein das Angenehme und sein Gegenteil im engeren Sinne ist in der Tat mit dem Gefallenden und Mißfallenden sehr nahe verwandt. Es besteht nämlich in derjenigen unmittelbaren Empfindung, vermittelst deren wir ein Empfundenes, ohne weiteren Grund, und selbst ohne Begierde oder Abscheu, vorziehen oder verwerfen. Man kann sogar das Unangenehme, z. B. einen elektrischen Schlag, begehren (während man experimentiert), das Angenehme dagegen verabscheuen (aus Furcht vor übeln Folgen); und bei aller Lebhaftigkeit jener Begierde und dieses Abscheus dennoch des Angenehmen und Unangenehmen als solchen sich bewußt bleiben. – Zu der unwillkürlichen Beurteilung, wodurch das Schöne und Gute erkannt wird, fehlt hier nichts weiter, als ein Gegenstand der Beurteilung, der uns gegenüber trete. Denn das Angenehme und Unangenehme schreiben wir als ein Gefühl uns selbst zu. Das nämliche ereignet sich bei jeder mangelhaften Auffassung des Schönen, wo wir auch nicht wissen, was uns eigentlich gefallen habe. Daher auf der einen Seite die Leichtigkeit der Verwechslung, – während auf der andern Seite doch der nämliche Umstand auch die Unterscheidung erleichtert. Denn wer das Schöne schärfer betrachtet, der findet allemal einen Gegenstand, welcher ihm zu denken gibt; das Angenehme hingegen bleibt immer nur gegenwärtig in augenblicklichen Gefühlen, aus denen sich weiter nichts machen läßt, und über welche man eben deshalb durchs Nachdenken sich mehr oder minder hinweggesetzt findet. […] § 83. Während nun das Angenehme und Unangenehme aus dem eben angegebenen Grunde, bei fortschreitender Bildung immer mehr als etwas Geringfügiges und Vorübergehendes zurückgestellt wird: hebt sich dagegen das Schöne, als etwas Bleibendes von unleugbarem Werte, immer mehr hervor. Aber aus dem übrigen Schönen selbst scheidet sich das Sittliche heraus, als dasjenige, was nicht bloß als eine Sache von Wert besessen wird, sondern den unbedingten Wert der Personen selbst bestimmt. Endlich aus dem Sittlichen sondert das Rechtliche sich ab, als dasjenige, worauf die gegenseitigen Forderungen der Menschen dringen, und ohne dessen Beachtung die unentbehrliche gesellschaftliche Einrichtung nicht bestehen könne. So erlangen die verschiedenen Gegenstände des unmittelbaren und willkürlosen Vorziehens und Verwerfens ein ganz verschiedenes Gewicht in der Schätzung der Menschen. Allein das darf die Wissenschaft nicht hindern, die Gleichartigkeit aller dieser Gegenstände anzuerkennen. […] § 84. Da das Schöne gegenständlich oder objektiv sein soll: so wird jetzt, um es zu genauerer Kenntnis hervorzuheben, nötig, die subjektiven Gemütszu-
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stände abzusondern, durch welche es anscheinend Prädikate bekommt, die in die verschiedensten Gattungen des Schönen zugleich eingreifen. Man nennt es z. B. bald prächtig, bald lieblich, bald niedlich; welche Prädikate ebensogut einem Werke der Poesie, als der Plastik, als der Musik zukommen können, wobei deshalb weder für poetische Gedanken, noch für plastische Umrisse, noch für musikalische Töne irgendeine sie selbst betreffende Bestimmung gewonnen wird. Und das objektive Schöne und Häßliche in der Poesie zu erkennen, müßten Unterschiede solcher und anderer Gedanken nachgewiesen werden; es müßte also wenigstens von Gedanken überhaupt die Rede sein. Um das objektive Schöne und Häßliche in der Plastik zu erkennen, müßten Unterschiede solcher und anderer Umrisse nachgewiesen werden; es müßte also von Umrissen die Rede sein. Um das Schöne und Häßliche in der Musik zu erkennen, müßten Unterschiede solcher und anderer Töne nachgewiesen werden; es müßte also von Tönen die Rede sein. Nun enthalten die Prädikate prächtig, lieblich, niedlich (und viele ähnliche), nichts von Tönen, Umrissen, Gedanken; sie geben also auch nichts zu erkennen vom objektiven Schönen, weder in der Poesie noch Plastik noch Musik. Wohl aber begünstigen sie die Einbildung: es gebe ein objektives Schönes, welchem Gedanken, Umrisse, Töne gleich zufällig seien; und dem man sich annähern könne, indem man poetische, plastische, musikalische Eindrücke von ähnlicher Art zugleich empfange, die Gegenstände aber allmählich schwinden lasse, und nur die erregten Gemütszustände zu verlängern suche. § 85. Jedes Werk der schönen Natur und Kunst erhebt uns über das Gemeine; es unterbricht den gewöhnlichen Lauf des psychischen Mechanismus. Fragt man aber, wie derselbe könne unterbrochen werden: so ist die leichteste Antwort: durch Erregung von Affekten. Diese sind entweder deprimierend oder exzitierend; überdies in beiden Klassen noch äußerst mannigfaltig; sämtlich aber vorübergehend, wodurch sie sich von dem durch sein Objekt festgestellten ästhetischen Urteil unterscheiden. In der Tat nun läßt sich bei den meisten ästhetischen Gegenständen die Spur erkennen, daß ihre Wirkung mit Erregung einer Art von Affekten begann; so ist die Poesie nach den Seiten des Tragischen und des Heiteren, oft Komischen, auseinandergetreten, indem sie entweder deprimierend oder exzitierend ins Gemüt eingreift. Nicht sicherer kann der ästhetische Gegenstand eingreifen, als indem er affiziert; nicht besser kann der Affekt endigen, und von ihm das Gemüt sich reinigen, als durch Übergang in das zurückbleibende ästhetische Urteil. […] § 86. Sucht man nun die Prinzipien der Ästhetik, das heißt, die einfachsten ursprünglichen Bestimmungen dessen, was an Objekten als solchen unwillkürlich gefällt oder mißfällt: so kann ein doppelter Fehler begegnen; indem erstlich wegen zu weit getriebener Abstraktion die Gegend überschritten
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wird, wo die Prinzipien liegen; zweitens wegen mangelnder Abstraktion von dem, was man beiseite setzen sollte, die ästhetischen Urteile mit Erregungen von Lust und Unlust verwechselt oder doch vermischt werden. Das allgemeine Kennzeichen des Ästhetischen, daß es als objektiv unwillkürlich gefällt oder mißfällt, findet sich an so verschiedenen Gegenständen, daß, wenn man von aller dieser Verschiedenheit abstrahiert, nichts Objektives übrig bleibt. Man hat also in der Höhe dieser Abstraktion kein Objekt mehr, woran ein ästhetisches Urteil etwas zu bestimmen anträfe; das heißt, man kann in dem Inhalte des Begriffs vom Ästhetischen die Prinzipien nicht finden, sondern man muß in den Umfang des Begriffs hinabsteigen, um sie zu suchen. Dagegen wirken alle ästhetischen Gegenstände bei günstiger Gemütslage auf den Gemütszustand. Hat man nun vom Subjektiven nicht abstrahiert: so wird man in den Erregungen die Prinzipien der Ästhetik suchen; und sie deshalb verfehlen. § 87. Um diesen unrechten Weg desto sicherer zu vermeiden, mögen die Prädikate, welche von der Erregung hergenommen sind, etwas ausführlicher als vorhin, betrachtet werden. Man fängt nach Kant gewöhnlich damit an, das Schöne vom Erhabenen zu unterscheiden. Man sieht also das Schöne im engeren Sinne als eine Art an, zu welcher das Ästhetische der Gattungsbegriff sein würde. Dies Schöne im engeren Sinne soll durch seine Form gefallen, die in der Begrenzung bestehe; das Erhabene dagegen auch an formlosen Gegenständen zu finden sein, welche auf die Vorstellung des Unbegrenzten führen. Zum erstern gehören die vier kantischen Bestimmungen (nach Qualität, Quantität, Relation, Modalität), daß erstlich das Schöne ohne (subjektives) Interesse, zweitens als gemeingültig, obgleich ohne ursprüngliche logische Quantität des ästhetischen Urteils, drittens als ob es zweckmäßig geformt wäre, jedoch ohne Vorstellung eines bestimmten Zwecks, viertens als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens zu betrachten sei. Zum zweiten gehört die Einteilung des Erhabenen in das mathematisch und dynamisch Erhabene. Hierbei wird aber sogleich eingeräumt, daß mit der Auffassung des Erhabenen eine Gemütsbewegung verbunden sei; wie natürlich, indem dasselbe uns über das Gemeine hinwegsetzt. […] § 88. Wir setzen jetzt zwar die ganze Reihe der Erregungen, da sie für das objektive Schöne nur subjektive Beziehungen abgibt, einstweilen beiseite; jedoch ist noch der Standpunkt in Betracht zu ziehen, welchen der Anschauende des Ästhetischen sich selbst zuschreibt. Anfangs war er ergriffen, mithin passiv. Besinnt er sich nun, daß ihm der Künstler nicht etwa (gleich dem Redner, welcher in notwendigen An-
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gelegenheiten auf Entschluß dringt), Gewalt angetan hatte, – daß überhaupt das Schöne und Häßliche selbst im weitesten Sinne, wo es das Gute und Schlechte unter sich befaßt, ihm, dem bloßen Zuschauer, nichts verheißt noch droht: so fühlt er sich frei, und befreit von der anfänglichen Aufregung. […] Hier nun ist der Ursprung derjenigen Ästhetik, welche auch Kritik des Geschmacks heißt, und deren Unsicherheit zu dem Satze Anlaß gab: man müsse über den Geschmack nicht streiten. Die Urteile fallen nämlich verschieden aus, wenn ein verschiedenes Licht auf den Gegenstand geworfen, – wenn er mit verschiedentlich geteilter und wechselnder Aufmerksamkeit betrachtet wird. Hiergegen können große und vielfach zusammengesetzte Gegenstände der Natur und Kunst sich niemals ganz sichern; sie rechnen vielmehr oft selbst darauf, der Zuschauer werde vieles hinzudenken, vieles hineinlegen; hiermit überlassen sie manches seiner Apperzeption, welche gar mannigfaltig nach Individualitäten und Stimmungen auszufallen pflegt. Überdies haften solche Werke an irgendeinem Stoffe; und in die Kritik mischt sich eine Menge von Fragen, ob der Stoff passend, ob die Vorteile, welche er darbieten konnte, im Kunstwerke benutzt sind. Das alles lenkt ab von der eigentlichen Auffassung des Schönen; und es zeigt sich, wie schwierig es ist, durch das Anschauen der Kunstwerke den Geschmack zu bilden, ohne ihn zu verwirren oder eigensinnig zu machen. […] § 89. Alle einfachen Elemente, welche die allgemeine Ästhetik nachzuweisen hat, können nur Verhältnisse sein, denn das völlig Einfache ist gleichgültig, d. h. weder gefallend noch mißfallend. Die sittlichen Elemente sind gefallende und mißfallende Willensverhältnisse. Es ist aber hier nicht die Rede von dem Willen als einer Seelenkraft (die überall nicht existiert), sondern von einzelnen Akten des Wollens, und von deren Verhältnissen gegeneinander. Auch kommt es hier nicht auf eine Erkenntnis an, daß solches und anderes Wollen wirklich vor sich gehe, sondern auf die Begriffe von solchem Wollen, und auf die Beurteilung der Verhältnisse, welche es bilden würde, wenn es wirklich vorhanden wäre. Damit diese Beurteilung mit voller Bestimmtheit zustande komme: muß aus dem Begriff des Wollens alles Schwankende, also aller Unterschied des flüchtigen und launenhaften Begehrens von dem entschlossenen Wollen, fürs erste weggelassen werden. […] § 97. Voran die Bemerkung, daß sich die eben aufgewiesenen sittlichen Verhältnisse noch in einer weiteren ästhetischen Sphäre, nämlich in der der Poesie, wiederfinden. Denn die Poesie, welche alles Ästhetische umfaßt, sofern es sich, ohne Rücksicht auf einen außer ihm liegenden Zweck, in Worten darstellen läßt, findet doch ganz vorzüglich ihren Stoff in den menschlichen Verhältnissen; auf welche sich die sittlichen Elemente beziehen.
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Allein in der Sphäre der Poesie erblickt man noch eine Menge anderer, dem täglichen Leben, den Betrachtungen über menschliche Schicksale, den politischen und religiösen Vorstellungsarten, der gesamten Natur abgewonnener Verhältnisse; welche bis jetzt weder bestimmt, noch aufgezählt sind; und sich daher nicht mit Genauigkeit anzeigen lassen. Anmerkung 1. Der erste, sogleich auffallende Unterschied der sittlichen, und derjenigen Elemente, die der Poesie allein angehören, liegt darin, daß die Kunst den Menschen nicht bloß als tätig, als wollend, sondern auch als leidend betrachtet; ja daß diese letztere Ansicht bei weitem das Übergewicht erlangt über jener. Denn das Handeln des einzelnen verschwindet als unbedeutend, teils schon in der Gesellschaft, teils vollends in der Natur und in der Zeit; daher die tragische Kunst, welche die großen Umrisse menschlicher Verhältnisse an einzelnen Begebenheiten wie an Beispielen darstellt, nur zu leicht auf das Schicksal geführt wird, dem sie nur durch Hilfe der Religion entgehen kann. – Die Mannigfaltigkeit des möglichen Leidens (überhaupt des Empfindens, denn es ist hier von allen passiven Zuständen die Rede) ergibt nun mannigfaltige Verhältnisse, die man zum Behuf der allgemeinen Ästhetik gehörig wird sondern müssen. Anmerkung 2. Die Poesie weicht in der Art, die sittlichen Elemente darzustellen, so äußerst weit ab von der Moral, welche die Begriffe als solche bearbeitet: daß man ungeachtet der Gemeinschaft beider in Ansehung des Gebrauchs der praktischen Ideen, doch ihren Unterschied nicht weit zu suchen hat. Das Abstrakte ist das gerade Widerspiel der Poesie; sie sucht dagegen den Hörer in den Zustand des Anschauens zu versetzen; so daß aus dem Anschauen sich das Empfinden entwickle, und zwar vorzüglich das Empfinden ästhetischer Verhältnisse, weil alle andere Empfindung zu unbestimmt und zu flüchtig ist, um einen sicheren Eindruck hervorzubringen. Hieraus ergibt sich sogleich der scheinbare Leichtsinn der Poesie, um dessenwillen sie für die Moral eine schlechte Gesellschaft zu sein scheint. Es liegt nämlich der Poesie nichts an vollständiger Zusammenfassung aller praktischen Ideen; nichts an der Gleichheit des Gewichts, welches jeder Idee unter den übrigen zukommt. Hierauf aber beruht gerade die Moral, als die Lehre von dem Tun und Lassen, oder von den Pflichten. Für die Moral müssen die praktischen Ideen als Begriffe logisch behandelt werden; und hiermit sowohl, als mit der Forderung eines vorwurfsfreien Lebens, hängt die Sorge zusammen, nichts auszulassen, oder gering zu schätzen, was beitragen könne zu dem Ganzen des Lobes oder Tadels. Davon weiß die Poesie nichts; sie verlangt im Gebiete der Begriffe nichts zu erschöpfen oder zu vollenden. Oftmals hat sie genug an einer einzigen unter den praktischen Ideen, wenn es ihr nur gelingt, die übrigen in Schatten zu stellen. […]
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§ 98. Wie nun die sittlichen Grundverhältnisse, obschon sie sich in der Poesie wiederfinden, doch weder aus ihr noch aus der Erfahrung geschöpft sind: ebenso finden sich auch andere ästhetische Elemente, die teils nicht einer besonderen Kunstgattung eigen, teils nicht aus der Erfahrung herstammend, vielmehr als unabhängig von den Gegenständen anzusehen sind, bei welchen sie vorkommen. Die Säulenordnungen mögen nach mancherlei Versuchen ausgewählt sein; aber keine Natuprodukte haben die Vorzeichnung gegeben, auch nicht die Auswahl bestimmt. Symmetrischer Bau (zur Rechten und Linken einer Vertikallinie), zeigt sich in den Formen der edleren Tiere, wird vorausgesetzt in ihren verschiedensten malerischen Stellungen, beobachtet in der Architektur; er zeigt sich abermals in der Metrik; hier oftmals verbunden mit dem Reime, der nicht bloß den Gleichklang, sondern auch den Parallelismus der Verse fühlbar macht, wenn die Versart dazu faßlich genug ist. Die Musik hat weder ihren mannigfaltigen Rhythmus, noch ihre harmonische Grundlage aus der Erfahrung empfangen; diese Grundlage bleibt gleich für alle Instrumente wie für den Gesang; und für die Mannigfaltigkeit dessen, was man etwa auszudrücken beabsichtigt. Selbst poetische Situationen sind nicht das ausschließende Eigentum der redenden Kunst, sondern Pinsel und Meißel können sich ihrer bemächtigen. Alles dies fordert auf zu solchen Abstraktionen, in welchen das Besondere der Naturdinge und der Kunstwerke als zufällig beiseite zu setzen ist, um nur die ästhetischen Elemente hervorzuheben; gleichviel wo und zu welchen Einheiten verbunden sie vorkommen. Anmerkung. In Ansehung des Sittlichen hatte Kant vollkommen klar eingesehen, daß man es nicht von der Erfahrung, nicht von der menschlichen Natur, nicht von Beispielen zu lernen habe. (Man vergleiche seine Grundlegung zur Metaphys. d. Sitten, im Anfange des zweiten Abschnitts.) Aber das Sittliche ist in Ansehung seiner ersten Gründe nur ein spezieller Fall des Ästhetischen. § 99. Die ästhetischen Elementarverhältnisse zerfallen in zwei Hauptklassen; ihre Glieder sind entweder simultan oder sukzessiv. Man erkennt dies am leichtesten in dem Unterschiede der Harmonie und Melodie, überdies zeigt die Musik sehr klar, daß die kunstreichsten Verwebungen entstehen können, wenn mehrere Reihen des sukzessiven Schönen (mehrere melodische Stimmen) sich zugleich dergestalt entwickeln, daß fortwährend simultan die Forderungen der Harmonie erfüllt werden. Das simultane Schöne ist großenteils im Raume zu suchen, für Malerei, Plastik, und in entsprechenden Naturgegenständen; außerdem hat nicht bloß die Musik, vermöge der Harmonie, ihren Anteil daran, sondern auch die Poesie. Letzteres zeigt am deutlichsten die dramatische Kunst, wo mehrere Schauspieler zwar nicht zugleich reden, aber zugleich auf der Bühne
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stehend fortwährend ihre Charaktere und ihre Absichten vergegenwärtigen. Andernteils nimmt auch das Räumliche Bewegung an, und hiermit Sukzession; wie in den mimischen Künsten. Davon ist die Verweilung im allmählichen Durchlaufen und Zusammenfassen des Zugleichangeschauten noch zu unterscheiden. Das sukzessive Schöne ist vorherrschend in der Poesie. Sie schildert Empfindungen in Bewegung, Charaktere in Handlung; selbst die Situationen nicht ganz als stillstehend. In der Darstellung des Gleichzeitigen bleibt sie hinter der Malerei und Plastik zurück. In der Länge der Zeit, die sie mit ihren Werken ausfüllt, tut sie es allen andern Künsten zuvor. Aber schon hieraus erhellt zum Teil die Schwierigkeit, ästhetische Verhältnisse, deren Glieder der Zeit nach weit getrennt sein können, mit Bestimmtheit anzugeben. § 100. Bestimmter kennt man, wegen ihrer Einfachheit, die Verhältnisse in dem, was durch die beiden höheren Sinne unmittelbar gegeben wird; in den Farben und Tönen. Jedoch nur insofern, als dabei von Raum und Zeit mag abstrahiert werden. Dies ist bei den Farben schwerer als bei den Tönen, weil in Hinsicht jener die Erscheinung in bestimmten Gestalten unvermeidlich und viel wichtiger ist als die Farben selbst; während bei zugleich klingenden Tönen die Zeit in der Regel nicht in Betracht kommt. – Von Farben sowohl als Tönen gilt im allgemeinen die Bemerkung, daß sehr nahestehende keine ästhetischen Verhältnisse bilden, am wenigsten gefallende Verhältnisse. Was die sanften Übergänge der Farben in Gemälden, u. dgl. betrifft, so muß man bedenken, daß diese, ähnlich den melodischen Fortschreitungen, eine sukzessive Auffassung, ein Fortgleiten des Blickes, bewirken; daß also hier schon das Zeitliche ins Spiel kommt. Der bekannten, doch noch nicht genau gewürdigten Kontraste einfarbiger, zugleich gesehener, größerer Flächen, muß hier erwähnt werden als dessen, was den harmonischen und disharmonischen Verhältnissen zugleich und anhaltend klingender reiner Töne, zur Seite steht. Die letzteren sind mit beinahe vollkommener Sicherheit seit Jahrhunderten bestimmt und anerkannt. Auch in Ansehung des Sukzessiven besitzt die Musik in ihrer Tonleiter ein genau bestimmtes und geschlossenes Ganzes; während der musikalische Periodenbau sich einer genauen Angabe seiner möglichen Formen fast ebenso sehr zu entziehen scheint als der rhetorische. […] § 101. Raum und Zeit sind offenbar die Quellen sehr vieler, in alle Künste einfließender, ästhetischer Verhältnisse; unter denen sich am leichtesten die symmetrischen bestimmt erkennen lassen. Sie finden sich schon zwischen Punkten, in gleichen Abständen; zwischen der Peripherie des Kreises, und dem Mittelpunkte: Parallelogrammen; bei den Linien der zweiten Ordnung, am meisten bei der Ellipse; bei allen durch Umdrehung um eine Axe entste-
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henden Körpern. Sie finden sich bei gleichen Zeiteinteilungen; und beinahe in allem, was Rhythmus, was Takt und Sylbenmaß heißt. Der Rhythmus kommt nicht selbstständig vor; er verbindet sich mit sichtbaren Bewegungen, oder bei hörbaren Gegenständen mit den Abwechslungen teils des stärkeren und schwächeren, teils des höheren und tieferen Tons (Musiktons oder Vokaltons), teils eines mannigfaltigen Geräusches (z. B. der Konsonanten). Eine Mischung von dem allen liegt im Vogelgesange, der jedoch mehr erheiternd als schön zu nennen ist (den Trommelschlag wird man auch beim kunstreichsten Rhythmus nur antreibend nennen). Der Raum mit seinen drei Dimensionen ist für die Ästhetik weit ergiebiger als die Zeit; jedoch kommt bei einfarbigen Gegenständen mindestens Licht und Schatten zu Hilfe. Wieviel der bloße Parallelismus, in Verbindung mit dem rechten Winkel, mit den Unterbrechungen der geraden Linie durch leere Distanzen, mit dem Vor- und Zurücktreten, und mit sehr wenigen andern Gestaltungen, vermöge, zeigen die Werke der Baukunst. Die Kreisform zeigt sich in unzähligen Abwechslungen bei den Blumen. Die einfachs ten Umrisse fassen höchst zusammengesetzte Verhältnisse, wenn Figur in Figur liegt. Was in den freien Formen der Pflanzen und Landschaften die Symmetrie ersetze, würde man näher untersuchen können, wenn über das Gleichgewicht, wohin die zusammenfassende Anschauung strebt, mehr bekannt wäre. Bei den Tierformen muß man sich erinnern, daß wir die Organismen auf andern Planeten (unter andern Bedingungen der Gravitation, der Atmosphäre, usw.) nicht kennen. – Die Symmetrie im Raume weicht von der rhythmischen in dem merkwürdigen Punkte ab, daß in einer ungeraden Anzahl von Gliedern im Raume leicht das mittlere hervortritt, während der fünffüßige Rhythmus in der Musik ungebräuchlich, und in der Tat schwer anzuwenden ist (obgleich nicht unmöglich, wenn, wie im sapphischen Silbenmaße, die Mitte gehörig herausgehoben wird). Die Sukzession im Auffassen des Räumlichen läßt sich leicht umkehren; nicht so beim Zeitlichen. Dem Mittleren im Raume muß aber das Äußere horizontal zu beiden Seiten stehen; sonst ist die Symmetrie nicht am Platze. Erwähnen kann man hier der Säulenverhältnisse, welche ohne Zweifel der sukzessiven Auffassung angehören, indem das Auge entweder vom Boden aufwärts steigt, oder der gewohnten Richtung der Schwere gemäß, von dem, was auf der Säule ruht, herunter, und an ihr selbst herabläuft. Der wichtige Gegensatz des Oben und Unten bringt keine Symmetrie, wohl aber Sukzession in die Auffassung alles Architektonischen, aller Gestalten der Pflanzen und Tiere. Ursprünglich strebt der Blick nach oben, und sucht in der Spitze oder im Gewölbe die Vereinigung des Angeschauten zu erreichen. Ein gleichschenkliges Dreieck liegt uns verkehrt, wenn es die Grundlinie oben hat. (Der psychologische Grund liegt darin, daß die Verschmelzung das mehr oder weniger Gleichartige zusammenzieht; das Mannigfaltige aber fand sich unten.)
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Wie nun hier das Räumliche sukzessiv, so wird vielfältig das Zeitliche auf räumliche Weise gedacht, und demgemäß beurteilt. Am Ende jeder Darstellung der sukzessiv fortschreitenden Künste, schwebt ein Ganzes vor uns, dessen Teile eine Art von räumlicher Proportion besitzen müssen, obschon wir nur allmählich zur Kenntnis dieser Teile gelangt sind. An Bestimmung solcher Proportionen scheinen vorzüglich die Rhetoren gedacht zu haben, indem sie nicht, wie die Dichter, die einzelnen Rhythmen, welche der sukzessiven Auffassung anheim fallen, sondern vielmehr die größeren Umrisse ganzer Perioden, ja ganzer Reden, ihren Vorschriften unterworfen haben; welche Umrisse offenbar erst am Ende, bei der Zusammenfassung des Vorgetragenen, können bemerkt werden. Anmerkung 1. Um eine scheinbare Schwierigkeit zu heben, wird es wohl nötig sein, über den Begriff der Abwechslung etwas zu sagen. Es gibt nämlich zweierlei verschiedene Abwechslung; eine ästhetische, und eine andere um des psychologischen Bedürfnisses willen. Die erste ist der Sitz des sukzessiven Schönen (z. B. der Melodie), die zweite unterbricht den Zusammenhang der ästhetischen Auffassung, sie zerreißt ihn gewaltsam, wenn der Künstler nicht selbst dafür gesorgt hat, sie herbeizuführen. Je längere Fäden des sukzessiven Schönen dergestalt fortlaufen, daß das psychologische Bedürfnis der Abwechslung weder sich meldet, noch durch fremdartige Einmischungen befriedigt wird, desto größer ist der Künstler. Aber die Kunst hat auch in dieser Hinsicht ihre Grenzen; ein Musikstück darf nicht eine Stunde, eine Tragödie nicht einen Tag lang dauern; das Tempo und der Gang der Handlung dürfen nicht gar zu langsam genommen werden; dies ist nicht ästhetisch, sondern psychologisch notwendig. Ein dramatisches Werk, doppelt so lang, als Schillers Don Karlos, könnte die schönsten Verhältnisse, sowohl im Umrisse, als in der Ausführung, haben; dennoch wäre es ein Koloß, in dessen Auffassung der Zuschauer lange vor dem Ende ermüden – und sich nach Abwechslung sehnen würde. Auf solche Weise wird das Schöne selbst lästig; und gilt bei allem inneren Reichtum für einförmig, weil der Auffassende überall nicht mehr schauen, – sondern selbst irgend etwas tun will, wäre es auch das Gemeinste und Unbedeutendste. […] § 102. Obschon es den ästhetischen Elementen nicht wesentlich ist, aus der Erfahrung zu stammen: so bietet gleichwohl die Erfahrung dieselben nicht selten dar; und zwar nicht bloß an Naturgegenständen, sondern auch im Laufe des menschlichen Lebens; in den Beschäftigungen, Spielen, Sitten, im Umgange, im Gespräche, in der Anordnung von Festlichkeiten, usw. Käme es nur auf den Vorrat an, so würden Malerei und Plastik an Figuren, Poesie an Charakteren, Handlungen, Situationen, stets Überfluß haben; die Schwierigkeit zeigt sich erst im Absondern des Gemeinen, Unbedeutenden, und dessen, was in einen gegebenen Zusammenhang nicht paßt. Unterstützt wird
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dagegen die schärfere Auffassung des Schönen durch Gegenüberstellung des Häßlichen; welches ohnehin ebensowohl unter dem Gattungsbegriffe des Ästhetischen enthalten ist als das Schöne, und für die Theorie nicht darf von der Untersuchung ausgeschlossen werden. § 103. Der bisher geforderten Abstraktion, welche nur ästhetische Elemente, und diese voneinander gesondert auffassen soll, steht eine mannigfaltige Determination gegenüber. Eine solche kommt schon da vor, wo das Schöne oder Häßliche zugleich noch auf andere Weise als Gegenstand eines Vorziehens oder Verwerfens gedacht wird; als nützlich, oder belustigend, oder angenehm, oder als schädlich, gefährlich, anstrengend, Trauer und Schmerz erregend, flüchtig, verführerisch, usw. Hierauf bezieht sich eine Menge von Klugheitsregeln des täglichen Lebens. § 104. Die Auffassung eines Gegenstandes, an welchem außer einem ästhetischen Verhältnisse noch irgend etwas anderes gedacht wird, ist an sich schon eine theoretische; denn der Gegenstand wird eben dadurch von seinem ästhetischen Prädikat als Subjekt desselben unterschieden, daß er nicht durch dieses allein soll bestimmt sein. Die andern Merkmale können nun selbst entweder ästhetische, oder ein anderes Vorziehen und Verwerfen ausdrückende, oder endlich selbst theoretische (bloß zur Erkenntnis des Gegenstandes gehörige) sein. Im letzteren Falle betreffen sie entweder das, was der Gegenstand schon ist, oder was er werden kann. Ist der Gegenstand gegeben: so können praktische Aufgaben entstehen, entweder ihn in seinem Werte zu erkennen, oder ihm den Wert zu geben, dessen er fähig ist. […] § 108. Wie dem Ideal der Tugend die Einheit der Person, so liegt der Vorstellung eines Kunstwerks die Einheit der Wirkung zum Grunde, wozu alle seine Teile beitragen sollen; allein mit einem großen Unterschiede für die Anwendung. Wirkliche Personen sind gegebene Gegenstände; was ihnen zur Tugend fehlt, unterliegt ihrem eigenen Tadel, und dem der bürgerlichen und religiösen Gesellschaft. Kunstwerke hingegen sollen erst werden; oder es gab doch eine Zeit, in welcher ihre Produktion unterbleiben konnte, und vielleicht sollte. Denn das Sollen ist hier ganz problematisch. Der Stoff konnte unbearbeitet bleiben; der Künstler konnte sich anders beschäftigen; er konnte seine Neigung bezwingen. Zwar dem echten Künstler darf man Glück wünschen, wenn er wenig von bloßer Willkür, und dagegen desto mehr Begeisterung, in sich spürt. Aber die Begeisterung kennt weder ihren Ursprung noch ihre Bildungsstufen; sie allein bringt selten ein Kunstwerk zur Vollendung; am wenigsten ist sie imstande, Ästhetik zu lehren. Wie nach Horazens ars poetica nicht eine einzige horazische Ode würde gedichtet werden, so findet man durchgehends die Reflexionen großer Künstler viel mangelhafter und viel
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einseitiger, als ihre Werke. Und die Bewunderung der schon vorhandenen Werke ist keine so vollständige Sympathie, daß in ihr die Begeisterung sich wiederfände; das zeigt sich in der Menge verunglückter Nachahmungen, die von den Bewunderern ausgehen. Während nun das vollendete Kunstwerk, nachdem sein Wert entschieden ist, seine Existenz durch sich selbst rechtfertigt, erscheint es vor dieser Entschiedenheit als etwas Entbehrliches, zufällig Entstandenes; dessen Urheber eine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, die man der Arbeit, wozu er sich entschlossen hatte, füglich versagen kann. Daher bedarf die Willkür dieses Entschlusses (wofern nicht vom bloßen Zeitvertreibe die Rede ist) einer Gunst, welche selten durch das Schöne allein und den darauf gelegten Wert, kann erreicht werden. Wenigstens wo uns zur Betrachtung des Werkes eine länger anhaltende Aufmerksamkeit angemutet wird, da fordern wir, im Aufmerken unterstützt zu werden durch Abwechslung; wir fordern Unterhaltung. Deshalb mischt sich in allen größeren Kunstwerken das Unterhaltende als ein beträchtlicher Zusatz zum Schönen. Hieraus entspringen in allen Kunstlehren eine Menge von Regeln, wie das Unterhaltende zu erzielen, wie seine Gegenteile, das Langweilige, das Anstößige, das Unfaßliche, das Unwahrscheinliche, zu vermeiden seien. Z. B. die drei Einheiten im Drama, welche, so sehr sie verdienen, beachtet, und nicht leichtfertig verletzt zu werden, doch offenbar nicht auf Produktion des Schönen, sondern auf Faßlichkeit und Konzentration der Aufmerksamkeit berechnet sind. Anmerkung. Wer über das Verhältnis des Stoffes und des an ihm dargestellten Schönen in einem Kunstwerke, nachdenken will: der nehme sich ein Beispiel, dessen Stoff, noch unbearbeitet, in einer andern Darstellung bequem zur Vergleichung vor Augen liegt. Das Beispiel sei etwa jenes von den kämpfenden Horatiern und Kuriatiern; Livius erzählt die Geschichte, Corneille gibt das Drama, und zugleich ein Urteil darüber. Der Stoff ist güns tig; er bietet eine Menge ästhetischer Verhältnisse dar; und, was das Beste ist, diese Verhältnisse stehen in sehr inniger Verbindung, sie machen fast von selbst ein Ganzes. Auf zwei Familien fällt die Last des Kampfes zweier Völker; während die Frauen davon tief leiden (wiewohl nicht ohne Standhaftigkeit), erhebt sich der Mut der Männer; aber unter diesen hebt der Dichter den Römersinn des Horatiers, dem der Sieg beschieden, bis zu einer Härte und Übertreibung, die den Schwestermord vorbereitet, und dadurch dem Stücke wahrhaft Einheit gibt; obgleich Corneille selbst – ungerecht, wie es scheint, gegen sein eigenes Werk – der Handlung Schuld gibt, sie spalte sich in zwei Teile. Dies ist der Fall beim Livius, wo die Schwester uns erst hintennach begegnet; nicht so im Gedichte, wo sie und ihr Schicksal uns von Anfang bis zu Ende beschäftigen, und wo der Charakter des Horatiers kunstvoll alles zusammenhält. Kunstvoll wickeln sich die Situationen auseinander; die Verhältnisse wechseln stark, obgleich die Handlung langsam
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fortschreitet; echt tragisch verwandelt ein Augenblick den siegprangenden Helden in einen Verbrecher, unterwirft ihn einer Anklage und verleitet ihn fast zum Selbstmorde. Auch hier scheint der Dichter ungerecht gegen sein Werk; er findet diesen Übergang gar zu plötzlich, er will eine ausführlichere Darstellung, wodurch jedoch die Glieder des Verhältnisses nicht deutlicher, sondern nur das Eintreten desselben etwas faßlicher hätte werden können. Nur am Ende scheint das Werk nicht kräftig genug; der Richterspruch ist eine Art von Zeremonie, anstatt daß die Schmach, angeklagt zu stehen vor den Seinen und dem Volke, mehr hervortreten, und auch den Schuldigen tiefer verwunden – dennoch aber seinen Sinn nicht brechen sollte. – § 109. Aber nicht bloß Unterhaltendes, sondern auch Reizendes, Teilnahme Weckendes, Imponierendes, – Lächerliches, wird dem Schönen beigemischt, um dem Werke Gunst und Interesse zu schaffen. So erlangt das Schöne gleichsam verschiedene Farben; es wird anmutig, prächtig, tragisch, komisch, – und es kann alles dieses werden, denn das für sich ruhige ästhetische Urteil erträgt gleichwohl die Begleitung mancher, ihm fremdartiger Aufregungen des Gemütes. Die Formen der Kunstwerke werden hierdurch vervielfältigt; und die verschiedenen Denkungsarten und Stimmungen zur Aufnahme des Schönen empfänglicher gemacht. Aber die Kunst kann durch Mißbrauch der genannten Zusätze entarten; dann nämlich, wenn sie über dem bloß Interessanten das Schöne vergißt; welches sich durch den Mangel eines bleibenden Eindrucks, einer bleibenden Hochschätzung verrät. Denn alles fremdartige Interesse erkaltet sehr bald; ja die Gunst, die es anfangs schaffte, verwandelt sich gar leicht in den Verdruß über das willkürliche Machwerk, welches sich anmaßte mit unseren Gefühlen sein Spiel zu treiben. Die ästhetischen Urteile allein besitzen den Vorzug der unveränderlichen Dauer, und erteilen ihn dem Gegenstande, der ihnen entspricht. […] § 110. Der Stoff und das ihm eigene Interesse, dient in der Regel zum Verbindungsmittel (gleichsam zum Gerüste) für ein sehr mannigfaltiges, daran gefügtes Schönes. Die Einheit eines Kunstwerks ist nur selten eine ästhetische Einheit; und man würde in sehr falsche Spekulationen geraten, wenn man sie allgemein dafür halten wollte. Ein Gemälde enthält ästhetische Verhältnisse der Farben: diese bestehen für sich. Es enthält ästhetische Verhältnisse der Gestalt, der Zeichnung; diese bestehen wieder für sich; sie hätten selbst ohne bunte Färbung (in getuschter Manier, oder im schwarzen Kupferstich) erscheinen können. Es enthält endlich ästhetische Verhältnisse in dem dargestellten Gedanken; diese sind poetischer Art; vielleicht vom Dichter entlehnt, oder sie können doch durch Worte, abgesondert von dem begleitenden räumlichen Schönen, ausgesprochen werden. Nun beruht allerdings der Wert des Gemäldes nicht bloß auf der Summe jener verschiedenartigen
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Schönheiten, sondern auch auf deren schicklicher Verbindung. Z. B. dem tragischen Gedanken entspricht das düstere Kolorit, und der kühne Wurf in der Zeichnung; dem heiteren, lachenden Gedanken schmiegt sich an die Helligkeit der Tinten, die zierliche Ausarbeitung aller Teile, vielleicht selbst die niedliche Kleinheit des Formats. Allein dies Schickliche ist dennoch, ästhetisch betrachtet, etwas Untergeordnetes, und welches vielmehr an der Beschaffenheit des Stoffes hängt, als an irgendeiner Gattung des in ihm dargestellten mannigfaltigen Schönen. Die Farbe konnte nicht hinweisen auf die Zeichnung; die gefällige Form noch weniger auf den Gedanken; der Gedanke ebensowenig auf das Ebenmaß der Figuren; der vielseitig gebildete Geist des Künstlers war es, welcher alle diese Schönheiten an einer Stelle versammelte. Wo nun die Begeisterung das richtige Gefüge des Mannigfaltigen und Ungleichartigen von selbst trifft: da bedarf es keiner Ästhetik; sondern nur da, wo der Künstler bedenklich wird, wo er sich in Reflexionen verwi ckelt, die er nicht zu endigen, in Fragen, die er nicht mit Sicherheit zu lösen weiß. Und hier würde das Verdienst der Ästhetik desto größer sein, wenn sie nicht sowohl die höchsten, als die mittleren Stufen und Bedingungen der Produktion, – die richtige Vorzeichnung, die Anlage des Werks gegen Fehlgriffe zu sichern imstande wäre. Die letzte Feile anzubringen ist leicht, wenn das beinahe vollendete Werk schon ein entschiedenes Urteil für sich hat; aber es ist schwer, peinlich, unnütz, wenn sich ein Fehler fühlbar macht, den man entweder nicht genau angeben kann, oder der sich mit dem Ganzen unzertrennlich verwachsen zeigt. Anmerkung. Die Ungleichartigkeit dessen, was einem Kunstwerke die Einheit gibt, mit den ästhetischen Verhältnissen selbst, die seine Hauptbestandteile ausmachen, zeigt sich sehr klar in der Tierfabel; wo der eigentliche Sinn, in dem Kreise der menschlichen Angelegenheiten, das gesamte anschauliche Mannigfaltige hingegen, worauf das Poetische der Darstellung beruht, außerhalb dieses Kreises, in der Tierwelt liegt. Man erinnere sich an Reineke Fuchs, die größte, schönste (von Goethe mit der Fülle des epischen Lebens ausgestattete) Fabel solcher Art. Der Gegenstand derselben ist die Frage: wie machen es die Verbrecher, unter schwachen Regierungen der Strafe zu entgehen? und die Antwort: sie benutzen die Begierden, worin die Schwäche der Mächtigen besteht. Dieser Gedanke ist an sich nicht im mindesten poetisch oder ästhetisch; gleichwohl liegt er der ganzen Erzählung zum Grunde. Das herrschende ästhetische Verhältnis aber liegt hier, wie in so vielen komischen Kunstwerken, in der Idee der Vollkommenheit […]. Es ist die Schlauheit des Fuchses, welche als Stärke gefällt. Gegenüber steht ein Analogon der Billigkeit, indem die Toren ihren Schaden sich selbst zuziehen. Mit der größten Sorgfalt aber muß in Erzählungen solcher Art verhütet werden, daß kein höheres moralisches Interesse sich spanne, und sich beleidigt finde; und daß keine Teilnahme für die Leidenden erwache. […]
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§ 112. Die epische und die dramatische Poesie schöpfen ihre eigentlichen ästhetischen Elemente aus den nämlichen Quellen; sie benutzen gemeinschaftlich Charaktere, Handlungen, und Situationen. Die Handlung beruht darauf, daß ein Zustand der Dinge dargestellt werde, der nicht so bleiben kann, wie er liegt. Hier unterscheidet man leicht Anfang, Mittel, und Ende. Das Ende wird der große Dichter nicht, als ob es überraschen sollte, herbeiführen (ein solcher Eindruck wäre flüchtig); sein Werk bekommt daher das Ansehen einer recht deutlichen Erklärung, wie alles gekommen sei, ja wohl habe kommen müssen. Er schaltet ein; er entwickelt langsam und pünktlich. Zuerst treten die Personen auf; sie wollen etwas; man lernt sie teilweise kennen. Zweitens müssen sie weiter; es entsteht Not, und die Personen geraten in Situationen. Drittens zeigt sich eine ungewisse Lage der Dinge, deren Gang die Personen nicht bestimmen können. Viertens: die Katastrophe läßt sich vermuten; denn die Hauptpersonen versuchen durchzugreifen, während die Nebenpersonen zurücktreten. Fünftens: die Katastrophe ereignet sich, breitet sich aus, ergreift eine Person nach der andern, bis Ruhe eintritt. Diese Reihenfolge gibt dem Drama fünf Akte; sie läßt sich aber auch ziemlich deutlich, nur mit noch mehreren Einschaltungen, an der Ilias und Odyssee nachweisen. In dramatischen Werken ist jedoch nicht immer (wie der Name vermuten läßt) die Handlung das Wichtigste, sondern oft überwiegen die Charaktere, zuweilen die Situationen. Nur die Komödie kann (wenn sie nicht satyrisch ist) sich dem Ernst der Charakterentwicklung weniger hingeben; sie neigt sich zur Intrige, während die Tragödie durch Intrigen leicht zu bunt wird, und mit der Einfachheit zugleich an Würde verliert. Was den Zusammenhang der Charaktere mit der Handlung anlangt, so ist wohl die wichtigste Regel jene des Aristoteles, daß nicht eigentliche Bosheit, sondern ein Fehltritt eines rüstigen Charakters (nicht eines schlaffen Menschen) die Katastrophe herbeiführen soll. Man dürfte vielleicht hinzufügen: das Ende soll diesem Fehltritte angemessen sein, aber nicht ohne Motiv etwas Überflüssiges enthalten. Die poetische Gerechtigkeit soll nicht mangeln, jedoch auch nach keiner Seite zu viel tun; und ebensowenig mit Leichen freigebig sein, als mit Glücksgütern für die zuvor leidende Tugend. (Schillers Don Cesar in der Braut von Messina gibt sich sehr besonnen, und desto unnötiger, den Tod, anstatt als Büßender zu leben; während der Oedipus Tyrannus des Sophokles in höchster Verzweiflung sich nur der Augen beraubt.) § 113. Ein Hauptunterschied der epischen und dramatischen Poesie entsteht daraus, daß die letztere, eben weil sie einen Teil der Handlung auf die Bühne bringt, einen andern nur erzählen oder andeuten kann. Der dunkle Hintergrund gestattet manches Geheimnisvolle im Drama, was der epische Dichter ebenso sorgfältig, wie Homer den Olymp, würde beleuchten müssen. Allein es gibt auch ein Verhältnis zwischen dem Hintergrunde und der hervorge-
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hobenen Handlung. Zuviel Erzählung dehnt und verzögert (so in Goethes Iphigenie); zuviel Wichtigkeit dessen, was man im Hintergrunde erwartet, verkleinert die Hauptperson (besonders wenn sie nicht größer ist als Goethes Eugenie). Je länger das Werk, desto langsamer müssen sich die Charaktere entwi ckeln, damit diese Hauptquelle des Schönen nicht versiege. Dies gilt natürlich weit mehr dem Epos als dem Drama. Achill und Odysseus zeigen sich erst gegen das Ende in ihrer ganzen Stärke; während Schillers Wallenstein und Goethes Tasso gleich anfangs auf der Höhe stehen. § 114. Von der lyrischen Poesie läßt sich die didaktische nicht allgemein trennen; so wenig als sich Meinungen von Gesinnungen und Gefühlen sondern können. Die lyrische Poesie ist auch keineswegs bloß subjektiver Erguß des Dichters; sie wird oft genug dramatischen Personen in den Mund gelegt, und dient, um diese, und ihre Stellung, zu bezeichnen. Religiöse Gesänge, und ebenso das Lob der Helden, Kämpfer, Sieger, Herrscher, oder die Trauer und die Sehnsucht, ermangeln nicht der Gegenstände und Verhältnisse, die sie darstellen können. Aber je kleiner das Ganze, desto mehr bedeutet jedes Einzelne. Daher treten hier Sprache und Rhythmus noch weit mehr hervor als im Epos und Drama. Der kühnste Ausdruck muß zugleich der treffendste sein; und das bewegte Gefühl sich wiegen auf dem Rhythmus der Verse und Strophen. Übrigens gehen die Gattungen der Poesie, und zum Teil ihnen analog die Gattungen der übrigen Künste, in unzählige Arten auseinander; und schwerlich wird jemand unternehmen, der Mannigfaltigkeit der Kunstformen feste Grenzen zu setzen. § 115. Auf die ganze bisherige Darstellung wird mehr Licht fallen, wenn wir zur Vergleichung die alte Ansicht daneben stellen, welche bis in die neueste Zeit einen unverkennbaren Einfluß behauptet hat. Platon und Aristoteles stimmen darin zusammen, daß sie das Wesentliche der Kunst in der Nachahmung suchen. Der letztere vergißt auch nicht anzumerken (gleich im Anfange seiner Poetik), daß die Nachahmung ebensowohl auf das Gleichgültige, und auf das Schlechte, als auf das Schöne und Gute gehe. Wobei sogleich die Fragen entstehen: was für einen Wert hat die bloße Nachahmung? was für einen Wert insbesondere die Nachahmung des Gleichgültigen und Schlechten? Und welcher Künstler wird bloßer Nachahmer sein wollen; da ja alle das Nachgeahmte zu vergrößern, zu übertreffen, und mit der kühnsten Phantasie der wirklichen Welt zu entrücken suchen; welches offenbar ein Fehler wäre, wenn in der Nachahmung das Gesetz der Kunst bestände. Endlich was kann denn unsere heutige Musik nachahmen; die schlechterdings kein Vorbild in der Natur antrifft, und die fast immer, wo sie es unternimmt etwas zu malen, von ihrer Würde herabsinkt?
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Alle diese Fragen beantworten sich von selbst, – aber auch die Untauglichkeit des Prinzips der Nachahmung für die Ästhetik verrät sich sogleich, – wenn man bemerkt, daß in der Nachahmung ein Reiz zur Lebenstätigkeit liegt. Hierin kommt die Kunst des schnödesten Possenreißers oftmals der edels ten Kunst des Dichters ganz nahe; und eine gemeine Tanzmusik zeigt sogar deutlicher, als die erhabenste Fuge, was die Musik nachahme, – nämlich den Fluß der menschlichen Bewegungen, Vorstellungen und Empfindungen. Mit einem Worte: es ist der psychische Mechanismus, den alle Künstler aus demselben Grunde studieren sollten, aus welchem die Maler und Bildhauer sich das Studium der Anatomie angelegen sein lassen, – nicht um das Schöne, sondern um das Natürliche hervorbringen zu lernen. Denn diese Art von Natürlichkeit, welche den Lauf des psychischen Mechanismus nachahmt, ihm entspricht, und eben dadurch ihn anregt, – fordert man von jedem Kunstwerke zuerst; und das drückt man populär so aus: das Kunstwerk soll lebendig sein und belebend wirken. Aber aus demselben Grunde, aus welchem Platon die Dichter nicht in seiner Republik dulden wollte, – und der ist in der Tat nur der, daß der Lebensreiz der Natürlichkeit dem Schlechten ebensowohl als dem Schönen und Guten eigen ist, – muß man das Prinzip der Nachahmung in der Ästhetik, zwar nicht ganz verwerfen, aber unterordnen. Auch geschieht das wirklich; nur allmählich. Mit den homerischen Göttern, die dem Platon so anstößig waren, wird heutzutage kein Dichter mehr Glück machen; auch das Schicksal ist auf unseren Bühnen nicht einheimisch; es wird bald entfliehen. Und wenn die Kunst sich vollends wird gereinigt haben, dann wird niemand mehr Bedenken tragen, die praktische Philosophie in die Mitte der Ästhetik zu stellen. Schlußanmerkung zu diesem Kapitel. Bei allen Kunstwerken entsteht die Frage, in welchem Grade von Strenge sie auf Einheit Anspruch machen. Denn daß sie die Auffassung nicht zerstreuen, das Urteil nicht teilen dürfen, wenn eine große Wirkung von ihnen ausgehen soll, liegt am Tage. Man unterscheide nun: Architektonik, Plastik, Kirchenmusik, klassische Poesie,
schöne Gartenkunst, Malerei, unterhaltende Musik, romantische Poesie;
und man bemerkt sogleich, daß auf der einen Seite Kunstgattungen stehen, die sich von allen Seiten zeigen, und der Untersuchung darbieten; auf der andern Seite solche, die etwas in Halbdunkel stellen, keine Vollständigkeit des Nachsuchens gestatten, wohl aber allerlei Verzierung sich aneignen mögen, wenn man wegen des Zusammenhangs mit dem Ganzen nur nicht zu genaue Rechenschaft fordert. Die erste Klasse fordert die Kritik heraus, vor der nur
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die seltensten und höchsten Kunstschöpfungen bestehen; die zweite gewinnt Liebhaber und Bewunderer, welche rühmen, sich eines heiteren Spiels erfreut, von gemeiner Sorge befreit, ja zum Unendlichen erhoben gefühlt zu haben; daher es am Ende fast zweifelhaft scheint, welche von beiden Klassen dem Ideal näher stehen. Wirklich können diejenigen zweifelhaft werden, die es der Kunst zur Pflicht machen, daß sie irgend etwas ausdrücken solle. Gerade aber da, wo es darauf ankommt, das Höchste auszudrücken, wo es also die Kunst nicht erniedrigen kann, sich zum Zeichen für etwas außer ihr herzugeben, – bei religiösen Gegenständen, macht der echte Künstler an sich selbst die strengsten Ansprüche, und erlaubt sich am wenigsten, in fremdartige Verzierungen auszuschweifen. Jedoch darf die Strenge gewisser Kunstgattungen nicht die Kunst selbst beschränken. Sucht einerseits die Kunst, gegenüber der Natur, Wahrheit und Leichtigkeit: so verschmäht sie, wo die Natur nicht ihr notwendiger Maßstab ist, auch nicht Schmuck und Putz, um sich neu und geistreich zu zeigen. Der Stil aller Nationen und Zeiten muß ihr dabei dienstbar werden.1
2. Robert Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft (1862) Je mehr Einfluss auf die wissenschaftlichen Bestrebungen der Zeitgenossen bereits diejenige Richtung des Philosophirens gewonnen hat, welche, abgewendet von den Irrwegen des metaphysischen Idealismus, der Me1
[…] Insbesondre gehen die Gattungen der Poesie in fast unzählige Arten auseinander. In der lyrischen Poesie tritt sogar die bewegte Empfindung, gewiegt vom Rhythmus und begleitet vom Klange des Reims, durch alle Redefiguren sich des mannigfaltigsten Ausdrucks bemächtigend, an die Stelle des objektiven Schönen; wobei sie freilich auf Sympathie rechnet; ohne welche selbst die Ode, so sehr sie den Gedanken zusammenpreßt, und den Hörer ins Nachsinnen versetzt, – vollends aber das leichte Lied, keiner Gunst sich zu erfreuen hat. Mehr Mühe als die Ode gibt sich das Lehrgedicht, um verstanden zu werden; aber es ist eine Art von Genremalerei; es bezeichnet etwas allgemeines, und kann dessen Unbestimmtheit selten genug individualisieren. Vollkräftig dagegen zeigt die epische und dramatische Poesie das objektive Schöne. Das eigentliche Epos ist nicht Erzählung eines noch unbekannten Ereignisses, sondern Erklärung, wie es habe durch Personen und Umstände bis dahin kommen können, daß ein staunenswerter Ausgang erreicht sei. Es hat den Schein der genauesten, lückenlosesten, umständlichsten Darlegung; es gleicht hierin der Bildsäule, die sich von allen Seiten sehen läßt; und fast so sehr wie diese, muß es vermeiden, eine unruhige Spannung zurückzulassen. Dies gilt selbst dem Roman und der Novelle, dem Epos für Leser auf dem Sofa. Das Drama dagegen vergegenwärtigt Personen in ungewisser Lebenslage; es liebt Geheimnisse, Zauber, zweideutige Orakel; es bedarf einer schärfern Psychologie, und wird dadurch tiefsinniger als das Epos. Vieles aber geschieht hinter der Szene; daraus entsteht ein dunkler Hintergrund wie in der Malerei. Unterschiede dieser Art, samt ihren Folgen für den Künstler, müssen jedoch den Systemen der Ästhetik überlassen bleiben.
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thode der exacten Wissenschaften nach ihrer Art sich zukehrt, um so mehr müssen auch die Früchte dieser inneren Umwandlung des philosophischen Verfahrens an den einzelnen Zweigen der Philosophie selbst sichtbar werden. Metaphysik, Psychologie, Natur- und Religionsphilosophie einerseits, praktische Philosophie, Pädagogik, Politik und Rechtsphilosophie andererseits haben in dieser Gestalt sich bereits erneuert und thatsächlich die Möglichkeit einer vollständigen Umbildung der Philosophie vom realistischen Standpunkte aus gezeigt. Ein einziges Gebiet und leider eines derjenigen, von welchem um seines tiefen Eingreifens in das practische Leben willen das Gegentheil wünschenswerth wäre, ist von dem allgemeinen Umschwunge dem Anscheine nach bisher fast unberührt geblieben, ja sogar scheint die Nothwendigkeit der Umbildung in weiteren Kreisen noch nicht einmal gefühlt zu werden. Es ist das der – Aesthetik. An wiederholter und geistreicher wie gelehrter Bearbeitung hat es ihr zwar in dem Zeitraume der letzten zehn Jahre nicht gefehlt; die Hinweisung auf Vischer’s erst kürzlich vollendetes, durch Umfang ebenso, wie durch zahlreiche vortreffliche Bemerkungen hervorragendes Werk, welchem die Literatur unserer Nachbarvölker kein gleiches an die Seite zu setzen hat, würde allein schon als genügender Beleg dienen. In weniger streng dialektischem, mehr gefälligem und leichtem Gewande hat Moritz Carrriere, in einer Form, welche in Manchem an Baumgarten zurückmahnt, Konrad Hermann in Leipzig unsere Wissenschaft behandelt; jüngere Männer, wie J. Baier, A. Grün, haben das spröde Metall der Vischer’schen Aesthetik in mehr oder minder gelungener populärer Darstellung für das grössere Publikum umzuprägen versucht. Dennoch zeigt sich die Lesewelt, für welche ästhetische Wissenschaft vorzugsweise bestimmt ist, Gesammtdarstellungen derselben nichts weniger als günstig. Während Monographien über einzelne Künste in ihren bezüglichen Kreisen mit Begierde ergriffen, literarische und kunsthistorische Studien mit Eifer gepflegt werden, lassen die Künstler im Allgemeinen noch immer Philosophien des Schönen mit jenem Respect aus der Ferne an sich vorübergehen, der die Abneigung, mit denselben etwas zu thun haben zu wollen, deutlicher als laut ausgesprochene Geringschätzung verräth. Es ist nicht blos die allgemeine Scheu vor Philosophie überhaupt, die sich zum Glück wieder zu verlieren beginnt, welcher wir dies für unsere Wissenschaft so nachtheilige Ergebniss zuschreiben müssen. Es kommen bei ihr, zufolge ihrer besonderen Natur, vielmehr noch Umstände hinzu, welche ein derartiges Misstrauen in ihre Leistungsfähigkeit begreiflicher machen als anderswo. Wenn der Naturforscher den Kopf schüttelt bei den phantastischen Flügen idealistischer Naturphilosophie, so muss er dagegen anerkennen, dass den Versuchen des Realismus, von dem erfahrungsmässig Gegebenen aus mittelst einer an einzelne Probleme eng sich anschliessenden
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Methode zu einer von Widersprüchen gereinigten Grundlage desselben zu gelangen, ein Ideal von Wissenschaft zu Grunde liege, welches mit dem, das er sich selbst vorsteckt, auf ’s Nächste übereinkommt. Ja man kann mit Grund sagen, dass die Metaphysik des Realismus mit der Maxime der Naturforschung, exact zu sein, mehr Ernst mache, als diese selbst, indem sie die Begriffe, mit welchen die letztere sich schon als genügend zufrieden gibt, selbst noch an den Prüfstein logischer Denkbarkeit hält und erst, nachdem nicht nur alle Thatsachen der Erfahrung berücksichtigt, sondern auch alle Anstände der Denkbarkeit beseitigt sind, dieselben als vollständig fertig und abgeschlossen gelten lässt. Widerspruchslose und festbestimmte Begriffe, eine an die Erfahrung genau sich anschliessende einerseits, andererseits durch die unwandelbaren Gesetze der Logik gereinigte Methode, für welche beide Eigenschaften die Mathematik Mittel und Vorbild zugleich in vollkommenster Weise darbietet, gelten der realistischen Philosophie wie den vorzugsweise exact genannten Wissenschaften als Massstab der allein giltigen ernsten Wissenschaftlichkeit. Einer derartigen Behandlung scheint, verbreiteter Meinung zufolge, der Gegenstand unserer Wissenschaft von vornherein unzugänglich. Schon der Name derselben soll es bestätigen, dass sie es mit Dingen zu thun habe, die sich leichter fühlen als sagen, leichter sagen als in feste unwandelbare Begriffe bringen lassen. Der erste Versuch, eine Philosophie des Schönen in systematischer Form aufzustellen, hat sich begnügt, die Erkenntniss derselben als eine dunkle zu bezeichnen; die neusten Versuche des absoluten Idealismus, die Kunst als eine unklare Durchgangsstufe hinzustellen, welche zuletzt in den lichten Aether der Philosophie sich auflösen müsse, sind auf den Baumgarten’schen Standpunkt, der Sache nach, zurückgekehrt. Die entgegengesetztesten Richtungen, Sensualismus und Intellectualismus, sind darin übereingekommen, dass sich das Schöne nur fühlen, nicht beweisen lasse, und nur darin von einander abgewichen, dass die einen dem äusseren, die andern einem inneren Sinne, den sie Vernunft, Schönheitsgefühl oder ästhetischen Sinn nannten, das Richteramt über dasselbe übertragen wissen wollten. Die Unsicherheit unserer Sinne und die natürliche Schwierigkeit, einem vereinzelten Ausspruche derselben anderen abweichenden gegenüber Glauben und Ansehen zu verschaffen, hat eine Skepsis hervorgebracht, welche das „ländlich sittlich“ einer materialistischen Sittenlehre auch auf das Gebiet unserer Wissenschaft verpflanzte. Vergebens hat die neueste Richtung der Philosophie der subjectivistischen Zersplitterung durch den Versuch entgegengearbeitet, wie eine apriorische Deduction aller Erfahrung aus der Idee, so auch durch idealistische Ableitung des gesammten Inhaltes des Schönen aus der Idee desselben einen objectiv giltigen Massstab des letzteren zu gewinnen. Sie hat es, wie im Gebiete der Natur- und Geschichtsphilosophie nur zu einer mangelhaften Reproduction statt einer Production
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der in Natur und Geschichte vorliegenden Erfahrung, so auch in der Aes thetik zu einer nur noch lückenhafteren Schematisirung der empirischen Kunstgeschichte gebracht und dadurch ihre Unfähigkeit, einen nicht schon anderswoher gekannten Inhalt a priori zu erzeugen, auf ’s neue in Evidenz gesetzt. Konnten Erfahrungen der Art es schon schwer, ja fast unmöglich erscheinen lassen, auf exacte Weise festzustellen, was das Schöne sei, so mussten die an die Beantwortung letzterer Frage sich anschliessenden Versuche von Kunstlehren, um dasselbe in die Erscheinung einzuführen, nothwendig noch unklarer und dürftiger ausfallen. Nur von dem deutlich Begriffenen wird eine eben solche Anleitung zur Erzeugung zugleich wie zu Beurtheilung desselben sich als möglich erweisen lassen, während das sonst nur dunkel Geahnte Gefühlte und Geschaute weder in Worten sich lehren, noch in solchen sich tadeln lässt. Was Wunder daher, wenn die Künstler, welche der Belehrung, wo sie kurz, scharf und verständlich sich vernehmen lässt, im allgemeinen nichts weniger als unzugänglich sind, von Versuchen, das ihnen selbst Dunkle dunkel wiederzugeben, sich abgestossen fühlen und bei der stets wiederholten Berufung auf eine innere Stimme sich lieber zuletzt auf die der eigenen Brust, als jene eines Nichtkünstlers verlassen mochten! Lägen Nachtheile dieser Art, wie es den Anschein hat, wirklich in der Natur des Objects der Aesthetik, man müsste sich in der That wundern, wie es noch jemanden geben mag, der Lust in sich fühlt, sich an ihre Bearbeitung zu wagen. Wer sich nicht damit genügen lässt, für den leeren speculativen Aufputz zu sorgen, mit dem oft der ärgste Empiriker als einem nun einmal nicht fehlen dürfenden Schnörkel die Anfangsparagraphe seines Buches verziert, wem vielmehr ernstlich darum zu thun ist, dem unendlich reichen Stoff, welchen Natur- und Kunstschönes darbietet, eine analoge philosophische Thätigkeit zu widmen, wie sie die Metaphysik den Erfahrungs-, die practische Philosophie den gangbaren ethischen Begriffen zu Theil werden lässt: der müsste bei dieser scheinbaren Unfähigkeit der Aesthetik, zu giltigen Normen zu kommen, seine Mühe gar bald für verloren erachten. In Wahrheit sind es nicht Wenige, und nicht die schlechtesten Männer, welche bei Anlass einer Philosophie des Schönen in seiner Gesammtheit für deren Verfasser wenig mehr als ein mitleidiges Achselzucken übrig haben, dagegen Versuche, einzelnen Kunstzweigen eine solide ästhetische Grundlage zu geben, als willkommene und viel versprechende Schritte auf der Bahn einer gedeihlichen Reform unserer Wissenschaft betrachten. Die musikalische Aesthetik, wie jene der bildenden Künste haben versucht, sich auf eine unabhängige Basis zu stellen, und der Beifall, der ihnen zu Theil geworden, scheint darzuthun, es sei leichter vom Umfange, als, wie bisher geschah, vom Inhalt der Schönheitsidee aus zu exacter Wissenschaft vom Schönen zu gelangen. An die Stelle der alten, aus dem Inhalte des Naturbegriffes die gesammte Naturerfah-
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rung evolvirenden Naturphilosophie ist in unserer Zeit eine allgemeine Naturwissenschaft getreten, welche auf Grundlage der einzelnen empirischen Zweigwissenschaften aus deren Umfange sich aufthürmt. Vielleicht ist es der Aesthetik bestimmt eine ähnliche Bahn zu beschreiben, und nachdem sie bisher, aus dem Inhalte der Schönheitsidee deducirend, eine der apriorischconstruirenden Naturphilosophie ähnliche Rolle gespielt, auf Grundlage der einzelnen ästhetischen Zweigwissenschaften aus dem Umfange des Schönen sich zu einer allgemeinen Kunstwissenschaft aufzubauen. Hoffnungen dieser Art, wenngleich jetzt überkühn scheinend, werden dem Leser am Schlusse dieses Aufsatzes vielleicht minder leer dünken. Gelingt es nur erst, das Vorurtheil, welches nicht Dichter und Künstler, die vielmehr in philosophischen Dingen immer eine ehrerbietige Zurückhaltung an den Tag gelegt haben, sondern Philosophen in Curs gebracht, dass feste Begriffe vom Schönen unmöglich seien, gelingt es nur erst, dieses Vorurtheil zu beseitigen, die Aussichten auf Reform der Aesthetik werden von selbst sich haltbarer gestalten. Erst als Denker ersten Ranges eine Wissenschaft vom Schönen in’s Reich der speculativen Traumbauten verwiesen, wagten es Dichter und Künstler, dieses Haltes verlustig, dem unfruchtbaren Wissen das bewusstlose, aber schöpferische Können entgegenzustellen. Kein Geringerer als Kant war es, der mit dem Ausspruche, es gebe kein objectives Geschmacks princip, der Aesthetik als Wissenschaft das Todesurtheil sprach. Wenn es wahr ist, wie er behauptete, dass die freie Gesetzmässigkeit der Einbildungskraft, die weder Gesetze macht, denn das ist Sache des Verstandes, noch empfängt, denn dann wäre ihr Product durch Begriffe bestimmt, der wahre Ursprung der Schönheit sei, dann lässt sich, da diese Gesetzmässigkeit „ohne Gesetz“ ist, das Schöne auch nur fühlen, nicht beweisen; es kommt und verschwindet mit dem Subject; wo kein oder ein anderes Subject wäre, da wäre auch keine Schönheit. Der ganze Endzweck der Kunst, insofern er auf Hervorbringung der Schönheit gerichtet ist, kann nach ihm kein anderer sein, als die Einbildungskraft in Freiheit zu setzen, dass sie einstimmig mit dem Verstande ohne Leitung durch bestimmte Begriffe sich bewege, zweckmässig sei ohne Zweck, interessire ohne Interesse, allgemein und nothwendig gefalle ohne Begriffe. Indem sie diess thut, geniesst das in Freiheit gesetzte Subject seiner selbst, der natürlichen Harmonie zwischen zwei Seelenkräften, welche sein eigentliches Wesen und die Quelle eines natürlichen Lustgefühles ist, überträgt aber das letztere auf das äussere Object, welches, obgleich fälschlicherweise, als Grund desselben angesehen wird. So weit also sind wir entfernt davon, angeben zu können, wodurch ein gewisses Object gefalle und allgemein und nothwendig gefallen müsse, dass wir uns vielmehr nur selbst gefallen. Das Subject erfreut sich an sich, an seiner harmonischen Thätigkeit, nicht an äusseren Dingen; man kann es eine ästhetische Selbstanbetung nennen. Die eigene höhere Natur des Ichs, dasjenige Verhältniss zwischen Ver-
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stand und Einbildungskraft, welches beiden das „zuträglichste“ ist, kommt, sobald es stattfindet, im Lustgefühle, das wir dem Schönen zuschreiben, und durch dasselbe zum Bewusstsein. Der Reflex dieser unserer (schönen) Natur macht die äusseren Objecte schön. An die Stelle eines objectiven, an eine gewisse Beschaffenheit des gefallenden Gegenstandes gebundenen Geschmacksprincips ist hier ein streng subjectives, aus der Natur des Beschauers entspringendes, obgleich allgemeines, weil nicht der individuellen, sondern der Gattungsbeschaffenheit des menschlichen Wesens zugehöriges Geschmacksprincip getreten. In der Natur des Menschen liegt es, dass so oft er einer harmonischen Thätigkeit seiner Einbildungskraft und seines Verstandes gewahr wird, sich ein Lustgefühl einstelle; es ist daher nichts weiter erforderlich, als dass die erstere in Freiheit gesetzt werde, um sich einstimmig mit dem Verstande, obgleich ohne Leitung durch bestimmte Begriffe zu bewegen, und es wird allgemein und nothwendig ein Wohlgefallen eintreten. Dabei ist zweierlei möglich. Entweder dies in Freiheit-Setzen der Einbildungskraft erfolgt auf Veranlassung eines äusseren Objectes, oder ohne dieselbe. Auf das erstere scheint Kant’s Behauptung zu deuten, dass es der Endzweck der Kunst sei, dieselbe in Freiheit zu setzen; denn wie vermöchte dies z. B. die plastische Kunst anders als durch Vorführung bestimmter äu sserer Gegenstände? Auf das zweite dagegen die entgegengesetzte, dass wir die Quelle des natürlichen Lustgefühls fälschlicherweise auf das äussere Object als Grund desselben übertragen; denn dies kann nur soviel heissen, als der Gegenstand sei ganz gleichgiltig für die Entstehung des Lustgefühls. Die Einbildungskraft könnte in Freiheit gesetzt werden ohne dass irgend ein äu sseres veranlassendes Object vorhanden sei, oder so, dass jedes beliebige dazu diene, welches dann fälschlicherweise als Grund des entstehenden Lustgefühles angesehen würde. Welches von beiden ist Kant’s Meinung? Wenn uns die grössere Wahrscheinlichkeit für das zweite zu sprechen scheint, so haben wir vornemlich Schiller’s im Kant’schen Geist gethane Aeusserung im Auge, dass das einzige wahrhaft schöne Object das (menschliche) Subject, die Natur erst durch und für den Menschen schön sei. Da sich nun die Aesthetik nur mit der Frage beschäftigt, was einen Gegenstand zum schönen mache, und es im Grunde gleichgiltig ist, ob es der Objecte selbst mehrere oder wenige gebe, so würde an sich das Vorhandensein jenes angeblich einzigen eigentlicherweise schönen Gegenstandes genügen, um durch seine Betrachtung zu demjenigen zu gelangen, was als allgemeines und zugleich individuelles Kennzeichen des Schönen uns gelten soll. Dieser einzige Gegenstand ist das Subject in harmonischer Thätigkeit seiner Seelenkräfte, die Eigenschaft, wodurch es schön, d. h. wohlgefällig erscheint, die Harmonie dieser letzteren. Der wahre Grund des ästhetischen Wohlgefallens an diesem einem, und da dieses zugleich das einzige über-
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haupt vorhandene ist, an jedem möglichen schönen Object kann nichts anderes als Harmonie sein. Dieser Schluss scheint gerechtfertigt. Alle andern Objecte sind nur schön, insofern das Wohlgefallen, das dem Subjecte allein gebührt, fälschlicherweise auf jene übertragen wird. Das Subject aber ist immer schön, insofern sein Verstand und seine Einbildungskraft in harmonischer Thätigkeit sind. Also kann es nur das Harmonische sein, wodurch die Thätigkeit des Subjects, dieses selbst, und infolge dessen andere Objecte gefallen. Es gäbe sonach, nachdem alles Gefallen an Objecten auf das Gefallen am Subjecte zurückgeführt worden ist, für dieses selbst einen weiteren Grund, das Wohlgefallen am Harmonischen. Das Wohlgefallen am Subject hat seinen Quell in der Harmonie seiner Seelenthätigkeiten, folglich scheint es, dass, gäbe es andere Objecte, bei denen gleichfalls Harmonie bemerklich würde, sie auch gefallen müssten. Wäre der letztere Schluss richtig, so hätten wir eben an dem Satze, dass Harmonisches, wo es auch vorkomme, allgemein und nothwendig gefalle, eine objective Geschmacksregel, was Kant eben leugnet. Da nun das ästhetische Wohlgefallen am Subject Folge der harmonischen Thätigkeit seiner Seelenkräfte ist und dabei der Accent entweder auf die Harmonie oder auf den Umstand gelegt werden kann, dass das Harmonische eben Seelenvermögen seien, so fragt sich’s, ob Kant den ersteren oder den letzteren Umstand als wesentlich zur Entstehung des ästhetischen Wohlgefallens angenommen habe. Offenbar doch nur den ersteren. Dass Verstand und Einbildungskraft in unharmonischer Thätigkeit kein Wohlgefallen erzeugen, steht einmal fest; dass es ausser den Seelenthätigkeiten selbst, die nur ein einzelnes Beispiel sind, andere Dinge, z. B. Ton- und Lichtempfindungen, nicht gebe, welche in Harmonie befindlich ein ähnliches hervorriefen, ist mindestens nicht als erwiesen zu betrachten. Die Harmonie als Ursache des ästhetischen Wohlgefallens muss demnach als nothwendig, die Beschaffenheit des in Harmonie Befindlichen kann bis jetzt noch als zufällig betrachtet werden. In der That die Harmonie zwischen Verstand und Einbildungskraft, welche Kant als die einzige Quelle des ästhetischen Wohlgefallens ansieht, ist nicht mehr als ein einzelnes Beispiel der Entstehung eines solchen. Indem er scharfsinnig erkannte, dass die Entstehung ästhetischer Lust- und Unlustgefühle ihren Grund habe in dem Verhältniss, das zwischen gewissen Seelenzuständen stattfinde, verführte ihn seine mangelhafte, mit „mythologischen“ Seelenvermögen operirende Psychologie, als Glieder desselben vorgebliche Seelenkräfte (Verstand, Einbildungskraft), statt einzelne, dem Inhalte nach harmonirende und desharmonirende Vorstellungen zu setzen. Ton- und Farbenvorstellungen z. B. Terz und Quinte, Violett und Hochgelb, stehen durch ihren blossen Inhalt in einem solchen harmonischen Verhältniss zu
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einander, dass die unausbleibliche Folge ihres Zusammengedachtwerdens im Subjecte die Entstehung eines Beifalls, andere z. B. Prime und Secunde, Grün und Gelb in einem derartigen der Disharmonie, dass der Effect die Hervorrufung eines Missfallens sein muss. Das Verhältniss des Harmonischen und Disharmonischen mit seiner ästhetischen Wirkung im Subject ist somit ein weit allgemeiner verbreitetes, unzählige Fälle umfassendes und der Urheber der kritischen Philosophie war stillschweigend durch die Gewohnheit, dem Harmonischen, wo es sich finde, Beifall zu geben, geleitet, als er in dem wahrgenommenen Einklang zwischen Verstand und Einbildungskraft die Quelle des Schönen sah. Wie hätte auch Kant bei dem Standpunkte den er einnahm, zu einer andern Ansicht der Dinge gelangt sein sollen? Die Wolff’sche Psychologie hatte ihm fertige distincte Seelenkräfte überliefert, welche er nicht zu revidiren, sondern deren Tragweite für die Erkenntnis zu reguliren er übernahm. Ein von Sinnesanschauungen entblösster formgebender Verstand und eine begriffslose Sinnlichkeit, von denen die letztere unter der Leitung des ersteren bestimmt war, sich zur Erfahrung auszubilden, machten die Grundlage des Wissens und der Wissenschaft aus. Sollte die Kunst nicht mit dieser zusammenfallen, so musste die Einbildungskraft von der Leitung des Verstandes befreit, andererseits aber durfte sie auch nicht dem letzteren widersprechend, beide vielmehr unabhängig von einander mussten doch einträchtig thätig sein. Während die Uebereinstimmung zwischen den Vorstellungen der Sinnlichkeit und den Begriffen des Verstandes beim Wissen als eine nothwendige, musste sie hier in der Kunst als eine zufällige, dort als Werk thätiger Arbeit, hier als Gabe des Glückes erscheinen, deren Gewahrwerden zwanglos ästhetische Lust entquoll. Daher drang Kant darauf, dass sich niemals voraussagen lasse, mit welchen Vorstellungen ein Lustgefühl nothwendig verbunden sein werde; das Vorkommen des letzteren sei vielmehr rein empirisch darzuthun, das Schöne nicht apriorisch durch Begriffe zu deduciren, sondern nur apos teriorisch durch das Gefühl aufzuzeigen. Dass er mit letzterer Behauptung völlig im Rechte war, ist eben so unzweifelhaft, als dass er unrecht that, diesen Satz mit der Leugnung jedes objectiven Geschmacksprincips für identisch zu halten. Es ist vollkommen richtig, dass sich ohne Zuhilfenahme des thatsächlich Gefallenden a priori nicht darthun lässt, was nothwendig gefallen werde und müsse, wie es denn niemand z. B. unternehmen wird, eine Construction der Harmonielehre ohne Rücksicht auf die thatsächlich gefallenden oder missfallenden Tonverhältnisse a priori zu versuchen. Es ist jedoch falsch, zu behaupten, dass es nicht Vorstellungen gebe, die, vom Individuum abgesehen, nur ausschliesslich ihrem Gehalte nach gedacht zu werden brauchen, um ein nothwendiges Lustoder Unlustgefühl zu erwecken. Dennoch ist diess und nichts weiter der Sinn eines objectiven Geschmacksprincips. Indem Kant beides vermengt und, weil ihm
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die Gesetzmässigkeit der reinen Vernunft das einzige Objective ist, die Unmöglichkeit, das ästhetische Gefallen und Missfallen aus der Vernunft zu deduciren, mit der Unmöglichkeit eines objectiven Gaschmacksprincips [sic] selbst verwechselt, hat er den Grund zu dem Subjectivismus und der Autonomie des ästhetischen Genies gelegt, das seine gesetzlose Ungebundenheit zuletzt auch auf das sittliche Gebiet auszudehnen nicht zurückschrack [sic]. Die Schwäche des Kant’schen Princips trat auch für Solche hervor, welche in psychologischer Hinsicht auf seiner Grundlage fortbauten. Mit Recht hat man gefragt, wenn es der Endzweck der Kunst sei, die Einbildungskraft in Freiheit zu setzen, woher es doch komme, dass gewisse Objecte diesem selben entsprächen, während andere es nicht thun. Der Umstand, dass ein Apollo von Belvedere Wohlgefallen erregt, während ein Stümperversuch dies nicht vermag, lässt doch, scheint es, darauf schliessen, dass, nach Kant’scher Redeweise, der Anblick des ersteren die Einbildungskraft in Freiheit und mit dem Verstande, ohne bestimmte Begriffe, in harmonische Thätigkeit versetze, der Anblick des zweiten nicht. Wenn nun nicht alles trügt, so ist wol anzunehmen, zwischen dem ersteren Gegenstande und dem beschauenden Subjecte finde eine andere Beziehung statt, als zwischen diesem und dem zweiten, und die Verschiedenheit derselben könne, da das Subject dasselbe bleibt, ihren Grund nur in einem Unterschiede zwischen den Objecten haben. Es könne folglich nicht richtig sein, dass die Beschaffenheit des Objectes für den Zustand im Subjecte gleichgiltig und weiterhin das Gefallen des einen, das Missfallen des andern demselben nur fälschlicherweise angedichtet sei, sondern es müsse sehr wol einen Grund geben, wesshalb das Subject sein Gefallen auf den Apoll, sein Missfallen dagegen auf den Stümperversuch übertrage. Zugegeben demnach, das Subject geniesse im Schönheitsgefühle, wie Kant will, nur seiner, der Harmonie seines thätigen Verstandes mit seiner gleichfalls lebendigen Einbildungskraft, und verkläre mit diesem seinem Schimmer das von ihm als Ursache desselben betrachtete Object, warum nahm doch Kant an, dass es diese Verklärung gerade auf diesen und nicht eben so gut auf jeden anderen beliebigen Gegenstand werfe, also diesen, aber nicht jeden schön finde? Möchte es sein, dass, sind wir einmal ästhetisch gestimmt, die ganze Umgebung uns schön erscheine; aber man wird dieser letzteren das Recht nicht absprechen wollen, uns ästhetisch zu stimmen. Mag der schaffende Künstler die Fülle des eigenen Subjectes in sein Kunstwerk überströmen; der geniessende Beschauer möchte den Geist aus dem Objecte in seinen eigenen herüberziehen. Mit der Ausflucht kommt man nicht durch, dass der echte Kunstgenuss selbst ein geistiges Wiederholen, ein Nachschaffen des Kunstwerkes sei. Eben um ein Object reproduciren zu können, muss uns der Gegenstand vorher nicht nur in schaffende Stimmung versetzt, er muss uns so individuell angeregt haben, dass wir gerade dies bestimmte und kein anderes Werk mit unserer Einbildungskraft wiederzugeben
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im Stande seien. Soll nun der Grund von dem allen nicht im Objecte gesucht werden? Von einer Philosophie freilich darf er es nicht, welche wie die Kant’sche alle, auch die sinnlichen Formen der Erfahrung in das Subject selbst verlegt. Von ihrem nächsten idealistischen Nachfolger noch weniger, der auch den Ursprung des sinnlichen Stoffes unserer Erscheinungswelt dem letzteren zuschreibt. Sobald der Grund unserer gesammten Vorstellungswelt der Form und dem Stoffe nach im Subjecte gefunden wird, kann auch der Grund des mit einigen derselben verknüpften Wohlgefallens, gelte dasselbe nun der Form oder der Materie der Vorstellung, nur wieder in demselben gesucht werden. Die Stelle des äusseren Objectes vertritt die subjective Vorstellung, das Product des Zusammenwirkens der formgebenden und der stoffbildenden Geis teskraft. An die Stelle des noch bei Kant lediglich receptiven Sinnes tritt eine schöpferische Einbildungskraft; der Fall, welcher in der kritischen Philosophie nur bei der ästhetischen Production zugelassen war, tritt hier bei der gesammten Erfahrungswelt ein. Die Folge ist, dass sich beide letzteren, die Welt der Erfahrung, an die sich keines von beiden, und die Welt der ästhetischen Production, an die sich entweder Beifall oder Tadel knüpft, nur wie eine gebundene unter der Leitung des Verstandes und freie ohne dieselbe, aber in Einklang mit derselben vorsichgehende schaffende Thätigkeit verhalten können. Der Genuss der Harmonie der formgebenden (Begriffe bildenden) und stoffgebenden (sinnlichen) Seelenkraft ist es, wodurch die ästhetische von der gemeinen Imagination sich unterscheidet, welche entweder überwiegend nach der formgebenden als Denken, oder nach der stoffgebenden Seite hin ausgebildet als Anschauen, inhaltsleere Formen und formlosen Inhalt schafft. […] Daraus entsprang eine Amphibolie, deren zweideutige Folgen bei den Anhängern der Schule, insbesondere bei Vischer zum Vorschein gekommen sind. Dadurch, dass das Schöne als „Einheit“ der Idee und der Erscheinung bestimmt, jene zwar metaphysisch als Innewohnen des Höheren im Niederen, aber auch ästhetisch, als gegenseitiges Entsprechen, als Harmonie zwischen beiden verstanden wird, scheint das auf diesem Weg zustandegekommene Schöne aus einem doppelten Grunde beifallswerth, einmal aus einem ethischen, weil es die Erscheinung eines Höheren, das anderemal aus einem wirklich ästhetischen, weil es die adäquate Erscheinung desselben ist. Wird nur der erste berücksichtigt, so trägt es der substantielle Gehalt über die äussere Form davon, wird es nur der letztere, so die Form über den Gehalt. Dann erscheint im ersten Falle das Schöne nur leihweise, als Erscheinung eines ethisch Werthvollen, selbst werthvoll, während im letzteren ihm selbstständig, ohne Rücksicht auf das, was darin erscheint, ein solcher zukommt. Liegt in dem ersten ein Rückfall auf den moralischen oder theologischen Standpunct, welcher das Schöne nur als Erscheinung des Guten oder der Gottheit zu begreifen
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vermag, so ist das letztere der Ausdruck dessen, was als die Errungenschaft der Meister in Dicht-, Ton- und bildender Kunst angesehen werden kann, des selbstständigen Formenwerthes. Beide können verbunden, d. h. es kann ethisch-werthvoller Inhalt in ästhetisch-wertvoller Form zur Erscheinung gebracht, aber sie dürfen nicht vermengt oder der eine für den andern gesetzt werden. Gehaltsästhetik und Formästhetik schliessen einander aus; was nur gefällt, weil es gut oder wahr ist, muss darum noch nicht schön, und umgekehrt muss der Gehalt, den die schöne Form umfängt, weder nothwendig gut, noch in anderem als im poetischen Sinne wahr sein. Der Gegensatz zwischen den beiden ist in neuester Zeit mit einer gewissen Lebhaftigkeit aufgetreten und hauptsächlich zwischen mir auf der einen und den Herren Vischer, Carrière, und (seither) Lotze auf der anderen Seite erörtert worden. Vischer selbst hat sich veranlasst gefühlt, die Form gegen den substantiellen Gehalt mindestens mit Worten in Schutz zu nehmen, unbekümmert, ob er darüber mit dem eigenen Verfahren in seiner Metaphysik des Schönen in schwer zu übersehenden Zwiespalt gerathe (der im 5. Heft der kritischen Gänge in seiner Kritik seiner eigenen Aesthetik seitdem zum Durchbruch gekommen ist). Nicht nur liegt ihm darin, dass die Zufälligkeit, wie er sich ausdrückt, in Hegel’s ganzem Systeme, insbesondere in der Aesthetik, nicht zu ihrem vollen Rechte gekommen, der Grund, warum dessen Aesthetik „zu unmittelbar“ auf „substantiellen“ d. i. auf Gehalt überhaupt, denn die Alleinslehre kennt keinen andern, hindränge, sondern an einem anderen Orte (Aesth. I. §. 55) spricht er mit eben den Worten, mit denen es nur der entschiedenste ästhetische Formalist thun könnte, geradezu aus: das Schöne sei reine Form. An einem dritten Orte endlich (in seiner Abhandlung über Inhalt und Form in der Aesthetik) hat er über die Aesthetik des substantiellen Gehaltes in entschiedenem Tadel sich ergossen. Nur ihn gänzlich bei Seite zu schieben, wagt er nicht; denn daraus gehe, wie er sagt, jene „formalistische Kunstbeurtheilung“ hervor, welche „die Wahrheit, dass im Schönen alles auf die Form ankomme, dahin verkehre, dass sie meine, es sei damit eine Abstraction vom Stoffe gerechtfertigt, während umgekehrt, je mehr man auf die Form dringe, desto mehr die Bedeutung des Gehaltes in ihr Gewicht eintrete und grosse Form nur bei grossem Gehalte möglich, Formvollendung dagegen bei geringem Gehalte in der Nähe bedeutungslos sei.“ Der doppelte ethische und ästhetische, Gehalts- und Formwerth tritt hier deutlich hervor; an diesem hält der Aesthetiker, an jenem der Jünger der Hegel’schen Schule fest, von denen der erste in dem Satze, dass beim Schönen alles auf die Form ankomme, eine „Wahrheit“, der andere in der Sonderung des Gehaltes vom Formenwerthe eine „Verkehrung“ derselben gewahrt und die Ansicht des ästhetischen Formalisten dahin entstellt, als rede derselbe von einer Form, die an nichts, oder einem Gehalte, der in keiner Form erscheine, was beides handgreiflich unmöglich, vom ästhetischen Formalismus aber auch niemals
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behauptet worden ist. Was letzterer aufstellt, ist einfach dass ein schöner Gegenstand als solcher nur durch die Form gefalle; was er aber nicht leugnet, ist, dass er ausserdem auch noch, insofern er zugleich wahr und gut ist, durch seinen Gehalt gefallen könne. Diese Sonderung des Gefallens bedingt keine Absonderung des Seins wie es denn mit Aristoteles für ausgemacht gilt, dass keine Form ohne Stoff und kein Stoff ohne Form existire, was aber nicht ausschliesst, dass die Form für sich und der Stoff für sich betrachtet ein Gefallen oder Missfallen, jedes für sich hervorbringe. So kommt Vischer, welcher dem Unterschiede zwischen stofflicher Gehalts- und ästhetischer reiner Formwirkung ganz nahe auf der Spur ist, ja ausdrücklich nur die letztere als ästhetische anerkennt, von dem logischethisch-metaphysischen Substanzgehalt des Schönen so wenig wie Hegel’s Schule überhaupt, los, und so pan-, a- und antitheologisch er sich geberden mag, seine Aesthetik ist doch nur das umhüllende Prachtgewand seiner Theologie. Aber auch den ihm vom metaphysischen Standpuncte aus feindselig gegenüberstehenden Gegnern, welche wie Carrière, Eckhardt und andere in jüngster Zeit mit dem Gedanken einer theistischen Aesthetik sich getragen und die bekannten Bestrebungen, dem Pantheismus und Atheismus in der Metaphysik einen speculativen Theismus entgegenzustellen, auch auf dem Felde des Schönen einheimisch zu machen gesucht haben, ergeht es nicht besser. Gern geben wir zu, dass die allgemeinen Vorzüge, welche der einen dieser entgegengesetzten Weltanschauungen vor den anderen beiden eigen sein mögen, auch dem Processe, durch welchen das Schöne als Offenbarung der persönlichen Gottheit zu Stande kommen soll, eine höhere Weihe zu ertheilen scheinen. Kein Grund lässt sich ausfindig machen, warum der Schöpfer, wo nicht höhere Rücksichten hindernd in den Weg traten, das absolut Wohlgefällige nicht sollte geschaffen haben; aber es hiesse dem ästhetischen nicht minder, wie im gleichen Falle dem moralischen Gewissen Gewalt anthun, wenn man von demselben verlangte, das Schöne oder das Gute nicht deshalb, weil es so ist wie es ist, sondern weil es von Gott ist, beifallswürdig zu finden. Keine Metaphysik, sie sei theistisch, pan- oder atheistisch, kann über das, was ästhetisch oder ethisch gefallen soll, entscheiden. Das lediglich Seiende kann niemals normativ sein, oder es müsste das Normative anderswoher stillschweigend vorausgesetzt und in das Seiende hineinverlegt, aus demselben erschlichen sein. Allgemein lässt sich aussprechen, weder der Umstand, ob das, was wir schön oder unschön nennen, sei oder nicht sei, noch der andere, woher und wodurch es sei, falle für die ästhetische Beurtheilung in’s Gewicht. Dem Lobe und dem Tadel unterliegt das noch nicht Seiende, ja vielleicht niemals sein Könnende ebensogut wie das einstens Gewesene, das jetzt oder künftig in’s Dasein zu Rufende. Kant’s klassisches Wort, dass das Schöne ohne Interesse gefalle, schliesst damit auch die natürliche Theil-
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nahme aus, welche wir an der Existenz oder Nichtexistenz so wie an dem näheren oder entfernteren Ursprung und Urheber des Schönen empfinden. Es ist bekannt, welche Rolle die unbedingten laudatores temporis acti oder die rücksichtslosen Tadler alles eben Vorhandenen, welchen meist nachtheiligen Einfluss Vorliebe für das Vaterland und den Werkmeister gewisser Kunstschöpfungen bei der parteilosen kritischen Würdigung spielen und nehmen. Die erste Regel aller Kritik lautet, dass solche der Sache selbst fremdartige Nebenrücksichten aus der Materie des ästhetischen Urtheiles ausgeschlossen werden, lediglich die Betrachtung des zu Beurtheilenden selbst, die Vorstellung seines Inhaltes, auf das Gemüth des zum Lobe oder Tadel berufenen Beschauers wirken sollen. Alles, wodurch der ästhetische Beifall oder sein Gegentheil allein bestimmt werden darf, ist in dem blossen Bilde des zu Beurtheilenden als Vorgestellten enthalten; die Realität oder Nichtrealität des Objectes thut zu dem Eindrucke nichts hinzu. Ob das Vorgestellte sei, woher und wodurch es sei, gehört jener rein theoretischen, gegen den lobenden oder tadelnden Zusatz, welchen der Inhalt des Vorgestellten im Gemüthe des Betrachters herbeiführt, indifferenten Auffassung der Dinge an, ob es gefalle oder nicht gefalle, es sei nun oder es sei nicht, gleichviel durch wen oder woher, dagegen der wahrhaft ästhetischen. Jene interessirt der Process, durch welchen das Schöne wird, sei es nun der psychologische im Innern des einzelnen, sei es der metaphysisch-geschichtliche in der Offenbarung des (persönlichen oder unpersönlichen) Weltsubjectes; diese hält sich lediglich an diejenige Qualität, wodurch das Resultat dieses Processes, als Vorstellungsinhalt des Beschauers, Wohlgefallen oder Missfallen nothwendig herbeifürt. Das Verhältniss beider Richtungen, in welche die heutige Aesthetik als Wissenschaft sich spaltet, wird am kürzesten durch den Gegensatz des his torischen Begreifens und ästhetischen Beurtheilens ausgedrückt. Einseitige Ausbildung des ersteren hat die Aesthetik in Kunst- und Literaturhistorie verwandelt; die Grundlegung der letzteren soll die Aesthetik ihrem ursprünglichen Berufe, einen Maasstab zur ästhetischen Werthschätzung darzubieten, wieder zurückgeben. […] Dass der Historismus, welcher das Schöne als weltgeschichtliche Entfaltung des Absoluten auffasst, jede Kritik unmöglich macht, weil jedes ästhetische Product als dessen Verkörperungsstufe berechtigt, umgekehrt aber auch keines wieder absolut berechtigt ist, da keines die Totalität des Weltgeistes erschöpft, ist noch die geringste seiner Sünden. Dass er aber auf ästhetischem nicht weniger als auf ethischem, rechtlichem und politischem Gebiete die spinozistische Macht zum Rechte, den Erfolg der Wirklichkeit zum Bürgen der Würdigkeit erhebt, macht ihn dem Fortschritte der Kunst nachtheilig und gefährlich. Aus der Aesthetik des substantiellen Gehalts ist der Historismus hervorgegangen; an die Aesthetik des reinen Formwerthes schliessen sich die Versuche, objective Principien des Gefallens und Missfallens zu finden, an.
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Es war nicht zu erwarten, dass die Freunde der Identitätsphilosophie und der Lehre von der Einheit des Denkens und Seins sich geneigt fühlen würden, zu der echt Kant’schen Trennung dessen was ist und geschieht von demjenigen was sein und geschehen soll zurückkehrend, die Einheit des theoretischen und practischen Theiles der Philosophie aufzugeben, in deren Entdeckung und Feststellung sie die grösste That des epikritischen Idealismus erblickten. Hatte doch Kant selbst, sein eigenes Werk dadurch gewissermassen zerstörend, nicht unterlassen können, die angebliche Vernunftforderung auszusprechen, dass die philosophische Erkenntniss nur ein Princip habe, und damit die principielle Geschiedenheit des theoretischen und practischen Theiles des Philosophirens für eine „vorläufige“ erklärt. Wie hätten seine Nachfolger nicht begierig sein sollen, dieser „Vernunftforderung“ zu genügen? Es ist Herbart’s Verdienst, Kant gegen Kant selbst in Schutz genommen zu haben. Indem er unwiderleglich zeigte, dass jene angebliche Vernunftforderung nur in einem unwillkürlichen Wohlgefallen an Harmonie und Uebereinstimmung bestehe, in Folge dessen wir wünschen, zu einheitlichem Abschluss und Abrundung unserer Erkenntniss zu gelangen, war eben dadurch erwiesen, dass dieses ästhetische Lustgefühl eine von der theoretischen Vernunft ganz unabhängige Quelle besitze, in Folge dessen das, was gefällt oder missfällt, niemals durch dasjenige, was ist oder wird, bedingt werden kann. Indem er weiterhin nachwies, dass dasjenige, was gefällt oder missfällt, falls darauf eine Wissenschaft gegründet werden soll, nothwendig einerseits ein unbedingt Gefallendes oder Missfallendes, andererseits ein derartiges voraussetze, welches von dem daran sich knüpfenden Zusatz im Gemüth gesondert vorgestellt werden kann, letzteres aber bei einem Einfachen niemals, sondern nur bei einem Zusammengesetzten stattfinde, dessen Theile jeder für sich zwar weder Lob noch Tadel, in ihrem Zusammen aber nothwendig eines von beiden hervorrufen, hat er zugleich den Beweis geführt, dass alles Gefallende oder Missfallende nur Formen seien und dass die Gründe des ers tern nur in der Beschaffenheit der letzteren gesucht werden können. Die Bedeutung, welche dieser Beweis für die Reform der Aesthetik hat, erhellt nicht nur aus der Einstimmigkeit, mit welcher sich Künstler und Dichter von jeher zu obigem Satze bekannt haben, sondern noch mehr aus dem Umstande, dass, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, auch der scheinbar entgegenstehenden Behauptung der Denker, wo sie sich auf das ästhetische Gebiet begeben, der Einfluss absolut beifälliger ästhetischer Formen nichtsdestoweniger bestimmend zu Grunde liegt. Nur darf man nicht einseitig, wie es die Meisten und Tonangebenden gethan haben, das Wort „Form“ im Sinne der Formen bildender Kunst, insbesondere der plastischen verstehen, sondern muss zu dem Gedanken sich zu erheben im Stande sein, das dasselbe einen weit allgemeineren, in der Musik eben so gut wie in der Malerei, in
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der Poesie wie in der Plastik, in der Architektur wie in der rhythmischen Kunst, ja selbst, was allerdings Herbart allein nachgewiesen hat, in der Ethik anwendbaren Begriff bezeichne. Derselbe ist aber kein anderer, als der eines Verhältnisses, das einerseits dem bekannten mathematischen darin ähnlich ist, dass es zwischen Gliedern, die auf die verschiedenste Weise benannt sind, stattfinden kann, falls diese nur ein gewisses sich gleichbleibendes Verhalten gegen einander beobachten, andererseits darin unähnlich, dass das Vorstellen desselben kein dem Gemüth des Betrachters indifferentes bleibt, sondern in einem unwillkürlichen Lust- oder Unlustgefühl seitens desselben seinen unausbleiblichen Effect hat. In diesem Sinne ist das harmonische Verhältniss zwischen Gehalt und Form überhaupt eine allgemeine ästhetische wie das zwischen der Terz und Quinte eine musikalische, das zwischen dem Langund Querhaus in Kirchen germanischen Styles in der Regel stattfindende von 5 : 3 eine architektonische, das zwischen Dunkel und Helle auf dem berühmten Gemälde der Nacht eingehaltene eine malerische, das in Beziehung zum übrigen Körper kleinere Haupt des vatikanischen Apoll eine plastische Form, während die Einstimmigkeit zwischen Einsicht und Willen, eigenem und fremdem Willen, weil sie am menschlichen Willen sich darstellen, deshalb ästhetische Willens-, ethische oder practische Formen heissen dürfen. Scheidet man die letzteren als ein besonderes Gebiet aus, so dass nur diejenigen ästhetischen, d. h. von Lob und Tadel unwillkürlich und unausbleiblich begleiteten Formen übrig bleiben, welche an anderem als am menschlichen Willen sich darstellen, so können die letzteren ästhetisch im eigentlichen Sinne heissen. Hält man diesen Sinn des Wortes Form fest, welcher der einzige ist, der sich auf alle verschiedenen Kunstgebiete anwenden lässt, wenn mit dem von allen Meistern und Kennern des Schönen und, wie wir sahen, auch von wissenschaftlichen Gegnern zugegebenen Satze, dass das Schöne nur durch die Form gefalle, Ernst gemacht werden soll: so erhellt, das [sic] sowol bei Kant wie bei Fichte und seinen Nachfolgern der Einfluss ästhetischer Formen thätig gewesen sei. Nichts anderes ist die Harmonie zwischen Verstand und Einbildungskraft, welche nach Kant ein Lustgefühl, nach Schiller als ästhetische Stimmung das Schöne hervorbringt. Den Beifall, den diese erweckt, überträgt Fichte unberechtigterweise auf jene rein theoretische Einheit der Seelenkräfte, die er ästhetischen Trieb nennt. Bei Schelling sowol als Hegel ist es wieder nichts anderes, als die ästhetische Form des Einklanges zwischen Idealem und Realem, Innerem und Aeusserem, Idee und Erscheinung, Inhalt und Form, welche, als „Einheit“ bezeichnet aber als Harmonie verstanden, den Preis der Schönheit davonträgt. Ueberall haben wir gesehen, wie der ästhetische Beifall, der aus dem rein theoretischen Gehalte sich nicht „herausklauben“ lässt, durch unwillkürliche Uebertragung ästhetischer Formen demselben entlockt wird, und dreist können wir aussprechen, dass
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die Harmonie wenigstens ein ästhetisches Grundverhältniss darstellt, dessen absolute Beifälligkeit, von der sonstigen Qualität der Verhältnissglieder ganz abgesehen, allseitig anerkannt dasteht. Der Psychologie können wir es überlassen, diese Thatsache zu analysiren, der Aesthetik kommt es zu, sie zu registriren. Ihr, deren einzige Aufgabe in der Beantwortung der Frage bestehen kann: was gefällt? ist es genug, wenn sie auf dieselbe mit Sicherheit erwidern kann: der Einklang! Erst in zweiter Reihe kommt die Frage, ob ausser dem Einklang noch anderes dieselbe unausbleibliche Wirkung hervorbringe, die wieder mit der weiteren zusammenfällt, ob es der objectiven Geschmacksprincipe nur eines oder mehrere gebe? Ist damit etwas gewonnen? Von dem Satze, dass sich das Schöne nur fühlen, nicht beweisen lasse, ist die Leugnung aller Aesthetik als Wissenschaft ausgegangen; auf eine (oder mehrere) nicht erklärbare Thatsache eines unbedingten Wohlgefallens an einem (oder mehreren) darum ästhetisch genannten Verhältnisse hat uns die kritische Analyse der idealistischen Aesthetik von Kant bis Hegel zurückgeführt. Ist aber ein sogenannter unbedingter Beifall etwas anderes, als ein Lustgefühl, von dem man weiter keine Rechenschaft sich geben, auf dessen Ausspruch umsoweniger man eine Wissenschaft gründen kann? Darauf ist zu erwiedern, dass, wenn der unbedingte Beifall, der z. B. dem Verhältnisse des Einklangs gilt, wirklich nichts als ein blosses Lustgefühl sein sollte, jener Einwand vollkommen berechtigt wäre. Der Grund, weshalb es der englische Sensualismus sowol, wie Hutcheson’s Theorie des ästhetischen Sinnes zu keiner wissenschaftlichen Aesthetik gebracht hat, ist eben kein anderer als weil auf ein blosses Gefühl sich nichts gründen lässt. Das Charakteristische des blossen Lustgefühls liegt wesentlich darin, dass dasselbe mit dem Gefühlten ununterscheidbar zusammenrinnt, es zu einer gesonderten Vorstellung dessen, was gefühlt wird, nicht kommt. Soll das Was des Gefühlten hervortreten, so muss es auch gesondert d. h. ohne begleitendes Gefühl für sich vorgestellt werden können. Dann aber muss zu demselben in seinem gesonderten, vom Gefühl nicht begleiteten, Vorgestelltwerden nothwendig etwas hinzukommen, wenn es, das bisher von keinem Gefühle begleitet war, jetzt ein solches herverrufen [sic] soll. Und zwar muss dieses Hinzukommende selbst gleichfalls gesondert vorstellbar und für sich von keinem Gefühle begleitet sein, da ja erst durch das Hinzutreten desselben zu dem ersten das Gefühl sich erzeugt. Daraus folgt, dass das Gefühl weder an das erste, noch an das zweite für sich, sondern an das Zusammen beider sich heftet, so dass jedes für sich für dasselbe ganz gleichgiltig ist, während es mit dem Zusammentreten beider nothwendig hervorspringt. Mithin gilt das Lustgefühl, von welchem hier die Rede ist, nur einem Zusammen Mehrerer, einem Verhältniss, also einer Form; während die Qualität des Einzelnen, die
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Materie des Verhältnisses, welche immer sein kann und, da sie auch gesondert vom Gefühl vorgestellt zu werden vermag, fähig ist gewusst zu werden. Es ist Herbart’s Werk, die Natur dieses vom blossen Lustgefühle wesentlich unterschiedenen wahren Schönheitsgefühles einleuchtend gemacht zu haben. Während das blosse Lustgefühl der Materie des Betrachteten, gilt das Schönheitsgefühl der Form desselben. Während das erstere in das Einzelne ununterscheidbar sich versenkt, fusst das letztere auf der durch gesondertes Auseinanderhalten ermöglichten Vergleichung des vorgestellten Mehreren. Während das erstere daher, im Genusse vertieft, keines Inhalts des Genossenen sich bewusst ist, entspringt das letztere gerade aus der Betrachtung des Inhaltes der mit einander Verglichenen allein. Es ist mehr als gerechtfertigt, das auf diese Weise entstandene Wohlgefallen als Prädikat eines ästhetischen Urtheiles von dem gemeinen sinnlichen Lustgefühle zu unterscheiden. Das Schöne ruht auf ästhetischen Urtheilen, das Angenehme auf Lustgefühlen. In jenem lässt sich das Verglichene, dessen Verhältniss durch blosse Betrachtung das ästhetische Lust- und Unlustgefühl erzeugt, jedes für sich auch gesondert vorstellen, in diesem fliesst das Gefühl mit dem Gefühlten untrennbar in Eins zusammen. Daher lässt sich im ersten Falle dasjenige, was durch blosse Betrachtung ein Lust- oder Unlustgefühl hervorbringt, aufzählen und in Worte fassen, im zweiten nicht. Es ist folglich wol auf der Grundlage von ästhetischen Urtheilen, nimmermehr aber auf einer von blossen Gefühlen eine Aesthetik als Wissenschaft möglich. Mithin ist es allerdings richtig, dass sich das Schöne nicht beweisen, aber es ist nicht richtig, dass sich dasselbe nur fühlen lasse. Das ästhetische Ur theil als solches ist evident, d. i. es bedarf eben keines Weiteren als der blossen Betrachtung des Inhaltes der mit einander verglichenen Verhältnissglieder, um das ästhetische Wohlgefallen oder Missfallen hervorspringen zu machen. Alles was man dazu thun kann ist, diesen Inhalt so viel als möglich vorstellig zu machen, sich vor Einmischung fremdartiger Vorstellungen, Gefühle und Strebungen, insbesondere alles desjenigen, was Kant mit classischer Kürze „Interesse“ genannt hat, zu bewahren; alles Uebrige muss man dem Inhalte der Vorstellungen selbst überlassen. Das ästhetische Urtheil lässt sich niemandem vorschreiben; insofern ist der bekannte Satz, dass sich über den Geschmack nicht streiten lasse, allerdings giltig. Aber es wird, wenn derselbe Inhalt gedacht und nur seiner eigenen Thätigkeit überlassen worden ist, das gleiche ästhetische Urtheil sich von selbst erzeugen, weil gleiche Ursachen immer und jedesmal gleiche Wirkungen haben müssen. Ich kann allerdings niemandem beweisen, dass Grundton und Quinte harmonisch, Sexte und Septime unharmonisch klingen müssen; habe ich es einmal dahin gebracht, dass ein gesundes Ohr diese Töne nur auffasst, so kann ich gewiss sein, dass der erstere Zusammenklang als wohlgefällig, der letztere als missfällig von ihm werde vernommen werden. Dies ergibt sich mit Leichtigkeit, weil der
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Inhalt der Vorstellungen, was er für einen ist, nothwendig auch für jeden anderen sein muss und ein Gefühl, das nur durch die Betrachtung des Vorstellungsinhaltes und nichts anderes erzeugt wird, nothwendig bei dem einen dasselbe wie bei jedem anderen sein muss. Die Aesthetik besitzt eine Verwandschaft mit der Logik, indem sie wie diese es lediglich mit dem Inhalte der Vorstellungen zu thun hat; jedoch mit dem Unterschiede, dass das logische Urtheil ein beliebiges, das ästhetische nur ein gewisses Prädikat, nämlich ein Lust- oder Unlustgefühl nach sich ziehen und das Subject des letzteren nur ein Verhältniss mehrerer Vorstellungsinhalte zu einander ausmachen darf. Insofern aber kommen sie überein, dass im logischen Urtheile die wirkliche mögliche oder nothwendige Verknüpfung des Prädikates mit dem Subjecte lediglich durch den Inhalt des letzteren, im ästhetischen die nothwendige des Lust- oder Unlustgefühles mit demselben gleichfalls durch die Betrachtung ausschliesslich des Inhaltes des Subjectes bedingt wird. Dass aber das Schöne nicht blos gefühlt, sondern gewusst werden könne, geht aus dem Umstande hervor, dass Glieder des wohlgefälligen oder missfälligen Verhältnisses rein abgesondert von dem Gefühle können vorgestellt und festgehalten werden. So wenig sich sagen lässt, was es sei, das den Geruch einer Blume, das Gefühl der lauen Luft uns angenehm mache, so sicher lässt sich feststellen, welche Ton- oder Farbenverhältnisse es seien, die auf unser Ohr oder Auge einen wohlthätigen oder störenden Eindruck hervorbringen. Das evidente ästhetische Urtheil ist die Erkenntnissquelle der Aesthetik als Wissenschaft. Die Hoffnung, das Ganze derselben aus einem einzigen obersten Princip einzuleiten, wird dabei allerdings fahren gelassen werden müssen. Das ästhetische Urtheil: Einklang gefällt, ist nicht das einzige seiner Art. Evident und unbedingt, ist jedes ästhetische Urtheil zugleich Princip für sich, keines der Art, um aus einem anderen deducirt und begründet zu werden. So viel ästhetische Urtheile, so viel objective Geschmacksprincipien; wie die realistische Metaphysik auf einer unbestimmten Mehrheit des ursprünglich Seienden, so ruht die realistische Aesthetik auf einer eben solchen unbestimmten Vielheit des ursprünglich Gefallenden; die Aufzählung und Aufstellung der ästhetischen Geschmackselemente ist die Aufgabe derselben als Wissenschaft.
3. Otakar Hostinský: Herbarts Ästhetik (1891) 1. Die Klassenbegriffe Schön, Hässlich, Gut, Böse sind zu den allgemeinsten Bestimmungen des Vorgestellten zu rechnen. Das Schöne und Hässliche, insbesondere das Löbliche und Schändliche, besitzt eine ursprüngliche Evidenz, vermöge deren es klar ist, ohne gelernt und bewiesen zu sein. Allein die Evidenz durchdringt nicht immer die Nebenvorstellungen, welche teils
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begleitend, teils von jenem selbst verursacht, sich einmischen. Daher bleibt es oftmals unbemerkt; oft wird es gefühlt, aber nicht unterschieden; oft durch Verwechslungen und falsche Erklärungen entstellt. Es bedarf also herausgehoben und in ursprünglicher Reinheit und Bestimmtheit gezeigt zu werden. Dieses zu leisten, die ursprünglichen, die völlig klaren und einfachen Urtheile über Schönes und Hässliches, im weitesten (das Gute und Böse mit einschliessenden) Sinne dieser Worte, mit möglichster Vollständigkeit aufzuzählen, und alsdann ihre Anwendung auf zusammengesetzte Gegenstände der Natur und Kunst im allgemeinen zu bezeichnen, ist das Geschäft der Ästhetik. […] Unter diesem Namen stellt man die verschiedenen Betrachtungen über das Schöne und Hässliche zusammen, deren Veranlassungen sich in ganz ungleichartigen Künsten finden; als in der Poesie, der Plastik, der Musik. Sogar der Eindruck, welchen der gestirnte Himmel auf uns macht, oder das Gewitter und das brausende Meer, wird ästhetisch genannt. Was ist aber ein ästhetischer Gegenstand? Nichts anderes, als ein solcher, dessen blosse Vorstellung geeignet ist, in dem ihm hingegebenen affektlosen Zuschauer ein bestimmtes Gefühl zu erregen, und dadurch einen Zusatz zu unserem Vorstellen herbeizuführen, der in einem Urteile des Beifalls oder Missfallens, als unmittelbarem und willkürlosem Vorziehen oder Verwerfen, als unveränderlicher Wertbestimmung durch Lob oder Tadel, besteht.1 […] Unter dem Namen des Ästhetischen haben wir also hier das Schöne, das Erhabene, das Lächerliche, sammt den Nuancen und Gegenteilen davon zusammenzufassen; das Schöne wie das Gute ist somit nur eine Art des Ästhetischen, welches, als Gattung, Schönes und Hässliches, Gutes und Böses unter sich fasst. […] 2. Daraus lässt sich entnehmen, was eine Ästhetik, wie wir sie gegenwärtig nicht haben, eine Ästhetik als Aufstellung ästhetischer Principien, eigentlich zu leisten verbunden wäre. Nicht definieren, nicht demonstrieren, nicht deduzieren, selbst nicht sowohl Kunstgattungen unterscheiden und über vorhandene Kunstwerke räsonnieren, als vielmehr – versetzen sollte sie uns in die Auffassung der gesamten einfachen Verhältnisse, so viele es deren geben mag, die beim vollendeten Vorstellen Beifall und Missfallen erzeugen. Inne werden sollten wir durch sie eben des spezifischen Beifalls und des specifischen Missfallens, welches einem jeden einzelnen Verhältnisse ursprünglich eigen 1 Die Ästhetik mag sich hüten, das bloss logische Ja und Nein schon für Lob und Tadel zu halten. Der Beifall, den wir dem ästhetisch Gefallenden spenden, darf nicht mit der logischen Zustimmung (assensus logicus) verwechselt werden, und auch das ästhetisch Missfällige ist von einem Widerstreite der Merkmale weit entfernt. Das Übelwollen ist ebenso verständlich, als das Wohlwollen, der Streit ebenso verständlich, ja noch begreiflicher, als das Recht u. s. f. […]
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ist. Auf diesem Wege würde sie allen den Verhältnissen, die zu einer Kunstsphäre gehören, eine gleichmässige Aufmerksamkeit schaffen, und dadurch den unbewussten Takt berichtigen, welcher in der Scheidung des Schönen vom Hässlichen zwar ursprünglich beschäftigt ist, aber nur gar zu oft an individuellen Einseitigkeiten leidet, die ihn hindern, einer ungestümen Phantasie die gehörigen Schranken zu setzen. – Darf man es sagen, dass die musikalischen Lehren, die den seltsamen Namen: Generalbass führen, das einzige richtige Vorbild sind, welches für eine ächte Ästhetik bis jetzt vorhanden ist? Dieser Generalbass verlangt, und gewinnt, für seine einfachen Intervalle, Akkorde und Fortschreitungen absolute Beurteilung; ohne irgend etwas zu beweisen oder zu erklären. […] 4. Wenn nun die allgemeine Ästhetik, wie sie soll, zunächst das, was gefällt oder missfällt, in den einfachsten Ausdrücken zusammenstellt, samt demjenigen, was sich noch ohne Rücksicht auf den künstlerisch zu behandelnden Stoff daraus ableiten lässt, geht die auf das Gegebene angewandte Ästhetik über in eine Reihe von Kunstlehren, welche Anleitung geben, wie unter Voraussetzung eines bestimmten Stoffes, durch Verbindung ästhetischer Elemente ein gefallendes Ganze können gebildet werden, und die man sämtlich praktische Wissenschaften nennen kann, weil sie angeben, wie derjenige, der sich mit einem gewissen Gegenstande beschäftigt, denselben behandeln soll, indem nicht das Missfallende, vielmehr das Gefallende soll erzeugt werden. […] Die verschiedenen Kunstlehren müssen sich auf die allgemeine Ästhetik stützen; einer jeden derselben entspricht daher ein Teil der allgemeinen Ästhetik, der zu ihr die Vorbilder enthält. Diese einzelnen Teile sind in der allgemeinen Ästhetik nur neben einander geordnet, weil die verschiedenen ästhetischen Beurteilungen der Farben, Figuren, Töne u. s. w. und so auch der Willensverhältnisse, alle ursprünglich für sich bestehen, und durch keine gegenseitige Abhängigkeit verknüpft sind. Daher bilden die verschiedenen Kunstlehren, von denen die Tugendlehre Eine ist, lauter selbstständige Disciplinen, die nur wegen der Gleichartigkeit ihrer Principien (Beurteilung durch Beifall oder Missfallen, ohne Rücksicht auf das was ist und sein kann) unter den allgemeinen Klassennamen Ästhetik logisch zusammengestellt werden. […] 5. Es wäre nun die Sache der Ästhetik, den angehenden Künstler in dem Kontrapunkte jedes Faches so sorgfältig von den allereinfachsten Übungen anfangen zu lassen, wie dies die Musiker in dem ihrigen zu thun gewohnt sind.2 Nach solchen Vorübungen thun alsdann Gefühl und Phantasie das 2 Man vergleiche z. B. das bekannte Buch von Albrechtsberger: Anweisung zur Komposition mit ausführlichen Exempeln. Wie dieses Buch, so sollte eine gründliche Ästhetik aussehen; zum Schrecken für alle Ästhetiker, die nur Effekt machen wollen.
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Ihrige. Ohne diese Vorübungen jedoch bleiben die Bewegungen unsicher, ungelenkig, die Anstrengungen erschöpfen unnütz die Kräfte, und die Produkte halten kein Mass, passen nicht an die Stelle, für die sie gemacht sind, begnügen sich dagegen mit dem Ruhme des Ungemeinen, des Sehnsüchtigen, des Gutgemeinten. […] [Natürlich wird der Ästhetiker] Niemanden lehren wollen, Hymnen, Lust- und Trauerspiele zu verfertigen, wie ja nach Horazens ars poëtica auch nicht eine einzige horazische Ode würde gedichtet werden. Nichtsdestoweniger ist hier ein nützlicher vorbereitender Unterricht gar wohl anzubringen, von dem man freilich keineswegs erwarten darf, dass man aus seinen Händen als unfehlbarer Meister der Kunst hervorgehen werde. Man muss nicht einmal die speziellen Anweisungen des Verfahrens von ihr verlangen. Man muss sich Erfindungsgabe genug zutrauen, um das Einzelne, was jeden Augenblick zu thun sein wird, im Augenblick selbst treffen zu können. Von den Fehlern selbst, die man machen wird, muss man Belehrung erwarten. Und wie die Lehren der Harmonie dem Musiker helfen, ein guter Komponist zu werden, obgleich sie ihm nicht vorschreiben, aus welchen Intervallen und Akkorden er diese bestimmte Sonate und jenes bestimmte Konzert zusammensetzen soll, – ebenso sollen alle Teile der allgemeinen Ästhetik allen Fächern der Künste vorarbeiten. […] 6. Ebenso, wie sich das Ideal der Tugend oder des Weisen in seinen wesentlichen Zügen durch [die sittlichen Grundbegriffe, d. h. die ästhetischen Willensverhältnisse oder] die praktischen Ideen genau bestimmen lassen, würde das Ideal des Dichters, des Bildners, des Musikers u. s. w. zu Stande kommen, wären nur die übrigen Teile des ästhetischen Bodens genugsam kultiviert, damit man die ursprünglichen poetischen, plastischen, musikalischen Ideen […] (nicht Phantasien und Einfälle, sondern Musterbegriffe [d. h. die einfachsten ästhetischen Grundverhältnisse], in Hinsicht deren selbst die am weitesten gediehene musikalische Grundlehre nicht vollständig ist,) deutlich und bestimmt angeben könnte. […] 7. Das spekulative Bedürfnis des Denkers veranlasst gewöhnlich die Meinung, aus der Zusammenordnung aller Hauptbegriffe werde ein ungeteiltes Ganze hervorgehen; dieses Ganze wird unter dem Namen der Philosophie gesucht. Hingegen findet man nach gethaner Arbeit anstatt des gesuchten Ganzen drei verschiedene Wissenschaften. Nur eine derselben, die Metaphysik, welche, das Wort im weitesten Sinne genommen, die Betrachtung über uns selbst, über die Aussenwelt, und über das höchste Wesen in sich fasst, gewährt, teilweise wenigstens, ein Wissen. Es sondert sich aber von ihr, unter dem Namen der Logik, eine Reihe von Bestimmungen über Begriffe als solche, über deren Verhältnis und Verknüpfung, ohne Rücksicht auf die Frage,
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welche Giltigkeit die Begriffe haben mögen. Es sondern sich ferner mancherlei Klassen von solchen Bestimmungen, die bloss einen Wert oder Unwert anzeigen, ohne Rücksicht auf gefällige Neigung und Liebhaberei; die wichtigsten dieser Wertbestimmungen beziehen sich auf Wollen und Handeln; das System derselben heisst Ethik oder praktische Philosophie, und begreift, wenn man seine Anwendungen hinzunimmt, das Naturrecht sowohl als die Politik in sich. Will man aber alle Wertbestimmungen, ohne Rücksicht auf den Unterschied der Klassen und Gegenstände, zusammenfassen, so findet sich für die hieraus entspringende Gesamtheit kein anderer Name, als der der Ästhetik, welcher im wissenschaftlichen Sinne auch die praktische Philosophie angehört. Schon die Alten, indem sie Logik, Physik und Ethik unterschieden, hatten die drei Teile der Philosophie gefunden; und die Sonderung muss bleiben, weil sonst die verschiedenen Methoden der Untersuchung sich vermischen und verwirren. […] 8. Logik und Methodik sind nur der Vorhof der Philosophie, deren Hauptteile, Metaphysik und Ästhetik, sich dadurch unterscheiden, dass die Begriffe der einen aus dem Gegebenen genommen, die der andern in das Gegebene hineingetragen werden. Dieselbe, scheinbar unübersteigliche Kluft, welche das Sein von den Erscheinungen trennt, lässt auch keine Verbindung zwischen dem Wissen vom Sein und demjenigen Wissen zu, das sich auf ästhetische Wahrheiten bezieht. Metaphysik und Ästhetik sind eben zwei völlig disparate Wissenschaften; sie haben jedoch (mit der Logik) den allgemeinen Charakter der Vertiefung in den Sinn der Begriffe, und so mögen sie zusammen unter dem Namen Philosophie gefasst werden. Die gänzliche Unmöglichkeit einer gemeinsamen Grundwissenschaft für Ästhetik und Metaphysik, der sie beide entsprossen sein sollten, ergibt sich aber unmittelbar aus der allgemeinen Vergleichung derselben. […] [Diese Trennung von der Metaphysik betrifft zunächst nur die allgemeine Ästhetik. Denn] jede Kunst bedarf eines Stoffes, an welchem sie das Schöne darstellt, und es gibt für sie Bedingungen, unter welchen ihre Darstellungen aufgefasst und gewürdigt werden. Die nötige Kenntnis des Stoffes wird hier teils durch Erfahrung gewonnen, teils durch Psychologie. Insofern also bekommt die Metaphysik einen Einfluss auf die Kunstlehren, den sie auf die allgemeine Ästhetik nicht haben dürfte.3 […]
3 So bedarf z. B. die Tugendlehre der Kenntnis des Menschen und sie wird um desto mehr praktisch anwendbar, je mehr sie teils von theoretischer Einsicht in die Natur des Menschen dasjenige in sich aufnimmt, was über die Veränderlichkeit des Menschen zum Bessern und zum Schlechtern Aufschluss gibt. Daher ihre Abhängigkeit von Psychologie, und mittelbar von der Metaphysik. […]
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9. Man pflegt Ästhetik, wie die Logik,4 durch psychologische Fragen und Behauptungen – nicht zu erläutern, sondern zu verwirren. Das erste ist viel schwerer, das zweite geschieht viel leichter, als man geneigt ist zu glauben. Wer ästhetisch urteilt, der ist mit seinem Gegenstande, nicht mit sich selbst beschäftigt. Das Abspringen zur Reflexion auf sich schadet der Reife des Urteils; und rückwärts, die Selbstbeobachtung leidet dabei durch Erschleichungen. […] Die Fragen: wann denn das reine Geschmacksurteil hervortrete? ob es überall ein solches gebe und geben könne? ob dasselbe etwas anderes als blosse Idee sei, welcher sich die wirklichen Gemütszustände mehr oder minder annähern? – samt der gegenüberstehenden Frage, ob es ein reines Kunstwerk – das nicht zugleich rühre, reize, unterhalte, – geben könne? geben solle? – diese Fragen liegen ausser unserer Sphäre; da es der Ästhetik nicht darauf ankommt, den Geschmack psychologisch, wohl gar transcendental, zu betrachten und zu erklären, vielmehr ihm selbst gewisse Akte abzugewinnen, seiner Betrachtung die Elemente des Schönen und Hässlichen zu unterwerfen. […] 10. Die Kälte und Ruhe der theoretischen Forschung gehört der Psychologie; die Strenge und Klarheit des ästhetischen Urteils der Ästhetik. Der Denker muss für beides bereit sein. Der Ästhetiker tadelt, der Psycholog braucht zwar nicht zu tadeln, denn das gehört nicht in den Inhalt seiner Lehre; muss er nun deshalb das Tadelhafte für tadellos ausgeben? Nein! er hat zu schweigen, wo der Ästhetiker redet; aber er kann schweigend annehmen, was von jenem ausgesprochen wurde. Der Psycholog erklärt; der Ästhetiker braucht nicht zu erklären, denn das gehört nicht in den Inhalt seiner Vorschriften; muss er nun deshalb das Erklärte für unbegreiflich ausgeben? Nein! er nimmt den Gegenstand wie er liegt; schweigend über verborgene Gründe, die ihn nicht angehen und ihm nicht vorliegen, beurteilt er das Vorliegende.5 […] 4 Erst die angewandte Logik bedarf, gerade so wie die angewandte Ästhetik, psychologischer Kenntnisse, insofern nämlich, als der Stoff seiner Beschaffenheit nach erwogen sein muss, den man, den gegebenen Vorschriften gemäss, bilden will. […] 5 Wenn eine Blume sich geöffnet hat, dann weiss jedermann, dass die Beurteilung, ob sie schön sei oder nicht schön, sich nicht nach der Frage richtet, an welchem Stamm, in welchem Boden sie gewachsen sei. Dennoch ist und bleibt dies eine unschuldige, ja eine interessante Frage. Wenn eine Landschaft bewundert wird, so fällt niemandem ein, sie durch geologische Erklärung der Berge und Thäler mehr oder weniger malerisch zu machen. Darum aber, weil die Geologie keine Landschaft zu verschönern im Stande ist, wird sie doch nicht für eine Feindin der Malerei angesehen werden! […] Die Ästhetik ist wie eine Musik, die man durch Akustik und durch anatomische Beschreibung der Stimmritze nicht stören darf, obgleich vom Bau der Stimmritze und von den Schwingungen gespannter elastischer Körper die Fortpflanzung des Schalles abhängt. Physik ist überall die Feindin der Ästhetik, wo sie mit ihr zusammentrifft; obgleich ihre Freundin in vielen Fällen, wo sie ihr im Verborgenen vorarbeitet. […]
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In dieser Beurteilung des Schönen und Hässlichen verändert sich nicht das geringste, man möge nun die Möglichkeit solches Urteils psychologisch einsehen oder nicht. Würde der Lehrer des Generalbasses nach Beweisen gefragt, so könnte er nur lachen; oder das stumpfe Ohr bedauern, das nicht schon vernommen hätte.6 […] 11. Wahre Erkenntnis und ästhetisches Urteil sind zwei so völlig verschiedene Dinge, wie eine chemische Analyse und ein Moment poetischer Begeis terung. Dass diese zwei, die Erkenntnis und das Geschmacksurteil, einander in allen neueren Systemen viel zu nahe gerückt, ja dass sie ineinander gepfropft sind, dies gerade ist der allererste, und einer von den wichtigsten Punkten meiner Klage gegen die heutige Unphilosophie. […] Dem ästhetischen und dem spekulativen Interesse geht [übrigens] das empirische voraus. Dieses entspricht unmittelbar der Erfahrung und erfreut sich an der Vielheit, an den Kontrasten, an dem unterhaltenden Wechsel der beschauten Dinge. Einerseits entwickelt sich nun bei fortschreitendem Nachdenken über die Erfahrungsgegenstände das spekulative Interesse, indem der Beschauende in dem anscheinenden Spielen des Zufalls Gesetze des Zusammenhangs und des Fortschritts zu entdecken sucht, anderseits aber bei ruhender Kontemplation, bei verweilender Betrachtung der Dinge das ästhetische Interesse, indem der Beschauende von dem Unterschiede der Verhältnisse getroffen wird und aus der Masse des Hässlichen und Unbedeutenden das Schöne hervorhebt. […] 12. Obgleich nun theoretisches Wissen und ästhetisches Urteilen gänzlich verschieden sind: so soll doch hiemit nicht geleugnet werden, dass jenes helfen könne, um dieses zur Deutlichkeit zu bringen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass eine bessere Ästhetik nicht eher, als im Gefolge einer besseren Psychologie erscheinen werde; schon darum, weil ja die Ästhetik von hineingetragenen Irrtümern falscher Psychologie leidet, die nur durch wahre Psychologie können fortgeschafft werden. […] Der Verfasser, der vieljährige Nachforschungen wegen der letzteren angestellt hat, glaubt wahrzu6 Mehrmals hat man von mir die psychologische Erörterung des Ursprungs der praktischen Ideen gefordert; meist mit einem Vorurteil, welches die mindeste Bekanntschaft mit ästhetischen Gegenständen irgend einer Art hätte widerlegen können: nämlich als ob die ästhetische Evidenz durch psychologische Erklärung derselben irgend etwas an Sicherheit und Stärke gewinnen könnte; obgleich man längst weiss, dass ein Gedicht, wenn es nur verständlich ist, sich von Analysen und Kommentaren keineswegs eine grössere Wirkung zu versprechen hat; und dass Aufklärungen über die Entstehung und Verfertigung der Kunstwerke zwar wohl dem Künstler, aber nicht dem Werke eine grössere Bewunderung schaffen können. Und wahrlich! die praktische Philosophie wird in Ansehung ihrer ersten Gründe, der Psychologie niemals den geringsten positiven Zusatz an Kraft und Werth verdanken. […]
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nehmen, dass die Verschiedenheit der Gemütszustände bei verschiedenen ästhetischen Urteilen, und hiermit auch die Übergänge und Mischungen dieser Zustände, ungleich mannigfaltiger seien, als man es sich ohne spekulative Psychologie irgend mag vorstellen können. Alles dies Verschiedene gesondert, und deutlich, festzuhalten, und jedes Einzelne in seiner ganzen Bestimmtheit zu erkennen, dies scheint einen Grad von Ausbildung des spekulativen Denkens zu erfordern, dessen Mangel sich durch bloss ästhetische Betrachtung schwerlich ersetzen lässt. […]
4. Alfred Ziechner: Herbarts Ästhetik (1908) So steht auf der einen Seite Herbarts pädagogisch-psychologische Denkweise, auf der anderen Kants Ethik. Indem sich die erstere mit der letzteren auseinandersetzt, leiten beide gemeinsam auf zwei Hauptmomente der „ästhetisch“ begründeten Ethik Herbarts hin. Für die folgende Untersuchung ergeben sich somit zwei Fragen: 1. Zu welchem Ergebnis kam Herbarts pädagogisch-psychologisches Denken gegenüber der Ethik Kants? 2. Welches sind die beiden ästhetischen Prinzipien, auf die Herbart bei dieser Auseinandersetzung kam? […] Herbart ist mit Kant darin einig, daß die Sittlichkeit auf das sittliche Pflichtbewußtsein gegründet sei. Aber indem er das Problem der Moralität unter dem psychologischen Gesichtspunkt seiner pädagogischen Verwirklichung ansieht, kommt er doch auf Bedenken an Kants Auffassung und zu eigenen Forderungen, die sich dann im Laufe der weiteren Entwickelung seiner Anschauung um folgende Punkte gruppieren: Die Sittlichkeit ist ein Werdendes, das Produkt „zeitlicher, allmählicher Bildung“. […] Das übersah Kant vollständig. […] Sie wurzelt im gesamten Seelenleben, […] mit transzendentaler Freiheit, die den Willen aus der gesamten geistigen Tätigkeit herausgerissen denkt, […] ist pädagogisch nichts anzufangen. Allmählich und auf dem Wege der Anschauung menschlicher Verhältnisse nur kann der Zögling zum sittlichen Charakter gelangen. Darum darf das Sittengesetz nicht in der „bloßen Hülse der logischen Allgemeinheit“ auftreten […] und ein Wollen ohne Gewolltes repräsentieren, wie es der kategorische Imperativ verlangt, […] sondern es muß einen anschaulichen Inhalt haben. […] Zugleich dürfen seine Forderungen nicht empfunden werden als eine gewaltsame Nötigung, an die man sich seit Kant so gewöhnt hat, […] sondern als „sanfte Führungen“; „milde soll seine Herrschaft“ sein. Herbart stimmt also Kant in dem Grundzuge seiner Ethik zu: die Sittlichkeit soll auf das Pflichtbewußtsein gegründet werden. Er opponiert aber
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gegenüber der leeren Allgemeinheit des Sittengesetzes, gegenüber der Härte des kategorischen Imperativs und gegenüber der Freiheitslehre aus pädagogisch-psychologischen Gründen. Diese sagen ihm: das sittliche Pflichtbewußtsein kann nicht von vornherein vorhanden sein, es muß vielmehr he rangebildet, im Kinde nach und nach entwickelt werden. Dazu ist nötig, daß dem Zögling anschauliche Muster sittlichen Handelns vorgestellt werden. Das abstrakte und in seiner logischen Allgemeinheit leere Sittengesetz Kants muß einen Inhalt und somit eine andere Fassung erhalten. […] Das ist Herbarts Überzeugung geblieben, und sofern der Pflichtcharakter das Wesentliche der Ethik Kants ansmacht [sic], kann von Herbart nicht gesagt werden, daß er „die von Kant gewonnenen Fundamente wieder preisgegeben“ habe. […] Dennoch ist diese Wertschätzung des Pflichtbewußtseins nicht das am meisten Kantische Element in Herbart. Das liegt vielmehr in den Folgerungen, die Herbart aus der Verneinung der Eudämonie durch Kant zieht. Was ihm hieran von besonders weittragender Bedeutung erschien, sagt er in den Worten: „Welcher Scharfsinn, welche Beharrlichkeit des Forschens muß ihn (Kant) auf den hoch hervorragenden, in seiner völligen Bestimmtheit (!) ewig wahren Gedanken geführt haben, zwischen den sämtlich materialen Prinzipien und den formalen andrerseits gleichsam eine eherne Mauer aufzuführen, und den letzteren ganz ausschließlich die Begründung des Sitt lichen anheim zu geben.“ […] Hier ist es, wo Herbart bei der Entwickelung seiner ethischen Ansichten an Kant anknüpft und nun auf eigenem Wege über ihn hinausgeht. Für sein Bemühen, sich dabei immer Kant anzuschließen, ist es bezeichnend, daß er Eudämonie nur im engen Sinne der Güterlehre […] und der englischen Sympathietheorie auffaßt, ebenso, daß er bei Kant eine Mehrheit formaler Bestimmungen des Willens findet. Er sieht damit seine Auffassung vom ethischen Formalismus in die Kants hinein, um jene nun so auszubauen, wie seine pädagogisch-psychologische Denkweise ihn bestimmte. „Indem nun Kant“, so entwickelt Herbart, „den sehr wichtigen Satz aufstellte: Alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt des Begehrens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze abgeben […], hat er hierdurch eben dasselbe gesagt, was vielleicht noch bestimmter so lautet: wo ein Unterschied des bösen und des guten Willens gemacht wird, da ist der Wille selbst das Objekt der Beurteilung.“ […] Die bestimmenden Prinzipien sind also im Willen selbst zu suchen, und hier wiederum bei strengster Abstraktion von allem Materialen. Das liegt für Herbart im Begriff „formal“. Und aus ihm folgert er nicht nur die Abstraktion von den Objekten des Willens, sondern auch von aller Wirklichkeit des Willensaktes. Die Sittenlehre hat es nur mit dem reinen Wil-
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len zu tun, d. h. nur mit der Vorstellung des Willens als bloßer Intensitätsgröße psychischer Kraft, […] nur mit der abstrakten Vorstellung, mit dem bloßen Begriff. „Formale“ Bestimmungen des Willens sind also solche, die aus der Vorstellung des reinen Willens gewonnen sind. Die Bedeutung solcher Grundsätze für die Ästhetik als den Oberbegriff der Ethik ist die, daß der Begriff „formal“ in seiner ethischen Bedeutung aufgenommen wird in den ästhetischen Begriff der „Form“, der zunächst etwas ganz anderes besagen will, nun aber den Sinn der Abstraktion von aller Materie, ästhetisch ausgedrückt: den Sinn der Stoffentfremdung und Inhaltsverachtung erhält. Den Weg zu dem Begriff der ästhetischen Form in dieser Auffassung nahm Herbart durch die antieudämonistische Ethik Kants, und die Motive, die diesen inhaltfeindlichen Begriff zum Grundbegriff der Ästhetik i. w. S. machten, sind zur Hauptsache ethische. Die weitere Untersuchung wird dies bestätigen. Direkt tun das auch die Worte, in denen – wie weiterhin zu lesen sein wird – Herbart von der „Form des Sittengesetzes“ bei Kant redet, die er „bestimmt“ habe; er wendet dort den Begriff „Form“ an, wo vom Formalen im eben angeführten Sinne die Rede ist. Herbart beweist damit unwillkürlich, daß sein ästhetischer Formalismus, soweit dieser von vornherein die Inhaltsfeindlichkeit besagen will, ethisch begründet ist. Im Ausdruck „ästhetischer Formalismus“ liegt also zunächst und mit größtem Gewicht der ethische Begriff des Formalen, in dem Herbart die Forderung der Abstraktion von aller Materie erblickte. Die Umbildung des Begriffes „formal“ zu dem der ästhetischen Form kann nun Herbart nicht in der Weise vollzogen haben, wie manche Bearbeiter seiner Lehre dies darstellen. […] Nach diesen soll Herbart etwa in folgender Weise an Kant angeknüpft und seinen ästhetisch-ethischen Formalismus entwickelt haben: Kant verwirft die materiellen Bestimmungen des Willens; das Sittengesetz ist also nur formaler Art. Aber die Form (!) hat Kant nicht genau bestimmt; dies gilt es nachzuholen. An dieser Vermengung des ethischen „Formal“ und der ästhetischen „Form“ ist Herbart tatsächlich mitschuldig; in einer Rede am Geburtstage Kants 1833 sagt er […]: „Kant suchte in der Form des sittlichen Strebens den Wert desselben, – was habe ich hieran geändert? Habe ich etwa den alten Fehler erneuert, Güter des Willens an die Spitze der Sittenlehre zu stellen? Habe ich, was Kant verbot, eine Materie des Begehrens hervorgehoben? – Vielmehr, welche Form die gesuchte sei, das habe ich zu bestimmen unternommen,“ indem ich „einer bloß logischen der Allgemeinheit“ den „Namen einer ästhetischen“ gab. Herbart ist sich genau bewußt […], und gerade seine Beteuerungen hier drücken es klar aus, daß hier unter der „Form des sittlichen Strebens“ formale Sittlichkeit, d. i. ein von materiellen Bestimmungen des Willens unberührtes und nur von einer allgemeinen Norm geleitetes Wollen gemeint ist. Und doch redet er in demselben Zusammenhange von
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der ästhetischen Form als der Zusammenfassung zweier Glieder, die als solche neue Bedeutung erlangt. Manche der Darsteller seiner Lehre folgen ihm hierin treulich nach, wohl im Anschluß an die eben zitierten Worte ihres Meisters. Sie machen dabei denselben Fehler mit, den Herbart machte, nämlich in Kant etwas hineinzulegen, was nicht bei ihm zu finden ist. Daß Herbart zu dem Begriff der Form im ästhetischen Sinne kam, das konnte nicht in Anlehnung an Kant geschehen, dazu muß man vielmehr die Gründe in Herbarts pädagogisch-psychologischer Denkweise suchen, die als solche zugleich auch eine anschauliche […] gewesen ist. Sie ließ ihm die Fragen aufkommen: wie stelle ich mir den guten Willen vor, den Kant lehrt? wie mache ich Kindern diesen guten Willen und das allgemeine Sittengesetz so deutlich, daß sie beide erfassen können und ihnen nacheifern wollen? in welcher Gestalt muß ich das streng formale, abstrakte Sittengesetz an naive Menschen heranbringen, damit sie unter steter Vergegenwärtigung desselben leicht ihr sittliches Gefühl heranbilden mögen? […] Indem sich Herbart solche Fragen vorlegte, empfand er die große Leere des Sittengebotes bei Kant. „Wer unbefangen ist,“ so sagt Herbart in einer pädagogischen Abhandlung […], „der erkennt die leere Stelle für leer; denn in die Stelle des Inhaltes schiebt Kant … die Form des Gebotes, die Allgemeinheit, … andere schieben ihre theoretischen Begriffe hier herein …“ Er beklagt, daß nicht gesagt sei, was eigentlich gewollt werden solle, er vermißt „jeglichen Inhalt“ […], er redet von einer „vorgezeichneten Gesetzgebung“ […] und verwirft die „leere logische Hülse bloßer Gesetzlichkeit“. […] Bei strengster Enthaltung aller Materie soll das „Sittengesetz“ doch einen mannigfaltigen Inhalt haben, etwas Anschauliches bieten. Und da es die Ethik nur mit dem Willen ohne alle Beziehung auf die Gegenstände des Willens, also nur mit dem reinen Willen zu tun hat – das verlangt der Begriff formal, d. i. die Verachtung der Eudämonie (im Sinne Herbarts) –, so kann innerhalb der Sphäre des sittlich Reinen etwas Anschauliches nur damit gewonnen werden, daß die Vorstellungen der Willenserscheinungen untereinander in Beziehung treten, Formen, Verhältnisse bilden. […] Damit ist der ästhetische Begriff der „Form“ als einer „Zusammenfassung, welche als solche eine neue Bedeutung erlangt“, gefunden; innerhalb der reinen Sphäre des „Formalen“ ist er gefunden. Indem nun beide Begriffe ineinander aufgehen, ist ein ästhetisches Prinzip im weitesten Sinne gewonnen, nach dem es die Ästhetik nicht bloß mit der erscheinenden Wirklichkeit, sondern auch mit dem Innern, Geistigen zu tun hat, nicht nur – vielleicht überhaupt nicht – mit sinnlich anschaubaren Formen, sondern mit Formen in der Vorstellung. Ein ästhetisches ist dieses Prinzip, weil es das Moment der Form oder des Verhältnisses als der anschaubaren Beziehung zwischen Gliedern betont. An Verhältnissen oder Formen aber haftet der Begriff des Ästhetischen. […]
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Die Formen machen den Inhalt des Sittengesetzes aus. Nun ist der Mangel der „logischen Leere“ in Kants Ethik aufgehoben. Trotzdem bleibt Herbart doch durchaus im Geiste Kants; denn das ethische „Formal“ läßt Herbart als ausgesprochener aber doch nur teilweiser Gegner der Eudämonie in aller Kraft auf das Wesen der ästhetischen Form einwirken, so daß diese nun in völliger Stoffentfremdung und Inhaltsverachtung den eigentlichen Kern ihres Wesens erkennt. So wirken pädagogisch-psychologische Denkweise und ethisches Inte resse zusammen bei der Vertiefung Herbarts in Kants Sittenlehre. Sie bewirken eine neue Theorie der Grundlegung der Ethik und damit ein Abrücken von Kant; aber sie arbeiten doch ganz unter dem Eindrucke der gewaltigen Lehre Kants, und was sie hervorbringen, ist seinem Geiste nach doch echt kantisch, es soll wenigstens so sein. […] Das Neue an der Theorie Herbarts, die Begründung der Ethik auf ästhetische Verhältnisse, erhält seine charakteristische Eigenschaft der Stoffentsagung erst durch die von Kant übernommene und in aller Schärfe weiter geführte Tendenz des Abrückens von der Materie. Der Begriff der ästhetischen Form schlechthin fordert nicht mit Notwendigkeit, daß man in der praktischen Philosophie „fahren lasse den Gedanken an die Wirklichkeit des Willens, die sich könnte fühlbar machen in der Wirklichkeit“, daß nichts übrig bleiben müsse als „sein bloßes Was“, sein Bild, […] daß die Sittenlehre sich mit dem bloßen Begriff […] des Willens begnüge, er fordert nicht, daß es die gesamte Ästhetik nur mit einem Gefallen „ohne alle Rücksicht auf Realität“ zu tun habe. […] Daß dieser letzte Satz so allgemein ausgesprochen wird, ist vielmehr erst eine Wirkung des ethischen Begriffes „formal“. Er hat sich nicht im ganzen Bereich der Ästhetik durchgesetzt, Ethik und Ästhetik i. e. S. kommen, wie wir sehen werden, nicht zu vollständiger Übereinstimmung ihrer Grundsätze. Aber die Tendenz der Stoffentfremdung herrscht auch in der Ästhetik i. e. S., sie bezeichnet den tiefsten Einfluß, den das Ethische auf das Ästhetische bei Herbart erlangte. Mit ihr hängt es zusammen, daß Herbart in der Ethik vom „Bild des Willens“ im Sinne des Absehens von aller Wirklichkeit und Realität spricht und die Formel: „vorgestellte Verhältnisse“ mit der ausgesprochenen Absicht der Entfernung vom empirischen Sein zur allgemein ästhetischen Formel erhebt. Es wird ihm dadurch möglich, von Verhältnissen zwischen Willenserscheinungen und Gedanken zu reden als von ästhetischen Verhältnissen und die Ethik einer Ästhetik im weiteren Sinne unterzuordnen. Zugleich war aber damit auch der Konflikt gegeben mit dem Begriff des Ästhetischen, soweit in diesem eine Beziehung auf die Sinnesanschauung ausgesprochen ist. Deutlich spricht sich dieser Konflikt dort aus, wo Herbart von den beiden Gebieten der allgemeinen Ästhetik als von dem „moralisch Guten und
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dem sogenannten sinnlich Schönen“ redet und hinzufügt: „Eigentlich ist keine wahre Schönheit sinnlich, wenngleich bei der Auffassung derselben sinnliche Empfindungen in vielen Fällen vorauszugehen und nachzufolgen pflegen.“ […] Wie ihm bei solchen Überlegungen immer die Ethik und ihre „Reinheit“ vor Augen stand, das zeigt eine Stelle aus einem Briefe, die lautet: „Wer vollends das Wort ästhetisch für sinnlich annimmt, … der wird nie begreifen, wie ästhetische Urteile Prinzipien der Sittlichkeit werden können.“ […] Wenn also Herbart in der Ästhetik abrückt von der sinnlichen Anschauung und die Lehre vom Schönen zu einer bloßen Vorstellungssache macht, so ist daran letzten Endes die Verquickung der Ästhetik mit der dem Materiellen feindlichen Ethik schuld. […] Fassen wir zusammen, so ergibt sich als erstes Resultat der Auseinandersetzung Herbarts mit der Ethik Kants für seine Ästhetik dieses: Bestimmt durch seine pädagogisch-psychologische Denkweise opponiert Herbart der leeren Allgemeinheit des Kantischen Sittengesetzes; das Sittengesetz soll einen anschaulichen Inhalt bekommen. In Anlehnung an Kants Abstraktion von der Materie des Wollens in der Ethik und bei strengster Durchführung des in diesem Sinne aufgefaßten Antieudämonismus sieht Herbart den Inhalt des Sittengesetzes in Verhältnissen oder Formen als Beziehungen zwischen Gliedern und legt diese in das reine Vorstellen, um sie von aller Materie abzusondern. Das ästhetische Prinzip der Form ist gewonnen, aber, indem es gefunden wurde, zugleich auch fest mit der Tendenz verquickt worden, die den Inhalt der Form mißachtet und den Stoff ihrer Glieder unberücksichtigt lassen will. Zu einem zweiten ästhetischen Resultat wird Herbart bei dieser ethischen Auseinandersetzung geführt durch die Überzeugung, daß die Moral höchstes Ziel der Erziehung sein, sich aber dann geben müsse nicht als eine hart zwingende, sondern als eine „mehr einleuchtende, Verstand und Einbildungskraft angenehm beschäftigende […], rührende, als ernste und strafende.“ […] Eine Moral müsse es sein, die im Unterricht an den zweiten der beiden „nebeneinander fortlaufenden Hauptfäden“ anknüpfe, der sich an die „Empfindung und die Einbildungskraft“, an das „Herz“ […], an das „kindliche Gefühl“, […] an die „Interessen der Teilnahme“ als der Vertiefungen in „menschliche Gefühle“ […] wende. […] Die Auseinandersetzung über dieses ethische Problem mit Kant stellt Herbart unter die Frage: Warum folgt der Wille dem Sittengesetz? Kant lehrt zwar ein unbedingtes Sollen, ein unmittelbares Bestimmen des Willens durch die Vernunft ohne ein „dazwischen kommendes Gefühl der Lust oder Unlust, selbst nicht an diesem Gesetze.“ […] Doch auch ihm stößt die eben erwähnte Frage auf […], aber die Antwort findet er nicht, sagt Herbart. […] Er zitiert Kants Worte, die lauten: „Das Interesse ausfindig zu machen, das der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne,
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ist unmöglich“; „und doch muß ich notwendig ein Interesse daran nehmen, warum ich mich dem Gesetz unterwerfe“, wenn auch das Interesse uns nicht antreibt“. Aber „es scheint, als könnten wir demjenigen, der uns fragt, worauf wir den Wert gründen, den wir dem Handeln (nach dem Sittengesetz) beilegen, keine genügende Antwort geben.“ […] Mit Genugtuung konstatiert Herbart, daß Kant nach diesen seinen Worten zugibt, daß beim sittlichen Handeln ein subjektives angenehmes Empfinden, das „Wohlgefallen“, mitspricht, daß er, wie Herbart sich ausdrückt, „Rechenschaft zu geben versucht vom Werte des Handelns nach dem Sittengesetz.“ […] Mit Freuden findet Herbart diesen Gedanken bei Kant […], denn er kam seiner Überzeugung entgegen, daß im sittlich handelnden Menschen nicht ein rücksichtslos strenges, knechtisches Gehorchen gegenüber dem klarbewußten Sittengesetz stattfinde, sondern eine auch mit dem naiven Sehnen und Drängen nach eigener Befriedigung am Wohlergehen anderer verbundene, mit dem Trieb- und Gefühlsleben verquickte interessevolle Stellungnahme zum sittlichen Gebot und Handeln. Nicht die Glückseligkeitslehre will Herbart damit einführen – um das zu vermeiden, scheidet er das Gefühl der Lust und Unlust vom ästhetischen Gefallen […] –; aber maßgebend war für ihn der Gedanke: der Prozeß einer sittlichen Handlung entspringt nur dann der vollen menschlichen Natur und ist nur dann eine wirkliche Angelegenheit des ganzen Menschen, wenn dem strengen Sollen ein freudiges Wollen entgegenkomme. Für das Recht auch der naiven Persönlichkeit will Herbart eintreten; er tut es in der Ethik, indem er hier die Mitwirkung des Gefühles beachtet sehen will. Und das führt ihn zur „ästhetischen“ Grundlegung der Ethik. […] Das Menschliche erfährt doch auch bei Kant Beachtung, findet Herbart; denn auch „bei ihm (Kant) arbeitet sich das ästhetische Urteil hervor, die Achtung gewinnt Sprache, die Würde der Persönlichkeit wird erhoben“ […]. Mit Befriedigung konstatiert dies Herbart; er wird es als eine Geistesverwandtschaft empfunden haben, wenn auch Kant vom Menschen, wie er ist, einen volleren Begriff äußert. Nur infolge des „Vorurteils, als ob alle Lust und Unlust sinnlich wären“, sagt Herbart, kommt Kant nicht dazu, das „ästhetische“ Wohlgefallen am Handeln als Prinzip offen hinzustellen. Sieht man von diesem Vorurteil ab, so wird der Tatsache „der ursprünglichen Wertbestimmungen … nichts mehr im Wege stehen.“ […] So leitet Herbart aus den bei Kant […] nur nebenbei und schüchtern eingeführten Gedanken eines „teilnehmenden Interesses“, „Gefühles der Achtung“, „Wertes der Person“ sein Prinzip des „Wertens“ ab, das Prinzip des „ästhetischen Urteils“. Was ihn sein pädagogischer Blick und seine Beobachtung auch der Kinder hatten erfahren lassen, das wird ihm zum Grundgedanken seiner Ethik: das sittliche Handeln wächst aus dem ganzen […]
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Menschen heraus, Verstand und nicht weniger die Einbildungskraft sind an ihm beteiligt, die Sittlichkeit ist also „nicht ganz das Werk der Reflexion“, sondern ein „natürliches Gefühl des Wohlwollens“ spricht in ihr mit. […] Und das Gefühl auch ist es, das vor allem den Wert oder Unwert einer Handlung bestimmt. „Alle Wertbestimmungen … werden zusammengefaßt unter dem Namen Ästhetik.“ […] „Ästhetisch“ bedeutet somit hier „Werten“ oder gefühlsmäßiges Beurteilen. Eine ästhetische Bestimmung des Willens ist demnach eine solche, die durch gefühlsmäßiges Abwägen des Wertes oder Unwertes einer Handlung den Willen bestimmt. Der in Herbarts Ästhetik so bedeutsame Begriff des „ästhetischen Urteils“ drückt wie auch sein Synonym „Werturteil“ immer eine Beziehung zum Gefühl aus. In beiden Begriffen „ästhetisch“ und „werten“ liegt also, wie schon bemerkt, die Anerkennung des Gefühles als einer psychischen Grundkraft, die im Ästhetischen das eigentliche Gebiet ihrer Entfaltung besitzt. Als diese Grundkraft spricht das Gefühl im ästhetischen Gefallen. Damit wendet sich Herbarts Ästhetik unwillkürlich gegen Kants Begriff vom interesselosen Wohlgefallen […] in der Ästhetik und den Rigorismus in der Ethik.
II. Herbartianische Psychologie 5. Johann Friedrich Herbart: Allgemeine praktische Philosophie (1808) Das stille, einsame Denken, sein Suchen und sein Finden, seine Sorgen und seine Befriedigungen aus eigner Übung kennen, und schätzen, und lieben: heisst, die Philosophie kennen, schätzen, lieben. Durch keine Definition, durch keine Beschränkung auf einen bestimmten Gegenstand, und auf bestimmte Arten des Gedankenschrittes, wird derjenige sichs nehmen lassen, philosophirt zu haben, welcher, schwebend in der weiten Mitte zwischen dem Rechnen und dem Dichten, irgend Etwas, das Mehr seyn wollte als ein Gebilde der Willkühr, verfolgte, nicht um einen andern Zweck, sondern um es selbst zu erreichen. Man sagt von der Tugend, sie sey ihres Lohns gewiss, ohne auszugehn auf den Lohn. Dasselbe gilt von dem reinen Forschungs eifer. Ists vielleicht Verwandtschaft, worauf die Aehnlichkeit beyder beruht? Die practische Philosophie soll darauf antworten können, denn sie hat zu reden von der Tugend. […] Was kann diese Wissenschaft darzustellen haben? – Am willigsten möchten sich die sogenannten wahren Güter, oder auch das höchste Gut, dazu hergeben, gleichsam vor uns hingestellt zu werden, zur reizenden Schau, um sich erwerben, erkämpfen, zueignen zu lassen. So wäre es denn nicht der ruhige Anblick, und kein, dem Kennerauge abgewonnener, Beyfall, sondern ein wirksamer Antrieb, eine sanfte Gewalt, was durch die Ausstellung dieser Gegenstände erreicht würde. Nicht stillstehend zu urtheilen, sondern vorwärts schreitend zu handeln, – mindestens um ein Werk zu vollbringen, dessen Daseyn für uns einen Werth habe, – dazu wären wir, recht practisch, wie es scheint, ermuntert. Hierüber nun kann man nur bekannte Sachen wiederhohlen. Wenn etwas insofern ein Gut ist, wiefern es begehrt und angestrebt wird: so liegt der letzte Grund seiner Vorzüglichkeit eben in diesem Begehren und Anstreben selbst. Aber die Güte dieses Begehrens, sein Vorzug vor jedem schlechten Begehren, sollte ihm von diesem Gute kommen? So drehen wir uns im Kreise; alles bleibt unbestimmt; und die practische Philosophie gewinnt keinen Anfang noch Inhalt. Also muss, entweder, das Gut unabhängig von dem Begehren desselben, oder das Begehren unabhängig von seinem Gut, ursprünglich gewürdiget werden. Vielleicht kann jedes von beyden Statt finden, wenn schon nicht zugleich.
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Es mag Güter geben, – und eine Schätzung derselben, wodurch sie eben als Güter bezeichnet werden, – unabhängig von allem Wollen, Wünschen, Streben, Zueignen, und dergleichen. Und, eine solche willenlose Schätzung einmal angenommen, mag auch, unter der Zahl ihrer Gegenstände, ein gewisses Begehren, ein gewisses Wollen, Beschliessen, Handeln, mit vorkommen. Ja der letztere Fall ist die ganz einheimische Grund-Voraussetzung der practischen Philosophie, deren Kritik, um andre Dinge sich nicht kümmernd, unmittelbar den Willen treffen soll. So nun würde einiges Wollen, ohne Frage nach seinem Gegenstande, seiner selbst wegen zu den Gütern, und gleicherweise anderes Wollen zu den Uebeln gerechnet werden müssen. Gestehen wir indessen, dass hier der Sprachgebrauch verletzt wird; so wie schon dort, wo wir überhaupt Güter, als solche bezeichnet durch eine willenlose Schätzung, annahmen. Der Ausdruck: gut, setzt in der That immer einen Willen voraus, dem etwas gut sey. Darauf wird in der Folge selbst die Benennung Güte, als beyfallswerthe Eigenschaft des Willens, zurückgeführt werden. Für jetzt aber halten wir den Gedanken einer willenlosen Schätzung und Würdigung fest, deren Gegenstand Begehrung oder Wille sey; indem wir uns zugleich den Versuch, eine Güterlehre zur Sittenlehre zu erheben, als vergeblich untersagen. Es ergiebt sich hier eine Erinnerung an das, was dort vergessen schien, wo gefragt ward, was denn die practische Philosophie könne darzustellen haben, um darüber urtheilen zu machen? Nichts anderes nämlich, als gewisse Zeichnungen eines solchen und solchen Wollens, hat sie zu liefern; damit bey den Zuschauern über einiges Wollen ein unwillkührlicher Beyfall, über anderes ein unwillkührliches Misfallen rege werde. […] Der allgemeine Fehler der Güter-, Tugend- und Pflichten-Lehren liegt am Tage. Sie alle kennen nichts als den Willen, und möchten ihn auf irgend eine Weise zu seinem eignen Regulativ machen. Um dahin zu gelangen, mustern sie seine Gegenstände, versetzen in die ihm entsprechenden Gefühle, graben nach seinen Quellen und forschen nach seinen ersten und letzten Aeusserungen. Alles umsonst. Es ist immer nur Wille, aber keine Würde des Willens, was erreicht wird. […] Nach abgelehnter Zumuthung, zu erzählen oder zu beweisen, was irgend des Willens Daseyn betreffen könnte, was sein reiner, oder unreiner Trieb begehre, was ihn zu reizen, oder zu nöthigen sich eignen möge: – entsteht nun die Frage, wie es zu veranstalten sey, dass geurtheilt werde über die Beschaffenheit der Willen? Bey gehöriger Nachforschung werden sich zwey Hauptsätze ergeben; der eine: Ergeht ein Urtheil über ein Wollen, so trifft es dasselbe nie als ein einzelnes Wollen, sondern immer als Glied eines Verhältnisses. Der zweyte: das Urtheil hat ursprünglich gar keine logische Quantität; sondern die Sphäre seiner Geltung kommt ihm von der Allgemeinheit der Begriffe, durch welche die Glieder des Verhältnisses gedacht werden. Beyde Sätze sollten eigentlich von einer allgemeinen
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Aesthetik dargeboten werden, in deren Gebiet die Untersuchungen gehören, welche hier folgen. Der Geschmack, sagt man, sey so unsicher, dass es thöricht wäre, über seine Urtheile zu disputiren. Und von ihm sollten die Aussprüche kommen, auf deren Bestimmtheit die Strenge der Pflicht, auf deren Gleichförmigkeit und Beharrlichkeit die Heiligkeit alles Sittlichen beruht? Das moralische Gefühl ist verwiesen aus den Grundlegungen der Sittenlehre; versucht es etwa hier, unter einem neuen und modischen Namen sich wieder einzuführen? Dass der Geschmack unsicher ist, weiss man hoffentlich nur aus der Erfahrung. Und bestimmt aus solchen Erfahrungen, wozu die abweichenden Urtheile über sehr zusammengesetzte Gegenstände, als über ganze Werke der Kunst oder der Natur, Veranlassung gegeben hatten. Es ist kein Zweifel, dass die Anzahl dieser Erfahrungen sich nur vermehren würde, wenn man Beyspiele von guten und bösen Characteren, wie sie etwa in den Schauspielen vorkommen, zur Beurtheilung darstellen wollte. Es ist hingegen Hoffnung vorhanden, die Gründe der Unsicherheit zu entdecken, sobald die ElementarUrtheile bestimmt werden ausgesprochen seyn; welche der ästhetische TotalEffect zusammengesetzter Werke zwar aufreizt, aber nicht gesondert hervortreten lässt, vielmehr, wofern das Werk nicht classisch ist, sogar unter einander in Widerstreit setzt. Dies gilt allen Künsten: den Werken der Poesie, Plastik, Musik, so gut als der ganzen sittlichen Sinnesart menschlicher Charactere. Uebrigens möchte man, damit das Gemüth den Verstand begleite, immerhin sich versetzen in ästhetische Anschauungen, wie sie von den Künsten pflegen erweckt zu werden; man möchte bemerken, wie verschieden davon der starre Blick ist, mit welchem das Kind oder überhaupt der rohe Mensch die nämlichen Gegenstände zwar völlig fasst, aber nicht fühlt; wie verschieden davon gleichfalls die Begierde, welche das Kunstwerk in ihren Besitz zu bringen, in ihr Eigenthum zu verwandeln beabsichtigt. Es ist nur zu fürchten, dass man sich dem Eindruck des Schönen zu sehr hingeben, – sich zu sehr anfüllen wird von den Gemüthsbewegungen, die mit ihm gewöhnlich verbunden sind. Dahin gehört schon die warme Liebe, die Begeisterung, entgegengesetzt dem kalten Kenner-Urtheil; dahin gehört noch mehr das Schweifen der Phantasie aus einer Sphäre des Geschmacks in die andre. Manche Personen gerathen ins Dichten, wenn eine schöne Landschaft sich eröffnet; und ins Schwärmen, wenn sie Musik hören; oder sie halten wenigs tens die Musik für eine Art von Malerey; die Malerey aber für Poesie, die Poesie für die höchste Plastik, und die Plastik für eine Art von ästhetischer Philosophie. Solchen wäre wohl zu rathen, sie möchten sich in dem Lächeln der Meister jeder einzelnen Kunst, so lange baden, bis es ihnen gelänge, des eigenthümlichen Schönen aller besondern Gattungen inne zu werden; also die Landschaft in der Landschaft zu sehen; des Concerts aber im Concerte froh zu werden; eben so der Verhältnisse und Tinten in der Malerey, end-
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lich der Verflechtung von Situationen, Empfindungen, Characteren, in der Poesie. Um überhaupt ein Geschmacksurtheil rein zu haben, achte man auf das Veränderliche der Zustände, in welche es das Gemüth versetzt. Dies Veränderliche sondere man ab; es kann dem Geschmack nicht wesentlich seyn. Aber die Auffassung des Gegenstandes muss bleiben in ihrer Schärfe, damit geurtheilt werden könne. Weder die ersten, noch die letzten Empfindungen, welche ein Kunstwerk erregt, sind die rein ästhetischen; jene nicht, weil der Gegenstand noch nicht vollkommen gefasst ist, weil die Masse noch drückt; diese nicht, weil die Aufmerksamkeit ermüdet ist und schwindet. Die Frage aber: wann denn das reine Geschmacksurtheil hervortrete? ob es überall ein solches gebe, und geben könne? ob dasselbe etwas anders als blosse Idee sey, welcher sich die wirklichen Gemüthszustände mehr oder minder annähern? – sammt der gegenüberstehenden Frage: ob es ein reines Kunstwerk – das nicht zugleich rühre, reize, unterhalte, – geben könne? geben solle? – Diese Fragen liegen ausser unsrer Sphäre; da es der practischen Philosophie nicht darauf ankommt, den Geschmack psychologisch, wohl gar transscendental, zu betrachten und zu erklären, sondern vielmehr ihm selbst bestimmte Acte abzugewinnen, seiner Betrachtung Willen und Willensverhältnisse zu unterwerfen. Und möge es recht lebhaft gefühlt werden, wie sehr störend und hemmend auf die Thätigkeit des Geschmacks, eine unzeitige Speculation über den Geschmack wirken müsste! Wie so gänzlich gleichgültig für sein Urtheil selbst, jeder Aufschluss seyn müsste, der gleichsam den Mechanismus des Urtheilens enthüllte! Um den scharfen Unterschied zwischen Geschmack und Begierde ist es hier zu thun; damit das, wovon alle Autorität über das Begehren und Wollen, sich herschreibt, nicht selbst scheine damit zusammen zu fallen. Es tritt nun sogleich hervor: dass Begierde das Künftige sucht, der Geschmack aber über das Vorliegende bestimmt; dass eben daher auch nur die Begierde eigentlich kann befriedigt werden, indess dem Geschmack vielmehr Nachachtung, Befolgung seiner Weisungen entspricht. – Um dies ganz ins Licht zu setzen: werde zuvörderst der Zustand des Begehrens mit dem der Befriedigung verglichen. Die Befriedigung entsteht in der Erlangung des Begehrten. Besinnt man sich genauer, so ist unleugbar das Erlangte nichts anders als ein Vorgestelltes (im allgemeins ten Sinn des Worts); indem jedes Object nur Object ist für das Subject, kein wirkliches Ding aber, als Ding an sich, einen Zugang zum Gemüthe finden, kein Genuss in einer Verschmelzung der Seele mit einer fremden Sache bestehen kann. Die geringste Geläufigkeit in idealistischen Betrachtungsarten muss dies ausser Zweifel setzen. Nun kann man fragen, wie denn das Vorgestellte, welches erst in der Befriedigung erreicht wird, zuvor habe begehrt werden können, wenn es in der Begehrung noch nicht vorgestellt wurde? Das alte, ignoti nulla cupido, sagt schon, dass die Begierde ihren Gegenstand vor
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allen Dingen kennen muss. Aber man müsste nie begehrt haben, um nicht an jenes schwellende, zum vollen Bewusstseyn herandringende, Vorstellen sich zu erinnern, welchem in den meisten Fällen erst dann, aus der Tiefe des Gemüths sich hervorzuarbeiten, gelingt, wenn ihm das zu Hülfe kommt, was wir den äussern Eindruck des entsprechenden wirklichen Gegenstandes nennen. Jemand begehrt z. B. eine bekannte Person zu sehn, eine bekannte Musik zu hören. In minderm Grade ist ihm die Person, die Musik, während des Begehrens, in der Phantasie gegenwärtig; aber erst das wirkliche Sehen und Hören vollendet das Vorstellen. Bedarf es noch der Bemerkung, dass, falls eine unbekannte, d. h. nur durch einige Umstände bekannte Person, kennen zu lernen begehrt würde, bey erfolgtem Anschauen und Gespräch auch nicht eigentlich das Neue und Unerwartete, welches sich vorfindet, zur Befriedigung könnte gerechnet werden, sondern vielmehr als eine Zugabe zu dem Begehrten anzusehen wäre? – Demnach, in der Befriedigung, und vor derselben, ist auf gleiche Weise das Begehrte bekannt; es ist auch zugegen im Bewusstseyn, aber in verschiedenen Graden. Die innere Regsamkeit der Vorstellung, von da an, wo sie sich erhebt aus dem Hintergrunde der zahllosen schlummernden Gedanken, durch alle die Grade, auf welchen sie abwechselnd steigt und sinkt im Drängen gegen eine innere Hemmung, bis zu dem Puncte, da die Wahrnehmung – oder auch Phantasie1, Forschung, Rechnung, Anstrengung, – sie vollendet hinstellt in die Mitte des Bewusstseyns: diese Regsamkeit der Vorstellung des Begehrten ist selbst das Begehren; dessen Character man ganz verfehlen würde, wenn man an ein allgemeines Begehrungsvermögen, als an eine Werkstätte denken wollte, worin die auf andern Wegen erlangten Vorstellungen, durch eine unbegreifliche Verarbeitung in Gegenstände der Begierden verwandelt würden. Wo nun diese Regsamkeit einer Vorstellung sich findet: da ist das Vorgestellte ein Begehrtes. Und was kein Begehrtes seyn soll, das muss nicht mit solcher Regung, nicht so drängend vorgestellt werden; es muss vielmehr ruhig stehn, in vollendeter Vorstellung, die keiner Erhebung und Ergänzung durch Zufall oder Einfall bedürftig noch fähig sey. In klarer Gegenwart besitzt der Geschmack, was er beurtheilt; er hält und behält das Bild, worüber er Beyfall oder Misfallen ausspricht; und auch sein Spruch ist ein anhaltender Klang, der nicht verstummt, als bis etwa das Bild hinweggezogen wird. […] Wie vieles wir auch hier im psychologischen Dunkel, ohne alle Andeutung, liegen lassen – zwey Gegensätze sind gewonnen, woran sich die Bestimmung der Bedingungen, unter welchen alle Gegenstände des Geschmacksurtheils stehen müssen, gleichsam stemmen kann. Das Vorgestellte 1
Eine sehr lebhafte Phantasie befriedigt sich selbst; wenigstens für kurze Zeit. Sie vollendet das Vorstellen, trotz der innern Hemmung; so lange diese Spannung dauert, bedarf es des wirk lichen Gegenstandes nicht.
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im Geschmacksurtheil muss vollendet, ungehemmt, vorgestellt werden, dadurch unterscheidet es sich von dem, gegen die Hemmung aufstrebenden Begehrten. Das Vorgestellte im Geschmacksurtheil muss aber auch abgetrennt von diesem Urtheil, d. h. ohne Beyfall oder Misfallen, lediglich als Gegenstand der Erkenntniss, rein theoretisch vorgestellt werden können; als dasjenige, worauf eben das hinzutretende Urtheil sich richte: dadurch ist es geschieden von dem Angenehmen und Unangenehmen, das nur im Gefühl selbst ergriffen werden kann. Jetzt entsteht die Frage: wie es denkbar sey, dass sich das Vorgestellte, dem der Beyfall oder das Misfallen doch zukommt, – auch ohne solches, als ein Gleichgültiges, solle betreffen lassen? Es ist klar, dass ihm, dem Gleichgültigen, etwas fehlen müsste zu ihm selber, dem Gefallenden oder Misfälligen! Halte man für einen Augenblick diesen Widerspruch fest; und denke sich eine Ergänzung, welche zu ihm, dem Gleichgültigen, hinzukommend, aus ihm machte es selbst, das Gefallende oder Misfallende. So würde das Vorgestellte im Geschmacksurtheil aus dem Gleichgültigen und der Ergänzung zusammengesetzt seyn. Da wäre die Ergänzung, als Theil des zusammengesetzten Vorgestellten, selbst ein Vorgestelltes. Und so müsste auf sie angewendet werden, was zuvor festgesetzt war: nämlich, dass das Vorgestellte des Geschmacksurtheils sich auch rein theoretisch, als ein Gleichgültiges solle auffassen lassen. Daraus geht hervor, dass jeder Theil dessen, was, als zusammengesetzt, gefällt oder misfällt, für sich und einzeln genommen gleichgültig, mit einem Wort, dass die Materie gleichgültig, die Form hingegen der ästhetischen Beurtheilung unterworfen sey. – Die einfachsten Beyspiele sind hier die besten. Was ist z. B. in der Musik eine Quinte, eine Terze, ein jedes beliebiges Intervall von bestimmter musicalischer Geltung? Es ist bekannt, dass keinem der einzelnen Töne, deren Verhältniss das Intervall bildet, für sich allein nur das mindeste von dem Character zukommt, welcher gewonnen wird, indem sie zusammen klingen. Also der Geschmack ist nicht ein Vermögen, Beyfall und Misfallen – im eigentlichen Sinne zu geben: sondern diejenigen Urtheile, die, zu ihrer gemeinschaftlichen Auszeichnung vor andern Aeusserungen des Gemüths, unter dem Ausdruck: Geschmack, pflegen begriffen zu werden, – sind Effecte des vollendeten Vorstellens von Verhältnissen, die durch eine Mehrheit von Elementen gebildet werden. Dass die wahren Elemente nicht gänzlich ungleichartig seyn dürfen, sondern im Verhältnis stehn, d. h. eins als die Abänderung des andern müssen betrachtet werden können, lässt sich hier nicht vollkommen erörtern; soviel jedoch ist sogleich klar, dass sie nicht bloss in einer Summe müssig neben einander stehn, sondern einander durchdringen sollen, welches eine Farbe z. B. und ein Ton, oder ein Ton und eine Gesinnung, schwerlich leisten würden, dahingegen Ton und Ton, Farbe und Farbe, Gesinnung und Gesinnung, in Einem Denken zugleich vorgestellt, in der That einander gegenseitig so modificiren, dass Beyfall oder Misfallen – und zwar
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für jedes besondere Verhältniss von besonderer Art, – in dem Vorstellenden hervorspringt. Noch dies mag man bemerken; das Verhältniss darf nicht als solches, durch seinen Exponenten begriffen werden; der, indem er anzeigt, welche Abänderung Ein [sic] Glied des Verhältnisses in das andre übergehn mache, gerade dadurch zerstückt, was zusammen bleiben musste. Denke man zu dem arithmetischen Verhältnis 5 – 7 den Exponenten 2 hinzu: das Verhältniss hat sich in die Gleichung 7 = 5 + 2 verwandelt, wodurch die 7 zerlegt, und als Glied des Verhältnisses zerstört wird. – Wer sich losmachen kann von der Meinung, als ob die theoretischen Regeln desjenigen Gefüges, wodurch Kunstwerke die sogenannte Einheit, eigentlich Fasslichkeit, erlangen, (Regeln, welche die Production wenig unterstützen, und selbst zur Kritik nicht ausreichen,) für das Wesentliche der Geschmackslehre zu halten seyen; wer einmal inne geworden ist, dass das Köstliche der Schätze, welche die Künstlerphantasie besitzen muss, um sie ordnen zu können, nicht liegen kann in ihrem systematischen oder ökonomischen, Gebrauch: der wird vielleicht aus dem Vorhergehenden abzunehmen aufgelegt seyn, was eine Aesthetik, wie wir sie gegenwärtig noch nicht haben, eine Aesthetik als Aufstellung ästhetischer Principien, – eigentlich zu leisten verbunden wäre. Nicht definiren, nicht demonstriren, nicht deduciren, selbst nicht sowohl Kunstgattungen unterscheiden und über vorhandene Kunstwerke räsonniren, als vielmehr – versetzen sollte sie uns in die Auffassung der gesamten einfachen Verhältnisse, so viele es deren geben mag, die beym vollendeten Vorstellen Beyfall und Misfallen erzeugen. Inne werden sollten wir durch sie eben des specifischen Beyfalls und des specifischen Misfallens, welches einem jeden einzelnen Verhältnisse ursprünglich eigen ist. Auf diesem Wege würde sie allen den Verhältnissen, die zu einer Kunstsphäre gehören, eine gleichmässige Aufmerksamkeit schaffen, und dadurch den unbewussten Tact berichtigen, welcher in der Scheidung des Schönen vom Hässlichen zwar ursprünglich beschäftigt ist, aber nur gar zu oft an individuellen Einseitigkeiten leidet, die ihn hindern, einer ungestümen Phantasie die gehörigen Schranken zu setzen. – Darf man es sagen, dass die musikalischen Lehren, die den seltsamen Namen: Generalbass, führen, das einzige richtige Vorbild sind, welches für eine ächte Aesthetik bis jetzt vorhanden ist?2 Dieser Generalbass verlangt, und gewinnt, für seine einfachen Intervalle, Accorde, und Fortschreitungen, absolute Beurtheilung; ohne irgend etwas zu beweisen oder zu erklären. – Nicht anders sollen hier, weiterhin, Verhältnisse von Willen vorgelegt werden, um, gleich jenen Verhältnissen von Tönen, in absoluten Beyfall und absolutes Misfallen zu versetzen. Rein abgeschnitten seyn werden hier, wie dort, alle Fragen nach der Möglichkeit solcher Beurtheilung. 2 Es muss hier ausdrücklich bemerkt werden, dass von einer vollständigen Theorie der Musik, des Generalbass nur noch ein sehr kleiner Theil seyn würde.
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Genug, wenn sie von Statten geht! Der einzige Unterschied ergiebt sich von selbst, dass der Musiker nur nöthig hat, die Töne erklingen zu lassen, um die Verhältnisse vorzulegen; hier aber zu gleichem Zweck Begriffe von Willen mit speculativer Vorsicht werden zu bestimmen seyn, da diese Verhältnisse nur im Denken, nicht sinnlich, vernommen werden können. Ein Beytrag wird dadurch geliefert seyn zu einer künftigen Poëtik, sofern unter deren Elementar-Verhältnissen, die der Willen sich wieder finden müssen. Die übrigen Grundverhältnisse aufzusuchen, und beyzufügen, wird alsdann vielleicht Andern eher gelingen. Das Rhythmische, nicht der Worte, sondern der Gedankenfolge, – und überhaupt das, was die successiv darstellende Kunst characterisirt, – dürfte zunächst in Frage kommen. – Auch wird sich die Aesthetik vielleicht nicht fernerhin verhehlen wollen, dass sie ihrem Schüler ähnliche, wenn schon nicht ganz gleichartige, noch gleich harte, – Kämpfe, – anmuthet, wie die Moral dem ihrigen. Daraus nämlich, dass dem Geschmack die vereinzelten Elemente seiner Verhältnisse gleichgültig sind, – zusammengenommen mit der allgemeinen Möglichkeit, dass jede Vorstellung, aufstrebend im Gemüth gegen eine innere Hemmung, den Character der Begierde annehmen könne, – folgt unmittelbar, dass, wofern einmal ein Element eines ästhetischen Verhältnisses sich als Begehrung äussert, gar leicht ein Misfallen mit dieser Begehrung zusammensto ssen könne; in welchem Falle denn der innere Streit im Gemüthe nur durch Nachlassen der Begehrung gehoben werden wird, da das absolute Misfallen seiner Natur nach nicht nachgeben kann. So muss der Künstler manchmal eine Vorliebe aufopfern, um sein Werk rein zu erhalten; und so sehn wir auf der Bühne geschehn, was wir nicht wünschen, damit nur der Form unser Beyfall gewonnen werde. Wird man etwa hier von einer beschränkenden Natur der Aesthetik reden? – Sey denn die Hoffnung erlaubt, es werde keiner weitläuftigen Erörterung der beschränkenden Eigenschaft der Sittenlehre bedürfen, woran sich manche zu stossen pflegen. Wo dem Geschmack Willensverhältnisse vorliegen, da ergiebt es sich von selbst, dass sein Misfallen – entweder dauern, oder diese Willen beschränken muss. Richtige Charactere aber beschränken sich selbst mit Leichtigkeit, weil der Geschmack ihre herrschende Kraft ist; und so kann, in ihnen, das Gefühl, beschränkt zu werden, nicht aufkommen. Eben so bey wahren Künstlern. Nur das haben die übrigen Theile der Aesthetik, wenn man will, voraus vor der Sittenlehre, dass sie den Unfolgsamen ganz abweisen können. Der schlechte Dichter, sagt die Poëtik, soll nicht dichten. Aber hat es einen Sinn, zu sagen: der schlechte Mensch soll nicht wollen? Es liegt nicht an den Geschmacksurtheilen, wenn sie als eine Macht gefühlt, wenn sie als Gebote ausgesprochen werden; es liegt an demjenigen, was wider sie auffährt, und an ihrer Beharrlichkeit sich stösst und bricht. Denn da sie, als Effecte vollendeten Vorstellens, sich bey jeder Erneuerung
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dieses Vorstellens erneuern, und aus denselben Bedingungen stets als Dieselben hervortreten müssen: so geben sie die Erscheinung einer fortdauernden, ja einer ewigen Autorität, welche das Wechselnde beschäme, und es nur für eine Zeitlang dulde, um vielleicht sich selbst eine künftige Herrschaft desto besser zu bereiten. Hiedurch begünstigen sie denn freylich eine Verwechslung, welche den Anfängern in der Speculation leicht verziehen werden mag, geübten Denkern aber nicht begegnen sollte. Die Verwechslung nämlich dessen was Ist, und der Natur zum Grunde liegt, und, verglichen mit dem Zeitlichen, das Ewige genannt werden muss, ohne darum nur den mindesten Anspruch an Verehrung zu besitzen (welche selbst ästhetischer Art seyn wird): mit demjenigen Un-Zeitlichen, und Sich-selbst-Gleichen, welches als ihr, der Geschmacksurtheile, eigenthümlicher und ihnen allen gemeinschaftlicher Character, lediglich aus dem Grunde hervortritt, weil jedem vorstellenden Wesen zu jeder Zeit das nämliche vollendete Vorstellen der nämlichen Verhältnisse den gleichen Beifall und das gleiche Misfallen erzeugen musste und fernerhin wird erzeugen müssen. – Wäre diese Verwechslung unterblieben: wie viele Verirrungen hätte die Speculation sich ersparen können. Auch würde wohl niemals die Rede gewesen seyn von einem einzigen Sittengesetze, hätte man über dem Gefühl von dem gemeinschaftlichen Gegensatz alles Geschmacks gegen die Begierden, nicht die bestimmten Geschmacksurtheile selbst, von denen es erregt wurde, sich entschlüpfen lassen. Dies Gefühl, wenn es, bey dieser Verkennung seines Ursprungs, in Sprache und Lehre sich ergiessen wollte, welche Rede könnte es führen? – „Nehmt Euch in Acht vor dem Geschmack! Es ist oftmals begegnet, dass er zur ungelegensten Zeit, während man mitten im Handeln begriffen war, seine Einwendungen hat laut werden lassen, ohne dass man im Stande gewesen wäre, ihn zum Schweigen zu bringen. Was er eigentlich sagte, hat man nicht verstanden; doch daran liegt nicht viel; hingegen um ein Verzeichniss der Fälle und Anlässe ist es zu thun, in welchen seine Störungen zu fürchten sind, nebst beygefügten Verhaltungsregeln, um dergleichen Fälle zu vermeiden. Es versteht sich, dass ein solches Verzeichniss systematisch eingerichtet werden muss, um leicht überschaut werden zu können. Welches nun der allgemeinste Satz sey, dem die zum Detail herabsteigenden Regeln schicklich möchten subordinirt werden können, damit besonders eine jede Regel gleich Anfangs auf die Sphäre ihrer Geltung gehörig beschränkt erscheine: davon ist die Frage und der Streit. Denn darauf beruht die Eleganz einer Lehre von dem menschlichen Thun und Lassen; in welcher alles Thun und Lassen die nöthige Weisung vollständig und in logischer Ordnung muss finden können.“ Sollte wohl hierin zu erkennen seyn, was manche unsrer Sittenlehren, ja mit gehöriger Veränderung selbst unsrer Kunstlehren, sind, und zu seyn verlangen? Wenigstens würden sie daraus gar gut ihre gemeinschaftli-
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che Neigung erklären lassen, sich in eine Menge von Vorschriften auszubreiten, – einen Reichthum, den weder die grossen Künstler, noch die edlern Menschen sonderlich zu schätzen und zu benutzen pflegen, die viel lieber aus freyer Hand Werke und Thaten vollbringen mögen. Aber nicht nur das Gemeinschaftliche der Kunstlehren und der Sittenlehren, sondern auch die weite Trennung, die sich findet zwischen diesen und jenen, die Entfernung, aus der sie einander ziemlich geringschätzig anzublicken scheinen, erklärt sich gerade nur daraus, dass sie nicht den Geschmack selbst, sondern das Gefühl der Störungen zur Sprache bringen, welche durch ihn die Phantasie und die Geschäfftigkeit erleiden. Der sittliche Geschmack, als Geschmack überhaupt, ist nicht verschieden von dem poëtischen, musikalischen, plasti schen Geschmack. Aber specifisch verschieden ist der Gegensatz zwischen Geschmack und Begehrung im Sittlichen, von dem in den Künsten. Die Elemente der Verhältnisse, welche der ästhetischen Beurtheilung unterworfen sind, liegen hier ausser uns, dort in uns selber. Sie sind in den Künsten nur Gegenstände, auf die wir merken, für die wir uns vielleicht bis zur Vorliebe interessiren; von denen wir aber doch scheiden können, wenn es seyn muss, und die sich immerhin mit andern, bessern, passendern, werden vertauschen lassen. Aber in der sittlichen Beurtheilung wendet sich der Geschmack, als unser eigner Ausspruch, gegen uns selbst; er trifft auf Begehrungen, die unsre eignen Gemüthszustände sind; und soll ihm Folge geleistet werden, so müssen wir nicht bloss dulden, dass ein äusserer Gegenstand entweiche, sondern unsre eigne Activität muss abgebrochen, die Gemüthslage muss im Innern verändert werden. Mit dieser Anmuthung treten wir auf gegen uns selbst, und erscheinen als unsre eignen Widersacher, so oft wir, unser eignes Begehren und Treiben erblickend, dasselbe misbilligen. – Es wäre kein Wunder, wenn ein Anderer, der wiederum uns in dieser Stellung erblickte, uns misbilligte. Und es wäre nur ein kleiner Fehlgriff in der Auslegung, – der den Moral-Verächtern wohl zu begegnen pflegt, – wenn ein solcher, gestützt auf seine Misbilligung, uns für Thoren erklärte, dass wir dem eignen Urtheil überall Gehör gegeben hätten, da es ja ganz leicht sey, nur gerade zu dem inwohnenden Triebe zu folgen. Alsdann wäre abermals an uns die Reihe, das seltsame Schauspiel zu betrachten, das uns der Geschmack gegeben hätte, der, sich selbst verkennend, sich selbst wegwerfen möchte. – Indem nun das Gefühl des Zwiespalts, welcher entsteht, wo der Geschmack nicht ein Begehrtes, sondern die Begehrung selbst, tadelt, von den Kunstlehren die Sittenlehre absondert, damit sie, für sich allein, zu einer Lehre von Pflichten, Tugenden, Gütern, verarbeitet werde: widerfährt die schlimmste Begegnung dem Sittlich-Schönen, das keinen Antheil hat an jenem Zwiespalt; und eben deswegen in einem aus ihm hervorgehenden Systeme keinen Platz finden kann. Nämlich, was zuvörderst das Daseyn des SittlichSchönen betrifft, so wird man hoffentlich schon im Voraus erwarten, dass
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wohl nicht alle Geschmacksurtheile, die sich auf Willensverhältnisse beziehn, gerade nur ein Misfallen ausdrücken, sondern dass einige auch einen Beyfall aussprechen werden. Der Beyfall wird alsdann zwar nicht einer einzelnen Begehrung, aber doch der Begehrung, sofern sie sich als Glied eines Verhältnisses vorfindet, unmittelbar gewidmet seyn. Dergleichen nun hat keinen Platz weder unter den Pflichten, noch unter den Tugenden, noch unter den Gütern. Nicht unter den Pflichten: denn der Beyfall ist keine Nöthigung. Nicht unter den Tugenden: denn das lobenswürdige Begehren ist nicht erst ein Princip, aus welchem das Schöne hervortreten soll; es ist selbst das Schöne. Nicht unter den Gütern: denn die Begehrung ist kein Begehrtes, und das Lob, das ihr zu Theil wird, ist kein Begehren der Begehrung. Mit einem Wort: das Sittlich-Schöne ist etwas so einfaches, so ursprüngliches und selbstständiges, dass es denen aus dem Gegensatz zwischen Geschmack und Begehrung hervorgehobenen Begriffen nothwendig entschlüpfen muss. Und da steht es nun, auf seiner eignen Höhe, lächelnd herabschauend auf die Moralsysteme. Und mit seinem Lächeln entschuldigen sich die Lacher, welchen es eine Lust ist, den sittlichen Ernst zu verspotten.
6. Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie (1816/21834) 1. Innere Wahrnehmung, Umgang mit Menschen auf verschiedenen Bildungsstufen, die Beobachtungen des Erziehers und Staatsmannes, die Darstellungen der Reisenden, Geschichtschreiber, Dichter und Moralisten, endlich Erfahrungen an Irren, Kranken und Thieren, geben den Stoff der Psychologie. Sie soll diesen Stoff nicht bloss sammeln, sondern das Ganze der innern Erfahrung begreiflich machen; während dasselbe in Ansehung der äu ssern, mit Raumbestimmungen behafteten Erfahrung zu leisten, der Naturphilosophie obliegt. Wie die beiden Erfahrungskreise verschieden und doch verbunden sind, so auch die beiden Wissenschaften. Sie hängen in Ansehung der Grundbegriffe gemeinschaftlich von der allgemeinen Metaphysik ab; jedoch hat zur letztern die Psychologie das eigenthümliche Verhältniss, dass in ihr manche Fragen, die bei Gelegenheit der Metaphysik sich erheben, und dort zurückgelegt werden müssen, zur Beantwortung gelangen. Den Vortrag der Psychologie lässt man schon deshalb gern dem Vortrage der Metaphysik vorangehn; und sucht dabei Anfangs den metaphysischen Begriff der Seele (der Substanz des Geistes) zu vermeiden. Hiebei gewinnt der Anfänger gar sehr an Erleichterung; denn theils kann er länger im Erfahrungskreise verweilen, theils erhöhen die mannigfaltigen Beziehungen der Psychologie auf Moral, Pädagogik, Politik, Philosophie der Geschichte, Kunstlehre, das Interesse des Studiums.
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2. Dass Vorstellungen durch die Sinnlichkeit gegeben, durch das Gedächtniss aufbewahrt, von der Einbildungskraft vergegenwärtigt und neu verbunden werden; dass der Verstand sich zeige im Verstehen einer Sprache oder Kunst, die Vernunft im Vernehmen von Gründen und Gegengründen: diese allgemein verbreitete Meinung ist von den Psychologen weiter ausgebildet worden, indem die Unterscheidung des Schönen und Hässlichen der ästhetischen Urtheilskraft, die Leidenschaften dem Begehrungsvermögen, die Affecten dem Gefühlvermögen zugewiesen wurden u. s. f. Die Meinung ist, dass diese Vermögen sich in jedem Menschen stets beisammen finden. Allein über die Erklärung und Abtheilung der Vermögen sind die grössten Streitigkeiten entstanden; welche längst aufmerksam machen mussten, dass die Psychologie einer andern Grundlehre bedarf, worin gleich Anfangs auf die wechselnden Zustände das Augenmerk gerichtet wird. Diese (nicht aber jene Vermögen) erfahren wir in uns unmittelbar. 3. Nützlich ist eine vorläufige Vergleichung der Psychologie mit den drei Hauptzweigen der Naturwissenschaft. Die Naturgeschichte zuvörderst kann von den Gegenständen, die sie geordnet aufstellt, einzelne Exemplare vorzeigen; sie kann die wahrgenommenen Merkmale bestimmt aufzählen. Nun ist eine regelmässige Abstraction möglich, welche von der Kenntniss der Individuen ausgeht, und von da mit festen Schritten zu Arten und Gattungen aufsteigt, so dass unzweideutig vor Augen liegt, welche Merkmale in der Abstraction bei Seite gesetzt, in der Determination hinzugefügt worden. Indem diese logischen Operationen von den niedrigsten bis zu den höchsten Begriffen, und rückwärts, gehörig vollzogen werden, verleiten sie Niemanden, die höchsten Begriffe für real zu halten; vielmehr weiss Jedermann, dass dieselben nur Hülfsmittel des Denkens sind, welches sie selbst erzeugte, um eine sehr grosse Mannigfaltigkeit von Naturkörpern bequem überschauen zu können. Hingegen der Psychologie liegt kein Stoff zum Grunde, der sich klar vor Augen legen, bestimmt nachweisen, einer regelmässig und ohne Sprung von unten aufsteigenden Abstraction unterwerfen liesse. Die Selbstbeobachtung verstümmelt die Thatsachen des Bewusstseins schon in der Auffassung, reisst sie aus ihren nothwendigen Verbindungen und überliefert sie einer tumultuarischen Abstraction, welche nicht eher einen Ruhepunkt findet, als bis sie bei den höchsten Gattungsbegriffen, dem Vorstellen, Fühlen und Begehren, angelangt ist; denen nun durch Determination (also auf dem, für eine empirische Wissenschaft verkehrten Wege) das beobachtete Mannigfaltige so gut es gehen will, untergeordnet wird. Wenn nun zu den unwissenschaftlich entstandenen Begriffen von dem, was in uns geschieht, die Voraussetzung von Vermögen, die wir haben, hinzugefügt wird, so verwandelt sich die Psychologie in eine Mythologie; von der zwar Niemand bekennen will, dass er im Ernste
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daran glaube, von der man aber gleichwohl die wichtigsten Untersuchungen dergestalt abhängig macht, dass nichts Klares davon übrig bleibt, wenn jene Grundlage weggenommen wird. […] 6. Wirft man einen, durch metaphysische Elementarbegriffe geschärften, speculativen Blick auf den Menschen, so stellt sich derselbe dar als ein Aggregat von Widersprüchen. Die innere Erfahrung hat nicht das allergeringste Vorrecht, wodurch sie mehr gelten könnte, als die äussere; was auch die Schwärmerei für innere Anschauungen von besonderer Wahrheit und Würde ersonnen hat, und noch ersinnen mag, die man denen, welche einmal daran glauben wollen, nicht entreissen kann. Dagegen aber eröffnet sich eine Aussicht auf Untersuchungen, wodurch der empirische Stoff zu wahren Erkenntnissen könne verarbeitet werden; welches freilich bei der psychologischen Empirie, ihrer Unbestimmtheit und Unstetigkeit wegen, schwerer ist, als bei manchen andern Theilen der menschlichen Erfahrung. Nämlich es zeigt sich alles geistige Leben, wie wir es an uns und an Andern beobachten, als ein zeitliches Geschehen; als eine beständige Veränderung; als ein Mannigfaltiges ungleichartiger Bestimmungen in Einem; endlich als Bewusstsein des Ich und Nicht-Ich; welches alles zu den undenkbaren Formen der Erfahrung gehört. Auch selbst die Schwierigkeiten des materiellen Daseins sind hier nicht fern; den [sic] wir kennen den Geist des Menschen nur in Verbindung mit dem Leibe; und ob die Unterscheidung des einen vom andern reale Gültigkeit habe, kann die blosse Erfahrung nicht entscheiden. 7. Die nächste Entwickelung dieser Probleme geschieht zwar durch die allgemeine Metaphysik; allein die weitere Bearbeitung in psychologischer Hinsicht erfordert überdies höhere Mathematik, indem die Vorstellungen als Kräfte müssen betrachtet werden, deren Wirksamkeit von ihrer Stärke, ihren Gegensätzen und Verbindungen abhängt, welches alles gradweise verschieden ist. 8. Doch in einer so leichten, fast populären Darstellung, wie hier beabsichtigt wird […], kann die alte Hypothese von den Seelenvermögen auch nicht ganz entbehrt werden. Denn sie ist ein Werk langer Zeiten; und bezeichnet als solches den unvermeidlich nächsten Erfolg des natürlichen Bestrebens, das geistige Leben des Menschen in Einem Bilde zusammenzufassen. Sie ist eine Tradition, welche den Totaleindruck aller psychologischen Beobachtungen wiedergiebt. Von ihr geleitet, werden wir die empirische Psychologie im Umrisse zeigen, und deren auffallendste Fehler anmerken, um das Bedürfniss einer Erklärung der Thatsachen fühlbar zu machen. […]
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10. Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen. Dieses geschieht, wenn ihrer mehrere entgegengesetzte zusammentreffen. Man fasse diesen Satz Anfangs so einfach als möglich. Demnach werde dabei nicht an zusammengesetzte Vorstellungen irgend einer Art gedacht, nicht an solche die irgend ein Ding mit mehreren Merkmalen, oder etwas Zeitliches und Räumliches bezeichnen, sondern an ganz einfache, roth, blau, sauer, süss, und zwar nicht an die allgemeinen Begriffe hievon, sondern an solche Vorstellungen, wie sie in einer momentanen Auffassung durch die Sinne würden entstehen können. Wiederum aber gehört auch die Frage nach dem Ursprunge der genannten Vorstellungen gar nicht hieher, viel weniger darf schon jetzt auf irgend etwas Anderes, das noch sonst in der Seele sein oder vorgehn möchte, Rücksicht genommen werden. Der Satz sagt nun, dass die entgegengesetzten einander widerstehen werden. Sie könnten auch nicht-entgegengesetzt sein, wie ein Ton und eine Farbe. Es wird angenommen, dass sie als dann einander nicht wiederstehen [sic]. (Mittelbarer Weise kann es allerdings geschehen, wovon unten.) Widerstand ist Kraftäusserung; dem Widerstehenden aber ist sein Wirken ganz zufällig, es richtet sich nach der Anfechtung, die unter Vorstellungen gegenseitig ist und durch den Grad ihres Gegensatzes bestimmt wird. Dieser ihr Gegensatz also kann angesehen werden als das, wovon sie sämmtlich leiden. An sich selbst aber sind die Vorstellungen nicht Kräfte. 11. Was geschieht nun durch den angegebenen Widerstand? Vernichten sich die Vorstellungen ganz oder theilweise? Oder bleiben sie unverändert, trotz dem Widerstande? Vernichtete Vorstellungen sind so gut als gar keine. Blieben aber die Vorstellungen, trotz der gegenseitigen Anfechtung, ganz unveränderlich, so könnte nicht, wie wir jeden Augenblick in uns wahrnehmen, eine von der andern verdrängt werden. – Würde endlich das Vorgestellte einer jeden Vorstellung durch ihren Widerstreit abgeändert, so führte dieses nicht weiter, als ob von Anfang an ein andres Vorgestelltes vorhanden gewesen wäre. Das Vorstellen also muss nachgeben, ohne vernichtet zu werden. Das heisst, das wirkliche Vorstellen verwandelt sich in ein Streben vorzustellen. Hier sagt schon der Ausdruck, dass, sobald das Hinderniss weicht, die Vorstellung durch ihr eigenes Streben wieder hervortreten wird. – Darin liegt die Möglichkeit (obgleich noch nicht für alle Fälle der einzige Grund) der Reproduction. 12. Wenn eine Vorstellung nicht ganz, sondern nur zum Theil in ein Streben verwandelt wird, so hüte man sich, diesen Theil für ein abgeschnittenes Stück der ganzen Vorstellung zu halten. Er hat zwar allemal eine bestimmte
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Grösse (auf deren Kenntniss sehr viel ankommt), allein diese Grösse bezeichnet nur einen Grad der Verdunkelung der ganzen Vorstellung. (Wenn in der Folge von mehrern solchen Theilen einer und derselben Vorstellung die Rede sein wird, so halte man diese Theile nicht für verschiedene abgeschnittene Stücke, sondern man betrachte die kleinern unter denselben als enthalten in den grösseren.) Dasselbe gilt von den Resten nach der Hemmung, d. h. von denjenigen Theilen einer Vorstellung, die unverdunkelt bleiben, denn auch diese Theile sind Grade, nämlich des wirklichen Vorstellens. 13. Vorstellungen sind im Gleichgewichte, wenn der nothwendigen Hemmungen unter ihnen gerade Genüge geschehen ist. Nur allmälig kommen sie dahin; die fortgehende Veränderung ihres Grades von Verdunkelung nenne man ihre Bewegung. Mit der Berechnung des Gleichgewichts und der Bewegung der Vorstellung bechäftigt [sic] sich die Statik und Mechanik des Geistes. 14. Alle Untersuchungen der Statik des Geistes beginnen mit zwei verschiedenen Grössenbestimmungen; es kommt nämlich dabei an auf die Summe der Hemmung und auf das Hemmungsverhältniss. Jene ist gleichsam die zu ver theilende Last, welche aus den Gegensätzen der Vorstellungen entspringt. Weiss man sie anzugeben und kennt man das Verhältniss, in welchem die verschiedenen Vorstellungen ihr nachgeben, so findet man durch eine leichte Proportionsrechnung den statischen Punct einer jeden Vorstellung, d. h. den Grad ihrer Verdunkelung im Gleichgewichte. 15. Die Summe sowohl als das Verhältniss der Hemmung hängt ab von der Stärke jeder einzelnen Vorstellung, – sie leidet die Hemmung im umgekehrten Verhältniss ihrer Stärke, und von dem Grade des Gegensatzes unter je zweien Vorstellungen, denn mit ihm steht ihre Wirkung auf einander im geraden Verhältniss. Der Hauptgrundsatz zur Bestimmung der Hemmungssumme ist, dass man sie als möglichst klein betrachten müsse, weil alle Vorstellungen der Hemmung entgegenstreben, und gewiss nicht mehr als nöthig davon übernehmen. 16. Durch die wirkliche Rechnung erhält man das merkwürdige Resultat: dass zwar unter zweien Vorstellungen eine die andre niemals ganz verdunkelt, wohl aber unter dreien oder mehrern sehr leicht eine ganz verdrängt, und ungeachtet ihres fortdauernden Strebens so unwirksam gemacht werden kann, als ob sie gar nicht vorhanden wäre. Ja dies kann einer wie immer grossen Anzahl von Vorstellungen begegnen, und zwar durch zwei, oder überhaupt durch wenig stärkere.
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Hier muss der Ausdruck: Schwelle des Bewusstseins, erklärt werden, dessen wir manchmal bedürfen werden. Eine Vorstellung ist im Bewusstsein, in wiefern sie nicht gehemmt, sondern ein wirkliches Vorstellen ist. Sie tritt ins Bewusstsein, wenn sie aus einem Zustande völliger Hemmung so eben sich erhebt. Hier also ist sie an der Schwelle des Bewusstseins. Es ist sehr wichtig, durch Rechnung zu bestimmen, wie stark eine Vorstellung sein müsse, um neben zweien oder mehrern stärkeren noch gerade auf der Schwelle des Bewusstseins stehn zu können, so dass sie beim geringsten Nachgeben des Hindernisses sogleich anfangen würde, in ein wirkliches Vorstellen überzugehn. Anmerkung. Der Ausdruck: eine Vorstellung ist im Bewusstsein, muss unterschieden werden von dem: ich bin mir meiner Vorstellung bewusst. Zu dem letztern gehört innere Wahrnehmung, zum erstern nicht. Man bedarf in der Psychologie durchaus eines Worts, das die Gesammtheit alles gleichzeitigen wirklichen Vorstellens bezeichne. Dafür findet sich kein anderes, als das Wort Bewusstsein. Man wird sich hier einen erweiterten Sprachgebrauch müssen gefallen lassen, um so mehr, da die innere Wahrnehmung, welche man sonst zum Bewusstsein erfordert, keine feste Grenze hat, wo sie anfängt und aufhört; und da überdies der Actus des Wahrnehmens selbst nicht wahrgenommen wird, so dass man diesen, weil man sich seiner nicht bewusst ist, auch von dem Bewusstsein ausschliessen müsste, obgleich er ein actives Wissen, und keineswegs eine gehemmte Vorstellung ist. […] 18. Wenn zu mehrern Vorstellungen, die schon ihrem Gleichgewichte nahe waren, eine neue kommt, so entsteht eine Bewegung, bei welcher jene auf kurze Zeit unter ihren statischen Punct sinken, nach deren Verlauf sie sich schnell, und ganz von selbst, wieder erheben. (Ungefähr wie eine Flüssigkeit erst sinkt, dann steigt, wenn etwas hineingeworfen wird.) Hiebei kommen mehrere merkwürdige Umstände vor. 19. Erstlich: eine der älteren Vorstellungen kann bei dieser Gelegenheit durch eine neue, die viel schwächer ist als sie, auf eine Zeitlang völlig aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Alsdann aber ist ihr Streben nicht als unwirksam zu betrachten (wie in dem Falle oben, 16), sondern es arbeitet mit ganzer Macht wider die im Bewusstsein befindlichen Vorstellungen. Sie bewirkt also einen Zustand des Bewusstseins, während ihr Object keinesweges wirklich vorgestellt wird. Man benenne die Art und Weise, wie jene Vorstellungen aus dem Bewusstsein verdrängt und doch darin wirksam sind, mit dem Ausdrucke: sie sind auf der mechanischen Schwelle; die obige Schwelle [16] heisse dagegen zum Unterschiede die statische Schwelle. Anmerkung. Wirkten die Vorstellungen auf der statischen Schwelle eben so, wie die auf der mechanischen, so würden wir uns unaufhörlich in dem Zustande der unerträglichsten Beklemmung befinden, oder vielmehr, der
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menschliche Leib würde in eine Spannung gerathen, die in wenigen Augenblicken tödten müsste, wie schon jetzt der Schreck zuweilen tödtlich wird. Denn alle die Vorstellungen, welche, wie wir zu sagen pflegen, das Gedächtniss aufbewahrt, und von denen wir wohl wissen, dass sie sich bei der leichtesten Veranlassung reproduciren können, – sind im unaufhörlichen Aufstreben begriffen; jedoch leidet der Zustand des Bewusstseins von ihnen gar nichts. 20. Zweitens: die Zeit, während welcher eine oder einige Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle verweilen, kann verlängert werden, wenn eine Reihe von neuen, aber schwächern Vorstellungen, successiv hinzukommt. In diesem Fall versetzt uns jede, nicht ganz und gar gewohnte, anhaltende Beschäftigung. Sie drängt die frühern Vorstellungen zurück; diese aber, weil sie die stärkern sind, bleiben gespannt, afficiren mehr und mehr den Organismus, und machen es endlich nothwendig, dass die Beschäftigung aufhöre; alsdann erheben sie sich schnell, mit einem Gefühl der Erleichterung, das man Erholung nennt und das zum Theil vom Organismus abhängt, obgleich die erste Ursache rein psychologisch ist. 21. Drittens: wenn mehrere Vorstellungen nach einander auf die mechanische Schwelle getrieben werden, so entstehen schnell hinter einander mehrere plötzliche Abänderungen in den Gesetzen der gegenseitigen Bewegungen. Auf solche Weise erklärt es sich, dass der Lauf unserer Gedanken so oft stossweise und springend, ja scheinbar ganz unregelmässig gefunden wird. Dieser Schein betrügt, so wie das Umherirren der Planeten. Die Gesetzmässigkeit im menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternenhimmel. […] 22. Der sehr leicht begreifliche metaphysische Grund, weswegen entgegengesetzte Vorstellungen einander widerstehen, ist die Einheit der Seele, deren Selbsterhaltungen sie sind. […] Eben dieser Grund erklärt ohne Mühe die Verbindung unserer Vorstellungen; die übrigens als Thatsache bekannt ist. Alle Vorstellungen würden nur Einen Act der Einen Seele ausmachen, wenn sie sich nicht ihrer Gegensätze wegen hemmten, und sie machen wirklich nur Einen Act aus, in wiefern sie nicht durch irgend welche Hemmungen in ein Vieles gespalten sind. Vorstellungen auf der Schwelle des Bewusstseins können mit andern nicht in Verbindung treten, denn sie sind ganz und gar in ein Streben wider bestimmte andere verwandelt und dadurch gleichsam isolirt. Aber im Bewusstsein verknüpfen sich die Vorstellungen auf zweierlei Weise: erstlich compliciren sich die nicht entgegengesetzten (wie Ton und Farbe), so weit sie ungehemmt zusammentreffen; zweitens verschmelzen die entgegengesetzten,
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so weit sie im Zusammentreffen weder von zufälliger fremder, noch von der unvermeidlichen gegenseitigen Hemmung leiden. Die Complicationen können vollkommen sein, die Verschmelzungen sind ihrer Natur nach allemal unvollkommen. Anmerkung. Von solchen Complexionen, die wenigstens theilweise und beinahe vollkommen sind, haben wir merkwürdige Beispiele an den Vorstellungen der Dinge mit mehrern Merkmalen, und der Worte, als Zeichen der Gedanken. Die letztern, Gedanken und Worte, sind in der Muttersprache so eng verbunden, dass es den Schein gewinnt, als ob man vermittelst der Worte dächte. Ueber beide Beispiele tiefer unten ein Mehreres. Unter den Verschmelzungen sind besonders merkwürdig theils die, welche ein ästhetisches Verhältniss in sich fassen (welches, psychologisch genommen, zugleich mit der Verschmelzung erzeugt wird,) theils die, welche Reihenfolgen bilden, worin die Reihenformen ihren Ursprung haben. […] 33. Einer von den Einwürfen gegen die mathematische Psychologie lautet so: die Mathematik bestimme nur Quanta, die Psychologie aber habe vorzüglich auf Qualitäten zu sehen. Es ist jetzt Zeit, diesem Einwurfe zu begegnen und den Vorrath von Erklärungsgründen der Gemüthszustände zu sammeln, welchen uns das Vorstehende darbietet. Hiebei müssen wir zuvörderst bemerken, dass das eigentliche Streben vorzustellen [11] niemals unmittelbar im Bewusstsein erscheint, denn gerade so weit, als die Vorstellungen sich in ein Streben verwandeln, sind sie aus dem Bewusstsein verdrängt. Auch das allmälige Sinken derselben kann nicht wahrgenommen werden. Dass Niemand sein eignes Einschlafen zu beobachten vermag, ist hievon ein besonderer Fall. Die Seele wird Geist genannt, so fern sie vorstellt, Gemüth, so fern sie fühlt und begehrt. Das Gemüth aber hat seinen Sitz im Geiste, oder, Fühlen und Begehren sind zunächst Zustände der Vorstellungen, und zwar grössern theils wandelbare Zustände der letzteren. Dies zeigen schon die Affecten. Aber auch die Erfahrung im Grossen bestätigt es. Der Mann empfindet wenig von den Freuden und Leiden seiner Jugend; hingegen was der Knabe recht lernte, das weiss noch der Greis. In wiefern es dennoch eine bleibende Gemüthsart, und vor allen Dingen einen Charakter geben könne, das werden nach und nach die Erläuterungen des aufgestellten Hauptsatzes zugleich mit aufklären. 34. Zuvörderst giebt es eine Verschmelzung der Vorstellungen nicht bloss nach der Hemmung [22], sondern eine davon ganz verschiedene vor der Hemmung, wofern die Hemmungsgrade [15] dazu klein genug sind. Hierin liegt ein Princip ästhetischer Urtheile. Die angenehmen Gefühle im engsten Sinne nebst ihren Gegentheilen, müssen denselben analog betrachtet werden. (Nämlich
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als entspringend aus Verhältnissen sehr vieler Vorstellungen, die sich aber nicht einzeln angeben lassen, ja die vielleicht aus physiologischen Gründen gar nicht gesondert können wahrgenommen werden.) Anmerkung. Bei der Ausführung dieser Untersuchung bietet sich als ein Erfahrungsgegenstand die Reihe von Tonverhältnissen dar, auf denen die Musik beruht. Bei einfachen Tönen entscheidet der Hemmungsgrad (das Intervall der Töne) ganz allein und unmittelbar über den ästhetischen Charakter ihres Verhältnisses. Es ist also gewiss, dass man bloss in der Verschiedenheit der Hemmungsgrade die psychologische Erklärung (weit verschieden von der akustischen) aller Harmonie zu suchen hat, und dass man sie darin muss finden können. Die dazu nöthigen Rechnungen sind grösstentheils geliefert im zweiten Hefte des Königsberger Archivs für Philosophie u. s. w. Hier kann aus der etwas weitläufigen Untersuchung nur der Hauptsatz angegeben werden, den die Erfahrung entschieden bestätigt: Wenn die Kräfte, worin die Vorstellungen durch ihre Gleichheit und ihre Gegensätze einander zerlegen, gleich stark sind, so entsteht Disharmonie. Ist aber eine dieser Kräfte gegen die übrigen in solchem Verhältnisse, dass sie von denselben gerade auf die statische Schwelle [16] getrieben wird, alsdann ist ein harmonisches Verhältniss vorhanden. 35. Zweitens: ein Princip des Contrastes findet sich in den Complexionen [22], die wir hier als vollkommen betrachten. Die Complexionen a + α, und b + β, sind ähnlich, wofern a : α = b : β; wo nicht, so sind sie unähnlich. Der Hemmungsgrad zwischen a und b sei = p; der zwischen α und β = π. Wenn nun p = π bei ähnlichen Complexionen, alsdann, und nur dann, werden die einzelnen Vorstellungen gerade so gehemmt, wie wenn sie in keiner Verbindung gestanden hätten; auch entsteht alsdann kein Gefühl des Contrastes, indem die Hemmung so von Statten geht, wie es die Gegensätze mit sich bringen. Allein bei jeder Abweichung von dem eben aufgestellten Falle leiden die minder entgegengesetzten Vorstellungen durch ihre Verbindung mit dem andern Paare; aber dadurch wird diesem ein Theil der Hemmung erspart; es bleibt demnach dem Gegensatze zum Trotz, etwas im Bewusstsein, das sich widerstrebt; und hierin eben liegt das Gefühl des Contrastes. Ist π p. Für π = 0 ist der Contrast zwischen a und b am grössten. 36. Drittens: Eine Complexion a + α werde reproducirt vermittelst einer neuen Wahrnehmung, die dem a gleichartig ist […]. Indem nun auch α wegen seiner Verbindung mit a hervortritt, treffe es im Bewusstsein eine ihm entgegengesetzte Vorstellung β. So wird α zugleich hervorgetrieben und zurückgehalten; in dieser Klemme ist es der Sitz eines unangenehmen Gefühls, welches in Begierde übergehn kann (nämlich nach dem durch α vorgestellten Objecte), wofern
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die Hemmung durch β schwächer ist als die Kraft, mit welcher α hervortritt. Dies ist der gewöhnliche Fall, wie Begierden durch eine Erinnerung an ihre Gegenstände aufgeregt werden. Die Stösse der Begierde erneuern sich, wenn die Erinnerung durch mehrere Nebenvorstellungen eine Verstärkung erhält; sie wechseln ab mit schmerzlichen Gefühlen der Entbehrung, so oft die hemmenden Vorstellungen (von den Hindernissen, die dem Verlangen im Wege stehn) das Uebergewicht erlangen. 37. Viertens: Eine Vorstellung trete hervor durch eigne Kraft […], zugleich werde sie durch mehrere Hülfen [24] hervorgerufen. Da jede der Hülfen ihr eignes Zeitmaass hat, in welchem sie wirkt […], so können die Hülfen einander wohl verstärken (gegen ein mögliches Hinderniss), aber nicht beschleunigen. Die Bewegung im Hervortreten geschieht also nur mit derjenigen Geschwindigkeit, welche unter den mehrern zusammentreffenden die grösste ist; aber sie geschieht zugleich begünstigt durch alle übrigen. Diese Begünstigung ist eine Bestimmung dessen, was im Bewusstsein vorgeht, aber keineswegs eine Bestimmung irgend eines Vorgestellten; sie kann also nur Gefühl heissen; ohne Zweifel ein Lustgefühl. Hier ist der Sitz der heitern Gemüthsstimmung, insbesondere der Freude an gelingender Thätigkeit. Eben dahin gehören mehrfache, von au ssen angeregte, Bewegungen, die einander nicht beschleunigen, aber begüns tigen, z. B. Tanz und Musik. Desgleichen das Handeln nach mehrern zusammentreffenden Motiven; ja schon die Einsicht durch mehrere einander bestätigende Gründe. 38. Im allgemeinen ist zu merken: dass Gefühle und Begierden nicht im Vorstellen überhaupt, sondern allemal in gewissen bestimmten Vorstellungen ihren Sitz haben. Daher kann es mehrere ganz verschiedene Gefühle und Begierden zugleich geben, die sich mischen oder gar mit einander entzweien. 39. Es lässt sich schon aus dem Vorhergehenden einigermaassen erkennen, dass, nachdem eine beträchtliche Menge von Vorstellungen in allerlei Verbindungen vorhanden ist, jede neue Wahrnehmung als ein Reiz wirken muss, durch den einiges gehemmt, anderes hervorgerufen und verstärkt, ablaufende Reihen gestört oder in Bewegung gesetzt, und diese oder jene Gemüthszustände veranlasst werden. Mehr zusammengesetzt müssen diese Erscheinungen ausfallen, wenn (wie gewöhnlich) die neue Wahrnehmung selbst ein Mannigfaltiges in sich schliesst, das in mehrere Verbindungen und Reihen zugleich eingreift und ihnen einen Anstoss giebt, der sie unter einan der in neue Verhältnisse der Hemmung oder Verschmelzung versetzt. Dabei wird die neue Wahrnehmung den älteren Vorstellungen angeeignet, und
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zwar auf eine Weise, wobei sie, nachdem der erste Reiz gewirkt hat was er konnte, sich ziemlich leidend verhalten muss, weil die älteren Vorstellungen schon wegen ihrer Verbindungen unter einander bei weitem stärker sind, als die einzelne, die eben hinzukommt. 40. Wenn aber schon sehr starke, sehr vielgliedrige Complexionen und Verschmelzungen sich gebildet haben, so kann dasselbe Verhältniss, welches so eben zwischen älteren Vorstellungen und neuen Wahrnehmungen angenommen wurde, sich im Innern wiederholen. Schwächere Vorstellungen, die nach irgend welchem Gesetze im Bewusstsein hervortreten, wirken als Reize auf jene Massen, und werden von ihnen eben so aufgenommen und angeeignet (appercipirt), wie es bei neuen Sinneseindrücken geschieht; daher die innere Wahrnehmung, analog der äussern. Vom Selbstbewusstsein ist hier noch nicht die Rede, obgleich es sich sehr häufig damit verbindet. 41. In dem Gesagten liegt schon, was die Erfahrung bestätigt, dass die innere Wahrnehmung niemals ein leidentliches Auffassen, sondern allemal (wenn auch wider Willen) ein thätiges Eingreifen ist. Anstatt dass die appercipirten Vorstellungen sich nach ihren eignen Gesetzen zu heben und zu senken im Begriff sind, werden sie in ihren Bewegungen durch die mächtigern Massen unterbrochen, welche das ihnen Entgegengesetzte zurücktreiben, obschon es steigen mochte, und das ihnen Gleichartige, wenn gleich es sinken sollte, anhalten und mit sich verschmelzen. 42. Es ist der Mühe werth, zu zeigen, wie weit dieser Unterschied unter den Vorstellungen – die man in todte und lebendige einzutheilen geneigt sein möchte – gehen kann. Man erinnere sich der Vorstellungen auf der statischen Schwelle [16]. Diese sind zwar nichts weniger als todt, aber in dem Hemmungsverhältnisse, worin sie sich befinden, vermögen sie nicht, durch ihr eignes Streben zum Steigen irgend etwas auszurichten. Durch die Verbindungen, in denen sie stehn, können sie in diesem Zustande gleichwohl reproducirt werden; und von jenen mächtigern Massen werden sie oft in ganzen Haufen und Reihen hervorgezogen und zurückgetrieben, gleichwie wenn jemand in einem Buche blätterte. 43. Sind aber die appercipirten Vorstellungen nicht, wenigstens nicht alle, auf der statischen Schwelle, so leiden von ihnen die appercipirenden Massen einige Gewalt: auch können die letztern von andern Seiten her einer Hemmung unterworfen werden. Alsdann wird die innere Wahrnehmung gestört, und daraus schon wird das Unsichere und Schwankende derselben erklärlich.
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Die appercipirende Masse kann wieder durch eine andre appercipirt werden. Allein sollte dies so fortgehn, so müssten mehrere Vorstellungsmassen von beträchtlich abgestufter Stärke vorhanden sein. Daher ist es schon etwas Seltenes, dass die innere Wahrnehmung auf die zweite Potenz steige; und nur durch philosophische Begriffe wird diese Reihe als eine solche gedacht, die ins Unendliche könnte verlängert werden.
7. Georg Eduard Bobrik: Freie Vorträge über Ästhetik (1834) Schönheit ist diejenige Eigenschaft eines Dinges, vermöge welcher es durch seine Form die Einbildungskraft in ein freies, aber mit dem Verstande einstimmiges Spiel versetzt, und so das Lebensgefühl im Gemüthe des Wahrnehmenden erhöht. Der unverkennbare Vorzug dieser Erklärung liegt […] darin, dass zuerst der Hauptsitz der Schönheit, nämlich die Form hervorgehoben wird, und ferner, statt des unbestimmten Ausdruckes der Vollkommenheit, Erhöhung des Lebensgefühls im Wahrnehmenden bezeichnet erscheint. Dagegen versetzen uns die Ausdrücke Phantasie und Verstand mitten in psychologische Behauptungen hinein, von denen ein Jeder sich andre Begriffe machen kann, und dadurch auf andre Bedingungen verwiesen ist, wenn er ihre Uebereinstimmung suchen und finden soll. Ohne die Richtigkeit dieser Erklärung in Zweifel ziehen zu wollen, sind dennoch folgende beiden Bemerkungen unabweisbar: erstlich, grössere zusammengesetzte Kunstwerke und schöne Naturgegenstände regen gewiss den lebhaften Gedankenlauf an, den man mit dem Namen der Einbildungskraft zu benennen gewohnt ist, und bringen auch jene Resultate der Gedankenbewegungen hervor, die man der Wirkung der sogenannten Verstandesthätigkeit zuzuschreiben pflegt, aber einfache methodische und harmonische Verhältnisse, einzelne Säulen von architectonischer Schönheit, einzelne Blumenblätter von unläugbar gefälliger Form, wo wäre an solchen ästhetischen Gegenständen jene Aufregung der Phantasie und des Verstandes wieder zu erkennen, welche eine classische Tragödie, ein bewundertes historisches Gemälde, eine mit dem ganzen Prachtaufwande grosser Bühnen ausgestaltete Oper hervorbringt? zweitens muss es möglich seyn, statt von der Form, welche Schönheit seyn soll, nur zu sagen, dass sie Uebereinstimmung jener beiden Gemüthskräfte hervorbringe: ihre objective Beschaffenheit anzugeben, durch welche sie jene Wirkung zu erreichen vermag; denn ist diese Beschaffenheit, ohne Rücksicht auf ihre Wirkung, nur erst an sich selbst bestimmt, so mag ein jeder den Eindruck, den sie auf ihn macht, mit denjenigen psychologischen Namen und Behauptungen ausdrücken, welche ihm die geläufigsten sind, uud [sic] die gehaltvollsten zu seyn scheinen, ist jene Beschaffenheit mit allgemeiner Uebereinstimmung anerkannt, so erhebt sich
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der mögliche Streit nur noch über das Unwesentliche, über den Ausdruck nämlich, in welchem die Wirkung derselben am bezeichnendsten darzustellen sey. Sie werden, verehrte Anwesende! nun erlauben den Versuch einer Erklärung des Schönen zu machen, welcher sich auf seine einfachsten Darstellungen richtet, die noch dem genaueren Denken erkenntlich bleiben. Wohl bedarf es […] der entschuldigenden Erinnerung, dass unter dem Vergrösserungsglase Farben und Gestalten sich völlig anders darzustellen pflegen, als das unbewaffnete Auge sie vorher auffasste. So auch das einfachste Schöne wird in der jetzt zu gebenden Erklärung kaum wieder erkenntlich scheinen. Sie lautet: Schönheit ist ein solcher Contrast, dass entweder der Gegensatz der contras tirenden Elemente grade das in ihnen vorhandene Gleiche überwiegt, oder das Letztere grade das an ihnen Entgegengesetzte unbemerkbar macht, ohne sie deshalb als Eins erscheinen zu machen. Zuerst ist hier der Contrast als die Bestimmung derjenigen Mannigfaltigkeit gegeben, in deren Einheit die ersten Erklärungen das Schöne suchten. Kaum bedarf es der Erwähnung, dass nur Töne mit Tönen, nur Farben mit Farben, nur Gestalten mit Gestalten, nur Gesinnungen mit Gesinnungen zusammengestellt werden dürfen, um einen ästhetischen Eindruck zu machen, welcher bei Zusammenfassungen von Tönen mit Farben, von Gestalten mit Gesinnungen, völlig ausbleiben würde. Ebensowenig darf noch besonders erinnert werden, dass blosse Wiederholung derselben Töne, oder derselben Gestalten und Gesinnungen nichts Aesthetisches bilden, demnach ein bestimmter Grad des Gegensatzes unter ihnen statt finden muss. Was demnach das hier angegebene Hauptmerkmal der Schönheit, den Contrast, anbetrifft, so scheint keine weitere Bemühung wegen seiner Richtigkeit nöthig zu seyn, und wir wenden uns zur näheren Bestimmung des Contrastes, welche in der Erklärung kurz angegeben ist. Dass nicht jeder Contrast gefällig sey, diess bedarf nur weniger Beispiele. Wem gefällt die falsche Quinte in der Musik, wem die Zusammenstellung vom Blau und Grün, oder Grün und Gelb? oder, um nicht allein an das Missfällige mancher Contraste zu erinnern, sondern auch des Gleichgültigen zu erwähnen, schwarz und weiss, reines Roth und Gelb, eine reine Octave, sind sämmtlich deutliche Contraste, ohne etwas Missfälliges oder Gefälliges an sich zu haben. Um nun die Möglichkeit zu erhalten, unter den mannigfaltigen Contrasten die gefälligen zu finden, und sie aus den missfälligen und gleichgültigen hervorzuheben, ist zunächst die Erinnerung nöthig, dass sämmtliche, wie sehr immer contrastirenden, Farben und Töne wenigstens in so ferne etwas Vereinbares oder Gleichartiges an sich haben müssen, als in wie ferne die einen sämmtlich durch das Gehör, die andern durch das Auge aufgefasst werden müssen. Denkt man sich nun die Töne so nebeneinander geordnet, wie die Tonleiter sie darzustellen pflegt, so kann, ins Besondere, innerhalb einer Octave, von dem einen Tone der Gegensatz wachsend ge-
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dacht werden, bis er seine grösste Stärke in der Octave selbst erhält, während derselbe in der Terze grösser als in der Secunde, in der Quarte grösser als in der Terze ist; und umgekehrt das Gleichartige in geringerem Maasse in der Quarte als in der Terze, in geringerem Maasse in der Terze als in der Secunde vorhanden seyn muss. Dasselbe lässt sich auf die sämmtlichen Nüancirungen des Violetten anwenden, von dem Rothen durch dieselben hindurchgehend bis zu dem Blauen. Wie so eben Farben und Töne als in einer Linie nebeneinander liegend gedacht wurden, innerhalb welcher mit der Entfernung die Gegensätze wachsen, mit der Nähe dieselben abnehmen und dagegen die Gleichheit grösser und wirksamer wird, so können auch zusammengesetztere Vorstellungen in einem gradweise fortgehenden Uebergange des Gegensatzes gedacht werden, z. B. die geometrischen Figuren, die einzelnen Aufregungen des Gefühls, von der ruhigen Zufriedenheit durch die Grade der Freude hindurch bis zu den ersten Schattenwürfen der Betrübniss, von den ersten Flügelschlägen der Hoffnung, bis zu den ersten Regungen des Zweifels und der Befürchtungen. Welche Bestandtheile eine solche Linie irgend enthalten mag, zwei nächste ihrer Puncte werden einander fast gleich seyn, dagegen werden ihre beiden Endpuncte fast gar keine Verbindung zu haben scheinen. In der Mitte einer solchen Linie aber werden Gegensatz und Vereinbarkeit sich grade gleich seyn, und üben sie irgend welche Wirksamkeit aus, so wird sich dieselbe im kenntlichsten Streite befinden. Solch ein Punct ist innerhalb der Octave bei der falschen Quinte vorhanden, und deutet auf den Quell des Hässlichen, des am mehrsten Missfälligen, während die beiden Endpuncte, welche reinen Gegensatz an sich tragen, die reine Octave das Gleichgültige bilden. Auch die gar zu nahe liegenden Puncte geben keinen fühlbaren Eindruck, müssen also ebenfalls zu dem Gleichgültigen gerechnet werden. Durch die vorangegangenen Bemerkungen haben wir wenigstens schon drei negative Bestimmungen für denjenigen Contrast gewonnen, welcher das Schöne bilden soll: erstlich dürfen die contrastirenden Glieder nicht reinen, alleinigen Contrast bilden, neben welchem gar keine Wirksamkeit ihrer Aehnlichkeit besteht; zweitens dürfen dieselben nicht gar zu nahe stehen, damit nicht ihre Aehnlichkeit jede Wirkung des Contrastes unmerklich macht; drittens dürfen die contrastirenden Glieder nicht grade solchen Contrast bilden, dass ihr Gegensatz und ihre Gleichheit sich das Gleichgewicht halten. […] Nach diesen Auseinandersetzungen der einfachsten Schönheit bedarf es einiger Hinblicke auf die Wirkungen, welche dieselbe auf unser Gemüth ausüben kann, um dadurch die Unterscheidungen des Schönen zu gewinnen, mit denen es vor der Verwechselung gehütet werden kann, in die dasselbe mit dem Angenehmen, und Wahren und Sittlichen, und zuweilen selbst mit dem Nützlichen, hineinzugerathen pflegt. Wie zahllos auch in unserem Gemüthe die Vorstellungen, wie unabsehlich ihre Verbindungen und wechselnd
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ihre Erscheinungen sind, und durch welche Mannigfaltigkeit von ursprünglichen Seelenkräften man ihre Bewegungen meint erklären zu müssen: drei Momente ihrer Gegenwart im Bewusstseyn bleiben für jede Selbstbeobachtung am kenntlichsten, entweder erheben sie sich aus der verborgenen Dunkelheit, in welcher sie mit zahllosen andern Gedanken, an die wir nicht dachten, ruheten, und steigen in die Klarheit des Bewusstseyns hinauf, oder sie stehen ohne Zunahme und Abnahme der Lebhaftigkeit stille, oder sie sinken in allmähliger Abnahme der Klarheit zu jener verborgenen Dunkelheit zurück, um nach irgend welchem Zeitverlaufe ihren eben durchgemachten Gang über den Schauplatz des Bewusstseyns hin zu erneuern. So erheben sich oft lange verborgen gebliebene Erinnerungen aus den Tagen der Kindheit, in ferner Heimath durchlebt, treten mit immer deutlicheren Zügen vor dem Blick der Selbstbeobachtung, breiten sich im Innern aus, und überde cken mit ihrem bunten Blumenteppich Sorgen und Hoffnungen der Gegenwart, stehen eine Zeitlang stille, und verbleichen am äussersten Horizonte des Gedankenkreises, während Anderes und Anderes sich hebt und steigt und verweilt und hinabsinkt. So lange diese Momente der Gedankenentwi ckelung ohne alles Hinderniss aufeinander folgen, bleiben wir frei von den Bewegungen des Begehrens, wie von den Regungen des Gefühls […]. Findet aber eine Vorstellung, von welcher Art sie seyn mag, in einem jener drei Momente ein Hinderniss, so wird durch dasselbe ein Zustand des Gemüths hervorgebracht, welchen man bald mit dem Nahmen des Gefühls, bald mit dem des Begehrens und Verabscheuens benennen kann. Wir wenden uns hier, dem nächsten Zwecke gemäss, nach der Seite des Gefühls. So bald eine Vorstellung zwischen zwei andern so stille steht, dass die eine sie emporzutreiben, die andre sie hinabzudrücken strebt, so ist ein unangenehmes Gefühl vorhanden. Z. B. die Vorstellung eines fernen Freundes, von dem wir, der ganzen Lage der Umstände gemäss, wissen, dass wir ihn erst in einigen Jahren wiedersehn werden, kann, so lange wir ohne nähere Nachricht ihn gesund und zufrieden glauben, oft ohne Spur eines bemerkbaren Gefühls an unserem Bewusstseyn in der ruhigen Kälte des blossen Vorstellens mit vielen andern Gedanken vorübergehn. Kaum aber hören wir von einer gefährlichen Krankheit, die ihn ergriffen, so breiten sich auf der einen Seite alle die Gedanken aus, welche in der Hoffnung des Wiedersehens enthalten waren, auf der andern Seite alle die Vorstellungen, welche die Gefahr der Krankheit bis zu seinem Tode hin, zum Inhalte unserer Befürchtungen macht; und aus dem Gegenstande ruhig vorgestellter Erinnerung, wird die Vorstellung des Freundes zum Kerne, aus dem sich das lebhafteste unangenehme Gefühl entwickelt. Wo nun irgend eine Vorstellung in eine solche Mitte von einander entgegengesetzten Vorstellungen geräth, welche gleich schwankenden Wagschaalen sie mitheben und sinken machen, da kann sie ein unangenehmes Gefühl erwecken, ohne die Wirksamkeit dazu von einem
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eigenen Gefühlsvermögen zu erhalten. Etwas dem eben Gesagten sehr Aehnliches, nur in der Einfachheit davon Abweichendes, erkennen Sie […] in demjenigen Contraste wieder, welchen wir vorher als die Quelle der Häss lichkeit bezeichneten. Hält nämlich der Gegensatz grade der Aehnlichkeit das Gleichgewicht, so muss ein ähnliches Schwanken der Vorstellungen sich ereignen, als bei dem vorher angeführten Beispiele sich zu erkennen gab. Um nun auf gleichem Wege zur Einsicht der angenehmen Gefühle zu gelangen, dürfen wir nur irgend welche Vorstellungen als helfend hinzutreten denken, wodurch das Hinderniss zum Weichen gebracht, und die Hauptvorstellung aus dem schwankenden Gedränge emporgehoben wird. So darf nur, um bei dem vorigen Beispiele zu bleiben, eine neue Nachricht von der Genesung des Freundes eintreffen, um die Befürchtungen für ihn aus dem Bewusstseyn zu treiben, und sein Bild rein hervorzuheben, und es dem ruhig vorüberfliessenden Strome der Erinnerungen und Hoffnungen von Neuem zu überlassen. Etwas dem Aehnliches tritt nun da ein, wo jenes streitende Gleichgewicht des missfälligen Contrastes dadurch aufgehoben wird, dass entweder die Aehnlichkeit der contrastirenden Elemente das Uebergewicht erhält, oder dass der Gegensatz derselben überwiegend wird, und jenem streitenden Gleichgewichte ein Ende macht. Nun aber darf dieses eine oder andre Uebergewicht nur so gross seyn, dass die entgegengesetzte Kraft grade nur unwirksam gemacht, gleichsam nur bis zur Schwelle des Bewusstseyns getrieben wird, sonst verwandelt sich das bis dahin bemerkbare angenehme Gefühl in blosse Gleichgültigkeit, in ungestörte Gedankenweise des reinen Vorstellens. So auch in jenem vorigen Beispiele ist das angenehme Gefühl in dem Augenblicke am lebhaftesten, wo die Nachricht der Genesung die Befürchtungen eben auf die Schwelle des Bewusstseyns wirft, wird dagegen von Tage zu Tage unmerklicher, bis zuletzt die blosse ruhige Erinnerung an den Freund zuweilen zurückkehrt, wenn an die vorübergegangene Gefahr nicht ferner gedacht wird. Dagegen bleibt es auch hierbei erkenntlich, warum zuweilen die Erinnerung an gehabte Mühe, an überwundenen Gefahren uns in so lebhaft angenehmes Gefühl versetzen kann: kaum nemlich hebt sich die Vorstellung jener Mühe oder Gefahr, so tritt die ganze Gewalt der gegenwärtigen Sicherheit entgegen, und drängt jene beunruhigenden Gedanken von Neuem aus dem Bewusstseyn. Aus den einfachen Verhältnissen setzen sich nun die mannigfaltigeren zusammen, wie die schönen Gegenstände der Natur und der Kunst sie gewöhnlich enthalten. Diese veranlassen ganze Gedankenreihen, ja ganze Gedankenmassen zur Entwickelung aus der bisherigen dunkeln Ruhe in die Klarheit des Bewusstseyns hinein, und zwar deren mehrere auf die Art, dass sie sich gegenseitig zur Besiegung des Hindernisses begünstigen und verstärken, welches ihrer Entwickelung und ihrem Emporkommen entgegensteht. Statt jener angeführten einzelnen Töne und einzelnen Farben bilden
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nun solche ganzen Reihen und Massen die Elemente des Contrastes, und mit ihrer Grösse wächst auch die Stärke des Eindrucks, und das Gefühl des Wohlgefallens. Doch bei diesen grösseren Compositionen wie bei jenen aus einfachen Elementen bestehenden ist es erkenntlich, dass nicht die Masse, der Inhalt, die Bestandtheile es seyen, welche das Wohlgefühl erwecken, oder zuweilen das Missfallen erregen, sondern dass ihre Zusammenstellung mit solchen oder andern Elementen es sey, welche den ästhetischen Eindruck hervorbringt. Es hat nun der Sprachgebrauch schon längst eine jede Zusammenfassung von Bestandtheilen mit dem Namen der Form bezeichnet, ohne dieselbe abhängig zu machen von räumlicher Erscheinung, oder von solchen Elementen, welche neben einander zusammengefasst eine räumliche Gestalt anzunehmen pflegen.
8. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) §. 41. Wie im Processe des Urtheilens vom Subjekt das Prädikat, so wird in dem des fixirten Gefühls vom Was des Gefühlten das Gefühl mit sich geführt. Dieser wie jener beruht auf dem Inhalt vorhandener Vorstellungen allein; das Subjekt, dessen Vorstellungen es sind, gibt nur den Schauplatz dazu her. Wer das vorstellende Subjekt noch ausserhalb seiner Vorstellungen sucht, wird freilich schwer zugeben, dass dasselbe passiv bleibe, während die Vorstellungen sich regen. Je unpersönlicher wir den Vollzug beider Prozesse uns denken, desto reiner denken wir ihn. Die individuelle Natur des urtheilenden, wie die individuelle Gemüthslage des Antheil nehmenden Subjektes haben damit nichts zu thun; die Wechselwirkung der sich selbst überlassenen Subjekts- und der sich anbietenden und einander unter sich ausschliessenden Prädikatsvorstellungen führt das Urtheil, die veranlassende Vorstellung das in ihr allein begründete Gefühl herbei. §. 42. Darin liegt eine Verwandschaft des fixirten Gefühls mit dem Urtheile, wie andererseits in dem deutlichen Vorgestelltsein aller Theile des letztern dessen Vorzug vor jenem liegt. Jedes hat etwas vom andern; das fixirte Gefühl hat mit dem Urtheilen gemein, dass es wie dieses auf dem Inhalt der Vorstellungen allein beruht; das Urtheil hat vor ihm voraus, dass das Was dieses Inhalts in Subjekt und Prädikat klar vorgestellt ist. Liesse sich auf eine Weise das Was des Gefühlten in klare Vorstellung verwandeln, dann hätte das auf solche Art umgestaltete fixirte Gefühl die klare Vorstellbarkeit aller Theile mit dem Urtheile, den Zusatz des Beifalls oder Missfallens mit dem Gefühle gemein; es entstünde ein Drittes, das ästhetische Urtheil.
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§. 43. Das ästhetische Urtheil erst macht Aesthetik als Wissenschaft möglich. Wenn der Zusatz im Subjekt durch den Inhalt einer bestimmten veranlassenden Vorstellung fixirt, letztere selbst aber abgesondert von jenem klar vorstellbar ist, dann ist es möglich sowohl die Bilder, als die Zusätze, die allgemein und nothwendig zu jenen gehören, d. h. das Absolutwohlgefällige und Missfällige in Begriffen aufzuzählen. §. 44. So hängt Aesthetik als Wissenschaft von der Bedingung des ästhetischen Urtheils ab. Wie das Gefühl sie aus- schliesst das ästhetische Urtheil sie ein. Fragen wir ob es selbst möglich sei? §. 45. Mit dem fixierten Gefühl hat dasselbe gemein, dass es allein durch den Inhalt der veranlassenden Vorstellung abgesehen von der individuellen Gemüthslage des Vorstellenden in Letzterem hervorspringt. Die erste Bedingung für dasselbe muss daher die Absonderung aller inviduellen [sic] Erregungen, das vollendete Vorstellen des Vorstellungsinhaltes selbst sein. Alles was nicht dieser ist, darf gleichzeitig nicht vorgestellt, oder doch nicht so vorgestellt werden, als gehörte es zu ihm. Aber auch nicht in einer anderen Form als in der des blossen Vorstellens darf der Inhalt auftreten, also nicht etwa in der eines Strebens ihn vorzustellen. Der Inhalt in Form des Strebens ist zwar schon die Vorstellung des Erstrebten, denn ein anderes „Erstrebtes“ als Vorstellung gibt es ebensowenig als Streben ohne Vorstellung des Erstrebten, aber eben nur als „Erstrebtes“ nicht als „Erreichtes“, als Vorstellung, die sich gegen hemmende Widerstände zum vollendeten Vorgestelltwerden heraufarbeitet, dieselben jedoch noch nicht überwunden hat. §. 46. Beide Rücksichten sind wichtig. So lange etwas mitbeiträgt zur Entstehung des Zusatzes, das nicht im Bilde (d. i. in der Vorstellung) liegt, gehört der Zusatz nicht bloss dem Bilde. So lange die Vorstellung nur in der Form des Strebens, nicht in jener des vollendeten Vorstellens gegeben ist, ist das Bild noch nicht vorhanden, zu dem der Zusatz gehört. In dem einen wie im anderen Fall fehlt der ästhetische Begriff. §. 47. Die Vorstellung im Zustande des Strebens ist Begehren. So lange Begierde vorhanden ist, fehlt die Bedingung des fixirten Gefühls wie des ästhetischen Urtheils. Zwar werden auch hier Gefühle entstehen und durch das Eintreten des Begehrten herbeigeführt werden, aber dieselben gehören […] nicht dem Inhalt der Vorstellung allein, sondern dem Umstand an, dass derselbe mit dem Inhalt unseres Begehrens zusammentrifft. Es sind vage Gefühle, die das fixirte begleiten, ihm vorangehen oder nachfolgen.
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§. 48. Das Begehren ist Bewegung, das vollendete Vorstellen Ruhe. In jenem arbeitet die Vorstellung sich erst gegen Hindernisse empor; in diesem kennt sie keine. Erst wenn die Begierden schweigen, kann das fixirte Gefühl wie das ästhetische Urtheil rein hervortreten. Denn die Begierde ist dahin gerichtet, die erstrebte Vorstellung in jenem Grade der Klarheit und Ungehemmtheit zu besitzen, wie sie das Kennzeichen der Gegenwart ihres Gegenstandes ist. Das vollendete Vorstellen besitzt sie schon in diesem Grade. Jene sucht das Zukünftige zur Gegenwart zu machen, das vollendete Vorstellen ist vollendete Gegenwart. Die Existenz des Vorgestellten ist ihm daher gleichgiltig; denn sie kann zu seinem Vorstellen nichts mehr Weiteres hinzufügen. §. 49. Das fixirte Gefühl wie das ästhetische Urtheil muss, was es fühlt und beurtheilt, in vollendeter Gegenwart besitzen. Das Angenehme insoweit es nicht blosse Befriedigung einer Begierde ist, das Schöne, das Gute erfüllt und fesselt den Geniessenden völlig. Aller bloss individuelle Gemüthsinhalt ist abgestreift; nicht der Mensch hat das Objekt, das Objekt hat ihn. Alle subjektiven Affekte, der Hoffnung, der Sehnsucht, der Liebe, und des Hasses sterben ab; der Einzelne als solcher geht ganz in’s Vorgestellte auf, in das jeder Andere an seiner Statt ebenso aufgehen müsste. Das Individuum, das Subjekt, tritt von [sic] Schauplatz ab, den die veranlassende Vorstellung, das Objekt, ganz allein ausfüllt. Jenes ist passiv, diese aktiv, das fixirte Gefühl oder das hervorspringende ästhetische Urtheil sind ganz allein ihr Werk, unvermeidliche Effekte des vollendeten Vorgestelltwerdens im Subjekt, nicht durch das Subjekt. §. 50. In diesem Zustand der ästhetischen Contemplation decken Bild und Zusatz, Objektives und Subjektives einander gänzlich. Der Zusatz gehört nur dem Bilde und nur das Bild bewirkt den Zusatz. So weit dasselbe Bild reicht, so weit reicht auch derselbe Zusatz; der Unterschied von Ort Zeit und Individuation hört im Momente der Contemplation für die Contemplirenden auf. Die Vielen sind wie Einer, weil das Bild und der Zusatz nur Eines sind.
III. Theorie der Form 9. Friedrich Konrad Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik (1827) Einleitung. Sonderung der ästhetischen Elemente von den unästhetischen Interessen des Stoffes. §. 3. Gefallen und Misfallen ist nicht einerlei mit Lust und Schmerz, mit Begehren und Verabscheuen; denn das Geschmacksurtheil, wenn es zu seinem Ausspruche gelangen soll, fordert vollendetes Vorstellen seines Gegenstandes im ruhigen Gemüth. Schmerz und Lust, Begehren und Verabscheuen aber bezeichnen Gemüthslagen voll Unruhe und unvollendeter Vorstellungen, durch welche der besonnene Überblick und das Auffassen der eigenthümlichen Effekte des verknüpften Mannigfaltigen gestört wird. §. 4. Eben in dieser Auffassung der Effekte des Verknüpften, die nicht dem einen oder dem anderen Einzelnen zugeschrieben werden können, sondern in ihrem Zusammentreffen sich entwickeln, zeigt sich das Geschmacks urtheil. Es entscheidet deshalb nur über Verhältnisse, und die einzelnen Elemente derselben sind ihm gleichgiltig, wie sehr sie uns auch sonst interessiren mögen. Ein einzelnes menschliches Wollen, eine einfache Regung des Gemüths, ein einzelner Ton, eine grade Linie oder eine einzelne Farbe – kann der Theilnahme, dem reizbaren äußeren Sinne oder dem Forschungseifer höchst merkwürdig erscheinen, ohne dass das Geschmacksurtheil mit Beifall oder Tadel darüber, als über ein Einzelnes, zu entscheiden wüste. S. Herbart’s allgemeine practische Philosophie. Göttingen 1808. die Einleitung. §. 5. Das Verhältniss fordert zum wenigsten zwei Glieder, welche gegenseitige Beziehung auf einander ausüben, sich gegenseitig bestimmen, ohne in einander zu fließen. Wegen der gegenseitigen Beziehungen und Bestimmungen müssen beide Glieder gleichartig sein; denn von dem völlig Ungleichartigen und Entgegengesezten löscht eins das andere aus, und beide beharren nicht beim Zusammendenken in gegenseitiger Ausschließung. Auch dürfen beide Glie-
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der nicht völlig gleich sein, sonst schwinden sie in einander, und das gegenseitige Bestimmen hört auf. Daraus folgt: dass das Gleichartige in irgend einem Gegensatze sich begegnen muss, in welchem es beharrt, wenn ein Verhältniss entstehen soll. Durch das gemeinschaftlich Gleiche werden die Glieder des Verhältnisses im Denken zusammen gehalten, durch den zwischen ihnen bestehenden theilweisen Gegensatz bleiben sie getrennt. Das Verhältniss darf nicht durch seinen Exponenten gedacht werden, weil es sonst als Verhältniss zerstört sein würde, und man nur einen einzigen Gedanken übrig behielte. Das Obige gilt von allen Verhältnissen, von den mathematischen, wie von den ästhetischen, nur dass in den lezteren der Effekt, den das Geschmacksurtheil auffasst, nicht mit jenem Exponenten verwechselt werden darf, der an sich, auch ohne das Verhältniss, etwas Bestimmtes ist, da hin gegen der ästhetische Effekt, nach der Trennung der Glieder des Verhält nisses, gänzlich verschwindet, und für sich allein nicht aufgefasst werden kann. […] §. 9. In den Kunstwerken ist eine große Menge sowohl gleichartiger, als ungleichartiger, gleichzeitiger und ungleichzeitiger, Verhältnisse beisammen. Wäre nun diese Menge ohne Ordnung und inneren Zusammenhang, so würde selbst der Effekt der einzelnen schönen Verhältnisse durch die ungeordnete Masse gestört werden. Es bliebe für das Geschmacksurtheil fast nur ein roher Stoff übrig, der sogar einen Theil des Misfallens auf sich ziehen müste. Auch würde eine solche Masse, eben ihrer Unordnung wegen, weder im Einzelnen, noch im Ganzen, verständlich sein. Die bloße Fasslichkeit des Kunstwerks also fordert schon allein Zusammenhang der mehreren einfachen Verhältnisse, und der nothwendige Zusammenhang fordert Beziehung auf einen hervorragenden Punkt, oder auf mehrere mit einander verknüpfte, je nach der Beschaffenheit des Kunstwerks. §. 10. Die im vorigen §. geforderte Beziehung der einzelnen Verhältnisse untereinander und zum Ganzen, wird Einheit genannt. Sucht sie der Künstler nur durch den Stoff seines Kunstwerks zu erreichen, damit dieser zur leichteren Auffassung komme; so hat sie keinen ästhetischen Charakter, denn das Verständige wird ohne Weiteres von allen menschlichen Produkzionen gefordert. Ästhetische Einheit im Kunstwerke ergiebt sich nur aus ästhetischer Anordnung der einfachen Verhältnisse, und aus ästhetischer Beziehung auf einen oder wenige hervorragende Punkte. Das heißt zunächst: die einzelnen Verhältnisse müssen Gruppen bilden, welche wieder unter einander und zu einem oder wenigen Hauptmomenten in gefallenden Verhältnissen stehen.
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§. 11. Ein Hauptgrund des ästhetischen Zusammenhangs unter ästhetischen Verhältnissen ist die Dissonanz. Das Wort Dissonanz bezeichnet ein Verhältniss, das zum Fortschritte, zum Übergange in ein anderes Verhältniss, nöthigt, weil es allein und ohne diesen Fortschritt misfallen würde. Diese zunächst aus der Musik entlehnten Bestimmungen sind für alle Künste, die den Fortschritt in der Zeit zu berücksichtigen haben, dieselben, so wenig es auch bisher bemerkt und anerkannt wurde. […] §. 20. Am häufigsten spricht man von Kontrasten, wenn es die Belebung des Kunstwerks durch Überraschungen gilt; doch mit weniger Berücksichtigung des Wortverstandes, welcher durch die Logik scharf genug bestimmt ist. Der logische Kontrast nämlich bedeutet Unvereinbarkeit der Begriffe. Durch ihn also könnte das Kunstwerk an der Stelle, wo er sich befände, nur zerrissen werden; und das wäre um ein Bedeutendes mehr, als die Überraschung fordert, es wäre Vernichtung des Zusammenhangs, welcher doch der Überraschung nicht zum Opfer gebracht werden dürfte. So viel will man aber auch durch den Kontrast in Kunstwerken nicht ausgedrückt und bezweckt haben, er soll nur einen unerwarteten Übergang bezeichnen. Mit diesem Begriffe lässt sich die ästhetische Bedeutung des Kontrastes erklären. Wo ein Übergang statt findet, sei er rasch oder langsam vorbereitet, da ist Zusammenhang zwischen dem Vorhergehenden und Nachfolgenden, und das zweite ist durch das erste schon begründet, wenn dies auch nicht auf den ersten Blick zu erkennen wäre. Hier offenbart sich also die Wirkung eines rein ästhetischen Verhältnisses, das vielleicht mit dem im §. 11. berührten nahe verwandt ist. Übrigens vermag keine Art des Gegensatzes für sich allein, nicht einmal der von disparaten Begriffen, am wenigsten aber von konträren und kontradiktorischen – solche Wirkung hervorzubringen. […]
Erster Theil die Ideenlehre. Erstes Buch die allgemeinen Ideen. §. 3. Zunächst ist klar, dass das Verhältniss der widerstrebenden Elemente nicht auf logischem Kontraste oder kontradiktorischem Gegensatze beruhen könne, weil Vorstellungen dieser Art gar keine Verbindung mit einander eingehen und kein Verhältniss bilden, das ästhetisches Interesse hätte. Auch lässt sich einsehen, dass der Gegensatz stark sein müsse, weil er sonst nicht vorherrschen und dem Urtheile Misfallen abgewinnen könnte. Aber irgend ein Grad von Gleichheit zwischen den Elementen muss dennoch übrig sein, theils überhaupt des Verhältnisses wegen, theils weil eine deutliche Vorempfindung des nachfolgenden Einklangs in ihm liegen soll. Zum Verhältnisse ist immer Gleichheit und Gegensatz seiner Glieder erforderlich […]; die Frei-
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heit aber, bald die eine, bald den anderen, stärker zu nehmen, oder sie beide gleich zu setzen, wird durch die allgemeine Untersuchung nicht beschränkt. Der Gegensatz dürfte also vorherrschen, wenn es irgend zur Erklärung der Thatsache eines ästhetischen Urtheils anzunehmen nöthig sein sollte. Damit er aber das Gefühl nachfolgender Einigung errege, darf er gegen die Gleichheit nicht höher herangewachsen sein, als bis zu dem Punkte, wo er sie zu übersteigen im Begriff ist. Hier tritt die Gleichheit beider Elemente eben so stark ins Bewustsein, als ihr Gegensatz; und in diesem Schweben besteht die Dissonanz, die das Misfallen erzeugt. Diese theoretische Entwickelung soll nicht zu Bestimmungsgründen des ästhetischen Urtheils führen; das Urtheil ist schon gefällt, ganz ohne Rücksicht auf sie, ja ohne alle deutliche Erkenntniss derselben. Sie schärft nur den Blick über die bei der Dissonanz etwa obwaltenden Umstände. […] §. 4. Der Weisung des Geschmacksurtheils soll Folge geleistet, also das Misfällige vermieden werden. Hier beruht es auf dem Widerstreit, welcher so lange dauert, als die Elemente in derselben Stellung beisammen bleiben. Diese also muss sich ändern, und das scheint auf doppelte Art möglich zu sein: entweder durch gänzliche Trennung des Verhältnisses, oder durch den Übergang des Widerstrebens in den Einklang. Nur das zweite Mittel ist hier anwendbar, denn durch das erste verschwindet nicht allein der Widerstreit, sondern auch die Hindeutung auf nachfolgenden Einklang, die mit in ihm liegen soll. Hierdurch wird veranlasst, dass, selbst nach der Trennung der Elemente, die Dissonanz im Gedächtniss bleibt, und das Misfallen im erhöhten Grade fortdauert. Dies ergiebt die unverkennbare Weisung, dass sich das dissonirende Verhältniss in ein konsonirendes, oder, was hier dasselbe sagt, in den Einklang auflösen soll. §. 5. Dem zu folgen muss eins von den beiden Elementen seine Stellung verändern und in den Einklang mit dem anderen übergehen; oder, wenn es erforderlich wäre, müste jedes von seiner Seite zum Einklange mit dem anderen eilen. Welches aber von beiden sich zum anderen, das indess ruht, hinüberneigen soll, das wird von den Umständen abhängen, wie sie ins Widerstreben gerathen sind. Wäre vielleicht das eine Element mit dem anderen früher im Einklange gewesen und nun hinausgetreten, so würde es unfehlbar allein von dem Misfallen getroffen werden, und dadurch die Weisung erhalten, entweder zu dem vorigen Einklange zurückzukehren, oder, was nach den Umständen einen weit höheren Reiz haben könnte, einen neuen Einklang zu suchen. Wären aber beide zugleich in den Widerstreit gerathen, so müsten sie auch beide zum Einklange eilen, und folglich beide sich von ihrer Stelle bewegen.
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§. 6. In dem Augenblicke nun, wo es erkennbar wird, dass eins der widerstrebenden Elemente sich zum Einklange mit dem anderen hinbewegt, fängt es an, zu gefallen, gewinnt immer mehr Beifall, je näher es seinem Ziele kommt, und der erreichte Einklang erhält endlich den höchsten ästhetischen Reiz, der ihm zu Theil werden kann. Ohne vorhergegangene Dissonanz könnte der reinste Einklang selbst nicht ein so erhöhtes Wohlgefallen erregen. §. 7. Würde die Frage erhoben, ob zur Auflösung der Dissonanz jeder beliebige Einklang gleich brauchbar sei, so müsste sie verneinend beantwortet werden, im Allgemeinen, wie im Besonderen. In den Fällen, wo nur eins der beiden Elemente den Einklang sucht, indess das andere beharrt, ist durch dieses der nachfolgende Einklang schon vorbereitet, weil es in der Auflösung wieder ein Glied des Verhältnisses wird. Aber auch das dissonirende Element darf nicht sprungweise zu entlegenen Auflösungen schreiten, weil sonst das Verhältniss für den Augenblick zerrissen wird, und der nachfolgende Einklang nicht als Auflösung der vorherigen Dissonanz angesehen werden kann. In solchen Fällen dauert das Gefühl der Dissonanz fort mit ihrem Reize zur Auflösung; und der mit ihr nicht zusammenhängende Einklang kommt deshalb gar nicht zur Wirkung. Eben so wenig willkührlich ist der nachfolgende Einklang, wenn etwa beide Glieder des Verhältnisses der Dissonanz zum Fortschritte genöthigt wären, weil beide den zunächst liegenden Einklang suchen müssen, wenn er als Auflösung gelten soll. §. 8. Die allgemeinen in dem Verhältniss der Dissonanz liegenden ästhetischen Bestimmungen aber verbieten es nicht, in verschiedenen einzelnen Fällen auch den Grad der Klarheit und Bestimmtheit in der Hindeutung auf nachfolgenden Einklang verschieden anzunehmen. Diese Unterschiede des Grades lassen sich in der Form einer Reihe vorstellen, an deren einer Seite die nachfolgende Auflösung so deutlich in der Dissonanz liegt, dass nur sie allein zur völligen Befriedigung des ästhetischen Urtheils gewählt werden darf. Von diesem Punkte aus nimmt die Deutlichkeit immer mehr und mehr ab, bis die entgegengesetzte Gränze der Reihe erreicht ist, wo es gar keine Hindeutung mehr giebt. Hier nun muss, unter den genannten Umständen, reiner Einklang sein; es würde aber auch reiner Streit der Elemente sein können, wenn diesen nicht das Urtheil ausschlösse, selbst im erstem [sic] Beginne des Wachsens zu ihm hin. Je größer der Grad der Deutlichkeit, desto weniger verschiedene Auflösungen sind möglich, und je geringer er ist, desto umfassender wird die Freiheit der Wahl, bis sie vom reinen Einklange aus zu allem Naheliegenden gestattet ist. Das Naheliegende aber muss dennoch gewählt werden, weil gegenwärtige Betrachtung die vorige nicht im Gerings ten beschränkt.
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§. 9. Die Idee der Dissonanz ist die Einzige, welche mit unwiderstehlicher ästhetischer Gewalt zum wohlgefälligen Fortschritte in der Zeit nöthigt, wodurch sie einen vorzüglichen Werth erhält, der für die Kunstwerke durch nichts anderes ersetzt werden kann. Die eigenthümliche Art des wohlgefälligen Fortschritts ist oben im Allgemeinen entwickelt worden, und es würde damit genug sein, wenn nicht das Misfällige der Dissonanz die Frage nach den Bedingungen ihres wohlgefälligen Eintritts veranlasste. Es sollte nämlich, nach dem allgemeinen ästhetischen Gesetze, das Misfällige zu vermeiden, die Dissonanz schon von Anfang an vermieden werden, und dann bedürfte es keiner Entwicklung ihrer Auflösungen. Doch unterliegt sie diesem Gesetze nur, insofern sie misfällt; der Reiz zum Fortschritte aber wird von dem Misfallen nicht mit getroffen. Hieraus nun ergeben sich die Bedingungen des wohlgefälligen Eintritts der Dissonanz. Sie muss nämlich auf solche Weise vorbereitet sein, dass das Misfällige sich in dem vorherrschenden Reize zum Fortschritte gänzlich verliert. Die Vorbereitung, welche diese Wirkung thun soll, ist nicht denkbar ohne ein vorausgehendes wohlgefälliges Verhältniss, das mit der nachfolgenden Dissonanz ein Element gemein hat. Nach dieser Entwickelung, worauf die Natur der Dissonanz unvermeidlich führt, stellt sie also jedes Mal, wo sie irgend erscheint, wenigstens drei Verhältnisse in der engsten Verknüpfung dar: den vorbereitenden Einklang, die Dissonanz selbst, und den auflösenden Einklang. §. 10. Hier offenbart sich das Geheimniss eines Kunstwerks, das aus in ihm selbst liegenden Gründen, ohne scheinbare Willkühr des Künstlers, sich fortbewegt, entwicklelt [sic] und schließt. Durch den ersten Anstoß allein, wie durch ein Schöpferwort, scheint ihm das Leben ertheilt zu sein, das nun unaufhaltsam in allen seinen Verwandlungen dahin rollt; denn die dreifache Verkettung von Verhältnissen, die in der Dissonanz liegt, und deren jedes das andere bedingt oder voraussetzt, kann sich stets erneuern. Der auflösende Einklang kann wieder ein vorbereitender werden, und dadurch können die Beziehungen auf mannigfaltige Weise in verschiedenen Richtungen geleitet und wieder zum Anfangspunkte zurückgeführt werden. Jeder Einklang taugt zur Vorbereitung mehrerer Dissonanzen, fast jede Dissonanz lässt mehrere Auflösungen zu; nichts liegt in der allgemeinen Idee, was diese Freiheit beschränkte. Auch in die Beziehung mit der Idee der Vollkommenheit kann die Dissonanz gesetzt werden, und jene kann durch Verstärkung oder Milderung der Dissonanzen, oder der vorbereitenden und auflösenden Einklänge, größere Weichheit in den Übergängen hervorbringen, den Reiz der Verhältnisse erhöhen und den ästhetischen Effekt des Kunstwerks steigern.
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10. Georg Eduard Bobrik: Freie Vorträge über Ästhetik (1834) [V]orläufig mag nur […] die Bemerkung Raum finden, dass die Zeichen, als solche, z. B. die Wörter der sämmtlichen Sprachen, gesprochen und geschrieben, nur mittelbar interessiren, als Mittel zur Erinnerung dessen, was sie bezeichnen sollen; die Formen dagegen schweben gleichsam in der Mitte zwischen dem reellen Inhalte der Gegenstände, deren Formen sie sind, und zwischen dem blossen Zeichen, das an jene Gegenstände erinnern soll, so dass auch das Interesse, welches sie erregen, ein halb mittelbares, ein halb unmittelbares genannt werden könnte. Den Sachen entspricht das sinnliche, den Zeichen das intellectuelle, den Formen das ästhetische Interesse und Wohlgefallen. Das Wirkliche nämlich, um sich für uns geltend zu machen vor dem übrigen Wirklichen, muss seinen überwiegenden Eindruck auf unsre Sinne üben. Doch dieser Eindruck ist zu wandelbar und flüchtig aus mannigfaltigen Gründen, deren hauptsächliche nur angeführt zu werden brauchen, um kenntlich zu machen, wie wenig beständig und genügend das alleinige sinnliche Interesse seyn könne. […] Das Interesse für die Zeichen haben wir schon vorher ein mittelbares nennen dürfen, insofern an dem Zeichen vorüber, Aufmerksamkeit und Erwartung, und die übrigen Aeusserungen des Interesses zu dem Bezeichneten selbst eilen. Bei der Auffassung der Zeichen ist es nun, wo die sogenannten höhern Kräfte der Seele, die sogenannten Verstandeskräfte sich zuerst zu äussern beginnen, in dem Verstehen der Zeichen, namentlich der Sprachzeichen. Zwar hat die gewöhnliche Psychologie den Verstand beschränken wollen, auf die logische, absichtliche Cultur der Begriffe, aber der gewöhnliche Sprachgebrauch ist hier der Natur der Sache treuer und näher geblieben. Geistreiche Frauen, bewunderte Staatsmänner, berühmte Feldherren, gefeierte Künstler, umsichtige Kaufleute, sie suchen und finden ihren Verstand in keinem logischen Collegium. Die natürliche Leichtigkeit, mit der sie ihre verwickelten Verhältnisse, Umgebungen und Umstände richtig durchschauen und behandeln, und im Drange des Augenblickes ihre bewundernswürdige Geistesgegenwart zeigen, diese leichte Beweglichkeit bezeugt ihren Verstand gewöhnlich glänzender und erfolgreicher, wenn auch nicht tiefer, als die langsame, oft im nöthigenden Augenblicke noch lange nicht beendigte logische Gedankenbewegung des profunden Gelehrten. Daher das Verstehen der Zeichen, diese nach leichter Erregung vor sich gehende Entwickelung der passenden Gedankenreihen begreift am leichtesten das Intellectuelle, das vom Sinnlichen Unabhängige, wenigstens nicht unmittelbar Abhängige. Selbst die höchsten Ahndungen über Gottheit und Unsterblichkeit, die tiefs ten Untersuchungen und Ueberzeugungen von den ersten Gründen, und dem nothwendigen Zusammenhange geheimnissvoll wirkender Natur-
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kräfte, was sind sie anders, als ein Gedankengewebe, dessen erste Fäden sich anknüpfen an den Rahmen dargebotener Zeichen, ausgehen von den oft kenntlichen, öfters noch kaum erkennbaren Spuren jener wirkenden Gewalten. Vor Allem aber ist die Deutung der Zeichen, welche die Gegenwart darbietet, der fruchtbare nie erschöpfte Boden, aus dem die süssen und herben Blüthen und Früchte der Hoffnungen und Befürchtungen für die nächste und entferntere Zukunft hervorkommen. Das Interesse für die Formen haben wir erst schon als in der Mitte schwebend gedacht, zwischen dem sinnlichen und dem intellectuellen; denn nach der Seite der sinnlichen Eindrücke hin sind die ersten Auffassungen der Formen abhängig von irgend welchem materiellen Inhalte derselben, und nach der Seite der Zeichen hin, bleiben die Formen in ihrer möglichst treuen Abbildung die frühesten, und stets verständlichsten Zeichen, von denen eine allmählige Entfernung erst später möglich wird, um noch verständlich zu bleiben. […] Von dem ästhetischen Interesse haben wir schon vorher die Andeutung aussprechen müssen, dass es sich fast niemals ohne das ästhetische Wohlgefallen in einem Gemüthe zu finden pflegt, und darum für den ers ten Anblick als gleichbedeutend mit demselben erscheinen kann. Jedoch dürfen wir uns nur an die mannigfaltigen Schattirungen des Komischen, an das Bizarre, Baroque, an die Verzerrungen der Karikaturen erinnern, um zu gestehen, dass das ästhetische Interesse wohl noch, wenn auch allerdings seltener als bei den vorhergenannten sinnlichen und intellectuellen Interessen, von dem ästhetischen Wohlgefallen geschieden werden könne, da jenen Schattirungen des Niedrigkomischen selten ein selbstständiges Wohlgefallen gewidmet werden kann. Ausserdem bleiben auch die beiden höheren Stufen des Interesses, die der Forderung auf Seiten des Kenners, und die der Handlung auf Seiten des Künstlers, leicht und deutlich unterscheidbar von dem wirklichen Wohlgefallen an vorhandenen Kunstwerken. Dass die Schönheit sich in der Form allein entwickelt, ist uns schon öfter gesagt, und in soferne, dürften wir hinzufügen, ist das ästhetische Interesse zunächst ein formales. Wo aber irgend die Form eines Gegenstandes überhaupt aufgefasst, wo sie mit der grösseren Aufmerksamkeit des Interesses insbesondere wahrgenommen werden soll, da muss die auf das Einzelne des Stoffes von diesem Gegenstande gerichtete Vertiefung sich vermindert haben, um den totalen Ueberblick zuzulassen, welcher über alles Einzelne hingleitend, nur seine Verbindung die Form zur deutlichen Anschauung erhebt. Durch dieses Zurückdrängen der Eigenthümlichkeiten der einzelnen Theile, durch dieses Ebnen der momentanen Hervorragungen, erhebt sich das sinnliche, an dem Einzelnen und seinen wechselnden Eindrücken haftende Interesse, bleibt aber von dem intellectuellen dadurch verschieden und entfernt, dass es nicht eine grössere Gedankenmasse anregt, und das aus ihr Hervorgehobene in
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neue Bewegungen versetzt, und neue Aufregungen dadurch veranlasst, sondern die Aufmerksamkeit innerhalb der Grenzen gefesselt hält, welche die Form bestimmt. Leicht kann indessen das formale Interesse entweder zurückgleiten zum Sinnlichen, wenn einer und der andre Theil des Inhaltes solcher Form einen neuen starken Eindruck auf die Sinne macht, oder es kann sich zum intellectuellen Interesse erweitern, wenn die Form durch Aehnlichkeit, und sonstigen Zusammenhang eine Anzahl bis dahin ruhender Vorstellungen über die Schwelle des Bewusstseyns hervorhebt. Die Formen der Schriftzüge geben dafür ein leichtes Beispiel. Wo sie uns irgend dargeboten werden, sind es stets bestimmte Farben, welche unser Auge treffen, aber mit vollkommener Gleichgültigkeit pflegen wir schwarze und weisse und rothe und goldene Buchstaben nur der Form nach aufzufassen, ohne an die Verschiedenheit der Farben zu denken, selten fesseln uns dieselben; dagegen eilen wir über die Formenauffassung hinaus nach ihrer Bedeutung, das formelle Interesse verwandelt sich in das intellectuelle, für welches sie als blosse Zeichen die Aufmerksamkeit auf das von ihnen Bezeichnete lenken; das rein formale Interesse aber findet sich nur dann, wann entweder die Genauigkeit der ersten Auffassung bei dem Erlernen bisher unbekannter Schriftzüge, etwa orientalischer Sprachen, uns beschäftigt, oder kalligraphische Beurtheilungen und Vergleichungen uns von der Bedeutung der Schiftzüge abziehen, und allein auf die grössere oder geringere Gefälligkeit ihrer Form merken lassen. Aus diesem Beispiele lässt sich einerseits eine neue Bestätigung dafür finden, dass das formale Interesse gleichsam in der Mitte schwebt zwischen dem sinnlichen ins Einzelne vertieften, und dem intellectuellen zu grösseren Gedankenverbindungen forteilenden, anderseits dass das formale Interesse entweder ein theoretisches, nur der Erkenntniss gewidmetes seyn kann, wie eben bei der blossen genauen Kenntnissnahme der Schriftzeichen ohne Beziehung auf ihre Farben, ihren sinnlichen Eindruck, und ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung, und ohne Rücksicht auf ihre grössere oder geringere Gefälligkeit, oder dass dasselbe formale Interesse in ein ästhetisches übergehn kann, in welchem wieder ihre Farbe und Bedeutung unbeachtet bleibt, und dagegen nur Missfälliges und Gefälliges aufgesucht und unterschieden wird. […] Sollten wir noch eine Scheidung des ästhetischen Interesses von dem ästhetischen Wohlgefallen auszusprechen haben, so findet sich dieselbe am kürzesten in folgendem Ausdrucke zusammengefasst: das ästhetische Inte resse haftet an einer Form, um die in ihr enthaltenen Contraste nach ihrer Gefälligkeit, Missfälligkeit und Gleichgültigkeit zu beurtheilen; das ästhetische Wohlgefallen ist der Erfolg eines, aus dem ästhetischen Interesse hervorgegangenen Urtheils über die Gefälligkeit eines in einer bestimmt vorliegenden Form enthaltenen Contrastes. Aus dieser Bestimmung des ästhetischen Wohlgefallens lässt sich zunächst diese zweifache Bemerkung
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herleiten, erstlich, dass das reine und wahre ästhetische Wohlgefallen nur erst dann empfunden werden kann, wann ein ästhetisches Urtheil vorausgegangen, und durch dasselbe die contrastirenden Elemente sowohl, als die Eigenthümlichkeit des Contrastes, erkannt worden sind, und daher die ersten, noch so lebhaften, Aufregungen, in welche ein ästhetischer Gegenstand uns versetzen kann, so lange nicht für ein ästhetisches Wohlgefallen gelten dürfen, wie lange jene deutliche Erkenntniss noch nicht vorhanden ist; zweitens, dass das ästhetische Wohlgefallen keinen Zusatz aus dem Objectiven der interessanten Form zu dem ästhetischen Interesse, sondern nur einen Zusatz zur Auffassung derselben enthält. Dadurch unterscheidet es sich bedeutend von dem sinnlichen Wohlgefallen, und auch von dem intellectuellen. Das Angenehme der Sinnesauffassungen ist nämlich ein im Gegenstande selbst vorhandener Zusatz zu dem Inhalte der Vorstellungen, in dem Rosendufte, in der sanften Frühlingswärme, ist etwas, uns freilich nicht allein Erkennbares, gleich mit enthalten, was unsere Sinne mit dem angenehmen Gefühle berührt, es ist ein objectiver Zusatz zu den übrigen Merkmalen des Rosenduftes, unter denen wir ihn in unserer Vorstellung denken, es hängt nicht von unserer Auffassungsweise ab, ob wir ihn angenehm finden sollen oder nicht; ohne diesen objectiven Zusatz würde er uns vielleicht nur interessirt haben vor anderen Geruchsempfindungen. Das intellectuelle Wohlgefallen hat ebenfalls seinen Quell in einem Zusatze, welcher zu der interessanten Vorstellung, ausser derselben her, hinzukommt, nämlich von den in leichten Fluss gerathenden, durch jene interessante Vorstellung angeregten Vorstellungsreihen, wie wir kurz vorher ausgesprochen hörten. Bei dem ästhetischen Wohlgefallen aber tritt zu der, mit ästhetischem Interesse betrachteten Form weder Etwas von Aussen her hinzu, noch Etwas von Innen her, sondern in der Form, für sich allein genommen, liegt der, das ästhetische Wohlgefallen erweckende Contrast schon enthalten, und das blosse Interesse geht nur dadurch über in das Wohlgefallen, dass die Auffassung sich mehr vertiefend in das Innere der Form, scharf den Contrast der Bestandtheile noch zu dem Gedankeninhalte derselben hinzufügt.
11. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) §. 121. Vorstellungen, zwischen welchen keine Disharmonie herrscht, sind als solche correct. Die Form, welche dadurch entsteht, dass die Disharmonie vermieden wird, gleichviel durch welche Mittel, ist die Correctheit. Aus dem Vorigen geht schon hervor, dass sie nicht anders als künstlich, den Vorstellungen aufgedrängt, nicht aus ihnen entsprungen sein könne. Wo disharmonirende Vorstellungen gegeben sind, sind sie als solche gegeben. Das Identi-
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sche in ihren Qualitäten erlaubt nicht, dass sie sich von einander trennen, das Entgegengesetzte in denselben duldet nicht, dass sie beisammen bleiben. Also bleibt nichts übrig, als sie zu verändern. Da sie sich aber als im vollendeten Vorstellen gegebene nicht ändern lassen, so können sie nur ignorirt und andere für sie erdacht werden, durch welche das Missfallen aufhört. §. 122. Auffallende Beispiele liefern die Trachten und Moden. Nichts kann disharmonischer sein, als das römische Costume und die gepuderte Frisur. Gleichwol hat der Franzose des 18 Jahrh. vermocht, beides zwar nicht harmonisch aber doch correct, d. h. nicht disharmonisch zu finden. Dieses wäre unmöglich, wenn er an die Stelle des gegebenen, d. i. des eigentlichen Inhalts der Formglieder nicht einen seinerseits gemachten scheinbaren untergelegt hätte. Eine bei Einsicht in den wahren Vorstellungsinhalt einleuchtende Disharmonie ist bei einem künstlich gemachten und unterschobenen Vorstellungsinhalt keine solche mehr. Woher diese Unterschiebung stamme, ob aus Gewohnheit, Erziehung, Stumpfheit der Sinne, wie denn z. B. für die Ohren mancher Völker Septimen und Sekunden nicht disharmonisch klingen1, und für die Augen des Bauers nach dem Sprichwort blau und roth keine hässliche Farbenzusammenstellung ist, diese Frage liegt über das Gebiet der Aesthetik hinaus. Es ist hier ein reiches Feld für physiologische, culturhistorische und ethnographische Untersuchungen. Die Einmischung des individuellen Vorstellungskreises des Subjects öffnet der Wandelbarkeit des Geduldeten in Sachen des Geschmacks einen weiten Spielraum. §. 123. Die Correctheit, da sie auf künstlicher Fixirung des Vorstellungsinhalts beruht, wechselt, wenn diese sich ändert. Jeder Vorstellungsinhalt, der um Disharmonie zu meiden, an die Stelle des gegebenen gesetzt wird, ist darum nur so lange und für den gut als er und für wen er diesen Zweck erfüllt; von dem Augenblicke an, wo dies nicht mehr der Fall ist, verliert er, für Alle, für die er es nicht thut, hat er nie eine Bedeutung. Der Inhalt der Regel der Correctheit hat, da er aus dem individuellen, nationalen, historischen Subjecte stammt, auch nur für dasjenige Subject Bedeutung, aus dem er stammt. §. 124. Der zur Vermeidung des Missfallens unterschobene Vorstellungs inhalt ist als solcher positiv, eine festgesetzte Schranke des Vorstellens. Sobald das Subject denselben zurücknimmt, kehrt das ursprüngliche Missfallen 1 Vgl. Helmholtz a. a. O. S. 345 [= Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Braunschweig 1863]. „Es ist ein historisches Faktum, dass die Grenze zwischen consonanten und dissonanten Intervallen nicht immer dieselbe gewesen ist. Die Griechen z. B. haben immer die Terz als dissonant bezeichnet.“
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wieder. Da zur ursprünglichen Disharmonie beide Formglieder durch ihren Inhalt beigetragen haben, so trägt auch jetzt der für beide eigentliche unterschobene scheinbare Inhalt gleichmässig zur Vermeidung des Missfallens bei. Mag der Inhalt welcher von beiden Vorstellungen immer vom Subjecte zurückgenommen werden, die ursprüngliche Disharmonie und mit ihr das Missfallen tritt wieder hervor. Das Subject verletzt durch die Rücknahme die Regel, die es sich selbst vorgeschrieben hat, und ladet dadurch das Missfallen auf sich, welches scheinbar auf den an der Stelle des zurückgenommenen wieder auftauchenden ursprünglich gegebenen Vorstellungsinhalt fällt. Dieser erscheint missfällig, nicht weil er ursprünglich disharmonisch war, sondern, weil er den zur Vermeidung des Missfallens vorgestellten Inhalt aufhebt. Dieses Missfallen äussert sich im Versuch der Zurückweisung des ursprünglichen, der Wiederherstellung des an seine Stelle gesetzten Vorstellungsinhalts. §. 125. Jeder Verletzung einer Regel der Correctheit folgt Missfallen. Die Wiederaufnahme einer verbotenen Vorstellungsweise ist als solche missfällig. Auf den concreten Inhalt weder der wiederaufgenommenen, noch der an ihre Stelle gesetzten Vorstellung kommt es dabei gar nicht an. Was Ursache wird, dass die missfällige Disharmonie wieder hervortrete, wird dadurch selbst missfällig. Hat man sich einmal daran gewöhnt, gewisse Disharmonien nicht disharmonisch zu finden, so wird derjenige zu unserem Feind, der diese Disharmonie schonungslos aufdeckt. Die Form der Correctheit ist ein Schleier, den wir über das gegebene Disharmonische breiten. Wehe dem, der ihn zerreist! §. 126. Es wird ihm nicht zur Entschuldigung dienen, dass er durch Vernichtung des künstlichen Scheins, des Nichtmissfallens, das ursprünglich gegebene Sein, wenn gleich ein missfälliges, herstelle. Nicht, dass durch Verletzung der festgestellten Schranken Missfälliges wieder zum Vorschein kommt, dass er die Schranke verletzt, ist das Missfällige. Vergebens wäre daher die Ausflucht, dass er bloss zur Herstellung der Wahrheit die von ihm selbst gesetzte Richtschnur zurückgenommen habe. Jener Zweck selbst als wohlgefälliger gedacht, könnte doch über die Missfälligkeit des Mittels nicht verblenden. §. 127. Ist er aber auch wohlgefällig? Das Subject hat zur Vermeidung des Missfallens an die Stelle des Disharmonirenden einen Vorstellungsinhalt geschoben, welcher nicht mehr missfällt. Dieser untergelegte nimmt die Stelle des wahren ein, er gilt für den wahren. Aber er ist es nicht. Das Subject überredet sich selbst, dass dieser bloss scheinbare der eigentliche Inhalt, das Gemachte das Gegebene sei. Es setzt Schein für Sein und beurtheilt den Schein als ob er Wahrheit wäre.
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§. 128. Man braucht diesen Vorgang nur rein im Denken abzubilden, um zu erfahren, dass das Missfallen an demselben hervorspringe. Im vollendeten Vorstellen, wie es dem Wesen der ästhetischen Betrachtung entspricht, herrscht der eigentliche Inhalt der Vorstellungen, wie er nun einmal gegeben ist, ohne Einmischung des Subjects. Es wird im Subject vorgestellt, nicht aus dem Subject. Dieser Zustand wird durch die Unterschiebung eines Vorstellungsinhalts aus dem Subject, gleichviel wie er beschaffen sei, eines gemachten an der Statt des gegebenen gestört. An die Stelle des ursprünglichen ist durch die Schuld des unterschiebenden Subjects ein anderer getreten, Schein für Sein ausgegeben. Diese Ersetzung des ursprünglichen, natürlichen, durch einen künstlich herbeigeführten Zustand missfällt, und zwar unbedingt, wie das Quale des Ursprünglichen und des Herbeigeführten sonst immer geartet sei. Das Missfallen aber springt auf denjenigen zurück, der die Störung veranlasst hat. Urheber derselben ist das unterschiebende Subject. §. 129. Verglichen wird hier der ursprüngliche mit dem herbeigeführten, der gegebene mit dem gemachten Zustand. Den gegebenen Vorstellungen ist ein Inhalt als der ihre nnterlegt [sic], der ihnen nicht gehört. Das Missfallen daran hört nicht eher auf, als bis der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt, an die Stelle des gemachten wieder der gegebene Vorstellungsinhalt getreten ist. So weit der künstliche Schein sich als gegebenes Sein vorgedrängt hat, soweit muss er auch wieder zurückgedrängt werden. Die hieraus entspringende ästhetische Form ist die der Ausgleichung. §. 130. Mit der Form des Correcten hat sie gemein, dass sie auf einem ursprünglichen Missfallen beruht, und dass sie Missfälliges vermeidet. Die Geltung des Scheins für Sein missfällt; die Wiederherstellung des Seins durch Nachweisung des Scheins als Schein gefällt nicht, aber das Missfallen hört auf. Der ursprünglich gegebene Vorstellungsinhalt wird an die Stelle des gemachten, der seinen Platz ursupirt hat, restituirt. §. 131. Durch Wen? Darüber ist in der Form der Ausgleichung nichts ausgesprochen. Die Geltung des Scheins für Sein missfällt und damit auch der Urheber dieser Geltung, das unterschiebende Subject. Wenn nun der gegebene Inhalt wieder an die Stelle des gemachten tritt, so hört das Missfallen auf, gleichviel, wie, wodurch und durch wen diese Herstellung des status quo ante bewirkt sein mag. Das Subject, welches den scheinbaren an die Stelle des wahren Vorstellungsinhalts schob, und so Urheber des Missfallens an der Geltung des Scheins geworden ist, kann sich selbst eines besseren besinnen; es kann die Geltung des Scheins zurücknehmen, ihn selbst für ungiltig erklären und den gegebenen Vorstellungsinhalt wieder in sein Recht einsetzen, d. h. es kann, wie es in das vollendete Vorstellen, in’s Object, sich eindrängte,
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sich auch wieder aus demselben zurückziehn. Oder es kann zur Zurücknahme jenes von ihm künstlich componirten Vorstellungsinhalts gezwungen werden, indem der für Sein ausgegebene Schein als solcher scheitert, seine blosse Scheinbarkeit offenkundig, seine Geltung unhaltbar wird, und durch diese Selbstzernichtung des künstlichen der wahre Vorstellungsinhalt wieder im Vorstellen Raum gewinnt. Im ersten Fall hebt das Subject den Schein auf; im letzteren hebt er sich selbst auf. In beiden Fällen herrscht Bewegung; im ersten des Subjects vom gemachten wieder zum ursprünglich gegeben gewesenen Vorstellungsinhalt, im zweiten des Vorstellungsinhalts aus Schein zum Sein zurück. §. 132. In jenem Fall erscheint das Subject, in diesem der Schein selbst als Thätiges. Das sich besinnende Subject nimmt sein Machwerk zurück; der im vollendeten Vorstellen gegebene zwingt den erkünstelten Vorstellungsinhalt zurückzuweichen. Das Subject ist dort, hier scheint der gegebene Vorstellungsinhalt selbst lebendig. §. 133. Drei Momente sind in beiden Fällen an der Bewegung zu erkennen. Der erste der gegebene Vorstellungsinhalt vor, der zweite der erkünstelte nach der Unterschiebung, der dritte die Wiederherstellung des gegebenen nach Auflösung des Scheines. Da die objective Qualität des gegebenen Vorstellungsinhalts unwandelbar ist, so kann alle Veränderung desselben nur eine scheinbare sein; der Process der Wiederherstellung ist dem Wesen nach nur eine Selbsterhaltung des im vollendeten Vorstellen Gegebenen. Ein wirklicher Fortschritt findet nicht statt; der Vorgang der Ausgleichung ist nur der Rückschritt zum Gewesenen, nur zum Schein Aufgehobenen, Wiederhellwerden des Verdunkelten, nicht neues Licht. §. 134. Mit der Herstellung des Ursprünglichen, in Wahrheit nie Vernichteten, ist die Bewegung zu Ende. Der Schein des Lebens erlischt; weder das Subject noch der Vorstellungsinhalt bieten mehr das Bild eines Thätigen dar. Das Subject hat sich mit dem im vollendeten Vorstellen gegebenen Object in einen Kampf eingelassen, aus dem das letztere siegreich zurückgekehrt ist. Alles ist wieder wie es war, nicht besser, nicht schlechter. Die versuchte Störung ist abgewehrt; ein gesuchtes Ziel ist überhaupt noch nicht vorhanden. §. 135. In der Form der Correctheit ward vom Subject an die Stelle eines disharmonischen gegebenen, ein künstlicher Vorstellungsinhalt gesetzt, welcher das Missfallen beseitigte. In der Form der Ausgleichung ergibt sich die Missfälligkeit dieser Unterschiebung des Gemachten für das Gegebene und wird dessen Zurücknahme gefordert. Darin liegt der Grund, warum alle erkünstelte Correctheit schon um deswillen Missbilligung erfahren muss, und
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beständig ein Streben nach ihrer Aufhebung sich fühlbar macht. Zwischen den Formen der Correctheit und der Ausgleichung muss unaufhörlicher Conflict herrschen. Jeder von jener an der Stelle des gegebenen disharmonischen fixirte Vorstellungsinhalt fordert das Missfallen der Form der Ausgleichung heraus, die lieber die offene Kluft als die nur scheinbare Ebene mag. […] §. 139. Diese Auffassung verändert sich, wie man die Qualität des Wiederhergestellten in’s Auge fasst. Ist dasselbe harmonisch, so erscheint der Bewegungsprocess nicht sowohl auf Wiederherstellung allein, als auf das Harmonische gerichtet, welches dieselbe zurücklässt. Das Residuum des Processes wird zum Ziel des Processes. Bei disharmonischer Beschaffenheit des Wiederhergestellten ist es derselbe Fall. Da nun das Wiederhergestellte, aus der Verdunkelung hervorgetreten, stärker gefällt und missfällt, als ohne dieselbe, weil es den Kampf mit dem Subject zugleich siegreich bestanden hat, so stellt die Erhöhung des Gefallens und Missfallens als Zweck sich dar, zu welchem die zeitweise Verdunkelung durch den Schein des Gegentheils als zweckmässiges Mittel dient. Die Veranstaltung des Scheines aber wirft den Schein der Verständigkeit auf die veranstaltende Urheberschaft zurück; der Schein der Lebendigkeit, welchen die Form der Ausgleichung erzeugte, verwandelt sich in den einer verständigen Beseeltheit. […] §. 143. Der Process der Ausgleichung ist Rückschritt zu dem bereits Gewesenen, der Process der Geistigkeit Fortschritt zur Setzung eines Neuen, noch nicht Gewesenen. Jene sucht Wiederherstellung, wenn der Schein statt des Seins gesetzt worden; die Geistigkeit setzt den Schein, damit nach der Ausgleichung das Sein als Residuum zurückbleibe. Die absolut beifällige Geistigkeit setzt den Schein um des harmonischen, die absolut missfällige setzt ihn um des disharmonischen Restes willen. §. 144. Dort ist Fortschritt zur Harmonie, hier zur Disharmonie. Aber der letztere zerstört sich selbst. Der Geist, der den Schein um des Disharmonischen willen setzt, ist dem absoluten Missfallen unaufhörlich ausgesetzt. Der Process der Ausgleichung zwar ist zu Ende und das Missfallen geschwunden, welches die Geltung des Scheins für Wahrheit trifft; aber das neue Missfallen welches der Disharmonie gilt, ist eingetreten. Der Zweck der Setzung zwar ist erreicht; dieser selbst ist jedoch keiner, bei dem die Bewegung stehen bleiben kann, solange sie als Geistigkeit die Stimme des ästhetischen Urtheils zu vernehmen fähig ist. Zwar ist dasselbe keine Macht und vermag weder zu befehlen noch zu zwingen; aber es hat auch von Niemanden, wer es auch sei, Befehle anzunehmen oder Gewalt zu leiden. Das vollendete Vorstellen wird immerfort dasselbe
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Urtheil des Lobes und Tadels im Gefolge haben, und wer ihm beharrlich zuwiderhandelt, die Ruhe desjenigen geniessen, der unter dem überhängenden Felsen zu schlafen versucht. §. 145. Nur der Abschluss im absolut Beifälligen ist wahrer Abschluss. So entsteht aus den allgemeinen Formen der Ausgleichung und des Fortschritts die des abschliessenden Ausgleichs. Jene für sich entfernt nur das Missfallen; diese für sich kann sowohl zu beifälligem wie missfälligem Ende führen. Nur der abschliessende d. i. zu einem beifälligen Ziel führende und zugleich das Missfallen an der Geltung des Scheins aufhebende Ausgleich gibt der Bewegung das Gepräge harmonischer Geistigkeit. […] §. 174. Wie es geschehe, dass das Subject seinen künstlichen an die Stelle des gegebenen Vorstellungsinhalts setzt, hat nicht die Aesthetik zu erläutern. Psychologie, Culturgeschichte, Ethnographie müssen die Antwort geben. Die Absonderung „aller Privatgefühle,“ wie Kant sie fordert, ist leichter verlangt als geleistet. Jene Frage ist eng verknüpft mit dem ganzen Umfang dessen, was in die individuelle Gemüthslage des Subjectes fällt. Wir meinen hier nicht bloss den Einzelnen, auch den Stand, die Nation, das Zeitalter. Wenigen ist es gegeben, sich über die Schranken, die ihnen Erziehung, Gewöhnung, Lektüre und Autoritätsglaube vom Affect des Moments, von Begierde und Vorurtheil noch abgesehen, auferlegt, in den reinen Aether des „subjectlosen vollendeten Vorstellens“ zu erheben. Denken wir darum nicht zu gering von Denjenigen, die sich in das Aufgeben des angeerbten Geschmacksgesetzes nicht im Handumkehren finden können, wenn sie die Reinheit ihres vorhandenen Vorstellens nicht um die vielleicht zweifelhafte Richtigkeit eines sich darbietenden vertauschen mögen. Nicht bloss die Furcht des Missfälligen, es ist zugleich die Furcht der Zerstörung des Beifälligen, eines Systems, das sie daran hindert. §. 175. Indem die Form der Correctheit das ganze vorgestellte Bild, ja dasselbe Geschmacksgesetz den gesammten ästhetischen Vorstellungskreis des Subjects beherrscht, dient beides als Band, welches sämmtliche Theile des ersten wie des zweiten unter sich verknüpft, entsteht ein System und zwar, da dasselbe sich auf Formen bezieht und eine Form durchführt, ein Formensystem, da diese ästhetische sind, ein ästhetisches Formensystem. Die Herrschaft der Form der Correctheit drückt nicht nur allen Formen das Siegel, die Herrschaft eines bestimmten positiven Geschmacksgesetzes drückt sämmtlichen Formen ein bestimmtes sich gleichbleibendes Gepräge auf. Wir unterscheiden genau, was unter der Herrschaft des Geschmacks der Zeit Ludwigs XIV. oder des ersten Kaiserreichs, was unter der römischen oder byzantinischen Kaiserzeit, was unter dem Einflusse der Normannen oder der Antike entstan-
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den ist. Ein Hellene hätte es unpassend gefunden, schwere Oberwände auf die zerbrechlich scheinenden Stützen dünner Säulchen zu lasten, das normännische Auge nahm daran keinen Anstoss. Wenn es dagegen der Grieche ganz in der Ordnung fand, dass das Weib eine dem Manne untergeordnete Rolle spiele, so hob der ritterliche Sinn des Mittelalters dasselbe weit über den Mann empor. Wir erkennen darin die Verschiedenheit herrschender Geschmackssysteme. […] §. 178. Wie der Form der Correctheit das System der Reinheit, so entspricht der Form der Ausgleichung das System der freien Bewegtheit. Wo an der Stelle des Seins der Schein sich geltend gemacht hat, da erzeugt das daraus entstehende unvermeidliche Missfallen eine Rückbewegung vom Schein zum Sein. Wo dies in grösserem Masse in einem reich zusammengesetzten Bilde oder wol gar in dem gesammten Vorstellungskreise statthat, da wirkt die künstliche Scheinmasse des Vorstellens, die an die Stelle des gegebenen bewegt worden ist, diesem entgegen und erzeugt durch das Missfallen, das ihre Geltung hervorruft, die Rückbewegung zum Gegebenen. So findet im ganzen Umkreis des Bildes zuerst ein Fortgang vom Gegebenen zum Gemachten, sodann ein Rückgang von diesem zum ursprünglich Gegebenen statt. Dadurch kommt Leben in’s Vorstellen. Die Vorstellung begnügt sich nicht mit dem gegebenen Inhalt, sie ruft einen andern hervor, der für diesen steht, um ihn sodann durch diesen selbst wieder ablösen zu lassen. Der Erfolg ist der gleiche, aber der Weg ist ein Umweg. Vom Object zum Subject, von diesem wieder zum Object. Das Affirmirte wird negirt, um es durch Negation des Negirten wieder zu affimiren. Das im vollendeten Vorstellen gegebene Object verharrt nicht, sondern es ruft die Einmischung des Subjects herbei, um sie sodann wieder siegreich, um nicht zu sagen spöttisch, abzulehnen. Das im vollendeten Vorstellen Gegebene kann nicht, wol aber kann das vollendete Vorstellen verloren gehen, aber nur um am Schluss wieder gefunden zu werden. Durch dieses Herbeiziehen des Subjects, wenn gleich nur in neckender Weise, wird die Form der Bewegtheit vorzugsweise anregend. Das seiner selbst gewisse Gegebene treibt mit dem individuellen Subject sein Spiel, lässt sich von ihm einen Inhalt geben, um ihm schliesslich denselben ins Gesicht zu werfen. Schatten verdunkeln das Licht und es strahlt dann von Neuem. §. 179. Diese Bewegtheit von Vorgang und Rückgang erzeugt in der Form der Ausgleichung den Schein der Lebendigkeit und je nachdem die Ursache der Bewegung in das bewegende und sich besinnende Subject oder in das den Schein setzende und wieder aufhebende Gegebene verlegt wird, den der trancendenten oder immanenten Beseeltheit. Das im vollendeten Vorstellen vorschwebende Bild gewinnt Leben und Seele, das trancendente den Schein producirende Subject legt Leben und Seele hinein. Es entsteht ein ruhlo-
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ser Wechsel von gesetztem und wieder aufgehobenem Sein, ein Process der stets beginnt und wieder erlischt, eine Parforcejagd des Scheins, eine Hetze des Vorstellens. […] §. 181. Die Herrschaft der Form der Ausgleichung duldet keine Geltung blossen Scheins. Wo sich ein solcher zeigt, sei er nun scheinbare Harmonie oder Disharmonie, wird er vernichtet, seine Geltung aufgehoben. Dadurch werden geheime Harmonieen, aber auch Disharmonieen, die bisher verborgen waren, blossgelegt. Wo es nun bei diesen bliebe, da wäre zwar das Missfallen an der Störung durch den Schein behoben, aber das Missfallen an der Disharmonie bestünde fort. Sollte auch dieses behoben werden, so müsste an die Stelle jener Disharmonieen schliesslich Harmonie treten, d. h. es müsste ausser der Ausgleichung auch noch Einklang erzielt werden. Und zwar, da nach der Voraussetzung alle Theile des ästhetische Formen annehmenden Stoffes überhaupt vergleichbar sein müssen, durchgängiger Einklang, bei welchem das Disharmonische höchstens als Durchgangsphase aufträte, d. h. die Ausgleichung müsste schliesslich überall auf Harmonisches führen, d. h. Bewegung zur Harmonie, harmonische Ausgleichung sein, ihr Geist entweder ein Geist der Harmonie oder harmonischer Geist. §. 182. In der Form der Ausgleichung liegt Nothwendigkeit der Fortbewegung. Beim Schein kann es nicht bleiben, er muss als missfällig aufgehoben werden. In der Form der harmonischen Ausgleichung liegt die Freiheit der Fortbewegung. Nicht zu der ursprünglich gegebenen Harmonie muss zurückgekehrt, es soll nur überhaupt Harmonie erreicht werden. Die Ausgleichung ist gebunden an das Gegebene, die harmonische Ausgleichung nur an das Harmonische. Jene ist Rückschritt zu demjenigen Vorstellungsinhalte, von welchem ursprünglich ausgegangen und an dessen Stelle ein Schein, ein anderer gesetzt worden. Die harmonische Ausgleichung ist zwar insofern der gegebene Vorstellungsinhalt Harmonie war, gleichfalls gebunden, denn sie muss wieder zur Harmonie führen, aber sie muss nicht zu jener concreten Harmonie führen, die ursprünglich gegeben war, sie ist nicht dem Stoff nach, wie die Ausgleichung, sondern nur der Form nach gebunden, dem Stoff nach frei. §. 183. Dies erhellt aus Folgendem. Dass Schein für Sein ausgegeben wird, ist missfällig, gleichviel was für Schein es sei. So lautet das Verdict der Form der Ausgleichung. So weit der Schein sich vorgedrängt hat, so weit muss er zurückgedrängt werden, damit das Frühere wieder hervortrete. Richtung und Ziel der Bewegung ist genau vorgezeichnet. Jene ist der Vorwärtsbewegung des Scheins entgegengesetzt, dieses die Herstellung des Status quo ante ohne Schmälerung. Es wird nichts erzeugt, nur hergestellt, dem Stoff und der Form nach, wenn es eine solche gab. Die harmonische Ausgleichung will
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nur Harmonie herstellen. Es ist ihr gleichgiltig, ob diese sich am selben Stoffe finde, wo sie vorher war. Ihr genügt die beifällige Form. Ihr Zweck wird daher durch Wiederherstellung der Form auch im andern Stoff erreicht, jener der Ausgleichung nur durch Herstellung des Frühern nach Form und Stoff. Ihre Richtung und ihr Ziel ist ihr vorgezeichnet wie der Ausgleichung, aber da ihr Ziel nicht rückwärts im Status quo ante liegen muss, sondern auch vorwärts in einem Status post liegen kann, wenn seine Form nur dieselbe ist wie jene ante, so muss auch ihre Richtung nicht die dem Vorwärtsdrängen des Scheins entgegengesetzte, sondern kann selbst eine nach vorwärts, wo ihr Ziel liegt, gerichtete sein, d. h. sie ist Fortschritt zum (dem Stoff nach wenigstens) Neuen.
12. Theodor Vogt: Form und Gehalt in der Aesthetik (1865) Theoretische Auffassung und praktische Werthschätzung haben es, die eine mit einem Sein, die andere mit einem Seinsollen zu thun. Die erstere läßt uns gleichgiltig, die zweite bringt uns ein Vorziehen oder Verwerfen ab. Die theoretische Auffassung nämlich frägt nach dem, was ist, also dem Seienden überhaupt, seinen bleibenden oder wechselnden Eigenschaften, nach den Ursachen und Gesetzen dieses Wechsels u. s. w.; die praktische Werthschätzung dagegen geht gar nicht auf das Seiende als solches, sondern auf die Art des Zusammenhanges mehrerer Seienden oder ihrer bloßen Bilder, um aus ihrer Verbindung ein Urtheil herleiten zu können. Die theoretische Auffassung geht von dem empirisch Gegebenen aus und die Veränderung, Berichtigung, Erweiterung der Erkenntniß desselben durch klare und deutliche Begriffe zu einem zusammenhängenden, geordneten und in sich einstimmigen Ganzen ist der Beruf und die Aufgabe der theoretischen Philosophie; die praktische Philosophie dagegen findet ihren Beruf darin, solche gegebene Urtheile, die ein Vorziehen oder Verwerfen aussprechen, zu berichtigen. Bei beiden also ist der Ausgangspunkt das empirisch Gegebene, welches für uns unzweifelhaft gewiß ist; auch wollen beide dies Gegebene berichtigen, aber das Ziel der Berichtigung beider ist verschieden. Die eine gelangt nämlich zu einem System von Begriffen, die andere zu richtigen Urtheilen; bei jenem schwebt uns das Bild dessen vor, was wirklich ist, bei diesem eine Norm, wie es wirklich sein soll; bei jenem finden wir Beruhigung, in diesen eine Forderung. Die weitere Ausführung der theoretischen Auffassung, namentlich hinsichtlich der Grundbegriffe, gehört in die Metaphysik, in welcher ausführlich dargelegt wird, wie man vom unzweifelhaft Gegebenen ausgehend, durch einen nothwendigen Fortschritt, d. h. einen solchen, zu welchem das Gege-
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bene selbst treibt, zu jenen klaren und deutlichen Begriffen gelangt, die ein wahrhaftes Bild des Seienden sind. Für die praktischen Urtheile ist es, wenn wir von den allen geläufigen Urtheilen des verschiedenen Vorziehens und Verwerfens ausgehen, eine nothwendige Bedingung, daß sich das Subject des Urtheils von dem Prädicate begrifflich sondern lasse und auch einer theoretischen Auffassung zugänglich sei. Nur dadurch gewinnt die Untersuchung eine objective Grundlage und einen wirklich wissenschaftlichen Werth; nur dadurch werden die Unterschiede des Angenehmen und Unangenehmen als lediglich subjective und jedes objectiven Halts entbehrende abgewiesen. Wie muß aber dieses Subject beschaffen sein, damit sich unwillkürlich eine Aussage des Werthes an dasselbe heften könne? Die Frage deutet schon darauf hin, man solle nicht in dem Subject als solchem, sondern in der Art seiner Erscheinung den Grund davon suchen. Herbart […] gelangt durch Anwendung der Methode der Beziehungen […] zu dem Resultate, daß die Form, nicht der Gegenstand das ästhetische Wohlgefallen oder Mißfallen begründe. Damit nämlich das Gleichgiltige ein Wohlgefälliges werde, muß es durch ein Anderes ergänzt werden. Dieses Andere, für sich allein aufgefaßt, ist aber wieder gleichgiltig. Wenn also jedes einzeln aufgefaßt kein Werthurtheil begründen kann, so bleibt als Grund des letzteren nur das Zusammen beider übrig. Dieses Zusammen zweier, in ihrer Vereinzelnung gleichgiltiger Glieder, d. h. die Art ihrer Verbindung, oder wie Herbart sagt, Verhältnisse sind es, welche das Werthurtheil hervorspringen machen. Nennt man die Art dieser Verbindung zweier an sich gleichgiltiger Glieder ihre Form, so kann die Aesthetik im Allgemeinen nur Formwissenschaft sein. Das Wie ist freilich an ein Was geknüpft, aber deshalb hat das letztere keinen Theil an der Bestimmung des Werthes, vielmehr hängt der letztere lediglich von der Art der Verknüpfung ab, mögen die Glieder etwas Wirkliches oder blos Vorgestelltes sein. Wer auf das Was der Verknüpfung das Hauptgewicht legen würde, der bliebe in der theoretischen Betrachtung stecken und könnte zu einem Urtheile des Werthes gar nicht gelangen. Diejenigen Verhältnisse nun, welche ursprünglich und unmittelbar ein Wohlgefallen oder Mißfallen hervorrufen, nennt man ästhetische Elemente, durch deren vollständige Aufzählung der Aesthetik eine feste Basis geschaffen wird. Was der theoretischen Auffassung dabei unterliegt, sind die einzelnen Elemente eines ästhetischen Verhältnisses, die man den Stoff desselben nennen kann. Darunter ist hier lediglich das Was in dem Sinne verstanden, als es Glied eines Verhältnisses ist. Man kann aber auch noch in einem ganz anderen Sinne vom Stoffe reden, welcher zum Theil der theoretischen Betrachtung unterliegt. Dies ist der Stoff, welcher einem bestimmten Werke der Kunst, der Natur oder blos der Phantasie zum Objecte dient. In diesen Werken findet sich ein ganzes System von jenen Elementarverhältnissen. Das-
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selbe Wohlgefällige, welches sich dort an Elementen allein geltend machte, zeigt sich hier an ganzen Gesellungen von Elementen. Eine solche Gesellung einer Menge von Elementen zeigt jeder Organismus; aber das, was ihn zu diesem bestimmten Organismus macht, ist seine innere Zweckmäßigkeit, d. h. eine Verbindung von mehreren Zwecken. Die Betrachtung der Werke der Natur oder Kunst hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit ist aber keine ästhetische, d. h. es kann die Art der Verbindung der Elemente wie immer beschaffen sein, gleichgiltig, schön oder häßlich, wenn nur der bestimmte Zweck erreicht wird. Also unterliegt das Werk der Natur oder Kunst, wenn wir es lediglich als System von Zwecken betrachten, nur der theoretischen Auffassung und es kann nur dann zugleich der ästhetischen Beurtheilung unterworfen werden, wenn sich an diesem System von Zwecken, gleichsam dem Gerüste, eine Fülle ästhetischer Elemente offenbart. […] Von diesen wurde gesagt, daß sie Verhältnisse darstellen, in welchen das absolute Wohlgefallen oder Mißfallen in seiner primitivsten Form sich kundgebe; aber Verhältnisse gibt es viele und mannigfache, so daß sich leicht die Frage aufdrängt: Ob es nicht möglich sei, die ästhetischen Verhältnisse durch einen wissenschaftlichen Ausdruck näher zu bezeichnen, so daß diese dadurch von allen anderen geschieden erscheinen? Vorerst ist auf eine Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks aufmerksam zu machen, hinsichtlich des „Elementes“ und des „ästhetischen Elementes.“ Bei Herbart selbst ist mit „Element“ bald ein „ästhetisches Element“, d. h. ein Verhältniß gemeint, dem als dem Subjecte ein Prädicat des Wohlgefallens oder Mißfallens zukommt, bald ein an sich gleichgiltiges Verhältnißglied. Im „Lehrbuche zur Einleitung in die Philosophie“ […] heißt es: „Alle einfachen Elemente, welche die allgemeine Aesthetik nachzuweisen hat, können nur Verhältnisse sein, denn das völlig Einfache ist gleichgiltig, d. h. weder gefallend noch mißfallend.“ Dagegen in der „allgemeinen praktischen Philosophie“ […] heißt es: „Diejenigen Urtheile, die unter dem Ausdrucke Geschmack begriffen zu werden pflegen, sind Effecte des vollendeten Vorstellens von Verhältnissen, die durch eine Mehrheit von Elementen gebildet werden. Daß die wahren Elemente nicht gänzlich ungleichartig sein dürfen, sondern im Verhältniß stehen u. s. w.“ Allihn in seinen „Grundlehren der allgemeinen Ethik“ hat nur die letztere Bezeichnung angenommen. Im §. 38 werden die einzelnen Elemente der Auffassung das Material genannt, welche an sich gleichgiltig sind (§. 44) und die Form ist das Verhalten der ästhetischen Elemente zu einander (§. 40). Hier ist sonach unter „ästhetischem Elemente“ nur ein Glied des Verhältnisses verstanden und der Unterschied zwischen „Element“ und „ästhetischem Elemente“ ganz aufgehoben. Es kann kein Zweifel sein, daß die Begriffe deshalb nicht weniger als feststehend gedacht werden sollen, aber durch die Ungenauigkeit der Bezeichnung könnte leicht auch die Auffassung der Begriffe leiden und in fremder Hand müßten
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sie für die Bezeichnung büßen, zumal es so zu sagen das ABC der allgemeinen Aesthetik betrifft. Findet man die Bezeichnung „Verhältnißglied“ zu unbequem und wählt dafür den Ausdruck „Element“, so unterscheide man das letztere wenigstens vom „ästhetischen Elemente“ als einem Verhältnisse. Nun gehört zwar der Versuch, über das Was der einzelnen Elemente etwas anzugeben, der theoretischen Untersuchung an, aber er wird durch die doppelte Rücksicht von großer Wichtigkeit, weil einerseits nur dann, wenn sich ein solches Was überhaupt nachweisen läßt, über das Schöne und Gute in bestimmten Begriffen sich etwas ausmachen läßt, also die Möglichkeit einer Wissenschaft dadurch bedingt wird, welche von dem blos Angenehmen nicht möglich ist […], und anderseits weil es viele andere Verhältnisse in der Mathematik, Chemie u. s. w. gibt, welche kein Prädicat des Wohlgefallens oder Mißfallens hervorrufen, sondern lediglich die theoretische Auffassung interessiren. Daher die Frage entsteht: Welche Merkmale tragen in theoretischer Hinsicht diejenigen Elemente an sich, die als Glieder in Verhältnissen ein Urtheil des Werthes in dem Auffassenden hervorrufen? Herbart gibt darüber […] zweierlei an: 1. daß die Glieder des Verhältnisses nicht disparat sein sollen, 2. daß das Verhältniß nicht als solches durch seinen Exponenten begriffen werden darf. Der erste Punct gibt uns ein directes Merkmal für die einzelnen Elemente, der zweite nur eine indirecte Andeutung. Allihn […] gibt die drei Gesichtspuncte an, daß die einzelnen Elemente nicht disparat, nicht völlig gleich und auch nicht contradictorisch entgegengesetzt sein dürfen. Daraus ergibt sich, daß die Glieder, sollen sie ein ästhetisches Verhältniß bilden, gleichartig sein und in einem bestimmten Gegensatze stehen müssen. Aber diese Merkmale der Gleichartigkeit und des bestimmten Gegensatzes haben auch die mathematischen Verhältnisse von Größen und Zahlen an sich. Es muß also noch ein Merkmal aufgesucht werden, wodurch das ästhetische Verhältniß von dem mathematischen geschieden erscheint. Wenn man nun das letztere näher in’s Auge faßt, so findet man, daß der Vergleich von Größen und Zahlen uns nicht an und für sich interessirt, sondern wieder in Beziehung auf ein anderes Verhältniß, wie bei der Proportion, oder in Beziehung auf eine andere Größe oder Zahl, den Exponenten. Die einzelnen Verhältnißglieder haben ein gemeinschaftliches Maß, welches sich bei commensurablen Größen genau, bei incommensurablen annähernd bestimmen läßt. Größe und Zahl sind also diejenigen Begriffe, auf welche die Betrachtung des mathematischen Verhältnisses führt. Diese sagen aber nichts anderes, als was in den einzelnen Gliedern schon enthalten ist: es sind theoretische Begriffe, die gemessen werden können, d. h. den Begriff des Maßes voraussetzen. Bei den ästhetischen Verhältnissen werden wir aber als Resultat nicht etwas erhalten, was im einzelnen Gliede schon lag, sondern eben in ihrer Gemeinschaft erst entsteht. Die Beziehung auf einen Exponenten würde dasselbe zerstören: daher bei ihm, soll der Bei-
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fall nicht ausbleiben, ein jedes Glied seine eigenthümliche Selbstständigkeit behaupten muß. Mithin enthält ein ästhetisches Verhältniß überhaupt keine Relation, sondern ist absolut. Ueber den theoretischen Charakter der einzelnen Glieder eines ästhetischen Verhältnisses wäre nun soviel gewonnen, daß sie 1. gleichartig sind, 2. in einem bestimmten Gegensatze stehen, und 3. absolut, d. h. ohne Beziehung auf einen anderen theoretischen Begriff sind, durch welchen das ästhetische Verhältniß als solches zerstört würde. Hierbei wäre nur noch zu bemerken, daß das, was in theoretischer Beziehung, d. h. für die einzelnen Glieder absolute Geltung hat, für das praktische Urtheil des Wohlgefallens und Mißfallens allerdings eine Relation der Glieder enthält; denn der Beifall entspringt aus der gegenseitigen Beziehung, er ist gleichsam das geistige Band. Wenn man sich bei einer an zwei feste Enden gehefteten Saite diese Enden als die Glieder denkt, so ist ihr Verbindungsresultat die Spannung, und so wenig in dem einen Ende allein von einer Spannung gesprochen werden kann, ebensowenig von dem Wohlgefallen eines Gliedes, welches aus dem Verhältnisse gerissen ist. Das Resultat eines ästhetischen Verhältnisses ist etwas, was in keinem von beiden Gliedern allein ist, beim mathematischen, was in jedem der Glieder schon enthalten ist. Jenes hängt lediglich von der Gemeinschaft der Glieder, dieses von der besonderen Bedeutung ab, welche jedes einzelne Glied hat. Für dieses ist der Zahlen- oder Größenstoff das Wichtigste, für jenes die Art der Verbindung, d. i. die Form.
13. Hermann Siebeck: Das Wesen der ästhetischen Anschauung (1875) Es fragt sich […] zunächst, welche Verschiedenheiten auf Seiten des Objects in Betracht kommen. 4. An dem gegebenen Objecte unterscheiden wir Stoff und Form. Unter jenem verstehen wir die Summe der Empfindungen resp. der einzelnen Wahrnehmungen und Vorstellungen, die sich an einem Gegebenen vorfinden und nachweisen lassen, ohne Rücksicht weder auf die Art ihrer Zusammen ordnung und gegenseitigen Bedingtheit, noch auf das durch die letztere bestimmte Verhältniß zu andern mehr oder weniger gleichartigen Dingen. Form dagegen ist die bestimmte Art und Weise, wie jener Wahrnehmungsund Vorstellungsinhalt geordnet und dadurch das gegebene Object als ein Ganzes und zugleich Individuelles in seiner unterscheidenden Eigen thümlichkeit vor andern Dingen bestimmt erscheint. Der angegebene Unterschied gilt ebensowohl von concreten Gegenständen der unmittelbaren
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sinnlichen Wahrnehmung, als von denen welche unter den Begriff eines Geschehens, einer Handlung fallen. An einem Metalle z. B. ist die Summe seiner sinnlichen Merkmale der Stoff, die Art hingegen, wie die letzteren in ihrer Zusammenordnung im Raume gerade die specifische Eigenthümlichkeit dieses bestimmten Metalles (z. B. Eisen) constituiren, seine Form. Bei einer geschichtlichen Begebenheit bildet die Summe der einzelnen Ereignisse, ohne Rücksicht auf Succession, causalen Zusammenhang u. dgl. den Stoff; die Form gewinnt man erst zufolge einer solchen Auffassung derselben, durch welche sie in eine gegenseitige innere Bedingtheit zusammengefaßt werden, so daß das Ereigniß als ein in sich geschlossenes Ganzes mit bestimmter Färbung vor dem Betrachter steht. (Von Form in specifisch ästhetischem Sinne ist hier noch nicht die Rede.) Von dem anschauenden Subjecte kann nun entweder lediglich der Stoff oder lediglich die Form oder endlich das Verhältniß von Stoff und Form vorgestellt und dadurch ein Gegenstand des Gefallens werden. […] […] Das Aesthetische. Hier sind Stoff und Form ohne die eben angegebene enge Beziehung, dennoch aber ist eine Gebundenheit der Form an den Stoff (an die gegebenen sinnlichen Einzelheiten) vorhanden. Einerseits nämlich kommt die innere Beschaffenheit des Stoffes gar nicht in Betracht; es wird bei der ästhetischen Betrachtung (z. B. einer Landschaft) nur auf die Oberfläche reflectirt und Form nur in dem Sinne von Gestaltung dieses Aeußeren genommen; daß die betrachteten Gegenstände neben und mit dieser Außenseite auch noch innere Qualitäten haben, wovon die Außenseite erst das letzte Ergebniß ist, fällt uns dabei so lange nicht ein, als die Betrachtung eben rein ästhetisch ist. Andrerseits ist aber doch die Form in jedem einzelnen Falle verschieden, je nach der Natur des Stoffes, welcher gegeben ist. Wenn auch immer nur die Oberfläche in Betracht kommt, so ist doch deren Gliederung und Gestaltung in jedem Falle eine andere und die hiermit gegebene Form ändert sich von selbst mit der Aenderung des Stoffes. Die Form ist also hier auch durch den Stoff bedingt, jedoch nur sofern ihr dieser ein sinnliches Vehikel darbietet, um an seiner Oberfläche zur Realität zu kommen. 6. Beim Organischen ist die Form nichts außer dem Stoffe; sie ist nur der Ausdruck der aus der unmittelbaren Natur der Elemente hervorgehenden Wechselwirkung und mit deren Zusammen von selbst gegeben. Beim Aes thetischen ist der Stoff nichts als der bis zu einem gewissen Grade gleichgültige Träger der Form. Freilich ist er nicht in dem Sinne gleichgültig wie bei dem Sittlichen, wo die Einzelheiten des Stoffes der Idee gegenüber so werthlos werden, daß an ihre Stelle ebenso gut andere treten könnten, wenn sie nur einen concreten Inhalt zu der abstracten sittlichen Idee abgeben; mit dem veränderten Stoffe wird ja auch die ästhetische Form eine andere. Aber
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doch in dem Sinne ist er es, daß seine Qualität nur als Oberfläche in wesentliche Beziehung zu der Form gesetzt wird. Im Organischen haben wir geformten Stoff d. h. eine Form, deren Eigenthümlichkeit sich aus der Natur des sich in ihr zum einheitlichen Wirken zusammenschließenden Stoffes erklärt; im Aesthetischen haben wir ein stoffliches Geformtes, d. h. eine Form, die allerdings an einem Stoffe zu erscheinen hat, aber so, daß der Stoff nur als das sinnliche Vehikel der Form in Betracht kommt, welche neben ihm ein eigenthümliches von ihm unabhängiges Leben zu führen scheint, sofern die innere Qualität seiner Theile für sie nicht vorhanden ist. Beim Organischen (wie auch beim Ethischen) bedingt die Form das Wesen der Sache; beim Aesthetischen ist das (Natur-) Ding als das was es seiner natürlichen Beschaffenheit nach ist, unwesentlich. Die aesthetische Form eines Dinges ist sonach eine wesentlich andere als die welche das Ding zufolge seiner natürlichen Qualität besitzt. […] 28. Woher kommt diese Verschiedenheit und worin ist ihre Möglichkeit begründet? Die Anschauung, so wissen wir, ist die Vorstellung eines Gegenstandes als eines Complexes von Verhältnißgliedern. Die Art dieser Verbindung ist seine Form. Wenn nun eine Mehrheit verschiedener Anschauungen von einem und demselben Gegenstande vorhanden ist, so kann, da der gegebene Stoff derselbe ist, die Verschiedenheit der Auffassung nur in der verschiedenen Art der Verbindung und gegenseitigen Beziehung liegen, welche unter den zu verbindenden Elementen stattfindet. Die Verschiedenheit dieser Verbindung kann aber nur darin begründet sein, daß in der Anschauung die Elemente entweder in andrer Auswahl und Gruppirung, oder in andrer Beziehung zu andern außer dem gegebenen Gegenstande vorhandenen Dingen (bez. Vorstellungen) oder endlich in verschiedener Auffassung ihres Werthes verbunden werden. […] 65. Wo das Geistige in die Erscheinung tritt, bedient es sich eines Sinnlichen als seines Trägers und giebt dadurch diesem Sinnlichen, welches auch ohne den Ausdruck des Geistigen erscheinen könnte, ein besonderes eigenes Gepräge. Es entsteht „eine Verkettung des Geistes mit der äußeren Erscheinung zu einer fixirten Einheit; aber über dieser ruhigeren, unbewegteren Fläche gleitet ein buntes Farbenspiel hin, welches durch mannigfache Strahlenbrechung wandelbarer Geistesthätigkeiten bei deren Aeußerungen an den beweglichen Organen des Leibes sich erzeugt.“ […] So hat ein Sinnliches (etwa der menschliche Arm), welches von innen heraus von einem Geistigen bewegt ist, einen andern Charakter dieser Bewegung, als wenn dieselbe durch äußeren Mechanismus erfolgt. Im ersteren Falle unterscheiden wir: a) das sinnlich-stoffliche Substrat der vom Geiste geleiteten Bewegung, b) den geistigen Ausdruck, welcher in dieser Bewegung liegt. Die Bewegung selbst
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als mit dieser Eigenthümlichkeit ausgestattete Erscheinung stellt sich dar als der Gesammteffect dieser beiden Factoren und jene Eigenthümlichkeit ist also eine Verhältniß-Vorstellung, die hervorgeht aus dem Zusammen eines Sinnlichen mit einem Geistigen, welchem ersteres dient. Man vergleiche das blinde Zucken z. B. des Armes in der Reflexbewegung mit dem in bewußter Absicht geschehenden Heben, Strecken oder Zurückziehen desselben. […] Dasselbe gilt aber für den ruhenden Ausdruck: Der geistige Ausdruck in den Gesichtszügen bekundet sich auch ohne Bewegung derselben. 66. Sonach ist anzuerkennen, daß überall wo ein Geistiges und ein Sinnliches im unmittelbaren Zusammen und organischen Ineinander gegeben sind, so daß der Stoff lediglich zur Kundmachung der Anwesenheit des Geis tes dient, das vorgestellte Object außer demjenigen was an ihm rein sinnliche Erscheinung ist, noch ein bestimmtes Merkmal in unserm Vorstellen absetzt, in welchem sich der eigenthümliche Eindruck des oben bezeichneten Zusammen von Geistigem und Sinnlichem kundgiebt. Wir bezeichnen es als die aus dieser Art des Zusammens von Geistigem und Sinnlichen (G : S) entspringende Verhältniß-Vorstellung (V). Dieses V tritt uns überall entgegen, wo ein beseelter Körper das ihm einwohnende Geistige durch Mienenspiel oder Bewegung oder Handlung zum Ausdruck bringt. In und mit ihm ist das Kundwerden des vergeistigten Stoffes gegeben und dieses eigen thümliche, mit Worten schwer zu beschreibende Merkmal, welches sich als der Exponent der Anwesenheit des Geistes im Stoffe ausweist, wird so gut wie die objectiven, in Worten fixirbaren Vorstellungen ein bestimmter Inhalt des Bewußtseins und kann als solcher auch als appercipirendes Moment für andre Vorstellungen dienen. 67. Dasjenige nun, was bei Gelegenheit des Gegebensein eines beseelten Stoffes jenes Merkmal (V) in der sinnlichen Erscheinung und Bewegung hervorruft, bezeichnet man als Ausdruck, damit andeutend, daß das Aeußere hier die Manifestation eines Inneren ist, und es bildet sich auf Grund der Existenz jener Verhältniß-Vorstellung (V = G : S) eine bestimmte Anschauung von dem Wesentlichen (Eigenthümlichen, Charakteristischen) des geis tigen Ausdrucks im Stoffe, die nun überall als appercipirende Kraft auftritt, wo eine der wesentlichen Eigenthümlichkeiten des im Stoffe erscheinenden Geistigen in den gegebenen Erscheinungen auftaucht. Wo dies der Fall ist d. h. wo wir durch jenes V ein Gegebenes appercipiren, da fassen wir die Erscheinung auf unter dem Gesichtspunkt des beseelten Sinnlichen; das active Moment der Apperception (in diesem Falle also V) braucht hierbei, wie oben gezeigt ist, nicht ausdrücklich neben und außer dem passiven (appercipirten) Gegenstande bewußt zu werden; nur das Resultat, die Auffassung des Gegebenen unter dem bezeichneten Gesichtspunkte kommt zur Bewußtheit. […]
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75. Es bedarf nun an dieser Stelle nur einer kurzen Besinnung auf Vorhergehendes, um uns zu vergewissern, daß wir mit der hier geschilderten Apperception gegebener sinnlicher Objecte durch jenes V = G : S das Wesen der ästhetischen Anschauung bezeichnet haben. […] 76. Aesthetische Anschauung, können wir sagen, ist uns da gegeben, wo ein Sinnliches in der allgemeinen Form des Ausdrucks der erscheinenden Persönlichkeit spielt. […] Sie zieht dem Objecte seine natürliche (organische) Beschaffenheit aus und bewirkt, indem sie an den Eigenschaften der Außenseite jene formale Zweckmäßigkeit percipirt, daß das Object auf Grund dieser seiner Außenseite als ein in sich abgeschlossenes und eine in der äußern Form sich ausprägende Stimmung darstellendes analogon personalitatis erscheint. 77. In dem Wesen der Persönlichkeit liegt es, einen Charakter zu haben. Der Charakter ist das Innere derselben, welches als solches nicht äußerlich sinnlich werden kann. Die Eigenthümlichkeit des Charakters ist immer eine individuelle; er ist für jeden gegebenen Fall ein Unicum, die Einheitlichkeit in der Qualität desjenigen was sich in der äußeren Erscheinung in einer Reihenfolge von sinnenfälligen Handlungen und Veränderungen darstellt. Wir können den Charakter immer nur durch Worte umschreiben, indem wir bestimmte Aeußerungsweisen desselben als einzelne Merkmale auffassen; nicht aber können wir die Einheitlichkeit der Qualität, auf der er beruht, (das punctum saliens derselben, welches er selbst ist), adäquat bezeichnen. Dem zufolge ist der Charakter ein Individuelles, für jede einzelne Persönlichkeit anders zu Bestimmendes. Wenn nun ein Zusammenhang besteht zwischen der eigen thümlichen Qualität des Charakters und der Art und Weise, wie die einzelne Persönlichkeit als Erscheinendes (Sprechendes, sich Bewegendes, Handelndes) auftritt, so folgt, daß auch die Aeußerungsweise jeder Persönlichkeit bei aller Gleichartigkeit, welche sie mit der allgemeinen Beschaffenheit alles Sinnlichen theilen muß, in jedem besonderen Falle gemäß der Individualität des ihr zu Grunde liegenden Charakters individuell bestimmt sein, also ein individuell bezeichnendes Gepräge an sich tragen muß. 78. Bei jeder Persönlichkeit hat die Gesammtheit der sinnlichen Aeußerungsweisen eine bestimmte charakteristische Durchschnitts-Qualität, die als solche ihr (der einzelnen) allein eigenthümlich ist. Alle Aeußerungsformen (simultane wie successive) der erscheinenden Persönlichkeit zeigen sich in ihren Modificationen (Bewegungen) und verschiedenen Verhältnissen als durch sich selbst gegenseitig bestimmt und zu einander in Zusammenstimmung gesetzt. Wir finden in dem Ineinander und Nacheinander dieser Formen (Stimme, Gesten, Bewegungen, Handlungen) im Einzelnen wie im
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Ganzen nichts Unzusammenhängendes, Unverträgliches, auch nichts von außen Aufgezwungenes. Vielmehr entwickelt sich alles wie nach einem von innen heraus, unsichtbar und doch als Erscheinung lediglich in und mit der äußeren Form gegebenen Gesetze, einem Gesetze, welches nicht als von anderwärts heran gebracht auftritt, sondern nur in und mit der Erscheinung der Persönlichkeit selbst da ist und die Frage nach einem außerhalb derselben liegenden Grunde ausschließt. Denn es ist auch nicht etwa so gegeben, daß wir die Persönlichkeit und das Gesetz unterscheiden und erst eine Aufeinanderbeziehung dieser getrennten Glieder nöthig hätten, um den Gesammteffect zu verstehen; sondern wir schauen in der Persönlichkeit unmittelbar das in ihr liegende Gesetz ihrer einzelnen Erscheinungsweisen an, als dessen Verkörperung sie erscheint; die Persönlichkeit ist dieses Gesetz selbst, sofern und soweit sie als ein sich in der Erscheinung zur Darstellung Bringendes auftritt. […] 119. Von diesem Inhalte unterscheidet sich nun wieder die Vielheit der qualitativen und quantitativen Verhältnisse, welche auf Grund der in dem Ganzen sich aussprechenden Stimmung an der äußern Form des Kunstwerkes zur Erscheinung gekommen sind. Diese Vielheit, welche als organisches Ganze das individuelle Gesetz (die charakterisirende Stimmung) selbst ist, kann in Hinsicht der innerhalb dieses Ganzen vorhandenen gegenseitigen Verhältnisse der Einzelformen Gegenstand einer für sich bestehenden Betrachtung werden. Dies beweist schon der factische Hergang bei der Ausführung des seelischen Idealbildes in einem Material. Das Ideal entstand dadurch, daß Beseelung (Charakter) in das Ding hineingeschaut wurde; hiernach müssen die gegebenen Formen sich modeln und die Vorstellung der Form als eines die Stimmung constituirenden Ganzen sich erzeugen. Nachdem so der Gehalt feststeht, kann und muß bei der Ausführung (zunächst in der Skizze, dem Modell) an dem Einzelnen innerhalb der Form geändert werden; die Ausführung wird immer an der ersten Conception noch zu verbessern finden. Dies beweist, daß man die Form als Gesammt-Träger des Inhalts noch von sich als der Summe ihrer einzelnen Elemente unterscheiden muß, ähnlich, wie man etwa die Gesammtheit der Glieder eines organischen Körpers als Träger einer immanenten Zweckmäßigkeit (die lediglich in ihnen selbst liegt und nur mit ihnen gegeben ist) von derselben Gesammtheit unterscheidet, sofern sie als Summe einer in gegenseitiger Anpassung befindlichen Vielheit mechanisch wirkender Einzelglieder betrachtet wird. Der Inhalt (Gehalt) ist immer das was auf Grund der früher bezeichneten Apperception (durch V = G : S) aus dem Objecte heraus-, bez. in dasselbe hineingeschaut wird. Die Form als Charaktermäßiges, Personalität Erzeugendes, und das Vorhandensein dieses Inhaltlichen läßt sich neben der Form, von der es getragen wird, constatiren. Z. B. aus einer Landschaft mit Ber-
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gen, Wiesen, Bäumen, Wasser u. s. w. entsteht mir ein ästhetisches Object, indem ich von ihr stimmungsvoll angemuthet werde; von dieser Stimmung nun kann ich immer noch die Anordnung der Formen unterscheiden, wenngleich die Stimmung nur mit und in der Gesammtheit derselben und sie mit der Stimmung gegeben sind.
IV. Formale Analytik: Proto-Formalismus 14. Johann Friedrich Herbart: Kurze Enzyklopaedie der Philosophie (1831) 72. Schwerlich wird sich Jemand gern entschliessen, der Forderung, dass alle zufällige oder doch zur Auffassung des Schönen entbehrliche Apperception bey Seite gesetzt werde, vollständig Genüge zu leisten. Wer eine Bildsäule sieht, will wissen, welche, mythische oder historische, Person sie vorstellt. Gemälde-Gallerien besucht man mit dem Katalog in der Hand; zur Oper nimmt man das Textbuch mit; oder wenn es daran fehlt, so klagt man, die Gemälde und die Musik nicht zu verstehen. Manche Poesien werden aus ähnlichen Gründen von Commentaren begleitet. Die Kunstwerke sollen etwas bedeuten; darum drängt sich nicht selten die Deuteley ungestüm genug herbey, sie zu Symbolen von diesem und jenem zu machen, woran der Künstler nicht gedacht hat. Aber noch mehr! die Künstler sind gern gefällig. Sie selbst lassen sich den Text zur Musik, oder die Gelegenheit zum Gedicht, oder den Platz für das Bild, also die Bedeutung ihres Werks, von Andern im Voraus angeben, und denken wohl gar bey ihren Phantasien etwas hinzu, das sie ausdrücken wollen. Was hat nicht Haydn in seiner Schöpfung und in den Jahreszeiten durch Töne zu malen unternommen! Glücklicherweise braucht seine Musik keinen Text; man verlangt höchstens aus Neugier zu wissen, was er eben schildern will, denn seine Musik ist Musik, und sie braucht gar Nichts zu bedeuten, um schön zu seyn. Andre wundern sich, wenn der Beyfall ausbleibt, da sie doch sich bewusst sind, ihre Werke seyen auch im hohen Grade charakteristisch für den Gegenstand, den sie bezeichnen, und der wahre Erguss des Gefühls, welchem sie Sprache geben wollten. Wie manchen selbst tüchtigen Künstler wird noch das Vorurtheil, seine Werke müssten irgend etwas bedeuten, vom rechten Wege ablenken! Wie viele Gelehrte, die als Ausleger glänzen, werden noch dem ihnen willkommenen Vorurtheile das Wort reden, damit ihr Geschäfft des Auslegens und Commentirens recht blühen möge! Die Traumdeuter und die Astrologen haben sich Jahrtausende lang nicht wollen sagen lassen, dass ein Mensch träume, weil er schläft, und dass die Gestirne sich bald da bald dort zeigen, weil sie sich bewegen. So wiederhohlen, bis auf den heutigen Tag, selbst gute Musikkenner den Satz, die Musik drücke Gefühle aus, als ob das Gefühl, was durch sie etwa erregt wird, und zu dessen Ausdruck sie eben deshalb, wenn man will, sich gebrauchen lässt, den allgemeinen
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Regeln des einfachen oder doppelten Contrapuncts zum Grunde läge, auf denen ihr wahres Wesen beruht. Was mögen doch die alten Künstler, welche die möglichen Formen der Fuge entwickelten, oder die noch ältern, deren Fleiss die möglichen Säulen-Ordnungen unterschied, auszudrücken beabsichtigt haben? Gar Nichts wollten sie ausdrücken; ihre Gedanken gingen nicht hinaus, sondern in das innere Wesen der Künste hinein; diejenigen aber, die sich auf Bedeutungen legen, verrathen ihre Scheu vor dem Innern, und ihre Vorliebe für den äussern Schein.1 73. Der gründliche Musiklehrer übt seinen Schüler im Contrapunct, das heisst, er lehrt ihn, mehrere Stimmen so gleichzeitig verbinden, dass jede derselben dem Hörer eine besondere, in sich zusammenhängende Vorstellungsreihe darbieten möge. […] Dafür, dass die Reihen, möglichst unabhängig wie sie sind, doch zusammenpassen, muss Harmonie und Rhythmus sorgen. Auf ähnliche Weise zeichnet der Architekt, wenn er den Bauriss entwirft, Figur in Figur […], deren jede für sich ein Ganzes bildet, jede aber auch in der andern eine passende Lage bekommt. Schon die Natur hat solchergestalt im menschlichen Antlitz Augen, Nase, Mund, Ohren, in den Umriss des Schädels hineingezeichnet; und bey schön gebildeten Blumen thut sie im Kleinen dasselbe. Aehnlich diesem räumlichen Contrapunct, finden wir der contrapunctischen Gebilde genug in Werken der Dichter, wo jeder bedeutende Charakter seinen Gang geht, seine Geschichte auf eigne Weise durchläuft, mit der Bedingung, dass diese verschiedenen einzelnen Geschichten sich zu einer ganzen vereinigen. Und in der Malerey muss in künstlich verschlungenen Gruppen dennoch jede Figur für sich ihre richtige Zeichnung haben: das Auge muss sondern und zusammensetzen können mit Freyheit, ja mit Lust, und mit Unterstützung durch die Contraste der Farben. Dem Hörer und Zuschauer wird zugemuthet, dass er die einzelnen Vorstellungsreihen, seyen es Stimmen, oder Figuren, oder Charaktere sammt 1 […] Ob für wahres Künstler-Genie die Absicht, etwas auszudrücken, gefährlich werden könne? diese Frage mag die Kunstgeschichte entscheiden. Es scheint fast, als ob sie die Frage bejahe. Woher sonst der frühere Ernst der Künste, und die spätere Verweichlichung? Woher anders, als daher, dass man den Affect, welchen auch das ächte Kunstwerk bey gehörigem Vortrage erregt, späterhin zum Zwecke machte, und diesen Zweck obendrein dadurch sichern wollte, dass man den nämlichen Affect auch noch anderwärts herhohlte, indem es etwas Anderes bedeuten, und den dortigen Affect herbeylocken sollte. Derjenige Affect, welchen das Werk durch seine eignen, inneren ästhetischen Verhältnisse erregen kann, ist ihm nicht zu misgönnen; auch nicht das Zusammentreffen des Ausdrucks, wo verschiedene Künste zusammenwirken, und sich gleichsam gegenseitig beleuchten; wenn aber die Kunst etwas ausser ihr portraitiren will, so mag sie sich auch mit dem Ruhme des Portrait-Malers begnügen; und sich noch überdies sagen lasse, dass stark aufgeregte Affecte das Gefühl platt machen, denn darüber verschwindet am Ende das Bewusstsein dessen, was eigentlich den Affect erregte. Zum Weinen oder Lachen kommt man leicht; dazu bedarf es keiner Kunst.
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ihrem Handeln, in sich selber eben so genau und reinlich gestalte, wie das Kunstwerk sie ihm darbietet. Dann wirkt das Zusammentreffen der verschiedenen geistigen Bewegungen (welches er auf Augenblicke im Gedränge zu verlieren fürchtet und doch wieder gewinnt,) das ächte Gefühl des eigen thümlichen Beyfalls, welchen das Kunstwerk für sich, und ohne noch ausser sich etwas Anderes zu bedeuten, hervorbringt; und so erzeugt sich das Schöne, das ausser der Vorstellung gar nicht existirt, sondern immer einen, wenigs tens möglichen Zuschauer voraussetzt. 74. Es wäre nun die Sache der Aesthetik, den angehenden Künstler in dem eignen Contrapuncte jedes Faches so sorgfältig von den allereinfachsten Uebnngen [sic] anfangen zu lassen, wie dies die Musiker in dem ihrigen zu thun gewohnt sind.2 Nach solchen Vorübungen thun alsdann Gefühl und Phantasie das Ihrige. Ohne dieselben bleiben die Bewegungen unsicher, ungelenkig; die Anstrengungen erschöpfen unnütz die Kräfte; und die Producte halten kein Maass, passen nicht an die Stellen, für die sie gemacht sind, begnügen sich dagegen mit dem Ruhme des Ungemeinen, des Sehnsüchtigen, des Gutgemeinten. Weshalb sonst fehlt es unserm Theater an klassischen Werken, als darum, weil die grössten Dichter sich gerade am wenigsten in die Formen fügen mochten, welche der Darstellung wegen zu beachten nöthig sind? Solches geniale Nicht-mögen ist aber verdächtig als Ungeschick aus Mangel an Uebung, die ästhetischen Grundfiguren nach Belieben zu gebrauchen, ohne in Fehler zu gerathen. Das gerade Gegentheil der Uebungen, die man anstellen sollte, ist die gewöhnliche Ueberfüllung mit Kunstwerken aller Art, und noch obenein mit den drastischen am liebsten. Man lieset den Shakespeare, bevor man den Homer gründlich studirt hat. Man giebt sich nicht die Mühe, die Charaktere und Handlungen des Shakespeare, vom Schmucke der Verse entkleidet, wie eine Zeichnung blosser Umrisse vor sich hinzustellen: man überlegt nicht, welche andere Ausfüllung der nämlichen Umrisse wohl entstanden wäre, wenn statt des Schauspiels eine Erzählung, möglichst einfach, und doch mit Beybehaltung der wesentlichen ästhetischen Elemente, sollte geliefert werden. Darum, weil solche Uebung vernachlässigt wird, läuft jede Novelle, jeder Roman, dem einmal ein gewisser Ruf zu Theil wurde, nun umgekehrt Gefahr, in Form eines Schauspiels auf die Bühne gebracht zu werden; und dann muss erst der üble Erfolg lehren, was man voraus wissen konnte. Ueberall wird verwechselt, welche Erfordernisse in dem ästhetischen Kern des Ge-
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Man vergleiche z. B. das bekannte Buch von Albrechtsberger, Anweisung zur Composition mit ausführlichen Exempeln. Wie dieses Buch, so sollte eine gründliche Aesthetik aussehn; zum Schrecken für Alle, die nur Effect machen wollen.
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genstandes liegen, welche andere von der Gestalt abhängen, die nun gerade für das Kunstwerk beabsichtigt wurde. Diese Betrachtungen möchten unbedeutend seyn, wenn nicht eine so grosse Menge von Individuen dem Reize nachgäbe, sich in allerley künstlerischer Production zu zeigen, und eine noch grössere Menge sich dazu schaulustig darböte, um krittelnd heimzukehren. Uebrigens versteht sich von selbst, dass Vorübungen nicht schon selbst Kunstwerke sind, und dass sehr gefehlt wäre, wenn Jemandem einfiele, sie dafür auszugeben. 75. Das Vorstehende ist nun zwar hoffentlich deutlich genug, um Demjenigen, der nach Aesthetik fragt, zu sagen, wo er sie zu suchen hat; vorausgesetzt, dass er, wie gewöhnlich, von Kunstwerken herkommt, die er liebgewonnen hat, und deren ähnliche hervorzubringen ihn gelüstet, wenn dazu Vorrath und Bewegung genug in seinem Geiste vorhanden ist. Psychologische Analysen sind es, an die er nicht bloss sich wenden, sondern die er selbst vornehmen muss. Diese Analysen bestehen aber nicht in Beantwortungen ungereimter Fragen, z. B. was wohl der Sinn, und die Phantasie, und der Verstand, und das Gefühlvermögen, beym Auffassen des Schönen thun mögen; wer sich noch mit diesen Fabeln trägt, dem bleibt die Wahrheit versteckt hinter der Fabel. Sondern die Vorstellungsreihen muss er aus einander nehmen, welche das Kunstwerk in einander verwoben hatte; und sie theils einzeln, theils ihre Verknüpfung studiren, so lange, bis er die Elemente des Schönen, und dessen Bedingungen findet. Das macht nun freylich keine andre Kunst so leicht, als die Musik; denn bey dieser hat man nur nöthig, Partituren zu lesen, um Discant, Alt, Tenor und Bass einzeln vor sich zu haben. So liegt selbst die künstliche, gewaltig einstürmende Fuge bis in ihre letzten Bestandtheile aufgelöset vor Augen; […] sie vermag nicht, irgend ein Geheimnis zurückzuhalten: wenn nur Derjenige, der sie studirt, aus der Statik des Geistes die Verschmelzung vor der Hemmung, und aus der Mechanik des Geistes die Reizbarkeit der rhythmisch gebildeten Vorstellungsreihen kennt. […] Die Untersuchungen hier über sind zwar erst angefangen, und noch nicht vollendet; aber die Richtung derselben ist auf ’s bestimmteste angegeben, und wer sie verfehlt, wird es sich selbst zuschreiben müssen.
Lehrbuch der Ästhetik (1827) 173
15. Friedrich Konrad Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik (1827) §. 22. Wenn nun, nach dem Obigen, unter Schönheit nicht die richtige Bearbeitung des Stoffes, den Gesetzen seines eigenen Wesens gemäß, verstanden wird, sondern die gelungene Befolgung der höchsten Gesichtspunkte des Geschmacksurtheils; so kann die Frage aufgeworfen werden: Welches sind diese höchsten Vergleichungspunkte aller Kunstdarstellung? Die allgemeine Ästhetik soll diese Frage genügend beantworten können, denn sie hat zu reden von der Schönheit und ihren Bedingungen. Vorläufig aber sind diese höchsten Vorbilder der Kunst, ganz nach dem Wortverstande, Ideen genannt worden. §. 23. Dem Natürlichen steht gegenüber das Ideale. Nun ist aber die wahre Kunst immer ideal, denn sie folgt nur den Ideen, und kennt keinen anderen genügenden Maßstab. Jene Unterscheidung kann also nur dem Stoffe gelten, der allerdings in sittlicher Hinsicht bald höher bald niedriger steht. Eine andere Rücksicht, außer der sittlichen, vermöchte aber auch den Stoff nicht ideal zu machen, da das edlere oder unedlere Material hier nichts entscheidet, und die Bildsäule aus Sandstein idealer sein kann, als die aus Gold. In jener sittlichen Beziehung nun steht die heilige Familie eines Italienischen Malers dem Trinkgelage eines Niederländischen, was den Stoff betrifft, als ideal gegenüber. Die Kunst der ästhetischen Anordnung und Ausführung aber kann in beiden gleich vortrefflich sein; ja es kann die Darstellung des niedrigeren Stoffes die des höheren weit übertreffen. Doch geht der sittliche Adel des Stoffes in das Kunstwerk mit hinüber, und giebt ihm einen höheren Werth, bei übrigens gleich vortrefflicher Ausführung; denn die sittlichen Ideen sind, im allgemeinsten Sinne wenigstens, auch ästhetische Ideen. […] §. 24. Der Begriff des Ideals hat mit der idealen Kunst nichts gemein. Er bedeutet das in der Phantasie nach den Ideen entworfene Vorbild des Kunstwerks, wie es nachher in irgend einem Stoffe verwirklicht werden soll. Die Ideen stehen am höchsten; denn sie sind die, selbst in dem fügsams ten Elemente der Phantasie, unerreichbaren „Musterbilder“. Ihnen folgen die Ideale, zu deren vollendeter Darstellung auch der geschmeidigste sinnliche Stoff noch zu träge ist. Es muss also nothwendig das Kunstwerk hinter seinem Ideal, das Ideal hinter den Ideen zurückbleiben. §. 25. Da […] das Geschmacksurtheil nur über Verhältnisse entscheidet, so kann auch die Idee, als das Höchste, was das Geschmacksurtheil aufzufinden vermag, kein allgemeiner Begriff von gewöhnlicher Art sein, der sich durch die Angabe seiner einzelnen Merkmale bestimmen ließe. Vielmehr muss die
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Idee ein Verhältniss gleichartiger Vorstellungen in sich verbergen, welches das Geschmacksurtheil mit seinem entschiedenen, unwandelbaren Beifall oder Tadel bezeichnet hat. Da ferner das Vielfachzusammengesetzte nicht klar werden kann ohne die Klarheit des Einzelnen, woraus es besteht; so muss jede allgemeine ästhetische Idee, als Grundlage aller ästhetischen Beurtheilung auch nur ein einfaches Verhältniss enthalten, worüber die Beurtheilung keineswegs schwankt, sondern immer als dieselbe wiederkehrt, so oft dasselbe Verhältniss im Gedanken, aber in Natur und Kunst nachgebildet, sich wiederholt. Hierin liegt einzig die Allgemeinheit und allgemeine Giltigkeit der Idee, die durch keine logische Betrachtung für sie gewonnen werden könnte. Wie viele solcher allgemeinen ästhetischen Ideen es aber überhaupt geben mag, lässt sich im Voraus weder bestimmen, noch durch theoretische Forschung auffinden: es muss bei der Analyse der vortrefflichsten Kunstwerke jedes Volkes, jeder Zeit und jeder Art der Versuch gemacht werden. […] §. 29. Nachdem nun die Nebenvorstellungen von dem eigentlich Ästhetischen gesondert sind, kann die Aufgabe der Ästhetik, oder der Lehre von dem Schönen, rein angegeben werden. Sie soll zuerst die allgemeinsten Ideen des Schönen darstellen, dann sie verknüpfen und ihre nächste Anwendung auf das menschliche Gemüth zeigen, endlich die Gränzen ihrer Wirksamkeit umziehen und die sinnlichen Stoffe nennen, in denen sie ausgeprägt werden können. Das erste ergiebt die Lehre der allgemeinen und abgeleiteten Ideen, und aus dem zweiten entwickeln sich die verschiedenen Kunstlehren, unter denen die Poetik obenan steht.
16. Robert Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft (1862) Was dieser Form der wissenschaftlichen Aesthetik die Analogie mit der empirischen Naturwissenschaft gibt, ist ihre Methode. Wie die Naturwissenschaft grosse verwickelte Erscheinungen auf ihre einfachsten Elemente, so sucht diese Gestalt der Aesthetik den complicirtesten Geschmackseindruck, welchen Natur- und Kunstwerke hervorbringen, zuerst auf seine ursprünglichen, nicht weiter zerlegbaren Faktoren zurückzuführen. Ist sie mittelst dieses analytischen Verfahrens zu den einfachen Geschmackselementen gelangt, so sucht sie rückwärts synthetisch aus der Combination derselben die Erscheinungen des Gefallens und Missfallens im Grossen begreiflich zu machen. Sie geht dabei von der Ansicht aus, von welcher wir alle exacte Naturforschung geleitet sehen, dass das verschwommene Dunkel, welches
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gewisse Erscheinungen bedeckt, nur die Folge des Zusammenflusses vieler in sich klarer Grunderscheinungen sei und dass es sich nur darum handle zu diesen letzteren durchzudringen, um die Trübung des Gesammteindru ckes verschwinden zu machen. Wie das Fernrohr den Nebelfleck in distincte Sternhaufen, so muss die wissenschaftliche Sonde den ästhetischen Ge sammteindruck, der als solcher jeder Erklärung zu spotten scheint, in die isolirten Geschmackswirkungen aufzulösen im Stande sein, aus welchen derselbe zusammengeflossen ist. In dem Maasse, als ihr dieses gelingt, wird es Jedermann erschwert, über die Dunkelheit ästhetischer Geschmacksurtheile Klage zu führen. Es versteht sich, dass die Forderung der Auflösung nicht so weit gehen darf, auch noch von den einfachen Geschmackselementen Rechenschaft zu verlangen. Das Einfache weist jede weitere Erklärung von sich, und der Chemiker wie der Mathematiker würden es mit Recht lächerlich finden, wenn wir von jenem die Auflösung jener einfachen Stoffe in noch einfachere, von diesem die Reduction der Primzahlen auf weitere Faktoren begehren wollten. Was die Chemie für den sinnlichen, soll die Aesthetik für den geistigen Geschmack leisten, nicht mehr. Das evidente ästhetische Urtheil ist der Grenz- und der Grundstein aller wissenschaftlichen Aesthetik. Wer sie um desswillen anklagen wollte, dass sie auf Unbeweisbares sich berufe, müsste denselben Vorwurf auch gegen die Geometrie, wie gegen die Wissenschaft überhaupt erheben, da jedes Princip an sich evident sein muss. Fries hat die Sucht, alles beweisen zu wollen, geradezu das Kant’sche Vorurtheil genannt und Pascal mit klaren Worten ausgesprochen, dass alles Beweisen zuletzt auf etwas Unbeweisbares führen müsse. Dieses Recht jeder Wissenschaft wird der Aesthetik selbst dann nicht verwehrt werden dürfen, wenn man Zweifel hegen sollte, dass das ästhetische Urtheil dies Evidente sei. Den Beweis für das letztere hat die Psychologie zu liefern, welche zeigt, dass das ästhetische Urtheil im Grunde ein identisches ist. Die Glieder jedes ästhetischen Verhältnisses sind Vorstellungen, deren Inhalte in einem solchen Gegensatze gegen einander befindlich sind, dass sie zusammengedacht einander in gegenseitige Spannung versetzen. Der Ausdruck dieser Spannung ist das Lust- oder Unlustgefühl, welches nichts anderes besagt, als was zwischen dem Inhalte der einander spannenden Vorstellungen schon thatsächlich besteht. Jenes nun bildet das Prädikat, dieses das Subject des ästhetischen Urtheiles; beide sind somit wesentlich einerlei, folglich das Urtheil ausser Zweifel. Der angeführte Umstand, dass Vorstellungen, deren Verhältniss zu ei nander die Basis eines ästhetischen Urtheils abgeben soll, einander durch ihre im Gegensatz befindlichen Inhalte in Spannung versetzen müssen, macht einleuchtend, dass dieselben, um Glieder eines ästhetischen Verhältnisses zu werden, inhaltlich eine gewisse Beziehung zu einander haben, z. B. zur selben Art gehören müssen. Disparate Vorstellungen können nicht mit
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einander im Gegensatze stehen. Weder Töne mit Farben, noch umgekehrt bilden je ein Verhältniss. Vorauszusehen ist daher, dass die ästhetischen Verhältnisse, welche die Basis der wissenschaftlichen Aesthetik ausmachen, in verschiedene Gruppen zerfallen und dadurch eben so viele unter sich verschiedene Gebiete des ursprünglich Gefallenden begründen, diese sonach als Tonschönes, Fabenschönes, Architectonischschönes, Plastischschönes u. s. w. auseinandertreten werden. Die Darstellung der auf diese Weise erhaltenen mehrfachen Gattungen des Schönen durch die Kunst begründet eben so viele unter sich je nach der specifischen Art des darzustellenden Schönen unterschiedene Kunstgebiete. Es liegt auf der Hand, dass eine Auffassung der Aesthetik im angegebenen Sinne zu einer vollständigen Reform derselben führen muss. Nicht nur wird auf die Art das alte Vorurtheil besiegt, dass eine Aesthetik als Wissenschaft unmöglich sei, sondern dieselbe wird zugleich auf feste Principien zurückgeführt, welche der künstlerischen Willkür und dem subjectiven Belieben keinen Raum darbieten. An die Stelle der souveränen ästhetischen Stimmung, der ebenso unbestimmten als vieldeutig geformten Menschennatur, des tiefklingenden aber hohlen Absoluten und des abstracten logischen Denkinhaltes, die nur dadurch einen ästhetischen Werth erlangen können, dass derselbe verstohlenerweise schon in dieselben, man weiss nicht woher, wenn nicht aus dem unbefangenen ästhetischen Urtheil, hineingetragen worden ist, treten concrete ästhetische Verhältnisse, deren Beobachtung von eben so unausbleiblichem Lob, als deren Verletzung von unabwendbarem Tadel begleitet wird. In der Auffindung derselben eröffnet sich für die Aes thetik ein unermessliches Feld, bei dessen Bearbeitung sie naturgemäss zu einer eben so exacten Wissenschaft zu werden streben muss, wie die Chemie, wenn sie die Gesammtheit der einfachen Grundstoffe, die Physiologie, wenn sie die einfache physikalische Grundlage aller Lebenserscheinungen zu ermitteln sich bemüht. An der Stelle eines leeren Schönheitsbegriffes wird sie, auf diese Art zu einer Fülle ursprünglicher Schönheiten gelangt, fähig sein, denjenigen, der sich an dieselbe wendet, statt unfruchtbarer Formeln in den Besitz eines reichen ästhetischen Materials zu setzen, indem sie andererseits ihm zugleich die Norm vorhält, deren ewige Geltung niemand ungestraft übersieht.* *
Zugleich ist dies allein der wahre Sinn, in dem man vor kurzem von einer Aesthetik als reiner Formwissenschaft gesprochen (und dieselbe seitdem 1865 wirklich durchgeführt) hat. Jedes Verhältniss ist eine Form und wenn das letztere Wort in einem so weiten Sinne gefasst werden soll, dass es nicht nur die im engern Sinne sogenannten bildenden, sondern ebenso die musikalischen, poetischen, malerischen und plastischen Formen umfasst, so kann es in keiner anderen Bedeutung genommen werden. Dass die moderne Aesthetik dasselbe in engerer, meist nur im Gebiete der plastischen Kunst giltigen Sinne gebrauchte, hat sie in den Irrthum verwickeit [sic], Inhalt und Form unter dem Bilde von Seele und Leib, Innerem und Ausserem aufzu-
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17. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) §. 70. Wenngleich nur homogene Theile eines ästhetischen Bildes ein Gefallen und Missfallen mit sich führendes Verhältniss einzugehen vermögen, so folgt doch keineswegs, dass jedes in vollendeter Vorstellung vorschwebende ästhetische Bild deshalb nur aus durchgehends homogenen Bestandtheilen zusammengesetzt sein dürfe. Vielmehr folgt nur daraus, dass wo mehrerlei heterogene Materien zu einem ästhetischen Ganzen vereinigt sind, die unter einander homogenen Stofftheile ihrerseits ästhetische Verhältnisse unter einander darstellen, und der Effekt des Ganzen die Summe der Einzeleffekte der untereinander heterogenen Gruppen von Stoffbestandtheilen ausmachen wird. In einem Gemälde z. B., das eine historische Scene darstellt, welche von dem Gemälde abgesehen auch in Worten erzählt werden könnte, werden sich neben den ästhetischen Linear- und Farbenverhältnissen (der Zeichnung und dem Colorit) auch noch ästhetische Verhältnisse in den durch Vorstellungen aufgefassten geschichtlichen Vorgängen finden, ohne dass weder Linien mit Farben, noch eines von beiden mit Gedanken in ein und dasselbe Verhältniss zusammengeworfen, wol aber so, dass der Gesammteffekt des Gemäldes als die Summe der Effekte seiner Zeichnung, seines Colorits und seines durch Worte ausdrückbaren Vorstellungsinhalts angesehen werden dürfte. §. 71. Wo durch Natur- oder Kunstwerke grosse zusammenhängende Vorstellungsmassen zur ästhetischen Beurtheilung im vollendeten Vorstellen dargeboten werden, da sind es fast niemals Stofftheile einer und derselben Art (blosse Ton- blosse Farbenvortstellungen u. s. w. in ästhetischen Forfassen und so den Einklang zwischen beiden, wie in der Statue des hellenischen Gottes, zum ausschliesslichen Bilde der Schönheit zu erheben. Daher der Einwand „seelenloser Formen“, wenn der „Formalismus“ einmal mit der „Wahrheit“ dass im Schönen alles auf die Form ankomme, Ernst zu machen beginnt. Daher die in diesem, aber ebenso in einem anderen Sinne allerdings gerechtfertigte Behauptung, dass die Form niemals ohne Gehalt auftreten könne, weil die Seele nur am und im Leib erscheine, welche, wenn sie nicht mehr bedeuten sollte, als dass ein Verhältniss niemals ohne Verhältnissglieder bestehen kann, sich von selbst verstünde; wenn aber damit gemeint sein sollte, dass die Aesthetik nicht von der Qualität der letzteren abstrahiren könne und dürfe, weil ihr Lob und Tadel blos das Zusammensein derselben, die Form angeht, zu einer gänzlichen Verkennung dieser Wahrheit führen musste. Die formalis tische Aesthetik darf sich zur Unterstützung ihres Satzes auf das Zeugniss der deutschen Künstler- und Dichterheroen, wie Lessing, Winckelmann, Schiller und Goethe berufen, von denen der Letztgenannte dem Stoff nur soweit ästhetische Wichtigkeit gestatten will, als er sich in Form auflösen lässt. Schiller aber nicht achtend des Widerspruches mit seiner eigenen aus Kant’schen Quellen stammenden Theorie, die Vertilgung des Stoffes durch die Form für das eigentliche Kunstgeheimniss des Meisters erklärt. […]
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men), sondern fast immer Complexionen heterogener Materie, deren Bestandtheile je unter sich wohlgefällige oder missfällige Verhältnisse ausfüllen. So vereint der Anblick landschaftlicher Natur Farben- und lineare, Flächenund körperliche Formen. Mit den in lebendiger Rede vorgetragenen Gedankenformen vereinigen sich die rythmischen des Numerus und Metrums, die Klangformen der abwechselnden Vocale und Consonanten. Dennoch pflegt das Wohlgefallen und Missfallen, das nur von den Formen unter sich homogener Stofftheile geweckt werden kann, für die Gesammtgruppe in ein, auf alle, unter sich heterogenen Stofftheile bezügliches Urtheil des Lobs oder des Tadels zusamenzurinnen, welches demnach nicht als reine, sondern nur als verworrene Gesammtwirkung angesehen werden kann. Das erste Geschäft des ästhetischen Beurtheilers muss sein, dieses Gesammturtheil aufzulösen, und jeder in sich homogenen von mehreren gleichzeitig anwesenden oder ablaufenden Reihen ästhetischer Formen das ihr gebührende auszusondern. Wo in einem Gemälde Zeichnung, Colorit und poetische Gedanken enthalten sind, können die erste trefflich, das zweite lebhaft und die dritten unbedeutend und abgebraucht sein. §. 72. Mit der Aussonderung der vagen und der blossen Stoffgefühle beginnt, mit der Aussonderung der verschiedenen ästhetischen Formen und Formenarten schliesst der ästhetische Prozess. Nachdem jene ausgeschieden, was nicht, entscheidet diese was gefalle oder missfalle. Das Ganze ist einem Gerichtsverfahren ähnlich, in welchem zuerst durch Entfernung der nicht dazugehörigen Nebenumstände der Thatbestand hergestellt und über demselben Jedem der darin Verwickelten sein Urtheil gesprochen wird. Oder dem Verfahren des Chemikers, der den vorhandenen Naturkörper erst nach Abscheidung alles nicht dazu Gehörigen, in seine einfachen Elementarbestandtheile aufzulösen sich bemüht, um jedem derselben an dem Gesammteffekt der körperlichen Erscheinung seinen Antheil zuzuweisen. Wie aber dieser vor Allem die einfachen Grundstoffe sucht, um auf dieselben alle Materie zurück und aus denselben durch Combination wieder in’s Dasein zu bringen, so geht das Bestreben des Aesthetikers dahin, alles ästhetisch Gefallende und Missfallende auf ästhetische Grundformen zurückzuführen, aus deren Anwendung auf beliebige, ästhetisch gleichgiltige Stoffe alles berechtigte Gefallen und Missfallen sich erklärt. §. 73. Die Aesthetik als reine Formwissenschaft ist eine Morphologie des Schönen. Indem sie zeigt, dass nur Formen gefallen und missfallen, legt sie unter Einem dar, dass Alles, was gefällt oder missfällt, durch Formen gefallen oder missfallen müsse. Man versuche es die Form vom Gefallenden hinwegzudenken; das Gefallen selbst schwindet. Ich kann vom Vers das Metrum, den Wohllaut der Sprache, aber ich darf nicht das Ebenmass der Gedanken, das
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Poetische, Bildhafte hinweglassen, oder ich habe sogleich alles Aesthetische abgestreift. Umgekehrt, wenn es unbedingt wohlgefällige Formen gibt, müssen sie an jedem Stoff, allenthalben und Jedem wohlgefällig erscheinen, wenn die Bedingung des Gefallens, das vollendete Vorstellen, überhaupt erfüllt ist. Man darf die Frage nicht aufwerfen, ob sie zu dem Stoffe, passen; da sie gleichgiltig sind gegen den Stoff, so passen sie zu jedem. Ueberflüssig ist es zu fragen, ob die Form auch das Gleichgiltige zu verklären vermöge; da jeder Stoff, welcher immer, ästhetisch gleichgiltig ist, so kann die Form gar nicht anders, als ihren Glanz über Gleichgiltiges ausströmen. Theilnahmslos wie die Sonne über Gerechten und Ungerechten, schwebt die gefallende Form über der todten Materie, die durch sie Seele und Theilnahme gewinnt. §. 74. Der erste Theil der Aesthetik als Formwissenschaft die allgemeine Formenlehre, ist der Aufsuchung der allgemein und nothwendig gefallenden und missfallenden Formen gewidmet. Ob ihrer eine oder mehrere, ob eine vollständige Aufzählung derselben möglich sei, muss sich erst zeigen; dass sie unmöglich wäre, wenn der Stoff gegen die Form nicht gleichgiltig wäre, erhellt von selbst. Denn die Menge und Mannigfaltigkeit dessen, was überhaupt Glied eines ästhetischen Verhältnisses werden kann, ist schon bei einzelnen Stoffgattungen unübersehbar, z. B. bei den Farben, wo uns die Worte und über eine gewisse Grenze hinaus auch die Sinne fehlen, um alle einzelnen Nuancen derselben festzuhalten, die mit andern ein harmonisches oder disharmonisches Verhältniss eingehen können. Die Frage, welche Farbenverbindungen gefallen und missfallen, berührt den Stoff, die Verhältnissglieder, und ihre Beantwortung, so weit die Erfahrung sie zu geben gestattet, gehört der besonderen Theorie der Farbenharmonik als Grundlage der Malerkunst an; die Aesthetik als Formwissenschaft hat nur die Frage zu lösen, durch welcherlei Formen d. i. durch welcherlei „Zusammen,“ Farbenverbindungen ästhetisch gefallen oder missfallen. Die Harmonie selbst ist diese Form; die Disharmonie die ihr entgegengesetzte. […] §. 190. Die Form des Einklangs in der Mehrheit von Formgliedern herrschend, fordert in jedem derselben die theilweise aber überwiegende Identität bei theilweiser Entgegengesetztheit des Inhalts, von welcher ihr Beifall bedingt ist. Dadurch wird unter den Mehreren eine Verwandtschaft der Qualität nach herbeigeführt, welche dieselben insofern als Eines, in Bezug auf das Entgegengesetzte, das jedem derselben für sich eigenthümlich ist, dagegen als Viele erscheinen lässt. Durch Jenes werden sie zusammengehalten, durch Dieses getrennt. In Betreff des Identischen bildet jedes der Mehreren alle übrigen, in Betreff des Nichtidentischen nur sich selber ab. Durch Jenes wird das Gemeinsame, welches das Band Aller ausmacht, beständig verstärkt, durch Dieses wird dafür gesorgt, dass nicht durch das Hinwegfal-
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len der Unterschiede logische Einerleiheit, ästhetische Monotonie entstehe. Die Durchführung der Form des Einklangs im einzelnen zusammengesetzten Bilde oder im gesammten ästhetischen Vorstellen ist das System der Einheit. […] §. 193. Im durchgeführten Einheitssystem gibt es nur Verwandtes. Hamlet’s Betrachtungen über den Schädel des Hofnarren, der dessen Geist zur Maske diente, welcher selbst nur eine närrische Maske war; sein eigener verstellter Wahnsinn; die Scheintugend Opheliens, des Königs und seiner Mutter; Polonius Scheinweisheit; die Scheinehre des Laertes; die Scheintrauer des Schauspielers, der um Hecuba weinen muss; die Scheinerzählung auf der Bühne; das Scheingefecht; die Geistererscheinungen am dänischen Hof; die Scheinstärke des „faulen“ Dänemark und die nur äusserlich scheinende Kirchlichkeit, es gehört Alles zusammengenommen zur ästhetischen Einheit des Drama’s. Hamlet und die Seinen, der Beschauer mit, schwimmen im Schein wie in ihrem Elemente. Wie eine wohlgelungene Landschaft hat das Stück seine eigene Luft, seine Beleuchtung und seinen eigenen Boden unter den Füssen. […] §. 527. Das Kunstwerk des psychischen unterscheidet sich vom Kunstwerk des logischen Vorstellens dadurch, dass jenes die Form der Anschauung beibehält, dieses die des Begriffs annimmt, jenes ohne, dieses mit Anspruch auf Richtigkeit und Giltigkeit gebildet wird. Wo sich immer eine Complication aus, gleichviel ob richtigen oder unrichtigen Vorstellungen gebildet hat, da vollzieht sich im Wechselverkehr des psychischen Lebens allmälig die Verschmelzung des Gleichartigen, die Hemmung des Entgegengesetzten, ohne dass die ursprüngliche Form der Complication dadurch eine Veränderung erleidet; es findet sich zuletzt ein bestimmter gemeinsamer Rest aus allen denjenigen Wahrnehmungen, aus welchen das jetzige Ganze entstanden ist, in der ursprünglichen Verknüpfungsform und kann als solcher einen Charakter darbieten, welcher den ästhetischen Formen der Vollkommenheit, der Bedeutendheit, des Einklangs, der Correctheit und des Scheins der Beseelung gemäss ist. So löscht z. B. diejenige Complication disparater Empfindungen, welche beim Anblick der rothen Porphyrbildsäule eines Centaurs im Palaste Borghese zuerst entstanden ist, durch Wechselwirkung mit der gleichzeitigen durch die Wahrnehmung der daneben stehenden eines solchen im schwarzen ägyptischen Basalt entstandenen sogleich das Merkmal der Farbe in sich aus; mit erweiterter Umschau schwinden andere individuelle Merkmale bis zuletzt nur die allgemeine Form der ursprünglich gegebenen Anschauung und ein Inhalt zurückbleibt, der als das Gemeinsame aller ursprünglichen Complicationen zugleich der Rest und deren gemeinsamer Kern ist. […]
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§. 532. Aber indem wir von der Richtigkeit und Giltigkeit des Inhaltes absehen, thun wir es doch nicht von dem Inhalt überhaupt. Aus zahlreichen gleichartigen Anschauungen ist das Product des mechanischen Vorstellungsverlaufs, das psychische Kunstwerk des Vorstellens, entstanden, durch Verschmelzung des Gleichartigen, durch Hemmung des Entgegengesetzten. Die ursprüngliche Form der Anschauung ist erhalten; nur dasjenige, was in den einzelnen Anschauungen unter sich im Widerstreite sich befand, ist aus dem Bewusstsein verdrängt und zeigt im gegenwärtigen Anschauungsbild die Stellen dunkel, die es in den ursprünglichen ausgefüllt hat. Wie in Interferenzphänomenen die Stellen, wo einander begegnende Wellenberge und Wellenthäler sich zur Ebene ausgleichen, durch dunkle Punkte bezeichnet, der Punkt aber nichts destoweniger in der Figur des Ganzen noch enthalten und erhalten ist, so lassen die einander aufhebenden Merkmale der einzelnen ursprünglichen Anschauungen, aus welchen das psychische Gemeinbild entstanden ist, ihre Stellen in diesem leer, aber die Stellen als solche sind im Gesammtbilde noch merklich. Das psychische Gemeinbild repräsentirt daher in der That jede ursprüngliche einzelne Anschauung, aus der es entstanden ist; es ist gleichweit entfernt von der hohlen Abstraction, welche nur die allen ursprünglichen Anschauungen gemeinsamen Merkmale umfasst, und die Verbindung mit den ursprünglich zugleich gegebenen Unterscheidungsmerkmalen der einzelnen völlig abgeschnitten hat, wie von der erfüllten Concretion der einzelnen Anschauungen, welche nicht nur die Form mit allen andern und mit dem Gemeinbilde theilt, sondern in welcher auch alle Stellen durch bestimmten und zwar specifisch eigenthümlichen Inhalt besetzt erscheinen. Dem Inhalt nach nicht reicher als die Abstraction, ist das psychische Gemeinbild doch vollständiger der Form nach, weil es die leergelassenen Stellen mitumfasst; der Form nach nicht weiter reichend als die ursprüngliche Anschauung ist das psychische Gemeinbild doch ärmer dem Inhalt nach, weil es viele unter den Stellen der anfänglichen Anschauung leer lässt. Nennen wir den Inbegriff der die Form erfüllenden Merkmale die Materie des Inhaltes, so können wir sagen: das psychische Gemeinbild theilt mit der Abstraction die Materie, mit der ursprünglichen Anschauung die Form des Inhaltes. §. 533. Da es nun wesentlich zur Natur der ästhetischen Vorstellung d. h. des psychischen Kunstwerkes des Vorstellens mitgehört, dass eine Einzelanschauung zum Schein an die Stelle des Gemeinbildes treten könne […], und dieses sich schliesslich wieder aus jener herstelle, so begreift sich, warum die Abstraction nicht zur ästhetischen Vorstellung taugt. Das psychische Gemeinbild theilt mit der Einzelanschauung die Form; es braucht also nur seine leer gelassenen Stellen mit den specifischen Merkmalen irgend einer Einzelanschauung zu erfüllen d. h. die Hemmung, welche bisher auf den-
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selben lastete, aufhören zu lassen, so steht die concrete Einzelanschauung vollständig im Bewusstsein da. Die Abstraction theilt mit jeder der Einzelanschauungen nur einen Theil ihres Inhaltes, die allen gemeinsamen Merkmale; sie besitzt keine leergelassenen (in der Form beharrenden) Stellen, die sie mit Materie erfüllen kann; sie steht daher der Einzelanschauung fern und ist von ihr durch eine psychische Kluft getrennt, die sie, weil die Verbindung zwischen den gemeinsamen und den einander ausschliessenden Einzelmerkmalen abgeschnitten ist […], nicht zu überspringen vermag. Da nun auf dem Eintreten der Einzelanschauung an die Stelle des Gemeinbildes und ihrem Wiederaufgehobenwerden durch dieses wesentlich der Schein des Lebens, der Beseelung, des Geistes im ästhetischen Vorstellen beruht […], so begreift sich, warum diesem nichts feindlicher sein könne, als hohle d. h. des Zusammenhangs mit den ursprünglichen Einzelanschauungen entbehrende Abstractionen, von dem für die Aesthetik gleichgiltigen Umstande, ob diese Anschauungen sowohl als jene Abstraction richtige und giltige Vorstellungen (Erkenntnisse) seien oder nicht, völlig abgesehen.
18. Otakar Zich: Von den dichterischen Typen (1917/18) Der Klang der Sprache. Die sich aus ihm ergebenden Qualitäten sind teilweise recht bekannt. Zu ihnen gehört der Reim mit allen seinen Arten, die Assonanz, die etwas wie ein unvollkommener Reim oder besser seine Vorstufe ist, und schließlich die Alliteration, welche die Wortanfänge betrifft. Die Alliteration kommt auch in der Prosa vor, während Reime und Assonanzen mit Ausnahme von kurzen, eingeschobenen Sentenzen (Redewendungen, Sinnsprüche in Märchen u. a.) in der Prosa absichtlich gemieden werden. Auch Wiederholungen von ganzen Wörtern oder Wortgruppen, und zwar nicht am Strophenende (Refrain), sondern im Allgemeinen, gehören in diese Kategorie. Üblicherweise werden Wortwiederholungen zu den sog. rhetorischen Figuren gezählt und ihnen wird lediglich ein gedanklicher Wert zugeschrieben, d. h. die Betonung eines Gedankens. Neben diesem Wert muss ihnen jedoch im Grunde an erster Stelle ein rein klanglicher Wert zuerkannt werden, der oft gewaltig ausfällt. In den bekannten Versen von Mácha (Máj) „Ach v zemi krásnou, zemi milovanou, v kolébku svou i v hrob svůj, matku svou, v vlast jedinou i v dědictví mu danou, v širou tu zemi, zemi jedinou, v matku svou, v matku svou, krev syna teče po ní“
Von den dichterischen Typen (1917/18) 183 [zur schönen Erde, zur geliebten Erde, zur Wiege und zum Grab, zur Mutter sein, zum Land, verliehn, daß es sein Erbe werde, zum weiten Land, alleinig und allein, zur Mutter sein, Mutter des Sohnes Blut jetzt rinnt. B] [Zur Erde, die so schön, zur Erde vielgeliebt, Zu seiner Wiege, seinem Grab, zur Mutter sein, Zur auserkor’nen Heimat, die in Liebe sich vergibt, Zur weiten Erde, Erde nur allein, Zur Mutter, seiner Mutter, die das Blut des Sohnes tränkt. S]
tragen die abwechselnd verstreuten Wiederholungen der Worte „v zemi, matku svou, jedinou“, zwar eine gewisse, verstärkende Bedeutung, vor allem aber ist ihr Zweck ein rein musikalischer. Und diese klangliche Schönheit der Wortwiederholung dürfen wir auch dann nicht übersehen, wenn die Wiederholung wie in dem folgenden Vers offensichtlich auf eine inhaltliche Betonung abzielt. Tam žádný, žádný, žádný svit… (Máj) [kein Licht – nur Finsternis allein B] [Erglüht kein einzig – einzig – einzig Licht. S]
Das Gleiche gilt manchmal für das Polysyndeton und ihm verwandte Figuren, wie z. B. in dem Gedicht von Neruda: Tak zvolna, tak smutně, tak sám a sám… (Prosté motivy IV.) [So langsam, so traurig, so allein und allein… (Einfache Motive IV.)]
Ich verwendete oben die Formulierung „rein musikalischer Zweck“. Der Begriff Musikalität (auch Melodie) eines Verses, bzw. von Prosa, wurde erst in letzter Zeit auf dem Gebiet der Literaturkritik geläufig. Fragen wir jedoch danach, was sich dahinter verbirgt, so erkennen wir rasch, dass dieser Begriff bisher noch nicht geklärt wurde. Deswegen werde ich auf die „Musikalität des Verses“ etwas ausführlicher eingehen. Offensichtlich ist dieser Begriff neu und sehr breit. Was alles aber umfasst er? Fallen auch die rhythmischen Qualitäten unter ihn? Das gewiss nicht, denn es gibt viele Verse, die rhythmisch sehr wirkungsvoll und trotzdem nicht „musikalisch“ sind, und umgekehrt kann auch Prosa ohne besondere rhythmische Qualitäten „musikalisch“ sein. Sicher handelt es sich hier also um die reine Klanglichkeit des Verses. Dass Alliteration und Assonanz an der Musikalität beteiligt sind, ist sicher; wie steht es aber um den Reim? Manchmal scheint es, dass Reime an der Musikalität mitwirken, das gilt v. a.
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für Binnenreime. Ein anderes Mal lesen wir ein Gedicht mit vollkommenen und schönen Reimen, aber die Verse sind trotzdem nicht musikalisch. Dennoch verfügen auch Verse über klangliche Werte! Oder besteht vielleicht das Wesen der Musikalität noch in etwas anderem als in bloßer Klanglichkeit? Die Wortverbindung „Versmelodie“ bewirkte, dass einige deutsche Theoretiker1 damit begannen, die Versmusikalität im melodischen Sprach tonfall zu suchen, auf den ich bereits im Abschnitt über die Qualitäten der Rezitation einging (2 c). Das Ergebnis dieser aufwendigen und sorgfältigen Versuche war gänzlich negativ, was jeder gute Komponist hätte vorhersagen können. Es wurde auch die Meinung vertreten, dass Musikalität in der klanglichen Nuancierung der Sprache zu suchen sei (siehe unsere Qualitäten der Rezitation 2 d). Beide angeführte Theorien sind fehlerhaft, weil die Qualitäten, die von ihnen hervorgehoben werden, Qualitäten der Rezitation sind, nicht die des Gedichts. Hinge die Musikalität von Versdichtung und Prosa von dem melodischen Tonfall der Sprache oder von der klanglichen Nuancierung ab, würde diese Eigenschaft des Gedichts erst durch den Rezitator gebildet und es könnte in diesem Sinne nur von dem „musikalischen Vortrag“ die Rede sein. Es herrscht aber kein Zweifel darüber, dass „Musikalität“ eine Eigenschaft ist, die das Gedicht an sich selbst besitzt, unabhängig davon, wie es rezitiert wird; sie ist also irgendeine objektive Eigenschaft, die der Dichter dem Gedicht verleiht. Der Rezitator verwirklicht zwar diese Eigenschaft des Gedichts (so wie er z. B. ihren trochäischen Rhythmus verwirklicht), er bildet sie aber nicht. Es gibt freilich Rezitatoren und besonders Rezitatorinnen, die eine schöne Stimmfarbe haben (man spricht über einen „melodischen Alt“) und zu wahrhaft wundervollen Modulationen der Stimme fähig sind, aber auch der allerschönste Vortrag durch die allerschönste Stimme macht aus nicht-musikalischen keine musikalischen Verse. Bei der Untersuchung dieses Problems stellt sich also heraus, dass die Musikalität von Versen eine Qualität ist, die nicht nur unabhängig vom melodischen Tonfall der Sprache auftritt, sondern ihm sogar widersprechen kann. Musikalische Verse zwingen uns beim Rezitieren dazu, die Vielfalt des melodischen Tonfalls der Sprache womöglich zu begrenzen, d. h. ungefähr bei einem Ton zu bleiben, was also zur Unterdrückung der Melodie führt, obwohl man von Gesangston spricht. Über Baudelaire wird von seinen Freunden erzählt, dass er ihnen seine Verse (äußerst musikalische Verse) „mit einer monotonen Stimme vorsprach oder eher vorsang“.2 Bis zu welchem Maße die beiden angeführten Qualitäten einander ausschließen, kann 1 Die Schüler von Sievers, insb. Saran, Masing und Tenner. 2 Vorwort zu den Übersetzungen von „Malé básně v próze“ [Kleine Gedichte in Prosa] von H. Jelínek, S. 5 (Světová knihovna 233–234).
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man in dem Gedicht „Já“ [Ich] von Bezruč, Abschnitt III beobachten. Das Gedicht, das mit Já prvý jsem z toho od Těšína lidu… [Ich bin der Erste, Sproß vom Teschner Stamme…]
einsetzt,3 wird in der zweiten Strophe musikalisch, wo sich der Ausdruck verinnerlicht und seinen Höhepunkt bei den Worten erreicht: On dal ti ty hory a dal ti ty lesy… [Er gab dir die Wälder, die Höhen und Riffe…]
Der Vers zwingt uns, in einem Ton ungefähr mittlerer Stimmlage zu rezitieren. In diesem Moment zerstört plötzlich der Wandel in dem Vers běž a plač k tomu tam v kostele [lauf in die Kirche und klag dort dein Leid]
die Musikalität, der melodische Tonfall wird jedoch zugleich sehr vielfältig, ja sogar grell, namentlich in der direkten Rede der anschließenden dritten Strophe: Můj synečku z Beskyd, ctíš boha i vrchnost… [Dein frommes Beginnen, o Sohn der Beskiden…]
Das setzt sich, wenn auch gemildert, bis zum Ende der folgenden, gleichfalls nicht musikalischen Strophe fort: tvůj synek teprv to uváží. [dein Sohn wird ermessen.]
Und jetzt – nach einer kleinen Pause – kommt ein gewaltig musikalischer Schluss:
3 Bei allen in dieser Studie angeführten Beispielen sei angemerkt, dass die von mir gewählten Zitate lediglich den Zweck verfolgen, dass sich der Leser in dem jeweiligen Gedicht orientiert, dass es jedoch notwendig ist, das ganze Gedicht und nicht nur die hier abgedruckten Bruchstücke zu lesen, damit die Problematik ausreichend erkennbar wird, die ich an diesem Beispiel erkläre.
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Otakar Zich Tak děje se. Pán chce. Noc táhne nad mým lidem, zahynem, nežli se rozední. V té noci já modlil se k démonu Pomsty, prvý bard z Beskyd a poslední. [Und so geschieht’s. Der Herr will’s. Nacht bezieht über uns die Wache, wir sterben, bevor das Licht aufgeht. Ich rufe aus Tiefen zum Dämon der Rache, der erste und letzte Beskiden-Prophet.]
Alles zusammen ist, mit dem Satz „noc táhne“ anfangend, wieder ungefähr in einer, diesmal relativ tiefen Tonlage geschrieben, aus der nur die hellen Silben in „zahynem“ und „prvý“ hervorragen. Welch’ düstere Musik weht aus diesen Worten! Konzentriert man sich darauf, wie der Klang dieser Verse durch das dunkle o in den Wörtern „noc, rozední, noci, modlil, démonu, pomsty, poslední“ bestimmt wird, wird ersichtlich, dass hier beim Rezitieren eine antimelodische Tendenz entsteht, deren Sinn es offensichtlich ist, die Aufmerksamkeit von den Höhenqualitäten (des melodischen Tonfalls) auf andere Qualitäten zu lenken. Das können aber, da das untersuchte Phänomen jedenfalls klanglicher Art ist, keine anderen sein als die Färbungen der Laute. Dieses Beispiel zeigt uns also zugleich, worin das Wesen der Musikalität besteht. Die außergewöhnliche Musikalität der letzten Verse von Bezruč entsteht durch die vorherrschende Nutzung des dunklen Vokals o und einem gleichzeitig dunklen Inhalt. Darin sind zwei Momente enthalten, zwischen denen genau unterschieden werden muss. Zuerst ist die Tatsache festzuhalten, dass der Dichter, um eine düstere Stimmung der Verse zu erzeugen, das dunkle o nutzte. Jeder Vokal hat seine eigene Färbung, die bei uns eine bestimmte Stimmung hervorruft, von dem dunklen u über das helle a bis zu dem scharfen i. Neben diesem allgemeinen Eindruck erwecken die Vokale bei einzelnen Menschen bekanntlich auch besondere Eindrücke, v. a. Licht- und Farbeindrücke (das sog. farbige Hören, audition colorée). Diese besonderen Eindrücke sind jedoch zu sehr durch die Individualität Einzelner bedingt, als dass der Dichter sie für seine Zwecke nutzen könnte, wie dies u. a. Rimbaud forderte. Aber auch über die allgemeinen Eindrücke und Stimmungen, die durch die einzelnen Vokale hervorgerufen werden, kann der Dichter nicht vollständig frei verfügen, denn es sind ja nicht nur Klänge, durch die er einen Gedanken ausdrücken will, sondern Wörter. Da jedoch die Sprache in gewissem Maße lautmalerisch ist, findet er genug Wörter, deren Klang mit der aus der inhaltlichen Bedeutung resultierenden Stimmung übereinstimmt. So enthält z. B. das Wort „Smutek“ [Trauer] das dunkle u, das Wort „jásot“ [Jauchzen] das helle á. Bildung und Entwicklung der Sprache unterlagen aber jeweils vielfältigen und unterschiedlichen Regeln, so dass die meisten Wörter keine derartige
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Übereinstimmung aufweisen, z. B. „žal“ [Leid] mit hellem a und „úsměv“ [Lächeln] mit dunklem u. Möchte also der Dichter ausschließlich durch die Klangstimmung von Wörtern wirken, wäre er in seiner Auswahl enorm eingeschränkt. Gewisse Abhilfe kann hier allerdings die Rezitation schaffen, die – wie oben besprochen – je nach Stimmung des Textes Nuancierungen in der Lautfärbung (2 d) vornehmen kann, ersichtlich am hellen á in einem klangreichen Akkord am Anfang von Máchas „Máj“: Byl první máj, byl lásky čas, hrdliččin zval ku lásce hlas… [Der erste Mai, der Liebe Zeit, das Täubchen ruft zur Lieb herbei… B] [Der erste Mai, der Liebe Zeit, Der Taube Ruf sang Liebesleid S]
In demselben á sind jedoch auch die Verse der Gefängnisszene in eben diesem Gedicht gehalten: Tam žádný, žádný, žádný svit, pouhá jen tma přebývá. [Dort…kein Licht – nur Finsternis allein, Düsternis ohne Wende. B] [Dort…Erglüht kein einzig – einzig – einzig Licht. Was bleibt ist schiere Dunkelheit. S]
Der Rezitator wird diese á-(a)-Kombination sicherlich dunkel, das á am Anfang des Gedichts jedoch eher hell färben. Daraus ist ersichtlich, dass die klangliche Stimmung von Vokalen teilweise verändert werden kann; allerdings ist diese Stimmung im Vergleich zu derjenigen, die sich aus der Bedeutung des Wortes ergibt, das den betreffenden Vokal enthält, relativ schwach. Widersprechen sich nämlich die beiden Stimmungen, wird die klangliche Stimmung durch die gedanklich-inhaltliche unterdrückt. Das Wort „žal“ [Leid] klingt für uns traurig, obwohl es den Vokal a beinhaltet, das Wort „úsměv“ [Lächeln] dagegen hell, obwohl es das dunkle u enthält. Diese Stimmung, die sich aus der Bedeutung des Wortes ergibt, besprechen wir im Absatz II. Aus allen diesen Ausführungen können wir darauf schließen, dass das Wesen der Musikalität nicht in der Färbung einzelner Laute und in der sich daraus ergebenden Stimmung zu finden ist, denn diese steht nicht immer in Einklang mit der sich aus der Bedeutung des Wortes ergebenden Stimmung. Wo es eine solche Übereinstimmung gibt, wird sie vom Dichter gerne eingesetzt, denn die klangliche und gedankliche Stimmung eines Wortes – zu
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einem Ganzen verschmolzen – verstärken sich nach dem allgemeinen ästhetischen Gesetz4 in einem außergewöhnlichen Maße. Liegt keine solche Übereinstimmung vor, was meistens der Fall ist, geht die spezifische Stimmung des einzelnen Vokals unter. Die Musikalität der analysierten Verse von Bezruč entstammt also dem zweiten Moment, der Nutzung des gleichen Vokals in mehreren Versen, wobei es, wie aus dem vorigen ersichtlich, unwichtig ist, dass der dunkle Vokal o benutzt wurde. Diese Verse wären musikalisch, auch wenn wie in dem letzten Beispiel von Mácha der Vokal á überwiegen würde. Es geht also nur darum, dass sich ein Vokal auffällig wiederholt und immer wieder auftaucht. Allgemeiner ausgedrückt: die Lautgruppen sind bewusst nach bestimmten Regeln geordnet. Die Musikalität ist also eine kollektive Qualität, die wir dann, wenn sie nach bestimmten Regeln gebildet wurde, Formationsqualität nennen. Auch der Begriff formal wäre möglich, doch müssten wir uns bewusst machen, dass es sich in diesem Fall um keine leere Form, sondern um einen geformten Stoff (d. h. um Klänge von Lauten) handelt, weil auch der Klang der Vokale zur Geltung gelangt, indem er sich wiederholt. Das erste dunkle o in dem Wort „noc“ [Nacht], dessen Stimmung mit der gedanklichen Stimmung des Wortes übereinstimmt, „eicht“, wenn ich es so sagen darf, unser Gehör auf alle weiteren o-Laute, so dass wir ihren dunklen Klang auch in Wörtern empfinden, wo er uns unter anderen Umständen (z. B. in fröhlichen Versen) entgehen würde. So beispielweise in den Wörtern „rozední“ [hell werden] oder „modlil“ [er betete]. Als Beispiel dafür, wie ein Dichter eine solch gehäufte Wiederholung eines Vokals einzusetzen weiß, führe ich das Gedicht „Řeka“ [Der Fluss] von Sova an. Die ersten Strophen schildern die Quelle und den Fluss: Byla jak dítě – tenký byla pramének, blýskavý mezi hrubozrným pískem. – (Vybouřené smutky.) [Sie war wie ein Kind – wie ein dünner Strom, glitzernd in dem grobkörnigen Sand. – (Ausgestürmte Trauer.)]
In diesen Strophen kommen i und y (kurzes wie langes) auffällig häufig vor, worauf insbesondere das Wort „blýskavý“ [glitzernd] aufmerksam macht. In den ersten zwei Strophen (14 Zeilen, 145 Silben) finden wir 25 i + 17 y
4 Das sog., von Fechner definierte Prinzip der „ästhetischen Hilfe“, das besagt, dass der resultierende Eindruck bei der Übereinstimmung zweier unterschiedlicher Auswirkungen eines einzigen Gegenstands viel größer als ihre bloße Summe ausfällt.
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= 42, dagegen wäre die Normalzahl 32,5 in den weiteren drei Strophen (18 Zeilen, 189 Silben) 37 i + 16 y = 53, dagegen wäre die Normalzahl 42. Diese häufigen i (y) verleihen den Versen den Eindruck eines gewissen Glitzerns, von Filigranität und Beweglichkeit, was noch dadurch verstärkt wird, dass in ihnen auffällig wenig der dunkelste Vokal u vorkommt. Die ersten zwei Strophen beinhalten nur 3 u (dagegen wäre die Normalzahl 7), die weiteren drei Strophen dann 6 u (gegen die Normalzahl 9–10 u). Aber ab der Strophe To vyšel první člověk smutný… [Da ging der Erste traurig aus…]
vermehrt sich die Anzahl von u auffällig, sodass wir nur in dieser Strophe (6 Zeilen, 61 Silben) 5 u (gegen die Normalzahl 3) finden können, während die Anzahl von i (y) gerade auf die Normalzahl 13 sinkt. Zieht man noch die zwei folgenden Strophen heran, insgesamt also 15 Zeilen mit 153 Silben, so ergibt sich, dass die Anzahl von i (y), insgesamt also etwas mehr als die Normalzahl 34 ist, während es von den dunklen u insgesamt 14 gibt, also mehr als die normalen 7–8. Es genügt diese Ergebnisse mit den zwei ersten Strophen zu vergleichen, die fast die gleiche Silbenanzahl beinhalten wie diese, um die Unterschiede in der Anzahl von i (y) und u deutlich werden zu lassen. Die Wiederholung eines bestimmten Vokals ist demnach nicht der einzige Faktor von Musikalität; auch eine vorübergehende Einschränkung oder Ausschließung eines Vokals kann wirken, wird sie in höherem Maße oder auf eine andere markante Weise verwendet. Nach dem psychologischen Gesetz des Kontrasts ist dann die Wirkung des Klangs dieses Lautes eine außerordentliche. Ein gutes Beispiel dafür bietet wieder die Gefängnisszene in „Máj“: Zde v noční klín ba luny zář, ba hvězdný kmit se vloudí – tam jen pustý stín. [Hier in den Schoß der Nacht dringt Mond – und Sternenschein – dort aber – dort – ach – Schatten bloß B] [In diesen finstern Ort bisweilen Mondschein, Schein der Sterne bricht, Doch dort herrscht bloßer Schatten… S]
5 Nach der Analyse Frintas (novočeská výslovnost, S. 172) kommen in der tschechischen Normalsprache 82 i (y) auf 360 Silben, also ungefähr nur 2/9, dagegen nur 18 u (d. h. 1/20).
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Sicherlich wirkt dieses u, das mit der gedanklichen Stimmung des Wortes „pustý“ [wüst] übereinstimmt, mit seiner dunklen Stimmung auf uns. Aber nach diesen Versen folgen weitere 12 Verse, in denen der Vokal u sehr selten auftaucht und manchmal nur als Diphthong ou. Die letzten Verse der schaurigen Überlegungen des Gefangenen enthalten schließlich überhaupt kein u: Bez konce ticho – žádný hlas bez konce místo – noc i čas, to smrtelný je noci sen, to, co se nic nazývá. A než se příští skončí den, v to pusté nic jsem uveden… [Endlose Stille – lautlos – weit – endlose Stätte – Nacht und Zeit – das ist des Sinnens Todestraum, der Nichts zu nennen wäre. Eh noch der nächste Tag vergeht, bin ich in jenes Nichts geweht… B] Unendlich Stille – keine Stimme weit – Unendlich Raum – und Nacht – und Zeit – – – Das ist des Sinnes Todestraum, Das, was sich ‚Nichts‘ benennt. Und wenn der nächste Tag sich kaum Geendet, tret ich in den leeren Raum. – – S]
Der Eindruck dieses plötzlichen u in dem Wort „pusté“ [wüst, leer], das uns sicherlich noch aus den vorigen Versen in Erinnerung ist, ist enorm. Als ob es plötzlich auch noch die spärlichen Lichter auslöschen würde! Zu Recht begrenzte ich also die Definition des Wesens der Musikalität nicht nur auf die Wiederholung eines Vokals, sondern fasste es allgemeiner auf als eine Gruppierung von Lauten nach einer bestimmten Regel. Diese „Regel“ besteht zum einen aus einer häufigen Wiederholung, zum anderen aus der vorübergehenden Vermeidung eines Vokals. Es sind aber auch andere Regeln denkbar. Selbstverständlich werden uns diese Regeln beim poetischen Genuss nicht oder höchstens ausnahmsweise logisch bewusst, sondern wir verstehen sie intuitiv, genauso wie ein Musiker die Regeln intuitiv versteht, nach denen sich die Töne zu einer Melodie verbinden (das sog. „Melodie verstehen“). Durch eine wissenschaftliche Analyse können manche dieser Regeln, zumindest die auffälligeren und allgemeineren, ermittelt werden. Ich möchte hier noch ein paar weitere anführen, die zur Musikalität des Verses beitragen. Einmal ist dies die Wiederholung derselben oder einer ähnlichen Abfolge von Vokalen in angrenzenden Silben. In den oben angeführten Versen
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von Bezruč wiederholt sich z. B. die Abfolge von a–e in den Anfangswörtern: „Tak děje se. Pán chce.“ Ferner wiederholt sich die gleiche Abfolge mit einem eingeschobenen i (y), also a–i(y)–e in den Wörtern: „nad mým lidem. Zahynem…“. Ähnlich die Reihenfolge o–i(y) in den Wörtern: „noci… modlil…pomsty“. Auch die Assonanz kann als Sonderfall dieses Phänomens gelten, wobei sich hier neben den Vokalen zugleich noch der sich meist an den letzten Vokal anschließende Konsonant wiederholt. Häufig wird dieser Vokal sogar nur durch einen ähnlich klingenden Konsonanten ersetzt. Konsonanten sollten nämlich ebenfalls zu Trägern der Musikalität erklärt werden, denn sie sind ebenso wie die Vokale Klänge, nur eben keine musikalischen, d. h. sie haben keine „Höhe“. Die Akustik lehrt uns, dass musikalische Klänge durch die Anordnung ihrer „Obertöne“ eigentlich versteckte Konsonanzen sind, während Konsonanten meistens Dissonanzen bilden. Daraus erschließt sich, warum Vokale im Vergleich zu Konsonanten so auffällig wohlklingend sind, wozu freilich auch die Länge ihres Klangs beiträgt. Eine auf Vokale angelegte Struktur klingt daher besonders schön und der Begriff „Musikalität“ entstand gewiss unter diesem Eindruck.6 Aber genauso wie jede Musik nicht nur wohlklingend ist, da sie aus unterschiedlichen ästhetischen Gründen (Betonung oder Kontrast) auch unschöne Akkorde benutzt, gibt es auch keinen Grund dafür, die Rede von der „Musikalität des Verses“ nur auf „schön“ klingende Verse einzuschränken. Aus Konsonanten entstehen nicht mehrheitlich Dissonanzen, viele klingen nachgerade schön, andere aber, wie z. B. die Zischlaute, scharf. Wiederholt also der Dichter um der Signifikanz willen in großem Maße einen Konsonanten, würde ich, so unangenehm er auch sein mag, den Versen ebenfalls „Musikalität“ zuerkennen. So sind für mich z. B. die folgenden Verse von Neruda „musikalisch“ – jedenfalls wild musikalisch! Smrt zvoní: Rychle, už je čas! a po pocestných běží třas. Což divu, na zvonění že nikdo hotov není! Mně hůř je: V ruce držím vak a na zvon vzpírám rudý zrak, však zvon se nehne ani. Jsem netrpěliv: Zítra? Dnes?
6 Die beste musikalische Wirkung haben französische Nasale, von den tschechischen Vokalen meines Erachtens der Diphthong ou. Siehe aus der Sammlung „Žně“ [Erntezeit] von Sova u. a. die Gedichte: Básníkova cesta [Der Weg des Dichters], Zeile 24–29 und Smír [Aussöhnung], Zeile 1–6. Auch das erste, in dieser Studie angeführte Zitat von Mácha kann als Beleg gelten.
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Otakar Zich Smrt po sousedstvu hyří kdes a já zde čekám na ni! (Prosté motivy, IV.) [Das Läuten des Todes: Eilig, es ist Zeit! und die Wanderer durchläuft ein Zittern. Was Wunder, dass fürs Läuten niemand vorbereitet ist! Mir geht es schlimmer: In der Hand einen Sack und auf die Glocke starrt mein Blick, doch die Glocke rührt sich nicht. Ich werde ungeduldig: Morgen? Heute? Der Tod streunt durch die Nachbarschaft und ich warte auf ihn Tag für Tag! (Einfache Motive, IV.)]
In diesem kurzen Gedicht versammelte der Dichter, um die schreckliche Stimmung auszudrücken, viele Zischlaute, vom schärfsten s über z, š, ž bis zu den explosiven c und č. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass das z in dem Wort „vzpírám“ [stemme] wie ein kurzes s und das zahme v in den Wörtern „hotov“ [fertig] und „netrpěliv“ [ungeduldig] als f ausgesprochen wird. Die Ansammlung von Dissonanzen ist nicht gleichmäßig verteilt, sondern wellenförmig; bis zum fünften Vers verringert sich die Zahl der Zischlaute, um darauf bis zum vorletzten Vers wieder auf fünf anzusteigen: „smrt po sousedstvu hýří kdes!“ [Der Tod streunt durch die Nachbarschaft]. Was für den Stimmungscharakter der einzelnen Vokale gilt, gilt auch für Konsonanten, obwohl man feststellen kann, dass der klangliche Charakter zumindest einiger Konsonanten beständiger und stärker ist. Trotzdem kann er durch eine gegensätzliche, sich aus der Bedeutung des Wortes ergebende Stimmung bedeutend abgeschwächt werden. Natürlich zischt das Wort „smrt“ [Tod] bei Neruda oder das Wort „pomsty“ [Rache] in dem oben angeführten Gedicht von Bezruč ganz charakteristisch – aber in „slast“ [Wonne] zischt es doppelt so viel und dennoch stört es uns nicht wirklich. Ein bisschen jedoch schon – und unsere Dichter haben sich mit dem Wort „srdce“ [Herz] herumgeplagt, weil es in ihren schönsten Liebesversen so sehr zischt und röchelt! Neben der Konsonantenhäufung kommt es in musikalischen Versen (und auch in der Prosa) an markanten Stellen auch zu vereinzelten Wiederholungen, meistens am Anfang einer bestimmten Lautgruppe, d. h. am Wortanfang. Dieser Fall ist als Alliteration bekannt. Es ist dabei nicht nötig, dass die Wörter gleich nacheinander folgen, obwohl in einem solchem Fall die Alliteration am stärksten ist. In den schon mehrfach besprochenen Versen von Bezruč beispielsweise lauten die Alliterationen; „noc – nad“, „pomsty – první – poslední“, „bard – Beskyd“. Die übereinstimmenden Konsonanten
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können sich auch innerhalb der Wörter befinden, müssen aber besonders markiert werden, beispielweise durch die Wiederholung des anschließenden Vokals. Im dritten Vers wird der Laut m durchgehend mit o kombiniert: „modlil – démonu – pomsty“. Auch für die Konsonantenwiederholung gilt, dass sie nicht gehäuft auftreten muss. Es genügt, wenn sie an zentralen Stellen eingesetzt wird. Das sind allerdings in der Regel nicht die Wortanfänge (zumindest im Tschechischen, wo relativ wenige Wörter mit einem Vokal anfangen), sondern die betonten Silben. In den betreffenden Versen von Bezruč können wir beobachten, dass das o viel gewaltiger in dem Wort „modlil“ wirkt, wo es betont ist, als in dem Wort „démonu“, wo es ohne Akzent ist. Für silbenbildende Konsonanten gilt allerdings das Gleiche. Im Vergleich zu den vorher behandelten häufigen Wiederholungen würde ich alle solchen Wiederholungsfälle als „gezielte“ bezeichnen, da sie an wenigen, wichtigen und deswegen wirkungsvollen Stellen auftreten. Die Alliteration ist, wie ersichtlich wurde, nur ein besonderer, jedoch auch der häufigste Fall der Wiederholung. Am Beispiel der Verbindung der Laute m und o ist zu sehen, dass sich nicht nur Vokale oder nur Konsonanten, sondern auch Verbindungen beider Lautarten wiederholen, ebenso wie Silben, Wortteile und schließlich auch ganze Wörter. Damit sind wir wieder an dem Punkt angelangt, von dem wir ausgegangen sind: Wortwiederholungen sind auch ein Urheber von Musikalität und es ist keineswegs notwendig, dass sich die Wörter sofort wiederholen; es reicht, wenn ein Wort mit einigem Abstand wiedererscheint. In den Versen von Mácha finden sich solche Wiederholungen häufig, wie wir bereits am ersten Zitat feststellten. In dem zuletzt zitierten Ausschnitt aus „Máj“ wiederholen sich z. B. die Worte „bez konce“ [endlos, ohne Ende] in dem 1. und 2. Vers, „noc(i)“ [Nacht(¨-e)] in dem 3. und 4. Vers, „to“ [das] in dem 3., 4. und 6. Vers und „nic“ [Nichts] in dem 4. und 6. Vers. Außerdem gibt es hier eine sich wiederholende Abfolge von i–o in den Wörtern „ticho – místo“ [Stille – Stätte] und eine Alliteration durch „smrtelný – sen“ [Todes- – Traum] usw. Besitzt aber nicht auch der Reim eine klangliche Qualität und trägt nicht auch er durch die Wiederholung einer Gruppe von Lauten zur Musikalität der Verse bei? Liest man die Verse von Mácha würde man dem zustimmen, aber in nicht musikalischen Versen würde die Antwort wohl negativ ausfallen. Diesen Wiederspruch erkläre ich im nächsten Abschnitt. Auch Wiederholungen von Wörtern oder ihrer Teile (v. a. von Wortenden) können wir als gezielte Wiederholung bezeichnen, falls sie an charakteristischen Stellen auftritt. Diese Wiederholungen sind dank ihrer Auffälligkeit den Poetiken und Rhetoriken seit je her bekannt, so dass für sie besondere Benennungen vorliegen. Charakteristische Stellen sind in der Regel die Anfänge oder Schlüsse von Sätzen, darüber hinaus auch häufig die Schlüsse von
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rhythmischen Gruppen, d. h. entweder von ganzen (Endreime) oder halben Versen (Binnenreime). Auch die Wiederholungen von Wörtern an den Anfängen oder an den Enden der Verse wurden beachtet und benannt. Das Ergebnis der Analyse können wir kurz zusammenfassen: Die Musikalität eines Verses oder einer Prosapassage ist eine klangliche Qualität, die durch eine Gruppierung von Lauten nach bestimmten, intuitiv aufgefassten Regeln gebildet wird. Das diese Auffassung begleitende Gefühl ist unabhängig von der Stimmung, die sich aus dem Klang einzelner Laute ergibt, kann sich jedoch mit dieser Stimmung in konkreten Fällen zu einer finalen, der gedanklichen Stimmung des Textes entsprechenden Atmosphäre verbinden. Der geläufige Begriff „Musikalität bzw. Musik“ für ein in Versen oder Prosa geschriebenes Gedicht ist insofern zutreffend, als diese Qualität den klang lichen Wert vom gedanklichen Wert eines Gedichts unterscheidet. Der Begriff kann also übernommen werden, wenn man in Erinnerung behält, dass er einem anderen Kunstbereich entlehnt wurde und mit seiner Verwendung dort nicht identisch ist. Der Begriff „Versmelodie“ ist dagegen unzulässig. Nicht allein deswegen, weil die Musikalität des Verses und die Melodie in der Musik zwei unterschiedliche Gegenstände sind, sondern auch, weil es in der Poesie selbst neben der Musikalität eine weitere Qualität gibt, die zu der Melodie in der Musik zumindest analog ist, nämlich der melodische Tonfall der Sprache bei der Rezitation. Diese Qualität unterscheidet sich von der Musikalität des Verses und es ist unzulässig, sie beide in demselben Kunstbereich mit dem gleichen Begriff zu bezeichnen. Bei der Musikalität geht es nicht um die Abfolge von Tonhöhen, sondern um die Abfolge von Klängen hinsichtlich ihrer Färbung. Es ist also eine phonische, keineswegs tonische Qualität. Weil ich kein Philologe bin, möchte ich hierfür nur mit Vorsicht den Begriff „Klangfolge“ vorschlagen. Zum Schluss sei noch eine Übersicht von Gesetzen der Zusammensetzung der Laute angefügt, die die Musikalität von Vers oder Prosa beein flussen:
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Diese Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern umfasst lediglich die auffälligsten Regeln. Es versteht sich von selbst, dass sich in musikalischen Versen alle diese Arten von Klangfolgen auf vielfältige Weise verbinden und vermischen können. […] Unter diesem Begriff [unmittelbarer Reproduktionsfaktor; I.S.] verstehen wir alles, was in unserem Gemüt durch die direkte Wirkung eines Sinneseindrucks, der eine Reihe von Klängen, genauer gesagt von Lauten oder Silben ist, hervorgerufen wird. Bei einer Person, welche die Sprache nicht kennt, die das Gedicht konstituiert, kommt nur der sinnliche, im Abschnitt I. beschriebene Faktor zur Geltung; die in diesem Abschnitt beschriebenen Qualitäten wie z. B. Musikalität und Rhythmik des Gedichts kann eine solche Person ganz gut begreifen, der damit verbundene geistige Prozess wird jedoch abgebrochen. Anders verhält es sich bei jemandem, der die Sprache des Gedichts kennt. Für ihn sind bestimmte Laut- und Silbengruppen Zeichen für bestimmte Vorstellungen oder Begriffe. Der gesprochene Text des Gedichts teilt sich bei ihm also in Gruppen – Wörter7 – und die zu diesen Gruppen gehörenden Vorstellungen bestimmen dann die Bedeutung der Wörter, der Sätze sowie den Sinn größerer Textgebilde, also das, was wir als „dichterische Gedanken“ bezeichnen. Die Vorstellungen, die die Bedeutung der Wörter bilden, gewinnen wir durch Erfahrung, was bereits in frühester Kindheit beginnt. Dieser Prozess ist jedoch dem des Hervorrufens entgegensetzt, denn mit verschiedenen sinnlichen (z. B. optischen) Wahrnehmungen verbinden wir bestimmte „Wörter“ und das Band zwischen dem Wort und der Vorstellung wird durch Wiederholung so fest, dass uns diese Verbindung völlig natürlich und notwendig erscheint. Sie unterliegt aber trotzdem lediglich der Konvention; der gleiche Klang „rok“ bezeichnet für einen Tschechen, einen Deutschen oder einen Engländer jeweils etwas anderes. Die Verbindung zwischen dem (klingenden) Wort und der Vorstellung wird uns deutlich bewusst, wenn wir eine Fremdsprache anhand einer anschaulichen Methode lernen; lernen wir sie aber durch Übersetzung, tritt zwischen das Fremdwort und die Vorstellung als Brücke ein Wort aus unserer Muttersprache, das für die gleiche (oder fast die gleiche) Vorstellung steht. Erst nach längerer Zeit verschwindet diese Brücke und wir verstehen die Bedeutung des Fremdwortes unmittelbar. Aus dem Beschriebenen wird deutlich, dass sich auf ein Wort nicht eine einzige, sondern viele, häufig sehr viele Vorstellungen beziehen. Das hängt davon ab, wie bedeutend das Wort im Allgemeinen und für uns im Speziel7
Für denjenigen, der die Sprache nicht kennt, existieren „Wörter“ in der gesprochenen Sprache nicht. Sie werden für ihn nur im geschriebenen Text deutlich. Er nimmt also „Wörter“ als logische und eventuell optische, aber keineswegs als akustische (phonetische) Einheiten wahr.
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len ist. Zudem sind es nicht nur optische Vorstellungen, die mit einem Wort verbunden sind (wie z. B. das Aussehen meines Freundes X und alle seine Veränderungen mit dem Namen des Freundes für mich verbunden sind), sondern auch akustische, (seine Sprache,) haptische usw., ja sogar ganze Gedanken, Ereignisse und Kenntnisse. Natürlich wird beim Hören des Wortes nicht diese ganze Anhäufung von Vorstellungen hervorgerufen, sondern nur gewisse Teile davon, und zwar umso undeutlicher, je vielfältiger diese Vorstellungen sind, was man am besten bei Allgemeinbegriffen beobachten kann (vgl. unser Hund – Hund – Säugetier). In der dichterischen Sprache kommt diese Vorstellungsanhäufung aber in einer besonderen Weise zur Geltung. Das, worin sich die dichterische Sprache von der alltäglichen oder sogar wissenschaftlichen Sprache unterscheidet, ist ja die außergewöhnliche Stimmungshaftigkeit ihrer Wörter. Diese Stimmungshaftigkeit wird eben durch das Ensemble von Vorstellungen bewirkt, die mit dem Wort verbunden sind, und ist also eine Funktion der „Bedeutung“ des Wortes. Lesen wir daraufhin folgende Verse: Vidíš-li poutníka, an dluhou lučinou spěchá ku cíli, než červánky pohynou? Tohoto poutníka již zrak neuzří tvůj, jak zajde za onou v obzoru skalinou, nikdy – ach, nikdy! To budoucí život můj. [Siehst du den Wandersmann, der durch die Wiesen spät zum Ziele eilt, bevor das Abendrot vergeht? Nein, diesen Wandersmann erblickst du nie mehr, nein, bis er verschwindet dort in Felsgebirgen weit, nie mehr, ach nimmermehr! Das ist mein künftig Sein. B] [Siehst du den Pilger, der durch weites Wiesenland Zum Ziele strebt, eh noch das Feuer ausgebrannt? Den Pilger wird dein Auge nimmermehr erspähen, Wie er dort schwindet hinter ferner Felsenwand, Ach, nie und nimmer! Diesen Weg werd’ ich nun gehen. S]
Das Wort „nikdy“ [nie] übt eine gewaltig stimmungsvolle Wirkung auf uns aus. Der Grund dafür liegt darin, dass sich im Laufe unseres Lebens sehr viele Vorstellungen und emotional gefärbte Gedanken mit diesem Wort verbunden haben. Wie viele Male haben wir uns beim Verlust von etwas Geliebtem, beim Abschied, beim Tod eines geliebten Menschen dieses Wort wiederholt und seine schreckliche Bedeutung schmerzvoll begriffen? Das alles, das dazu noch durch Eindrücke aus dem Leben anderer Menschen, aus Lektüre, Theater usw. vermehrt wird, sammelt sich beim Hören dieses Wortes an der Schwelle unseres Bewusstseins. Vielleicht tritt nichts davon in unser Bewusstsein (und wenn doch, dann nur wenig davon), aber das alles ist sozusagen in
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der Nähe und es ist die traurige Stimmung aller dieser Vorstellungen, die in unser Bewusstsein hineinstrahlt. Es ist eine Art emotionale Radiation. Was alles bedeutet z. B. für eine Mutter der Name ihres Kindes, was bedeuten für uns alle Wörter wie „matka“ [Mutter], „láska“ [Liebe], „nebe“ [Himmel], „český“ [Tschechisch], „mrtev“ [tot] usw. Es scheint allerdings, dass die Stimmung eines Wortes direkt aus seinem Klang fließt. Anhand des oben angeführten Beispiels könnte man etwa sagen, dass das Wort „nikdy“ [nie] tatsächlich traurig klingt. Das ist jedoch eine Illusion, die dadurch entsteht, dass die betreffenden, mit diesem Wort verbundenen Vorstellungen an sich (d. h. der Inhalt dieser Vorstellungen) nicht in unser Bewusstsein treten. Wir empfinden lediglich ihre Stimmung und übertragen diese auf den Klang des Wortes. Da kann es uns in der Tat so vorkommen, als ob uns das Wort durch seinen scharfen Klang gar verletzen würde. Im deutschen „nimmer“ kommt noch der harte, schneidende Klang des Lautes r dazu. Dagegen weist das französische „jamais“ nichts dergleichen auf und vermittelt einem Franzosen trotzdem den Eindruck von Trauer. Dadurch soll aber nicht behauptet werden, dass sich aus dem bloßen Klang eines Wortes keine ganz konkrete Stimmung ergeben könnte; diese ergibt sich vielmehr wirklich und wir besprachen sie bereits im Abschnitt I, 1. Diese Stimmung entspricht jedoch nicht immer der Stimmung, die aus der Bedeutung des Wortes entsteht. Stimmen die beiden Stimmungen überein, freut sich der Dichter sicherlich und nutzt sie aus (vgl. das „nevermore“ in Poes „Rabe“). Gibt es keine Übereinstimmung, gibt sich der Dichter mit der sich aus der Bedeutung des Wortes ergebenden Stimmung zufrieden, die wir also Bedeutungsstimmung nennen; diese ist so stark, dass sie auch eine ihr entgegengesetzte Klangstimmung überbietet. Es ist natürlich, dass Dichter möglichst häufig danach trachten, Wörter anzuwenden, bei denen der beschriebene Stimmungscharakter (wir könnten es auch bildlich „Stimmungsaura“ nennen) groß ist. Manchmal werden deswegen einfach solche Wörter aneinander gereiht, wobei weniger Rücksicht auf ihre logischen Verhältnisse genommen als eher ihre Stimmungsgleichartigkeit beachtet wird. Durch solche Anhäufung wird die Gesamtstimmung außergewöhnlich gesteigert, wie z. B. in Máchas „Máj“: …tak jako zemřelých myšlenka poslední, tak jako jméno jich, pradávných bojů hluk, dávná severní zář, vyhaslé světlo s ní, zbortěné harfy tón, ztrhané struny zvuk, zašlého věku děj, umřelé hvězdy svit, zašlé bludice pout, mrtvé milenky cit, zapomenutý hrob, věčnosti skleslý byt, vyhaslý ohně kouř, slitého zvonu hlas…
Von den dichterischen Typen (1917/18) 199 [wie der Verstorbenen letzter Gedankenhauch, wie ihrer Namen laut, einstiger Schlachten Drang, Polarlichtschein, der fort, mit ihm die Helle auch, geborstner Harfe Ton, zerrissner Saite Klang, vergangner Zeiten Mär, verstorbnen Sternes Schein, Kometenbahn von einst, des toten Liebchens Sein, versunkne Ewigkeit, vergessner Leichenstein, geschmolzner Glocke Laut, erloschnen Feuers Rauch B] Wie längst Verstorbener verflüchtigte Gedanken, Wie ihre Namen, wie vergang’ner Schlachten Dröhnen, Wie Nordlicht längst erstorben, Schimmer, die versanken, Zerschlag’ner Harfe Klang, gebroch’ner Saiten Tönen, Vergan’gner Zeiten Mär, verblichnen Sternes Spielen, Verloschnen Irrlichts Wandern, toten Liebchens Fühlen, Der Ewigkeit versunk’nes Sein, wie Gräber, die verfielen, Verlosch’ner Flamme Rauch, Geschmlz’ner Glocke Sturmgeläut S]
So viele kräftig stimmungsvolle Wörter, die durchwegs der gleichen Stimmung zuzuordnen sind. Einige z. B. „zemřelý (umrlý, mrtvý), dávný (pradávný), zašlý, vyhaslý“ wiederholen sich mehrfach. Für seine Apostrophe der Wolken (Kosmické písně [Kosmische Lieder]) nahm Neruda deswegen wohl auch Mácha zum Vorbild: Oblaky, oblaky, labutí křídla, šedivé hádanky, mlhová zřídla, jiter a večerů zlacené znaky, růžové kolébky, rakevní mraky, nesete praotců poslední vzdechy, – nesete potomkům první jich dechy – zdravím vás, zašlosti, přišlosti lidská! [Wolken, Wolken, Schwanenflügel, graue Rätsel, neblige Quellen, des Morgens und des Abends goldene Zeichen, rosige Wiegen, Sargwolken, ihr tragt der Urväter letztes Stöhnen, – ihr tragt der Nachfahren erste Atemzüge – ich grüße euch, Vergangenheit und Gewordensein der Menschen!]
Hier handelt es sich jedoch nicht nur um eine, sondern um den Kontrast zweier Stimmungen. Es soll nicht beschrieben werden, was für immer vergangen ist, sondern was wie die Wolken kommt und geht. Deswegen also die Gegensätze: „jitra – večery“ [Morgen – Abend], „kolébky – rakve“ [Wiege – Sarg], „poslední – první“ [letzte – erste]. Am deutlichsten wird Neruda aber im letzten Vers: „zašlosti – přišlosti“ [Vergangenheit – Gewordensein]. Ge-
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rade in dieser beinahe philosophischen Formulierung verwendet er abstrakte Begriffe von geringer Stimmung. Das Wort „zašlost“ [Vergangenheit] wirkt noch einigermaßen, da es mit dem stark stimmungsvollen Wort „zašlý“ [vergangen, verblasst] verbunden ist, das Wort „přišlost“ [Gewordensein] wirkt allerdings gar nicht (soll heißen: gar nicht auf die Stimmung!). Am Ende des Gedichts, dessen erste Strophe ebenfalls mit vielen stimmungsvollen Wörtern aufgeladen ist, lässt also die Stimmungswirkung nach. Man könnte folglich annehmen, dass der Dichter durch die „Stimmungswörter“ über ein unfehlbares Mittel zur Erzeugung eines gewaltigen Eindrucks verfügen kann. So einfach ist die Sache jedoch nicht. Die Wirkung dieser Wörter ist auch Dichtern niedrigsten Ranges bekannt und trotzdem verwandeln sich – erstaunlicherweise – diese herrlichen Wörter aus ihrem Mund in abstoßende: Nicht nur, dass Wörter wie: „láska“ [Liebe], „máj“ [Mai], „hvězdy“ [Sterne], „nebe“ [Himmel], „vlast“ [Vaterland], „srdce“ [Herz], „Čech“ [Tscheche] usw. ihren Gedichten nicht helfen, sondern im Gegenteil, auf uns widerlich wirken und das je mehr, desto stimmungsvoller sie sind. Man muss sich nur extreme Fälle ins Gedächtnis rufen, wie etwa die phrasenhaften Reimereien „hvězdo mého žití“ [Du Stern meines Lebens], „až do hrobu tmavého“ [bis zum dunklen Grab] u. ä. Umgekehrt können nicht nur wenig emotionale, sondern ausgesprochen antiemotionale, völlig alltägliche, triviale Wörter zum Träger einer gewaltigen Stimmung werden. Wer würde glauben, dass ein sicherlich völlig „unpoetisches“ Wort wie „škopíček“ [Bottichlein; kleiner Bottich] einen nahezu tragischen Eindruck hervorrufen kann? Und doch gelingt dies in der Volksballade „Osiřelo dítě“ [Das verwaiste Kind] in der Klage des Kindes gegen seine Stiefmutter: Ach není tak milá jak vy jste byla.
Když vy jste dávala, máslem jste mazala.
Když má chleba dáti, třikrát jej obrátí.
Když hlavičku češe, krev potůčkem teče.
Když vy jste česala, vy jste objímala… [Ach, nicht so nett ist sie wie du, Mutter, es warst.
Als Sie es mir gaben, war es mit Butter beschmiert.
Dreimal dreht sie das Brot, bevor sie’s mir gibt.
Kämmt sie meinen Kopf, fließt mir das Blut.
Als Sie mich kämmten, war es eine Umarmung]
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Nichts berührt mich so stark wie die nächste Strophe: Když nožičky myje, o škopíček bije… [Wenn sie meine Füßchen wäscht, schlagen sie auf den Bottich…]
Und es ist gerade das Wort „škopíček“, das eine so starke, ich würde sagen wehmütige Wirkung ausübt. Ersetzen wir es durch ein „hochsprachlicheres“ Wort, z. B.: Když nožičky myje, o zem jima bije [Wenn sie meine Füßchen wäscht, schlagen sie auf den Boden]
Gleich verspüren wir eine erhebliche Abschwächung oder Abflachung des Eindrucks, die noch verstärkt würde, wenn wir ein besonders „wirkungsvolles“ Wort einsetzten, z. B.: Když nožičky myje, bezcitně (nebo: ukrutně) mne bije. [Wenn sie meine Füßchen wäscht, schlägt sie mich herzlos (oder: grausam).]
Im Handumdrehen sind wir in den Stil von „Krämerballaden“ geraten, die zwar mit Volksballaden verschwistert, künstlerisch von diesen jedoch meilenweit entfernt sind. Diese scheinbaren Widersprüche können wir erklären, indem wir von der Bedeutung einzelner Wörter zu den Bedeutungen ganzer Sätze, d. h. zu Gedanken übergehen. Gedanken, die von dem Dichter ausgedrückt werden, besitzen unabhängig von den Wörtern, die dazu benutzt werden, ihre eigene Stimmung und ihren eigenen Charakter. Wir werden das als gedankliche Stimmung bezeichnen. Dichterische Gedanken haben in äußerst vielen Fällen gleichsam ein Eigenleben und verkörpern sich in den jeweiligen Werken unterschiedlicher zeitlich sowie räumlich voneinander entfernter Dichter. Beispielsweise der düstere Gedanke eines umsonst gelebten Lebens (vgl. das Gedicht „Přec jen jsem kdysi hlavu sklonil v smutku“ [Und doch beugte ich meinen Kopf in Trauer] und einige weitere aus dem Sammelband „Prosté motivy“ [Einfache Motive] von Neruda) oder der erhabene Gedanke der Menschheitsverbrüderung (im Gedicht „Noc tiše zpívala…“ [Frühlingsnacht] aus der Sammlung „Ruce“ [Hände] von Březina). Natürlich wählen
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die Dichter, wenn sie einen bestimmten Gedanken ausdrücken wollen, Wörter, die durch ihre Stimmung mit der Stimmung des Gedankens übereinstimmen, aber z. B. nicht, wenn sie mit Ironie oder Humor sprechen. Immer muss jedoch zwischen dem Gedanken und seinem verbalen Ausdruck eine Art enger Bund bestehen. In der Ballade „Das verwaiste Kind“ ist die Angelegenheit einfach, denn der kurze Text ist in direkter Rede des Kindes geschrieben. Seine Gedanken sind einfach, dem Umkreis seiner naiven Erfahrungen (Essen, Kämmen, Waschen) entnommen, weswegen auch ihr Ausdruck einfach sein muss. In diesem Sinne ist das Wort „škopíček“ [kleiner Bottich] außergewöhnlich treffend, während das Wort „bezcitně“ [herzlos] fast unmöglich wäre, weil es vollkommen unnatürlich wirken würde. Wir könnten daraus nun schließen: die Sprache soll natürlich, nicht gekünstelt sein. In anderen Fällen aber, wenn der Dichter beispielsweise selbst über eine erhabene Sache spricht, können wir von ihm nicht wollen, dass er nur einfach und unkünstlerisch spricht. Außergewöhnliche und neue Gedanken verlangen einen außergewöhnlichen und neuen Ausdruck. Der Dichter muss für sie die Sprache bilden, so wie der Mensch mit seinem steigenden geistigen Wachstum die Sprache bildete. Die meisten sog. dichterischen Figuren und Tropen haben eine solche Herkunft. Sie sind keine Verzierungen, sondern Umwege, durch die der Dichter das ausdrückt, was er auf einfache, direkte Weise nicht auszudrücken vermochte. Zu Verzierungen werden sie erst dann, wenn sie von anderen Dichtern, die die Kraft ihrer Wirkung begriffen haben, mechanisch übernommen werden. Dadurch sinkt jedoch zugleich ihr künstlerischer Wert, da wir ihre Notwendigkeit nicht mehr fühlen. Allgemein gesagt: das Wort muss eine Verkörperung des Gedankens, nicht nur seine, wie man so sagt, „Hülle“ sein. Die dichterische Sprache muss so beschaffen sein, dass wir den Eindruck erhielten, ein bestimmter Gedanke habe sie direkt und einzigartig (d. h. für diesen konkreten Fall) gebildet. […] Und trotzdem gehören die […] beschriebenen klanglichen und rhythmischen (sprachlichen) Qualitäten zu den wesentlichen Werten eines dichterischen Werkes. Sie bilden die Qualität des Stoffes, aus dem der Dichter sein Werk schafft; es ist psychologisch unmöglich, diesen Stoff (d. h. eine bestimmte Sprache) aus dem Gedicht zu entfernen, weil er beim Genuss eines Werkes immer wahrgenommen wird. Daher soll dieser Stoff ebenfalls künstlerisch verarbeitet werden, d. h. er soll und muss im Gegensatz zur allgemeinen (oder wissenschaftlichen) Sprache künstlerisch stilisiert werden. Nur der Umstand, dass dichterische, ursprünglich zum Hören bestimmte Werke auch gelesen werden und zwar immer mehr, ja sogar ausschließlich, und dass der Klangfaktor dadurch fortwährend in den Hintergrund gedrängt wird, nur dieser Umstand ist verantwortlich für den ungeheuren Verfall an künstlerischer Stilisierung anhand des Faktors I. Deswegen entstehen Werke, v. a.
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prosaische Werke (Romane u. a.), die „nur zur Lektüre“ bestimmt sind und deren klangliche Seite daher vollkommen vernachlässigt wird. Und in der Tat „lesen“ wir sie auch nur, d. h. wir gehen bei diesen Werken von den optischen Eindrücken (Schrift) direkt zu den Gedanken über. Beides ist falsch. Kein wirklich großes dichterisches Werk, einschließlich der Prosa, ist (im Original natürlich) so einseitig und kein solches Werk darf so einseitig „gelesen“ werden, wenn wir aus ihm einen Genuss haben wollen. Werke, welche die in Kategorie I gehörenden Qualitäten vernachlässigen, sind zwar dem Schrifttum, keineswegs jedoch der Dichtung zuzuordnen. Und das umso weniger, als wir von der Literatur im Allgemeinen, beispielsweise auch von der Fachliteratur, zu Recht fordern, dass diese nicht nur durch ihre gedankliche, sondern bis zu einem gewissen Grad auch durch ihre sprachliche Seite wirkt.
19. Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865) §. 563. Die Normen der Logik existiren verbietend für die Gedankenphantasie, wie die der Statik für die plastische; beide aber existiren auch gebietend für dieselben, insofern dabei sowohl vom besondern Inhalt der Gedanken, wie von der besondern Qualität der erfüllenden Materie abgesehen wird. Wenn z. B. einmal eine Person im Gehen dargestellt wird, so verlangt die Statik dieselbe so zu denken, wie sie sich als schwerer Körper erhalten kann, ohne zu fallen; wenn einmal gewisse Gedanken ihrem Inhalt nach gegeben sind, so verlangt die Logik, auch dasjenige als gegeben anzusehn, was aus dem Inhalt jener mit Nothwendigkeit folgt. Auf die physikalische Beschaffenheit des schweren Körpers, der z. B. ebensogut lebendig als leblos sein kann, kommt es in diesem Fall so wenig wie auf die wissenschaftliche des Gedankeninhalts, ob er z. B. wahr oder bloss erdichtet sei, an. Sobald A und B im Verhältnisse des Grundes zur Folge zu einander stehen und A wird gedacht, so muss auch B gedacht werden. […] §. 565. Nimmt sie bei der Aufeinanderfolge ihrer Gedanken nur auf den ästhetischen Einklang Rücksicht, so verfährt sie in logischer Hinsicht willkürlich, d. h. sie sorgt zwar dafür, dass zwischen den einzelnen Gedanken Harmonie, nicht aber, dass in irgend einer andern Beziehung der Inhalt der Gedanken herrsche. Es ist ihr z. B. ganz gleichgiltig, ob der Inhalt des Gedankens A, der in ihrer Gedankenreihe früher steht, so beschaffen sei, dass er eigentlich erst nach dem Inhalt des Gedankens B, der bei ihr später steht, kommen dürfte, entweder weil er die Folge von B und dieser sein Grund, oder weil B einem Punct in der Zeitlinie verknüpft ist, der vor dem Punct in derselben, der durch A ausgefüllt wird, gelegen ist. Sie verstellt daher nicht nur die
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Zeit- sondern auch die Causalitätsverhältnisse der Inhalte ihrer Gedanken, oder sie behält sie bei, jenes ohne sich ein Gewissen, dieses, ohne sich ein Verdienst daraus zu machen, denn beides ist ihr „ganz egal.“ Sie springt mit den zeitlichen und Causalitätsbestimmungen ihrer schönen Gedanken mit so souveränem Belieben um, wie es ihr Ebenbild auf wissenschaftlichem Gebiete, der Sophist, mit der Rücksicht auf wahre oder bloss scheinbare Begründung der Gedanken thut, indem er sich rühmt, schwarz weiss und weiss schwarz machen zu können. Sie ist der reinste Ausdruck blosser Phantasie auf ästhetischem, wie der Sophist bloss subjectiver Meinung auf wissenschaftlichem Gebiete, und die Producte des Letzern stehen daher mit Rücksicht auf deren objective Giltigkeit und Richtigkeit angesehen, blossen „Märchen“ am allernächsten. Beide gleichen auch hierin einander, dass der Sophist, da ihm die Sache selbst gleichgiltig und seine Meinung nicht durch die Uebereinstimmung mit dieser, sondern durch seine Willkür dictirt ist, auch nicht aus der Sache den Antrieb zum weitern Fortschritt findet, sondern statt durch die Dinge bewegt zu werden, sich an ihnen beliebig hin und her bewegt, also eigentlich immer bleibt, wo er längst war, nämlich im Netz seiner Subjectivität; während die lyrische Gedankenphantasie, da sie ausschliesslich durch den auf der Aehnlichkeit beruhenden Einklang ihrer Gedanken gelenkt wird, auch aus dem einmal eingeschlagenen Zauberkreise nicht hinaus findet, sondern sich beständig in verwandten Bildern, die also alle wesentlich desselben Inhalts sind, wie im Kreise dreht, und uns dasselbe, jedesmal schön, aber immer wieder sagt. […] §. 646. Wie dem ästhetischen der wahre Gedanke, so steht der Gedankenphantasie, dem ästhetischen Ganzen ästhetischer, das Erkenntnissystem, das logische Ganze wahrer Gedanken zur Seite. Während bei jener das ästhetische das Haupt-, das logische Verhältniss der Gedanken das Nebenband, macht bei diesem umgekehrt das letztere das Hauptband unter denselben aus, welches im Fall seiner Abwesenheit durch jedes anders beschaffene nur sehr unvollkommen ersetzt werden kann, im Fall seiner Anwesenheit dagegen durch jedes hinzukommende andere nur überflüssig vermehrt wird. Nimmt man bei der Aufeinanderfolge der Gedanken auf ihren Inhalt als solchen keine Rücksicht, so kann der Grund derselben nur in dem verbindenden Subject selbst liegen, welches mit diesen verfährt, wie es ihm beliebt, also willkürlich, dasjenige z. B. voranstellt, was seinem Inhalt nach nachfolgen sollte und umgekehrt, sich also auch nicht durch die Rücksicht auf wirkliche Wahrheit oder Falschheit der Gedanken bestimmen, sondern einen Gedanken wie den andern beliebig als wahr oder als falsch gelten lässt, wie es ihm eben bequem ist, mit einem Wort: faselt. Ein solches Gedankenganzes drängt daher den Gedanken eine Reihenfolge auf, welche nicht die ihnen gebührende, deren Grund nur in der Willkür des Subjects, in seinen persönlichen Zwecken gele-
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gen ist, bildet ein nur subjectiv giltiges Gedankengewebe, eine Meinung, welches, wenn es mit dem Anspruch auftritt, mehr als ein solches d. h. objectiv giltig, Wissenschaft zu sein, ein sophistisches System heisst. §. 647. Dasselbe hat mit der lyrischen Gedankenphantasie gemein, dass beide auf die zeitlichen sowohl als causalen Bestimmungen des Gedankeninhalts bei dessen Verknüpfung keine Rücksicht nehmen, also insofern beide „faseln,“ unterscheidet sich aber von letzterer dadurch, dass diese nur „Phantasie“ d. i. schöner, die Meinung aber „Wissen“ d. i. wahrer Gedanke entweder sein oder wenigstens scheinen d. i. von sich oder von Andern dafür gehalten sein will. Zu diesem Zweck nimmt die letztere den Schein an, als liesse sie sich in der That durch den Inhalt ihrer Gedanken leiten; während im Grunde sie es ist, welche den Inhalt ihrer Gedanken nach Willkür bestimmt. Und da dasjenige, was den logischen Normen widerspricht, weder wahr sein, noch auch wahr scheinen kann, so nimmt sie entweder den Schein an, als seien ihre Gedankenverknüpfungen den logischen Normen gemäss, oder sie folgert aus unwahren Vordersätzen auf formell richtige Weise unwahre Schlusssätze, oder sie bestreitet die Giltigkeit der logischen Normen selbst und setzt andere an deren Stelle, denen zufolge, wenn sie selbst zulässig, auch ihre sophistischen Gedankenverknüpfungen erlaubt oder sogar nothwendig wären. §. 648. Dieser sophistischen „Gedankenfaselei,“ die sich zur lyrischen Gedankenphantasie wie Prosa zur Poesie verhält, steht die historische Gedankenauf- und die philosophische Gedankenauseinanderfolge wie epische und dramatische Gedankenphantasie der lyrischen gegenüber. Geschichtlicher wie philosophischer Gedankengang halten sich an den Inhalt der wahren oder für wahr gehaltenen Gedanken, jener an dessen zeitliche, dieser an dessen Causalbestimmungen. Beide lassen die Sache selbst reden, während der „Fasler“ sich reden macht. Beide verknüpfen die Gedanken ihrem natürlichen, der Sophist einem aufgezwungenen Zusammenhang gemäss, und stellen dem künstlichen Gedankengespinnst des Letztern das geschichtliche und das philosophisch nothwendige Gedankensystem entgegen. §. 649. Die bisher betrachteten Arten der Phantasie sind einfache Kunstwerke des Vorstellens d. h. ihr Stoff ist durchaus homogener Art. Es sind entweder wie bei der Simultan- durchaus simultane, oder wie bei der successiven Phantasie durchaus successive Verhältnisse; das Schöne ist entweder Formen- oder Empfindungs- oder Gedankenschönes und daraus ergeben sich nacheinander die metrische, lineare, planare und plastische einer-, die rhythmische, luminare, chromatische, modulatorische, phonetische und Gedankenphantasie andererseits. Da es […] zu den ersten Bedingungen des ästhetischen Verhältnisses
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gehört, dass dessen Glieder vergleichbar seien, so lassen sich die Glieder der genannten Arten unter einander nicht mischen, sondern höchstens mengen d. h. sich wohl in ein Ganzes vereinigen, aber so, dass immer die Glieder derselben Art ein Solches unter einander ausmachen. Und zwar wird das letztere um so leichter angehen, je verwandter die übrigens heterogenen unter höhern Gesichtspuncten angesehen sind und daher unter diesen verträglich erscheinen. §. 650. Ein solcher höherer Gesichtspunct ist für alle Arten des simultanen Vorstellens die Simultaneität, für alle des successiven die Succession der Verhältnissglieder, für simultanes und successives Vorstellen zusammen die Messbarkeit. Die metrische Phantasie mit der linearen vereinigt gibt die architectonische, alle drei Arten der simultanen Phantasie mit der metrischen zusammen geben die eigentliche bildnerische Phantasie. Von den Empfindungsphantasien verträgt sich die vorzugsweise simultan auffassende des Gesichtempfindens, die luminare und chromatische am besten mit jeder Art der simultanen so wie mit der Vereinigung aller zusammengenommen, wodurch dieselbe zur malerischen wird. Die vorzugsweise successiv auffassende des Gehörempfindens dagegen, die modulatorische sowohl als die phonetische, vereinigen sich mit der rhythmischen zur musikalischen, die nur successive des Gedankenvorstellens mit der rhythmischen, modulatorischen und phonetischen zur poetischen Phantasie. §. 651. Unvereinbar sind nur jene zwei, in welchen dieselben leeren Stellen des Vorstellens durch zweierlei einander disparate Vorstellungsarten müssten ausgefüllt werden, also die malerische und die poetische, die musikalische und die poetische Phantasie. Bei der erstern sind die leeren Stellen der Raumform bereits durch Gesichtsempfindungen ausgefüllt und können es daher nicht nochmals durch Gedanken werden; bei den letzteren sind es die leeren der Zeitform durch Gehörsempfindungen und können daher nicht nochmals bestimmten Vorstellungen Platz gewähren. Das simultane leere Formvorstellen kann in die Zwischenräume wohl Farbenempfindungen, das successive leere rhythmische Vorstellen wohl Musikalisches oder Poetisches, aber nicht beides zugleich so aufnehmen, dass jedes seine selbstständige Geltung behaupte und sich mit andern seiner Art zu einem ästhetischen Ganzen zusammenschliesse. Entweder das Eine oder das Andere, die Gesichtsempfindung oder der Gedanke, das Musikalische oder das Poetische müsste dann zum blossen Medium, zum Stellvertreter des Andern herabsinken d. h. Zeichen werden statt selbst Bezeichnungswerthes zu sein. §. 652. Man könnte nun fragen, ob sich die bildnerische, bei welcher die leere Raumform weder durch Empfindungen noch durch Gedanken ausgefüllt ist, sowohl mit der musikalischen als poetischen Phantasie vertrage?
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Der Vereinigung steht in beiden Fällen die Heterogenität des simultanen und successiven Vorstellens entgegen. Dieselbe lässt sich zwar künstlich dadurch überwinden, dass die simultane selbst in eine successive Form verwandelt d. h. dass die zugleichseiende Form nach einander vorgestellt wird, als entstehende oder aus einer in die andere übergehende Form, etwa wie die sogenannten Nebelbilder oder wie die Antiken des Belvederes, wenn die nach Goethe’s Vorschlag mit Fackeln flackernd beleuchtet oder mit im raschen Wechsel geschlossenen und wieder geöffneten Augen betrachtet werden. Jedoch bleibt in allen diesen Fällen ein reines Gesichtsempfindungselement übrig, da wir weder Lineares ohne eingeschlossene Ebene, noch körper liche Flächenform ohne wechselnde Beleuchtung vorzustellen gewohnt sind, Achromatismus keineswegs mit Licht und Schattenlosigkeit identisch ist. Im Allgemeinen lässt sich aber hier schon bemerken, dass sich zur poetischen oder musikalischen Illustration die Randzeichnung, die schattirte Arabeske, die farblose Plastik besser schickt, als das Gemälde, die illuminirte Miniatur oder die bunte Majolica. Das volle Malerische mit dem vollen Poetischen oder Musikalischen vertragen sich nicht untereinander; zum mindesten wird die Farbe gedämpft, die das Gedicht, der Ton, der das Gemälde begleiten soll. §. 653. Daher ist auch das Phonetische des Poetischen ein ganz anderes als das des Musikalischen. Hier ist es selbst das Letzte, dort hat es am Gedanken, dessen Zeichen (als Wort) es ist, noch einen weiteren Hintergrund. Das Phonetische der Musik beansprucht selbstständige, das der Poesie nur dem Gedanken sich unterordnende Geltung. Zwar ist es nicht bloss Zeichen, ja vielmehr, da hier bloss von der Erscheinung des Geistes für sich, noch nicht von jener für Andere die Rede ist, es ist noch gar nicht Mittheilungs zeichen, es lässt sich als blosser Klang, Laut betrachten; die phonetische Phantasie, die sich mit der Gedankenphantasie zur poetischen verbündet, tritt als Klangphantasie auf, welche die leeren Zeitabschnitte der rhythmischen Form ausfüllt. Dennoch, weil die Gedankenphantasie dieselben Zeitabschnitte gleichfalls, aber mit Gedanken erfüllt, frägt es sich, ob die Klangvorstellung dem Gedanken, oder dieser jener Platz zu machen habe. Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein; Poesie, in welcher der Gedanke dem Klange weicht, ist „Klingklang“; solche aber, in welcher das Phonetische zum blossen gleichgiltigen Lautzeichen erniedert ist und für sich gar keine eigenthümliche Schönheit besitzt, „unmusikalisch“. Es gehören eben alle drei Elemente, das Gedanken-, das phonetische und das rhythmische Element dazu, um das Poetische vollständig zu machen. Wie das Musikalische, ist es für das Gehör bestimmt; der Rhapsode erst macht das Gedicht lebendig, wie der Virtuos das Tonwerk; der Dichter hört seine poetische, wie der Componist seine Tonschöpfung. Darin liegt der Vortheil, welchen „musikalische“ d. i. Sprachen, in denen das phonetische Element selbstständige Schönheit
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Josef Durdík
besitzt, vor unmusikalischen, die romanischen Sprachen vor den germanischen, die älteren Formen der deutschen Mundart vor den jüngeren voraus haben. Gesellt sich dazu überdiess eine modulatorische Schönheit, für welche gleichfalls die südlichen, sowie überhaupt die der Natur näher stehenden Völker mehr Neigung und Sinn besitzen, als die nördlichen, die modernen und die mehr civilisirten, so wird begreiflich, dass das Poetische bei musikalischen und modulatorischen Völkern mehr nach der phonetischen Seite neigt, oder diese wenigstens werth hält, während bei unmusikalischen und unmodulirten Nationalsprachen das Gedankenelement desto stärker in den Vordergrund tritt, überhaupt dort mehr um des Klanges, hier um des Sinnes willen (Klinggedicht und Sinngedicht) gedichtet wird.
20. Josef Durdík: Poetik als Ästhetik der Dichtkunst (1881) Das Wort als regulierter, gegliederter (artikulierter) Klang ist das Zeichen eines inneren Zustands (im engeren Sinne: einer Begriffsvorstellung). Es ist ein Mittel zum Zweck und entsteht in seinen primären Elementen als eine Bewegung (ein Gestum) unserer Sprechwerkzeuge (im breiteren Sinne auch die beweglichen Teile unseres Körpers wie z. B. Augen, Hände usw.). Das Sprechen ist also eine Art Bewegung (Gestikulieren). Die Sprache weist auf Vorstellungen hin, d. h. sie drückt diese Vorstellungen auf indirekte Weise und durch Zeichen aus, die auch anders sein können. Wenn ich mir ein Rot vorstelle und diesen Eindruck durch ein Mittel (z. B. einen Farbstoff) bei einem anderen Menschen hervorrufe, herrscht zwischen mir und dem anderen Einigkeit. Wie verstehen einander und zwar mit Hilfe des für uns beide gleichbedeutenden Zeichens, das keine andere Erklärung erlaubt. Für viele geistige Zustände gibt es also natürliche oder direkte Zeichen. Als direkte Zeichen können alle Eindrücke der höheren Sinne bezeichnet werden, also Licht und Farben, Töne und Geräusche und zwar in allen ihren Arten und in unterschiedlichen Stärke- und Qualitätsabstufungen. Auch alle Gruppen, die aus diesen Eindrücken gebildet werden können, sowie jede sachliche Erscheinung, auf die es zu zeigen genügt, um in einem anderen Gemüt ihre Vorstellung hervorzurufen, sind als direkte Zeichen zu bezeichnen. Genauso oder zumindest beinahe so klar sind auch Hinweise auf bestimmte intensive Emotionen und Leidenschaften, die also ebenfalls zu den direkten Zeichen gehören: ein Seufzer als Zeichen des Leids, das Lachen als Zeichen der Fröhlichkeit, Interjektionen, „Naturklänge“. Je komplexer ein geistiger Zustand wird, umso unklarer wird auch der Sinn des Zeichens. Bei einigen Urzuständen ist die Bedeutung wohl allen Menschen klar und deutlich; bei anderen gehen jedoch das zu bezeichnende Ding und das entsprechende Zeichen auseinander, die Zeichen versagen und können nicht zum gegenseitigen Ver-
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ständnis beitragen. Um trotzdem ein Verstehen zu ermöglichen, wird jedem Zeichen vorsätzlich ein bestimmter Sinn zugeordnet und zwar nur einer und kein anderer. Genau dieses Phänomen ist gemeint, wenn man sagt, dass die Sprache keineswegs etwas in der Natur Gefundenes, sondern eine künstliche Frucht der Gemeinschaft ist. Wäre sie ausschließlich aus natürlichen Zeichen gebildet, müsste sie für jeden verständlich sein, eben genauso wie die rote Farbe, wie Apfel oder Wasser… Für einen Ausländer ist jedoch ein Wort bloß ein Klang, während ein Einheimischer bestimmten Zeichen Begriffe oder Vorstellungen zuordnen kann. Gerade aufgrund der Künstlichkeit der Sprache konnten überhaupt so viele unterschiedliche Sprachen entstehen; denn für eine Vorstellung kann es viele unterschiedliche Zeichen geben, die willkürlich sind und erst durch den menschlichen Vorsatz mit bestimmten Vorstellungen verknüpft werden, d. h. künstlich sind. Die Behauptung, Sprache sei künstlich, darf jedoch nicht so ausgelegt werden, als ob alle Früchte der Sprache aus dem Bereich der Naturgesetze völlig ausgeschlossen wären. Eine Maschine ist beispielsweise selbstverständlich ein künstliches, vom Menschen vorsätzlich konstruiertes Werk, aber trotzdem steht sie nicht außerhalb der Naturgesetze, sondern wird eben gerade nach diesen gebaut und nutzt diese zu ihren eigenen Gunsten. Obwohl die Sprache eine der Natur des Menschen entspringende (nämlich in der Natürlichkeit des Menschen wurzelnde, durch diese geprägte und sich aus dieser notwendig ergebende) Frucht des menschlichen Geistes ist, ist sie künstlich (da sie erst in einer Gemeinschaft entstehen konnte und erst in deren weiterer Entwicklung festgelegt wurde). Sie ist also keine reine Naturerscheinung, obwohl sie genau wie unser Vorstellungsvermögen, unsere Bewegungen sowie alle Taten des Gemeinschafts geistes bestimmten Gesetzen unterliegt. Der Unterschied zwischen dem Begriff „der Natur des Menschen entspringend“, was so viel wie selbstverständlich, begründet, sich aus den gegebenen Bedingungen ergebend bedeutet, und dem Terminus „natürlich“, der sich auf die Natur bezieht und also außerhalb der Gemeinschaft und jeder Absichtlichkeit entstandene Dinge bezeichnet, sollte daher klar sein. Das Vorstellen ist die grundsätzliche Tätigkeit des menschlichen Geis tes. Wenn Vorstellungen mit Hilfe von Bewegungen geäußert, also anderen mitgeteilt werden, entsteht Sprache im weitesten Sinne – es wird gesprochen. Durch die in der Sprache angewandten Zeichen verbessert sich wiederum das Vorstellen selbst und wird zum Denken, das entweder im Nachsinnen oder im Dichten besteht. Die sprachlichen Ausdrücke entstehen auf der Grundlage von Vorstellungsbildern und neue Vorstellungsbilder entwickeln sich auf der Grundlage der Wörter. (Vgl. meine Studie „Psychologie“ § 100 ff.). Diese Prozesse verlaufen in folgender Reihenfolge: Vorstellen, Sprechen, Dichten. Von den hörbaren schreitet das Denken zu den sichtbaren Zeichen, also zum Schreiben voran, um die Sprache zu verfestigen und zu erhalten. Die
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Josef Durdík
Erkenntnis über die engen Zusammenhänge zwischen diesen Tätigkeiten macht deutlich, dass das Dichten mit der Sprache fest verbunden ist und nur diejenigen ansprechen kann, die im selben Begriffs- und Zeichenradius wie der Dichter aufwuchsen. Dichter sprechen ursprünglich nur zu ihrer eigenen Nation und die Grenzen ihrer Sprache bestehen nicht nur räumlich, sondern auch in der Tiefe ihrer Ausdrücke. Die ursprünglich enge Verbindung von Poesie und Sprache bleibt auch auf ihren höheren Stufen erhalten. Die Poesie bedient sich der Sprache, die das bedeutendste Zeichen und der wichtigste Ausdruck des Wesens einer Nation ist. Dadurch werden zwar alle dichterischen Werke auf einen engeren Kreis von Rezipienten begrenzt, aber auch der Kontakt zwischen dem Dichter und seinem Publikum wird enger; der Poet dichtet für seine Nation und seine Kunst ist bereits durch ihr Medium an sich national, wenn sich auch schon viel Fremdes in sein Inneres eingeschlichen haben mag. Durch die Sprache ist der Dichter mit seinem Publikum wesentlich tiefer verbunden als jeder andere Künstler. Der Dichter wendet sich direkt an alle, die seine Töne, Farben und Formen verstehen, die ihm zuhören und zusehen. Er spricht aber eben durch das Mittel jener Menschen, die seine Sprache verstehen, durch die Zeichen eines begrenzten Publikums, also seiner Nation. Dass Sprache, Nationalität und Dichtung miteinander verwachsen sind, ist offensichtlich. Alles, was frühere Untersuchungen der Beziehung zwischen Sprechen und Denken ergaben, gilt in noch weit größerem Ausmaß für den Zusammenhang zwischen Sprechen und Dichten. Wie sich die Dichtung hinsichtlich dieser Problematik zu den anderen Kunstarten verhält, kann am besten durch folgendes konkretes Beispiel erklärt werden. Der Verfasser des Dramas Romeo und Julia ist ein englischer Dichter. Ein welscher Maler stellte die berühmte „Balkonszene“ des Dramas dar und ein Franzose verfasste auf Grundlage des Dramas eine modern ausgestattete Oper. Das Gemälde nun (die beiden Liebenden in anmutiger Umarmung) wurde nicht nur von den Franzosen, sondern auch von Deutschen und Slawen sofort verstanden, das Gedicht Shakespeares musste jedoch erst übersetzt werden, um es für andere verständlich zu machen; d. h. das Mittel, durch das der Dichter seine Visionen seiner Nation mitteilte, musste durch ein von einer anderen Nation benutztes Mittel ersetzt werden. Auch die Musik der Oper war direkt zu verstehen, da sie ja keine wirkliche Übersetzung des Dramas war. Sie wurde daher ästhetisch verstanden, sie selbst gefiel dem Publikum. Im Gegensatz dazu musste das Drama übersetzt werden, die englischen Begriffszeichen mussten durch andere Zeichen ersetzt werden, und zwar für jede Nation jeweils durch ihre eigenen, spezifischen Zeichen, durch ihre eigene Sprache.
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21. Otakar Zich: Von den dichterischen Typen (1917/18) Mir geht es […] um eine Analyse des ästhetischen Genusses, der sich aus Gedichten ergibt; deswegen ist es zunächst notwendig, den Umfang der Gedichte und die Art und Weise ihrer Darbietung zu definieren. Wir schließen nur Lyrik und Epik in unsere Betrachtung ein, die dramatische Dichtung sparen wir aus. Allein der Genuss durch ein lyrisches oder episches Gedicht ist rein poetisch und ausreichend an sich, während der Genuss durch ein dramatisches Gedicht unvollkommen ist und der Ergänzung durch Szene und Schauspieler, kurz, durch die gesamte dramatische Kunst bedarf. Da der aus einem Drama (sprich: aus einem aufgeführten, nicht gelesenen Drama) resultierende Genuss aus zwei Komponenten besteht, nämlich dem Genuss aus der dramatischen Kunst und dem poetischen Genuss, der sich aus dem dramatischen Gedicht ergibt, wird das Drama hier nicht behandelt. Unter „Gedicht“ verstehe ich ein gesprochenes, deklamiertes, rezitiertes, erzähltes usw. Gedicht; denn nur das ist seine wahre Existenzform. Es ist dabei gleichgültig, ob jemand anderer – ein Rezitator – für mich vorträgt oder vorliest, oder ob ich es mir selbst vorspreche, eventuell vorlese, denn in diesem Fall bin ich für mich selbst der Rezitator. Die visuellen Wahrnehmungen, die ich beim Lesen eines gedruckten Textes oder eines Manuskripts habe, sind selbstverständlich bedeutungslos. Die Bemühungen von Bibliophilen zielen nur darauf ab, dass durch eine schöne Buchgestaltung neben dem dichterischen zusätzlich ein bildkünstlerischer Genuss entsteht; der dichterische Genuss an sich wird dadurch allerdings keinen Deut größer. Sehr häufig liest man aber ein Gedicht nicht laut, sondern nur „im Geiste“; auch dieser Fall unterscheidet sich nicht großartig von den vorigen. Das, was ich bei der Rezitation des Gedichts höre, reproduziere ich einfach für mich; ich höre das Gedicht ebenfalls, wenn auch nur „im Geiste“. Das ist analog zur Musik zu sehen; in der Musik ist es der Normalfall, dass ich ein Musikstück höre, ein Ausnahmefall, dass ich nur die Notation lese, ohne dass das Stück gleichzeitig gespielt wird. Der Unterschied besteht darin, dass jeder Bücher lesen kann, weswegen diese Art der Wahrnehmung von Poesie üblich ist, während eine Partitur nur von praktizierenden Musikern gelesen werden kann; diese jedoch lesen Partituren wie Bücher. Wer vermutet, die klangliche Seite des Gedichts käme beim „im-Geist-Lesen“ nur wenig zur Geltung, liegt falsch; aus unserer Erfahrung wissen wir doch, dass wir auch beim Lesen „im Geiste“ Reime, Rhythmus und andere Klangqualitäten vollkommen richtig begreifen. In einigen Aspekten ist ein solches Lesen im Stillen sogar von Vorteil; manchmal wird eine stille Rezitation – wiederum analog zur Musik – dem Gedicht sogar gerechter, da sie nicht von der Qualität der Stimme abhängig ist. Ebenso kommen die Bilder, die ein Gedicht in unserer Phantasie hervorruft, beim Lesen „im Geist“ viel ungestörter zur Geltung.
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Otakar Zich
Offenbar ist nun zusätzlich zum Dichter der Rezitator Gegenstand unserer Überlegungen geworden; nur im idealen Fall, dass ein Dichter sein eigenes Werk rezitiert, sind beide identisch. Streng genommen eigentlich nur dann, wenn er das Werk auf der Stelle improvisiert, denn für seine älteren Arbeiten ist der Autor selbst manchmal ein ziemlich „fremder“ Rezitator. Es scheint daher angebracht herauszufinden, welche Qualitäten dem Gedicht und welche der Rezitation beizumessen sind. Die Vermischung beider Qualitäten ist ein üblicher Fehler von Theorien über Klangqualitäten von Gedichten. Beides muss daher streng getrennt werden. Alle Qualitäten kommen zwar erst durch eine (eigene oder fremde) Rezitation zur Geltung, aber einige Qualitäten sind durch das Gedicht (d. h. durch den gedruckten oder handgeschriebenen Text) direkt und fest gegeben, sodass sie vom Rezitator lediglich ausgeführt werden. Andere Qualitäten werden vom Rezitator allerdings tatsächlich selbst gebildet. Auch diese sind zwar letztlich durch den Text vorgegeben, aber ihre Erfüllung ist dadurch noch nicht gesichert; sie können lediglich vom Text abgeleitet werden, doch ob und wie der Rezitator diese Vorgaben erfüllt, hängt maßbeglich von seiner Individualität ab. Das verhält sich wiederum analog zur Musik, bzw. zur performativen Musikkunst und kann an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: „matka má“ [„meine Mutter“]. Der spezifische Klang aller Laute ergibt sich aus der Schrift, die der Rezitator gelesen hat oder gerade liest, und ebenso ergibt sich daraus auch der Wortrhythmus, dessen Akzentuierung durch die Regeln der tschechischen Sprache vorgegeben ist. Der Rezitator kann die Worte jedoch in unterschiedlicher Lautstärke, in unterschiedlichem Tempo und mit variierenden Färbungen (dunkel, jauchzend, bitter usw.) sprechen, die jeweils der Bedeutung der Wörter innerhalb eines Satzes entsprechen, und kann ihnen auch eine unterschiedliche Melodie geben, je nachdem, ob es sich um eine Frage oder Antwort usw. handelt. Die Qualitäten, die der subjektiven Auffassung des Gedichts entstammen, werden vom Rezitator selbst erzeugt und dieser ist, auch wenn er sich dabei nach dem Sinn des Gedichts richtet, in hohem Maße frei. Er kann sie auch anders vortragen, als wir es beispielsweise tun würden und trotzdem muss das weder einen Fehler auf seiner, noch auf unserer Seite bedeuten. Wenn er dagegen einen Laut anders ausspricht als es im Gedicht steht1, oder anders betont als es der Charakter unserer Sprache bedarf, beginge er natürlich einen Fehler. In Hinsicht auf die klangliche Seite eines Gedichts unterscheiden wir:
1 Das gilt selbstverständlich mit Ausnahme aller Abweichungen, die durch unsere nicht dem Phonetischen entsprechende Rechtschreibung entstehen. Z. B. wird „dívka“ [Mädchen] als „dífka“ ausgesprochen usw.
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1. Klangliche Qualitäten des Gedichts. Das sind: a) der spezifische Klang von Lauten und Wörtern, die sich aus diesen Lauten zusammensetzen, d. h. der Klang, der diese Laute voneinander unterscheidet. Von der Akustik und der Phonetik werden diese Klänge grob in musikalische (Vokale) und nicht musikalische Klänge (Konsonanten) differenziert. Letztlich stellt diese Qualität eine bestimmte Farbigkeit des Lautes dar, die natürlich teilweise nuanciert werden kann. Auch wenn einzelne Laute in Wörtern aufeinander treffen, unterliegen sie einer gewissen Veränderung. b) der akzentuierende Rhythmus der Worte, der sich nach dem Charakter der jeweiligen Sprache richtet und dementsprechend mehr oder weniger fest ist. Im Tschechischen gibt es z. B. eine feste Hauptbetonung (auf der ersten Silbe eines Wortes oder eines Wortkomplexes), während die Nebenbetonung in längeren Worten schwankt. Manchmal findet sich der Dichter mit diesem Wortrhythmus ab und trachtet nur nach seiner sorgfältigen Bearbeitung, damit der Rhythmus angenehm und charakteristisch (freier Rhythmus) ist; ein anderes Mal passt er den Rhythmus an regelmäßige metrische Formen (gebundene Metrik) an. Es muss dabei betont werden, dass solche „metrischen Formen“ nicht nur leere Schemata sind, sondern dass sie ebenfalls einem Wortrhythmus unterliegen, der allerdings anhand bestimmter Regeln modifiziert wurde. In der Musik entspricht den unter a) angeführten Qualitäten die Instrumentation einer Komposition, d. h. die Wahl der Instrumente, und die von ihnen jeweils gespielten Melodien. Den unter b) angeführten Qualitäten entspricht der Rhythmus der Melodie, der durch die Noten und den Takt vorgegeben wird, sodass es sich hier in der Regel um die Art Rhythmik handelt, die wir als „gebunden“ bezeichneten. 2. Klangliche Qualitäten der Rezitation. Das sind: a) die Lautstärke, in der der Rezitator spricht, einschließlich ihrer Nuancen, Übergänge, Steigerungen usw.; b) das Tempo, in dem der Rezitator spricht, einschließlich aller Nuancen, Verlangsamungen, Beschleunigungen, Unregelmäßigkeiten (in der Musik tempo rubato) u. a. Diese beiden Qualitäten werden von den Dichtern nie vorgeschrieben; nur in Dramen (die wir aus der reinen Poesie ausschlossen), finden wir ab und zu Anmerkungen dafür („er schreit“, „eilig“ usw.). In der Musik sind sie ganz deutlich vorgeschrieben („forte“, „vivo“ usw.), sodass Musiker nur eingeschränkt frei darin sind, diese Qualitäten zu nuancieren; c) die sog. „Sprechmelodie“, mit der jedoch nicht „Melodie“ im musikalischen Sinne gemeint ist. Sie wird v. a. durch die Vokale getragen, die an sich als musikalische Klänge eine Tonhöhe haben. Beim Sprechen ist diese Höhe allerdings ziemlich unbestimmt und die Entscheidung für einen Tones des-
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Otakar Zich
wegen beliebig, während die Töne in der Musik klar bestimmt und vorgegeben sind (es sind Töne einer bestimmten „Tonleiter“). Außerdem wechselt die Tonhöhe beim Sprechen üblicherweise fließend, in der Musik (bis auf das sog. „portamento“) hingegen springt man von einem Ton zum anderen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich also das Sprechen eines Rezitators und das Spiel eines Musikers – ggf. Gesang – am deutlichsten. Um diesen Unterschied sprachlich zu markieren, werden wir immer den Begriff „melodischer Tonfall“ des Sprechens benutzen. Der melodische Tonfall des Sprechens wird nur in geringem Maße durch den Sinn und die Stimmung des dichterischen Werkes vorgegeben, während Musik- und Gesangsmelodie durch die Noten immer genau vorgegeben sind. Nicht mal „Nuancierungen“ sind hier erlaubt, denn durch derartige Schattierung der Tonhöhe würde die Melodie verfälscht. Neben diesen drei Qualitäten, die die Rezitation umfassend beeinflussen, gibt es noch zwei weitere, die die Rezitation lediglich nuancieren – so wie wir es bei den ersten zwei analogen, performativ-musikalischen Qualitäten bereits anmerkten. Es sind: d) klangliche Nuancierung der Sprache im Sinne kleiner Abänderungen der Färbung, falls dies der spezifische Klang der einzelnen Laute erlaubt. Besonders bei Vokalen ist eine größere Veränderung möglich, obwohl auch bei Konsonanten Abänderungen keineswegs ausgeschlossen sind. Es geht um Variationen, die wir sprachlich ausdrücken können: dunkel, klar, scharf, stumpf usw. Üblicherweise werden sie durch Vorgabe einer Stimmung bezeichnet, die mit ihrer Anwendung verbunden ist: schmerzvoll, jubelnd, ironisch, bitter usw. Diese Bezeichnungen sind jedoch allgemeiner, da sie sich zum Teile auch auf die oben genannten Qualitäten, nämlich Tempo, Stärke und den melodischen Sprachtonfall beziehen können. Dichter schreiben auch in dieser Richtung keineswegs etwas festes vor (mit Ausnahme der dramatischen Dichter, und auch die tun das nur selten), während in der Musik solche Klangschattierungen durch eine ganze Reihe von technischen Begriffen (dolce, dolente usw.) vorgegeben sind, die dem Musiker allerdings ein ausreichend breites Feld für die Durchführung überlassen. Außerdem ist auch das individuelle Timbre der rezitierenden Stimme in diese Kategorie einzuordnen. Das gilt besonders für das unterschiedliche Timbre der männlichen und weiblichen Stimme. Bei manchen Gedichten habe ich, unabhängig davon, ob sie von einem Autor oder einer Autorin stammen, den Eindruck, dass sie sozusagen für eine männliche oder weibliche Rezitationsstimme bestimmt sind. Noch auffallender zwingt sich mir dieser Eindruck dann – wenn auch nicht immer – auf, wenn ein Gedicht direkte Rede enthält. Die oben beschriebene Rezitation „im Geiste“ ermöglicht es in diesen Fällen auch dem männlichen Leser, sich für ein Gedicht eine weibliche Rezitation vorzustellen, und umgekehrt wird auch der Leserin ermöglicht, sich bei einem Gedicht eine männliche Rezitation vorzustellen.
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e) rhythmische Nuancierung der Sprechweise, d. h. gegenseitige Nuancierung von rhythmischen Formationen, die durch Wörter und Sätze gegeben werden. Das betrifft v. a. den zeitlichen Aspekt des Rhythmus, d. h. eine Regulierung der verhältnismäßigen Länge der Silben – die absolute Länge der Silben wird durch das Tempo geregelt. Durch die „langen“ und „kurzen“ Silben wird ihre Länge aber nur bis zu einem gewissen Grad festgelegt, da ihr gegenseitiges zeitliches Verhältnis beim Sprechen eben nicht fest, sondern ziemlich variabel ist. In einem Satz werden wiederum durch Interpunktion, Zäsur u. a. unbestimmte Atempausen gefordert. Das betrifft weiterhin auch die dynamischen Aspekte des Rhythmus, d. h. wieder die verhältnismäßige Regulierung der Wortakzente nach dem Sinn des Satzes (sozusagen den Satzakzent). Nur dort, wo durch den Sinn eines Satzes die Betonung auf ein sonst unbetontes Wort gelegt wird, müssen wir eine solche Betonung zu den rhythmusbeeinflussenden Faktoren rechnen, die unter 1 b) angeführt wurden. In der Musik werden Qualitäten, die diesen analog sind, den sogenannten agogischen Qualitäten zugeordnet und sie verschmelzen mit der oben angeführten Nuancierung von Stärke und Tempo der Musik zu einem Ganzen. Diese sind aber nur selten genau festgelegt. Aus dieser kurzen Übersicht wird der Umfang der Aufgaben eines Rezitators ersichtlich. Die Qualitäten, die wir als klangliche Qualitäten des Gedichts bezeichneten, werden durch den Rezitator lediglich ausgeführt, da er in dieser Hinsicht nur ein reproduzierender Künstler ist. Der Begriff „Künstler“ wird hier in seiner breiteren Bedeutung verwendet. Er bezeichnet einen, der etwas kann oder zu etwas im Stande ist. Die Qualitäten, die die Rezitation betreffen, werden jedoch vom Rezitator tatsächlich hergestellt, der für sie in der reinen Dichtkunst (Lyrik und Epik) sogar keine anderen Richtlinien (z. B. Anmerkungen) als den Charakter und Sinn des vorzutragenden Gedichts hat: er ist deshalb in ihrer Wahl viel freier als z. B. der praktizierende Musiker. In diesen Qualitäten ist der Rezitator also ein wahrer „Künstler“ im engeren Sinne, d. h. ein produktiver, kreativer Künstler. Darin kann und soll er seine Kunst voll entfalten und neben der Persönlichkeit des Autors auch seine eigene Persönlichkeit, seine Auffassung und seine Wiedergabe des Werkes zur Geltung bringen. Da das Gedicht erst durch die Rezitation eine wirkliche Existenz erhält, ist offensichtlich, dass der Rezitator, wie der ausführende Musiker oder Schauspieler, den kreativen Entstehungsprozess eines dichterischen Werkes erst eigentlich vollendet. Inwieweit der Rezitator dabei auf mimische Mittel zurückgreifen darf, ist eine selbstständige Frage, die wir für unsere Zwecke nicht zu untersuchen brauchen.
V. Die Form und die Künste 22. Otakar Hostinský: Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk (1877) Jedes Kunstwerk besteht aus einer grösseren oder kleineren Menge von einzelnen elementaren Verhältnissen, denen natürlicher Weise ebensoviele ästhetische Urtheile entsprechen. Jedes dieser Urtheile ist aber ganz selbstständig und von den übrigen unabhängig; denn jedes ist eben ursprünglich und unmittelbar, keines höher oder niedriger, als ein anderes, alle sind gleich berechtigt, eine wie immer geartete Rangordnung unter den ästhetischen Verhältnissen und Urtheilen ist daher vom rein ästhetischen Standpuncte aus zu verwerfen. Das Wohlgefallen oder Missfallen, das ein Elementarverhältniss hervorruft, wird auf das Kunstwerk als auf ein einheitliches Ganze bezogen, die Schönheit oder Hässlichkeit seiner Détails wird ihm selbst imputirt. Das Endurtheil über ein zusammengesetztes Schöne ist daher immer nur der abgekürzte Ausdruck einer ganzen grossen Menge von Einzelurtheilen, die übersichtlich zusammengefasste Bilanz der ästhetisch werthvollen und werthlosen Theilverhältnisse. Es ist nun leicht einzusehen, dass zunächst die Individualität des Wahrnehmenden von grossem Einfluss darauf sein muss, welchen Theilverhältnissen ein grösseres, welchen ein geringeres Gewicht beigelegt wird, welche von den Partialurtheilen also auch den meisten Einfluss auf das Endurtheil üben werden. Angeborene Empfänglichkeit, die augenblickliche Stimmung, der Gang der Bildung u. s. w. entscheiden hier gar viel. Nicht bei jedem Menschen und nicht jedesmal bei demselben, überschreiten also innerhalb eines zusammengesetzten Kunstwerkes dieselben Elemente genau in demselben Maasse – um mit Fechner […] zu reden, der mit Recht ein besonderes Gewicht auf diesen Punct legt – die „ästhetische Schwelle“. Daher bei aller Evidenz des ästhetischen Einzelnurtheils [sic] doch die grosse Verschiedenheit des Geschmacks. Selbstverständlich ändert sich daran nichts Wesentliches, wenn es sich um einen Kunstverein, nicht blos um ein einfaches Kunstwerk handelt. Nur sondern sich hier die Gruppen stofflich gleichartiger Verhältnisse etwas schärfer; im Ganzen vereinfacht sich also die Sache, indem einander die wenigen Theilkünste als solche gegenüberstehen, im Einzelnen aber wird sie noch complicirter. Von jenen individuellen Schwankungen in der Zusammenfassung der Partialurtheile muss die ästhetische Theorie offenbar ganz
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Otakar Hostinský
absehen; ihr sind alle in einem Kunstwerke vorkommenden Verhältnisse, somit auch alle Gruppen von stofflich verwandten Verhältnissen, d. h. alle im Gesammtkunstwerk zusammenwirkenden Theilkünste, vollkommen gleichberechtigt. […] Endlich können wir auch über Richard Wagner’s vielbesprochenen Grundsatz, im Gesammtkunstwerk sei das Drama Zweck, die Musik aber Mittel des Ausdrucks, uns ein Urtheil bilden. Vom Standpuncte der Aesthetik, also der Beurtheilung der Schönheit des objectiven Kunstwerkes, hat jedenfalls Unrecht, wer die Musik der Poësie irgendwie unterordnen und nachsetzen will; da gilt vielmehr Hanslick’s oben citierter Ausspruch: „Das gleichmässige Genügen an die musikalischen und die dramatischen Anforderungen gilt mit Recht für das Ideal der Oper“. Vom Standpuncte der Kunstlehre aber, also dem des schaffenden Künstlers, ist Wagner’s Grundsatz, demzufolge die Oper zuerst Drama, dann erst Musik sein soll, principiell vollkommen berechtigt. Und dass sich Wagner gerade auf diesen Standpunct begeben hat, ist wohl sehr begreiflich. Dem entgegengesetzten Dictum aber: die Oper sei zuerst Musik und dann erst Drama, muss man die Berechtigung unbedingt absprechen, es lässt sich von keinem der beiden Standpuncte aus begründen. […] Als Princip des Gesammtkunstwerkes hat sich uns also ein dreifacher Einklang herausgestellt: der des Inhalts, der Erscheinungsform und der Stimmung, also das in logischer, in ästhetischer und in psychologischer Hinsicht harmonische Zusammenwirken der Künste, deren Vorstellungsreihen gleichzeitig ablaufen. Es ist dies gewissermaassen – um Herbart’s beliebten Vergleich mit der vielstimmigen Musik anzuziehen – der „Contrapunct der Künste“. […] Es handelt sich nun darum, das Gewonnene auf das Verhältniss der Musik zu den übrigen Factoren des Gesammtkunstwerkes näher anzuwenden. Selbstverständlich werden dabei die Beziehungen der Musik zur Poësie, als zu der stoff- und formgebenden Kunst, die wichtigsten sein. Fassen wir noch einmal die drei Einheitsbedingungen eines jeden Kunstvereins ins Auge: […] Was die Uebereinstimmung des Inhalts anlangt, so ist es klar, dass wir die Möglichkeit einer solchen Uebereinstimmung bezüglich des der Poësie eigenthümlichen Inhalts entschieden in Abrede stellen müssen. Das Gebiet der durch Worte mittheilbaren Gedanken ist der Tonkunst als solcher unzugänglich – in diesem Puncte kann sie also nicht mit der Dichtkunst „übereinstimmen“ wollen. Doch giebt es immerhin Fälle, wo eine Ausnahme stattzufinden scheint, indem die Musik mit grösserer oder geringerer Bestimmtheit irgend einen Gedankeninhalt aus was immer für Gründen reproducirt. Diese Ausnahmsfälle dürfen wir allerdings nicht unberücksichtigt lassen. Gewisse kurze Hornsätzchen genügen, um uns zu sagen: „Jagd“; ein von Trommelwirbel begleitetes Trompetensignal: „Kampf“; gehaltene klagende Posaunenharmonien mit Glockengeläute: „Begräbniss“; eine schmetternde Fanfahre mit Pauken: „Fest“ oder „König“; einige Griffe auf der Guitarre: „Ständchen“ u. s. w. Das ist nun keine eigentliche Tonmale-
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rei, sondern ein blosses Citiren von Tonformen, die conventioneller Weise solchen oder anderen Vorstellungen beigesellt zu sein pflegen. Es wird hier in der That der „musicirende“ Mensch nachgeahmt. Gegen die Benützung derartiger Citate – die sich natürlich vorkommenden Falls dem poëtischen Plane des Gesammtkunstwerkes organisch einfügen also wohl mit dem poëtischen Inhalte des Drama übereinstimmen müssen – lässt sich wohl kaum etwas einwenden. Sie bieten übrigens nur vereinzelte Vorstellungsgruppen, deren Zusammenhang mit dem ganzen übrigen Kunstwerke doch wieder nur durch das Wort hergestellt werden muss. Etwas ausgiebiger ist die Gedankenausbeute, wenn ein Lied oder Choral, dessen Text allgemein bekannt ist, citirt wird. Es braucht dann blos im Orchester die betreffende Melodie zu erklingen: unwillkürlich reproducirt der Hörer auch die Textworte und giebt sich dem Eindruck derselben hin. Ein solches Citat hat schon etwas Bedenkliches an sich; es durchbricht den Rahmen des Kunstwerkes, um sich in Rapport zu setzen mit dem Leben, mit der Wirklichkeit, kann somit nur dann für ästhetisch berechtigt gelten, wenn es ganz frei von aller Absicht auf Weckung unkünstlerischer Interessen, also etwa blos zur Gewinnung eines historischen oder nationalen Gepräges benützt wird. Besser wäre die ästhetische Selbstständigkeit und Abgeschlossenheit des Kunstwerkes allerdings gewahrt, wenn bei solchen Citaten die Kenntniss eines ausserhalb des Kunstwerkes existirenden Liedes wenigstens formell nicht vorausgesetzt, sondern das ganze Lied vollständig, also mit dem Texte, an passender Stelle ausgeführt, dem Citate voranginge; dann läge der Schlüssel zu seinem Verständniss, sowie zur Motivirung seines Eindrucks, wie sich’s geziemt, innerhalb des Kunstwerkes selbst. In solchen Fällen ist es aber, vom rein künstlerischen Standpuncte aus besehen, offenbar ganz gleichgültig, ob das betreffende Gesangsmotiv auch noch anderwärts als im vorliegenden Kunstwerke besteht und von dorther etwa bekannt ist: der Künstler hat das unbestreitbare Recht, das Vermögen der Musik, durch die Wiederholung der blossen Melodie einer vorher gesungenen Stelle den Text und mit ihm den ganzen ihm eigenthümlichen Gedankeninhalt zu reproduciren, auch bei Gesangsmotiven eigener Erfindung auszunützen. Dies geschieht durch die sogenannten „Leitmotive“, die durch R. Wagner’s Beispiel und Lehre eine hohe Bedeutung im Gebiete der modernen Opernmusik erreicht haben. Die künstlerische Absicht, welcher die Leitmotive zu dienen haben, kann eine zweifache sein: eine poëtisch-dramatische oder eine rein musikalische. Von der letzteren wird später die Rede sein; für jetzt müssen wir die Bedingungen wahrnehmen, unter denen das Leitmotiv dem Drama dienstbar zu werden vermag. Es entscheiden hier die Bedingungen der möglichst wirksamen unwillkürlichen Reproduction. Zu diesem Behufe ist für’s Erste eine innige Verschmelzung von Wort und Ton unerlässlich, namentlich in Bezug auf correcte Declamation und charakteristische Stimmung; dann geht die
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Reproduction viel leichter und rascher von Statten, als im entgegengesetzten Falle. Für’s Zweite muss die betreffende Gesangsstelle zum ersten Male in einem Momente aufgetreten sein, auf dem sowohl dramatisch als musikalisch ein gewisser Nachdruck liegt, so dass in ihm die volle Aufmerksamkeit des Hörers concentrirt wird. Natürlich braucht es nicht immer eine Gesangsmelodie zu sein, die als Leitmotiv dient – es kann auch die eine bestimmte Situation oder das Auftreten einer bestimmten Person, also allgemein gesprochen: die ein irgendwie bedeutsames scenisches Bild begleitende Orchestermelodie denselben Dienst leisten. Das Wiedererklingen des Leitmotivs wird hier wie dort einen bestimmten Gedankeninhalt dem Hörer unwillkürlich zu Gemüthe führen; allerdings ist es nicht der Inhalt der Musik als solcher, der hier zur Sprache kommt, sondern blos der Inhalt der poëtischen Worte oder des scenischen Bildes, der durch günstige Verschmelzung mit der gleichzeitigen Melodie eine mächtige „Reproductionshülfe“ gewonnen hat und nur durch dieses äusserliche Band gewissermaassen Eigenthum der Musik geworden ist […], die nun – um abermals Fechner’s Ausdrucksweise in unserem Sinne zu verwerthen – nicht mehr blos mit ihrem „directen“, sondern zugleich auch mit einem „associativen“ Factor wirkt. Was die Anwendung der Leitmotive anlangt, die selbstverständlich nicht anders als im vollsten Einklange mit dem dramatischen Plane geschehen kann, so ist ein doppelter Fall möglich. Entweder dienen die Leitmotive blos dazu, die Wirkung von Gedanken zu verstärken, die auch unmittelbar durch Worte und Geberden – oder wenigstens durch die letzteren allein – mitge theilt werden, oder aber sie haben die Bestimmung, dem Hörer Gedanken zuzuführen, die sonst unausgesprochen bleiben sollen. Das Letztere kann ebensogut geheime, zum Mindesten nicht geäusserte, Gedanken einer der handelnden Personen, wie eigene Gedanken des Dichters selbst betreffen, die blos zur Verdeutlichung gewisser Beziehungen oder zur Verknüpfung auseinanderliegender dramatischer Momente beitragen. Das Drama hilft sich in vielen Fällen durch eine gesteigerte Gesprächigkeit der handelnden Personen; allein wenn auch das „laute Denken“ auf der Bühne nicht principiell zu verwerfen ist, so gestalten sich doch oft genug die Umstände derartig, dass das Schweigen des Helden entschieden viel besser am Platze wäre, als seine – für den Zusammenhang des Ganzen freilich unentbehrliche – Offenherzigkeit gegenüber dem Publicum. Jedenfalls hat es der dramatische Dichter, der uns ja kein Wort mittheilen kann, das nicht eine der handelnden Personen spräche, viel schwieriger, als der Epiker; dieser ist auf die Anführung der directen Rede durchaus nicht angewiesen, er kann daneben auch erzählen, ja sogar den Fortgang der objectiven Darstellung an gehöriger Stelle unterbrechen, um seine eigenen subjectiven Bemerkungen einzuschalten. Diesen Zwecken nun dienen im Gesammtkunstwerk zu nicht geringem Theil die Leitmotive. Durch sie wird es möglich, im Hörer die Er-
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innerung an ein früher Gehörtes oder Gesehenes ohne Zuhülfenahme des Wortes oder der Geberde wachzurufen, und dadurch nicht nur das Spiel des Darstellers auf das Wirksamste zu unterstützen, sondern auch selbst dort gewisse Gedanken einer handelnden Person errathen zu lassen, wo das Spiel gleich Null wird. Dem Orchester fällt somit im Gesammtkunstwerk eine gar wichtige Rolle zu, indem es berufen ist, durch sein Reproductionsvermögen den organischen Zusammenhang des Dramas in ein helleres Licht zu setzen. Schliesslich gewinnt auch die Tonmalerei im Gesammtkunstwerke eine Bedeutung, die sie in der absoluten Musik allerdings nie haben kann. Nicht schön wird eine Tonfigur dudurch [sic], dass sie irgend eine Bewegung oder irgend einen Naturlaut in ihrer Weise nachzuahmen sucht – schön kann sie nur durch ihre specifisch musikalische Form sein –, wohl aber passend, sobald das Nachzuahmende durch Wort oder Bild bereits unzweideutig bezeichnet ist. Dann erst kann der Künstler mit Sicherheit auf diese oder jene Wirkung rechnen, dann erst verliert die Tonmalerei ihre im Gebiete der absoluten Musik allerdings unvermeidliche Haltlosigkeit und Unzuverlässigkeit. Der Hörer braucht nicht mehr vom Pfade des reinen Kunstgenusses auf die Abwege des leidigen Nachgrübelns über die „Bedeutung“ malender Figuren abgelenkt zu werden: „Les paroles sont là comme les garde-fous de ces abîmes, qui empèchent le public d’y tomber“, wie Beauquier […] sagt. Um sowohl diese determinirende Macht des Wortes und des Bildes, als auch die Hinfälligkeit der absoluten Tonmalerei zu ermessen, braucht man nur einen Clavierauszug ohne Worte durchzublättern. So manche Tonfigur, die bei der vollständigen Aufführung des Werkes die treffendste Malerei zu sein schien, erweist sich, vom Text und von der Scenerie abgelöst, als eine Nachahmung von sehr problematischer Natur. Der Hörer spielt dabei nur zu oft die Rolle des alten Polonius: er ist geneigt in den Gebilden am musikalischen Himmel alle möglichen Gestalten zu sehen, sobald es Prinz Hamlet – das Wort – befiehlt. So nützt denn in der That das Gesammtkunstwerk die determinirende Wirksamkeit der Poësie und der Scenik fast noch mehr aus, als das Vermögen der letzteren, wirklich zu malen. Ueber das Maass, in welchem die Tonmalerei zur Geltung zu kommen habe, lässt sich begreiflicher Weise keine allgemeine Vorschrift geben. Nur Eine Norm dürfte unanfechtbar sein, weil sie sich unmittelbar aus dem Wesen des Gesammtkunstwerks ergiebt: die akustische Tonmalerei ist darin insoferne unerlässlich, als jedenfalls alles Hörbare in Musik umgesetzt werden soll, sobald es nur irgendwie thunlich erscheint. Die Begründung dieser Forderung führt uns übrigens schon zum zweiten Falle, der inhaltlichen Einheit des Gesammtkunstwerks: Das der Musik eigenthümliche, stoffliche Element, der wahre letzte Inhalt ihrer ästhetischen Formen, der musikalische Klang, muss sich in Uebereinstimmung mit den ihm entsprechenden akustischen Elementen der übrigen Factoren des Gesammtkunstwerks befinden. Diese specifisch musikalische Einheit verlangt zu-
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nächst die principielle Ausschliessung aller nichtmusikalischen Geräusche, die sich durch musikalische Klänge irgendwie ersetzen lassen, sowie die Anpassung der der Höhe nach bestimmbaren Klänge an die ästhetischen Tonverhältnisse der gleichzeitigen Musik. […] Zu den nichtmusikalischen Klängen gehören auch die Laute der menschlichen Sprache, das Mittheilungsmittel des Dichters. Die nach Höhe und Tiefe wandelbaren Vocalklänge müssen ebenfalls „abgestimmt“ werden, damit sie sich den festbestimmten Intervallen des Tonsystems anpassen können. Dass sich hier der Tonfall der Sprache der Musik, nicht aber diese jenem anzupassen hat, liegt auf der Hand: ohne festbestimmte Intervalle giebt es keine ästhetischen Tonverhältnisse, kein Musikalisch-Schönes, solche Intervalle sind aber nur im künstlichen System unserer Tonkunst, nicht im natürlichen Tonfall der Sprache zu finden. In dem letzteren kommen nun unzählige Intervalle vor – unter ihnen freilich mitunter auch solche, die den musikalischen Tonstufen entsprechen; doch ist für die Modulation des Sprechens nicht so sehr das immerhin sehr schwankende absolute Maass der Schritte, als vielmehr das relative Verhalten dieser Schritte zu einander, das Steigen und Fallen der Tonhöhe, das, was man die melodische Richtung nennen könnte, charakteristisch. Absolut gemessen, sind die Intervalle des gewöhnlichen Conversationstones ziemlich klein; mit der habituellen Lebhaftigkeit und augenblicklichen Erregung des Sprechenden steigert sich die Grösse derselben. Es lassen sich demzufolge die charakteristischen Hauptumrisse der Sprachmelodie ganz gut wahren, wenn man mit derselben jene Veränderung vornimmt, die wir bereits oben das „Stilisiren“ nannten, durch welches die Declamation erst in das Gebiet des Musikalisch-Schönen Einlass findet, indem sie sich der Tonalität unterwirft. […] Das hier Berührte bezieht sich nur auf die eine, die melodische Seite der Declamation; ihre andere, die rhythmisch-dynamische, beruht nicht mehr auf einer Uebereinstimmung des Stofflichen: des Vocalklanges mit den Stufen des musikalischen Tonsystems, sondern bereits auf der Uebereinstimmung der zeitlichen Erscheinungsform, welche die Sprache mit der Musik gemeinschaftlich hat. Bevor wir jedoch zur Besprechung dieser zweiten Einheitsbedingung des Gesammtkunstwerks übergehen, müssen wir – wenigstens im Vorbeigehen – einen flüchtigen Blick auf diejenigen Arten der Vereinigung von Poësie und Musik werfen, welche dem eben ausgesprochenen Grundsatze der Musikalisierung der gehörten Sprachlaute widersprechen. Es ist dies hauptsächlich das Melodrama. Der verständige, musikalisch-fühlende Darsteller wird das Unerquickliche des Widerstreites zwischen den Sprachlauten und den musikalischen Klängen wahrnehmen, und unwillkürlich seinen Vortrag nicht nur rhythmisch, sondern an gewissen, mit besonderem Nachdruck hervorgehobenen Stellen wohl auch melodisch der begleitenden Musik anschmiegen – mit anderen Worten: den Uebergang zum Gesang anbahnen.
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Ueberhaupt lässt sich das richtige Verhältniss von Musik und Poësie im Gesammtkunstwerk viel besser erkennen, wenn man zum letzteren vom gesprochenen Drama aus durch die Zwischenstufe des Melodramatischen zu gelangen sucht, als wenn man sich im Vorhinein auf den absolut musikalischen Standpunct stellt und erst von hier aus den Anforderungen des Dramas gerecht werden will. Nicht die absolute, instrumentale Melodie soll trachten, sich der natürlichen Declamation zu nähern und anzupassen – dahinter würde wieder jenes Princip der „Naturnachahmung“ stecken, das wir entschieden abweisen mussten –, sondern umgekehrt: die Sprache soll so viel als möglich Musik werden, natürlich ohne ihre charakteristischen Eigenschaften als dramatisches Darstellungsmittel selbst zu zerstören. Dieser letztere Weg führt vom gesprochenen zum gesungenen Drama, er ist also keine „Vernichtung des musikalischen Elementes“, wie oft fälschlich über Wagner’s Bestrebungen geurtheilt wird; das zum Singen gesteigerte Sprechen kann doch nicht in den letzten Consequenzen wieder ein blosses, also nicht gesteigertes, Sprechen werden. […] […] Der Einklang der Erscheinungsform betrifft die zeitliche Gliederung sämmtlicher Factoren des Gesammtkunstwerks, im Kleinen wie im Gro ssen. Die Poësie ordnet Silben, Worte, Phrasen, Sätze, Satzgruppen, Scenen, Acte, nach bestimmten ästhetischen Regeln in der mannigfaltigsten Weise; dasselbe thut die Musik mit Tönen, Motiven, Gängen, Perioden, Sätzen, die Scenik mit Mienen und Geberden. […] Man sieht, gerade vom rein-musikalischen Standpunct, mit Rücksicht auf die grossen architektonischen Formen, betrachtet, ist die Oper im herkömmlichen Stile ein sehr unvollkommenes, zusammenhangsloses Machwerk, und das, was Wagner anstrebt, beschränkt sich durchaus nicht auf die Unterordnung des musikalischen Ausdrucks unter die künstlerische Absicht des dramatischen Dichters, sondern umfasst auch die Emancipation der am Gesammtkunstwerk betheiligten Tonkunst aus den Fesseln eines abgelebten, von der Instrumentalmusik längst überwundenen Geschmacks und die freie Entfaltung einer einheitlicheren musikalischen Form. Dass diese Form eine ganz andere wird, als die herkömmlichen Formen der absoluten Musik, die sich auf der Grundlage des Tanzes entwickelt haben, liegt in der Natur der Sache; denn die Musik des Gesammtkunstwerks muss sich an die poëtische Form anschmiegen und wird ebendadurch in die Lage versetzt, ihre Formen in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit stets neu zu erzeugen, und zwar aus dem Inneren des Kunstwerkes heraus, unabhängig von irgend einer auswärts entstandenen Schablone. Man sagt freilich, es werde der Musik dadurch ein fremdes Element aufgedrängt, indem man sie zwingt, sich den Formen des Dichters zu fügen. Allein dagegen ist zu bemerken, dass ja die rhythmisch-architektonische Anordnung der Darstellungsmittel des Dichters im Wesentlichen auf denselben ästhetischen Principien
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beruht, wie die Composition des Musikers; es handelt sich also nicht um ein der Musik fremdes, sondern um ein ihr und der Poësie gemeinschaftliches Element. […] Die Einheit der Stimmung von Musik und Poësie ist es in erster Linie, was man am Gesammtkunstwerke den „dramatischen Ausdruck“ nennt. Die Poësie giebt uns Gedankengruppen, die oft schon durch ein einzelnes Wort, oft erst durch ganze Sätze und Perioden wachgerufen werden. Die wechselseitigen, durch den begrifflichen Inhalt gegebenen Verhältnisse dieser Vorstellungen bringen in unserem Bewusstsein, gemäss den psychischen Anziehungs- und Abstossungskräften, eine Bewegung hervor, deren Innewerden eben die Stimmung ist. Die Musik hingegen lässt die der Stimmung zum Grunde liegende Bewegung nicht erst in uns entstehen, sie bietet mehr als den Anstoss und die Anregung dazu, sie bietet die fertige Bewegung selbst, unmittelbar an den musikalischen Tonreihen, die der Hörer wahrnimmt. Dass es nicht ausschliesslich Verhältnisse des Nacheinander unserer Vorstellungen sind, die uns so oder anders stimmen, sondern dass vielmehr auch den qualitativen Verhältnissen gleichzeitiger Elemente – ihrer Harmonie oder Disharmonie – ein grosser Einfluss auf die Stimmung zukommt, versteht sich von selbst. Auch die Poësie kann übrigens durch unmittelbar gegebene Bewegungsformen wirken; es gehören hierher nicht nur der Numerus der Rede und der Rhythmus des Verses, sondern auch zahlreiche schmückende Wendungen und Figuren in der Diction, deren Wesen die Wiederholung, die Steigerung, die Verbindung, die Trennung, der Contrast, die Aehnlichkeit der Vorstellungen ist. Auf der anderen Seite kann auch wieder die Musik durch solche Vorstellungsbewegungen einen Eindruck erzielen, zu denen sie nur den Anstoss durch gewisse associative Elemente gegeben hat. So können die oben berührten „Citate“, die Leitmotive, die Tonmalereien u. s. w. Ausgangspuncte von Stimmungen werden, namentlich aber erscheint die Aehnlichkeit gewisser melodischer, rhythmischer, dynamischer Motive mit solchen Eigenthümlichkeiten des Tonfalles, die wir von der Lautsprache her als charakteristische Ausdrucksmittel für bestimmte Stimmungen kennen, von grosser Bedeutung. Das Bittende, das Befehlende, das Fragende, das Seufzende, das Sehnsuchtsvolle – alles das sind nur formal-akustische Erscheinungen, die auch in der Instrumentalmusik auftreten können und dann jedenfalls ebensoviele Anknüpfungspuncte für die subjective Bethätigung der Phantasie des Hörens bilden. Schliesslich ist die rein mechanische Einwirkung der Musik auf den ganzen Körper des Menschen – abgesehen vom Gehörorgane – nicht zu unterschätzen. Mitunter, z. B. bei mächtigen, tiefen Orchesterklängen, empfinden wir sehr deutlich die Vibrationen der mitschwingenden Membranen, wie des Bauchfells, bei gestörten Gesundheitsverhältnissen sind es oft auch die Nerven der Kopfhaut, das Gehirn selbst u. s. w., die durch Anhören von Musik unmittelbar afficirt werden; aber
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auch dann, wenn wir die Erschütterungen als solche gar nicht wahrnehmen, scheint es zweifellos zu sein, dass eine Einwirkung auf unseren Körpersinn und durch diesen auf die Gemeinempfindung […] stattfindet, welche letztere für die Seelenstimmung offenbar von Wichtigkeit ist. Ja, man wird sogar kaum fehl gehen, wenn man das Behagen an der elementaren Wirkung des Klanges für den ursprünglichen Ausgangspunct der Entwicklung der Tonkunst ansieht. Die Forderung, die wir nun an die Musik zu stellen haben, ist: dass sie nicht nur im allgemeinen Anstrich grösserer Partien, sondern auch in allen Einzelheiten des Wechsels und des Grades der poëtischen Stimmung gerecht zu werden suche. […] Auch Hanslick nimmt hierin die Musik in Schutz: „Mit wenigen Accorden können wir einer Stimmung überliefert sein, welche ein Gedicht erst durch längere Exposition, ein Bild durch anhaltendes Hineindenken erreichen würde, obgleich diesen beiden, im Vortheil gegen die Tonkunst, der ganze Kreis der Vorstellungen dienstbar ist, von welchen unser Denken die Gefühle von Lust und Schmerz abhängig weiss. Nicht nur rascher, auch unmittelbarer und intensiver ist die Einwirkung der Töne. Die anderen Künste überreden, die Musik überfällt uns. Diese ihre eigenthümliche Gewalt auf unser Gemüth erfahren wir am stärksten, wenn wir uns in einem Zustande grösserer Aufregung oder Herabstimmung befinden“ […]. Die letzten Sätze Hanslick’s verbreiten Licht über die ganze Frage. Die ungleich grössere Intensität der durch die Musik – namentlich in Verbindung mit der Poësie – erregten Stimmungen ist es, die auf der einen Seite die Ansicht von der grösseren Raschheit der Entwicklung stützt, während das Vermögen der Tonkunst, eine Stimmung viel breiter auszumalen und mit Hülfe von Wiederholungen, die bei ihr durchaus nicht als Tautologien erscheinen, länger festzuhalten und zu steigern, andererseits wieder die Meinung hervorgerufen hat, die Musik brauche zur Erregung einer Stimmung mehr Zeit, als die Poësie. In Wahrheit sind beide Eigenschaften nur Vorzüge der Musik. Auch der Dichter kann mit wenigen Worten ein ganzes Heer von Gedanken in unserem Bewusstsein entfesseln und dadurch eine Gemüthsbewegung von bestimmter Physiognomie hervorrufen; allein der Musiker wirkt in derselben Zeit noch stärker, ungestümer auf unser Gemüth. Der Dichter läuft bei längerem Festhalten und Weiterspinnen einer und derselben Stimmung Gefahr, eintönig und ermüdend zu werden, im Anmuthigen süsslich und fad, im Pathetischen hohl und schwülstig; der Musiker kann seine Mittel in viel ausgedehnterem Maasse benützen, und bleibt jener Gefahr doch viel ferner. Die Tonkunst verfügt somit vollständig über die Mittel, der Poësie in alle Falten des menschlichen Herzens zu folgen. Freilich darf man nicht Wortmalerei von der Musik verlangen, sondern nur ein Anschmiegen an den Sinn, der aus dem Zusammenhang der Worte spricht, d. h. an die dadurch bewirkte Stimmung. Dasjenige
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aber, worauf es uns hier am Meisten ankommt, ist in den letzten der eben citirten Worte Hanslick’s berührt: die Musik wirkt um so intensiver, je empfänglicher wir für die betreffende Stimmung sind, was natürlich vor Allem dann stattfindet, wenn wir durch andere Mittel, z. B. durch die Poësie, bereits ähnlich gestimmt sind. Jede durch ein Kunstwerk hervorzurufende Gemüthsbewegung stösst auf einen gewissen Widerstand, dessen Bekämpfung und Beseitigung einen Theil der Wirksamkeit der künstlerischen Mittel brach legen muss. Ist aber dieser Widerstand bereits aus dem Wege geschafft, dann entfaltet die Kunst natürlich ihre ganze, unverkümmerte Macht. So unterstützen sich Musik und Poësie willkommener Weise in ihren Wirkungen auf das Gemüth und den Schönheitssinn des Hörers, sind einander „ästhetische Hülfen“ […] – allerdings nur unter der Voraussetzung eines vollen Einklangs der Stimmung. Das ist es, was Hanslick meint, wenn er sagt, „die Vereinigung mit der Dichtkunst erweitere die Macht der Musik, aber nicht ihre Grenzen“, was Wagner auf der anderen Seite verstanden wissen will, wenn er von einer Steigerung des dichterischen Ausdrucks zum Gesange spricht.
23. Adolf Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893/7/81910) Die nachstehende Arbeit bezieht sich auf das Verhältnis der Form zur Erscheinung und seine Konsequenzen für die künstlerische Darstellung. Da ein und derselbe Gegenstand sehr verschieden erscheinen kann, so entsteht für den bildenden Künstler die Frage: sind diese verschiedenen Erscheinungen alle gleichwertig und wonach messen wir deren Wert? Es braucht wohl keine nähere Begründung, daß unser Verhältnis zur Außenwelt, insofern diese fürs Auge existiert, in erster Linie auf der Erkenntnis und Vorstellung von Raum und Form beruht. Ohne diese ist eine Orientierung in der Außenwelt schlechterdings unmöglich. Wir müssen also die räumliche Vorstellung im allgemeinen und die Formvorstellung, als die des begrenzten Raumes, im besonderen als den wesentlichen Inhalt oder die wesentliche Realität der Dinge auffassen. Stellen wir den Gegenstand oder diese räumliche Vorstellung von ihm der wechselnden Erscheinung gegenüber, die wir von ihm erhalten können, so bedeuten alle Erscheinungen nur Ausdrucksbilder unserer räumlichen Vorstellung und der Wert der Erscheinung wird sich nach der Stärke der Ausdrucksfähigkeit bemessen, die sie als Bild der räumlichen Vorstellung besitzt. Die Farbigkeit der Natur gilt alsdann gleichsam als ein farbiges Gewand, welches die Natur als Körper trägt, und der Wert der wechselnden Farben erscheinung wird sich gleichfalls darnach bemessen, wie weit das Farbige an der Klärung des räumlichen Ausdrucks teilnimmt.
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Wir sehen alsdann die Natur so an, als wenn sie uns nur alle möglichen Erscheinungsvariationen über ein Thema gäbe, ohne jemals dasselbe an sich zu geben. Denn die Formvorstellung ist ein Fazit, welches wir aus dem Vergleich der Erscheinungsweisen gezogen haben, und welches das Notwendige vom Zufälligen schon gesondert hat. Sie ist also nicht eine Wahrnehmung schlechtweg, sondern eine Verarbeitung von Wahrnehmungen aus einem bestimmten Gesichtspunkt. Damit meine ich nicht etwa einen subjektiven Gesichtspunkt, sondern im Gegenteil den ganz allgemeinen der räumlichen Orientierung, wie er sich bei jedem naturgemäß bilden muß im Verkehr mit der räumlichen Außenwelt. […] Zur Erkenntnis des Verhältnisses von Form zu Erscheinung müssen wir vor allem die zwei uns möglichen Wahrnehmungsarten streng unterscheiden. Es sei ein Gegenstand mit Umgebung und Hintergrund gegeben; ebenso die Richtungslinie des Beschauers, dessen Standpunkt lediglich in Nähe oder Ferne verschiebbar sein soll. Ist sein Standpunkt ein so ferner, daß seine Augen nicht mehr im Winkel, sondern parallel schauen, dann empfängt er ein Gesamtbild, und dies Gesamtbild ist bei aller plastischen Wirkung, die es hat, an sich rein zweidimensional, weil die dritte Dimension, also alles Nähere oder Fernere des Erscheinungsobjektes, alle Modellierung nur durch Gegensätze in der erscheinenden Bildfläche wahrgenommen wird, als Flächenmerkmale, die ein Ferneres oder Näheres bedeuten. Tritt der Beschauer aber näher hinzu, so daß er verschiedene Stellung und Akkomodation der Augen braucht, um das gegebene Objekt zu sehen, dann hat er die Gesamterscheinung nicht mehr in einem Blick und er kann sich das Bild nur durch seitliche Augenbewegung mit verschiedener Akkommodation zusammensetzen. An Stelle der Gesamterscheinung treten verschiedene Einzelerscheinungen, welche durch Augenbewegung verbunden werden. Je näher der Beschauer dem Objekte tritt, desto mehr Augenbewegungen braucht er und desto mehr teilt sich die ursprüngliche Gesamterscheinung in Einzelerscheinungen, in gesonderte Bilder. Zuletzt vermag er den Gesichtseindruck so zu beschränken, daß er nur immer einen Punkt scharf in den Sehfokus rückt und die räumliche Beziehung dieser verschiedenen Punkte in Form eines Bewegungsaktes erlebt; alsdann hat sich das Schauen in ein wirkliches Abtasten und in einen Bewegungsakt umgewandelt und die darauf fußenden Vorstellungen sind keine Gesichtseindrucksvorstellungen (von nun an kürzer: Gesichtsvorstellungen), sondern Bewegungsvorstellungen und bilden das Material des Form-Sehens und Form-Vorstellens. Alle unsere Erfahrungen über die plastische Form der Objekte sind ursprünglich durch Abtasten zustande gekommen. Sei es nun ein Abtasten mit der Hand oder mit dem Auge. Tastend führen wir der Form entsprechende Bewegungen aus und die Vorstellungen bestimmter Bewegungen,
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oder anders gesagt, ein Komplex bestimmter Bewegungsvorstellungen heißt eine plastische Vorstellung. Stellen wir nun die zwei Extreme der Sehtätigkeit sich gegenüber, so bedeuten die zwei Arten reiner Sehtätigkeit. Das ruhig schauende Auge empfängt ein Bild, welches das Dreidimensionale nur in Merkmalen auf einer Fläche1 ausdrückt, in der das Nebeneinander gleichzeitig erfaßt wird. Dagegen ermöglicht die Bewegungsfähigkeit des Auges, das Dreidimensionale vom nahen Standpunkt aus direkt abzutasten und die Erkenntnis der Form durch ein zeitliches Nacheinander von Wahrnehmung zu gewinnen. Alle dazwischen liegenden Wahrnehmungsweisen sind Mischformen von Gesichtseindrücken und Bewegungstätigkeit, unrein in bezug auf die Qualität ihrer Erfahrungsbestandteile. Dahin gehört vor allem das stereoskopische Sehen. Hierbei sehen wir den Gegenstand eigentlich von zwei Standpunkten zugleich, und die Bewegung von dem einen zum anderen Standpunkt ist zu einem Moment zusammengedrängt, weil die Verschiedenheit der Standpunkte mit dem Abstand der gleichzeitig sehenden Augen zusammenfällt. Es findet im Grunde eine Vermischung von Gesichtseindruck und Bewegungsvorgang statt, welche wir imstande sind, dadurch zu sondern, daß wir das gemeinschaftliche Bild durch das Schließen eines Auges auf die zwei getrennten Bilder zurückführen. Indem wir ein Auge schließen, rücken wir gleichsam den Gegenstand in eine weitere Entfernung und erhalten ein reines einheitliches Flächenbild, welches wir der Einfachheit wegen von nun an Fernbild nennen wollen. Nachdem wir so die Wahrnehmung in eine rein schauende und in eine sich rein bewegende Augentätigkeit gesondert haben, wollen wir dem Verhältnis der Gesichtsvorstellung zu den Bewegungsvorstellungen näher nachgehen. Das Fernbild von etwas Dreidimensionalem gibt uns einen reinen Gesichtseindruck, welcher aber durch bestimmte Merkmale der Erscheinung zu Bewegungsvorstellungen anregt, diese also sozusagen latent in sich enthält. Geben wir uns dieser Anregung hin, so werden die Gesichtseindrücke zu Führern und setzen sich in Bewegungsvorstellungen um, wir gehen sozusagen im Fernbild spazieren. Soweit nun im Fernbild die Gesichtseindrücke eine nur zweidimensionale Ausdehnung des Gegenstandes bedeuten und wir aus dem Gesamteindruck Linien, die keine Perspektive enthalten, und Flächeneindrücke, die mit der Bildfläche parallel liegen, allein ins Auge fassen, stellen diese Anregungen zu Augenbewegungen zugleich das direkte geometrische Bild für diese Bewegung dar. Ein geometrisches Bild für die dritte Dimension, 1 Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerke ich, daß ich dem gewöhnlichen, namentlich unter Künstlern üblichen Sprachgebrauche folgend, überall das Wort Fläche gebrauche, wo im mathematischen Sinne Ebene stehen müsste.
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d. h. für die Tiefenunterschiede, ist jedoch in dem Fernbild nicht enthalten, sondern nur eine Anweisung auf die Tiefenvorstellung, da ja in der Perspektive jede Linie verkürzt ist (eventuell zu einem Punkt zusammenschrumpft). Gehen wir dagegen von der Bewegungstätigkeit des Auges aus, d. h. tasten wir, aus der Nähe, denselben Gegenstand mit den Augen ab, so werden unwillkürlich die Bewegungsakte zu Gesichtsvorstellungen, Vorstellungen von Linien und einfachen Flächen, die aber nur eben als Illustrationen jener Bewegungen dienen, von den übrigen für die schauende Tätigkeit vorhandenen Unterschieden innerhalb der gesehenen Flächen, wie z. B. von Farbe, von Schatten und Licht dagegen abstrahieren. Aber auch die dritte Dimension, das Lageverhältnis der Flächen zueinander, fassen wir dabei als Linie auf, die uns eine Bewegung illustriert, indem wir unseren Standpunkt ändern und damit imstande sind, uns Profilansichten aller dieser Lageverhältnisse zu schaffen. Die Vorstellungen eben dieser Bewegungen sind die wesentlichen Faktoren unserer Erkenntnis der plastischen Form. Da die Gesichtsvorstellungen, die in die so gewonnene Formvorstellung eingehn, nach dem Obigen von der Erscheinung abstrahiert sind, so ist auch diese rein plastische Formvorstellung, eine nur abstrahierte.2 Die plastische Vorstellung setzt sich also zusammen aus den Gesichtsvorstellungen von Linien und einfachen Flächen, die durch Bewegungsvorstellungen untereinander verbunden sind. Sie kennt somit eine Einheitsform nur für zweidimensionale Inhalte, – eben die genannten geometrischen Bilder. Die dritte Dimension fügt sich durch den Wechsel des Standpunktes hinzu; indem sie aber diese Verbindung der einzelnen geometrischen Bilder zu einem dreidimensionalen Gegenstande durch die Bewegungsvorstellungen nur sukzessive schafft, kann durch diese Vorstellungstätigkeit ein einheitliches Gesamtbild für die dreidimensionale Form, in der Vorstellung nicht zustande kommen. Ein einheitliches Bild für den dreidimensionalen Komplex besitzen wir also allein im Fernbild, dieses stellt die einzige Einheitsauffassung der Form dar, im Sinne des Wahrnehmungs- und Vorstellungsaktes. […] Um nun näher die Konsequenzen des Problems für den Maler und Bildhauer entwickeln zu können, ist es nötig, noch eingehender das Verhältnis des Fernbildes zu den Bewegungsvorstellungen im allgemeinen zu untersuchen. 2 Die Zeichnungen eines Bildhauers sind direkt aus Bewegungsvorstellungen entstanden und die Erscheinung ist aus ihnen zusammengebaut. Es ist das leicht zu erkennen, wenn wir sie mit Zeichnungen eines Malers vergleichen, bei denen die Vorstellungen aus Erinnerung und Kenntnis des direkten Bildeindrucks entstehen. Wenn auch bei einem späteren Stadium der Durchführung sich die beiden Arten nähern können, so sind doch die Ausgangspunkte ganz entgegengesetzte.
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Indem wir Bewegungsvorstellungen und die damit verbundenen Begrenzungslinien entwickeln, gelangen wir dazu, den Dingen eine Form zuzuschreiben, die unabhängig vom Wechsel der Erscheinung ist. Wir erkennen sie als denjenigen Faktor der Erscheinung, welcher vom Gegenstand allein abhängt. Wir können diese teils direkt durch Bewegung gewonnene, teils aus der Erscheinung abstrahierte Form, die Daseinsform des Gegenstandes nennen. Der Formeindruck jedoch, den wir aus der jeweilig gegebenen Erscheinung gewinnen, und der in ihr als Ausdruck der Daseinsform enthalten ist, ist stets das gemeinschaftliche Produkt des Gegenstandes auf der einen Seite, der Beleuchtung, der Umgebung und des wechselnden Standpunktes auf der andern Seite und steht deshalb der abstrahierten vom Wechsel unabhängigen Daseinsform als eine Wirkungsform gegenüber. Es liegt aber in der Natur der Wirkungsform, daß jeder Einzelfaktor der Erscheinung nur im Bezug und im Gegensatz zu einem anderen etwas bedeutet, daß alle Größen, alles Hell und Dunkel, alle Farben etc. nur relativ einen Wert abgeben. Alles beruht auf Gegenseitigkeit. Jedes wirkt auf das andere, bestimmt dessen Wert mit. Wenn wir also von einem Gesamteindrucke reden, so heißt dies ein gemeinschaftliches Wirkungsresultat aller Erscheinungsfaktoren, und da das Fernbild gerade in dem Auffassen einer gemeinschaftlichen Wirkung besteht, so folgt daraus, daß seine einzelnen Erscheinungsfaktoren nur in der bestimmten Beziehung zueinander, welche diesen Gesamteindruck hervorruft, ihre Bedeutung haben, während sie an und für sich genommen, d. h. aus dem Zusammenhang gerissen, sie verlieren. Wenn wir deshalb imstande sind, aus einer Gesamterscheinung, den darin enthaltenen Wirkungen folgend, uns eine Formvorstellung des Gegenstandes zu machen, so ist dies die Folge des Verhaltens der Einzelfaktoren zueinander. Daraus folgt aber, daß, wenn wir bei der bildlichen Darstellung von der Formvorstellung ausgehend, zu einer ihr entsprechenden Gesamterscheinung gelangen, sozusagen eine Gleichung zwischen der Daseinsform und der Erscheinung ziehen wollen, dies nicht erreicht wird, wenn wir die einzelnen Bewegungs- oder Formvorstellungen Stück für Stück direkt als Gesichtseindruck fassen und auf diese Weise addierend eine Gesamterscheinung zusammensetzen. Denn bei solchem Einzelumsatz fassen wir das Einzelne nicht in seiner Wirkungsbedingtheit durch das Ganze und für das Ganze auf, sondern immer als abgeschlossene Einzelheit. Wir sind also gezwungen, unsere Formvorstellung in solche Erscheinungsfaktoren umzusetzen, welche erst innerhalb der gemeinschaftlichen Wirkung durch ihr Zusammenwirken zu einer Gleichung der Form werden. Denn es handelt sich ja nicht nur darum, daß Tiefenvorstellungen in Flächen-
Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893/7/81910) 231
eindrücke umgewandelt werden und als ein Nebeneinander im einheitlichen Sehakt aufgefaßt werden können, sondern darum, daß der gesamte Flächeneindruck einen richtigen Gesamteindruck für die Formvorstellung abgibt. Wir können die Werte der Daseinsform als Zahlenwerte auffassen, und wie man in der Algebra von dem Zahlenwert abstrahiert und den Wert nur als Verhältnismöglichkeit von a zu b zum Ausdruck bringt, so erhebt der bildliche Eindruck alle wirklichen Raumgrößen zu Verhältniswerten, die nur fürs Auge eine Gültigkeit haben. Auf solche Weise kommt die Gleichung zwischen der Daseinsform und der Wirkungsform zustande. Wenn ich einen Finger fixiere, so erhalte ich einen Verhältniseindruck der Fingerformen. Fixiere ich jedoch die ganze Hand, so sehe ich den Finger im Verhältnis zur ganzen Hand und erhalte einen neuen Eindruck als Verhältniseindruck des Fingers zur Hand. Sehe ich dann die Hand mit dem Arm zusammen, so ändert sich wiederum der Eindruck usw. in infinitum. Die Hand kann mir an sich stark vorgekommen sein, als ich sie allein sah, im Verhältnis zum Arm erscheint sie vielleicht zart, weil der Arm sehr stark ist. Während anfangs die Form des Fingers nur als ein Gesamteindruck der dem Finger allein gehörigen Einzelformen aufgefaßt wurde, entsteht sie später als Verhältniseindruck zu anderen mitwirkenden Formen. In beiden ist die Daseinsform des Fingers dieselbe, ihre Wirkungsrolle in der Erscheinung hat sich aber geändert. Sie erhält als Wirkungsform einen Akzent, der ihr allein nicht zukommt. Auf diese Weise geht die ganze Daseinsform in Wirkungsverhältnisse und Wirkungswerte auf und die gegenständliche Vorstellung verwandelt sich in eine Vorstellung von Wirkungswerten, die immer nur in der gegebenen Gesamtheit ihre Geltung haben. Andererseits kann die bloße Gruppierung dazu führen, die Formwerte in ihrer Wirkung verschieden zu akzentuieren. Wir können z. B. gleichlange Linien so zueinander stellen, daß sie verschieden lang wirken; es gibt bekannte geometrische Figuren, die diese Täuschung bezwecken. Es wird daraus begreiflich, daß der Wert der einzelnen Daseinsform entweder falsch, wie im gegebenen Beispiel oder gleichgültig, d. h. ohne eindringliche Akzentuierung oder aber stark und eindringlich zur Wirkung kommen kann. In allen drei Fällen bleiben die wirklichen Maße der Daseinsform dieselben, es ändert sich jedoch die Wirkungsform. Ob also der Wirkungsakzent so oder so fällt, hängt von der Gesamtsituation ab und ist, wie die Situation selbst, entweder stabil oder einem Wechsel unterworfen. Es ist dies für unseren Formeindruck in der Natur von großer Bedeutung. Da viele Gegenstände an eine bestimmte Situation gebunden sind, so kennen wir sie nur als bestimmte Wirkungsform und durch eine Aenderung der Situation scheint sich ihre Daseinsform zu ändern. Derselbe Turm z. B., der, über die Häuser allein in die Luft ragend, uns einen schlanken Eindruck macht, wird plötzlich plump, wenn wir ihm zur Seite dünne Fabrikschlöte aufstellen.
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Auf diese Weise nimmt der Gegensatz, in dem der Gegenstand zu seiner Umgebung steht, teil an seiner Charakterisierung und, je nachdem sich bestimmte Situationen mit der Gegenstandsvorstellung in uns festsetzen, setzen sich auch bestimmte Wirkungsakzente in unserer Vorstellung fest, welche die Daseinsform charakterisieren. Wir können von einem Ausnahmsakzent und einem normalen sprechen und von einem zufälligen und typischen, je nachdem innerhalb des Wechsels sich gewisse Wirkungsforderungen in unserer Vorstellung festgesetzt haben. Der Künstler je nach seiner individuellen Begabung bereichert unser Verhältnis zur Natur, indem er die Daseinsform in Situationen bringt, die ihr neue normale Wirkungsakzente verleihen. Je normaler und typischer die Wirkungsakzente in einem Kunstwerk fallen, desto objektivere Bedeutung besitzt es. Damit hat sich denn im Gegensatz zur bloßen Daseinsform der Inhalt dessen, was wir Formvorstellung nennen müssen, dahin erweitert, daß wir uns einen Komplex von Bewegungsvorstellungen mit einer räumlichen Wirkungsrolle verbunden vorstellen. Und ebenso haben sich mit diesem Inhalt auch die Anforderungen erweitert, welche wir an die Erscheinung stellen als Ausdruck der räumlichen und plastischen Natur. Während wir uns eine Formvorstellung machen, schaffen wir unwillkürlich an einer Gesichtsvorstellung, welche einer Wirkungsrolle dient. Ist sie noch so dürftig, so ist sie doch imstande, den allgemeinen Formbegriff, der sich in dieser Wirkung ausspricht, festzuhalten. Wenn die Kinder ein Gesicht als Kreis mit zwei Punkten als Augen, einem senkrechten Strich als Nase und einem wagrechten als Mund zeichnen, so stellen sie damit eben diese notwendige Wirkung dar, als ganz entsprechendes Bild unserer natürlichen Vorstellung der Wirkungsform. Deshalb muß denn auch die künstlerische Darstellung diese elementaren Wirkungen, welche uns den allgemeinsten Formbegriff lebendig machen, aus der Gesamtfülle der Erscheinungen und trotz dieser zustande bringen, wenn sie stark und natürlich sein soll. Beim gemalten oder gemeißelten Menschengesicht muß das, was das Kind mit den paar Strichen festgehalten hat, ebenso vorherrschen als Grundwirkung. So ist z. B. der sogenannte griechische Gesichtstypus bei den alten Statuen, die sogenannte griechische Nase, aus diesem Bedürfnis entstanden, nicht etwa, weil die Griechen solche Köpfe hatten. Ein solcher Kopf wirkt unter allen Umständen klar und stellt die typischen Wirkungsakzente dar. Aus all diesem haben wir aber erkannt, daß die Daseinsform, die meßbare Naturform oder ihre gegebenen räumlichen Maße vom Auge wohl abgestastet [sic], dann aber nicht als Einheit aufgefaßt werden können. Diese Einheit fürs Auge existiert nur in der Form von Wirkungen, die alle tatsächlichen Maße in Verhältniswerte umsetzen; nur als solche besitzen wir sie als Gesichtsvorstellung. Auch die Vorstellungen von abstrahierten Begrenzungs-
Die ästhetische Wahrnehmung der Musik (1911) 233
linien und ihres Lageverhältnisses zueinander, welche der Daseinsform zukommen, sind als Gesichtsvorstellungen immer nur als Verhältnisausdruck vorhanden und daher relative Größen. Die Formvorstellung gelangt so zu einer Art der Abstraktion, indem sie die Empfindung räumlicher Werte festhält, die nur in der Einkleidung individueller Größenverhältnisse realisiert werden können. Nur aus der Wirkung des Fernbildes können wir aber die Formwerte einheitlich abstrahieren, weil nur da die Erscheinungselemente gleichartig und gleichzeitig auftreten. Das künstlerische Sehen besteht also in dem starken Auffassen dieser Formempfindungen, gegenüber der bloßen Kenntnis der Daseinsform als Addition von isolierten Wahrnehmungen, wie sie nur für die wissenschaftliche Betrachtung von Bedeutung sein kann.
24. Otakar Zich: Die ästhetische Wahrnehmung der Musik (1911) Wie bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme üblich wurde auch ich von einer konkreten, ich möchte sagen praktischen Aufgabe zu einer eingehenderen theoretischen Untersuchung angeregt. In der ersten Hälfte des Jahres 1908 lenkte die kompositorische Arbeit an der Oper Malířský nápad [Des Malers Einfall] (nach eigenem Text) meine Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen der Musik und Gefühlen oder Stimmungen. Beim Komponieren eines Musikdramas, also einer Musik, die dramatische Situationen zu charakterisieren und deren Wirkung auf die Stimmung zu verstärken hat, war ich gezwungen, wiederholt über dieses grundlegende Verhältnis nachzudenken. Ich zögerte nicht, die Resultate aus dieser eigenen Erfahrung und Selbstbeobachtung durch psychologische Experimente an anderen zu stützen und zu ergänzen. Wenngleich diese Beobachtung anderer der Selbstbeobachtung vielleicht einerseits in gewisser Weise – nämlich in Bezug auf die Genauigkeit – unterlegen ist, gleicht sie andererseits dieses Manko durch eine größere Quantität wieder aus, womit zweierlei erreicht werden kann: 1. Durch das Ausmerzen individueller Eigenheiten kann man zu immerhin relativ allgemeingültigen Ergebnissen (Gesetzmäßigkeiten) kommen – soweit dies das gegebene Material erlaubt – und 2. kann man eben diese individuellen Charakteristika identifizieren, womit eine – freilich wieder nur relative – Vollständigkeit ihrer Beschreibung erreicht wird. Eine Untersuchung der Beziehung zwischen der Musik und Stimmungen sowie Gefühlen, die durch sie geweckt werden, ist im Grunde schon durch die einfache Tatsache gerechtfertigt, dass alle Wahrnehmungen (und Vorstellungen) in uns irgendwelche Gefühle oder Stimmungen hervor-
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rufen (psychologisch genauer gesagt: von irgendwelchen Gefühlen begleitet werden). Ist nun diese Gefühlsebene unter bestimmten Umständen oder in bestimmten Bereichen der seelischen Vorgänge sehr – manchmal nahezu unendlich – schwach, kommt sie in der (vollkommenen) ästhetischen Wahrnehmung dagegen im bedeutsamen Maße zur Geltung. […] Die ästhetische Empfindung umfasst keineswegs nur bloße Wahrnehmung – auch wenn sie durch Reproduktion ergänzt, modifiziert und aufrechterhalten wird –, weder auf der intellektuellen und schon gar nicht auf der emotionalen Ebene. Zu dieser Wahrnehmung in breiterem Sinne des Wortes gesellt sich die sogenannte Bedeutungsvorstellung. Betrachte ich etwa ein Stillleben, so nehme ich Farbflecke und ihre Begrenzung wahr – also Formen. Unwillkürlich stellt sich die Frage, was diese Wahrnehmungen bedeuten? Ich erkenne: hier ist eine Weintraube, hier ein toter Hase usw. Auch wenn ich das Betrachtete nicht so genau benennen kann, stellen sich Bedeutungsvorstellungen allgemeinerer Natur ein: Gemüse, Blumen, Vögel u. a. Ähnliche, ja noch speziellere Vorstellungen gesellen sich auch bei Bildern aus anderen Bereichen zur Wahrnehmung, etwa aus dem Bereich der Genremalerei (siehe Christlicher Unterricht von Mánes) oder der historischen Malerei (Hus von Brožík usw.). Wir können allerdings nicht von einer einzigen Bedeutungsvorstellung sprechen, es handelt sich hier um einen ganzen Komplex, der freilich um eine Vorstellung herum gruppiert ist (z. B. um die Vorstellung von Hus). In der Malerei ist solch eine Bedeutungsvorstellung eine notwendige Folge der Empfindung, in der Dichtung wird sie sogar zu einem eigenen ästhetischen Gegenstand. Die Worte der Dichtung – ob gelesen oder gesprochen – erwecken in unserer Phantasie eine ganze Reihe von Vorstellungen, womit freilich nicht gesagt werden soll, dass der rein klanglichen Ebene der Worte, insbesondere bei der Versdichtung, nicht ebenfalls eine ganz eigene ästhetische Bedeutung zukommt. Wende ich mich dem in dieser Studie behandelten Bereich, also der Musik, zu, muss ich in Bezug auf die Durchführung der Untersuchung zwei Dinge erwähnen: 1. Zunächst die Tatsache, dass wir mit diesem Kapitel ein spezifisch ästhetisches Feld betreten. Denn es handelt sich hier bereits um das Pro blem der vollkommenen musikalischen Vorstellung. Die Musik existiert freilich, wie schon mehrfach erwähnt und wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, außerhalb der Kunst überhaupt nicht, vor allem gibt es sie nicht in der Natur, wo der Musik ähnliche Phänomene nur durch puren Zufall auftreten (Vogelgesang). Denn die Musik operiert mit Komplexen aus bestimmten, typisch geordneten Tönen. Die vollkommene Empfindung1 1
Inklusive der Vorstellungen.
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von künstlerischen Gebilden aber muss sicherlich notwendig ein ästhetisches Empfinden genannt werden. 2. Haben wir uns bisher mit einer klar eingegrenzten psychologischen Untersuchung befasst, nämlich der psychologischen Untersuchung der Musikempfindung, so müssen wir nun, da diese Eingrenzung entfällt und wir uns einer Fülle von aus der Musik entstehenden Eindrücken zuwenden, das Objekt sorgfältig eingrenzen: es kommt uns nämlich vor allem auf jene Eindrücke an, die in der Musik selbst ihren Ursprung haben. Die Wahrnehmung der Vokalmusik, des Melodramas, der Programmmusik (auch wenn das Programm nur durch den Titel ausgedrückt wird) müssen wir notwendigerweise ausschließen, weil diese bereits nicht nur ein musikalisches ästhetisches Objekt darstellen, sondern – da man die auf Vermittlung durch Wörter beruhende Kunst ganz allgemein als Poesie bezeichnen kann – ein zusammengesetztes, ein musikalisch-poetisches Objekt. Damit allerdings wird das Problem außergewöhnlich kompliziert. Denn es kommt nicht einfach nur eine neue (nämlich poetische) Komponente hinzu, sondern es entsteht eine wechselseitige Beeinflussung, die durchschlagend ist. Hostinský2 war der erste, der diese Unterscheidung streng beachtete, weder davor, noch – leider – danach wurde dies beachtet, jedenfalls nicht in ausreichendem Maße; als Folge entstand eine große Verwirrung in Bezug auf das ästhetische Wesen und die ästhetische Wirkkraft der Musik. Bis heute versteht man unter Musik sowohl ein Streichquartett als auch ein Lied mit Klavierbegleitung, obwohl das zwei grundsätzlich verschiedene Dinge sind. Was diese Beziehung der Musik zur Poesie betrifft, so werde ich dies freilich auch in den weiteren Kapiteln noch berühren – vor allem im vierten und fünften –, aber stets mit diesem ausdrücklichen Vorbehalt. Wenden wir uns nun der Musik zu, so erscheint sicherlich als erstes der Gedanke – gerade nach gründlichem Nachdenken über das Wesen der Musik –, dass es solche Bedeutungsvorstellungen, wie die geschilderten aus anderen Bereichen, in der Musik nicht gibt.3 Mehr noch: Nach den Resultaten im ersten, experimentellen Teil dieser Studie zu schließen,4 scheint es geradezu ein spezifisches Merkmal der musikalischen Laien zu sein, musikalischen Werken oder Ausschnitten daraus irgendeine Bedeutungsvorstellung aufzudrängen („dies bedeutet Vorwürfe, jenes das Plätschern eines Baches“ usw.). Trotzdem behaupte ich – soweit ich weiß als erster, jedenfalls aber zum ersten Mal in dieser präzisen Formulierung (die im Weiteren folgt) –, 2 O. Hostinský, Das Musikalisch-Schöne und das Gesamtkunstwerk vom Standpuncte der formalen Ästhetik, Leipzig 1877. 3 So urteilt z. B. J. Volkelt, System der Ästhetik I, 1905, S. 118. 4 O. Zich, Estetické vnímaní hudby, Česká mysl, Jg. XI (1910). [Siehe den ersten Teil dieses Buches.]
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dass mit der Musik Bedeutungsvorstellungen verknüpft sind; diese Vorstellungen sind allerdings rein musikalischen Ursprungs. Zu diesem Zweck müssen wir zunächst das Wesen der Bedeutungsvorstellungen näher betrachten. Aus den Beispielen, die ich für andere Bereiche angeführt habe, wird deutlich, dass es sich dort um Bedeutungsvorstellungen von Personen oder Gegenständen handelt. Ein Umstand ist dabei charakteristisch: Mit diesen Bedeutungsvorstellungen scheint jeweils ein bestimmtes Wort unzertrennlich verbunden zu sein. Diese, wie ich sagen möchte, „philologische“ Seite der Bedeutungsvorstellungen müssen wir kritisch betrachten. Es zeigt sich, dass das Wort bei Kunstgebilden (bis auf die Poesie, bei der es den Ausgangspunkt bildet) – weder notwendig, noch zulänglich, häufig sogar unmöglich ist. Kein einzelnes Wort (Hase, Hus u. ä.), ja, nicht einmal eine gründlichere, getreue Beschreibung, wie wir sie in den Katalogen der Galerien oder in den Schriften der Kunstgeschichte finden, kann uns die Kunstempfindung eines Bildes ersetzen. Was bedeuten die Wörter Sonnenuntergang oder Versinken der Abendröte im Gegensatz zu den Bildern, auf denen sich eine ganze Palette an Farbschattierungen entwickelt, die durch diese Erscheinungen hervorgerufen wurde! Solche Empfindungen kann man nicht beschreiben; es gibt freilich viele Beispiele, wo einem die Worte auch bei ganz eindeutigen, selbsterklärenden Objekten fehlen. Auf Bildern von Cosimo, Schwind oder Böcklin sehen wir nicht nur Zentauren und Sirenen, sondern auch phantastische Ungeheuer, für die wir keine konkreten Namen haben, außer eben Ungeheuer oder Kreatur, gewiss ganz allgemeine Bezeichnungen. Und trotzdem verbinden wir, vor allem, wenn wir uns mit der romantischen Welt der genannten Maler näher beschäftigen, mit diesen Kreaturen ganz bestimmte Bedeutungsvorstellungen. Das können, müssen aber nicht völlig einzigartige Vorstellungen sein. Auf demselben Bild oder auf verschiedenen Bildern können wir mehreren Vorstellungen derselben oder einer ähnlichen Art begegnen. Wir haben für sie keine Worte, kennen sie aber gut und erkennen auch ihre Kopien5 auf Bildern von Schülern oder Nachahmern. Wir können noch weiter gehen und sagen, dass man auf jedem (guten) Bild sehr viele Dinge entdecken kann – nicht nur Gegenstände, sondern auch Situationen, Gruppierungen, Motive usw., für die wir zwar keine Worte haben, außer eben „Ding“ im weitesten Sinne des Wortes, die wir aber trotzdem gut kennen und in anderen Bildern – eklektischen oder epigonalen – sofort als „alte Bekannte“ wiedererkennen. Das sind alles Bedeutungs-
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Nicht im streng technischen Sinne einer Kopie.
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vorstellungen, aber – ohne Worte. Nicht jede unserer Vorstellungen muss ein zugehöriges Wort haben, aber jede kann zu einer Bedeutungsvorstellung werden. Auch musikalische Gebilde, bestimmte Melodien, Harmonien usw., sind sicher ebenso „Dinge“ im weitesten Sinne des Wortes. Freilich aber „Dinge“ aus dem Bereich des Hörsinnes und noch dazu von ganz speziellem Charakter. So wie bestimmte Geräusche beim Abhören der Lunge für den Arzt, ein besonderes Winseln für den Hundebesitzer usw. Bedeutungsvorstellungen sind, freilich allgemein akustische und mit nur allgemeiner Bezeichnung versehen (für diejenigen, die sie nie gehört haben, ohne Bedeutung), so verhält es sich für den Musiker mit musikalischen Gebilden. Bei näherer Betrachtung teilen sich diese Gruppen der Bedeutungsvorstellungen in der Musik folgendermaßen:
I. Sachbezogene resp. musikalische Bedeutungsvorstellungen 1.a) Als deutlichstes Beispiel dieser Vorstellungen kann man die Bedeutungsvorstellungen von Melodien nennen. Jede Melodie, jedes Bruchstück einer Melodie wird zu einer Art Individuum, das der Musiker in seinem Gedächtnis speichert; trifft er es wieder – wenn auch vielleicht teilweise verändert –, so erkennt er es leicht. Für dieses Phänomen, wenn also eine Musikempfindung zur Bedeutungsvorstellung wird, hat die Musik sogar Termini technici: wird ein musikalisches Gebilde, insbesondere ein komplexerer, musikalischer Gedanke oder musikalischer Einfall genannt, so wird es zur Bedeutungsvorstellung des musikalischen Themas oder des musikalischen Motivs. Der erste Terminus kommt besonders in der absoluten Musik vor, der zweite in der dramatischen oder der Programmmusik. Ich möchte an dieser Stelle zunächst nur vom Thema sprechen, das Motiv soll später gesondert behandelt werden. Ich möchte aus der absoluten Musik nur zwei besonders auffallende Beispiele, bei denen das musikalische Thema als Bedeutungsvorstellung auftritt, detaillierter besprechen. Es ist dies vor allem die Variation. Ein gegebenes Thema wird nach verschiedenen Seiten (der melodischen, der harmonischen, der rhythmischen, das Tongeschlecht betreffend) variiert. Es ist so, wie wenn Rembrandt in einer Reihe von Radierungen Studien seines Gesichtes unter dem Einfluss verschiedener Affekte durchführt, oder wenn ein Dichter denselben Gedanken (z. B. die Farbkombination rot/weiß in Nerudas „Karfreitagsgesängen“) in den unterschiedlichsten metaphorischen Variationen durchspielt. Das Grundthema (das nach festem Brauch in der Musik die Tonart nicht ändert) bleibt das ganze Werk hindurch eine unveränderte Bedeutungsvorstellung, freilich rein musikalisch. Interessanterweise
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wird das Thema häufig Werken anderer Komponisten entnommen.6 Der Gedanke selber ist bei dieser Form also eher unwesentlich, wichtig ist die Art und Weise seiner Variation. Ein komplizierteres Beispiel stellt die Sonatenhauptsatzform dar;7 hier haben wir zwei, gegebenenfalls drei Themen (Hauptthema, Seitenthema und Schlussthema), mit denen in der sogenannten Durchführung (dem Mittelteil dieser musikalischen Form) „gearbeitet“ wird – so lautet der musikalische Terminus. Diese Themen werden auf vielfältige Weise variiert, vor allem aber miteinander kombiniert. Diese gleichzeitige Verbindung von zwei oder mehr Themen ist ein Spezifikum der Musik; ein diesem analoges Phänomen lässt sich in anderen Kunstgattungen nur schwer finden. Am ehesten noch wäre dies der Widerstreit zweier Ideen im Drama. Auch diese Ideen („Pflichten“) entstehen unabhängig voneinander, dauern gemeinsam an und ändern sich sowohl jede für sich als auch durch gegenseitigen Einfluss. Ich möchte freilich bei all diesen – vorangegangenen wie folgenden – Beispielen aus anderen Kunstgattungen nachdrücklich betonen, dass ich sie als sinnbildliche Analogien verstanden wissen möchte, nicht als strenge Entsprechungen – sie sollen lediglich das musikalische Beispiel erklären; ich bin weit davon entfernt, aus ihnen irgendwelche abstrakten, allgemeinen Formen zu konstruieren. Die thematische Arbeit in der Musik beruht überhaupt darauf, dass man die polyphonen Stimmen (Kontrapunkt) nicht ganz willkürlich wählt, sondern aus bestimmten Themen konzipiert, oft auch aus ganz kleinen, aber markanten Teilen eines Themas. Zur Empfindung einer kontrapunktierenden Stimme (herrliche Beispiele bietet etwa der letzte Satz der 9. Symphonie Beethovens) kommt hier ein gewisses Mehr hinzu, die Erkenntnis nämlich, dass dies ein bekanntes, vorher eingeführtes, Thema ist, variiert z. B. durch Diminution.8 Dieses psychologische und ästhetische Mehr (denn unser Wohlgefallen wächst – ceteris paribus – mit dieser Erkenntnis) beruht gerade darauf, dass dieses musikalische Thema als eine Art musikalisches Individuum zu unserem geistigen Eigentum geworden ist. Ein schöner Nachweis solcher „melodischer Individuen“ sind die musikalischen Phrasen der Meistersinger, die Wagner in dem gleichnamigen Werk mit unwiderstehlichem Humor David in den Mund legt, wenn er Walter belehrt. Eine „neue Weise“ – ein neues melodisches Individuum – war die Forderung des „Meisters“. Eine „neue Note“ heißt es in unserem Volk, im Gegensatz zum „neuen Lied“ (d. h. dem
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Z. B. die berühmten Variationen Beethovens auf den Walzer von Diabelli. Die Form der älteren Ouvertüren, der ersten Sätze der Sonate, des Konzerts und der Symphonie. Also in kürzeren, gewöhnlich halbierten Notenwerten.
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Text). Und die Volkssänger, vor allem jene, die improvisieren müssen, z. B. Brautwerber und Brautführer, müssen viele solche „Noten“ im Kopf haben; deshalb entstanden so viele neue Melodien durch Kombination von verschiedenen Bruchstücken älterer Lieder. b) So wie die Melodie ist auch eine bestimmte Harmonie ein musikalisches Individuum. Selbst für den Laien ist dies wenigstens beim harten und weichen Dreiklang der Fall. Für den Musiker gibt es freilich deren viel mehr (und viele haben auch eine eigene Bezeichnung). Man muss allerdings zugeben, dass ihre Zahl im Vergleich zu den Melodien doch wesentlich geringer ist. In früheren Zeiten – am Beginn der gewaltigen Entwicklung der Harmonik – war jede neue Harmonie ein Gewinn, ja, eine Kühnheit, die sich erst nach und nach eine theoretische Berechtigung ausbedungen hat. Für uns heute ist es fast unmöglich, eine neue Harmonie zu finden; man verlangt es auch von keinem Komponisten. Bei der Melodie dagegen wird unerbittlich Neues verlangt.9 Viel wichtiger als die einzelnen Harmonien sind die harmonischen Verbindungen; ihr Grundtypus ist die Verbindung zweier Akkorde, z. B. Tonika – Dominante oder Tonika – Subdominante, beide auch in unserer einfachsten Musik, zum Beispiel der Volksmusik, bekannt, und beide von unterschiedlichem und ganz individuellem Charakter. In der Reihe der Verbindungen nehmen die sogenannten Auflösungen einer Dissonanz (in eine Konsonanz oder in eine andere Dissonanz) den wichtigsten Platz ein; eine allgemeine Klangfarbe von besonderer Charakteristik verleiht ihm ein gewisses – freilich in uns selbst verankertes – Streben, die Dissonanz durch die Auflösung zu beseitigen, auszugleichen. Laut Steinitzer10 beruht dies auf dem aufschiebenden Charakter der Dissonanz, was, wie mir scheint, bei komplizierteren Dissonanzen psychologisch zutreffend ist. Dass die Anzahl harmonischer Verbindungen größer ist als die Anzahl der einzelnen Harmonien, ist in Hinblick auf die Zahl der möglichen Kombinationen klar; trotzdem ist auch ihre Anzahl im Vergleich zu jener der unterschiedlichen Melodien relativ begrenzt; erst bei der Verbindung von drei, vier oder mehr Akkorden steigt ihre Zahl ins Unermessliche – dann aber kann man bereits von einer harmonisierten Melodie sprechen. Solche Akkordverbindungen haben eine große Entwicklung hinter sich; als sie noch neu waren, waren sie unerhört. Denn die Musiktheorie griff stets auf bereits eingebürgerte Verbindungen zurück und entwickelte aus ihnen Normen 9 Auch hier kann allerdings derselbe kleine melodische Baustein bei zwei, drei oder, wie etwa die Tonleitern, sogar bei vielen Komponisten erscheinen, ohne dabei die Originalität ihrer Kreation zu schmälern. Es hängt alles davon ab, was der Komponist daraus macht, d. h. vom größeren Ganzen. 10 M. Steinitzer, Über die psychologische Wirkung der musikalischen Formen, s. o.
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(wie man diese und jene Harmonie auflösen oder auch nicht auflösen darf). Solch eine „harmonische Tabulatur“ – um das Bild aus der „Meistersingerschen“ Melodik zu verwenden – konnte freilich nicht überleben; daher das schnelle Veralten der Harmonielehre. Evident ist: es war dies ein Arsenal von (harmonischen) Bedeutungsvorstellungen. Die moderne Harmonielehre darf es kaum wagen, Normen aufzustellen. Ich möchte nur zwei Beispiele solch einer harmonischen Bedeutungsvorstellung anführen. Die mehrfach verzögerte Auflösung am Beginn der Tristan-Ouvertüre war zu ihrer Zeit ein Novum; seither ist sie durchaus üblich geworden und gerade unlängst entdeckten deutsche Musiktheoretiker11 diese Art von Verbindung bereits in einem Klaviertrio von Mozart. Das zweite Beispiel ist die Modulation in eine Paralleltonart; Beethoven wird zugeschrieben, sie häufig und auf kühne Weise verwendet zu haben. Überhaupt sollte man die Modulation eine komplexe (d. h. in Gruppen, in großem Maßstab auftretende) harmonische Verbindung nennen. Die bekannteste Bedeutungsvorstellung einer Modulation ist sicher das Verlegen des „Trios“ bei Tänzen in die Subdominante. Die harmonischen Bedeutungsvorstellungen können aufgrund ihrer beschränkten Anzahl nicht so gut als Themen fungieren, mit denen der Komponist, wie mit den melodischen Vorstellungen, arbeiten kann. Jeder Komponist arbeitet immerzu mit ihnen und Themen nach Art von „Tonika – Dominante“ zu suchen, wäre eine Torheit; in jedem Werk wimmelt es nur so von ihnen, vor allem in den älteren.12 Trotzdem entstanden auch hier einige stereotype Verbindungen, z. B. die Schlüsse älterer Rezitative (Dominante – Tonika). Dass ungewöhnliche oder komplexere (mehrteilige) Verbindungen zu Themen werden können, werden wir bei der zusammenfassenden Betrachtung der Motive sehen. c) Was den Rhythmus betrifft, der auch mit dem Tempo verbunden ist, so stellt er natürlich ein Element jeder Melodie dar und ist insofern Teil von a). Weil aber dieses Element von der Melodie getrennt werden kann, da es möglich ist, den bloßen Rhythmus (der Melodie) einem Ton mit konstanter Höhe, schließlich sogar dem nichtmusikalischen Klang (Kesselpauke, Trommel) zuzuteilen, müssen wir zwingend von einer eigenständigen rhythmischen Bedeutungsvorstellung sprechen. Besonders die Tanzmusik umfasst solche rhythmischen Vorstellungen, die für die einzelnen Tänze, wie etwa die Polonaise, den Walzer, den Furiant etc., charakteristisch sind. Als Thema tritt der bloße (also nicht mit einer Melodie verbundene) Rhythmus nur selten auf; er ist üblicherweise mit einer Melodie verbunden und scheint eine ihrer Varianten zu 11 Siehe Musik, 1909. 12 Das widerspricht freilich nicht der Tatsache, dass sie Bedeutungsvorstellungen sind; sie sind dies in dem Sinne, wie es z. B. die Augen, die Nase, die Lippen, die Ohren usw. für die gemalte Darstellung jedes Gesichtes sind.
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sein. „Von der Melodie bleibt zuletzt nur der Rhythmus übrig“, pflegen wir zu sagen. Ein interessantes Beispiel für den umgekehrten Fall, bei dem also der Rhythmus der Melodie vorausgeht, ist der Beginn der ersten Rhapsodie von Dvořák; die Pauken eröffnen, erst danach setzt das nun auch melodisch und harmonisch ausgestaltete Thema mit demselben Rhythmus ein. Ähnlich wird auch bei Tänzen manchmal ein, zwei Takte lang die rhythmische Bedeutungsvorstellung (inklusive dem Tempo) vorangestellt, üblicherweise in Verbindung mit der harmonischen Begleitung, über der schließlich die Melodie erklingt. Das Thema „rhythmische Bedeutungsvorstellung“ werde ich bei der Untersuchung der Motive noch einmal berühren. 2. Am deutlichsten tritt das Wesen der musikalischen Bedeutungsvorstellung bei den sogenannten Motiven zutage. Dieser Begriff wird überwiegend bei der dramatischen Musik und der Programmmusik verwendet. Beispiele dafür sind die „Idée fixe“ bei Berlioz und das „Leitmotiv“ (ein kennzeichnendes Motiv) bei Wagner. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass, wie bei den schon erwähnten Beispielen aus der Malerei, auch die Motive häufig mit einem Wort versehen sind, das ihre Bedeutung erst bestimmt. Freilich sind wir schon bei den Themen hie und da auf Worte gestoßen, wie z. B.: die Tonleiter (eine rein melodische Bedeutungsvorstellung), der authentische Schluss (eine rein harmonische Bedeutungsvorstellung), die Begleitung nach Art der Polonaise (eine rein rhythmische Bedeutungsvorstellung). Allerdings haben diese Worte eher kollektive als individuelle Bedeutung; mehr dazu im Abschnitt „Technische Bedeutungsvorstellungen“. Bei den Motiven wären etwa Vyšehrad oder das Geheimnis (beides von Smetana) Beispiele für die durch ein Wort verliehene Bedeutung. Das jeweilige Verhältnis ist dabei ganz analog zur schon erwähnten Bedeutungsvorstellung „Hus“ bei einem Bild u. ä., vor allem, wenn es sich bei der Darstellung einer Gestalt zur Gänze um ein Werk der Phantasie des Malers handelt (z. B. Salome, König Lear u. a.). Betrachten wir solche Verbindungen einer musikalischen Bedeutungsvorstellung mit einem Wort genauer, so stellen wir fest, dass sie häufig recht lose sind und oft auch willkürlich oder ungenau. Ein Opernkomponist beispielsweise hat irgendein Motiv und „arbeitet“ damit im Laufe der Oper; dieses Motiv steht natürlich in einer ganz bestimmten psychologischen Verbindung zu den Figuren und zur Handlung, aber es muss nicht und kann manchmal gar nicht bestimmt benannt werden. So ist es etwa bei den beiden Hauptmotiven in Wagners Tristan, die nichts anderes sind als eine auf- und eine absteigende chromatische Tonleiter. Manche behaupten, dies seien die Leitmotive von Tristan und Isolde, andere sehen darin das Motiv der Sehnsucht und Liebe usw. Insbesondere den Variationen dieses charakteristischen Motivs werden ganz unterschiedliche Bezeichnungen verliehen,
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deren Zusammenhang nur noch auf vagen Vorstellungen beruht.13 Bei der Analyse zweier Opern14 hatte ich enorme Schwierigkeiten beim Benennen solcher charakteristischen Motive. Im besten Fall wählt die Bezeichnungen der Komponist selber, dies ist jedoch nicht immer der Fall. Bei der zweiten der genannten Opern war ich Zeuge des gesamten Entstehungsprozesses; eine ganze Reihe von Motiven, die für den Komponisten ganz prägnant waren und mit denen er völlig sicher und ohne Nachdenken arbeitete, wurde nicht oder nur unpräzise benannt. Auch bei meiner eigenen Oper15 erlebte ich Ähnliches; die mit den Motiven verbundenen Bedeutungsvorstellungen waren völlig klar, ich war keineswegs unschlüssig, wo ich diese Motive verwenden sollte und wo nicht; sie drängten sich mir selber auf. Mit den Bezeichnungen freilich hatte ich so manches Mal meine liebe Not: es hätte das Motiv „Maler“ oder „Einfall des Malers“ oder „Schule“ usw. sein können. Auf diese recht häufige Unbenennbarkeit muss nachdrücklich hingewiesen werden. Es ist aber klar, dass diese charakteristischen Motive für den unvoreingenommenen Komponisten stets vor allem eins sind: ein musikalisches Bedeutungsmotiv. Und das ist auch ganz richtig so; denn nur so erreicht man in der Opernmusik (oder der Programmmusik) jenen Fluss und jene Natürlichkeit, die jedes rechte Kunstwerk haben sollte. In der „literarischen“ Bedeutung – wenn ich es so nennen darf – steckt nämlich die große Gefahr einer Schematisierung der Musik. Mit Recht lachen viele Musiker über ein literarisches Komponieren von Opern, in denen jedes Mal, wenn in einem Gespräch ein bestimmter Name fällt, und sei es auch nur nebenbei, das jeweilige Motiv erklingt. Ich habe vor allem Smetana für seine Natürlichkeit und gleichzeitig für seine geniale psychologische Ausarbeitung – denn das Motiv einer Figur muss nicht unbedingt nur dann erklingen, wenn auch ihr Name genannt wird16 – immer bewundert, und ich muss gestehen, dass im Vergleich dazu in den beiden größten Trilogien der Musikgeschichte, in Wagners Ring der Nibelungen und Fibichs Hippodamie sehr wohl Spuren einer Art literarischer Schematisierung zu finden sind. Besonders die Rezitative 13 Manchmal sind sie auch einfach falsch, insbesondere wenn derjenige, der die Motivbezeichnungen wählt, sich am Libretto orientiert. So wird das Chormotiv aus der Verkauften Braut in einer deutschen Abhandlung als – „Frühlingsmotiv“ bezeichnet, da die Übersetzung des Textes von Frühling spricht! 14 Smetanas Der Kuss und Ostrčils Die Augen Kunáls. 15 Des Malers Einfall. 16 Ein wunderbares Beispiel dafür findet sich im Kuss. Vendulka weigert sich, Lukáš vor der Hochzeit zu küssen, um seine verstorbene Frau nicht zu erbosen. Sie erzählt ihm, dass (nach einem Aberglauben) verstorbene Frauen ihre verwaisten Kinder besuchen. Diese Erzählung wird von einem zauberhaft schönen Motiv begleitet (Klavierauszug S. 60). Als Lukáš nach einem längeren Zwiegespräch (S. 70) Vendulka, die ihm „ihr halbes Herz schenken möchte“, fragt: „aber den Kuss?“, erklingt im Orchester wie hingehaucht dieses Motiv und Vendulka antwortet nur „gebe ich dir nicht!“
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in Wagners Trilogie, die, dem Text folgend, wie ein Mosaik aus den jeweiligen charakterisierenden Motiven zusammengestellt zu sein scheinen, sind für den Musiker manchmal ziemlich ermüdend. Dieses Phänomen ist psychologisch begründet. Wie jedes Kunstwerk muss auch ein musikalisches Werk, z. B. eine Oper, ein Ganzes bilden. Alle ihre Teile müssen letztlich einer gemeinsamen Aufgabe dienen; es darf hier kein bloßes „Nacheinander“ herrschen, sondern auch ein „Miteinander“. Es ist also unbedingt notwendig, alle Themen, Motive, kurz alle bereits geschaffenen Bedeutungsvorstellungen, stets im Gedächtnis zu behalten.17 Es ist klar, dass die Zahl auch nur der wichtigsten musikalischen Bedeutungsvorstellungen (eben der charakterisierenden Motive) bei der Komposition eines ungewöhnlich umfangreichen Werkes (wie etwa der erwähnten Trilogie) sehr groß ist und diese lange im Gedächtnis behalten werden müssen. Von allen Gedächtnisstützen nun ist grade das assoziierte Wort, die Benennung, die stärkste. Auch unser Denken vollzieht sich überwiegend vermittels der Sprache und der Worte. Die Benennung von Motiven, die viele Komponisten in Hinblick auf die musikalischen Bedeutungsvorstellungen manchmal durchaus begrüßen, hat als psychologisches Hilfsmittel für den die Musik wahrnehmenden Hörer noch weit größere Bedeutung. Man kann sogar sagen, dass mit ihrer Hilfe auch der auf diesem Bereich weniger bewanderte Hörer den Aufbau größerer Werke leichter versteht. Nicht nur kann der Hörer dadurch bei einem konkret gegebenen Beispiel Motive leichter erinnern und der motivischen Arbeit leichter folgen, sondern er wird – natürlich vorausgesetzt, dass er über ein Mindestmaß an angeborenem musikalischen Talent verfügt – ganz allgemein zur einzigen Art und Weise herangeführt, wie auch in Fällen, in denen die Motive und Themen nicht benannt wurden, ein musikalisches Werk zu verstehen ist. Eben darin liegt nicht nur die spezielle, sondern die allgemeine Bedeutung aller Analysen musikalischer Werke, die freilich vor allem die psychologische Entwicklung eines Werkes als künstlerischen Organismus verfolgen sollten. Andererseits liegt natürlich gerade in diesem Benennen der Motive und im, wie ich es nannte, „literarischen“ Schematisieren der Werke eine Gefahr, zumindest für musikalisch weniger begabte oder gänzlich unbegabte Hörer. Sie könnten leicht zur Ansicht kommen, dass durch diese Bezeichnung und durch alles, was an Außermusikalischem damit verbunden ist, das Wesen der Motive erschöpft wird, womit freilich der eigene musikalische Sinn der Motive völlig in den Hintergrund gedrängt wird. Solche Menschen glauben, 17 Diese Notwendigkeit spürte Smetana in jener Zeit besonders schmerzhaft, als sein musikalisches Gedächtnis bei der Komposition der Oper Die Teufelswand durch die fortschreitende Geisteskrankheit nachzulassen begann (Teige, Skladby Smetanovy, 1893, S. 106).
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dass sie die Musik einer Symphonischen Dichtung oder einer (modernen) Oper verstehen, wenn sie wissen, was welches Motiv „bedeutet“ (den Wortsinn betreffend); sie machen dadurch das bloße Hilfsmittel zum eigentlichen Wesen der Sache und gewöhnen sich an, auf diese Weise jegliche Musik in Poesie zu übersetzen, wenn man das so sagen kann. Das „wissenschaftliche“ Resultat sind dann dem Musiker unverständliche, ja, komische Definitionen musikalischer Werke wie etwa „Gefühlsbild“, „Phantasiebild“ usw., die davon zeugen, dass diese Personen die Musik nie als Musik, also musikalisch verstanden haben, sondern stets außermusikalisch und daher, da Musik ein ausschließlich künstlerisches Erzeugnis ist, auch unkünstlerisch.18 Auch bei den Motiven kann man die drei Ebenen unterscheiden, die wir vorhin voneinander abgegrenzt haben: die melodische, die harmonische und die rhythmische. Bei einem konkreten Motiv finden wir freilich alle drei. Ein interessantes Beispiel für ein harmonisches Motiv und damit eine harmonische Bedeutungsvorstellung ist das Motiv des Rarach aus der Teufelswand (Smetana), das aus einer Folge von drei vergrößerten, harten Dreiklängen besteht. Auch hier haben wir freilich eine gewisse melodische Entwicklung. Variationen von Motiven verändern gewöhnlich eine oder zwei Ebenen des Motivs, lassen aber die übrigen in der ursprünglichen Form, um so den Bedeutungszusammenhang des Ganzen zu bewahren. Manchmal fallen auch einige Ebenen weg, zum Beispiel die Harmonie (das Motiv wird einstimmig) oder die Harmonie und die Melodie (vom Motiv bleibt nur noch der charakteristische Rhythmus übrig; ein Beispiel dafür ist das Nibelungenmotiv in Wagners Trilogie).
II. Die stoffliche bzw. klangliche Bedeutungsvorstellung Die stofflichen Bedeutungsvorstellungen sind die Vorstellungen vom Material, aus dem das Werk geschaffen wurde. In der Bildhauerei etwa der Marmor oder die Bronze, in der Malerei die Ölfarben, die Tinte (bei Federzeichnungen), die Kohle, andererseits die Leinwand, eine Holztafel oder Papier, in der Dichtung die Worte einer bestimmten Sprache, gegebenenfalls der Dialekt. In der Musik sind dieses Material die Töne, in Hinsicht auf ihre absolute Qualität und Intensität. Also die absolute Tonhöhe im Sinne der Klang-
18 Ähnlich ist das auch in der Malerei, wo sich gerade in jüngster Zeit ein großer Widerstand gegen eine literarische, „anekdotische und novellistische“ Beschreibung der Bilder geregt hat (Muther). Diese Analogie ist nur teilweise passend, da die Objekte der bildenden Kunst eine grundlegende Verbindung zu Naturerscheinungen haben, die Musik dagegen nicht. Vgl. S. 217.
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farbe19 (hohe Töne = klar, scharf usw. und tiefe Töne = dunkel, breit usw.), im Weiteren die für das jeweilige Instrument typische Klangfarbe des Tons (des musikalischen Klangs) im weitesten Sinne des Wortes, also inklusive der zugehörigen Geräusche, dem Anklingen, dem Verklingen und dem Andauern des Tones, schließlich die Intensität, also die Stärke des Klanges im üblichen Sinne des Wortes, das ebenfalls ein Merkmal eines Tones ist und mit der Klangfarbe zusammenhängt. Auch wenn das Ganze auf den ersten Blick ganz klar zu sein scheint, so muss ich doch genauer erklären, warum ich die erwähnten Ebenen der Musik als eigene Gruppe, getrennt von der musikalischen Bedeutungsvorstellung, ja sogar unter dem Titel der rein klanglichen Bedeutungsvorstellungen, zusammengefasst habe. Der Grund dafür liegt in der relativen Unabhängigkeit der spezifisch musikalischen Bedeutungsvorstellungen dieser Ebenen. Das eigentliche Wesen eines musikalischen Ausschnitts ändert sich nicht, wenn man seine ganze (absolute) Tonhöhe (Tonart) oder Klangfarbe (zum Beispiel durch eine andere Instrumentierung) oder Stärke verändert. Ändert man jedoch die Melodie, die Harmonie oder den Rhythmus, so ist das Wesen sofort ein anderes. Ich muss freilich hinzufügen, dass ich in Bezug auf die Harmonie als Hörer Musiker vor Augen habe (für Nichtmusiker ist eine Änderung der Harmonisierung einer Melodie wohl nur eine Art Änderung der Klangfarbe dieser Melodie, womit für sie auch diese Ebene zur Gruppe der stofflichen oder klanglichen Bedeutungsvorstellungen gehören würde). Damit habe ich diese Phänomene freilich nur skizziert. Um sie erschöpfend zu behandeln, wäre eine eigene Studie vonnöten, die ich vorerst nicht leisten kann. Aber auch so werfen sie so manches Licht auf das Wesen der musikalischen Bedeutungsvorstellungen, die man analog zu den Bedeutungsvorstellungen der menschlichen Sprache in „musikalische Gedanken“ gruppiert und die der „musikalischen Logik“ unterliegen. Ich muss wiederum nachdrücklich darauf hinweisen, dass diese Analogie nur bildlich zu verstehen ist und nur dem Zweck einer Instruktion dient. Die Musik ist eine völlig eigene und eigenständige Welt, eine Welt der musikalischen, nicht der logischen Ideen im üblichen Sinne des Wortes.
19 Vgl. dazu den Begriff der Tonhöhe in Kapitel I (S. 135).
Text- und Drucknachweise I. Begründung der formalen Ästhetik (Dok. 1) S. 59–76 Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813]. Textkritisch revidierte Ausgabe mit einer Einleitung hg. von Wolfhart Henckmann. Hamburg 1993. [Auszüge S. 130–180]. (Dok. 2) S. 76–93 Robert Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft [1862]. In: Ders.: Studien und Kritiken zur Philosophie und Ästhetik. Bd. 1. Wien 1870, S. 223–265 [zuerst erschienen in: Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren Philosophischen Realismus 2 (1862), S. 309–360]. [Auszüge S. 223–234]. (Dok. 3) S. 93–100 Otakar Hostinský: Herbarts Ästhetik in ihren grundlegenden Teilen quellenmäßig dargestellt und erläutert. Hamburg/Leipzig 1891. [Auszüge S. 1–14]. (Dok. 4) S. 100–107 Alfred Ziechner: Herbarts Ästhetik. Dargestellt mit besonderer Rücksicht auf seine Pädagogik und im Zusammenhange mit der Entwicklung der Ästhetik an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert betrachtet. Leipzig 1908. [Auszüge S. 44–54].
II. Herbartianische Psychologie (Dok. 5) S. 109–119 Johann Friedrich Herbart: Allgemeine praktische Philosophie [1808]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 5. Langensalza 1887. Neudruck Aalen 1964, S. 329–458. [Auszüge S. 333–348]. (Dok. 6) S. 119–130 Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie [1816/21834]. Hg. von Margret Kaiser-El-Safti. Würzburg 2003. [Auszüge S. 6–14, 15–22, 29–34]. (Dok. 7) S. 130–135 Georg Eduard Bobrik: Freie Vorträge über Ästhetik gehalten zu Zürich. Zürich 1834. [Auszüge S. 47–51, 53–57]. (Dok. 8) S. 135–137 Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft. Wien 1865. [Auszüge S. 17–19].
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Text- und Drucknachweise
III. Theorie der Form (Dok. 9) S. 139–144 Friedrich Konrad Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik. In zwei Theilen. Braunschweig 1827. [Auszüge S. 6–9, 12–14, 24–25]. (Dok. 10) S. 145–148 Georg Eduard Bobrik: Freie Vorträge über Ästhetik gehalten zu Zürich. Zürich 1834. [Auszüge S. 96–99, 108–110, 112–113]. (Dok. 11) S. 148–157 Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft. Wien 1865. [Auszüge S. 51–56, 58–60, 75–79]. (Dok. 12) S. 157–161 Theodor Vogt: Form und Gehalt in der Aesthetik. Eine kritische Untersuchung über Entstehung und Anwendung dieser Begriffe. Wien 1865. [Auszüge S. 1–4, 10–14]. (Dok. 13) S. 161–167 Hermann Siebeck: Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Psychologische Untersuchungen zur Theorie des Schönen und der Kunst. Berlin 1875. [Auszüge S. 3–4, 6–7, 24, 60–62, 68–71, 126–127].
IV. Formale Analytik: Proto-Formalismus (Dok. 14) S. 169–172 Johann Friedrich Herbart: Kurze Enzyklopaedie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen [1831]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 9. Langensalza 1897. Neudruck Aalen 1964, S. 17–338. [Auszüge S. 109–112]. (Dok. 15) S. 173–174 Friedrich Konrad Griepenkerl: Lehrbuch der Ästhetik. In zwei Theilen. Braunschweig 1827. [Auszüge S. 27–31, 34]. (Dok. 16) S. 174–176 Robert Zimmermann: Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft [1862]. In: Ders.: Studien und Kritiken zur Philosophie und Ästhetik. Bd. 1. Wien 1870, S. 223–265 [zuerst erschienen in: Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren Philosophischen Realismus 2 (1862), S. 309–360]. [Auszüge S. 260–264]. (Dok. 17) S. 177–182 Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft. Wien 1865. [Auszüge S. 28–31, 82–83, 276, 279–280]. (Dok. 18) S. 182–203 Otakar Zich: Von den dichterischen Typen [O typech básnických]. In: Zeitschrift für moderne Philologie und Literatur 6 (1917/1918). Übers. von Alžbeta Peštová, Fachkorrektur von Jörg Krappmann. Olmütz 2017. [Auszüge S. 12–27, 32–40, 54–55]. (Dok. 19) S. 203–208 Robert Zimmermann: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft. Wien 1865. [Auszüge S. 298–299, 344–349].
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(Dok. 20) S. 208–210 Josef Durdík: Poetik als Ästhetik der Dichtkunst [Poetika jakožto aesthetika umění básnického]. Prag 1881. Übers. von Alžbeta Peštová, Fachkorrektur von Jörg Krappmann. Olmütz 2017. [Auszüge S. 84–86]. (Dok. 21) S. 211–215 Otakar Zich: Von den dichterischen Typen [O typech básnických]. In: Zeitschrift für moderne Philologie und Literatur 6 (1917/1918). Übers. von Alžbeta Peštová, Fachkorrektur von Jörg Krappmann. Olmütz 2017. [Auszüge S. 5–10].
V. Die Form und die Künste (Dok. 22) S. 217–226 Otakar Hostinský: Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk vom Standpuncte der formalen Aesthetik. Eine Studie. Leipzig 1877. [Auszüge S. 90–92, 99, 100, 111–119, 121, 124–125, 128–130, 133–134]. (Dok. 23) S. 226–233 Adolf Hildebrand: Das Problem der Form in der bildenden Kunst [1893]. 7. und 8. verm. Aufl. Straßburg 1910. [Auszüge S. 1–2, 5–11, 16–23]. (Dok. 24) S. 233–245 Otakar Zich: Die ästhetische Wahrnehmung der Musik [Estetické vnímání hudby]. Prag 1911. Übers. von Alžbeta Peštová, Fachkorrektur von Jörg Krappmann. Olmütz 2016. [Auszüge S. 3, 51–63, 71].
Verzeichnis der Autoren Johann Friedrich Eduard Bobrik 15. November 1802 Symiatizce/Ostpreußen – 13. Mai 1870 Schwetz a. d. Weichsel/ Westpreußen Publizist, Verfasser maritimer Handbücher, Seemann und Universitätsprofessor. Vor dem Beginn seines Studiums (1822) kaufmännische Lehre, dann Besuch der Danziger Navigationsschule; fünf Jahre Fahrt zur See; 1822–1825 als Schüler Herbarts Studium der Philosophie in Königsberg; 1829 auf Anraten Herbarts Habilitation in Bonn, dort Privatdozent und Ernennung zum Extraordinarius; ab 1833 Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der neugegründeten Universität Zürich; von 1840–1842 Dekan der philosophischen Fakultät; 1841/1842 Rektor der Universität Zürich; 1843 erfolglose Petition für die Einbürgerung Georg Herweghs in Zürich; ab 1845 Wendung zu nautischen Themen; 1857–1866 Direktor der Danziger Handelsakademie; 1867 Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen. Werke: Freie Vorträge über Ästhetik gehalten zu Zürich (1834); Neues praktisches System der Logik. Bd. 1 (1838, Mithg.); Geschichte, Grundidee und Verfassung der Freimaurerei (1838); Handbuch der praktischen Seefahrtskunde (1845–1848, 3 Bde.); Allgemeines Nautisches Wörterbuch (1850). Josef Durdík 15. Oktober 1837 Hořice/Böhmen – 30. Juni 1902 Prag Philosoph, Psychologe, Universitätsprofessor, Publizist, Dramatiker und Übersetzer; Begründer des tschechischen Herbartianismus; Verfasser der ersten systematischen tschechischen Ästhetik (1875) und einer ersten Philosophiegeschichte der böhmischen Länder in zwei Teilen (1870 bzw. 1887). Nach der Matura am Gymnasium in Königgrätz von 1854–1859 Studium der Mathematik, Physik, Philosophie und Psychologie (Robert Zimmermann, Johann Heinrich Löwe) an der Universität Prag; von 1860–1861 Assistent am tschechischen Gymnasium in Prag, von 1862–1866 Professor für Mathematik und Physik am Gymnasium in Leitmeritz; 1870 Habilitation an der Universität Prag für das Fach Philosophie; ab 1874 außerordentlicher, ab 1880 ordentlicher Professor der Philosophie; nach der Teilung der Prager Universität 1882 Tätigkeit an der tschechischen philosophischen Fakultät (gemeinsam mit Otakar Hostinský); von 1883–1889 Abgeordneter der Nationalpartei im böhmischen Landtag; ab 1878 außerordentliches, ab 1893 ordentliches Mitglied der Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften; ab 1890 ordentliches Mitglied der Böhmischen Kaiser Franz Joseph-Akademie der Wissenschaften, Literatur und Kunst. Werke: Leibniz und Newton. Ein Versuch über die Ursachen der Welt auf Grundlage der positiven Ergebnisse der Philosophie und der Naturforschung (1869); Dějepisný nástin filosofie novověké. Díl I. Od Descartesa až po Kanta [Geschichtlicher Abriss der neuzeitlichen Philosophie. Von Descartes bis Kant] (1870); Psychologie pro školu [Psychologie für die Schule] (1872);
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Verzeichnis der Autoren
Kallilogie čili o výslovnosti [Kalliologie oder über die Ästhetik des Sprechens] (1872); Všeobecná aesthetika [Allgemeine Ästhetik] (1875); Poetika jakožto Aesthetika umění básnického [Poetik als Ästhetik der Dichtkunst] (1881); Dějiny filosofie nejnovější od Kanta až do doby nejnovější [Geschichte der neuesten Philosophie von Kant bis zur neuesten Zeit] (1887). Friedrich Konrad Griepenkerl 10. Dezember 1782 Peine – 6. April 1849 Braunschweig Germanist, Pädagoge, Universitätsprofessor, Musikwissenschaftler und Dirigent; Herausgeber der Klavier- und Orgelwerke Johann Sebastian Bachs. Von 1805–1808 Studium der Theologie, Philologie (Christian Gottlob Heyne), Musiktheorie (Johann Nikolaus Forkel) und Philosophie bei Herbart in Göttingen; 1808 auf Anraten Herbarts Tätigkeit als Lehrer für deutsche Sprache und Literatur am neu gegründeten Fellenbergschen Institut (Hofwil, Schweiz); ab 1816 Lehrer am Braunschweiger Catharineum und Gründung einer Singakademie; 1821 Promotion und zunächst außerordentlicher Professor für Philosophie und schöne Wissenschaften am Braunschweiger Collegium Carolinum, ab 1825 ordentlicher Professor; ab 1828 zusätzliche Lehrtätigkeit am Braunschweiger Obergymnasium, wo er deutsche Sprache und Literatur, Mathematik und Philosophie unterrichtet; macht Mitte der 1840er Jahre Moritz Lazarus mit Herbarts Schriften vertraut; ab 1837 Herausgeber der Klavierwerke Bachs, ab 1844 Herausgeber der bei Peters (Leipzig) erscheinenden „kritisch-korrekten“ Gesamtausgabe der Orgelwerke Bachs. Werke: Lehrbuch der Ästhetik. In zwei Theilen (1827); Lehrbuch der Logik (1828); Briefe an einen jüngeren gelehrten Freund über Philosophie und besonders über Herbarts Lehre (1832). Adolf (Ritter von) Hildebrand 6. Oktober 1847 Marburg – 18. Januar 1921 München Maler, Bildhauer und Medailleur; breites plastisch-bildnerisches (Büsten, Statuen, Reliefs, Plaketten, Denkmäler, Grabmäler, Brunnen) und malerisches (v. a. Porträts) Werk mit neoklassizistischer Grundorientierung. Von 1862–1866 Studium an der königlichen Kunstgewerbeschule Nürnberg und von 1866–1867 im Atelier von Caspar von Zumbusch in München; 1867 erste Studienreise nach Rom; Bekanntschaft mit Hans von Marées und Konrad Fiedler; 1872 Übersiedlung nach Italien, wo er 1874 das Kloster San Francesco di Paola bei Florenz erwarb, das zu seinem Wohnsitz wurde; 1889–1894 Entwurf und Ausführung des Wittelsbacher Brunnens in München; zwischen 1898 und 1914 abwechselnde Tätigkeiten in Florenz und München. Werke (Schriften): Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893); Gesammelte Aufsätze (1909). Otakar Hostinský 2. Januar 1847 Martiněves – 19. Januar 1910 Prag Musikwissenschaftler und -theoretiker, Universitätsprofessor, Literaturkritiker, Librettist, Publizist; Vermittler Richard Wagners (ab 1871) und Bedřich Smetanas; Organisator des kulturellen Lebens in Prag. Nach Abschluss des Gymnasiums in Prag 1865 zunächst Studium der Rechtswissenschaft, ab 1866 der Philosophie in Prag; 1867/1868 Studium der Ästhetik und Kunstwissenschaft in München; 1869 Promotion in Prag; 1877 Habilitation (Musikgeschichte) unter Beteiligung Ernst Machs in Prag; ab 1877
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kunsthistorische Vorträge an der Akademie für die Malerei, der kunstindustriellen Schule und von 1882–1886 am Prager Konservatorium; 1879 Mitbegründer der Königlich böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften; ab 1887 zunächst außerordentlicher, ab 1892 ordentlicher Professor für Ästhetik an der Universität Prag; 1892–1894 Vorlesungen an der dramatischen Schule des Prager Nationaltheaters; 1893 zunächst außerordentliches, ab 1902 ordentliches Mitglied der Tschechischen Akademie der Künste. Werke (auf dt.): Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk vom Standpuncte der formalen Aesthetik (1877); Die Lehre von den musikalischen Klängen (1879); Über die Bedeutung der praktischen Ideen Herbarts für die allgemeine Aesthetik (1883); Herbarts Ästhetik in ihren grundlegenden Teilen quellenmäßig dargestellt und erläutert (1891); Volkslied und Tanz der Slaven (1893); Musik in Böhmen (1894). (Gustav) Hermann Siebeck 18. September 1842 Eisleben – 26. Dezember 1920 Gießen Musiktheoretiker und Universitätsprofessor. Nach Abschluss des Gymnasiums in Eisleben von 1860–1862 Studium der Philologie und Philosophie in Leipzig und Berlin; 1863 Promotion zum Dr. phil.; 1864 Lehramtsexamen in Halle; anschließend Tätigkeit als Gymnasiallehrer in Gera, Stargard und an der Latina der Franckeschen Stiftungen in Halle; 1872 Habilitation für Philosophie in Halle; 1875 ordentlicher Professor an der Universität Basel; 1882 Rektor der Universität Basel; 1883 Berufung auf den ersten ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie an der Ludwigs-Universität Gießen; 1891/92 Rektor der Universität Gießen. Werke: Untersuchungen zur Philosophie der Griechen (1873); Das Wesen der ästhetischen Anschauung (1875); Geschichte der Psychologie (1880); Lehrbuch der Religionsphilosophie (1893); Goethe als Denker (1902, 21905); Grundfragen zur Psychologie und Ästhetik der Tonkunst (1909); Zur Religionsphilosophie (1907); Über Freiheit, Entwicklung und Vorsehung (1911). Theodor Vogt 25. Dezember 1835 Schirgiswalde/Sachsen – 11. November 1906 Wien Pädagoge und Universitätsprofessor; erster habilitierter Pädagoge Österreichs. Nach Abschluss des Gymnasiums in Prag und Tätigkeit als Hauslehrer von 1857–1862 Studium der klassischen Philologie und Philosophie an der Universität Wien; 1865 Habilitation im Fach Pädagogik; danach bis zu seinem Tod Tätigkeit als Lehrkraft an der Universität Wien; 1868 Erweiterung der Lehrbefugnis um das Fach Philosophie; 1871 Ernennung zum außerordentlichen Professor für Pädagogik; 1877 Mitbegründer des pädagogischen Seminars, das auf Wunsch des Unterrichtsministeriums an der Universität Wien eingerichtet wurde; 1882 Nachfolger von Tuiskon Ziller als Vorsitzender des 1868 gegründeten Vereins für wissenschaftliche Pädagogik und Herausgeber des Jahrbuchs des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik; 1898 Ernennung zum ordentlichen Professor für Pädagogik. Werke: Der Dualismus in der Psychologie (1864); Form und Gehalt in der Aesthetik. Eine kritische Untersuchung über Entstehung und Anwendung dieser Begriffe (1865); Das pädagogische Universitätsseminar in seinem Verhältnis zu den in Preußen und Österreich bestehenden gesetzlichen Vorschriften über die Bildung der Lehrer an höheren Schulen (1884).
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Verzeichnis der Autoren
Otakar Zich 25. März 1879 Městec Králové – 9. Juli 1934 Ouběnice u Benešova Komponist, Kritiker, Ästhetiker, Musiktheoretiker und Universitätsprofessor. Nach Abschluss des Gymnasiums in Prag von 1897–1901 Studium der Mathematik, Physik und Ästhetik (Otakar Hostinský, Tomáš Masaryk) an der Philosophischen Fakultät der Prager Karls-Universität; 1902 Dissertation in Physik; autodidaktische musikalische Ausbildung; Schüler von Otakar Hostinský und Protegé des Musikwissenschaftlers und Kritikers Zdeněk Nejedlý; von 1903–1906 Tätigkeit als Physik- und Mathematiklehrer am Gymnasium in Domažlice sowie in Žitná bei Prag; 1911 Habilitation in Ästhetik; Verbindungen zu Nejedlýs akademischem Kreis an der Karls-Universität und breite publizistische bzw. musikkritische Tätigkeit in Prag; 1919 Berufung auf eine Professur für Philosophie an der neugegründeten Masaryk-Universität in Brünn; 1924 Ernennung zum Professor für Ästhetik an der Universität Prag (Lehrstuhlnachfolger Jan Mukařovský); bis zu seinem Tod Leitung des ästhetischen Seminars. Werke (Schriften): Estetické vnímání hudby [Die ästhetische Wahrnehmung der Musik] (1911); O typech básnických [Von den dichterischen Typen] (1917/18); Symfonické básně Smetanovy [Smetanas symphonische Dichtungen] (1924); Estetika dramatického umění [Ästhetik der dramatischen Kunst] (1931). Alfred Ziechner – Biographie nur rudimentär zu ermitteln. – 14. Juli 1880 Grossschlaisdorf bei Lunzenau – ? Pädagoge. Von 1905–1908 Studium in Leipzig; 1908 Promotion in Leipzig mit einer Arbeit über Herbarts Ästhetik; von 1912–1925 in Zwickau tätig; um 1933 Tätigkeit als Schulrat in Schwarzenberg; um 1949 Oberstudiendirektor in Leipzig. Schriften: Herbarts Ästhetik. Dargestellt mit besonderer Rücksicht auf seine Pädagogik und im Zusammenhange mit der Entwicklung der Ästhetik an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert betrachtet (1908); Ästhetisch-Ethisches und Pädagogisches bei Herbart. In: PS (NF) 31 (1910), S. 39–53; Gedanken zu Urteilen über Herbarts Stellung, besonders über seine Ästhetik. In: JBwP 47 (1915), S. 207–239; Das Verhältnis der Pädagogik zur praktischen Philosophie und Psychologie bei Herbart. In: JBwP 43 (1911), S. 164–182. Robert (von) Zimmermann 2. November 1824 Prag – 1. September 1898 Prag Philosoph, Ästhetiker, Publizist, Universitätsprofessor. Studium der Philosophie, Mathematik, Physik, Chemie und Astronomie an der Universität Prag (Franz Serafin Exner) und ab 1844 an der Universität Wien; 1846 Promotion zum Dr. phil. in Wien; von 1847–1849 Assistent (‚Adjunkt‘) an der Universitätssternwarte Wien; 1848 Bekanntschaft mit Bernard Bolzano; 1849 Habilitation in Wien und Ernennung zum außerordentlichen Professor für Philosophie an der Universität Olmütz; 1852 Berufung als ordentlicher Professor für Philosophie an die Karls-Universität Prag; Wendung zur philosophischen Ästhetik; 1854 außerordentliches Mitglied der Königlich böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag; von 1860–1861 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Prag; 1861 Ernennung zum ordentlichen Professor für Philosophie an der Universität Wien, wo er bis zu seiner Emeritierung Philosophie lehrte; von 1865–1866 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien; von 1866–1867 Mitglied des
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k. k. Unterrichtsrats; 1869 Wirkliches Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien; 1870 Ernennung zum k. k. Regierungsrat; 1874 Ernennung zum k. k. Hofrat; von 1876–1877 erneut Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien; ab 1878 Mitglied der ständigen Ministerialcommission für Künstlerstipendien sowie Direktor der k. k. wissenschaftlichen Prüflingskommission für Kandidaten des Mittelschullehramtes; von 1886–1887 Rector magnificus der Universität Wien; 1889 Verleihung des Ritterkreuzes des österreichischen Leopoldordens; 1889 Gründung der österreichischen Grillparzer-Gesellschaft; 1896 Erhebung in den Adelsstand und Emeritierung mit Ablauf des Sommersemesters. Werke: Leibniz und Herbart. Eine Vergleichung ihrer Monadologien (1849); Über die jetzige Stellung der Philosophie auf der Universität (1850); Philosophische Propädeutik (1852, 31867); Empirische Psychologie für Obergymnasien (1852); Über das Tragische und die Tragödie (1856); Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft (1858); Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (1865); Studien und Kritiken zur Philosophie und Ästhetik (1870, 2 Bde.); Ueber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie (1873); Anthroposophie im Umriß (1882).
Auswahlbibliographie I. Johann Friedrich Herbart 1. Werkausgaben Herbart, Johann Friedrich: Sämmtliche Werke. Hg. von Gustav Hartenstein in 12 Bänden. Leipzig 1850–1852 [21883–1893, mit einem zusätzlichen Band 13: Nachträge und Ergänzungen]. Herbart, Johann Friedrich: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Langensalza 1887–1912. Neudruck Aalen 1964.
2. Ästhetik Herbart, Johann Friedrich: Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung [1802/21804]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 1. Langensalza 1887. Neudruck Aalen 1964, S. 151–274. Herbart, Johann Friedrich: Allgemeine praktische Philosophie [1808]. In: Ders.: Sämt liche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 5. Langensalza 1887. Neudruck Aalen 1964, S. 329–458. Herbart, Johann Friedrich: Zur Aesthetik/Aphorismen zur Einleitung in die Philosophie [1813]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 4. Langensalza 1891. Neudruck Aalen 1964, S. 598–610. Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813]. Textkritisch revidierte Ausgabe mit einer Einleitung hg. von Wolfhart Henckmann. Hamburg 1993. Herbart, Johann Friedrich: Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit [1814]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 3. Langensalza 1888. Neudruck Aalen 1964, S. 317–352. Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie [1816/21834]. Hg. von Margret Kaiser-El-Safti. Würzburg 2003. Herbart, Johann Friedrich: Kurze Enzyklopaedie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten entworfen [1831]. In: Ders.: Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Karl Kehrbach und Otto Flügel in 19 Bänden. Bd. 9. Langensalza 1897. Neudruck Aalen 1964, S. 17–338.
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Auswahlbibliographie
3. Bibliographien und Forschungsberichte, Herbart-Schule Allihn, Friedrich Heinrich Theodor: Ueber das Leben und die Schriften J.F. Herbart’s, nebst einer Zusammenstellung der Literatur seiner Schule. In: Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren philosophischen Realismus 1 (1861), S. 44–98. Coriand, Rotraud/Michael Winkler (Hg.): Der Herbartianismus. Die vergessene Wissenschaftsgeschichte. Weinheim 1998. Durdík, Josef: Über die Verbreitung der Herbart’schen Philosophie in Böhmen. In: Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren philosophischen Realismus 12 (1883), S. 317–336. Flügel, Otto: Die Litteratur der Philosophie Herbarts und seiner Schule. In: Wilhelm Rein (Hg.): Encyclopädisches Handbuch der Pädagogik. Bd. 3. Langensalza 1897, S. 486–498. Hoeschen, Andreas/Lothar L. Schneider: Herbartianismus im 19. Jahrhundert. Umriss einer intellektuellen Konfiguration. In: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S. 447–477. Koschnitzke, Rudolf: Herbart und Herbartschule. Aalen 1988. Lassahn, Rudolf (Hg.): Tendenzen internationaler Herbart-Rezeption. Kastellaun 1978. Martens, Carlos: Recent Herbart-Studies. A survey of the postwar German literature on Herbart. In: Paedagogia Historica 16 (1976), S. 310–335. Pettoello, Renato: Bibliografia. In: Introduzione a Herbart. Bari 1988, S. 163–184. Schmitz, Josef Nikolaus: Herbart-Bibliographie 1842–1963. Weinheim 1964. Schneider, Lothar L./Andreas Hoeschen: Herbartianismus-Forschung und herbartia nische Tradition in Gießen. In: Gießener Universitätsblätter 34/35 (2001/2002), S. 173–178. Weiss, Georg: Herbart und seine Schule. München 1928 [Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1973]. Zimmer, Hans: Führer durch die deutsche Herbartliteratur. Langensalza 1910 [Nachdruck Ann Arbor, Michigan, London 1980].
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Auswahlbibliographie
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Auswahlbibliographie
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Sachregister Abstraktion 12, 50 f., 61 f., 65, 69, 101 f., 105, 233 Angenehmes, angenehm 59 f., 69, 92 f., 105 f., 114, 126, 132–134, 137, 148, 213 Anschauung (ästhetische) 12, 40, 45, 67, 100, 105, 111, 121, 146, 161, 163–165, 180–182 Architektur 48, 65, 90 Ausgleichung 39, 151–157 Bewusstsein 30, 32 f., 46, 81, 121, 124–129, 164, 170, 181 f., 197 f., 224 f. Bild 34, 88, 104, 113, 134, 136 f., 152, 154 f., 157 f., 169, 176 f., 180, 220 f., 225–229, 232, 236, 240 f. Complexion 34, 43, 126–129, 178 Concretion 45 f., 181 Dichtkunst, Dichtung 44, 203, 208, 210 f., 215, 218, 226, 234, 244 Dissonanz 36–38, 141–144, 191 f., 239 Drama, dramatisch 49, 65, 68, 70, 73 f., 76, 180, 205, 210 f., 214, 218–224, 233, 237 f., 241 Einfaches/Einfachheit, einfach 8, 13, 19, 25, 35 f., 42, 47, 51, 61, 63, 66, 73, 87, 89, 94–96, 115, 119, 122, 127, 131 f., 134 f., 140, 159, 170 f., 174–176, 178, 198, 200, 202, 205, 228 Element 3, 13, 25, 36 f., 40–45, 63, 65 f., 68 f., 73, 95, 114, 116, 118, 131, 134 f., 139, 141–144, 148–160, 163, 166, 171 f., 174 f., 178, 207, 217, 221, 223 f., 240
Empfindung 60, 64, 75 f., 105, 161, 180, 205–207, 234–238 Ethik 4, 6, 8 f., 11 f., 90, 97, 100–107, 159 Figur 67, 72, 76, 95, 132, 170 f., 181 f., 202, 221, 231, 241 f. Fläche 66, 163, 178, 207, 227–231 Formalismus, formalistisch 1–5, 11–13, 17 f., 24 f., 33, 36, 38, 41, 45–47, 49, 52, 86, 101 f., 169, 177 Gefallen 42, 59 f., 62 f., 66, 80–85, 87–89, 91–95, 104, 106 f., 114, 139 f., 145–148, 153, 158–162, 174, 176–179, 217, 238 Gehalt 2, 11, 25, 27, 37, 39–41, 83–88, 90, 157, 166, 177 Generalbass 95, 99, 115 Gesam(m)tkunstwerk 49, 217–225 Geschmack, Geschmacksurteil 11, 42, 63, 80–83, 91–93, 98 f., 111–119, 139 f., 142, 154 f., 173–175, 217, 223 Gestalt 12, 25, 27, 36, 40, 42, 50, 67, 71, 77, 103, 131, 135, 172, 174, 241 Harmonie, harmonisch 6, 36, 39, 52, 65, 80–85, 89–91, 92, 96, 127, 148–150, 153, 156 f., 170, 179, 203, 224, 237, 239–241, 244 f. Hässliches, hässlich 25, 93–95, 98 f., 115, 120, 132, 134, 149, 217 Ideal 69, 76, 78, 96, 166, 173, 218 Idealismus, idealistisch 1, 5 f., 8, 14, 19–21, 27, 76, 78, 89 Idee 25, 35, 38, 40, 43, 64, 72, 78, 85, 90, 98, 112, 144, 162, 173 f., 241
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Sachregister
Inhalt 10, 12, 40, 79, 82, 85 f., 88, 90, 92 f., 98, 100 f., 103–105, 109, 135 f., 149–151, 155, 162, 164, 166, 176, 180 f., 186, 198, 203–205, 220 f., 224, 226, 232 Kombination (Combination) 42, 44, 174, 178, 187, 239 Konsonanz 239 Kontrapunkt 51, 238 Kontrast (Contrast) 37, 127, 131 f., 141, 148, 191, 199, 224 Kraft, Kräfte 25, 32 f., 99, 102, 121 f., 127 f., 134, 145, 164, 218 Künste 2, 37, 48 f., 66, 68, 74, 77, 79, 96, 141, 170, 217 f., 225 Kunstlehre(n) 3, 25 f., 59, 70, 95, 97, 117–119, 174, 218 Kunstwerk 42, 69 f., 75, 84, 98, 111 f., 141, 170–173, 180 f., 217, 226, 232, 242 f. Linie 67, 132, 139, 229 Malerei 36, 48, 65 f., 68, 75 f., 89, 98, 221, 234, 241, 244 Materie 10–13, 24 f., 37 f., 85, 88, 92, 102–105, 114, 178 f., 181 f., 203 Mathematik, mathematisch 6–8, 15, 20 f., 33, 62, 78, 121, 126, 160 Metaphysik, metaphysisch 4 f., 7–11, 21 f., 31, 33, 77–79, 85–87, 93, 96 f., 119, 121, 157 Methode 10, 40, 42, 47, 52, 78, 158, 174, 196 Missfallen 84, 87 f., 92, 94 f., 135, 149–156, 177–179, 217 Musik, musikalisch 36, 47–49, 51 f., 61, 65–67, 74 f., 89, 94, 98, 111, 113–115, 127 f., 131, 141, 149, 169, 172, 183, 185 f., 188, 191, 194, 207, 210–215, 218–226, 233–235, 237–245 Musterbegriff, Musterbild 43 Nachahmung 74 f., 221 Nützliches, nützlich 69
Objekt 11, 26, 30, 34, 42, 50 f., 61 f., 101, 137, 227, 235 Oper 130, 169, 210, 218, 223, 233, 241, 243 f. Persönlichkeit 41 f., 106, 165 f., 215 Phantasie 74, 95, 111, 113, 115, 118, 130, 158, 171–173, 204–207, 211, 224, 234, 241 Plastik 48, 61, 65 f., 68, 75, 90, 94, 111, 207 Poesie 47–49, 61, 63–66, 68, 73–76, 90, 94, 111 f., 194, 205, 207, 210 f., 213, 235 f., 244 Prädikat 27, 32, 69, 92 f., 135, 175 Proportion 68, 160 Psychologie 2 f., 6–8, 15, 21–24, 28–33, 45 f., 76 f., 82 f., 91, 97–100, 119–121, 124, 126, 145, 154, 175, 209 Raum, räumlich 66 f., 190, 201, 210, 226 Regel 73, 88, 117, 149 f., 190 Reihe 31, 62, 125, 127, 130, 143, 196, 214, 234, 239, 242 Relation 3, 13, 25, 33, 36 f., 40, 49, 62, 161 Rhythmus, rhythmisch 26, 65, 67, 74, 76, 170, 172, 183 f., 211, 213, 215, 222–224, 241 f., 244 f. Schein 150–153, 155 f., 170, 205 Schönheit/Schönes, schön 25, 61, 67, 71, 80–82, 84, 86 f., 90, 94, 98, 105, 130–132, 146, 159, 169 f., 173, 177, 183, 191, 204, 207 f., 217 f., 221 f. Schwelle (des Bewusstseins) 124 f., 127, 129, 134, 147, 197, 217 simultan 65, 205 f. Sittlichkeit, sittlich 11 f., 59, 63–65, 78, 84, 96, 100–103, 105–107, 111, 118 f., 132, 162, 173 Stoff 3, 17, 24 f., 39 f., 43, 59, 63, 69–72, 79, 85–87, 95, 97 f., 102, 104 f., 119–121, 140, 146, 156–158, 161–164, 173–179, 188, 202, 205, 218, 222, 244 Störung 112 f., 151 f., 154, 156
Sachregister 269
Streben 33, 114, 116, 122–126, 129, 136, 153, 239 Substanz 3, 24 f., 29 f., 32, 37, 42 f., 87, 119 sukzessiv 65–68, 229 Symmetrie 26, 36, 67 Ton/Töne, Tonleiter, Tonverhältnis 6, 28, 61, 66, 82, 86, 92 f., 95, 114, 116, 122, 125, 127, 131 f., 134, 139, 169, 176 f., 184 f., 190, 199, 207 f., 210, 214, 219, 225, 240 f., 244 Unterschiebung 38 f., 149, 151 f. Urteil (ästhetisches) 8 f., 11, 34, 61 f., 70–72, 92 f., 95, 98–100, 105–107, 110–112, 114, 118, 135–137, 142 f., 148, 154, 157, 160 f., 175 f., 178, 218 Verhältnis 25, 31 f., 36–38, 40, 50, 52, 70, 72 f., 96, 114 f., 215, 226, 228 f., 231, 241
Vermögen 11, 29 f., 114, 120, 219, 221, 225 Vollkommenheit 72, 130, 144, 180 Vorstellen (reines, vollendetes) 33 f., 39, 90, 92, 94, 105, 113–117, 120, 122, 124, 128, 134, 136 f., 139, 149, 151–155, 159, 164, 177, 179, 182, 206, 209 Vorstellung 11, 13, 31, 33 f., 40, 62, 69, 85, 88, 91, 94, 102 f., 113, 116, 122–124, 127 f., 133, 135–137, 148, 150, 155, 163 f., 166, 171, 177, 181, 196, 208 f., 226, 228 f., 231 f., 234 Wahrnehmung 34, 46, 52, 113, 119, 124, 127–130, 162, 180, 211, 227 f., 234 f. Wert, Wertbestimmung 10, 43, 69–71, 97, 106 f., 182, 194, 202, 226, 230 f. Zeichen 18 f., 39, 44, 48, 53, 76, 126, 145–147, 196, 206–210