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German Pages [264] Year 2011
Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft Herausgegeben von Heinrich Berger, Gerhard Botz, Stefan Karner, Helmut Konrad, Siegfried Mattl, Barbara Stelzl-Marx, Andrea Strutz Band 2
Helmut Konrad · Gerhard Botz · Stefan Karner · Siegfried Mattl (Hg.)
Terror un d Gesch ichte
Böhl au Verl ag Wien · Köln · Weimar
Gedruckt mit der Unterstützung durch:
Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78559-0 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, i nsbesondere die der Über setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A bbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ä hnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenver arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Umschlagabbildung: Bohumil Kubiåta, Pobrˇeñní deˇla v boji s lod’stvem (Küstenbatterie im Kampf mit Flotte), 1913. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : Generaldruckerei Szeged
Inhalt
Helmut Konrad : Einleitung. Ein Jahrhundert des Terrors . . . . . . . . . . . . 7 Jay Winter : Terror and History. Faces, voices, and the shadow of catastrophe.. . 13
Terror, Erzählung und Darstellung
Siegfried Mattl : Einleitung. Terror, Erzählung und Darstellung . . . . . . . . . 47 Amália Kerekes : Farben des Terrors. Die Erinnerung von 1919 in Literatur und Film in Ungarn.. . . . . . . . . . . 53 Jörg Müller : Der Gerichtssaal als Gedächtnisort des Terrors. Eine diskurshistorische Analyse der Darstellungsformen des Terrors vor Gericht am Beispiel der V. Französischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Michael Loebenstein : Zu Rithy Panhs Dokumentarfilm S 21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Formen des sowjetischen Terrors
Barbara Stelzl-Marx : Einleitung. Formen des sowjetischen Terrors . . . . . . . . 95 Stefan Karner : Die Vorsitzenden der sowjetischen „Staatssicherheit“ 1917–1953 . 99 Barry McLoughlin : ÖsterreicherInnen im „Großen Terror“ 1936–38 in der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Walter M. Iber : Von Spionen, Saboteuren und antisowjetischen Agitatoren. Zur sowjetischen Herrschaftspraxis in den Wirtschaftsenklaven SMV und USIA 1945–1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Inhalt
Erfahrungsgeschichte des Zweiten Weltkrieges
Gerhard Botz : Einleitung. Zu einer Erfahrungsgeschichte des Zweiten Weltkrieges.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Sönke Neitzel : Die Banalität des Kriegsalltags. Anmerkungen zu den Wahrnehmungen und Deutungen deutscher Soldaten im Totalen Krieg . . . . . 161 Richard Germann : Angezapftes Wissen. Abgehörte Gespräche „österreichischer“ Wehrmachts- und Waffen-SS-Angehöriger in britischer und amerikanischer K riegsgefangenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Marianne Enigl : „Österreichische“ Gebirgsjäger in Polen 1939. Berichte aus der „Einübung“ in den Vernichtungskrieg in Ausschnitten . . . . . 181
Psychische und psychiatrische Konsequenzen von Krieg und Terror
Andrea Strutz : Einleitung. Psychische und psychiatrische Konsequenzen von Krieg und Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Hans-Georg Hofer : Gewalterfahrung, „Trauma“ und psychiatrisches Wissen im Umfeld des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Brigitte Lueger-Schuster : Posttraumatisches Syndrom als Folge von Terrorerfahrungen am Beispiel totalitärer Staaten . . . . . . . . . . . . . . 223 Helga Amesberger : Oral History und Traumatisierung am Beispiel der Erfahrung sexualisierter Gewalt während der nationalsozialistischen Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Drehli Robnik : Wendungen und Grenzen der Rede von Trauma und Nachträglichkeit. Filmtheoretische Bemerkungen zur Geschichtsästhetik (am Beispiel von Tarantinos Inglourious Basterds) . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Autorinnen und Autoren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Helmut Konrad
Einleitung Ein Jahrhundert des Terrors
Der „Geschichte-Cluster“ der Ludwig Boltzmann Gesellschaft verknüpft vier Institute, die zwar durchaus durch unterschiedliche methodische Annäherungen an die Geschichte des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet sind, die aber das gemeinsame Ringen um das Verstehen der Brüche, der Verwerfungen, der kollektiven und individuellen Verletzungen, Demütigungen oder Vernichtungen, die dieses Jahrhundert stärker als wohl die meisten der vorangegangenen Epochen charakterisiert, eint. Die Tagung „Terror und Geschichte“ vom Dezember 2009, deren Beiträge in diesem Band gesammelt sind, ist Ausdruck dieser gemeinsamen Bemühungen. Terror ist als Begriff vielschichtig. Unser Verständnis des Begriffs fixiert ihn, im Unterschied zum breiteren Begriff „Gewalt“ in der Sphäre des Politischen. Terror meint in diesem Kontext den angedrohten oder ausgeübten Einsatz von physischer Gewalt zur Erzwingung oder Durchsetzung politischer Zielvorgaben. Historisch ist dies meist ein Prozess von oben nach unten : Der Staat setzt seine politischen Ziele auch gewaltsam um, er bringt die BewohnerInnen seines Landes auf Linie, bestimmt die Kriterien der Inklusion und Exklusion und definiert die Handlungsspielräume der Gewaltausübung. Aber es gab und gibt auch die andere Richtung des Terrors : den Einsatz von Gewalt gegen definierte oder aber auch zufällige Personengruppen, um den Staat zu bestimmten Handlungsweisen zu zwingen. Gerade das späte 20. und das frühe 21. Jahrhundert könnten auf eine ganze Reihe von Ereignissen verweisen, die für diese Richtung des Einsatzes von Terror stehen. Die heutige Bedeutungszuschreibung des Begriffs „Terrorismus“ ist ein Beleg dafür. Der Zusammenhang von Terror und physischer Gewalt führt zu der Frage, wieso gerade das 20. Jahrhundert – ein Zeitabschnitt, an dessen Beginn ein aufgeklärtes, liberales Weltbild die Hegemonie erlangt hatte – diesen Rückfall in die Barbarei, der die Voraussetzung dafür ist, Menschen dazu zu bringen, andere Menschen zu demütigen, zu entwürdigen, zu foltern oder zu töten, möglich gemacht hat. Denn aus der Sicht des 21. Jahrhunderts stellt sich der vorangegangene Zeitabschnitt, wenn man von den Eckdaten 1914 und 2001 ausgeht, vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Terroranschlag auf die Türme des World Trade Centers in New York, als eine
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Epoche der Gewalt dar. Obwohl viele Parameter das 20. Jahrhundert als Erfolgsgeschichte ausweisen (technischer Fortschritt, gestiegene Weltbevölkerung, gestiegene Lebenserwartung etc.), steht es auch für das Massensterben im Ersten und Zweiten Weltkrieg, für die Faschismen, für den Holocaust, für die stalinistische Vernichtungsmaschinerie und für fundamentalistische Bedrohungspotenziale. Der Prozess der Modernisierung, der im späten 19. Jahrhundert zumindest in der „westlichen Welt“ und von dort ausstrahlend auch in Russland, Japan, China, in den damaligen Kolonien der Weltmächte und in Lateinamerika als Modell des Fortschritts akzeptiert war, der Urbanisierungsprozesse, Industrialisierung, Säkularisierung und weltweite Vernetzung gebracht hatte, zeigte im 20. Jahrhundert auch seine dunklen, bedrohlichen Seiten. Die Moderne stellte sich janusköpfig dar. Ohne jeden Zweifel kann man den Ersten Weltkrieg als das Laboratorium für diese Entwicklung bezeichnen. In diesen Jahren wurde all das gleichsam experimentell durchgeführt, was die Folgejahrzehnte bestimmen sollte. Auf der einen Seite war der Krieg der große Beschleuniger der Modernisierungsprozesse. Zu Wasser, an Land, aber vor allem in der Luft wurden immer raschere Möglichkeiten zur Überwindung auch großer Entfernungen entwickelt. Die Kommunikation wurde allein durch den Bedarf der Übermittlung von Millionen Feldpostbriefen entscheidend rationalisiert. Dieser erste technisierte Krieg zwang zu größtmöglicher Normierung, etwa bei der Munition, aber bei Weitem nicht nur dort. Die Deutsche Industrienorm (DIN) strukturierte das 20. Jahrhundert mit. Auf der anderen Seite wurde eine Bevölkerungsgruppe, die der jungen Männer, die überwiegend noch aus vormodern-bäuerlichen Verhältnissen stammten, in eine unfassbar bedrohliche, laute, technisierte und gewalttätige Kriegsmaschinerie gezwungen. Der sogenannte shell-shock war als psychische Erkrankung für jene, die die Kämpfe überlebt hatten, neben dem Verlust von Gliedmaßen die häufigste Langzeitfolge. In Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus treten diese „Zitterer“ auf – der Krieg hat ihnen buchstäblich die Sprache verschlagen, die erlebte Bedrohung und das erfahrene Gewaltpotenzial waren psychisch nicht zu bewältigen. Und selbst die Medizin hatte nur den direkten Gegenschlag, den Elektroschock, gegen dieses neue Leiden einzusetzen. Sie fügte damit dem Leiden eine weitere Gewaltebene hinzu. Der spätere Nobelpreisträger Wagner-Jauregg stand deswegen 1920 vor Gericht, mit Sigmund Freud als Experten. Gerade im Vielvölkerstaat Habsburgermonarchie wurde durch Kriegsgerichte mit grausamen Strafandrohungen die Praxis einer einheitlichen Armee hergestellt, „Disziplin“ wurde gewahrt und Desertionen wurden gering gehalten. In Russland, am Isonzo und an der Westfront standen sich Armeen gegenüber, die Gewalt nicht dem Feind gegenüber, sondern auch in den eigenen Reihen anzuwenden wussten. Das
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kann als Terrorismus bezeichnet werden, als Durchsetzung politischer Ziele mit der Androhung und der Ausübung von Gewalt. Aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs stieg eine beschädigte Generation von Männern heraus : Adolf Hitler war nur einer von ihnen. Am Isonzo lagen sich Major Emil Fey und Benito Mussolini gegenüber, und die Fasci di Combattimento auf der einen, die Heimwehren auf der anderen Seite sind nur eine Verlagerung der Kriegssituation ins jeweilige Landesinnere, auf die Mission der Verhinderung der Revolution. Nicht zu Unrecht nennt Eric Hobsbawm die Zeit von 1914 bis 1945 den Dreißigjährigen Krieg des 20. Jahrhunderts. Der Zweite Weltkrieg ist die Überhöhung des Ersten durch dessen Ideologisierung, Nationalisierung und Biologisierung auf einer pseudowissenschaftlichen Basis. Die Faschismen entwickelten ihre internen Terrorsysteme, der Bolschewismus mutierte von einer Befreiungsideologie zur Schreckensherrschaft, und der Nationalsozialismus exkludierte große Bevölkerungsteile von den staatsbürgerlichen Rechten und vom Anspruch auf die elementaren Menschenrechte aufgrund „rassischer“ Bestimmungsmerkmale oder aber durch die Kategorisierung von Menschen in nützliche und „lebensunwerte“. Die Ideale der Aufklärung und der Entfaltung der Moderne, aber auch die Idee, dass dem Schrecken des ersten weltumspannenden Krieges kein weiterer Krieg mehr folgen sollte, waren in diesem Umfeld Makulatur. Im Gegenteil : Besonders der Nationalsozialismus bewies, wie moderne Technologie, moderne Transportformen, moderne Steuerungs- und Überwachungssysteme die Grundlage für die größten Terroraktionen der Menschheitsgeschichte bildeten. Die industrielle Tötungsmaschinerie, das Töten durch Arbeit, die Bestimmung des Zeitpunkts, an dem die Grenze der „Nützlichkeit“ von Menschen erreicht ist, all das bestialisierte gerade in der Scheinrationalität der Abläufe die Täterseite zusätzlich. Im Stalinismus wurden ebenso im Sinne des Idealbildes einer modernen Gesellschaft (Elektrifizierung und Alphabetisierung sollten Gleichheit schaffen) ganze Großgruppen Opfer des staatlichen Terrors. Der Holocaust, ikonisch symbolisiert in Auschwitz, das für die vielen Vernichtungslager steht, markiert den Tiefpunkt in jener Entwicklung, die im 20. Jahrhundert im Namen des Fortschritts den Terror walten ließ. Was in der Französischen Revolution einst „Schreckensherrschaft“ genannt wurde, erfuhr nun in einer Welt, in der die Entwicklung der Technik, der Medizin und anderer Bereiche ungleich umfassenderen, rascheren und konsequenteren Zugriff des terroristischen Staates ermöglichte, eine Vervielfachung. Gerade zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen konnte ich in der Synagoge der Yale University, New Haven, an Yom HaShoah, dem Erinnerungstag, teilnehmen
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und eine große, heterogene jüdische Gemeinde um eine angemessene Annäherung an den großen Kulturbruch der Shoa ringen sehen. Persönliche Schicksale, museale Festschreibung religiöser Standortbestimmungen und historische Analysen zeigten das Trauern in der dritten und oftmals schon vierten Generation. Noch immer ist es nicht gelungen, das Phänomen zu fassen, das sprachlose Schweigen über die Schrecken zu überwinden. Die Normalität im Leben hat nur eine dünne Kruste über den Lavastrom des großen Terrors gelegt. Die Vernichtung des „Weltjudentums“ war in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft politisches Programm. Und Vernichtung war auch das Ziel anderen Bevölkerungsgruppen gegenüber : als „Zigeunern“ verfolgten Gruppen aus pseudowissenschaftlich „rassischen“ Gründen, Behinderten aus kalten ökonomischen Nützlichkeitserwägungen und, darüber hinaus, aus utopisch-„rassehygienischen“ Vorstellungen, politischen Gegnern aus dem Kalkül der Einheit von „Volk“ und Politik. Niemals zuvor und danach waren die persönlichen und kollektiven Langzeitwirkungen so dramatisch. Aber selbst nach der Niederringung des Nationalsozialismus durch die alliierten Streitkräfte und nach der militärischen Niederlage des japanischen Militarismus blieb die Frage des Terrors auf der Tagesordnung : als Maßnahme der neuen bestimmenden Großmächte zur Erzwingung der Ein- und Unterordnung von Staaten oder Bevölkerungsgruppen (wofür die Slansky-Prozesse in der Tschechoslowakei oder aber die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn Beispiele sein können), aber auch als Instrument in den vielen Machtkämpfen nach der Entkolonialisierung. Chile und Argentinien, der Kongo und Algerien, Vietnam und Kambodscha seien exemplarisch genannt. Aber auch in Europa, etwa in Albanien, in Ungarn und in allen anderen Ländern mit vergleichbaren Rahmenbedingungen, war Terror allgegenwärtig. Von den Foltergefängnissen in Buenos Aires bis zu den Killing Fields in Kambodscha – auch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist durch Terror ge- und verformt. Terror wirkt nicht nur im Augenblick der Androhung oder der unmittelbaren Ausübung. Terror hat Folgen. Er zerstört Identitäten, bricht Lebensläufe und stellt ein unfreiwilliges Erbe für die Folgegenerationen dar. Er traumatisiert und führt zu der Unfähigkeit, die Erfahrung in eine Erzählung zu transformieren und sie somit in die eigene Biografie zu integrieren. In der Synagoge in Yale brach eine Frau nach 68 Jahren ihr Schweigen und erzählte erstmals, wie sie als Kind in einen Viehwaggon gepfercht worden war und wie ihr Vater sein eigenes Grab hatte schaufeln müssen. Aber selbst dieses erstmalige Sprechen in der offenen, warmherzigen Umgebung führte wohl noch nicht dazu, dem Schrecken einen Platz in der eigenen Lebensgeschichte einzuräumen. So produziert Terror Schweigen – der Gegensatz zum Brechen von
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Menschen durch Lautstärke (wie bei den shell-shocks) ist die Stille, der unaufgefüllte Bereich individueller oder kollektiver Geschichte. Der vorliegende Band Terror und Geschichte zeichnet die genannte Tagung nach. Er führt uns von den Formen des sowjetischen Terrors und der Erfahrungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs hin zum Feld der Erzählungen und Repräsentationen (wovon auch das Schweigen eine ist). Und schließlich geht es um die psychischen Folgen und die psychiatrischen Konsequenzen der Terrorerfahrung. Eine der Bewältigungsstrategien ist dabei die Überhöhung und Verfremdung, wie am Beispiel des Films Inglourious Basterds gezeigt wird. Mit 9/11 findet die Geschichte des Terrors ganz unzweifelhaft keinen Abschluss, sondern einen neuen Höhepunkt der neuen Terrorformen, der „irregulären Kriege“. Terror wird vielfältiger, spontaner und greift auf neue Methoden zurück. Es ist daher keineswegs gesichert, dass dem „Jahrhundert des Terrors“ ein Abschnitt der Weltgeschichte folgt, der weniger zerstörte Individuen und Kollektive, weniger Dauerschäden und weniger Leid kennen wird. Wir Historikerinnen und Historiker können nur den Terror, der hinter uns liegt, dokumentarisch sichern und in seinen Auswirkungen beschreiben. Aber vielleicht ist auch damit schon ein kleiner Beitrag geleistet, um die Hemmschwellen hin zum Einsatz von physischer und psychischer Gewalt zu stabilisieren.
Jay Winter
Terror and History Faces, voices, and the shadow of catastrophe
The braiding together of war with terror is in no sense a twentieth-century innovation. Goya’s Disasters of war left hardly anything about human cruelty to the imagination ; and the art of photography accompanied both Sherman’s march to the sea in the American Civil War and the bloody suppression of the Boxer rebellion in China at the turn of the century. What the visual arts were able to convey in the twentieth century were central shifts in the targets of war, and hence in its killing power. The terror in total war rests in part on the industrialization of violence, and in part on the fact that the reach of the state was greater than ever before ; consequently, in wartime, no one was ever safe. After 1914, a new kind of assembly-line destruction emerged, mixing high explosive shells, poison gas, and by the 1930s air power as well as toxic forms of ideology in different deadly amalgams. As a result, war and terror became virtually synonymous. The nature and rules of war itself shifted in significant ways too. In 1914–18, the rules of engagement on the battlefield changed ; in the inter-war years, the bombing of civilian targets became for the first time a centerpiece of armed conflict ; after 1941, genocide became an integral part — some would say the defining part — of the war the Nazis waged. In each case, though in different ways, terror became the unavoidable face of war, and artists were there to con-figure it, to give terror a face, a name, and a place. This essay sketches some of the ways artists created enduring representations of the twentieth-century degeneration of warfare into inescapable terror. The individuals whose work I focus on particularly in this paper are these three : Otto Dix, Pablo Picasso, and Anselm Kiefer, though I will refer to other individuals and forms of configuration of the victims of war as well. All three artists are well known, but putting them together may help us see more clearly the changing link between history and terror over the past century. The evolution of visual representations of terror shows us how images change when targets, or if you will, victims, change. In the Great War, terror had a face. There were tens of millions of victims, but the ones to receive iconic status both during the conflict and in its aftermath were the front soldiers. There were other nominees we could name. The victims of the Armenian genocide were there ; but the political conflict over their
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treatment went on and on and made their genocidal fate contested terrain. But no one doubted at the time that the enduring images of industrial killing in the 1914–18 returned again and again to the men in the trenches, the men we still call the ‘lost generation’. Aerial bombardment came to both Europe and the world with a vengeance in the 1930s. Both the Japanese and the Italians used poison gas in warfare in China and in Ethiopia, but it was aerial bombardment in Europe which presented another enduring set of images, this time of the plight of innocents in wartime. Here the iconic figures were civilians, townspeople, farmers, and their animals, under indiscriminate and devastating bombardment from the air. When we turn to the 1939–45 war, any interrogation of the linkage between terror and history must consider the Holocaust. And over time, the Holocaust has come to occupy a larger and larger place within the history of the Second World War. Still the Shoah was by no means the only wartime instance of mass murder and butchery of people not for what they did, but for who they were. The rape of Nanjing in 1937, as well as the Ustashe-led genocide in Yugoslavia, both deserve our attention here, as does the terror induced by the ‘conventional’ fire-bombing of Tokyo or Dresden or the dropping of the two atomic bombs on Japan. These acts of war unleashed a debate about the use of terror which echoes down to our own times. My first point is a simple one : as war changed, so has its artistic configuration. The second point I want to make is more formal in character. That is, when we move from the Great War to the interwar years, and then to the Second World War, we can see that the partial occlusion of the human face in the configuration of terror is one of the most striking features of changing Western representations of war. There are exceptions, here, to be sure, but on balance, the move I try to document in this essay is one away from a straightforward or naturalistic representation of the human face and figure. Thus the images in Otto Dix’s Great War paintings, done from 1914–1940, are still life-size and identifiably human, though the soldiers so represented faced monumental horror on the field of battle. The terror of the victims of the destruction of Guernica in Picasso’s painting is inscribed in part in facial features, and in part in the cruciform and symbolic elements of the ensemble. In contrast, there is a much more complex set of choices in artistic representations of the Second World War in general and of the Holocaust in particular. There have been many non-figurative images used metonymically to stand for the monstrous whole. Many representation of the organized destruction of synagogues in Germany in November 1938 are void of figures ; this was true of much, though not all, photography at the time. It remains true in later representations of this iconic act, as in the case of Kiefer’s The breaking of the vessels, to which I will return later.
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A different set of problems emerged when artists approached the task of representing the emptying of a whole discrete world, the Jewish world of Central and Eastern Europe, an entire population, its language, its culture, its presence, now almost entirely gone. The terror of this, the essential victory registered by Hitler, is in its magnitude terrifying. And yet this terror has been made visceral both in art by portraiture, in prose, in poetry, and by the effacement of figuration itself. Consider first the face of Anne Frank on her published diary, or her conventional and at times sanitized representation on the stage and in film as one end of the spectrum. Then consider the work of Anselm Kiefer or the architecture of Daniel Libeskind’s Jewish Museum in Berlin as an alternative. To be sure, there is a vast array of configurations between the two, but my point is that this flight from figuration is not particularly evident in the case of the Great War or of warfare in the 1930s. Only after the Holocaust, and perhaps in part because of the Holocaust, has abstraction come into its own as an indispensable way of representing the link between terror and history. Thus my claim is that terror has a history in the visual arts and in the arts of representation just as much as it does in the very material and lethal arts of war and mass murder. I want to offer a few thoughts on this matter and suggest that, in contrast to the terror of trench warfare in 1914–18 or of the destruction of towns and ordinary people under the bombers in the interwar years and after, there emerged a different kind of non-figurative configuration of war and terror after Auschwitz. And yet the human face, that profile about which Primo Levi asked us to consider ‘if this be a man’, did not vanish. If conventional figuration seemed inadequate to the task at hand, many artists and healers turned to a different kind of portraiture, to a different field of force, this time with voices attached to them. Conjuring up the Holocaust has turned to the human voice more and more, in an effort to capture the shape and sentiment of the six million who vanished during the Shoah and of the men and women who survived the slaughter. To be sure, this contrast between figuration before Auschwitz and alternative configurations after Auschwitz needs to be qualified and nuanced. Cultural history is messier than that. The images of grotesquely joined piles of corpses being shifted into mass graves by bulldozers were captured by British and American troops almost immediately after the liberation of the camps. Thereafter, the faces of skeletal prisoners in striped uniforms were seared into our minds, and alongside other images (for instance of children surrendering from the ruins of the Warsaw ghetto) these portraits in extremis informed our sense of the terror of the Shoah. A more precise way of putting the point is to say that the Shoah made ambiguous a return to the human form as a metonym for mass suffering, as occurred in art dedicated to capturing some sense of the terror of war in 1914–18 or of warfare in
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the inter-war years. Instead representations of the terror of the Holocaust describe a house of many mansions, most of them ruined. Some employ figuration — for example in Resnais’ 1955 masterpiece Nuit et Brouillard, in the close-up photography of Claude Lanzmann’s Shoah, and in the video portraits, preserved in Holocaust survivor archives around the world, to recapture the face of terror in the faces of those who survived it. At the same time, other artists have used more abstract metonyms or gestures towards the terror in the art of ruins — here Kiefer is a central figure — or of what James Young has termed ‘anti-monuments’, those which disappear.1 There are other choices I could have made, but here I want to discuss this shifting landscape of the representation of the terror of the Holocaust primarily through the installation art of Anselm Kiefer. Choosing Kiefer is problematic, in another sense, in that he was born, as I was, in 1945, and his work is filtered through later German history as much as it bears witness to the terror of the Holocaust. But one of the features of the representational universe surrounding the Shoah is its slow transformation over the second half of the twentieth century and beyond. We need to go well beyond 1945 to see this phenomenon clearly. After what may be termed a latency period, when the faces and voices of the survivors were occluded, for instance in the Nuremberg trials, they returned into our auditory and visual fields after the Eichmann trial and in the 1970s and after. Voices now had listeners, an audience that has grown exponentially. Primo Levi’s masterpiece If this be a man was written in 1947 ; it sold 1,500 copies and then faded into obscurity. It was reprinted in 1957 and later captured an exponentially growing reading public. Since the 1970s, it has appeared in 38 translations and is an international best seller. Why people wanted to hear his voice at one moment, and why they did not at an earlier moment, is a central question I wish to address. One answer is that over time, memory became tied up in law, and both became performative. The witness has a voice, and the witness demands to be heard. She testifies. Another answer is that the emergence of the Holocaust witness coincided with the rebirth of human rights as the signature of the European experiment. It was a coincidence, to be sure, but through the Helsinki accords, international agreements guaranteeing the Western borders of the Soviet Union in the mid 1970s, Human Rights Watch and other groups earned the right to survey, hear and defend the voices of Soviet dissidents, the voices of Charter 77 in Prague, and other voices around the world. Which is cause and which is effect is hard to say ; both Holocaust testimony and human rights activism were acts of witnessing and powerful acts at that. 1 James Young, The Texture of memory, New Haven 2000.
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We need to note too that technical change made a difference, though of a facilitating rather than creative kind. Over the same years, audio cassettes were complemented by cheap video cassettes and recording technology, and both were later amplified by the internet in their ability to preserve the voices (and faces) of witnesses of all kinds. The impulse was there ; the audience was there ; the new technology of the 1970s and 1980s brought them together and there they remain to this day. A quick caveat or two right at the beginning of my paper. The distinction I make between privileging the voice and privileging the face in representations of terror and its victims is a heuristic one. Both have had their place in the representation of terror. Still, my instinct is to say that there has been a change, in the sense that voices matter more now after the end of the twentieth century than at its beginning. The cry of wounded men on the Somme is something we can never hear ; the drone of the bombers or the voices of those under the Condor legion’s attack in Guernica are not available to us ; but the voices of those who went through the camps and, in the words of Jeremiah, became am s’ridai charev, those who came out of the slaughterhouse alive, those voices are with us ; they are powerful and perhaps unique. I want to suggest that auditory commemoration is now an art form ; it has now developed in museums, in archives, in film, on the internet, and in the court room, as a complex complement to the earlier facial and figurative representation of terror in wartime. We now hear what terror was and is, and perhaps through hearing it, we can see it better too. What we hear, after all, when affect is attached to a voice, configures visual images in powerful ways. I am reminded of the remark of the great British journalist Alistair Cooke, whose Letter to America was broadcast on BBC radio every Sunday morning for 40 years. He was asked one day why he preferred to work in radio. His answer was : ‘The pictures are better.’ The second caveat is that we must resist a form of contextual reductionism in understanding the visual arts. They have their own rules and rhythms, and their autonomous unfolding can never be reduced to a mechanical process in which superstructure follows base as night follows day. Still, we should not reify the arts either, as if those who produce them live in a cocoon, until that moment when they emerge as beautiful creatures and fly their own way. They are among us. The third caveat is this. I can only refer in the most cursory fashion to a field much, much larger than my capacity to analyze it. All I want to suggest in a preliminary manner is that capturing not the faces but the voices of the survivors, has become one essential way of making present in our lives the catastrophic encounter of terror and history on which we reflect today.
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Figure 1: Otto Dix, Rations taken in the front line (Mahlzeit in der Sappe/Lorettohöhle), 1924. © VBK Wien, 2011
Mediations : Otto Dix and trench warfare
All art is a form of mediation, and the notion that experience is captured in some pristine form by the artist is a conceit long since repudiated by producers and consumers alike. Images of horror are mediated images, and to show the differences in such mediation is to do much to unfold some of the differences of early and later nineteenth-century images of terror in war. Otto Dix’s etchings of the war and the Western Front are a case in point. He served on the Somme in 1916, in Champagne in 1917, where he was wounded three times, and on the Russian front. As a non-commissioned officer and machine gunner, he saw some of the worst fighting of the war. When in 1924 he sought to return to this landscape, he did so through photography. Why this distantiation ? In part it was the heaviness of his personal memory of the war. Like many other veterans, Dix was haunted by images of trench warfare. He spoke a recurrent nightmare, in which he crawled through destroyed houses forever. He never lost sight of the fact that living in the front lines was like living in a noisy, filthy
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Figure 2: Otto Dix, Dead sentry (Toter Sappenposten), 1924. © VBK Wien, 2011
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Figure 3: Otto Dix, Machine gunners descending (Maschinengewehrzug), 1924. © VBK Wien, 2011
maze. He had volunteered in 1914, but quickly lost his youthful illusions about military service. Already inclined to mythical and decadent themes prior to the war, he found on the Western front a diabolical landscape, beyond his worst imaginings. He summed up his experiences of trench life in these words, recorded in his war diary in 1916 : ‘Lice, rats, barbed wire, fleas, shells, bombs, underground caves, corpses, blood, liquor, mice, cats, artillery, filth, bullets, mortars, fire, steel : that is what war is. It is the work of the devil.’2 The work of the devil was visible in the faces of the men who killed and who faced the risk of mutilation and death every day they were in the trenches. The range of horrors was evident. In Figures 1–2, it is living with the dead ; indeed, the living begin to resemble the dead. Figure 3 and 4 are both complex collages of the living and the dead. In Figure 3, the men descending a slope with machine gun equipment 2 Otto Dix, War diaries, 1915–1916, Albstadt 1985, 25, as cited in Eva Karcher, Otto Dix, New York 1987, 14.
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Figure 4: Otto Dix, Collapsed trench (Zerfallender Kampfgraben), 1924. © VBK Wien, 2011
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Figure 5: Otto Dix, Storm troopers in gas attack (Sturmtruppe geht unter Gas vor), 1924. © VBK Wien, 2011
are framed by what appears to be a landslide of corpses. In Figure 4, the living rest alongside and are braided together with the entrails of men and the roots of trees. Here is a crucifixion of living things and humans alike. Figures 5 and 6 tell us about the terror of combat, through the gas-mask covered faces of storm troopers and the unmasked and unhinged face of a trench soldier. Figure 7 is similarly configured ; a blackened boyish figure grins in front of a scene of total devastation. Figures 8–11 return to the theme of the monstrous deformation of the bodies of dead men and dead horses. Figure 12 is entitled Totentanz. Figures 13–14 introduce other elements of terror. The first is at one remove from the trenches and shows the faces of terrified civilians under air attack ; the second is on a theme Dix developed in his later work. It is the terror etched into the faces of mutilated men. This last selection from the series of etchings entitled Der Krieg is entitled Transplantation. Once more the notion of the human face as the measure of terror extends from the living to the dead, from the mad to the mutilated. If we do not look at the face of the warrior, Dix tells us, we do not know anything about war, not do we know about the terror it spread among the millions of men who endured it.
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Figure 6: Otto Dix, Wounded man (Verwundeter), 1924. © VBK Wien, 2011
Death descends from the skies
I have included one image of Dix’s classic sequence of 53 etchings on war which points to the second part of my discussion. It is that terror was redefined by technology ; that is, the emergence of bombers capable of reaching any city in Europe with a load of explosives made the terror of war move from trenches to cities. Stanley Baldwin, the British Prime Minister, famously asserted that the bomber will always get through. From 1936 on, the notion circulated very widely that the outbreak of war in Europe was bound to mean civilian deaths on a hitherto unknown scale. Even though this catastrophe did not happen in September 1939 when war broke out, its contours were already well known. In part, that shift of the image of terror from trenches to cities was a function of newsreels. But once again, while newsreels brought the facts of war to millions virtually at the same moment the violence happened, it was art mediated by newsreels which provided us with iconic images of terror. I refer to Pablo Picasso’s Guernica, painted in a fever in the four weeks following the Condor Legion’s attack on the
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Figure 7: Otto Dix, After the Battle (Nächtliche Begegnung mit einem Irrsinnigen), 1924. © VBK Wien, 2011
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Figure 8: Otto Dix, Dead Soldier (Toter), 1924. © VBK Wien, 2011
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Figure 9: Otto Dix, Dying or dead soldier (Verwundetentransport im Houthulster Wald), 1924. © VBK Wien, 2011
Basque city on 26 April 1937. Here was what contemporaries termed ‘terror bombing’, the purpose of which was not to move the line to the advantage of one side in the war, but to destroy the lives of non-combatants behind the lines. This obliteration of the distinction between civilian and military targets had begun in 1914, when Belgian and French civilians were targeted or executed by advancing German troops. This degeneration of the rules of warfare was evident in the case of Russian atrocities in Galicia in 1915 and in the expulsion and murder of nearly one million Armenians from Eastern Turkey, begun in the same year. Civil wars throughout Eastern Europe and what was termed euphemistically by diplomats ‘population exchange’ in Greece and Turkey after the war made everyone the target of military or para-military violence. But it was air power which transformed the face of war and began to change the way the human face itself was represented in the visual arts. Picasso’s Guernica is instructive here (Figure 15). It is probably the most celebrated and perhaps the most circulated image of war in our times or at any time. Attention
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Figure 10: Otto Dix, Holding the Line (Leiche im Drahtverhau/Flandern), 1924. © VBK Wien, 2011
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Figure 11: Otto Dix, Dead Horse (Pferdekadaver), 1924. © VBK Wien, 2011
to its configuration can tell us much about configurations of terror in the time when death came from the skies. The composition is marked, even framed, by newsprint and by the black and white of newsreels. There are two clusters of faces. Three on the right, terrified faces of people are moving to the centre of the scene ; three on the left are victims : one man, probably a soldier, broken sword in hand, is prostrate, indeed cruciform in shape, with a frozen cry on his face ; his eyes still see, but not those of the child to his left. His dead body is cradled by his mother. In the center are two animals : an immutable toro and a terrified horse, above which an electric light shimmers. Elsewhere, I have puzzled over this light bulb and determined, using Ockham’s razor, that it is precisely that — a light bulb, drawing ironic attention to the power of electricity to deliver terror from the air. Why ironic ? Because Picasso painted the Guernica canvas to be displayed in the Spanish pavilion within the Exposition international des arts et métiers de la vie moderne, opened in May 1937. And that expo was a celebration of science and in particular of electricity, which turned Paris into
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Figure 12: Otto Dix, Totentanz anno 17 (Höhe Toter Mann), 1924. © VBK Wien, 2011
the city of lights, of illumination promising a cornucopia of benefits to mankind. Raoul Dufy, an artist whom Picasso detested, painted for the expo the biggest mural ever made. It was entitled La fée electricité and expressed this bold and naïve view of science as beneficent (Figure 16). It was in gazing at this fair that Walter Benjamin began the meditations which arrived in his celebrated epigramme that there is no document of civilization which is not at one and the same time a document of barbarism. Picasso, casting a jaundiced eye at Dufy’s mural, painted that document of barbarism. Terror here had a human face, but it was one detached not only from platitudes about science, but also from prior representations of warfare. Picasso was the artist of angular planes, of body parts decomposed or rather recomposed to express something figurative art could no longer embody.3
3 Jay Winter, Dreams of peace and freedom, New Haven 2006, chapter 3.
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Figure 13: Otto Dix, Terror of civilians in air attack (Lens wird mit Bomben belegt), 1924. © VBK Wien, 2011
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Figure 14: Otto Dix, Transplantation, 1924. © VBK Wien, 2011
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Figure 15: Pablo Picasso, Guernica, 1937. © VBK Wien, 2011
I prefer to see Picasso as a liminal figure, in which configurations of terror are visible, but not in the kind of composition Otto Dix and his contemporaries knew. Both Dix and Picasso constructed images of terror mediated by prior visual images ; photos in the case of Dix, newsreels in the case of Picasso. The question I want to pose here is : How were the horrors of the Second World War and the Holocaust configured ? My response is a mixed one. There were conventional and figurative images of war and genocide available at the time. But what we see in the art of terror which followed the Holocaust is a set of images in which the human figure is either absent or marginal.
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I want to probe this problem not in the spirit of definitive scholarship, but as a piste, as the French put it, or a tentative step towards framing an argument that cannot be definitive. Why not ? Because the more we look at the Holocaust, the less we tend to see. This is a claim made by the distinguished Australian historian Inga Clendinnen,4 and it is one I want to explore in this section. By this claim, I do not mean that we miss the traces or cannot find sites of remembrance. On the contrary ; they are not hard to find. My claim is rather that when we see the topography of terror not only in Berlin, but in Mauthausen, Majdanek, Theresienstadt, Dachau, Buchenwald, or Auschwitz, we see elements of a story the full contours of which tend to escape us. Metaphors seem to lack their conventional power, as to a degree did photographs. 4 Inga Clendinnen, Reading the Holocaust, Cambridge 1998.
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Figure 16: Raoul Dufy, Fée Electricité, 1936/37. © VBK Wien, 2011
Figure 17: Unidentified, Mauthausen liberated May 1945. 6 May 1945. Courtesy of NARA/ USHMM#68210, www.ushmm.org
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Figure 18: A. E. Samuelson, Liberated Prisoners at Ebensee subcamp of Mauthausen 7 May 1945. National Archives and Records Administration, 531271
Human faces and bodies predominated in photos immediately after the war. Figure 17 is a photograph of Mauthausen liberated, with prisoners, almost certainly staged, saluting welcoming American troops. Figure 18 shows men who survived treatment in the sub-camp of Ebensee at Mauthausen. The British and the Americans were so shocked at what they found that they turned these images into documentary newsreels and in many cases forced German civilians to see them. This phenomenon is well documented, and so was the use of documentary images in the justly celebrated film of Alain Resnais Nuit et brouillard, released in 1955. Resnais worked with two survivors, Jean Cayrol, who wrote the script, and Hanns Eisler, who composed the music. Resnais aimed at a kind of desolate tranquility in his presentation of the landscape of terror, but he ran into censorship problems when he showed the faces of French policemen who guarded Jewish deportees on their way to Drancy, and then Auschwitz. In order to get the film shown commercially, Resnais had to efface the policemen so that no one in the audience could see the French kepi in the film ; thus French responsibility for the Shoah literally would be effaced.5 5 Sylvie Lindeperg, ‚Nuit et brouillard‘ un film dans l’histoire, Paris 2007.
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Figure 19: Anselm Kiefer, The way of worldly wisdom. Arminius’s battle. orig.: Wege der Weisheit. Die Hermannschlacht, 1978. With kind permission of Anselm Kiefer
I want to use this instance of effacement to raise a more general point about the representation of terror after the Holocaust. My claim is not that the Holocaust is beyond representation ; it is rather that the focus on the single human face, so striking in both Dix and Picasso (though in different ways), is missing in what we now term Holocaust art. Yes, this in part reflects movements towards abstraction or towards conceptual art. But it may also be a statement of puzzlement on the part of artists themselves as to how to represent something as vast as the Holocaust. I want to explore this point with respect to the work of Anselm Kiefer and make some references too to the architecture of Daniel Libeskind. The reason for doing so
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is both their standing in the world of art and architecture, as well as what I would like to term their strategy of effacement in representing the Holocaust. Perhaps 9 million men died on active military service during the First World War, but no one to my knowledge tried to represent this immense absence through what I have termed effacement, or perhaps more simply stated, through making us aware of this vast disappearing act called war by making the human face disappear from their canvasses. During the Spanish civil war and its aftermath, millions of men and women died ; one estimate has it that over one million Republicans died after the formal end of the fighting in March 1939.6 And yet our images of the war are still figurative, visual, and — what I would term for purposes of argument — facial. Even Dix’s art of disfigurement draws us back to the human face. For a host of reasons, many artists came separately to the conclusion that what happened thereafter in Germany and throughout Europe was not possible to configure, if I may decompose the term. Instead, and with its own dynamics, abstraction took the place of the human form. Let me show you how this operates in the work of these two artists, Kiefer and Libeskind. First Kiefer. Born in 1945, educated in Düsseldorf, he encountered the circle of artists formed around Joseph Beuys. Beuys’s trajectory was all too familiar. Born in 1921, joined the Hitler Youth, attended the Nuremberg rally — his face could have been one of those delirious when they were in the presence of the Fuhrer. He volunteered for the Luftwaffe and fought as a rear gunner in a Stuka detachment. His plane was shot down over the Crimea in March 1944. He attributed his survival after severe burns to care by nomadic Tatar tribesmen who covered him in animal fat and felt. Whether or not this actually happened is neither here nor there. Beuys recovered and was redeployed as a paratrooper on the Western front, where was wounded a further five times. If ever there was an artist who knew the face of war and the terror it conveyed, it was Joseph Beuys.7 Beuys later constructed an abstract design for a Holocaust memorial at Auschwitz, but his project was not accepted. In 1961 he became professor of Monumental sculpture at Düsseldorf ; he lasted for 11 years, during which he accepted anyone who wanted to study with him. One such student was Anselm Kiefer. Kiefer, like me, was a child of the last months of the war. He studied with Beuys in 1970 and developed some of Beuys’s approaches to the use of natural materials — trees, glass, straw, wood — in painting and sculpture. But unlike Beuys, he was 6 Helen Graham, A short introduction to the Spanish Civil War, Oxford 2006. 7 Joseph Beuys, In memoriam Joseph Beuys. Obituaries, essays, speeches, Bonn 1986 ; Claudia Mesch and Viola Michely (eds.), Joseph Beuys. The reader, London 2007.
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Figure 20: Anselm Kiefer, The breaking oft he vessels. Bruch der Gefäße, 1989/90. With kind permission of Anselm Kiefer
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Figure 21: Unidentified, Aachen Synagogue after Kristallnacht. Nov. 38. Collection of the United States Holocaust Museum, Washington
never accused of avoiding the Holocaust or his own past. These critiques — mostly without any foundation — surrounded Beuys in his later years, and it is important not to draw too direct a line between Beuys and Kiefer. Here there are clear affinities, but dissimilarities too. Both have mystical elements in their work, but in the case of Kiefer, it is Jewish mysticism, as well as numerous Biblical texts, both Old and New Testament in origin, which have been at the center of his art in recent years. Kiefer has addressed the Jewish-German embrace in a host of ways, but to my knowledge, rarely through the human face. He uses some figurative elements in his work, but most of the time, the face is effaced. There are notable exceptions. In his early years, he used photography to attack the smugness of Germany after the economic miracle brought it back to the center of European life and world affairs. He famously photographed himself giving the Nazi salute in front of a military sculpture or other site. In addition, on some rare occasions, he used portraits for ironic purposes. Here in Figure 19 is his The ways of worldly wisdom. Arminius’s battle. This oil on woodcut mounted on paper is a collage of German romanticism, using the faces
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Figure 22: Jens Ziehe, Berlin Jewish Museum, Daniel Libeskind, inside, 2008. With kind permission of Jewish Museum Berlin
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of notables in German cultural life to question the still-present danger of the national idea and the myths of Germanness surrounding it. In Kiefer’s later work, the human figure is by and large absent. Could it be, I wonder, if he has taken to heart the teachings of the Kabbalah that we must never reproduce the human face, because that puts us at risk of reproducing the face of God, something entirely forbidden in orthodox Jewish tradition ? This may be indirectly evident in a theme Kiefer has returned to time and again : the cabbalistic story of the breaking of the vessels. In short, the cabbalistic answer to the question posed by theodicy — how can evil exist in a world created by an omnipotent and benevolent God ? — is that when God created the universe, he withdrew in space in order to create the void in which the universe was born. The creative material out of which the world came was contained in vessels, which broke into shards through the force of divine creation itself. Those shards fell to earth, and jagged and dangerous, they remained here, as evil in the world. Have a look at Kiefer’s installation in the St Louis Museum of Art, entitled The Breaking of the Vessels (Figure 20). The same theme is there in many other installations Kiefer has done. What we see is the Kristallnacht, the shards of glass, the burnt library of a destroyed synagogue, framed by the kabbalistic signs of the zodiac as a kind of rainbow after the flood. Now I ask you to have a look at a photograph of a Berlin synagogue after the fire of November 1938 (Figure 21). Here is the source for another visualization of the Holocaust which has dispensed entirely with the human figure. I speak of the design of the Jewish Museum in Berlin by Daniel Libeskind. To be sure, a comparison of installation art and of architecture is difficult to justify. Architecture has abstract elements in it by definition. What interests me in Libeskind’s work is the transformation of photography into architecture. Have a look at the internal design of the museum (Figure 22). It presents visitors with the crossing lines of the broken and burnt beams of a synagogue destroyed 70 years ago in the “Reichskristallnacht”-pogrom. And it has a sense of an absence, a never to be filled void, which is both uncanny and very troubling. Each time I have visited the museum, I feel ill. Partly it is due to the lack of straight lines ; partly to the incline of all planes. In part it is due to the absence of the human face. In recent years, the curators of the museum have filled it with faces. It contains a rich and varied collection of the history of German Jewry over 1000 years. I must admit that this collection, admirable though it is, leaves me cold. This is not because of its design or its meticulous presentation of a world which has vanished. It is because the building overwhelms its contents. The void sucks into it whatever objects come
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Figure 23: Thomas Bruns, Berlin, Jewish Museum, Daniel Libeskind, outside, 2007. With kind permission of Jewish Museum Berlin
to fill it. It is its lack of representational elements which gives the building its force to act as a work of art. When we look at the external design of the building, we can see the same mixture of art and architecture which Kiefer’s installations have (Figure 23). Here is a disassembled star of David, or if you will, a bolt of lightning, which in a flash removed the Jews of Berlin from a city which had had a Jewish community in it for centuries. Its polished titanium surface forces us to look at it, dazzling in the sun. It points towards Friedrichstrasse, where many of the decisions were taken concerning the murder of the Jews of Europe. This design tells us much about the absence of human faces, which is the ultimate meaning of the Holocaust.
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En guise de conclusion
The first point I would like to draw from this brief and incomplete discussion is that terror has a history. It is a history filtered through images which have changed over time. In the Great War, terror took on the face of the Frontsoldaten, the poilu, Tommy Atkins, those unfortunate men who lived and died in a trench system stretching with various intervals across Europe, from Calais to Caporetto and beyond. In the interwar years, the killing power of the bomber separated those who killed from those who were killed, at least in Europe. Slaughter in China after the Japanese invasion of 1931 and the murderous campaigns of 1937 and after took on older forms. But the bomber changed perceptions of war and broadened the pool of victims trapped by the new technology of destruction. In the Second World War, the face of victimhood changed again. This time there were millions of foot soldiers who died in combat, and millions more civilians who died either under aerial bombardment or in extermination camps. Those who vanished in the Shoah, those who were fed into the machines of assembly-line murder, were the victims of a technology of killing if not new, then one refined and perfected by a kind of demonic Taylorism, to an end almost beyond our imagination. When the liberators of the camps disclosed the remains of those trapped in the terror we now call the Holocaust, there were photographs and newsreels to record the moment. We have film and photos of this encounter between Allied soldiers and the strange, unearthly creatures who emerged from the camps. But over time, the visual record of what Primo Levi termed the actual injury, the insult to humanity, began to fade. There followed a period when the victims of the camps went into the shadows. As Pieter Lagrou has shown, their face was occluded by the face of the Resistance, whose bravery was undoubted, but whose story of active defiance and struggle contrasted with and superseded that of the survivors of the Holocaust. Only by the late 1960s and early 1970s, when the political reconstruction of Europe was complete, was it possible for there to emerge an audience to hear and to see the survivors of the camps.8 In all three cases — after the Great War, at the time of the Spanish civil war, and in the aftermath of the Second World War — the image of the victim engraved by very different artists was mediated by the visual technology of the day. Photographs provided Otto Dix with the face of war he then transformed into his own vision. Newsreels gave Picasso what he needed to fire his imagination in such a way as to produce the painting of the century in four short weeks. Those meditating on the Holocaust 8 Pieter Lagrou, The legacy of Nazi occupation. Patriotic memory and national recovery in Western Europe, 1945–1965, Cambridge 1999.
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initially had the film shot by liberators of the camps and the human wreckage left in them. Over time, though, the face of the victim of the Holocaust receded from the headlines and the newsreels. It took 25 years for them to reemerge, but by the 1970s and after, there unfolded a different problem. When many of those who visited the camps and the killing fields of occupied Europe, they saw the buildings and the material traces of the Holocaust. But the event was so vast and so hard to grasp that there remained a sense of puzzlement ; where do you look in Auschwitz when you try to see the Holocaust ? Artists like Anselm Kiefer and architects like Daniel Libeskind reflected a more general tendency to focus less on the faces of the survivors than on the void left by those who did not survive the Holocaust. Here again, there were parallels with the destruction of the Armenian world in Anatolia. And yet there was a short-lived Armenian republic, transformed into a Soviet republic by 1923. And further separating the two cases was the emphatic and perverse denial by sequential Turkish governments that the genocide had taken place at all. Clearly there are multiple explanations for the shift within the work of artists and architects from one set of signifiers, focusing on the human face, to another, focusing on ruins and voids. Art has its own rhythms and its own tensions. Clement Greenberg offered an internal explanation of the movement of art towards abstraction in the twentieth century.9 A sense that the figurative realm had been exhausted did move artists to experiment with abstraction in the same way that 12-tone or atonal music emerged with the recognition that it was pointless to try to write Beethoven’s Tenth Symphony. After spending years walking through First World War battlefields and commemorative sites, I still wonder why it is possible to imagine one landscape of terror, that of trench warfare, and yet not another, that of the Holocaust. And yet I maintain that that distinction is a real one, echoed by many people who have little family contact with the events described in either set of sites. Some kinds of terror can be seen and felt, and others seem to stretch some of our faculties to their limit. Even a mushroomshaped cloud is something which can be and has been seen. But the Holocaust is something hard to see. Stock images of the survivors are there by the hundreds, but many have faded into clichés. And when we confront even those which retain their force, what do we see ? Isn’t it the case that we, the living, don’t see the Holocaust, in the same sense that Primo Levi told us that only those who did not survive understood the full meaning of life in l’univers concentrationnaire ? I return to Inga 9 John O’Brian (ed.), Clement Greenberg. The collected essays and criticism, Chicago 1986–1993.
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Clendinnen’s claim that the Holocaust has the power to absorb into it all metaphors which, after all, are attempts to give it a human face. In this paper, I have tried to establish three claims. My first claim is essentially a simple one : as war changed, so did artistic configurations of terror and the victims of terror in wartime. The second point I have made is more formal in character. When we move from the Great War to the interwar years and then to the Second World War and beyond, we can see that the partial occlusion of the human face in the configuration of terror is one of the most striking features of changing Western representations of war and terror. There are major exceptions here, to be sure, but on balance, the move I have tried to document here is one initially away from a naturalistic or expressionistic representation of the human face and figure in artistic meditations on war and terror. My third claim is more speculative. It is not only abstraction which frames this shift ; it is also a change in the stance of the victims of terror. From the 1970s on, the voices as well as the faces of the victims became central to their representation. This was in part due to the judicialization of memory, and in part it is a function of the appearance of forms of cheap and reliable technology enabling the capturing and preservation of both the voice and the face of the witness. We may not be able ‘to see’ the Holocaust, but we can hear the stories of those who saw it from within. Thus we come full circle. The construction of dozens of Holocaust archives, starting with the first in 1982 at Yale, my own university, has made a difference in the human cartography of terror. I would like to conclude here with this thought : the face of suffering in times of terror has faded from artistic representations in the century since 1914. But in recent times, the voices recording terror and the faces of the men and women who recall it have been preserved. These voices penetrate the void, people it, and give us some elements of the story and some ways to tell it. Perhaps we can hear what we cannot see ; perhaps spoken words or voices convey images unavailable to us in other ways. If so, then the history of terror needs to be traced not only through the faces but also through the voices of those who knew it from within. Far be it from my purpose to turn Holocaust archives into works of art. Martin Jay made a similar point in his book Downcast eyes. He points to a turning away in philosophy and in the arts from the privileging of what we see as a source of knowledge and experience.10 This insight may have a bearing on how we configure terror. ‘Seeing is believing’ may be a tag appropriate to the nineteenth century, but it has its limits in the age of terror which began nearly a century ago. 10 Martin Jay, Downcast eyes. The denigration of vision in twentieth-century French thought, Berkeley 1993.
Siegfried Mattl
Einleitung. Terror, Erzählung und Darstellung
Wenn eine Historiografie der Zukunft neue Epochenmarkierungen setzt, könnte es möglich sein, dass die Entscheidung nicht auf 1989, das Jahr des Endes des kommunistischen „Ostblocks“ fällt, sondern auf 1980. In diesem Jahr erkannte die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung unspezifische psychische oder psychosomatische Symptome als verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung und katastrophalen Ausmaßes als eigene Krankheit an : die Posttraumatische Belastungsstörung (Post-traumatic Stress Disorder). Die Erweiterung des klinischen Trauma-Begriffes, der aus Fallgeschichten wie jenen der von Gewalt und Terror betroffenen Holocaust-Überlebenden gewonnen wurde, zu einem universalen Syndrom hatte, folgt man der Historikerin und Anthropologin Pamela Ballinger, weitreichende geschichtskulturelle Folgen.1 Zum einen wertete dies die subjektive Erinnerung auf : Aus einer kritisch zu untersuchenden Spur wurde eine Tatsache von eigenem Wert. Zum anderen führte diese neue diskursive Bestimmung des Traumas zu einer tendenziellen Entkoppelung von faktischem Erleben und nachträglichem Leiden an einem Gewaltakt : das aktuelle unspezifische Syndrom kann sich eine Geschichte suchen, die paradoxerweise gerade deshalb (als „traumatisch“) plausibel erscheint, weil sie nicht faktisch erinnert werden kann bzw. sich gegen die identifizierende Wiederholung wehrt. Ballinger erkennt darin den Beginn einer neuen geschichtskulturellen Epoche, nämlich die Wende von der heroischen Pathosformel des historischen Fortschritts zur universalen SelbstViktimisierung, die nun immer mehr gesellschaftlichen Kollektiven als Prämisse in der Konzeptualisierung ihrer eigenen Vergangenheit diene. Opfer, Schuld, Leid und der Zwang zur Erinnerung daran wären Angelpunkte der Geschichte wie der Geschichtsschreibung geworden. Wie weit man einer solchen Charakterisierung auch immer zustimmen wird – sie macht nachvollziehbar, weshalb der Begriff des Traumas von der Individualpsychologie auf das Feld der gesamten Kultur ausgedehnt werden konnte und (selbst mediale) Massenphänomene von Gewalt und Terrorerfahrung (wie 9/11) unter dem Paradigma „cultural trauma“ analysiert werden.2 1 Pamela Ballinger, The Culture of Survivors. Post-Traumatic Stress Disorder and Traumatic Memory, in : History and Memory 10/1 (1998), 99–132. 2 Mit Thomas Elsaesser wäre hinsichtlich der Konzeption von „Kultur“ zu fragen, ob wir in einer durch-
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Siegfried Mattl
Noch 1947 konnte hingegen ein so bedeutender Psychologe und Philosoph wie Maurice Merleau-Ponty die Frage nach dem Terror als Frage nach den Bedingungen von Politik und Revolution schlechthin stellen. (Man kann darin eine parallele Bewegung zu der von Jeffrey Alexander beschriebenen „progressiven“ Erzählung des alliierten Sieges über die faschistischen Achsenmächte nach Kriegsende sehen, die ihren „Sinn“ aus der erwarteten endgültigen Pazifizierung der Welt durch internationale Vereinbarungen und Sanktionsmächte schöpfte, während sie die „Shoa“ in die lange Reihe historischer Kriegsgräuel verbannte.3) Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren die Moskauer Schauprozesse auf der einen und das Vichy-Regime auf der anderen Seite. In beiden Fällen konnte der Terror nicht von der Frage der Konstituierung staatlicher Souveränität getrennt werden. Die Qualifizierung der Gewalt (einschließlich jener seitens des Widerstandes gegen das Vichy-Regime) könne in beiden Fällen nicht im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung erfolgen, argumentierte Merleau-Ponty, sondern nur aus einer metahistorischen Perspektivierung : Jede der beiden jeweils involvierten Seiten musste für sich über Legalität oder Illegalität ihrer Handlungen und deren Zweckmäßigkeit aufgrund unverhandelbarer gegensätzlicher Zukunftsbilder entscheiden. Merleau-Ponty gelangte zu dieser Schlussfolgerung zum einen aufgrund eines paradoxen Umstandes : Die Ankläger in den Moskauer Schauprozessen setzten alles daran, deren politischen Charakter zu dissimulieren und die angeklagte innerkommunistische Opposition krimineller Handlungen zu überführen. Demgegenüber unterstützten die französischen KommunistInnen die stalinistischen Schauprozesse mit der Argumentation, diese seien politisch notwendig, um einen historisch-objektiv falschen Weg zu verhindern. Ähnliches sollte sich in den Prozessen gegen die Repräsentanten des Vichy-Regimes ereignen – wenngleich nicht in prospektiver, sondern retrospektiver Sicht auf die historisch-objektiven Notwendigkeiten. Unter der Regierung De Gaulle wurden die Prozesse gegen die Repräsentanten des Vichy-Regimes nicht als politische Prozesse geführt, was auf die Aporien der formalen Legitimität der Kollaboration aufmerksam gemacht hätte, sondern wegen Verbrechen wie derjenigen der Verschwörung. Anderes hätte die Begründung der medialisierten Welt mit ihren schwierig zu unterscheidenden Realitätsebenen, der Eliminierung der Nachrichten von gestern und dem ständigen Recycling medialisierter Vergangenheiten nicht von einem neuen traumakulturellen Paradigma sprechen sollten. „Als ob ein persönliches Trauma Identität stiftet“, meint Elsaesser, „markiert es eine zeitgenössische Existenzweise der Menschen, die sich, ihrer Herkunft nicht sicher, unklar durch die Gegenwart bewegen. Nur durch die Konstruktion eines Traumas und dessen Bezug zur Körperlichkeit scheint sich ein Sinn finden zu lassen, eine Bedeutung, die dem Leben eine Lebensgeschichte gibt.“ Vgl. Thomas Elsaesser, Als ob das Trauma Identität stiftet, in : die tageszeitung, 28.4.2005. 3 Jeffrey C. Alexander, On the Social Construction of Moral Universals. The ‚Holocaust‘ from War Crime to Trauma Drama, in : European Journal of Social Theory 5/1 (2002).
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eigenen Legitimität aus der nationalen republikanischen Tradition und damit die Autorität der provisorischen Regierung geschwächt. Merleau-Pontys Schluss lautete auf einer ersten und offensichtlichen Ebene, dass die Unterscheidung von legitimer Gewalt und Terror zunächst eine begriffliche Operation ist, die aus den formalen Strukturen der etablierten Ordnung selbst hervorgeht. (In diesem Sinne kann es auch keinen „Staatsterror“ geben, sondern nur die Anwendung besonderer Mittel, die durch Ausnahmegesetze den Anschein von Rechtsstaatlichkeit tragen.) Zweitens aber führte er eine Differenz ein zwischen der legalen und der illegalen Gewalt, die einer trivialen Interpretation dieser Beobachtung einen Riegel vorschiebt. Wenn die Entscheidung, ob es sich bei einer Aktion um legitime Gewalt oder Terror handelt, erst durch die Fakten der Zukunft getroffen werde, meinte Merleau-Ponty, so könne sich die Gewalt jedoch nicht vorweg mit dieser Zukunft legitimieren (wie im Stalinismus), denn die Zukunft sei prinzipiell kontingent. Schlussfolgernd fordert Merleau-Ponty nicht nur eine nicht fundierte Politik aus den Erfahrungen mit dem Stalinismus wie dem französischen Kollaborationsregime, sondern verweist auch auf die Verantwortlichkeit von AkteurInnen : Im Augenblick der Gewaltausübung müsse man sich den voluntaristischen Charakter des eigenen Handelns eingestehen und bereit sein, das daraus resultierende Risiko zu tragen.4 Jenseits der bis heute strittigen Frage, ob Merleau-Ponty mit Humanismus und Terror den Stalinismus verteidigen wollte oder nicht, ist klar, dass im Spannungsverhältnis zur geschichtskulturellen Wende des „cultural trauma“5, wie Ballinger es beschreibt, die Bedeutung der Form für das Erinnern sichtbar wird. Das kollektive Erinnern und die mit diesem verbundenen politisch-moralischen Urteile unterliegen einer Historizität, die sich nicht von der Qualität eines bestimmten historischen Ereignisses her konstituiert, sondern in einer komplexen Verschränkung von Kulturpoetiken, Institutionenpolitik und politischer Tradition hergestellt wird.6 In der folgenden Sektion werden drei unterschiedliche Beispiele einer im weitesten Sinne politisch-ästhetischen Steuerung der Erfahrung von Terror und Gewalt präsentiert, die in ihrer Zusammenschau gegen ein vorschnell generalisierendes Konzept des kollektiven Leidens an der Vergangenheit sprechen. Jörg Müllers Beitrag setzt bei der französischen Historiografie des Vichy-Regimes an, die in Zusammenhang mit einer spezifischen politisch-intellektuellen Tradition 4 Maurice Merleau-Ponty, Humanismus und Terror, Frankfurt/Main 1990. 5 Vgl. Jeffrey C. Alexander u. a. (Hg.), Cultural Trauma and Collective Identity, Berkeley 2004. 6 Vgl. dazu auch Daniel Levy und Natan Schneider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt/Main 2001.
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ebenso wie aus Gründen (gaullistischer) Staatsräson lange Zeit in einem Knebelungsverhältnis zur Justiz als dominantem Ort der Geschichtsproduktion gestanden hat. HistorikerInnen der jüngsten französischen Zeitgeschichte hatten sich für zwei Dekaden in die Wahrheitsfindungsprozeduren der Gerichte einzufügen, die das Kollaborationsregime sozusagen außerhalb der französischen Nationalgeschichte stellten. Die Geschichte folgte damit den Darstellungsregeln der Enquête. Als „Sachverständige“ vor Gericht waren die HistorikerInnen Teil der Inszenierung einer Geschichte, in der Terror und Verfolgung eine extern verschuldete Unterbrechung in der französischen Vergangenheit repräsentierten ; garantiert wurde dies durch juridische Begleitumstände, die eine kritische Historiografie gleichsam durch höhere Rechte von Personen (sozusagen „Täter-Schutz“) zu unterbinden verstanden. Paradox mutet umso mehr an, dass die wiederum über Gerichte und Prozesse bewerkstelligte Wende zur Auseinandersetzung mit den TäterInnen des Vichy-Regimes (etwa 1981 mit dem Prozess gegen Maurice Papon, ab 1942 Leiter der „Judenabteilung“ in der Gironde und später unter de Gaulle Polizeipräfekt in Paris) wie mit dem „Negationisten“ Robert Faurisson das Form-Problem nicht beiseite geschoben, sondern die Urteilsfindung über angemessene wissenschaftliche Methoden von der Performance der HistorikerInnen (diesmal als „Zeugen“ – Zeugen der guten oder schlechten Praxis revisionistischer GeschichtsschreiberInnen vom Typus Faurissons) vor Gericht abhängig gemacht hat. Ein durch den mehrfachen Regimewechsel nicht gerade weniger komplexes Beispiel diskutiert der Beitrag von Amália Kerekes. Sie zeigt am Beispiel Ungarns die „Überschreibung“ des „roten“ wie des „weißen“ Terrors von 1919/20 durch die Geschichte der Nachkriegszeit und des Stalinismus. Die Spiralen von Gewalt und Katastrophen – die Herrschaft der Pfeilkreuzler, die Kriegszerstörungen 1944/45, die Schauprozesse – ließen erst gar keinen geordneten Diskurs über die Vergangenheit ins Leben treten, sondern förderten die Einbindung der Bürgerkriegserfahrung als Annex in die große Erzählung der nationalen Tragödie. Gewalt und Terror wurden so als nicht selten ironisch oder allegorisch gestalteter Bericht in einer Erinnerungskultur neutralisiert, die sich an nationalen Großsymbolen (das Drama „Kleinungarns“, wie es aus den Friedensverhandlungen von 1919 hervorgegangen war) orientierte oder – wie in der „public culture“ unter dem Kommunismus – zum Fronterlebnis mutierte. Michael Loebenstein greift mit Rithy Pahns Dokumentarfilm S 21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer aus dem Jahre 2003 das eingangs vorgestellte Konzept der traumatischen Erinnerung wieder auf. Die Besonderheit dieser Konstellation ist evident : Nach wie vor sind die „killing fields“ wie deren TäterInnen-Personal in der kambodschanischen Gesellschaft präsent, die ihre Vergangenheit um eines prekären
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politischen Kompromisses wegen nur in ritualisierter Form („hate-days“) thematisieren will. Pahns Film über die Opfer und TäterInnen des Lagers S 21 führt in einer aufschlussreichen Weise über die Grenzen hinaus, die das „Trauma“ als „sprachloses Entsetzen“ scheinbar schafft, das uns hier unter geschichtskulturellen Vorzeichen interessiert. Die komplexe Verknüpfung von dokumentarischen Bildern mit der aus der Psychotherapie, aber auch als eigenständige künstlerische Methode bekannten Darstellungsform des „Re-enactment“ demonstriert, dass der reflexive Gebrauch von Medien – einschließlich der Tafelbilder des Erzählers in Pahns Film – die Erfahrung von Terror transformieren und wieder mit politischem Ausdruck aufladen kann.
Amália Kerekes
Farben des Terrors Die Erinnerung von 1919 in Literatur und Film in Ungarn
Nach dem Zweiten Weltkrieg markierten die runden Jahrestage von 1919 bis zur Wende 1989 in Ungarn erinnerungstechnische Kulminationspunkte der Re-Aktualisierung „nationaler“ Geschichte, die in der Retrospektive als Barometer der mehr oder minder markanten Kursänderungen angesehen werden können. Die auf die Jubiläen konzentrierten künstlerischen und historiografischen Großprojekte, die auf den kurzlebigen Versuch der Räterepublik und die darauf folgende Errichtung des konservativ-klerikalen Horthy-Regimes Bezug nahmen, verloren jedoch bereits zur Zeit des Staatssozialismus zunehmend an Bedeutung. Nach 1989 wurden die Räterepublik und bis zu einem gewissen Grad zeitweilig auch die Geschichte der Zwischenkriegszeit-Arbeiterbewegung selbst in den Geschichtswissenschaften nur marginal behandelt. Stattdessen wurde eine affirmative Lesart des Horthy-Regimes üblich, zum Teil in Form eines nahtlosen Anschlusses an den Horthy-Kult vor 1944. Nach einem kurzen Überblick über historiografische und populärwissenschaftliche Tendenzen im Umgang mit dem „roten“ und „weißen“ Terror 1919 widmet sich der vorliegende Beitrag den literarischen und filmischen Bearbeitungen des Themas, die trotz ihrer unterschiedlichen medialen Form meistens auf ein gemeinsames Muster referieren. Dabei werden hauptsächlich Beispiele herangezogen, die das Thema des Terrors durchaus den Gattungskonventionen entsprechend behandeln (wie etwa Jugendliteratur) oder die Leistungsfähigkeit der Darstellungsmodi auf die Probe stellen (beispielsweise die filmische Avantgarde).
1919 zwischen Historiografie und Kulturpolitik
Der runde Jahrestag von 1919 hat 2009 in Ungarn kaum Aufmerksamkeit erregt,1 was sich mit zwei Verweisen erklären lässt : Einerseits zeichnet sich seit einigen Jah1 Nach der Fertigstellung des Manuskripts ist der Konferenzband 1919. A Magyarországi Tanácsköztársaság és a kelet-európai forradalmak [Die Ungarische Räterepublik und die osteuropäischen Revolutionen], hg. v. Tamás Krausz und Judit Vértes, Budapest 2010, erschienen, der großenteils aus Kurzfas-
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Amália Kerekes
ren ein besonderes Interesse für den Ersten Weltkrieg ab, der früher gerade infolge der äußerst kontroversen Beurteilung von 1919 und den späteren Friedensverträgen vergleichsweise geringe Beachtung fand. Die aktuellen wissenschaftlichen Trends auf diesem Forschungsfeld, von der Microstoria bis hin zu den Men’s Studies, die Internationalisierung dieses Gebiets, die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen im Hinterland und vieles mehr verweisen in Ungarn mittlerweile in dieselbe Richtung wie der europäische Mainstream, die Ergebnisse liegen aber zur Zeit hauptsächlich in Form von Fallstudien vor. Diese immer breitere Basis ermöglicht es dennoch nicht vorbehaltlos, die grundverschiedenen Systeme von 1919 mit Blick auf die kulturpolitische und populärwissenschaftliche Erinnerung einzuordnen : 1919 wurde politisch in erster Linie als das Jahr der „roten“ und „weißen“ Landnahmen gelesen, es diente als Gründungsmythos des Staatssozialismus bzw. der konservativ-nationalistischen Regierungen nach der Wende und entfaltete – immer in Bezug auf das jeweils andere System – als Vorgeschichte legitimierende Kraft. Dieses retrospektive Aktion-Reaktion-Schema ließe sich nicht zuletzt mit dem Verhältnis zwischen dem sogenannten „roten“ und „weißen“ Terror und dessen Einschätzung veranschaulichen. Es ist ein Kennzeichen dieser Rhetorik, dass Ausmaß und Ursachen des jeweiligen Terrors immer durch den Bezug auf den „entgegengesetzten“ Terror relativiert werden. Damit erschließt sich die Breite der möglichen Interpretationen etwa des „roten“ Terrors im Sommer 1919 vereinfacht gesagt von der notwendigen sicherheitstechnischen Maßnahme, die die Ordnung im Hinterland aufrechterhalten und gegen die konterrevolutionäre Tätigkeit verteidigen sollte – zugegebenermaßen mit einigen Übergriffen –, bis hin zum Gemetzel der „judeobolschewistischen“ Proletarierdiktatur, dessen Ursachen in der Natur des Systems zu suchen sind. Die apologetischen Stimmen zur Räteregierung spielen dabei die Karte der Unkontrollierbarkeit einzelner Truppen, die im Gegensatz zum planmäßigen und auch gesetzlich zugelassenen „weißen“ Terror Ende 1919 keinen System-, sondern nur einen Betriebsfehler darstellt. Umgekehrt setzen die Horthy-Verehrerinnen und Verehrer alles auf die Darstellung einer einzig möglichen, wenn auch übereifrigen Rettung vor der Herrschaft einer kleinen, dem Magyarischen „wesensfremden“ Schicht. Beide populärwissenschaftlichen und parteipolitisch motivierten Deutungsmuster versuchen also das vermeintlich Systematische des Terrors
sungen bereits publizierter Forschungen besteht. Die Studie von Gáspár Miklós Tamás (Észrevételek a kommünröl [Anmerkungen zur Kommune]) erörtert jedoch wichtige Gründe für das Unverständnis gegenüber der mit einer brutalen Konsequenz vorgehenden Handlungsethik der Kommunistinnen und Kommunisten, die in der Kádár-Ära hinter vorgehaltener Hand als „Wahnsinnige, Träumer, Dilettanten, Posierende, von messianischen Wahnideen verworrene Terroristen, Leninbuben“ bezeichnet wurden.
Farben des Terrors
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auf vereinzelte Aktionen runterzuspielen, die sogar in einigen Fällen als Stabilisierung der Ordnung gebilligt werden könnten. Der Blick auf den jeweils anderen Terror betont im Gegenzug dessen strukturellen Charakter. Dabei bleibt aber die eigentliche Vorgeschichte, der Erste Weltkrieg, im Wesentlichen ausgeblendet, und eine umfassendere retrospektive Lektüre, die die internationalen Handlungsmöglichkeiten im Jahre 1919, aber auch die Empfänglichkeit für Ideologien und die besondere Gewaltbereitschaft in der Provinz erklären könnte, die fernab von der auf die Hauptstadt fokussierten symbolischen Politik der eigentliche Schauplatz vom Terror beider Seiten war, steht noch aus.2 Der andere Grund für das relative Desinteresse an einer erklärenden Perspektive auf unterschiedliche Formen des Terrors 1919 liegt meiner Einschätzung nach darin, dass die Fragestellung wegen politischer Voraussetzungen in vieler Hinsicht korrumpiert ist. Auf der einen Seite findet man die minutiöse historiografische Rekonstruktion der 133 Tage währenden Räterepublik,3 mit einer Flut von Memoiren, filmischen und belletristischen Adaptionen, die in formaler Hinsicht wenig voneinander abweichen und seit der Wende 1989 v. a. mit Blick auf die Bildpolitik, den propagandistischen Einsatz neuer Medien eher wertungsfrei4 bzw. mit Ausblendung des Gesamtsystems untersucht wurden. Die vorsichtige Verurteilung des „roten“ Terrors tauchte erstmals in einigen sozialdemokratischen Autobiografien unmittelbar nach 2 Unter den relevanten Arbeiten neueren Datums vgl. v. a. Robert Gerwarth, The Central European Counter-Revolution : Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in : Past and Present 200 (2008), 175–209 ; Tamás Kovács, Az ellenforradalmi rendszer politikai rendészetének genezise, 1919–1921 [Die Genese der politischen Polizei des konterevolutionären Systems], in : Múltunk 54 (2) (2009), 64–92. 3 Zur Historiografie der Räterepublik vgl. Tibor Hajdu, A Tanácsköztársaság helye a magyar történelem ben [Die Verortung der Räterepublik in der ungarischen Geschichte], in : Múltunk 39 (1–2) (1994), 3–16. Hajdu vermerkt die Tendenz zur Ausblendung der Räterepublik aus der ungarischen Geschichte, zur Verwischung der Grenzen zur Revolution im November 1918 in der nationalistischen und militärhistorischen Auffassung, wobei letztere eher dazu neigt, die militärischen Interventionen der Räterepublik zu würdigen, wohingegen in der liberalen Lesart die Novemberrevolution hochgehalten wird. Vgl. weiters Péter Konok, „Talán dünnyögj egy új mesét …“. A Magyar Tanácsköztársaság és a történelem átalakítása [„Flüstere vielleicht ein neues Märchen …“. Die Ungarische Räterepublik und die Verwandlung der Geschichte], in : Eszmélet 52 (1998), 77–87. Konok behandelt das Geschichtsbild der Lehrbücher für Gymnasien nach 1989 und registriert, dass in den auffallend kurz gefassten Darstellungen die Putschtheorie (statt der Erwägung der komplexen Gründe) und eine Art Mediengeschichte dominieren, womit auch mit Blick auf den „roten“ Terror eher die Slogans der Pro pagandamaschinerie hervorgehoben werden. 4 Vgl. v. a. die Studien von Boldizsár Vörös (auf Dt. mit Hinweisen auf die fremdsprachige Sekundärliteratur der Räterepublik : Verschiedene politische Mächte – in derselben Hauptstadt. Symbolische Raumbesetzungen in Budapest 1918–1919, in : Károly Csúri u. a. (Hg.), Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne, Frankfurt/Main 2009, 17–34).
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1919 auf,5 eine Überhöhung des Themas stand zwar auf der Tagesordnung der Debatten des kommunistischen Exils, das allerdings nur bis 1945. Auf der anderen Seite stehen die nach der Wende entstandenen Auseinandersetzungen mit dem Horthy-Regime, die von Kritik an den repressiven Mechanismen über die Betonung der Modernisierung bis hin zu kritikloser Verehrung reichen. Der Fokus dieser Ansätze richtet sich hauptsächlich auf die Mitte der 1920er-Jahre einsetzende Konsolidierung des Systems bzw. auf die Vorkriegsjahre, die sich in letzter Zeit besonders in Bezug auf relative Stabilität und Wohlstand auch populärkultureller Beliebtheit erfreuen. Die filmischen Remakes, die Neuauflagen zeitgenössischer Belletristik (daraus zahlreiche Werke, die erstmals ins Deutsche übersetzt wurden) oder die Chansonkultur6 suggerieren einen Höhepunkt des gutbürgerlichen, metropolitanen Milieus ohne politische Nebentöne – und die medial ebenso modern aufgemachten „revisionistischen“ und antisemitischen Neuauflagen aus dem Horthy-Umfeld stoßen aktuell wiederum auf kein geringes Publikumsinteresse.7 Mit Blick auf die Problematik des Terrors fällt auf, dass nach der Wende einige historische und publizistische, durchwegs im Zeichen der Gattung „Das rote Buch 1919“8 5 Als detaillierteste Auseinandersetzung mit dem revolutionären Terror aus sozialdemokratischer Sicht vgl. Wilhelm Böhm, Im Kreuzfeuer zweier Revolutionen, München 1924. Der Volkskommissär für Kriegswesen und ab Juni 1919 Wiener Gesandte hebt einerseits die Ohnmacht der sozialdemokratischen Mitglieder der Räteregierung gegenüber den Kommunistinnen und Kommunisten als Quelle des zügellosen Terrors hervor, insgesamt ihre Unwissenheit hinsichtlich der konkreten Gewalttaten, und räumt dem Terror nur unter der Bedingung eine Berechtigung ein, wenn das System mit Waffengewalt angegriffen wird : „Allein in der Proletarierdiktatur kann der Terror kein Selbstzweck, sondern lediglich ein im letzten Notfall anzuwendendes Abwehrmittel zur Sicherung der revolutionären Ordnung sein, von dem erst dann Gebrauch gemacht werden darf, wenn die Bourgeoisie die Macht des Proletariats mit bewaffneten Aufständen stürzen und vernichten will.“ (418) Die Eskalation des Terrors erklärt Böhm mit der Selbstherrlichkeit zweier Gruppierungen : Einerseits war daran die forcierte Adaption des russischen Beispiels durch die Kriegsheimkehrer schuld, andererseits jene Individuen, die „ins Fahrwasser der Revolution geraten waren und ohne jede sozialistische Vorbildung nur im Radikalismus schwelgten. Diese der Lumpenbourgeoisie entstammenden Ultrarevolutionäre waren es, die das blutiggrausame Unterdrückungssystem der Bourgeoisie zum Gewaltmittel der Proletarierrevolution machen wollten.“ (419) 6 Zur Neubelebung der Populärkultur der Zwischenkriegszeit vgl. Benedek Kurdi, Durch die schwarze Brille. Öffentlichkeit, Gesellschaft und Verbrechen im Kriminalroman Budapest Noir von Vilmos Kondor (2008), in : Csúri 2009, 167–174. 7 Bestimmte Aspekte des Horthy-Kults werden neuerdings auch von den Rechtsextremen demonstrativ aufgegriffen. Am 16. November 2009 zogen beispielsweise etwa 1.000 Rechtsextreme auf jener Route, die vor genau 90 Jahren vom späteren Reichsverweser im Zuge der Eroberung des sog. sündigen Budapest beschritten worden war, als der „weiße“ Terror bereits auf Hochtouren lief. 8 Vgl. die von einer damals regierungsnahen Stiftung herausgebrachte, chronologisch geordnete Zitatsammlung : Miklós Gerencsér (Hg.), Vörös könyv, 1919, Lakitelek 1993. Der mit Quellenangaben eher sparsam umgehende Band, der im Schmutztitel ein Zitat des führenden militärischen Funktio
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konzipierte Darstellungen des „roten“ Terrors aus den 1920er-Jahren9 von kleineren Verlagen und ohne größere Resonanz neu aufgelegt wurden. In der durchwegs polarisierten Öffentlichkeit scheint es in vieler Hinsicht evident zu sein, dass die als „LeninBuben“ bezeichneten Akteure des „roten“ Terrors pars pro toto für die Räterepublik und die stalinistische Ära stehen.10 Diese symbolträchtigen Figuren werden demnach mit allem aufgeladen, was Zwangskollektivierung und Internationalisierung bedeutet, d. h., das Element des Terrors wird unterschiedslos auf komplexe Systeme ausgeweitet. Eine vergleichbare pauschale Etikettierung der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit als faschistisch, gestützt nicht zuletzt auf die Vergeltungsaktionen der Sondertruppen in den ersten Monaten nach dem Sturz der Räterepublik, lässt sich jedoch ebenso bis heute beobachten.11 Angesichts dieser Reziprozität des „weißen“ und „roten“ Terrors bzw. der Überschreibungen durch die Nachgeschichte sticht von den wenigen neuen Ergebnissen der anlässlich des 90. Jahrestages organisierten wissenschaftlichen Veranstaltungen v. a. ein Beitrag ins Auge, der größeres Aufsehen in der breiteren Öffentlichkeit erregte.12 Ein führender Experte auf diesem Gebiet, Ignác Romsics, nahm mithilfe von Studierenden eine Revision der Statistiken über die Opfer des beiderseitigen Terrors vor und stellte in beiden Fällen weitaus niedrigere Zahlen fest, indem er den relativ gut belegten offenen militärischen Widerstand von den privat motivierten Abrechnungen und standgerichtlichen Verfahren zu trennen versuchte. Quellenkritisch und methodologisch gesehen bedarf dieser Ansatz zugegebenermaßen weiterer Untersuchungen, wichtiger oder symptomatischer scheint jedoch die tendenzielle Entschärfung des Terrors zu sein bzw. die Ausblendung ihres eventuellen systematischen närs über die geplante Ausrottung der Bourgeoisie bringt, setzt sich hauptsächlich aus Pressetexten und offiziellen Kundgebungen zusammen und kehrt den antiklerikalen Terror hervor. 9 Vgl. Albert Váry, A vörös uralom áldozatai Magyarországon [Opfer des roten Regimes in Ungarn], Szeged 1993 (EA 1923) ; Elemér Mályusz, A vörös emigráció [Die rote Emigration], Máriabesenyő, Gödöllő 2006 (EA 1931, auf Englisch : The Fugitive Bolsheviks, London 1931). 10 Vgl. auch die Debatte, die sich wegen der von einem Lokalpolitiker des Fidesz initiierten und letztlich verworfenen Umbenennung der Somogyi-Béla-Straße im 8. Budapester Bezirk entfachte : Der Bildungspolitiker und Journalist Somogyi wurde Anfang 1920 mit einem anderen Journalisten der sozialdemokratischen Tageszeitung Népszava ermordet (zur Dokumentation vgl. die anlässlich des Jahrestages organisierte Konferenz im Institut für Politikgeschichte : http ://www.polhist.hu/intezet/ index.php ?fkod=3&tikod=188, 02.03.2010). 11 Zur historisch fundierten Verortung der Horthy-Ära unter den europäischen Faschismen vgl. Mária Ormos, Miklós Incze, Európai fasizmusok 1919–1939, Budapest 1976. 12 Az 1919. év az egyetemes és a magyar történelemben [Das Jahr 1919 in der Universal- und ungarischen Geschichte]. Konferenz am 24. September 2009 im Zentrum für Sozialwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (http ://www.tti.hu/hirek/20090924_konf_1919/hu_1919_ konf_program.html, 02.03.2010).
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Charakters und besonders im Fall des „weißen“ Terrors das Absehen vom juristischen Hintergrund und vom großflächig ausgebauten Lagersystem, das 1920 noch voll in Betrieb war und erst auf internationalen Druck hin abgeschafft wurde.
1919 literarisch und filmisch
Derzeit ist nicht abzusehen, welche Folgen diese Statistiken im öffentlich-medialen Gebrauch zeitigen können. Auch aufgrund der Geschichte der literarischen und filmischen Bearbeitungen der beiden Regime lässt sich aber nachvollziehen, dass dieses Thema immer mehr marginalisiert wird. In einem chronologischen Längsschnitt betrachtet, haben sich solche Auseinandersetzungen unterschiedlicher Medien bedient, in ihrer Zitiertechnik sind jedoch gemeinsame Muster augenfällig. Der Großteil der folgenden Beispiele13 stammt aus der zweiten Hälfte des Staatssozialismus, als in den unterschiedlichsten Medienformaten, von Fernsehserien bis hin zu verbotenen oder gerade noch geduldeten avantgardistischen bzw. experimentellen Formaten, 1919 als künstlerisches Thema aufgewertet wurde. Im Bereich der Avantgarde geschah das auch als Auseinandersetzung mit 1968 und der damit verbundenen Gewaltanwendung, im Bereich der Massenmedien etwa als fabulierend ausholende, nicht selten ironische Darstellung des kommunistischen Widerstands und im Zeichen der allmählich rehabilitierten sozialdemokratischen Tradition in Form von Memoiren oder Romanen, die die Zwischenkriegszeit als Schauplatz von unterschiedlichen sozialistischen bzw. kommunistischen Ideen erscheinen lassen und somit durchaus mit den konsolidierenden Bestrebungen der 1960er- und 1970er-Jahre konform gingen. Gemeinsam ist diesen Versuchen, dass die verwendeten Topoi großenteils bereits in den 1920er-Jahren festgeschrieben wurden. Als Quelle galten dabei die Publikationen der nach 1919 emigrierten sozialdemokratischen und kommunistischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in einer Dokumentarismus und Naturalismus (gelegentlich auch Expressionismus) vermengenden Form über den „weißen“ Terror berichteten.14 13 Bei der Auswahl war das Vorliegen einer deutschen Übersetzung ein ausschlaggebender Aspekt. 14 Zur Gattung „historische Reportage“ vgl. József Lengyel, Visegráder Straße, Berlin 1959 [EA Berlin 1929]. Die nach Eigendefinition aus Skizzen und Aufnahmen zusammengesetzte „Reportage“ wurde 1932 in Moskau mit einem Vorwort von Béla Kun wieder aufgelegt, der das Buch als Teil der von Stalin vorangetriebenen Revision der Geschichte und als Revision des ideologischen Eklektizismus um 1919 versteht. Kuns Vorwort wurde im August 1956 in der ersten ungarischen Ausgabe unverändert wieder abgedruckt, mit einer kurzen Notiz von Lengyel, wonach der Hinweis auf die Stalin’sche Geschichtspolitik trotz der mittlerweile klar gewordenen Kluft zwischen Idee und Tat gültig bleibe und
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Abb. 1: Faksimile aus der Arbeiter-Zeitung
Mit Blick auf den Anteil eines österreichischen Umfelds an dieser Vermittlungstätigkeit kann am Beispiel des während seiner Emigration konsequent kommunistische Ansichten vertretenden Andor Gábor veranschaulicht werden, der auf Druck der Horthy-Regierung 1925 aus Österreich ausgewiesen wurde. Gábor veröffentlichte 1924 ein deutschsprachiges Drama über die auffallenden Foltermethoden und Übergriffe der mittleren militärischen Chargen mit dem Titel Horthys Lager. Drei Bilder aus dem ungarischen Leben und vom ungarischen Tod.15 Der Filmtheoretiker und Feuilletonist Béla Balázs, damals ebenfalls im Wiener Exil, lieferte dazu eine Besprechung für die Wiener Tageszeitung Der Tag, in der er die spätere, mit minimalistischen Mitteln arbeitende Formsprache der Terrordarstellungen besonders im Film vorwegnahm : „Ich bin sonst gar nicht dafür, daß man nach den Quellen einer Dichtung in der Lebensgeschichte des Dichters suche. Aber in diesem Fall muß doch einiges über die einzelnen, auf die militante Parteidisziplin hindeutenden Anmerkungen vom damaligen Stand des Klassenkampfs her zu verstehen seien. 15 Wien o. J. [1924].
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Gábor gesagt werden, um dieses Werk begreiflich zu machen. Denn für einen westeuropäischen Literaturfreund muß diese entsetzliche Kraft, diese wütende Wucht, so aus diesem Büchlein eine dramatische Granate in sein poetisches Flötenkonzert hineinkracht, schier unbegreiflich sein. In alten, romantischen Spielen wird ja noch viel mehr gemordet, moderne expressionistische Dramen gebärden sich noch viel wilder und blutrünstiger […]. Warum sind das doch alle Wiegenlieder im Vergleich zu diesen naturalistisch einfachen Stücken ? Woher kommt der Ton, von dem uns die Haare zu Berge stehen ? Er kommt von dort, woher Andor Gábor selber gekommen ist. Aus der Wirklichkeit. Einer der erfolgreichsten Budapester Schriftsteller, hat er sich seinerzeit, trotz eigener Villa und eigenem Auto, der jungen Revolution angeschlossen, und hat nachher in den Gefängnissen des magyarischen weißen Terrors seine Helden mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört. […] Ein Werk gibt es nur, dem diese Szenen aus den ungarischen Interniertenlagern zu vergleichen sind : Kraus’ ‚Die letzten Tage der Menschheit‘. Denn hier wie dort ist nicht, was die Menschen tun das Grauenhafte, sondern was sie dabei sagen. Nein, nicht die Morde, sondern die Psychologie, die Mentalität dieser Henkersknechte, die im Dialog wie in einem dämonischen Stenogramm mit der Treue des grenzenlosen Hasses festgehalten ist, diese festgenagelte Mentalität gibt dem Werk jenen dicken Wirklichkeitsgeruch, von dem das Büchlein, wie zu einem grauenhaften Monument der Kulturgeschichte, sich aufzublähen scheint.“16 Von den wenigen berühmt gewordenen literarischen Bearbeitungen der Räterepublik im Ungarn der Zwischenkriegszeit hebt sich der auch ins Deutsche übersetzte Roman mit dem Titel Anna von Dezső Kosztolányi hervor.17 Der Mitte der zwanziger Jahre geschriebene und Ende der fünfziger Jahre verfilmte Roman setzt bei der bis heute schmunzelnd zitierten „urban legend“ an, wonach Béla Kun, der Volkskommissar der Räterepublik, auf dem eiligen Flug ins Ausland, vollgestopft mit Juwelen und kirchlichen Reliquien, über Budapest eine Goldkette fallen ließ. Der mit befreiendem Lachen eröffnete Roman stellt Motive der Habgier, der Servilität und des prompten Kleidungs- und Gesinnungswechsels gescheiterter Kommunistinnen und Kommunisten vor und führt das Spitzelwesen sowie den Zustand andauernder Angst vor Augen. Er tut dies allerdings in einer Form, die die Unwichtigkeit der Funkti16 Béla Balázs, Zwei ganz verschiedene, in : Der Tag Nr. 626 v. 25.08.1924, 5. Vgl. weiters József Pogány, Der weiße Terror in Ungarn, Wien 1920 ; Györgyné Bölöni, Szenvedések könyve [Buch der Leiden], Wien 1921 ; József Halmi, Das schwarze Buch über Kecskemét, Wien 1921. Als Zusammenfassung vgl. Amália Kerekes, Epochale Emigranten. Das Jahr 1924 in der Wiener Publizistik ungarischer Flüchtlinge, in : Helga Mitterbauer/Szilvia Ritz (Hg.), Kollektive und individuelle Identität in Österreich und Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg, Wien 2007, 159–170. 17 Dezső Kosztolányi, Anna, Budapest 1963 (auf Ung. Budapest 1926).
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onärinnen und Funktionäre dennoch mit der Arroganz des nachfolgenden Systems kontrastiert. Dieses wird durch die Leidensgeschichte eines Dienstmädchens dargestellt, das seine Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber schlussendlich ermordet.18 Dass dieser Roman kurz nach 1956 verfilmt wurde,19 lässt sich mit der pointierten Gegenüberstellung von offener und heimlicher, privater Gewalt erklären : Die eingangs heraufbeschworene Idiotie oder zumindest Unvollkommenheit der kommunistischen Herrschaft kann offenbar die heimtückischen, durchaus systematischen Gewaltakte, die durch eine bürgerliche, auf die Aristokratie schielende Moral legitimiert werden, noch immer aufwiegen. Von den Deutungsformen dieser klassischen Romanadaption, die eine ironische oder allegorische Interpretation beider Gewaltherrschaften impliziert, weichen die prototypischen Darstellungen in den 1950er- und 1960er-Jahren deutlich ab. Die Erinnerungskultur des Rákosi-Systems, das die nur oberflächliche Einheit der Partei, die verfehlte Agrarpolitik und den westlichen Imperialismus für das Scheitern der Diktatur verantwortlich machte, versuchte, die Räterepublik anhand typologischer Momente als eine Episode unter anderen aus der Vorgeschichte zu instrumentalisieren : Nach Péter Apor gründet sich das Selbstverständnis des kommunistischen Systems nicht auf einer kausalen Geschichte, die bei der als Initialzündung interpretierbaren Räterepublik anknüpft. Vielmehr schöpft es seine Legitimation – dem sowjetischen Vorbild entsprechend – aus dem antifaschistischen Kampf, wofür 1919 als Zeichen der sowjetisch-ungarischen Freundschaft und als Warnung vor einem Ausgleich mit der Bourgeoisie dient und insofern als Argument für das Einparteisystem verwendet werden kann.20 Das artikuliert sich auch eindeutig in einer Abwertung des mit der Konterrevolution eng verbundenen Klerus und der kleinbürgerlichen, pseudohumanistischen Sozialdemokraten, wie dies in Kálmán Sándors Roman Fehér augusztus (Der weiße August, 1951) dargestellt wird.21 Der Roman, der zu den ersten belletristischen Bearbeitungen von 1919 in der Nachkriegszeit gehört, bewegt sich auch insofern auf einer Linie mit der Parteihistoriografie, als er den „weißen“ Terror 18 Ein singuläres Phänomen stellt der Roman des Anfang der 1930er-Jahre in der kommunistischen Kulturpolitik Deutschlands arbeitenden Dramatikers Gyula Háy (Színhely : Budapest, idő : tíz év előtt [Schauplatz : Budapest, Zeit : vor zehn Jahren], Budapest 1929) dar, der den jugendlichen Fanatismus und die ideologischen Debatten während der Räterepublik in einer Liebesgeschichte auflöst und letztlich auf die Leugnung des historischen Materialismus, auf die Behauptung der nur äußerlich gebliebenen, verfrühten revolutionären Idee hinausläuft. Vgl. auch Gyula Háy, Geboren 1900. Erinnerungen, Reinbek b. Hamburg 1971. 19 Édes Anna (1958, R : Zoltán Fábri). 20 Péter Apor, Előkép. A Tanácsköztársaság felidézése a Rákosi-rendszerben [Vorbild. Die Evozierung der Räterepublik im Rákosi-System], in : Századvég 35 (1) (2005), 3–30. 21 Übers. v. Álmos Csongár, Berlin 1953 (auf Ung. Budapest 1951).
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mit dem Terror der Pfeilkreuzler kurzschließt und persönliche Verantwortungen von 1919 bis in die 1940er-Jahre prolongiert.22 Dieses Motiv bleibt in Film und Literatur auch nach der Revolution von 1956 im Zentrum,23 es zeichnen sich jedoch – im Einklang mit der Parteilinie – immer weitere Konzessionen gegenüber der Sozialdemokratie und die schrittweise Rehabilitierung der in die Sowjetunion emigrierten und dort ermordeten Rätefunktionäre (allen voran Béla Kuns) ab. Der dementsprechend ausgeweitete Spielraum des Erzählmusters hatte zur Folge, dass im Kontext der Entstalinisierung und der Kádár’schen Ausgleichspolitik der Akzent auf den Nachweis von größeren historischen Kontinuitäten verlegt wurde und letztlich der zunehmend verallgemeinerte Kampf zwischen Progression und Reaktion die künstlerischen Darstellungen dominierte.24 Das übliche Film- und Romanschema der Bearbeitungen der Räterepublik setzt dabei auf die Frontkämpfe und auf die letzten Augenblicke des Widerstands.25 Die Gewalt im Hinterland gilt als Ergebnis militärischer Konflikte oder wird mit Episoden über die Solidarität zu einstigen und nun verfolgten Machthabern angedeutet, die aber nach dem Regimewechsel unerwidert bleibt.26 Die „konspirative Romantik“ wird dabei zu einem treibenden Element der Sujets im Fall beider Formen des Terrors, und zwar mit dem Ergebnis, dass der Fokus der einschlägigen Romane und Filme auf das Ende der Räterepublik gerichtet wird.27 Die so hervorgebrachte Kontinuität seit 1919 lässt jedoch bei aller Ausschmückung auch Ansätze zum Dokumentarismus erkennen, die sich zumeist in Form der auf Memoiren und autobiografischen Romanen beruhenden Montagetechnik artikulieren.
22 Vgl. Elek Karsai/Ervin Pamlényi, A fehér terror [Der weiße Terror], Budapest 1951. 23 Für die politische Kontinuität zwischen 1919 und 1956 stand im Geschichtsbild des Kádár’schen Staatssozialismus beispielsweise der „weiße“ Terrorist und spätere „Konterrevolutionär“ Mihály Francia Kiss, der nach 1989 „im Zeichen des bornierten Antikommunismus“ in der unmittelbaren Nachbarschaft der in den Prozessen nach 1956 hingerichteten Opfer beigesetzt wurde. Vgl. István Rév, Retroactive Justice. Prehistory of Post-communism, Stanford 2005, zit. n. Zsolt K. Horváth, Az eltávolodott tekintet. A tanú és a történész [Der distanzierte Blick. Der Zeuge und der Historiker], in : Holmi 22 (1) (2010), 133–139. 24 Vgl. Péter Apor, A konspiráció dialektikája. A Kádár-korszak történelmi regényeiről [Dialektik der Konspiration. Über die historischen Romane der Kádár-Ära], in : Tamás Kisantal/Anna Menyhért (Hg.), Művészet és hatalom. A Kádár-korszak művészete, Budapest 2005, 157–180. 25 Vgl. A harminckilences dandár (Die 39er Brigade, 1959, R : Károly Makk) ; Déltől hajnalig (Von Mittag bis Morgen, 1964, R : Tamás Rényi) ; Péter Földes, Vom jenseitigen Ufer, Lebensroman über Aurel Stromfeld, Übers. v. Tilda und Paul Alpári, Berlin 1962 (auf Ung. Budapest 1964). 26 Vgl. Álmatlan évek (Schlaflose Jahre, 1959, R : Félix Máriássy). 27 Apor 2005, 165ff.
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Diese mit den belletristischen Gattungskonventionen durchaus konformen Darstellungstechniken zeigen sich am deutlichsten im Fall der Abenteuerromane28 und der Jugendliteratur, die weitaus häufiger auf diese Periode zurückgreifen als auf den Zweiten Weltkrieg, der thematisch in dieser Sparte eher mit sowjetischen Importwaren präsent ist. Der Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass eine mit großen Dimensionen operierende Darstellung mit klarem Feindbild sowie die Opferthematik überhaupt ohne eine historisch minimal als gesichert geltende (und aktionsreiche) Widerstandsgeschichte oder ein zumindest zeitweilig erfolgreiches militärisches Manöver (wie etwa die partielle Rückeroberung Oberungarns im Sommer 1919 durch die „roten“ Truppen) nicht auskommen können. Viele von den Jugendromanen über den „weißen“ Terror wurden damals gleich ins Deutsche übersetzt, wie beispielsweise der berühmteste, auch verfilmte und als Comic bearbeitete Jugendroman Puskák és galambok [Die Höhle im Weinberg]. Von der Handlungslogik her, die auf Verfolgung, Versteck und gelungener Flucht beruht, beschränkt sich der Heroismus der Kinder im Roman auf ihre unmittelbare Umgebung vor dem Hintergrund der ungarischen Zeitgeschichte. Die Praktiken des Widerstands, die Solidarität mit den Mitschülern aus verfolgten Familien und die Fluchthilfe für Erwachsene erinnern zwar in vieler Hinsicht an die einschlägigen sowjetischen Produkte, bieten aber keinen euphorisch befreienden Ausgang, sondern verorten das Heldenhafte in der stillen, heimlichen Zivilcourage.29 Dieses Motiv des kleinen Siegs an einer kleinen Front mit dem Ergebnis, dass das System zeitweilig ausgetrickst wurde, prägt auch die elliptische Struktur der um eine großformatige Parteigeschichte bemühten Versuche, die gegen das mehrmalige Fiasko in der Zwischenkriegszeit anschreiben wollen. Eine solche Motivation legt auch der Titel einer Anthologie aus Erinnerungen an 1918/19 nahe : „Kein Triumph, aber Legende“.30 In den besonders populär gewordenen Filmproduktionen, die in letzter Zeit wieder im ungarischen Fernsehen gezeigt werden, mit fiktionalen Elementen äußerst großzügig umgehen und zumeist den Weg einer schurkenhaften Figur zur ideologischen Erleuchtung nachzeichnen, gehen die allfälligen Gewaltakte während der Räterepublik in der Undurchsichtigkeit der aktuellen Lage unter. Solche Annäherungen dienen vielfach auch als Quelle des „rosaroten“ (also kommunistische Ter28 Zum „weißen“ Terror vgl. Miklós Zalka, Der Mann in der Lederjacke, Berlin 1972 (auf Ung. Budapest 1967) ; Mihály Földes : Veszélyes élet [Gefährliches Leben], Budapest 1965 ; A Tűztorony új fiai [Neue Söhne des Feuerturms], Budapest 1970 ; ders., Fekete front [Schwarze Front], Budapest 1967 ; Gábor Imre/József Bojcsuk, A Vörös Túr, Budapest 1967 (letzte beide auch als Comic).
29 Sándor Tatay, Puskák és galambok, Budapest 1963 (Dt.: Die Höhle im Weinberg, Übers. v. Bruno Heilig, Berlin 1964), Film v. Márton Keleti (1961), Comic in der Jugendzeitschrift Pajtás (1965). 30 Zsuzsa Ferenc (Hg.), „Nem diadal, de legenda…“. Emlékezések 1918–1919-re, Budapest 1989.
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roraktionen verharmlosenden) Galgenhumors, der „weiße“ Terror wird bis hin zum Zweiten Weltkrieg in Form eines Räuber-Gendarm-Spiels prolongiert.31 Die filmische und vereinzelt auch die belletristische Avantgarde32 fordert hingegen die Leistungsfähigkeit der herkömmlichen Darstellungsmodi ambitioniert heraus. In den häufigsten Fällen geschieht das durch die äußerste Reduktion der sprachlichen oder bildlichen Inhalte, die eine extrem karge Formsprache zur Folge hat. Einerseits setzen diese Bearbeitungen im Fall des „weißen“ Terrors das ländliche Milieu in Szene, als Schauplatz der Denunziation und der Intrigen, die nach dem geltenden Gesetz allein ausreichten, um eine Internierung zu begründen. Besonders in den Filmen von Miklós Jancsó33 wird dies auf die scheinheilige Volksfrömmigkeit ausgeweitet und die den beiden Systemen nicht geheuere ekstatische Religiosität als Symbol der rettungslos zum Versinken verurteilten ruralen Gemeinschaft dargestellt. Vor allem der in den letzten Tagen der Räterepublik spielende Film Égi bárány [Himmelslamm] unternimmt in Form eines Bibelzitatwettbewerbs eine beiderseitige, an Parodie grenzende Delegitimierung des Terrors. Dabei setzt er den Akzent jedoch auf die Darstellung der nationalistisch-religiösen Trance der „weißen“ Terroristinnen und Terroristen, unterfüttert von Liedern über das tausendjährige Ungarn. Mit konventionelleren Techniken arbeitet der sich als „satirische Tragikomödie“ definierende Film Imposztorok [Schwindler],34 der auf den Aufzeichnungen einer führenden Figur des „weißen“ Terrors beruht. Diese Aufzeichnungen fungieren zugleich als erstrangige und wegen ihres offensiven Mangels an Selbstkritik keiner präzisierenden Fußnoten bedürfende Quelle historiografischer Studien.35 Die Dramaturgin des Films äußert in ihren Kommentaren hinsichtlich der fehlenden Darstellungen von direkter Gewalt die Befürchtung, dass die Unmittelbarkeit von Folterszenen eventuell eine Identifizierung mit dem Aggressor hervorrufen könnte, weswegen sie sich für die komische 31 Bors (1968, R : Lajos Fazekas u. a.) ; Én, Prenn Ferenc (1969, R : Márton Keleti, nach dem Roman Das unruhige Leben des Ferenc Prenn von József Lengyel, Übers. v. Ita Szent-Iványi, Berlin 1966). 32 Vgl. v. a. Mihály Sükösd, A halottak gyorsan lovagolnak [Die Toten reiten schnell], Budapest 1987 ; ders., A kívülálló [Der Außenseiter], in : ders., A kívülálló. Vizsgálati fogság, Budapest 1983. Die Erzählungen operieren mit raschen Szenenwechseln und kurzen Dialogen, die mit der kommentierenden Erzählfunktion entweder in Form von aphoristischen Aussagen, rhetorischen Fragen oder in der Diktion der objektiven, literarischen Justiz gerahmt werden. Durch den emphatischen oder sachlichen Ton hebt sich diese Erzähltechnik von den ebenfalls mit Zeitraffern arbeitenden, aber nur ein scheinbar distanziertes Erzählverhalten einsetzenden früheren Bearbeitungen des Themas ab. 33 Égi bárány (Himmelslamm, 1970), Csend és kiáltás (Stille und Schrei, 1967). Zur Allianz zwischen Klerus und weißem Terror vgl. weiters Virágvasárnap (Palmsonntag, 1969, R : Imre Gyöngyössy). 34 Imposztorok (1969, R : Félix Máriássy). 35 A határban a Halál kaszál… Fejezetek Prónay Pál feljegyzéseiből [In der Mark mäht der Tod mit der Sense … Kapitel aus den Aufzeichnungen Pál Prónays], hg. v. Ágnes Szabó und Ervin Pamlényi, Budapest 1963.
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Selbstentblößung der Terroristen entschied, somit dafür, sie dem Lächerlichen preiszugeben und den Terror zu entmythisieren.36 Weiters muss der sofort verbotene Film Agitátorok [Agitatoren] erwähnt werden, der zum Jubiläum der Räterepublik 1969 gedreht und als eine Art Intellektuellengeschichte des „roten“ Regimes konzipiert wurde.37 Einer Interpretation zufolge sei dieser Film, eindeutig im ideologischen Umfeld der Jugendrevolten von 1968 platziert, eine Reaktion auf die Konsolidierung des Kádár-Regimes im kleinbürgerlichen Umfeld, indem er hauptsächlich in Form von „talking heads“ – das heißt mit endlosen, unfilmischen, theoretischen Debatten – dem Gleichheitsgedanken etwas von seiner ehemaligen Schärfe zurückgeben wolle. Mit großspurigen Losungen wie „Es ist eine Feigheit, das Leben der Anderen nicht auf das Spiel zu setzen“ vertrete der Film nicht so sehr den messianischen, sondern den sentimentalen Kommunismus, habe aber in der Retrospektive auch einen besonderen dokumentarischen Wert, da er in den Rollen der Funktionäre den ganzen Stab der halbwegs legalen künstlerischen „zweiten Öffentlichkeit“ auftreten ließ.38 Was zu diesem Thema seit den 1980er-Jahren in Literatur und Film produziert wurde, bewegt sich auf einer eher kommerziellen Schiene und ist von geringerem Interesse.39 Das prominenteste Beispiel stellt der 1988 mit Hanna Schygulla und Marcello Mastroianni gedrehte Film Miss Arizona von Pál Sándor dar, dessen Kernszene die Ermordung eines jüdischen Juweliers während der Räterepublik ist. Der Film über die Flucht und Rückkehr der Familie, die ein Vergnügungslokal betreibt, besteht jedoch aus einer Abfolge von spektakulär fotografierten, farbenprächtigen Bühnenbildern, die direkt aus der Lili Marleen geschnitten zu sein scheinen. Um die ironisch distanzierende Deutung ist es ebenso schlecht bestellt : In einem im von vornherein dem Untergang geweihten virtuellen kleinbürgerlichen Milieu spielenden Film von 1991 über das Budapester Pendant des Wiener Praters,40 das während der Räterepublik verstaatlicht werden soll, wird als Symbol des Terrors der Hungerkünstler im Zuge der kollektiven Brotverteilung zu Tode gefüttert. Diese forciert 36 Vgl. das Buch über den Film : Judit Máriássy/Félix Máriássy, Imposztorok, Budapest 1970. 37 Agitátorok (1969, R : Dezső Magyar). Zur Geschichte des als wichtigste Vorlage dienenden Romans vgl. Ervin Sinkó, Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch, Köln 1962. 38 Benedek Balázs Vasák, Agitátorok. Érted, Világforradalom ? (Verstehst Du, Weltrevolution ?) in : Filmvilág 20 (11) (1998), 11–13. 39 Vgl. v. a. den besonders populären Film A vörös grófnő (Die rote Gräfin, 1984, R : András Kovács), der die Lebensgeschichte der Frau des Ministerpräsidenten der 1918 ausgerufenen Republik, Mihály Károlyi, skizziert, die nach ihrer Rückkehr aus der Emigration nach Ungarn im Jahre 1963 zu einer der Symbolfiguren des Dialogs unter den linken Ideologien wurde, wie es auch in diesem eher auf die Schauwerte der Aristokratie zugespitzen Liebesfilm angedeutet wird. 40 Vörös vurstli (Der rote Wurstel, 1991, R : György Molnár).
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geistreiche Pointe wird in einen Kontext eingebettet, der „sowohl die Geschichte als Handlung und Tat als auch das sie erleidende Opfer bagatellisiert“,41 und zwar in der auf Wunscherfüllung ausgerichteten, virtuellen Welt des Budapester Stadtwäldchens, in der letztlich Kleinlichkeit und Größenwahnsinn gleichsetzt werden. In der Belletristik ist kaum Experimentierfreudigkeit, überhaupt kaum Interesse für den Zeitraum zu registrieren, nachdem einige wenige Romane eher die alten Motive und obligatorischen Zitate abstauben und diese ironisch in die Reihe der sich rasch und (weil von äußeren Mächten gelenkt) unberechenbar wechselnden Systeme stellen.42 In diesem Kontext ist es durchaus bezeichnend, dass dieser ironische Blick auf die Beliebigkeiten der Geschichte gerade die historischen Romane der jüngeren Schriftstellergeneration prägt. Die Terrordarstellungen geben insgesamt in den von unterschiedlicher Parteidoktrin nicht völlig dominierten Formen mit Blick auf den „weißen“ Terror über Latenzen Auskunft, die nicht nur von der Erweiterung des Begriffs „Terror“ zeitlich und auch inhaltlich zeugen, sondern immer mehr auch die Irregeleitetheit beider Systeme erahnen lassen. Die ideologische Rahmung des „roten“ Terrors scheint hingegen eine vielfältigere Deutungsmöglichkeit zuzulassen, indem in der Rezeptionsgeschichte bis heute zumindest die Chance offengelassen wird, die Gewalttaten in einen breiteren Kontext zu stellen, um das eigentlich Skandalöse oder Zukunftsträchtige des Systems vom ideologischen Gehalt her überprüfen zu können.
41 Ágnes Koltai, Népi szmoking [Volks-Smoking], in : Filmvilág 14 (5) (1992), 57–58. 42 Noémi Szécsi, A kommunista Monte Cristo [Der kommunistische Monte Cristo], Budapest 2006 ; Szabolcs Benedek, Az élcsapat avagy Tanácsköztársaság 1919 [Die Avantgarde oder Räterepublik 1919], Budapest 2009.
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Der Gerichtssaal als Gedächtnisort des Terrors Eine diskurshistorische Analyse der Darstellungsformen des Terrors vor Gericht am Beispiel der V. Französischen Republik
In ihrem Aufsatz Ideologie und Terror (1953) spricht Hannah Arendt dem Historiker/ der Historikerin, der/die sich mit dem Nationalsozialismus befasst, eine besondere gesellschaftliche Rolle zu.1 Arendt zufolge lässt sich Geschichtsschreibung nicht ausschließlich auf die Rezeption von historischen Ereignissen und Sinnzusammenhängen reduzieren, vielmehr fällt ihr auch ein sozialer Auftrag zu, der darin besteht, moralische und politische Urteile über die Vergangenheit zu fällen. Obwohl diese Annahme geschichtsphilosophisch mehr als umstritten ist, erlaubt sie, das Hauptaugenmerk dieses Beitrags auf ein vielleicht zentrales Problem der NS-Geschichtsschreibung zu lenken. Nämlich auf die Historisierung des Terrors in Bezug auf dessen Inszenierung als singuläres Geschichtsereignis in Abhängigkeit vom jeweiligen politischen Diskursrahmen. Die Ausgangsthese besteht demnach in der Annahme, dass der historische Diskurs über den NS-Terror je nach Gesellschaftsformation unterschiedliche Einfärbungen erfährt und dass folglich dessen Darstellungsformen variieren. Die Vergeschichtlichung des NS-Terrors ist für liberale Demokratien von ganz zentraler Bedeutung. Der demokratische Rechtsstaat begreift sich ausdrücklich als politische, historische und moralische Überwindung des Terrors. Demnach wird das Verhältnis zwischen Demokratie und Terror auch meist in seiner Negativität dargestellt, d. h., Terror wird als Kulturbruch interpretiert und als solcher historiografisch inszeniert.2 Diesbezüglich spielt der Historiker/die Historikerin eine zentrale soziale Rolle, da er/sie über die Darstellungsformen des Terrors entscheidet.3 Die Produktion historischen Wissens über den Terror ist Teil der sozialen Funktion der Geschichts-
1 Hannah Arendt, Ideologie und Terror, in : Klaus Piper (Hg.), Festschrift für Karl Jaspers zum 70. Geburtstag, München 1953, 229–254.
2 Vgl. bspw. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003 ; Christoph Cornelißen, Erforschung und Erinnerung – Historiker und die zweite Geschichte, in : Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hg.), Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009, 217–242. 3 Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996.
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schreibung, welcher folglich eine dezidiert politische Dimension innewohnt.4 Es ist dieses Merkmal des Politischen, das als entscheidender Beitrag der Geschichtsschreibung zur Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses gesehen werden muss.5 Jedoch ist die universitäre Geschichtsschreibung nicht die einzige Akteurin, die dem sozialen Auftrag nach historischer Sinngebung nachkommt. Michel Foucault hat in Die Wahrheit und die juristischen Formen ausgeführt, wie juristische „Praktiken, also die Art und Weise, wie man über [historische] Schuld und Verantwortung unter den Menschen urteilt“, die Formen von Wissen von und über Geschichte beeinflussen.6 Das „Gerichtswesen“ stellt für Foucault neben den Geschichtswissenschaften eine jener sozialen Institutionen dar, die politisch verwertbares Wissen über Vergangenheit produziert.7 Justiz und Historiografie gleichen sich insofern, als sie beide als soziale Institutionen agieren, die in einer ritualisierten und standardisierten Untersuchung (frz. enquête8) eine rational stimmige Aussage über Geschichte produzieren. Auch die Justiz generiert ein spezifisches Geschichtswissen und bestimmt dadurch die kollektiven Gedächtniskulturen grundlegend mit. In dieser Hinsicht müssen sich die Repräsentationen, die von der Geschichtswissenschaft über den NS-Terror hergestellt werden, notwendigerweise mit jenen Wissensformationen messen, die sich über und durch die juristischen Praktiken ergeben. Recht und Geschichte sind zwei Bereiche, die historisches Wissen produzieren bzw. organisieren,9 jedoch – und hierin liegt das Spannungsverhältnis – unterschiedlichen diskursiven „Formationsbzw. Funktionsregeln“10 gehorchen. Es gibt also zwischen Geschichte und Recht eine klare Überschneidung, was die soziale Kompetenz bzw. den gesellschaftlichen Auftrag anbelangt, sozial verwertbares Wissen über die Vergangenheit zu erzeugen, aber auch klare Unterschiede, was die Herstellungsregeln der Geschichtserzählungen anbelangt. In dieser Hinsicht ist der Gerichtssaal ein emblematischer Ort des spannungsgeladenen Aufeinandertreffens von Justiz und Geschichte. Der vorliegende 4 Vgl. Hanno Loewy, Are we going to do this again ? Nürnberg, Jerusalem, Frankfurt : Auschwitz und das Courtroom-Drama, in : Stephan Braese (Hg.), Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, Frankfurt/Main 2004, 87–101. 5 Vgl. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1952. 6 Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, Übers. von Michael Bischoff, in : ders., Schriften in vier Bänden. Band 2 : 1970–1975, Frankfurt/Main 2002, 669–792. 7 Ebd. 8 Der Begriff „enquête“, den Foucault verwendet und der mit „Untersuchung“ übersetzt wird, umfasst in seiner semantischen Bedeutung sowohl juristische als auch wissenschaftliche Untersuchungen. 9 Jürgen Finger/Sven Keller/ Andreas Wirsching (Hg.), Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quelle der Zeitgeschichte, Göttingen 2009. 10 Zur terminologischen Bestimmung des Ausdrucks „diskursive Formationsregeln“ vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main 1981.
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Beitrag möchte diesem komplexen Verhältnis Plastizität verleihen und das Konkurrenzverhältnis anhand eines Fallbeispiels eingehender analysieren. Die französische Nachkriegsgeschichtsschreibung soll als Versuchsfeld dienen, um die Beziehungen zwischen juristischer Praxis und Historiografie zu eruieren und deren Entwicklungen über die letzten Jahrzehnte nachzuzeichnen. Im französischen Staatswesen nach 1945 wuchs der Justiz nicht nur die Aufgabe der institutionellen Sicherung und der politischen Stabilisierung zu, sondern auch der Auftrag, das in der neueren Geschichte enthaltene Konfliktpotenzial zu entschärfen.11 Dieser funktionale Auftrag, der zunächst auf eine Art „Geschichtsbeherrschung“ hinauslief, wurde auf zwei unterschiedlichen Ebenen verfolgt : einerseits über die Gesetzgebung und andererseits über Kriegsverbrecherprozesse bzw. Entnazifizierungsmaßnahmen. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Arbeit des Rechtssystems sehr schnell über diese klassischen Funktionen der Übergangsjustiz hinausging und begann, auf einem Terrain zu agieren, das vormals ausschließlich der Historiografie vorbehalten war : der Herstellung von Erinnerungsdiskursen. Nach einem kurzen Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte der französischen Historiografie bzw. auf deren politisches Selbstverständnis als staatstragende Institution (1) soll in einem zweiten Schritt auf die paradigmatischen Perspektivenwechsel innerhalb der Geschichtsschreibung über den NS-Terror in Frankreich eingegangen werden, die sich in mehreren Schritten vollzogen haben (2). Es wird eine Einteilung in drei Entwicklungsphasen vorgeschlagen, die jeweils ein unterschiedliches Verhältnis von Justiz und Geschichte wiedergeben und dadurch Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse zulassen. Eine erste Phase reicht von 1945 bis 1965 und beschreibt die Periode des nationalen Wiederaufbaus. Geschichtsschreibung und Justiz übernehmen hier eine zentrale Rolle bei der Rekonstruktion und Sedimentierung einer neuen nationalen Nachkriegsidentität. Beide Pole des Erinnerungsfeldes erfüllen eine politische Funktion, die sich nicht mehr ausschließlich auf die Gedächtnisproduktion beschränken lässt. Eine zweite, daran anschließende Phase reicht von Mitte der 1960er-Jahre bis Anfang der 1980er-Jahre und beschreibt eine Neuausrichtung der bis dahin bestimmenden Vergangenheitsparadigmen. Es soll hier insbesondere auf die aktive Rolle der Justiz hingewiesen werden, die plötzlich nicht mehr nur indirekt auf die Produktion von Erinnerungserzählungen einwirkt, sondern auch direkt die Geschichtsparadigmen bedingt. Eine abschließende Phase, die ab Mitte der 1980er-Jahre anzusiedeln ist, ist durch gesellschaftliche Entwicklungstendenzen geprägt, die zum Aufbrechen der bipolaren Struktur von Justiz und Geschichte bei der Verhandlung von Erinnerung geführt haben. Die Fragmentierung der Gedächtnisdiskurse und das Auftreten von 11 Vgl. Denis Peschanski/Michel Pollak/Henry Rousso (Hg.), Histoire politique et sciences sociales, Paris 1991.
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neuen Geschichtsakteurinnen und Geschichtsakteuren haben zu einer grundlegenden Infragestellung des historiografischen Wahrheitsmonopols, das bis dahin praktisch unangefochten von Geschichtswissenschaft und Justiz gehalten wurde, geführt.
Geschichtswissenschaftliche Systemkonkurrenzen – Justiz und Geschichtsschreibung zwischen Ambivalenz und Komplementarität
Das Selbstverständnis der französischen Geschichtsschreibung als eigenständige universitäre Disziplin definiert sich spätestens seit der Dreyfus-Affäre12 nicht mehr nur über ihre akademische Funktion, sondern auch über das eindeutige Bekenntnis zur Republik.13 Vor allem die jüngere Historikergeneration sah sich im Zuge der Affäre mehr und mehr in die Rolle des zentralen Verwalters der republikanischen Werte gedrängt. Die Geschichtswissenschaft positionierte sich als politische Gegenkraft zu reaktionären und konservativen Gruppen, die weder aus ihrem politischen Antisemitismus noch aus ihrer Ablehnung der parlamentarischen Demokratie einen Hehl machten.14 Vor diesem Hintergrund entstand eine Historiografie, die ihr öffentliches Engagement als politischen Auftrag begriff.15 Wissenschaftliche Arbeit, öffentliche Bewusstseinsbildung sowie politisches Engagement waren nicht nur miteinander vereinbar, sondern bildeten die Grundpfeiler einer Disziplin, die sich als staatstragend, staatserhaltend und in diesem Sinne als Verteidigerin des republikanischen Wertekonsenses verstand. Der französische Historiker Olivier Dumoulin schreibt über diese national-patriotische Funktion der Geschichtswissenschaft : „[…] jouer son rôle de savant et remplir ses obligations de patriote d’un même élan semblait aller de soi, puisque la science était une et indivisible à l’instar de la République.“16 12 Die Affäre um Alfred Dreyfus (1859–1935) hielt die französische Öffentlichkeit über mehr als ein Jahrzehnt hinweg in Atem (1894–1906) und hatte episodisch das Ausmaß einer Staatskrise. Dreyfus, Offizier der französischen Armee und jüdischer Konfession, wurde 1894 wegen Hochverrats und Spionage in einem Schauprozess, der vor dem Hintergrund eines stark antisemitischen Klimas ablief, verurteilt. Während des Berufungsverfahrens (1897–1899) engagierte sich eine große Zahl von Intellektuellen, Schriftstellern, Journalisten und Historikern für Dreyfus und erreichte schließlich seine Begnadigung (1899) bzw. seine vollständige Rehabilitierung (1906). 13 Vgl. Thomas Ribemont, L’expertise historienne dans la France contemporaine. La fonction politique de l’histoire en question, Dissertation, Paris 2006. 14 Vgl. Gérard Noiriel, Sur la crise de l’histoire, Paris 2005. 15 Vgl. Charles Seignobos/Charles-Viktor Langlois, Introduction aux études historiques, Paris 1899. 16 Olivier Dumoulin, Le rôle social de l’historien : De la chaire au prétoire, Paris 2003, 175. Übersetzung des Autors : „[…] mit demselben Elan die Rolle des Weisen und des Patrioten zu spielen war selbstverständlich, da die Wissenschaft [Geschichtswissenschaft] genauso unteilbar war wie die Republik.“
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Die Dreyfus-Affäre hatte eine zweite, etwas spezifischere Auswirkung auf die Geschichtswissenschaft. Sie veränderte das Selbstverständnis der Historikerinnen und Historiker grundlegend, da während des Prozesses Historiker erstmals als Sachverständige berufen und in den juristischen Entscheidungsprozess mit einbezogen wurden. Der Rückgriff auf historiografisches Expertenwissen stellt in der Tat eine Neuerung dar und erklärt, weshalb im französischen Staatswesen der Historiografie ein entscheidendes Maß an institutioneller, rechtlicher und politischer Entscheidungskompetenz zufällt. Diese funktionale Vermischung von Justiz und Geschichtsschreibung ist seit der III. Republik ein wiederkehrendes Muster und wird insbesondere nach 1945 prägnant. Das Naheverhältnis zwischen Historikerinnen und Historikern und Justiz ist schließlich in einem anderen – dritten – Bereich klar erkenntlich. Die Diskursstruktur der französischen Geschichtsschreibung weist eine stark „gerichtsförmige“17 Semantik auf. In Terminologie und Vokabular lässt sich der gegenseitige – rein formelle – Einfluss sehr gut ablesen.18 Justiz und Geschichte haben in Frankreich eine gemeinsame Diskursrealität, was gleichzeitig den Wissensaustausch und die Kommunikation zwischen beiden Bereichen erleichtert.19 Festzuhalten ist, dass es für französische Historikerinnen und Historiker üblich war, sich aufgrund des patriotischen Anspruchs, den sie vertraten, in öffentliche Debatten einzuschalten.20 Die Anforderung, das republikanische System mithilfe einer staatstragenden Geschichtsschreibung zusammenzuhalten, bedurfte aber nicht nur eines hohen Grades an personeller Legitimität, sondern auch an institutioneller Stabilität. Durch diese implizite Stärkung von Justiz und Historiografie erhalten die beiden Institutionen die Möglichkeit zur direkten Einflussnahme auf die Beurteilung der kollektiven Vergangenheit und die Definition des nationalen Erinnerungsdiskurses. Die Aufteilung des funktionalen Auftrags der Gedächtnis- und Identitätskonstruktion auf zwei agierende Gruppen führte zu einer höheren Systemstabilität, da der offizielle Erinnerungsdiskurs doppelt legitimiert war. Die Grenze zwischen Systemkomplementarität und Systemkonkurrenz war allerdings gering und je nach politischer Konjunktur ist der Schwerpunkt anders gelagert. 17 Dan Diner prägte den Ausdruck „gerichtsförmige Diskursstruktur“ im Hinblick auf den historischen Diskurs über den Holocaust, dessen Terminologie von den frühen Kriegsverbrecherprozessen beeinflusst ist. Vgl. Dan Diner, Ereignis und Erinnerung. Über Variationen des historischen Gedächtnisses, in : Nicolas Berg/Jess Jochimsen/Bernd Stiegler (Hg.), Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst, München 1996, 13–30. 18 Für eine Detailanalyse der gerichtlichen Geschichtssemantik vgl. Johanna Simeant, Friches, hybrides, et contrebandes : sur la circulation et la puissance militantes des discours savants, in : Philippe Hammann/JeanMathieu Meon/Benoît Verrier (Hg.), Discours savants, discours militants : mélange des genres, Paris 2002. 19 Siehe die Ausführungen zum Papon-Prozess. 20 Vgl. Gérard Noiriel, Les fils maudits de la République. L’avenir des intellectuels en France, Paris 2005.
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Seit 1945 hat eine schrittweise Veränderung hin zu einer steigenden Systemkonkurrenz eingesetzt. Mit zunehmender Komplexität der Gerichtssituationen aufgrund verstärkter öffentlicher Aufmerksamkeit und sozialer Nachfrage steigert sich auch der Formalisierungsgrad, was meist zulasten der Handlungsfreiheit der einzelnen Akteurinnen und Akteure, vor allem aber der Historikerinnen und Historiker geht. Die Einschränkung des Handlungsspielraums der Historikerinnen und Historiker lässt sich an einem Rollenwechsel ablesen, der sich Ende der 1960er-Jahre abzeichnete. Bis dahin agierten Historikerinnen und Historiker vor Gericht fast ausschließlich in der Rolle als Sachverständige. Die Expertise umfasste zwei grundlegende Bereiche. Entweder wurden Historikerinnen bzw. Historiker als Gutachterinnen bzw. Gutachtern hinzugezogen, um über historische Tatsachen selbst sowie deren Bedingungsbzw. Entstehungsmöglichkeiten Auskunft zu geben, oder sie produzierten vor Gericht eine Expertise über den Urheber eines historischen Ereignisses. Der Historiker agierte sozusagen als Porträtist einer historischen Persönlichkeit.21 In beiden Fällen tritt jedoch der technische Aspekt der Sachverständigenarbeit klar hervor. Diese klassische Interventionsform hat sich mittlerweile geändert. Beginnend mit den 1970erJahren traten Historikerinnen und Historiker nicht mehr nur als Gutachterinnen und Gutachter, sondern auch als Zeuginnen und Zeugen auf, was eine gravierende Kompetenzverschiebung nach sich zog.22 Die Historikerin und der Historiker als Zeugin bzw. Zeuge unterscheidet sich von der Historikerin und dem Historiker als technische Expertin bzw. technischer Experte in mehrerlei Hinsicht. Sachverständige arbeiten ihren Bericht im Rahmen einer technischen und standardisierten Untersuchung im Vorfeld des Gerichtsverfahrens in meist schriftlicher Form aus. Zeuginnen und Zeugen ist dies hingegen nach französischer Rechtslage verboten. Sind Historikerinnen und Historiker als Zeuginnen und Zeugen vorgeladen, gilt das rechtliche Prinzip der „strikten Oralität“.23 Im Zeugenstand zählt das gesprochene Wort. Jedwede Form von schriftlichen Unterlagen ist untersagt, was eine beträchtliche Einschränkung der Handlungsspielräume von Historikerinnen und Historikern bedeutet. Fakten, Zitate, Orte, Personen, Abkürzungen und Sinnzusammenhänge müssen aus dem Gedächtnis wiedergeben werden, eine Schwierigkeit, mit welcher der technische Sachverständige nicht konfrontiert ist. Die „strikte Oralität“ sollte später nicht nur bei den NS-Kriegsverbrecherprozessen 21 Vgl. Jean-Pierre Le Crom, Juger l’histoire, in : Droit et Société 38 (1998), 33–46. 22 Vgl. Christian Ingrao, Les historiens et le nazisme – Pratiques historiographiques, légitimation et engagement, in : Sociétés Contemporaines 39 (2000), 79–83.
23 Vgl. Henry Rousso, Justiz, Geschichte und Erinnerung in Frankreich, in : Norbert Frei/Dirk van Laak/ Michael Stolleis, Geschichte vor Gericht – Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, München 2000, 141–161.
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(bspw. Maurice Papon und Paul Touvier) große Probleme bereiten, sondern auch für die Beweisführung bei den Prozessen gegen den Negationisten Robert Faurisson ein entscheidendes Hindernis darstellen. Ein weiterer Punkt ist, dass Historikerinnen und Historiker im Zeugenstand von der Einsicht in die Prozessakten ausgeschlossen werden. Letztere dürfen einzig und allein von Anklage und Verteidigung konsultiert werden. Als drittes einschränkendes Kriterium ist das Problem der erkenntnisleitenden Fragestellung zu erwähnen. Historikerinnen und Historiker als Zeuginnen und Zeugen wird eine konkrete Frage zur Beantwortung vorgegeben, Sachverständigen lediglich ein allgemeines Thema, das sie selbstständig behandeln und befragen. Zunehmend stärker werdende formelle Zwänge definieren also die Rolle von Historikerinnen und Historikern gegenüber der Justiz zunehmend neu. Die Funktionsverschiebung, die in den 1970er–Jahren zu einer Neupositionierung der Geschichtsschreibung gegenüber der Justiz führte, ist nur ein sichtbarer Anhaltspunkt für eine Entwicklung, die bereits sehr viel früher, nämlich mit Ende des Zweiten Weltkrieges, eingesetzt hat.24
Phase 1 : Die vergangenheitspolitische Abwicklung des Vichy-Terrors durch Rechtsprechung und Justiz (1945–1965)
Die Frage, welche Aufgabe Historiografie und Justiz beim demokratischen Wiederaufbau der französischen Republik spielen sollten, hat sich mit der Befreiung Frankreichs zugespitzt. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als es für die nationale Geschichtsschreibung um die Inszenierung des militärischen Sieges über Deutschland ging, stellte sich die Aufgabe nach 1945 anders dar. Bewältigung und Überwindung des „Sitzkrieges“ (frz. drôle de guerre)25, der militärischen Niederlage und des VichyRegimes waren jene Elemente, die es in die nationale Geschichte zu integrieren galt. Bemerkenswerterweise war es nicht die Historiografie, sondern die Justiz, die die Katalysatorrolle bei der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit übernahm und zum vordringlichen Gedächtnisvektor wurde. Die Gedächtnisarbeit der Justiz verlief im Nachkriegsfrankreich auf zwei Ebenen. Erstens geschah dies über die Kriegsverbrecherprozesse bzw. die öffentliche Inszenierung von politischen Säuberungswellen, die als Ausdruck der neuen Staatsgewalt dargestellt wurden.26 Diese Staatsgewalt kenn24 Vgl. Jean-Pierre Azéma/François Bédarida, Vichy et les Français, Paris 1992. 25 Vgl. Roland Dorgelès, La Drôle de guerre, Paris 1957 26 Vgl. Henry Rousso, L’épuration. Die politische Säuberung in Frankreich, in : Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, 192–240.
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zeichnete sich dadurch, dass sie mit dem Vichy-Regime symbolisch brach und gleichzeitig den Grundstein für den französischen Widerstandsmythos legte. Die zweite Ebene war die Gesetzgebung, die die Arbeit von Historikerinnen und Historikern deutlich erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte und gleichzeitig die vergangenheitspolitischen Vorrechte der Justiz stärkte. Durch die politisch-juristische Einflussnahme auf die Zivil- und Strafrechtsprechung wurden Historikerinnen und Historikern eindeutige Grenzen gesetzt.27 Als Beispiele sind hier das Diffamationsgesetz (Artikel 1382) von 1944, der zivilrechtliche Zusatz des Diffamationsgesetzes Artikel 23 zum Gesetz über die Pressefreiheit von 1881, der „Arrêt Branly“ (1951) und die Amnestiegesetze von 1951 bis 1954 zu nennen.28 In den 1950er-Jahren war es durch das Diffamationsgesetz bei Strafe verboten, über das Privatleben von lebenden Personen zu schreiben, wenn die beschriebenen Sachverhalte nicht mehr als zehn Jahre zurücklagen. Gleichermaßen durften durch die Justiz oder durch den Gesetzgeber amnestierte Ereignisse und Vorkommnisse von Historikerinnen und Historikern nicht behandelt werden. Der „Arrêt Branly“ von 1951 ging noch weiter. Der zweite Teil des Urteilsspruches bezog sich direkt auf die Arbeit von Historikerinnen und Historikern. Diese hatten vier Grundprinzipien unbedingt zu respektieren : das Prinzip der Vorsicht (keine abstrusen und gewagten Thesen), das Prinzip der Umsicht (politisch und sozial verantwortungsvolles Handeln), das Prinzip der Gewissenhaftigkeit (alle bekannten Quellen müssen kritisch ausgeschöpft werden)29 und schlussendlich das Prinzip der wissenschaftlichen Objektivität. Das deklarierte Ziel der Gesetzgebung war es, auf das disziplinäre Selbstverständnis der Historikerinnen und Historiker einzuwirken und vorbeugend gegen „Ignoranz, Spekulation und Negation“ in der Geschichtsschreibung zu wirken. Wichtiger noch als die Absicht, durch eine rigide und „zensurierende“ Jurisprudenz den Gedächtnisdiskurs über die Vichy-Vergangenheit einzuschränken, war der politische Wille, mit dieser Vergangenheit abzuschließen und durch eine gerichtlich gesteuerte Übergangsgeschichtsschreibung den symbolischen Bruch zwischen Vichy und IV. Republik zu inszenieren. Dies bedeutet, dass die universitäre und akademische Historiografie der 1950er-Jahre faktisch von der Historisierung des Vichy-Regimes ausgeschlossen war. Jener Teil der Vichy-Geschichte, der nicht ohnehin unter die Amnestiegesetze von 27 Vgl. Jean-Noël Jeanneney, Le passé dans le prétoire. L’historien, le juge et le journaliste, Paris 1998. 28 Vgl. Vincent Duclert, Histoire, historiens et historiographie de l’Affaire Dreyfus (1894–1997), in : Michel Leymarie (Hg.), Déportation et Génocide. Entre la mémoire et l’oubli, Paris 1992, 151–234.
29 Der französische Historiker Marc Ferro wurde Mitte der 1980er-Jahre wegen unvollständiger Quellenbearbeitung und daher diffamatorischen Ausführungen in seinem Buch über Philippe Pétain verurteilt. Vgl. Marc Ferro, Pétain, Paris 1987.
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1951–1954 fiel, wurde den Historikerinnen und Historikern unzugänglich gemacht, indem sie durch zivil- oder strafrechtliche Regelungen der wissenschaftlichen Behandlung entzogen wurden. Im Hinblick auf die Frage der Vergangenheitsdiskurse scheint jedoch auch ein zweiter Aspekt von Interesse zu sein. Es handelt sich um die rechtliche Definition zweier Begriffe, die später von der Geschichtsschreibung übernommen wurden und mittlerweile zu ihrem Grundvokabular gehören : „Kollaboration“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Der Terminus „Kollaboration“ bezeichnet die aktive Zusammenarbeit von einer oder mehreren Personen französischer Nationalität mit der deutschen Besatzungsmacht. Aus rechtlicher Sicht gilt es, ein wichtiges Detail anzumerken. „Kollaborateure“ verlieren durch die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht ihre vollen Rechte als französische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Durch diesen rechtlichen Kniff wurde dem Vichy-Regime im Nachhinein der rechtliche, politische und historische Anspruch genommen, die Kontinuität des französischen Staatswesens repräsentieren zu können. Vichy, das von Kollaborateurinnen und Kollaborateuren getragen wurde, wurde von der Justiz als Bruch in der historischen Kontinuitätslinie des Staates begriffen, wodurch die Kollaboration aus der Nationalgeschichte ausgeklammert werden konnte.30 Ähnliches gilt für die Definition des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in der Auslegung durch die französische Nachkriegsjustiz. Die juristische Auslegung dieses terminus technicus ist mit einem besonders interessanten Detail versehen. Französischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern kann von Rechts wegen kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angelastet werden.31 Kriegsverbrecherprozesse, bei denen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein Anklagpunkt waren, betrafen deshalb ausschließlich Personen, die sowohl durch ihre Funktion als auch durch ihre Nationalität Teil der deutschen Besatzungsmacht waren und aus juristischer Sicht nicht dem französischen Staat angehörten.32 Damit wurde die bereits angesprochene Tendenz einer Justiz, die durch die Festlegung eines formalen Diskursrahmens einschränkend auf die historiografische Gedächtnisarbeit wirkt, noch verstärkt. Die Möglichkeiten, historisch über Vichy zu arbeiten lagen damit irgendwo zwischen Diffamationsgesetz und Kriegsverbrecherprozessen. 30 Pieter Lagrou, Historiographie de guerre et historiographie du temps présent : cadres institutionnels en Europe occidentale (1945–2000), in : Bulletin du Comité international d’histoire de la deuxième guerre mondiale 30/31 (1999/2000), 191–212. 31 Vgl. Actes du Colloque, Action, mémoire et histoire : les archives des hommes politiques, Palais du Luxembourg 20.–21. Oktober 2006. 32 Vincent Duclert, L’Etat et les historiens, in : Regards sur l’actualité – L’Etat et les mémoires, Paris 2006, 5–15.
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Der dritte Vektor politischer Einflussnahme betrifft die institutionelle Neuordnung der französischen Geschichtsschreibung. Das Ende des Zweiten Weltkrieges machte eine innerdisziplinäre Reorganisation der Geschichtswissenschaften notwendig. Unter der Ägide der provisorischen Staatsregierung wurde noch 1944 die sogenannte CHOLF (Commission d’Histoire de l’Occupation et de la Libération de la France) gegründet.33 Die CHOLF ist eine Historikerkommission, die direkt dem Wissenschaftsministerium unterstellt ist und deren Ziel es war, einerseits die institutionelle Neuordnung der Geschichtswissenschaft zu koordinieren und andererseits die Leitlinien für eine Zeitgeschichtsforschung auszuarbeiten, deren Hauptaufgabe die Historisierung der Besatzungszeit sein sollte. Es scheint, als hätte sich das Präsidium der CHOLF, das namentlich aus Ernest Labrousse, Edouard Perroy, Henri Michel, Georges Lefebvre und Pierre Renouvin bestand, einen Ausspruch de Gaulles zur Maxime gemacht : „Die Republik hat nie aufgehört zu existieren. Das freie Frankreich, das Frankreich des Widerstandes, das Frankreich der Befreiungsfront waren nacheinander Ausdruck dieses Weiterbestehens. Vichy hingegen gibt es nicht.“34 Die Historikerkommission nahm dieses Zitat wörtlich und konzentrierte ihre Arbeit hauptsächlich auf die Historisierung des französischen Widerstandes. Fragen wie etwa jene der französischen Milizen, der Unterstützung für Vichy durch breite Teile der Bevölkerung oder die Rolle der französischen Polizei bei der Verfolgung der Jüdinnen und Juden waren hingegen nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit. Die CHOLF sah sich als wissenschaftliche Stütze des nationalen Wiederaufbaus, und die Historikerinnen und Historiker arbeiteten mit opportunistischer Beflissenheit im rigiden Rahmen, der ihnen von Politik und Justiz gesetzt worden war.35 Die Erinnerungskultur der 1950er-Jahre bildete sich unter starker politischer Einflussnahme innerhalb eines Dreiecks aus rechtlicher Normierung, politischer Mythenbildung und geschichtswissenschaftlichem Opportunismus heraus. Die Ausklammerung Vichys von der republikanischen Geschichte geschah fast ohne Widerstand. In dieser Hinsicht war die Gedächtnisgeschichte eindeutig eine Nationalgeschichte. Die Uniformierung der Erinnerungsdiskurse über Vichy und den Zweiten Weltkrieg wurde von einer Geschichtswissenschaft betrieben, der ein gesetzlich und politisch verordneter Maulkorb verpasst wurde, woran sie sich jedoch wenig stieß. Es scheint, als wäre das Interesse an Antisemitismus, staatlichem Terror und am Nachleben des 33 Vgl. Thomas Ribemont, L’expertise historienne dans la France contemporaine – La fonction politique de l’histoire en question, Paris 2006.
34 Charles de Gaulle, Mémoires de guerre, Paris 1956, 308. Auszug aus dem Diskurs vom 25. August 1944. Originalzitat : „La République n’a jamais cessé d’être. La France libre, la France combattante, le Comité fran çais de Libération nationale l’ont incarné à tour de rôle. Vichy reste inexistante.“ 35 Vgl. Olivier Dumoulin, Le rôle social de l’historien – De la chaire au prétoire. Paris 2003.
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Krieges in Form der Erinnerung an die großen Massaker nur gering gewesen. Die so eingerichtete Tabuzone der Geschichte betraf nicht nur einen Teil der Geschichte, sondern vor allen Dingen die Konfrontation mit der Schuldfrage.
Phase 2 : Recodierung der nationalen Erinnerungsdiskurse – Justiz und Geschichte im Streit um die Interpretationshoheit (1965–1985)
Auch wenn der Zweite Weltkrieg in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten einen relativ großen geschichtlichen Stellenwert einnahm, war ein umfassender Blick auf Vichy doch unmöglich. Diese Phase des offiziellen Schweigens nahm Mitte der 1960er-Jahre ein vorläufiges Ende. Interessanterweise kam der Anstoß für die geschichtswissenschaftliche Neuausrichtung vonseiten der Justiz. Es waren nämlich jene Amnestiegesetze (1951/54), die zunächst zur Tabuisierung der Vergangenheit dienten, die nun zehn Jahre später eine Phase der Öffnung einleiteten. Die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung befürchteten 1964, dass ehemalige Nationalsozialisten, die im besetzten Frankreich Kriegsverbrechen begangen hatten, weiterhin einer Verurteilung entgehen würden, sollte das zu dieser Zeit in der Bundesrepublik diskutierte Verjährungsgesetz in Kraft treten.36 Als bekanntes Beispiel wurde immer wieder der Name Klaus Barbie genannt, der als Chef des Sicherheitsdienstes in Lyon direkt an der Exekution von zahlreichen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern, darunter Jean Moulin, beteiligt war. Deshalb fiel der Entschluss zu einem Gesetz über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen.37 Ohne dass sich die gesetzgebende Instanz über die Konsequenzen dieses Gesetzes vollständig bewusst gewesen wäre, sollte es wenige Jahre später wesentliche Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung haben. Auf die Unverjährbarkeitsklausel wurde ab den 1970er-Jahren von einer Generation von Akteurinnen und Akteuren zurückgegriffen, die nicht mehr an der ursprünglichen Ausarbeitung des Gesetzestextes beteiligt war und auch nicht mehr der Kriegsgeneration angehörte. Das vergangenheitspolitische und kulturelle Verständnis dieser Generation stellte nicht mehr die innerfranzösische Versöhnung in den Mittelpunkt, sondern machte keinen Unterschied mehr zwischen der Frage, ob ein 36 Claudia Moisel, Résistance und Repressalien : Die Kriegsverbrecherprozesse in der französischen Zone und in Frankreich, in : Norbert Frei (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik : Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006. 37 Gesetz vom 26. Dezember 1964 (veröffentlicht in : Journal officiel vom 29. Dezember 1964).
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Verbrechen von französischen oder deutschen Staatsangehörigen begangen wurde.38 Kriegsverbrechen sollten unvergessen bleiben, unabhängig von der Nationalität der vermeintlichen Täterinnen und Tätern. Das Gesetz vom Dezember 1964 über die Unverjährbarkeit bewirkte zunächst eine Erweiterung der Definition des Täters/der Täterin. Auch Französinnen und Franzosen wurden potenziell als Kriegsverbrecherinnen und Kriegsverbrecher gesehen. Weiters kam es durch das Unverjährbarkeitsgesetz zu einer Revision des Schuldbegriffs. Die Schuld an Kriegsverbrechen wurde nicht mehr als deutsche Kollektivschuld wahrgenommen, sondern als Individualschuld, die mit dem Tod der Akteurinnen und Akteure erlischt. Die Unverjährbarkeit erlischt mit dem Ableben der Täterinnen und Täter.39 Der generationsspezifische Aspekt trat hier ganz offen hervor. Es war die 68er-Generation, die der Kriegsgeneration den Prozess machte, und zwar unabhängig von etwaigen nationalen Präferenzen oder patriotischen Überlegungen.40 Eine dritte Konsequenz des Unverjährbarkeitsgesetzes war die Einführung neuer Opferkategorien. Aus vielleicht gesellschaftspolitischen Gründen41 wurde in den Gerichtsverfahren der 1970er-Jahre das Hauptaugenmerk auf die Judendeportation gelegt, nicht mehr aber – und das ist die entscheidende Wende in der Wahrnehmung – die an „Widerstandskämpfern“ begangenen Kriegsverbrechen.42 In dieser Hinsicht spiegelt der Papon-Prozess von 1981 in geradezu exemplarischer Weise die geänderten Rahmenbedingungen der Formierung gesellschaftlicher Erinnerungsdiskurse wider. Die Figur Maurice Papons steht für eine geschichtspolitische Wende. Maurice Papon, später auch René Bousquet, Paul Touvier, Jean Leguay und Maurice Sabatier sind allesamt Franzosen, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Vergehen gegen das Kriegsrecht angeklagt wurden. Sabatier, Bousquet und Leguay verstarben allerdings vor dem Ende der offiziellen Ermittlungsverfahren. Der Fall Papon ist jedoch nicht nur interessant, weil es sich erstmals um einen Franzosen handelte, der angeklagt wurde, sondern auch, weil mit Papon ein hoher Staatsbeamter auf der Anklagebank saß. Zuerst Generalsekretär der Gironde ab 1942 und dortiger Leiter der Abteilung für Judenfragen, wurde Papon 1945 ins 38 Vgl. Eric Conan/Henry Rousso, Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris 1996, 74–123. 39 Vgl. Vladimir Jankélévitch, L’imprescriptible, Paris 1998. 40 Vgl. Jean-Clément Martin, La démarche historique face à la vérité judiciaire – Juges et historiens, in : Droit & Société 38 (1998), 1–4.
41 Die Kriegsverbrechen, die von der französischen Armee während des Algerienkrieges begangen wurden, waren damals noch weitgehend Tabuthema. Es könnte sein, dass die vordringliche Beschäftigung mit der Judendeportation unter Vichy ein probates Mittel war, um diesen zweiten Problembereich der französischen Nationalgeschichte zu verdecken. 42 Vgl. Henry Rousso, Histoire et mémoire des années noires, Paris 2000.
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Innenministerium berufen, um schließlich 1958 zum Präfekten von Paris ernannt zu werden.43 Die Anklage gegen den wenig einsichtigen Papon stellt in diesem Punkt einen entscheidenden Bruch mit der bis dahin vorherrschenden Erinnerungskultur dar, da zum ersten Mal das Verhalten französischer Verwaltungseliten während der Vichy-Zeit Gegenstand einer juristischen, aber auch historischen Untersuchung wurde. Der Fall Papon war diesbezüglich ein Katalysator, eine Art Abrechnung mit der gaullistischen Geschichtskonzeption der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Unterstreichen der Kontinuität zwischen Vichy und der Nachkriegsrepublik stellte nicht nur einen historiografischen Paradigmenwechsel dar, auch die politischen Folgen spiegelten die veränderten Rahmenbedingungen wider. Die Republik sah sich plötzlich in die Verantwortung genommen, für die Opfer des Vichy-Regimes Anerkennungs- bzw. Entschädigungsleistungen zu erbringen.44 Auch wurde das Thema des staatlichen Antisemitismus bzw. des institutionell verordneten Terrors plötzlich Gegenstand tagespolitischer Auseinandersetzungen. Darüber hinaus war der PaponProzess von einer semantischen Weiterentwicklung gekennzeichnet. Plötzlich war von einer zweiten „Säuberungswelle“ die Rede. Von ihrem Ausmaß her war natürlich keinerlei Vergleichsbasis mit den „Säuberungen“ der unmittelbaren Nachkriegszeit gegeben, als rund 130.000 Prozesse geführt und 1.500 Todesurteile vollstreckt wurden. Unterstrich die erste Säuberungswelle noch die Selbstgerechtigkeit der neuen Republik, war diese zweite Welle jedoch von einem vorwiegend juristischen und historiografischen Interesse getragen, die längst fällige Aufarbeitung der problematisch gewordenen nationalen Vergangenheit voranzutreiben. Das geschichtswissenschaftliche Vokabular „Säuberung“, aber auch „Terror“ bzw. „Staatsterror“ stammt aus der historiografischen Verwertung der Kollaborationsliteratur der späten 1960er-Jahre, die nun fast zwanzig Jahre später stattfand. Dabei handelte es sich um Autorinnen und Autoren wie Marie Chaix (Les lauriers du lac de Constance : Chronique d’une collaboration), Jean-Luc Maence (L’ombre d’un père) oder Evelyne le Garrec (La rive allemande de ma mémoire), die von Historikerinnen und Historikern in wissenschaftlichen Arbeiten über Vichy besprochen und selbst vor Gericht als schlagendes Beispiel zitiert wurden.45 Die literarische Erzählform wurde hier Gegenstand eines historiografischen Diskurses über Papon und Vichy und damit Teil eines vor Gericht produzierten Erinnerungsdiskurses. In dieser Hinsicht war der Papon-Prozess ein entscheidender Beitrag zur Aufhebung des sakrosankten Status des französischen Staates, dessen Identität über weite 43 Vgl. Marc Olivier Baruch, Procès Papon : impressions d’audience, in : le débat 102 (1998), 11–16. 44 Vgl. Jean-Michel Chaumont, La concurrence des victimes – Génocide, identité, reconnaissance, Paris 2002. 45 Vgl. Eric Conan, Le Procès Papon. Un journal d’audience, Paris 1998.
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Strecken an der selektiven Inszenierung nationalen Heldentums hing. Die homogenisierte Erinnerungskultur der 1950er- und 1960er-Jahre wurde durch eine konflikt reichere ersetzt. Ein letzter bemerkenswerter Aspekt des Falles Papon ist jener der strafrechtlichen Antragsteller. Der Strafantrag auf Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde nämlich nicht von staatlicher Seite gestellt, sondern von ehemaligen Widerstandskämpfern und Verbänden von Zwangsdeportierten. Der Papon-Prozess ging auf zivilgesellschaftliche Initiativen zurück und war nicht das Resultat zielstrebiger staatlicher Ermittlungen. In diesem Sinn markierte der Prozess den Vorgang einer Verselbständigung der französischen Gesellschaft im Verhältnis zu staatlich verordneten Geschichtsvorstellungen, und er bedeutete gleichzeitig eine Fragmentierung der Erinnerungs- bzw. Gedächtnistraditionen. Mit Papon änderte sich der Blick auf die Nationalgeschichte. Die Betrachtung von Antisemitismus, Staatsterror und Judenverfolgung als unmittelbare Folgen der Besatzung Frankreichs und der Kollaboration des französischen Staats- und Verwaltungsapparates müssen als entscheidende Wende verstanden werden. In diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle der Geschichtswissenschaft einer eingehenden Neuausrichtung unterworfen. Historikerinnen und Historiker sahen sich in ihrer sozialen Rolle als zentrale Akteurinnen und Akteure der Erinnerungskultur von mehreren Seiten her eingeschränkt. Zunächst waren sie den formalisierten Zwängen der Gerichtspraxis ausgesetzt. Hiermit sind die bereits angesprochene Oralität der Zeugenaussage und die Schwierigkeiten eines auf das strikte Minimum reduzierten Expertentums gemeint.46 Mit dem Fall Papon kam ein weiterer Aspekt ins Spiel : jener der Konkurrenz, die zwischen den Historikerinnen und Historikern einerseits und der Zivilgesellschaft andererseits entsteht. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wurden im Papon-Prozess zusammen mit den Historikerinnen und Historikern und ihnen ebenbürtig als Erinnerungsträgerinnen und Erinnerungsträger anerkannt. Die zunehmende Tendenz zur Aufarbeitung traumatischer Ereignisse hat sich demnach mit dem Fall Papon in ein Mehrebenensystem verwandelt. Aus einer einfachen Systemkonkurrenz (siehe oben) wurde zumindest eine doppelte. Vor diesem Hintergrund trat eine Tendenz hervor, die die Neuorientierung der Erinnerungsdiskurse in den 1990er-Jahren kennzeichnete. Papon und die Historisierung des Vichy-Terrors machten den Weg frei für die Entstehung von synchronen „Historitätsregimen“ (régimes d’historicité), die der Aufarbeitung von anderen Tabuzonen der französischen Geschichtsschreibung gewidmet waren.47 Tabuzonen, 46 Vgl. Pierrette Poncela, Les experts sont formels, in : Pouvoirs 55 (1990), 95–106. 47 Vgl. François Hartog, L’historien et la conjoncture historiographique, in : le débat 102 (1998), 4–10.
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die eine Geschichte verdeckten, die nur indirekt mit dem Vichy-Komplex in Zusammenhang steht. Zusammenfassend könnte man hier die Aufarbeitung des Algerienkrieges, der französischen Kolonialzeit in Afrika, der Geschichte der Sklaverei und der Armenierfrage nennen.48
Phase 3 : Fragmentierung der Erinnerung und Politisierung der Geschichte (1985–2010)
Stellt man die gesellschaftspolitische Bedeutung des Prozesses gegen Papon in Rechnung, dann war die Rolle, die Historikerinnen und Historiker bei der Aufarbeitung der Vergangenheit im Gerichtssaal spielten, eine zwiespältige. Die Vorladung von Historikerinnen und Historikern in ihre Funktion als Zeuginnen und Zeugen hat das traditionelle Selbstverständnis der Historiografie als Disziplin infrage gestellt. „Am Ende hat“, so schreibt Henry Rousso, „diese Art von Expertise mehr dazu gedient, den vermeintlichen historischen Charakter des Prozesses zu veranschaulichen, als den Gerichtshof über präzise Fragen aufzuklären.“49 Die konfliktreichen Debatten über den Status der Geschichte vor Gericht, die sich im Anschluss an die Papon- und Touvier-Prozesse50 entwickelt hatten, führten schließlich zu einer Verlagerung der historiografischen Expertise in den Bereich der Politik und zu einer strikten Vermeidung von Schwurgerichtsverfahren im Rahmen von Kriegsverbrecherprozessen aufseiten der Historikerinnen und Historiker. Der sukzessive Rückzug der Geschichtswissenschaften aus dem Bereich der Justiz war jedoch nicht vollständig. Mit der Vervielfachung der Geschichtsakteurinnen und ‑akteure und der Fragmentierung der Erinnerungserzählungen im Zuge des Papon-Prozesses entstand ein Randphänomen, durch das die Historikerinnen und Historiker – trotz aller Zurückhaltung – wieder in den Gerichtssaal zurückgebracht wurden. Es handelt sich um die Negationisten-Prozesse51, die zeitgleich mit dem Fall Papon einsetzten und bis heute in regelmäßigen Abständen die französische Öffentlichkeit beschäftigen. Im Hinblick auf die Prozesse gegen den französischen Negationisten Robert Faurisson können einige Punkte herausgearbeitet werden, die auf eine neuerliche Weiterentwicklung des Verhältnisses von Justiz und Geschichte und damit auf eine weitere Veränderung der Erinnerungslandschaft hindeuten. 48 Vgl. Catherine Coquery-Vidrovitch, Enjeux politiques de l’histoire coloniale, 2009. 49 Rousso, Justiz, 161. 50 Vgl. René Rémond u. a., Paul Touvier et l’Eglise, Paris 1992. 51 Henry Rousso sieht sich als Wortschöpfer des Ausdrucks Negationismus, den er vom Geschichtsrevisionismus unterscheidet. Für eine eingehende Begriffserklärung siehe Rousso, Justiz.
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Im ersten Prozess gegen Faurisson, der 1981 zeitgleich mit der Anklageerhebung gegen Papon stattfand, ging es um die Wissenschaftlichkeit und damit um den Wahrheitsanspruch der Schriften Faurissons.52 Letzterer war in den 1980er- und 1990er-Jahren an der Universität Lyon II und im CNRS (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung) tätig, allerdings nicht als qualifizierter53 Historiker. Als Zeugen gegen Faurisson wurden namhafte französische Historikerinnen und Historiker vorgeladen, die dahingehend befragt wurden, ob Faurisson eine Geschichtslüge verbreite oder nicht. Zentrales Element des Prozesses war es, das Faktum der Lüge bzw. jenes der Wahrheit zu verhandeln. Es wurde im Grunde ein Urteil über die Wahrhaftigkeit der vorliegenden Geschichtserzählung getroffen. Mit der Verurteilung Faurissons wurde ein moralisches Urteil getroffen, gleichzeitig aber auch die Integrität und Legitimität der offiziellen Geschichtserzählungen wiederhergestellt. Es war hier die Justiz, die als Korrektiv intervenierte und die Gültigkeit eines mehr oder weniger normierten historiografischen Erinnerungsdiskurses unterstrich, diesen also mit rechtlichen Mitteln gegen den sogenannten „Geschichtsfälscher“ Faurisson durchsetzte. Vergleicht man diesen ersten Prozess gegen Faurisson mit dem letzten im Jahr 2007, kann eine interessante Entwicklung festgestellt werden. Im Jahr 2007 fand ein vielbeachteter Zivilprozess zwischen Robert Badinter, ehemaliger französischer Justizminister und Senator, und wiederum Robert Faurisson statt. Badinter nannte Faurisson öffentlich einen „Geschichtsfälscher“, woraufhin dieser Badinter wegen Ehrenbeleidigung verklagte.54 Interessant ist, dass sowohl der Richter als auch der Verteidiger und die als Zeugen vorgeladenen Historikerinnen und Historiker sich weigerten, über die geschichtliche Faktenlage zu diskutieren. Offensichtlich war den einzelnen Akteurinnen und Akteuren – ausgenommen Faurisson – nicht mehr daran gelegen, den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu verhandeln, sondern das Problem des Negationismus anders zu lösen. Der Richter wollte festgestellt wissen, ob Robert Faurisson Historiker sei oder nicht.55 Faurisson den Titel „Historiker“ abzusprechen, war eine Möglichkeit, seine Schriften und Aussagen als unwissenschaftlich und damit rein rechtlich als Geschichtsfälschungen zu qualifizieren. Sämtliche Aussagen, die von den vorgeladenen Historikerinnen und Histo52 Vgl. Pierre Vidal-Naquet, Les assassins de la mémoire – Un Eichmann de papier et autres essais sur le révisionisme, Paris 1987.
53 In Frankreich benötigt jeder Kandidat für einen Dozentenposten eine Qualifikation durch das CNU (Conseil National des Universités), damit er sich überhaupt für eine Stelle bewerben darf. Die Qualifikationen werden für jede Disziplin gesondert vergeben. Einem Anthropologen wird es beispielsweise kaum gelingen, eine Qualifikation in Geschichte zu erhalten und umgekehrt. 54 Vgl. Bernard Jouanneau, La Justice et l’Histoire face au négationnisme, Paris 2008. 55 Ebd.
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rikern gemacht wurden, gingen in diese Richtung. Es galt festzustellen, ob Faurisson in seinen Arbeiten den methodischen Anforderungen der Geschichtswissenschaften gerecht wurde. Auch wenn der Urteilsspruch nur wenig überraschend zugunsten Badinters ausfiel, sind die Konsequenzen des Prozesses für die Geschichtswissenschaft schwerwiegend, da die Qualifizierung (Wahrsprechung) einer historiografischen Erzählung nicht mehr über eine primäre Bewertung des Inhaltes (des Ausgesagten) stattfand, sondern von der Berücksichtigung formeller Kriterien abhängig gemacht wurde. Es war somit die Methode, die Geschichtswahrheit schafft, und nicht mehr die Aushandlung von Geschichtsinhalten zwischen mehreren Akteurinnen und Akteuren. Die Legitimität der Erinnerungserzählung (Wahrheitsstatus) hing von der Authentizität der Prozedur ab. Das Problem hierbei ist, dass diese Entwicklung wohl als Zeichen für eine zunehmende Politisierung der Geschichtsschreibung gelesen werden kann.
Michael Loebenstein
Zu Rithy Panhs Dokumentarfilm S 21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer
In meiner Auseinandersetzung mit einem spezifischen Erinnerungsmodus, den Rithy Panhs Dokumentarfilm S 21 (Frankreich/Kambodscha 2003) bemüht, möchte ich auf eine grundlegende Debatte hinweisen, die sich seit den 1920er-Jahren im Bereich des Dokumentarfilms entfaltet hat. Die Rede ist von dem, was der britische Dokumentarfilmer und Aktivist John Grierson 1933 in Abgrenzung zu den Formaten der Aktualität (also den frühesten Formen nicht fiktionaler filmischer Berichte), der Reportage und der Wochenschau als den „eigentlichen“, den „realistischen Dokumentarfilm“ zu definieren versuchte : „Im Bereich des eigentlichen Dokumentarfilms kommen wir von ungeschminkten (oder erdichteten) Beschreibungen von naturgegebenen Stoffen zu bestimmten Zusammenstellungen, Anordnungen und schöpferischen Gestaltungen dieser Stoffe.“1 Daraus leitet sich das viel zitierte Grierson’sche Diktum vom Dokumentarfilm als „gestalteter Wirklichkeit“ (englisch : „the creative treatment of actuality“) ab – das einer Abkehr vom Paradigma der reinen Reproduktion des Geschehenen/Aufgezeichneten – also der Wiedergabe vergangener Ereignisse – und der Hinwendung zu einer Definition des „Dokumentarischen“ als einer Repräsentation von Erfahrung gleichkommt. Diese Debatte – und hier verkürze ich die vielfältigen Beiträge dazu auf eine Kernthese – intensivierte sich ab 1945 angesichts der filmischen Zeugnisse von der Befreiung der Konzentrationslager. Der Dokumentencharakter des Filmbildes wird prekär – die Bilder der „Vernichtung“ (als Beweismittel erstmals im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eingesetzt) sind Bilder von der Befreiung bzw. Exkavationen der Spuren der Gräueltaten. Vom Akt der Vernichtung selbst existieren keine Filmaufnahmen.2 Zugleich nimmt die Debatte moralischen Charakter an, wie auch die Kontroverse über Georges Didi Hubermans „Bilder trotz allem“ zeigt : Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren, also eine „realistische“ Repräsentation der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, würde eine Entstellung des Ereignisses bedeuten. 1 John Grierson, Grundsätze des Dokumentarfilms (1933), in : Eva Hohenberger (Hg.), Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 2000, 100–113. 2 Vgl. dazu Toby Haggith, Filming the liberation of Bergen-Belsen, in : Toby Haggith/Joanna Newman (Hg.), Holocaust and the moving image. Representations in film and television since 1933, London 2005, 33ff.
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In diesem Zusammenhang sei nur in Kürze auf die stilbildenden Filme dieser erzählerischen Wende hingewiesen : Alan Resnais Nuit et brouillard (1955), sowie Claude Lanzmanns Shoa (1985). Resnais hinterfragt und kontrastiert die Archivbilder mit einer poetischen Tonspur sowie Farbfilmaufnahmen menschenleerer Landschaften und der Leere der Lager, Lanzmann verzichtet zur Gänze auf Archivaufnahmen und stellt Interviews und lang ausgespielte Berichte an ihre Stelle. S 21, ein dokumentarischer Film des Exil-Kambodschaners Rithy Panh über das Folterlager Tuol Sleng, präsentiert den Ort des Terrors als archäologische Grabungsstätte und als „szenisches Labor“ – als Akkumulation audiovisueller Eindrücke und Artefakte, aus denen im Lauf eines Filmes von den Protagonisten mittels Reenacment, also dem szenischen „Nach-Stellen“ von Situationen im Dialog, wieder Geschichte(n) „gebaut“ werden. Doch weshalb greift Panh auf diese poetischen Verfahren zurück ? Ein Grund dafür ist ein pragmatischer : Es existieren weder Filmaufnahmen aus dem Lager noch von den Killing Fields. Panhs Film stellt zu Beginn die einzige Amateuraufnahme des verwaisten Phnom Penh im Frühjahr 1975 sowie einen Ausschnitt aus einem Propagandafilm über Agrararbeit der Khmer Rouge unkommentiert voran – ein poetisches Verfahren in der Tradition von Alain Resnais Nuit et brouillard, welches auf den „Abstand“ zwischen dem existierenden Bildergedächtnis (in diesem Fall die ephemeren Bilder eines Amateurs sowie die Propaganda des Regimes) und den „blinden Fleck“ (die Verbrechen des Regimes, von denen keine Aufnahmen existieren) verweist. Das Fehlen jedweder Aufnahmen des Ereignisses des Genozids bedeutet aber nicht, dass es keine visuellen Artefakte bzw. visuellen Darstellungen der Verbrechen gibt. Es ist eine künstlerische Entscheidung des Filmemachers, den epistemologischen Wert jener Bildzeugnisse – Fotografien der Insassen des Tötungslagers sowie aus der Erinnerung hergestellte Malereien eines Überlebenden, von denen später die Rede sein wird –, ihren Evidenzcharakter, der in journalistischen Formaten wie dem Geschichtsfernsehen tendenziell nie infrage gestellt wird, zu problematisieren. Doch mit welchem film- und medienwissenschaftlichen Theorieansatz lässt sich Panhs Arbeitsweise beschreiben ? In meinem Verständnis trägt die organisierte Folterung und Tötung durch die „Maschine“ der Khmer Rouge in Panhs Film alle Kennzeichen dessen, was Thomas Elsaesser als „traumatischen Modus“ bezeichnete. Elsaessers Definition des Traumas als einer erzählerischen Trope versucht, Fragen von Erinnerung und Gedächtnis sowie einer Krise des Indexikalischen zu begegnen. Trauma definiert sich in Elsaessers Lesart durch ein Moment der Latenz, also eine Verzögerung, einen Abstand zwischen einem Ereignis und seiner traumatischen Wiederkehr. Latenz impliziert den Zusammenbruch von linearer Zeit und Kausalität
Zu Rithy Panhs Dokumentarfilm S 21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer
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– das kausale Verhältnis zwischen Ursache und Effekt kollabiert, die (abwesende) Vergangenheit und ihre (präsente) Performanz in der traumatischen Erinnerung fallen zusammen. Letztere gründet sich im Bedürfnis des Individuums, ein vergangenes Ereignis (affektiv) heraufzurufen, um ein latentes Wissen zu legitimieren : „To invoke – or to invent – an origin or absent cause in order to explain how one knows what one knows.“3 Trauma ist, so Elsaesser, eine „spurlose Spur“ – das Fehlen manifester Zeichen des traumatischen Ereignisses ist paradoxerweise der deutlichste Hinweis auf die Präsenz des Traumas. Elsaessers Konzept des Traumas ist, das soll noch einmal betont werden, kein individualpsychologisches, sondern ein medienwissenschaftliches Konzept : Es rekurriert auf die Trennung zwischen Repräsentation und ihrer materiellen Evidenzgrundlage, die Elsaesser als signifikant für zeitgenössische audiovisuelle Formate erachtet. Trauma, Trauerarbeit, der „Krieg im Kopf“ (so der deutsche Fernsehtitel von Heddy Honigmanns wegweisendem Film Crazy von 1999) sind wohl tatsächlich zum Leitterminus einer Erinnerungskultur geworden, die wie nie zuvor Spuren „authentischer“ Erfahrung aufzuzeichnen und zu bewahren trachtet. Zum anderen jedoch sind es gerade diese hegemonialen Erzählformen, die auf die machtvolle Inkongruenz zwischen entrückter Erfahrung und ihrer Repräsentation in den Vergegenwärtigungsmaschinen des Kinos und des Fernsehens hinweisen. Wenn der Krieg eine „wandernde Entität“ ist – räumlich und zeitlich entgrenzt4 –, dann nimmt es wenig Wunder, dass der europäische Dokumentarfilm ihn bereits seit geraumer Zeit dort festzumachen versucht, wo man ihn am wenigsten zu finden wünscht – in den Köpfen der Heimkehrer und Überlebenden, im Zentrum der Zivilgesellschaft. Als eine Art „sprechende Leerstelle“ findet jenes Kriegsgeschehen, das sich seit den 1950er-Jahren in 3 Thomas Elsaesser, Postmodernism as mourning work, in : Screen 42 (2) (2001), 198 4 Den Begriff entlehne ich Debatten auf dem von Drehli Robnik und Siegfried Mattl für die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte organisierten Symposion „Kamera-Kriege : Moderne Kriegsführung und filmische Gedächtnispolitik“ (Juni 2003, Kunsthalle Wien ; siehe dazu : http ://www.nach demfilm.de/content/no-7-kamera-kriege)
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der sogenannten „Dritten Welt“ bzw. an den Rändern der „Ersten Welt“ abspielt, in der Form des traumatischen Zeugenberichts Eingang in eine europäische bzw. nordamerikanische Erinnerungskultur. S 21 trägt dem insofern Rechnung, als der Film den Bildcharakter der Zeugnisse des Terrors der Khmer Rouge explizit macht und ihre Funktion innerhalb eines Erinnerungsdiskurses hervorhebt. Anfangs führt der Film seinen Protagonisten, den Maler und Lagerüberlebenden Vann Nath, über eine Plansequenz vor der Staffelei ein. Während Nath auf der Tonspur von seiner Verhaftung, dem Transport und der Einlieferung in das Lager Tual Sleng erzählt, unternimmt die Kamera eine Vermessung jenes Ölbilds, mit dem der Maler das Ereignis darstellt. Die Malerei Vann Naths wird – wie als Gegenüber zum machtvollen Diskurs der Stimme – nicht als abgeschlossenes Bild, sondern als Unvollständiges präsentiert. Die Kamera montiert ohne Schnitt über Schwenks, Zooms, Details ; zudem sind Schilderung und Abbildung widersprüchlich : Vann Nath schildert ein Ereignis, das er – gefesselt und mit verbundenen Augen – allein auditiv und taktil erlebt hat. Das Bild zeigt jedoch eine Außenperspektive, objektiviert das Erleben des Zeugen mittels der Totale auf die Häftlingsgruppe. Die zweite Sequenz, auf die ich eingehen möchte, findet sich nach der Exposition des Protagonisten Vann Nath und leitet vom Opferdiskurs über zu einer Auseinandersetzung mit den Tätern. Panh und sein diegetischer Stellvertreter Vann Nath lassen die ehemaligen Wärter des Lagers buchstäblich ihre alten Rollen nachspielen : Ein gespenstisches Schauspiel ist die Folge, in dem Körpersprache, Gestik, die ganze Mechanik der Wiederholung unglaublich präzise zu vergegenwärtigen vermögen, was sonst in Form des Geständnisses oder der Beichte rationalisiert wird. In History-TVFormaten – zu erwähnen sind hier die stilbildenden Formate von Ken Burns (wie The Civil War, 1990, oder The War, 2007, beide für den US-Sender PBS) und Guido Knopp (ZDF History) – wird die Erzählung für gewöhnlich vom Ort des Geschehens entkoppelt und konzentriert sich die Kamera in Halbnah-Einstellungen ganz auf die Mimik der ZeugInnen. Das räumliche Setting (eine „Black Box“ – schwarzer, neutraler Hintergrund) trägt zu einer Objektivierung der Rede bei und beraubt das Bild jeder Möglichkeit einer räumlichen oder zeitlichen Verortung. Ganz im Unterschied dazu führt Rithy Panhs Film Opfer und Täter an einem Ort zusammen, der dann zur „Bühne“ einer Serie von Re-enactments von Handlungen wird, die den Arbeitsalltag im Lager darstellen. Im Jargon der Filmproduktion bezeichnet das aus der „Living History“ bzw. Praktiken der experimentellen Archäologie stammende Verfahren des Re-enactment das szenische Nachstellen vergangener Ereignisse. Panhs Verfahren wird hier in hohem Maße szenisch – er montiert nie parallel, sondern lässt seine Protagonisten in ungeschnittenen Totalen bzw. Plansequenzen
Zu Rithy Panhs Dokumentarfilm S 21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer
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auftreten. Sie beginnen zu sprechen, arbeiten sich durch einen Ablauf von Tätigkeiten (beispielsweise ein Verhör, das Verfassen eines Tagesberichts oder das Wegbringen und die Ermordung von Gefangenen), um dann die Szene (auch räumlich gedacht) wieder zu verlassen. Auch im Fehlen von Interviews unterscheidet sich Panhs Filmarbeit ganz deutlich von Claude Lanzmanns oder Marcel Ophüls Ansatz ; in der Tradition des „Direct Cinema“ lässt er seine Protagonisten weniger Auskunft geben als vielmehr auf Milieu und Situation reagieren. Ein anderes erzählerisches Verfahren von S 21 steht jedoch in der Tradition der genannten Filmemacher – die narrativen Übergänge zwischen den verschiedenen Stationen des Lagerterrors werden durch überwiegend statische, dialoglose Aufnahmen von Relikten des Lagerlebens hergestellt. Die Kamera fängt Stapel von Dokumenten ein, Zeugnisse der hochdiffizilen Befragungs- und Geständnispraxis des Lagers ; sie kadriert leere Räume und Gänge und fokussiert auf Fotos der Ermordeten, die 2003 zum Teil auf Stellwänden angebracht Objekte einer Gedenkstätte auf dem Areal geworden sind. Wie Vann Naths Malerei sind auch diese Zeugnisse dekontextualisiert ; Panhs Film agiert mit ihrer Reproduktion in einer Weise, die auf die Paradoxa archäologischer Museumsarbeit verweist5. Die Archäologie stellt, so Hedley Swain, die Aussagekraft ihrer Zeugnisse über den Bezug zur Fundstelle/Ausgrabungsstelle her, das Fundstück erhält seinen Wert über die Relation zu anderen Fundstücken in situ. Demgegenüber dekontextualisiert das Museum die Artefakte, rekonstruiert eine Vergangenheit über ein neuartiges Arrangement, stellt Bezüge über ein anderes Dispositiv – jenes der Ausstellung – her.6 Ich denke, dass S 21 hierin Archäologie im Sinne jener Verschiebung betreibt, die Michel Foucault in Archäologie des Wissens für die Geschichtswissenschaft postuliert hat : Das Artefakt ist nicht mehr bloß als die Stimme einer zum Schweigen 5 Vgl. Hedley Swain, An introduction to museum archeology, Cambridge 2007. 6 Ebd.
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gebrachten Vergangenheit, als entzifferbare Spur zu interpretieren. Vielmehr gilt es, die Vergangenheit als komplexes Gewebe von Sachverhalten, Erwartungshorizonten und Handlungen wahrzunehmen. War das Dokument dem Historiker/der Historikerin wichtig, sofern es über etwas anderes berichtete, als es selbst war, (beispielsweise die Berichte der Verhöre, die in S 21 eine große Rolle spielen und szenisch rezitiert werden), so wird für Foucault nun der scheinbar unbedeutende Rest zur Grundlage der Beurteilung einer Quelle : welcher Sprache sie sich bedient, welche singulären oder generellen Praktiken zu ihrer Herstellung beigetragen haben : „Das Dokument ist […] für die Geschichte nicht mehr jene untätige Materie, durch die hindurch sie das zu rekonstruieren versucht, was die Menschen gesagt oder getan haben, was Vergangenheit ist und wovon nur die Spur bleibt : sie sucht nach der Bestimmung von Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst […]. Um der Kürze willen sagen wir also, dass die Geschichte in ihrer traditionellen Form es unternahm, die Monumente der Vergangenheit zu ‚memorisieren‘, sie in Dokumente zu transformieren und diese Spuren sprechen zu lassen, die an sich oft nicht sprachlicher Natur sind oder insgeheim etwas anderes sagen, als sie sagen ; heutzutage ist die Geschichte das, was die Dokumente in Monumente transformiert und was […] eine Masse von Elementen entfaltet, die es zu isolieren, zu gruppieren, passend werden zu lassen, in Beziehung zu setzen und als Gesamtheiten zu konstituieren gilt.“7 Foucault beschreibt diese Operationen als Produktion von „Serien von Serien“, als „Tableaus“ (und nimmt in einer Fußnote aufs Kino Bezug8). S 21 baut sich dramaturgisch (und raumzeitlich) als Serie solcher Tableaus auf ; der Film durchschreitet alle Etagen des ehemaligen Lagergebäudes, spielt alle Stationen, die ein/e Gefangene/r durchläuft, vom Transport bis zur Ermordung chronologisch durch. Zugleich konstituiert die Filmzeit von 100 Minuten einen Tag, vom Morgen (Ankunft) bis zur Dunkelheit (Nachtruhe bzw. Deportation an den Ort der Hinrichtung am Killing Field in Cheong Ek). Diese Serien sind es auch, die unser Verständnis der Fotografien, der Artefakte und Dokumente des Lageralltags im Sinne von Foucaults Verschiebung transformieren. Leitet das museale Dispositiv des Lagers/Museums Tuol Sleng seinen Wert aus dem „authentischen Bezug“ zu den Verbrechen ab – vergleichbar mit der unter anderem von Roland Barthes festgestellten Macht des Indexikalischen, die der Fotografie innewohnt –, so lassen Panhs ausgespielte Re-enactments sie als Teil 7 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/Main 1997 (1969), 15. 8 Ebd., 20 : „Muß man die letzten Müßiggänger darauf hinweisen, daß ein ‚Tableau‘ formal eine ‚Serie von Serien‘ ist ? Auf jeden Fall ist es kein kleines festes Bild, das man vor eine Laterne stellt – zur großen Enttäuschung der kleinen Kinder, die in ihrem Alter freilich die Belebtheit des Kinos vorziehen.“
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eines Gewebes von Praktiken sichtbar werden. Gegenstände die in spezifischer Weise benutzt wurden (und werden) ; Geständnisse, die auf spezifische Weise geschrieben, rezitiert wurden (und werden) ; Fotografien, in denen das „Off“ des Bildes, der Fotograf / Folterknecht / Henker sichtbar wird. S 21 ist zweifellos ein einzigartiges filmisches Kunstwerk ; die Analyse der poetischen Verfahren, welche der Film im Umgang mit der historischen Erfahrung von Terror einsetzt, verweist aber über das einzelne Kunstwerk (und die spezifische Kultur Kambodschas) hinaus auf Paradigmen einer Erinnerungskultur, die auf zivilgesellschaftlicher Ebene die Auseinandersetzung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Ziel hat. Als einen „Vermesser der Erinnerungen“ und als „Archäologen“ bezeichnet Rithy Panh sich selbst im Gespräch mit den Cahiers du Cinéma : „Eine ihrer Funktionen [der Maschinerie der Roten Khmer, Anm. d. Verf.] bestand nämlich darin, das Gedächtnis zu leeren. […] Um ein ganzes Volk einer einzigen Ideologie zu unterwerfen, um jeglichen Widerstand, jeglichen individuellen Gedanken, jeglichen Anspruch auf Freiheit auszuschalten, bedarf es der Abschaffung des Gedächtnisses.“9 Film wird hier als ein alternatives Gedächtnis konstituierend konzipiert : Konsequenterweise ist Panh Förderer und internationaler Lobbyist von Bophana (http ://www.bophana. org), einem öffentlich zugänglichen Archiv zur kambodschanischen Geschichte, das in Phnom Penh betrieben wird.
9 Cahiers du Cinéma 587 (Februar 2004) ; zitiert nach dem deutschen Nachdruck in der in Wien erscheinenden Stadtkino Zeitung 411 (November 2004).
Barbara Stelzl-Marx
Einleitung. Formen des sowjetischen Terrors
Die Geschichte der Sowjetunion war von Anfang an von Terror, Krieg und Massenmorden geprägt. In keinem anderen Land starben in absoluten Zahlen mehr Menschen eines gewaltsamen Todes : beginnend mit der Revolution und dem Bürgerkrieg, über die Verwüstungen durch die Massenkollektivierung seit Ende der 1920er-Jahre, die große Hungersnot 1932/33, die Umsiedlung der „Kulaken“ bis zum „Großen Terror“ der 1930er-Jahre und zu den andauernden Repressionen durch die staatlichen Machtorgane. Das alltägliche Leben war durch staatlichen Terror bestimmt, durch Brutalität, physische und psychische Gewalt, Massendeportationen, jahrelange Haft und Zwangsarbeit, Hinrichtungen. Millionen von Menschen „verschwanden“ in den Lagern und Gefängnissen des Archipel GULAG. Bald nach der Revolution von 1917 entstand durch die Beseitigung der Demokratie innerhalb der KPdSU eine Diktatur, die zu einer Machtkonzentration im Parteiapparat und in der Staatsbürokratie führte. In dieser Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens und Überwachens waren selbst Parteimitglieder nicht mehr vor dem Terror sicher, wie die Schauprozesse gegen Stalins ehemalige Mitkämpfer zeigen. Angst und Verfolgungswahn machten sich breit ; selbst engsten Verwandten konnte nicht mehr getraut werden. Jede Beziehung zu einem Verhafteten stellte eine potenzielle Bedrohung für das eigene Leben dar.1 Als „scharfes Schwert“ der Revolution und später der Partei fungierte der Geheimdienst. Bereits im Dezember 1917 wurde die sowjetische Geheimpolizei „ČK“ bzw. „Tscheka“ unter dem „eisernen“ Feliks Dzeržinskij gegründet, dessen Statue bis zum Augustputsch 1991 den Moskauer Platz Lubjanka vor der KGB- (heute FSB-) Zentrale zierte. Bezeichnenderweise löste die sowjetische Führung die ČK aus Misstrauen 1922 wieder auf und wandelte sie in die GPU, kurze Zeit später in die OGPU um. Sie etablierte ein engmaschiges Netz an Informantinnen und Informanten quer durch die sowjetische Gesellschaft und verstärkte repressive Maßnahmen. 1934 löste sie das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, NKVD, ab. In dieser Zeit 1 Vgl. dazu etwa Hans-Albert Walter, Die Folgen des sowjetischen Staatsterrorismus für die in der Sowjet union lebenden Exilierten, in : Hans-Albert Walter (Hg.), Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd. 2, Stuttgart 1984, 203–247, hier : 206f.; Catherine Merridale, Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. München 2001.
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der „großen Säuberung“ wurden aber auch zahlreiche NKVD-Angehörige selbst zu Opfern Stalins.2 Wie Stefan Karner in seinem Beitrag zeigt, bestand in der Sowjetunion durchgehend eine enge Verflechtung zwischen Nachrichtendienst, Partei und Militär, aber auch mit dem diplomatischen Dienst. So weist keiner der sowjetischen Geheimdienstchefs eine reine nachrichtendienstliche Karriere auf. Ihre Biografien verdeutlichen zugleich, welche entscheidende Rolle sie für den Terror (Dzeržinskij, Menšinskij), den „Großen Terror“ und die Säuberungen (Jagoda, Ežov, Abakumov, Berija), den Kalten Krieg (Šelepin, Semičastnyj, Andropov) und schließlich die Wende 1991 (Krjučkov) spielten. Das stalinistische Terrorsystem mit seinen Gefängnissen, Lagern, Kellern, in die man tatsächliche oder vermeintliche Feindinnen und Feinde steckte, erfasste auch unzählige ausländische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, darunter Tausende Österreicherinnen und Österreicher.3 Barry McLoughlin widmet sich im Speziellen drei Gruppen österreichischer Opfer der Repression, die der „Große Terror“ 1936–1938 in der Sowjetunion betraf : Wirtschaftsemigrantinnen und ‑emigranten, die von 1919 bis 1938 eine neue Existenz im Ausland aufbauen wollten, politische Emigrantinnen und Emigranten, die als Schutzbündler oder kommunistische Funktionärinnen und Funktionäre Zuflucht in der UdSSR suchten, sowie ehemalige k. u. k. Armeeangehörige, die nach der Befreiung aus russischer Kriegsgefangenschaft im Land verblieben. Sie wurden vor allem durch den NKVD in kampagnenartigen Verhaftungsoperationen 1937/1938 und 1941 festgenommen, um „versteckte Feinde“ herauszufiltern. Langwierige Untersuchungen mit unzähligen Verhören, geheimen Befragungen und Gegenüberstellungen sowie physische und psychische Folter zermürbten die Angeklagten systematisch. Die Unterbindung jeglichen Kontaktes nach außen war ein gezieltes Mittel. Meist war das Eingeständnis der eigenen „Schuld“ nur eine Frage der Zeit. In den meisten Fällen erfolgte eine Verurteilung wegen Spionage nach Artikel 58-6 des russischen Strafgesetzbuches, worauf die Todesstrafe stand. Rund 200 Todesurteile wurden bis 1945 gegen Österreicherinnen und Österreicher gefällt und größtenteils auch exekutiert.
2 Vgl. dazu etwa Leonid Mlečin, Predsedateli KGB. Rassekrečennye sud’by, Moskau 1999 ; A. I. Kokurin/N. V. Petrov (Hg.), Lubjanka. Organy VČK–OGPU–NKVD–NGB–MGB–MVD–KGB 1917–1991. Spravočnik. Rossija XX vek. Dokumenty, Moskau 2003. 3 Vgl. dazu etwa Barry McLoughlin/Hans Schafranek/Walter Szevera, Aufbruch – Hoffnung – Endstation. Österreicherinnen und Österreicher in der Sowjetunion 1925–1945, Wien 1996 ; Hans Schafranek (Hg.), Die Betrogenen. Österreicher als Opfer stalinistischen Terrors in der Sowjetunion, Wien 1991 ; Walter Baier/ Franz Muhri, Stalin und wir. Stalinismus und die Rehabilitierung österreichischer Opfer, Wien 2001.
Einleitung. Formen des sowjetischen Terrors
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Im Zuge der Befreiung und Besetzung Österreichs 1945 exportierte Moskau für insgesamt zehn Jahre sein Justizsystem in die Ostzone des Landes. Als Folge dessen nahmen sowjetische Organe von 1945 bis 1955 rund 2.400 österreichische Zivilistinnen und Zivilisten fest ; mindestens 1.250 von ihnen wurden von Stalins Militärtribunalen wegen Kriegs-, Staats- und Alltagsverbrechen zu meist hohen Haftstrafen verurteilt, über 150 hingerichtet. Die Form der Urteilsfindung und ‑vollstreckung spiegelt dabei den systemimmanenten Terror unter Stalin wider. Beispielsweise war Vassilij Blochin, der eigenhändig die Erschießungen der österreichischen Opfer im Moskauer Gefängnis Butyrka bis 1953 durchführte, bereits an den Exekutionen polnischer Offiziere in Katyn 1940 beteiligt gewesen. Die letzten dieser sogenannten Zivilverurteilten kehrten – nach Abschluss des Österreichischen Staatsvertrages – im Dezember 1956 in die Heimat zurück. Für die österreichische Bevölkerung und Öffentlichkeit blieben die Gründe für eine Verhaftung und das weitere Schicksal der „Verschleppten“ weitestgehend im Dunkeln. Die scheinbar willkürlich durchgeführte „Menschenräuberei“, gekoppelt mit der Ohnmacht der österreichischen Behörden, sind tief im kollektiven Gedächtnis verankert.4 Besonders sensibel – und drakonisch – reagierten die sowjetischen Stellen, wenn die angebliche Spionagetätigkeit folgende Bereiche betraf : die Stationierung und Verlegung sowjetischer Besatzungstruppen in Ostösterreich, die Tätigkeit von Kommandanturen oder Zensurstellen, die Bewachung von Grenzen und Zonenübergängen, die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ), die Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Österreich (USIA) sowie die Sowjetische Mineralölverwaltung (SMV) in Österreich. Sogar die Befragungen ehemaliger Kriegsgefangener in der Sowjetunion, die Auskunft über die Lage in der UdSSR gaben, oder das Durchstöbern von Mülldeponien nahe sowjetischer Truppenstandorte galten als antisowjetische Spionage und wurde in einigen Fällen mit einem Todesurteil geahndet.5 Am Beispiel der Wirtschaftsenklaven USIA und SMV illustriert Walter M. Iber Aspekte der sowjetischen Herrschaftspraxis in Österreich. Gerade in diesem Bereich übte – neben der Partei – der sowjetische Geheimdienstapparat einen maßgeblichen Einfluss aus : Das sowjetische Wirtschaftsimperium in Österreich unterstand – wie auch ihre Pendants in den Staaten des späteren Ostblocks – der Verwaltung des sow4 Harald Knoll/Barbara Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945–1955, in : Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge, Graz/Wien/München 2005, 275–322. 5 Vgl. dazu etwa Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953, Wien/München 2009 ; Arsenij Roginskij/Frank Drauschke/Anna Kaminsky (Hg.), „Erschossen in Moskau …“ Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoe 1950–1953, 3., vollständig überarbeitete Auflage, Berlin 2008.
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Barbara Stelzl-Marx
jetischen Eigentums im Ausland, GUSIMZ. Ab 1947 leitete sie zunächst Vsevol’od Merkulov, ehemaliger Minister für Staatssicherheit. So kam es durch das Spannungsfeld des Kalten Krieges und die in Moskau ständig präsente Phobie vor „reaktionären, subversiven Kräften“ in diesen exterritorialen Betrieben zu zahlreichen Verhaftungen. Wie aufgrund der nun erschlossenen Geheimdienstakten deutlich wird, betrafen die an westliche Nachrichtendienste weitergegebenen Informationen größtenteils öffentliche oder öffentlich zugängliche Bereiche. Nach heutiger Beurteilung stellten sie de facto weder Militär- noch Staatsgeheimnisse dar. Auch während der Besatzungszeit waren sich viele der sogenannten „Agenten“ über die möglichen Folgen ihrer Aktivitäten nicht im Klaren. Sie gerieten jedoch als „Spione“, „Saboteure“ und „antisowjetische Agitatoren“ in die Mühlen der sowjetischen Justiz und wurden – wie Millionen Menschen – zu Opfern des sowjetischen Terrors.
Stefan Karner
Die Vorsitzenden der sowjetischen „Staatssicherheit“ 1917–1953
„Glauben Sie keinem, der sich rühmt, restlos alles über die Lubjanka zu wissen“1 – diese ehrliche, aber wenig ermutigende Einschätzung des letzen KGB-Vorsitzenden Vadim V. Bakatin fordert, gepaart mit dem Geheimnisvollen, das Geheimdienste eben umgibt, geradezu zur Forschung heraus. Trotz zahlreicher Publikationen über die sowjetischen Geheimdienste, unter denen das Komitee für Staatssicherheit (KGB)2 der größte und bekannteste war, und inzwischen vom KGB-Nachfolger herausgegebener Periodika3 sind Biografien über die Hausherren der Lubjanka selten,4 sieht man von hagiografischen Schriften ab. Eine wissenschaftlich erarbeitete Kollektivbiografie zum Personenkreis von Felix E. Dzeržinskij über Jurij Andropov und Vladimir Putin bis zum derzeitigen Direktor des Russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), Aleksandr V. Bortnikov, und der zweithöchsten Ebene der Geheimdienst-Nomenklatura fehlt gänzlich.5
1 Vadim Bakatin, Im Innern des KGB, Frankfurt/Main 1993, 259. Vgl. Andreas Hilger, Sowjetunion (1945–
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1991), in : Łukasz Kamiński u. a. (Hg.), Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991. Analysen und Dokumente, Göttingen 2009, 43–141, hier 127. Zur Lubjanka vgl. u. a.: Lubjanka 2. Iz istorii otečestvennoj kontrrazvedki, Moskau 1999. Aus der Fülle an Literatur über den KGB sei hier lediglich verwiesen auf Oleg Gordiewsky/Christopher Andrew, KGB. Die Geschichte seiner Auslands operationen von Lenin bis Gorbatschow, München 1990 ; Christopher Andrew/Wassili Mitrochin, Das Schwarzbuch des KGB. Moskaus Kampf gegen den Westen, München 2001 ; A. I. Kokurin/N. V. Petrov (Hg.), Lubjanka. Organy VČK–OGPU–NKVD–NKGB–MGB–MVD–KGB 1917–1991, Moskau 2003 ; dies., VČK–OGPU–NKVD–NKGB–MGB–MVD–KGB 1917–1960, Moskau 1997 ; zum militärischen Geheimdienst vgl. vor allem Vladimir A. Zolotarev, Voennaja bezopasnosť gosudarstva Rossijskogo, Moskau 2001. KGB = Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti (Komitee für Staatssicherheit). Von 1954–1991 firmierte die sowjetische Staatssicherheit unter diese Bezeichnung. Dazu zählt etwa die hausinterne KGB-Zeitschrift KGB-Zbornik oder heute die Zeitschrift Istoričeskie čtenija na Lubjanke, hg. vom FSB RF. Ausnahmen bilden etwa die Biografien Marc Jansen/Nikita Petrov, Stalin’s loyal Executioner : People’s Commissar Nikolai Ezhov 1895–1940, Stanford 2002 ; Nikita Petrov, Pervyj predsedatel‘ KGB. Ivan Serov, Moskau 2005 ; O. Smyslov, General Abakumov. Vsesil’nyj chozjain Smerša, Moskau 2005 ; hagiografisch ist Leonid Mlečin, Predsedateli KGB. Rassekrečennye sud’by, Moskau 1999. Erste Ansätze für die 1930er-Jahre und zum NKVD bei Nikita V. Petrov /K. V. Skorkin, Kto rukovodil NKVD 1934–1941, Moskau 1999 und für das ausgehende 20. Jahrhundert bei Vladimir Nekrasov, MVD v licach. Ministry ot V. V. Fedorčuka do A. Kulikova 1982–1998, Moskau 2000.
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In Ansätzen erarbeitete Nikita Petrov eine Darstellung verschiedener Karrieremuster von Gulag-Personal und Geheimdienstkadern der Jahre 1934 bis 1941 sowie der internen Geheimdienstpyramide, an deren unterster Stufe die Mitarbeiter in den Lagern und an deren oberster Stufe die „Aufklärer“ standen.6 Insgesamt verdoppelte sich in den dabei untersuchten sieben Jahren die Zahl der leitenden NKVD-Mitarbeiter von 96 auf 182. Dabei war eine starke Verjüngung, eine starke Zunahme der Männer aus ArbeiterInnen- und BäuerInnenfamilien, eine drastische Abnahme von Juden in der NKVD-Elite7 sowie eine Zunahme von Mitarbeitern mit Hochschulbildung und von Mittelschulabbrechern zu beobachten. Die Rekrutierungsraten aus Partei- und Komsomolkadern war sehr hoch,8 was deutlich auf die starke Achse zwischen KP, der KP-Jugend Komsomol und der Staatssicherheit hinweist. Insgesamt kann der Einfluss der sowjetischen Staatssicherheit und Geheimdienste auf die politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und sogar wissenschaftlichen Entwicklungen der Sowjetunion und Russlands kaum überschätzt werden. Jeder Bereich, auch der private, wurde in der Sowjetunion vom Geheimdienst beobachtet und „betreut“. Im August 1991, nach dem Putsch gegen Gorbačev, an dem KGBChef Vladimir Krjučkov selbst führend beteiligt war, wurde das KGB aufgelöst und in einen föderalen Sicherheitsdienst (heute : FSB) bzw. einen Auslandsgeheimdienst (heute : SVR) geteilt. Während in Moskau im August 1991 am Dzeržinskij-Platz das Bronze-Monument des „Tscheka“-Gründers, Dzeržinskij, gestürzt und viel Material sichergestellt wurde, gab es in der Provinz keine Eile. Mitten in Jekaterinburg/Sverdlovsk etwa wurde im August 1991 am Haupteingang der Staatssicherheit eine erhellende, maschinengeschriebene Mitteilung angebracht : „Das KGB ist derzeit außer Betrieb. Wann es wieder öffnet, ist nicht bekannt. Das KGB“.9 Der FSB kann heute als umfassender Inlandsgeheimdienst, der SVR als Auslandsgeheimdienst mit dem vornehmlichen Tätigkeitsfeld der Industriespionage im Westen bezeichnet werden. Beide Dienste zusammen beschäftigen derzeit mindestens 115.000 hauptamtliche Mitarbeiter.10 Zusätzlich zu den beiden direkten Nachfolgediensten des KGB unterhält Russland noch eine Reihe weiterer Geheim- und Nach 6 Vgl. Nikita Petrov, „Patrizier“ und „Plebejer“ im sowjetischen Sicherheitsdienst (1929–1941). Unterschiedliche Schicksale, in : Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 2 (1999), 167–184 ; ders., Die wichtigsten Veränderungstendenzen im Kaderbestand der Organe der sowjetischen Staatssicherheit in der Stalin-Zeit, in : ebd., 2 (2001), 91–120. 7 Juden hatten 1934 noch 38 Prozent aller NKVD-Leiter gestellt, ihr Anteil war 1939/41 auf unter 5 Prozent gesunken. Vgl. dazu u. a. auch Vadim Abramov, Evrei v KGB, Moskau 2006. 8 Petrov, Veränderungstendenzen, 96ff.
9 Diese Beobachtung wurde vom Autor an Ort und Stelle gemacht. 10 Vgl. die entsprechenden Angaben in diversen russischen Medien.
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Abb. 1: Die Zentrale des ehemaligen KGB in Moskau, die Lubjanka (Quelle : Archipov, Lubjanka)
richtendienste. Sie firmieren derzeit unter den Bezeichnungen „Föderale Agentur für Regierungskommunikation und Information“ (FAPSI), „Föderaler Dienst für Grenzschutz“ (FPS), „Nachrichtendienstliche Hauptverwaltung des Generalstabs der Russischen Streitkräfte“ (GRU)11 und „Föderaler Schutzdienst“ (FSO), der ausschließlich für die Regierung und den Präsidenten zuständig ist. Vorsichtig geschätzt, dürften in den russischen Nachrichten- bzw. Geheimdiensten zusammen etwa knapp eine halbe Million Menschen ständig beschäftigt sein, die vielen informellen Mitarbeiter in aller Welt nicht eingerechnet. Im Russland der Gegenwart bekleiden ehemalige Geheimdienstleute wichtige Staatsämter oder stehen großen Konzernen vor. Ehemals niederere Chargen arbeiten vielfach in privaten Security-Unternehmen. Vladimir V. Putin, bis 1999 Chef des FSB, brachte eine Reihe von Vertrauten in höchste Staatspositionen, darunter zahlreiche Militärs und Geheimdienstleute. Status, Immunität und Vollmachten der Geheimdienste wurden seit dem Jahr 2000 ständig erweitert, vielfach auch unter der Prämisse der Terrorismusbekämpfung. Der Anteil der „Siloviki“, also der Angehörigen von Militär- oder Geheimdiensten, an den Schaltstellen der Politik und Wirtschaft nahm unter Putin stark zu. Bislang wollte oder konnte Präsident Dmitrij Medvedev diese Strukturen kaum ändern.12 Der FSB als im Moment größter Dienst 11 GRU = Glavnoe razverditel’noe upravlenie (Hauptverwaltung für Aufklärung). V. M. Lur’e/V. Ja. Kočik, GRU. Dela i ljudi, St. Petersburg 2002.
12 Vgl. dazu u. a.: Hans-Henning Schröder, Oligarchen und Činovniki : Einflussgruppen in der russischen Politik, in : Gabriele Gorzka/Reinhard Krumm (Hg.), Trendbericht Russland. Bilanz des letzten Jahrzehnts (1998–2008) und Perspektiven, Moskau 2010, 329ff.
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unterliegt bis heute keiner parlamentarischen Kontrolle und erhält immer wieder neue, erweiterte Vollmachten, die tief in die Menschen- und BürgerInnenrechte in Russland eingreifen. So ist es etwa dem FSB seit Juli 2010 erlaubt, jede beliebige Bürgerin und jeden beliebigen Bürger ohne Gerichtsbescheid zu einem „verbrechensprophylaktischen Gespräch“ vorzuladen.
Die sowjetische Staatssicherheit Im größten sowjetischen Geheimdienst, dem Komitee für Staatssicherheit (KGB) am Moskauer Lubjanka- (ehemals Dzeržinskij-)Platz, spiegelten sich nicht nur die verschiedensten Aspekte der Politik und Gesellschaft der Sowjetunion wider, auch verfügte kaum ein anderer Nachrichtendienst über ein so engmaschiges Überwachungsnetz und hatte auf das Leben der eigenen Bevölkerung so großen Einfluss. Das traf in weit geringerem Maße auf andere sowjetische Geheimdienste, wie die militärische GRU, das Informationskomitee beim Außenministerium (KI)13 in der späten Stalinzeit oder die „Smerš“14 zu, die ihr Tätigkeitsfeld viel stärker im Ausland hatten. Als Michail Gorbačev 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde, umfasste das KGB rund 400.000 Offiziere im Inlandsdienst, rund 200.000 Offiziere im Auslandsdienst und ein dichtes Netz von Informanten. Damit schwankte die Zahl der KGB-Angestellten 1986 um rund 700.00015 und hatte sich seit 1973 (rund 490.000) deutlich erhöht. Ebenso gewachsen war das Jahresbudget des KGB – bis Ende der achtziger Jahre auf rund 4,9 Milliarden Rubel. Dennoch blieb es deutlich unter den Budgets des amerikanischen CIA oder der US-Bundespolizei FBI.16 Fast 40 Jahre lang firmierte die russische Staatssicherheit unter der Bezeichnung KGB. Im Komitee folgten zwischen 1954 und 1991 nur acht Vorsitzende aufeinander : Serov, Šelepin, Semičastnij, Andropov, Fedorčuk, Čebrikov, Krjučkov und Bakatin, von denen Jurij Andropov mit einer Amtszeit von 15 Jahren der am längsten dienende KGB-Chef war. Dem Vorsitzenden standen ein Kollegium und ein eigenes Parteikomitee zur Seite. Gemeinsam mit ihren Stellvertretern verfügten die KGBChefs zu Ende der achtziger Jahre noch über ein Sonderinspektorat, ein Sekretariat 13 KI = Komitet informacii (Informationskomitee). Vgl. auch Peter Ruggenthaler (Hg.), Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007, 8.
14 Das Akronym bedeutet : „Tod den Spionen“. Die „Smerš“ operierte als militärischer Abwehrdienst und Gegenspionage insbesondere im und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
15 Moskau News 4/1991, 14. 16 Ebd.; vergleichsweise bezifferte man die Ausgaben von CIA, FBI und den militärischen Diensten zu Ende der 1980er-Jahre mit rund 32 Milliarden Dollar.
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Tabelle 1 : Die Bezeichnungen der sowjetischen/russischen Staatssicherheit 1917 bis 2010
Russland/Sowjetunion 1917–1926 : Ochrana (zaristisch) ČK/VČK (Allrussische Sonderkommission) GPU (Staatliche politische Verwaltung) 1926–1934 : OGPU (Vereinigte staatl. politische Verwaltung) 1934–1943 : NKVD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) 1943–1946 : NKGB (Volkskommissariat für Staatssicherheit) 1946–1953 : MGB (Ministerium für Staatssicherheit) 1953–1954 : MVD (Ministerium für Inneres) 1954–1991 : KGB (Komitee für Staatssicherheit) 1991 MSB (Interrepubliken Sicherheitsdienst) Russische Föderation 1991–1993 : AFB (Föderale Sicherheitsagentur) 1993–1995 : FSK/FSB (Föd. Spionageabwehrdienst/Föd. Sicherheitsdienst) 1995–2010 : FSB (Föderaler Sicherheitsdienst) Quellen : Kokurin/Petrov, Lubjanka, a. a. O.; Helmut Roewer/Stefan Schäfer/Matthias Uhl, Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 153f.
sowie über vier Stabsstellen : 1. Personal, 2. Finanzen und Planung, 3. Mobilisierung sowie 4. Administration und Belieferung. Die vielfältigen Aufgaben des KGB wurden von vier Hauptverwaltungen wahrgenommen, dazu kamen neun Verwaltungen (vom Verfassungsschutz und von den Abhördiensten über die Abwehr im Verkehrswesen bis zur Beschattung und zu militärischen Anlagen) sowie acht Abteilungen (wie Untersuchung, KGB-Hochschule, Abhören, Zensur oder Archive).17 Die Staatssicherheit unterstand der Kommunistischen Partei und hatte sich ihren generellen Zielen, Arbeitsaufträgen und Richtlinien, aber auch der Kontrolle der KPdSU unterzuordnen, was seitens der Partei nicht immer durchzusetzen war. Die Maßnahmen und Arbeitsprioritäten der Staatssicherheit gab meist der jeweilige Leiter bzw. Vorsitzende des KGB vor. Von der Gründung der „Tscheka“ bis zum Ende des KGB 1991 war es daher großenteils vom jeweiligen Leiter und dessen politischen und ideologischen Ansichten abhängig, welche Aktionsschwerpunkte gesetzt wurden. Der folgende Abschnitt stellt wichtige Vorsitzende der sowjetischen 17 Ebd.
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Staatssicherheit in Kurzbiografien vor und soll einen knappen Einblick in deren persönlichen Karriereverlauf, in ihre Herkunft, Ansichten, in ihr Umfeld und in ihre Tätigkeiten geben. Eine Kollektivbiografie ist damit nicht intendiert.
Dzeržinskij und die erste sowjetische Staatssicherheit
Bereits wenige Wochen nach dem Oktober-Putsch der KommunistInnen wurde am 7. Dezember 1917, die VČK („Allrussische Sonderkommission zur Bekämpfung der „Konterrevolution“)18, meist kurz „Tscheka“ (Sonderkommission) genannt, ins Leben gerufen. Sie sollte nach ihrem Gründer Feliks E. Dzeržinskij „Schild und Schwert der Revolution“19 sein, ihre Mitglieder „politische Soldaten, Ritter der Revolution“. Die VČK entwickelte sich auch bald zum wirksamsten Terrorinstrument der Bol‘ševiki im Kampf gegen ihre „Klassenfeinde“. Wie viele Opfer die Repressionen der VČK gefordert haben, ist bis heute nicht bekannt. Schätzungen gehen von rund 140.000 Todesopfern in den Jahren 1918 bis 1921 aus, wobei in dieser Zahl die bei der Niederschlagung von Widerstandsaktionen getöteten Bauern und Kosaken nicht enthalten sind.20 Zudem entstanden unter Leitung der VČK im August 1918 die ersten Internierungslager, um „sozial gefährliche Elemente“ und „Parasiten“ zu internieren, die ersten in 21 Provinzhauptorten wie in Astrachan, Šenkursk bei Archangelsk, Voronež, Vjatka, Vitebsk, Ivanovo-Veznesensk, Kaluga, Kostroma, Nižnyj Novgorod, Ileckaja Zaščita bei Orenburg, Velikij Ustjug, Perm, Rjazan, Saratov, Simbursk, Smolensk, Tambov, Tver’, Čerepovec, Tula oder Jaroslavl. Acht Lager richtete man in Moskau und eines in Petrograd/St. Petersburg ein. Etwas später kamen mit dem Aufbau des GULAGSystems die bekannten Lager auf der Weißmeer-Insel Solovki oder an der Pečora um Vorkuta und Tausende andere Lager und lagerähnliche Einrichtungen hinzu.21 Bis 1941 war das GULAG-Lagersystem, das dem NKVD und auch der Staatssicherheit 18 VČK = Vserossijskaja Čresvyčajnaja Komissija po borbe s kontrrevoljuciej, spekulaciej i sabotažem (Allrussische Sonderkommission für den Kampf gegen Konterrevolution, Spekulation und Sabotage).
19 Vgl. u. a. A. I. Kolpakidi/M. L. Serjakov, Ščit i meč. Rukovoditeli organov gosudarstvennoj bezopasnosti, St. Petersburg 2002.
20 George Legett, The Cheka. Lenin’s Political Police, Oxford 1981, 359f, zit. nach Nicolas Werth, Sowjetunion (1917–1945), in : Kamiński u. a. (Hg.), Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991, 15–41. 21 Neben Alexander Solženižyn, dem ein Hauptverdienst dabei zukommt, den GULAG im Westen bekannt gemacht zu haben, nahmen sich zahlreiche russische Historiker der Thematik an. Ihre Arbeiten füllen inzwischen Bibliotheken. Verwiesen sei jedoch insbesondere auf die Arbeiten aus dem historischen Zentrum der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau, besonders auf die Arbeiten von Nikita Petrov und A. Kokurin.
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unterstand, auch zum größten Wirtschaftsunternehmen der Sowjetunion geworden. Es gab praktisch kein Bauvorhaben bzw. größeres Landwirtschafts- oder Industrieprojekt mehr ohne den Einsatz der Millionen GULAG-Häftlinge.22 Die Gründung und Organisation der Staatssicherheit besorgte Feliks Dzeržinskij weitgehend nach den Strukturen und Methoden der zaristischen „Ochrana“. Dies galt insbesondere für die Perfektion und Erfahrung, mit denen die Ochrana ihre Mitarbeiter als Agents Provocateurs in der Unterwanderung von Einrichtungen einzusetzen verstand. Selbst der Vorsitzende der Duma-Fraktion der Bol’ševiki, Roman Malinovskij, war – wie sich später herausstellte – ein von der Ochrana eingeschleuster Agent. Aus den Erfahrungen der „bürgerlichen“ Geheimdienste zu lernen, nahm allerdings einige Zeit in Anspruch, wie der Misserfolg der ersten Auslandsoperation der VČK in Finnland 1917/18 deutlich zeigte.23 Dzeržinskij selbst genoss dennoch das Vertrauen Lenins, der ihn 1917 auch zum ersten Vorsitzenden des kommunistisch geführten Nachrichtendienstes in Russland machte. Feliks Edmundovič Dzeržinskij (polnisch : Dzierżyński) wurde 1877 im Kreis Ošmjanyj, Gouvernement Vilnius (damals Russisches Reich), als Sohn eines polnischen Landadeligen und Grundbesitzers geboren.24 Er besuchte einige Jahre das Gymnasium in Vilnius, brach es jedoch ab und trat mit 18 Jahren der sozialdemokratischen Partei Litauens, bald Polen-Litauens und 1906 Russlands bei. Er arbeitete u. a. in Lenins Petersburger „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“. Er führte mehrere Decknamen, u. a. Jacek und Józef. Bis zum Oktoberumsturz 1917 wurde Dzeržinskij sechsmal verhaftet und insgesamt zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Außerdem wurde er 1914 zu drei Jahren Zwangsarbeit als Zigarettenstopfer verurteilt. Nach seiner Entlassung agierte er schon ab August 1917 als Sekretär des ZK der Russischen Sozialdemokratischen Partei (RSDRP) und beteiligte sich federführend an der Organisation des kommunistischen Putsches im Oktober 1917. Im Zuge dieser Planungen arbeitete er bereits in dem für Sicherheitsfragen zuständigen „Militärrevolutionären Komitee“ der Boľševiki von Petrograd25. Die Erfahrungen aus dieser Zeit dienten ihm auch als Grundlage für die Gründung der VČK.26 22 Nikita Petrov, The Gulag as Instrument of the USSR’s Punitive System, 1917–39, in : Annali della Fondazione Giangiacomo Feltrinelle (2001), 6.
23 Vgl. dazu u. a. Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch, 38f. 24 Der Geburtsort liegt heute in Weißrussland. In welcher Form der „Tscheka“-Gründer in der DDR und in der Sowjetunion dargestellt wurde, zeigt etwa Feliks Dzierżyński, Leben in Bildern und Dokumenten, Moskau 1975. 25 Das heutige St. Petersburg. 26 Mlečin, Predsedateli KGB, 7–49 ; Kokurin/Petrov, Lubjanka, 261 ; Werth, Sowjetunion, 15–17 ; Helmut Roewer u. a., Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert, München 2003, 116.
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Dzeržinskij war mit Sofja Sigizmundowna verheiratet, der Ehe entstammte ein Sohn, Jan. Die Familie führte trotz der revolutionären, klassenkämpferischen Rhetorik weiter das Leben polnischer Landadeliger. 1918 etwa, mitten in den Monaten des Umbruchs und des Bürgerkrieges, als man in Jekaterinburg Zar Nikolaus II. und seine Familie erschoss, fuhr die Familie Dzeržinskij auf Urlaub nach Lugano.27 Er wurde erster Vorsitzender der VČK und blieb es, auch nach der Umbenennung, mit einer kurzen Unterbrechung im Juli 1918 bis zu seinem Tod 1926. Die Aufgabe der VČK war es von Anfang an, konterrevolutionäre Aktivitäten in Russland zu verhindern und SaboteurInnen und KonterrevolutionärInnen vor Revolutionsgerichte zu bringen. Dabei sollen vor allem junge Tschekisten mit unvorstellbarer Brutalität ans Werk gegangen sein : In Charkov sei den Opfern die Haut von den Händen abgezogen worden, in Poltava seien orthodoxe Priester gepfählt, in Odessa „weiße“ Offiziere an Bretter gefesselt und in brennende Öfen geschoben worden.28 Schon 1921 begann eine Parteikommission mit der Umstrukturierung der VČK. Ihr gehörten neben Dzeržinskij Lev B. Kamenev29 und Vladimir M. Kurskij30 an.31 Das Ziel war es, eine pseudo-gesetzliche Grundlage für die Tätigkeit der VČK zu schaffen und damit ihre Kompetenzen zu definieren. Daher gingen ab Jahresbeginn 1922 die Aufgaben der VČK Schritt für Schritt auf die neu gebildete GPU32 über. Die GPU wiederum unterstand dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKVD)33, das seit 1919 ebenfalls Dzeržinskij leitete und der damit zu einem der mächtigsten Funktionäre des Sowjetstaates aufrückte. Die Hauptaufgaben der GPU sollten vor allem die Unterdrückung von „konterrevolutionären Tätigkeiten“, die Spionageabwehr und die Sicherung der politischen Grenzen Russlands sein.34 Der Sinn der Strukturänderung lag im Besonderen darin, der Partei und dem Politbüro eine direkte Kontrolle über die Staatssicherheit zu geben. So war die GPU u. a. nicht mehr befugt, außergerichtliche Urteile zu fällen und Menschen einfach zu internieren.35 Die GPU bestand nur etwa eineinhalb Jahre, ehe Dzeržinskij den Apparat wieder umbenannte und neu strukturierte. Nach der Gründung der UdSSR wurde die russi27 Dzierżyński, Leben, o. S., dort auch das Urlaubsfoto. 28 Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch, 46, die sich auf Literatur zum „Roten Terror“ beziehen. 29 Er war Lenin-Vertrauter und wurde 1936 nach einem großen Schauprozess unter Ežov hingerichtet. 30 Kamenev war später Chef der Auslands- und Gegenspionage sowie stv. NKVD-Chef unter Ežov ; er entzog sich 1937 durch Selbstmord einer Hinrichtung. 31 Petrov, Gulag, 6 und Abramov, Evrei v KGB, 218f. 32 GPU = Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie (Staatliche Politische Verwaltung). 33 NKVD = Narodnyj kommissariat vnutrennych del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten). 34 Werth, Sowjetunion, 26. 35 Ebd., 26f.
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Abb. 2: Bericht Dzeržinskijs an den Rat der Volkskommissare über die Niederschlagung des „Putsches“ am 6./7. Juli 1918 (Quelle : Archipov, Lubjanka)
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Abb. 3: Propagandaplakat der GPU : „Der Konterrevolutionär, ein Schädling“ (Quelle : Archipov, Lubjanka)
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sche GPU 1923 mit den GPU-Abteilungen der anderen Sowjetrepubliken vereinigt, was sich auch in der Bezeichnung der formell neuen Behörde als OGPU (Vereinigte GPU) ausdrückte.36 Dzeržinskij blieb weiterhin ihr Vorsitzender. Neben seiner Funktion als Volkskommissar des Inneren (bis 1923) und GPUChef war Dzeržinskij auch Volkskommissar für Verkehr (1921 bis 1924), Vorsitzender des ZK der Russischen KP in der Zentralen Kontrollkommission der Partei und Vorsitzender des obersten Rates für Volkswirtschaft37. Der „eiserne Felix“, wie Dzeržinskij bald genannt wurde, starb am 20. Juli 1926, zweieinhalb Jahre nach Lenin, in Moskau an einem Herzschlag.38 Der Lubjanka-Platz in Moskau wurde nach ihm benannt, sein Bild blieb bis zum Ende der Sowjetunion, teilweise auch noch nachher, wie etwa im UVD39 Vorkuta 1996, in allen zentralen und lokalen Stellen der Staatssicherheit aufgehängt. Nach Dzeržinskij übernahm Menžinskij, der bereits seit der Gründung der OGPU 1923 dessen Stellvertreter gewesen war, die Staatssicherheit.
Menžinskij, Jagoda und Ežov – die Vorgeschichte des „Großen Terrors“
Vjačeslav Rudolfovič Menžinskij wurde 1874 in St. Petersburg ebenfalls in eine adelige polnische Familie hineingeboren. Mit 24 Jahren schloss er sein Studium an der juristischen Fakultät der Universität in St. Petersburg ab. Danach begann er 1902 seine politische Laufbahn in der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und wurde 1906 wegen seiner Parteiaktivität verhaftet. Einer Verurteilung entkam er nur durch Flucht ins Ausland. Bis 1917 lebte er u. a. in Frankreich im Exil, wo er an der Pariser Sorbonne studierte.40 Nach dem Putsch der Boľševiki wurde Menžinskij 1918 zunächst Volkskommissar für Finanzen und 1919 Kollegiumsmitglied der VČK. ZeitgenossInnen beschrieben ihn als kultivierten und gebildeten Mann. Als er 1919 in die VČK eintrat, soll er bereits zwölf Sprachen beherrscht haben, danach eignete er sich weitere vier an. Zudem verfügte er über ein breites naturwissenschaftliches Wissen.41 36 OGPU = Obedinennoe Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung).
37 RKP (b) = Rossijskaja Kommunističeskaja Partija (Bol’ševikov) (Russische Kommunistische Partei der Bol’ ševiki) ; VSNCh = Vysšij sovet narodnogo chozjajstva (Oberster Rat für Volkswirtschaft).
38 Mlečin, Predsedateli KGB, 37ff.; Roewer u. a., Lexikon, 116. 39 UVD = Upravlenie vnutrennych del ([örtliche] Verwaltung für innere Angelegenheiten). 40 Mlečin, Predsedateli KGB, 49ff.; Kokurin/Petrov, Lubjanka, 276. 41 Gordiewsky/Andrew, KGB, 142ff.; Mlečin, Predsedateli KGB, 49f.
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Er verhielt sich Stalin gegenüber loyal, wurde jedoch selbst kein überzeugter Stalinist. In der Führung der OGPU war er höchst passiv. Dies und seine stark angeschlagene Gesundheit (er litt an Angina pectoris und erlitt 1929 einen schweren Schlaganfall) führten dazu, dass sein Nachfolger Jagoda bereits zu Menžinskijs Lebzeiten die Macht in der OGPU an sich reißen konnte. Der OGPU-Überläufer Georgij Agabekov brachte es auf den Punkt : „So umfassend gebildet Menžinskij ist, so brutal, unkultiviert und roh ist Jagoda.“42 Formell führte Menžinskij die OGPU bis zu seinem Tod durch einen Schlaganfall am 10. Mai 1934. Auf Menžinskij folgte Genrich Gregorevič Jagoda, Sohn eines Juweliers aus Nižnij Novgorod. 1891 geboren, studierte Jagoda Statistik und arbeitete bis zu seiner Verbannung aus politischen Gründen als Chemieassistent. Jagoda gefiel sich in der Rolle des Revolutionärs, ähnlich Dzeržinskij. Wie sein Vorbild, so wurde auch Jagoda vor dem Oktober 1917 mehrfach wegen seiner Tätigkeit in der RSDRP (Bol’ševiki) verhaftet und 1912/13 nach Simbirsk verbannt. Während des Ersten Weltkrieges diente er bis 1917 in der zaristischen Armee. Seine Karriere in der Staatssicherheit begann Jagoda im November 1919. 1920 wurde er Kollegiumsmitglied und 1923 nach Menžinskij zweiter Stellvertreter Dzeržinskijs. 1929 stieg er zum Stellvertreter Menžinskijs auf, den er schließlich 1934 nach dessen Tod auch beerbte.43 Im Juli 1934 sicherte sich Stalin durch eine erneute Umorganisation der OGPU mehr persönlichen Einfluss und Kontrolle über die Geheimpolizei. Die OGPU wurde dabei in das NKVD eingegliedert und die Abteilung der politischen Polizei innerhalb des NKVD in der GUGB organisiert. Die Leitung des neuen, großen NKVD übernahm nicht mehr Menžinskij, sondern bereits Jagoda, der damit zur entscheidenden Figur im sowjetischen Geheimdienst aufstieg.44 Jagodas Erscheinungsbild und Charakter werden v. a. in der russischsprachigen Literatur als sehr zwiespältig dargestellt : Etwas untersetzt, immer Uniform tragend, machte er seine Karriere vor allem durch seine Verschlagenheit und Rücksichtslosigkeit. Er genoss das Leben der absoluten Spitzen-Nomenklatura : Frauen, Wein, Pornografie. Er sammelte Damenunterwäsche und obszöne Zigarettenspitzen. Daneben machte er der Schwiegertochter Maxim Gorkijs den Hof, erfolglos. Sein großer beruflicher „Erfolg“ war der Ausbau des GULAG-Systems,45 der ihm und seinen Nachfolgern einerseits zur Beseitigung von „Klassen- und Regimefeinden“ inkl. ihrer Familien und andererseits als ergiebiges Reservoir an Arbeitskräften diente. 42 Georgij Agabekov, OGPU, New York 1931, 256f.; Gordiewsky/Andrew, KGB, 143. 43 Kokurin/Petrov, Lubjanka, 300 ; Petrov/Skorkin, Kto rukovodil NKVD, 459f. 44 Werth, Sowjetunion, 35 ; Petrov/Skorkin, Kto rukovodil NKVD, 20–44. 45 GULAG = Glavnoe upravlenie lagerej (Hauptverwaltung für Lager).
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Damit schuf Jagoda die Grundlage für den noch unter ihm beginnenden „Großen Terror“.46 Als konstruierter unmittelbarer Anlass für die groß angelegten „Säuberungen“, denen in den 1930er-Jahren Hunderttausende hochrangige Parteimitglieder, Militärs, Angehörige nichtrussischer Volksgruppen und der Intelligencija zum Opfer fielen, diente die Ermordung des Erstens Sekretärs der KP von Leningrad, Sergej Kirov, im Dezember 1934. Nach heutigem Wissensstand deutet vieles darauf hin, dass Stalin selbst der Auftraggeber des Mordes gewesen war, um Grigorij Zinov’ev, den ehemaligen Vorsitzenden der Partei in Leningrad, sowie die alten bolschewistischen Kader beseitigen zu können. Per Verordnung war es nun dem NKVD und damit Jagoda möglich, gegen Missliebige zu wüten. Binnen zehn Tagen wurden Tausende Angeklagte abgeurteilt und hingerichtet.47 Jagoda selbst stand für die unglaubliche Brutalität des Terrors. Bis 1937 wurden knapp drei Millionen „Konterrevolutionäre“ hingerichtet oder in Lager des GULAG verschleppt.48 In der ersten Phase der nun im breiten Rahmen durchgeführten „Säuberungen“ legte Jagoda zwar nicht selbst Hand an, sammelte aber „Reliquien“ der von ihm befohlenen Hinrichtungen, wie jene Kugeln, mit denen man prominente Verurteilte (wie Zinov’ev oder Lev B. Kamenev) erschossen hatte.49 1936 ging die Geheimdienstkarriere Jagodas zu Ende. Stalin und sein Günstling bzw. Ideologe Andrej Ždanov waren durch Berichte von Nikolaj I. Ežov, zu diesem Zeitpunkt Sekretär des ZK und Vorsitzender der KP-Kontrollkommission (KPK)50, misstrauisch geworden und erklärten, dass Jagoda nicht mehr imstande sei, die „trotzkistischen“ Bewegungen in der UdSSR zu bekämpfen. Mehr noch, Jagoda habe deutliche Hinweise auf ein „trotzkistisches Zentrum“ im NKVD bewusst ignoriert. Die Folge dieser Berichte und eines offiziellen Briefes von Stalin und Ždanov an das ZK der Partei vom September 1936 war die Absetzung Jagodas als Leiter des NKVD im September 193651 und zunächst seine Versetzung auf den Posten des 46 Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren, Frankfurt/Main 2005, 113f. 47 Mlečin, Predsedateli KGB, 99–110 ; Hermann Weber, Einleitung. Bemerkungen zu den kommunistischen Säuberungen, in : Hermann Weber/Ulrich Mählert, Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn u. a. 1998, 1–31 ; Jörg Baberovski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, 140–208. 48 Montefiore, Stalin, 171–174 ; Weber, Einleitung, 14 ; Nikita Petrov, Die Rolle der Organe der Staatssicherheit (OGPU-NKVD) in der UdSSR in den 1930er und 1940er-Jahren, in : Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, 187–205. 49 Montefiore, Stalin, 226 ; Mlečin, Predsedateli KGB, 112ff. 50 KPK = Kommissija partijnogo kontrol’ja (Parteikontrollkommission). 51 Siehe auch Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch, 108.
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Volkskommissars für Kommunikation der UdSSR,52 ehe man ihn auf Anweisung Stalins verhaftete. In NKVD-Unterlagen wurde Jagoda „als Schurke“ bezeichnet, der die wahren Führer der trotzkistischen Untergrundbewegung (Bucharin, Kamenev, Rykov, Smirnov, Tomskij und Zinov’ev) geschützt und nur die niedrigen Ränge verfolgt habe. Unter seinem Nachfolger Ežov wurden die Genannten in den großen Moskauer Schauprozessen als „Volksfeinde“ zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im letzten Schauprozess 1938 wurde auch Jagoda als Trotzkist und „britischer Spion“ zum Tode verurteilt und erschossen, obwohl er „auf den Knien“ ein Gnadengesuch eingereicht hatte.53
Der „Große Terror“ – die „Ežovščina“
Nikolaj Ivanovič Ežov wurde 1895 in St. Petersburg als Kind einer Arbeiterfamilie geboren, trat im März 1917 in die RSDRP ein und stieg schon 1921 zum Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda des Gebietskomitees Tatarstan auf. 1927 kam er in das ZK der Partei und wurde 1929 stellvertretender Volkskommissar für Landwirtschaft der UdSSR. Fünf Jahre später, im Februar 1934, wurde er ZK-Mitglied der VKP(b) und stellvertretender Vorsitzender der Kontrollkommission beim ZK der Partei. Ein Jahr später stieg er bereits zum Sekretär des ZK und Vorsitzenden der KPK auf, 1936 schließlich folgte er dem abgesetzten Jagoda als Volkskommissar für innere Angelegenheiten und damit Leiter des NKVD nach. Auch er wird, genauso wie Jagoda, sehr kontrovers dargestellt : klein gewachsen, ehrgeizig, fanatisch, aber auch als teilweise gutmütig, bisexuell und als frenetischer Killer. Seine besonders hübsche und literarisch interessierte Ehefrau, Evgenija, hatte zahlreiche Liebesaffären, bevorzugt mit Schriftstellern wie Michail Šolochov oder Isaak Babel. Einige kamen wegen der Liaison mit ihr ums Leben.54 In Ežov fand Stalin einen weiteren willigen Vollstrecker seines Terrors gegen die von ihm benannten „Verschwörer“. Beide waren der Ansicht, dass sich Mitglieder einer „konterrevolutionären Verschwörung“ bis in den NKVD eingeschmuggelt hätten. Mehr noch, Ežov warf Jagoda selbst vor, den NKVD für seine „konterrevolutionären“ Zwecke zu missbrauchen. Er stieß damit bei Stalin auf offene Ohren, weil auch er selbst „Verräter“ in den eigenen Reihen auszumachen glaubte. Für Ežov hatte
52 Nikita Petrov/Mark Jansen, “Stalinskij pitomec”. Nikolaj Ežov, Moskau 2008, 65–67. 53 Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch, 108. 54 Montefiore, Stalin, Bildtext vor 279.
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Abb. 4: Eingang zum Donskoe-Friedhof in Moskau (Foto : Barbara Stelzl-Marx)
sich die Intrige gelohnt : Er selbst wurde umgehend Jagodas Nachfolger.55 Nach der Amtsenthebung Jagodas fiel ein großer Teil des NKVD-Personals den Säuberungsmaßnahmen Ežovs zum Opfer, wurde Jagoda doch auch verdächtigt, ein „Komplott“ gegen Stalin geschmiedet zu haben. Von Oktober 1936 bis Oktober 1938 wurden rund 2.200 Angehörige der GUGB verhaftet, wobei sich die Sanktionen vor allem gegen Juden, Polen, Deutsche und Balten richteten.56 Im März 1938 schließlich wurde Jagoda selbst Opfer der von ihm begonnenen „Säuberungen“. Er wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und erschossen. Das NKVD verlor in diesen Jahren fast alle erfahrenen Offiziere, die noch unter Dzeržinskij ausgebildet worden waren und Karriere gemacht hatten. Die Säuberungen bedeuteten also nicht nur einen Verlust an Personal, sondern auch an nachrichtendienstlichem Know-how. Nicht selten folterte Ežov bei den Verhören selbst. Viele 55 Montefiore, Stalin, 229. 56 Ebd., 249 ; Werth, Sowjetunion, 36 ; Petrov/Jansen, Ežov, 94–129.
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seiner Folteropfer kannte er aufgrund seiner langjährigen Arbeit an der Parteispitze auch persönlich.57 Unter Ežov nahmen die Terrormaßnahmen, die schon bald unter dem Namen „Ežovščina“ bekannt wurden, ungeahnte Ausmaße an. Sie beschränkten sich nun nicht mehr nur auf Partei-, NKVD- und Armeekader, sondern wurden auf ganze Volksgruppen ausgedehnt.58 Ab Juli 1937 wurden den NKVD-Organen in den einzelnen Gebieten und Bezirken nicht mehr Namenslisten der zu Verhaftenden, sondern festgelegte „Quoten“ für Exekutionen und Verhaftungen übermittelt, die es zu erfüllen galt. Hermann Weber analysierte treffend, dass die Säuberungen in dieser Phase nicht mehr ausschließlich dazu dienten, die politische Opposition und die persönlichen Feinde Stalins zu beseitigen, vielmehr wurden hier willkürlich „Sündenböcke für alle Fehler und Mängel im Staat“59 gesucht und auch gefunden. Ežov selbst stand voll und ganz hinter dieser Entwicklung, für ihn kam es auf „tausend mehr oder weniger“ nicht an.60 Wie viele Opfer die „Ežovščina“ in der UdSSR forderte, kann nicht mehr genau festgestellt werden. Allein für den Höhepunkt der „Säuberungen“, die Jahre 1937 und 1938, werden über 1,5 Millionen Verhaftete angegeben, von denen rund 700.000 hingerichtet und etwa 800.000 in Lager deportiert wurden.61 1956 sprach der KGB in einem Bericht von rund 19 Millionen Verhafteten in den Jahren 1935 bis 1940, von denen rund 7 Millionen entweder hingerichtet wurden oder während der Lagerhaft verstarben. Unter ihnen waren allein 110 der 139 Mitglieder des Zentralkomitees der Partei, das noch 1934 am Parteitag gewählt worden war, und rund die Hälfte des Offizierskorps der Roten Armee (etwa 35.000 Mann). Von Jagodas Kommissaren für Staatsicherheit im NKVD überlebten 19 die „Säuberungen“ Ežovs nicht, und auch Hunderte erst unter Ežov in den NKVD aufgenommene Offiziere wurden Opfer von dessen Paranoia. Der Idealismus der Führungskader der „alten“ VČK musste unter Ežov endgültig dem Terror Platz machen. Aber wie Jagoda sollte auch Ežov selbst Opfer des von ihm geschürten Misstrauens und der Paranoia Stalins werden. Zum Teil hatte Ežov diese Entwicklung sich selbst zuzuschreiben : Er brach unter der psychischen Belastung seiner Tätigkeit regelrecht zusammen, versuchte, wie viele seiner Folterknechte, den Druck durch Alkoholexzesse und sexuelle Ausschweifungen zu kompensieren. Zudem begannen viele seiner Gefolgsleute nun auf den Todeslisten Stalins aufzutauchen. So verlor Ežov nach und 57 Montefiore, Stalin, 271f.; Petrov/Jansen, Ežov, 94–129. 58 Petrov/Jansen, Ežov, 112–115. 59 Weber, Einleitung, 17. 60 Montefiore, Stalin, 263. 61 Werth, Sowjetunion, 35.
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nach seine Machtbasis im NKVD.62 Im April 1938 verlor er sein Amt als Volkskommissar für innere Angelegenheiten und wurde Volkskommissar für die Flussschifffahrt, ein im Vergleich zu seinem früheren Amt unbedeutender Posten. Ein Jahr später wurde er verhaftet, offiziell als britischer Spion angeklagt, im Februar 1940 zum Tode verurteilt und erschossen, wobei Berija selbst die Hinrichtung überwachte.63
Lavrentij P. Berija Auch beim Nachfolger Ežovs fiel der Glaube an die omnipräsenten „Feinde der Revolution“ auf fruchtbaren Boden : Als Lavrentij Pavlovič Berija 1938 die Leitung des NKVD übernahm, setzte er die Jagd auf „Verräter“ im Namen Stalins dort fort, wo Ežov ihr eigenes Opfer geworden war. Berija, 1899 in Mercheuli in Abchasien geboren, zog nach Schulabschluss 1915 nach Baku und begann dort ein Studium an der Technischen Lehranstalt.64 1919 trat er in die RSDRP ein, 1920 begann er mit Protektion seines Freundes und Förderers Džafar Bagirov seine Karriere in der VČK Aserbaidschans.65 1922 wechselte er zur VČK Georgiens und bekleidete dort bis 1926 das Amt eines stellvertretenden Vorsitzenden sowohl der VČK als auch der GPU Georgiens. Auch seine politische Karriere machte große Sprünge : 1927, mit 28 Jahren, erhielt Berija das Amt des Volkskommissars für innere Angelegenheiten Georgiens und war Mitglied des ZK der KP Georgiens, gleich darauf Präsidiumsmitglied sowie Bevollmächtigter Vertreter der OGPU der UdSSR in Transkaukasien.66 Damit hatte er den Sprung vom Kaukasus in das Zentrum der Macht, nach Moskau, geschafft. Hierher war er auch gekommen, um bei Ežov zu lernen und ihn später auszuschalten. Mit Erfolgsmeldungen über eine Übererfüllung der Pläne und Verkündung des Kampfes gegen „Volksfeinde“ verstand es Berija, sich bei Stalin Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dazu kam seine fast abgöttische Verehrung Stalins.67 So erhielt er freie Hand bei der Bekämpfung der „Konterrevolution“ im Kaukasus.68 Die nächsten Karriere 62 Montefiore, Stalin, 312–314. 63 Petrov/Jansen, Ežov, 200–215 ; Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch, 11. 64 A. Antonow-Owsejenko, Der Weg nach oben. Skizzen zu einem Berija-Portrait, in : Vladimir Nekrassow (Hg.), Berija. Henker in Stalins Diensten. Ende einer Karriere, Augsburg 1997, 13.
65 Ebd., 16. 66 Ebd., 19. 67 Montefiore, Stalin, 316. 68 Antonow-Owsejenko, Weg, 38 ; Montefiore, Stalin, 231.
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sprünge folgten : 1938 1. stellvertretender Volkskommissars für innere Angelegenheiten und Leiter der GUGB.69 Die Schauprozesse der „Ežovščina“ gaben Berija Gelegenheit, sich im unmittelbaren Umfeld Stalins zu bewegen und sich als sein Begleiter mehr und mehr unentbehrlich zu machen. Er erwies sich dabei als ebenso gnadenloser Folterknecht wie Ežov, mit dem er sich als dessen Stellvertreter gut anzufreunden schien. Er hatte die Fähigkeit, zu erkennen, wer für sein Fortkommen nützlich sein könnte, und verstand es, diese Personen für sich zu gewinnen und, sobald er deren Posten übernommen hatte, später zu beseitigen.70 Berija verfolgte Ziele genau, konsequent, brutal und penibel.71 Ende November 1938 trat er nach Absetzung Ežovs dessen Nachfolge als Volkskommissar für innere Angelegenheiten an, wurde Generalkommissar für Staatssicherheit und erhielt den Rang eines „Marschalls der Sowjetunion“.72 Ab 1941 übernahm Berija noch weitere höchste Partei- und Staatsämter. Wie schon Ežov begann auch Berija seine Tätigkeit mit einer tief gehenden „Säuberung“ der führenden Kader des NKVD. Damit konnten gefährliche Konkurrenten in NKVD und Parteiapparat bei Stalin in Misskredit gebracht und beseitigt werden. Parallel dazu setzte er die unter Ežov begonnene Jagd auf „Volksfeinde“ sowohl in Partei- und Militärkadern als auch in der Bevölkerung fort. Opfer der Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen wurden vor allem Angehörige der „Intelligencija“ und nichtrussischer Minderheiten sowie Geistliche. Die Methoden, mit denen Verhaftete zur „Feststellung“ ihrer „Schuld“ verhört wurden, waren allerdings bereits diffiziler. Berija ersetzte die Willkür Ežovs durch eine straffe, hierarchisch kontrollierte Verwaltungsstruktur und verwendete bei den Verhören nicht nur rohe Gewalt, sondern bereits psychologische Praktiken. Doch auch diese Ausdifferenzierung der Verhörmethoden änderte nichts daran, dass die verhafteten „Verdächtigen“ von vornherein als „schuldig“ angesehen wurden.73 Der Vormarsch der Deutschen Wehrmacht 1941 gab Berija Gelegenheit zur Beseitigung weiterer persönlicher Konkurrenten, zur Profilierung als militärischer Berater an der Seite Stalins und zur Fortführung von Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen. Vor allem die Verurteilungen zur Haft in GULAG-Lagern erreichten ein zuvor nicht gekanntes Ausmaß. Berija sah in den Lagerhäftlingen einfach billige, sofort verfügbare Arbeitskräfte, vor allem für verschiedene Bauprojekte und zur Rohstoffgewinnung. 69 Antonow-Owsejenko, Weg, 79. 70 Ebd., 17f. und Montefiore, Stalin, 318. 71 Montefiore, Stalin, 315f. 72 Vgl. auch N. Rubin, Lavrentij Berija. Mif i real’nost‘, Moskau 1998. 73 Montefiore, Stalin, 95f.
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In die Zeit Berijas fällt auch eine weitere wichtige Umstrukturierung der nachrichtendienstlichen Organe der UdSSR : Im April 1943 wurden die einzelnen Aufgabengebiete des NKVD in mehrere separate Organisationen aufgeteilt, darunter vor allem das Volkskommissariat für Staatssicherheit (NKGB)74 unter Vsevolod N. Merkulov. Die Befugnisse des NKGB umfassten Auslandsspionage, Gegenspionage, Sicherung der Transportwege, Organisation von Terrormaßnahmen und Diversion auf dem von der Deutschen Wehrmacht besetzten Gebiet der Sowjetunion, Chiffrierung und Sicherstellung der Kommunikationswege der Regierung sowie Schutz der Partei- und Staatsführung.75 Die militärische Spionageabwehr wurde in Form der neu geschaffenen Hauptverwaltung für Gegenspionage (GUKR) „SMERŠ“76 un- Abb. 5: Propagandaplakat mit der Aufschrift „Schwatze nicht !“ (Quelle : Archipov, Lubjanka) ter Viktor Abakumov aus dem NKVD ausgegliedert und dem Volkskommissar für Verteidigung (Stalin) direkt unterstellt. Die Leitung des NKVD verblieb bis 1945 bei Berija selbst. Während der Potsdamer Konferenz der „Großen Drei“ im Sommer 1945 übertrug Stalin dem NKVD-Chef auch die gesamte Organisation zum Bau einer sowjetischen Atombombe. Das war vermutlich die größte Herausforderung für Berija, der sich kein Scheitern leisten durfte.77 Als das NKGB 1946, wie auch alle anderen Volkskommissariate, in ein Ministerium (MGB78) umgewandelt wurde, übernahm Abakumov die Leitung des MGB. Berija wurde im Oktober 1952 Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU, die Spitze der Partei- und Staatsführung in den letzten Monaten der Stalin-Herrschaft. 74 NKGB = Narodnyj kommissariat gosudarstvennoj bezopasnosti (Volkskommissariat für Staatssicherheit). 75 Vgl. Roewer u. a., Lexikon, 317f.; Kokurin/Petrov, Lubjanka, 138f. 76 GUK = Glavnoe upravlenie kontrrazvedka „SMERŠ“ (Hauptverwaltung für Spionageabwehr, SMERŠ). 77 Vgl. u. a. G. V. Kostyrčenko, Tajnaja politik Stalina, Moskau 2001, 603ff. 78 MGB = Ministerstvo gosudarstvennoj bezopasnosti (Ministerium für Staatssicherheit).
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Er hatte damit auch den Gipfel seiner politischen Karriere erreicht und seine Position sowie das Vertrauen Stalins durch Beseitigung und die Besetzung wichtiger Posten durch die ihm völlig loyal ergebenen Abakumov und Merkulov gefestigt. Das Misstrauen Stalins gegen das MGB unter dem Berija-Mann Abakumov, dem er „mangelnde Wachsamkeit“ bei der Jagd nach einer „terroristischen Gruppe“ jüdischer Ärzte, die im Kreml Stalin nach dem Leben trachteten, vorwarf, traf indirekt auch Berija. Abakumov und Berija reagierten mit einem kaum verhüllten Pogrom gegen Jüdinnen und Juden. Die dabei verwendeten publizierten Hasstiraden sind mit jenen im antisemitischen NS-Kampfblatt Der Stürmer vergleichbar. Die Vorbereitungen für ein großes Schauverfahren gegen Tausende Jüdinnen und Juden am Roten Platz liefen bereits an, als Stalin Anfang März 1953 plötzlich auf seiner Datscha in Kuncevo bei Moskau verstarb. An seinem Sterbebett befanden sich Nikolaj A. Bulganin, Georgij Malenkov, Nikita Chruščev und Berija, die mit Stalin die „Pjatorka“ (Fünferkreis) bildeten. Zum engsten Kreis zählten außerdem noch Lazar’ M. Kaganovič (ihn hatte Stalin wegen seiner jüdischen Herkunft von einer möglichen Nachfolge ausgeschlossen) und Marschall Kliment E. Vorošilov (ihn hatte Stalin als für eine Nachfolge zu alt und zu schwach bezeichnet, eine Zeit lang sogar als britischen Agenten verdächtigt). Vjačeslav M. Molotov und Anastas I. Mikojan waren seit 1952 nicht mehr Stalins engste Vertraute gewesen.79 Der Tod Stalins am 5. März 1953 erschien Berija als eine Fügung und Chance, Stalin an der Spitze von Partei und Staat nachzufolgen. Daher vereinte er noch am selben Tag die Kompetenzen des MGB und des MVD80 in einem Ministerium, dessen Leitung er als Minister für innere Angelegenheiten übernahm. So hoffte er über ausreichend Macht zu verfügen, um den Kampf um die Nachfolge Stalins für sich zu entscheiden.81 Doch mit Stalins Tod begann der Stern Berijas rapide zu sinken. Schließlich gelang es Chruščev u. a. mithilfe von Serov und Kruglov82, den einstigen Gefolgsleuten Berijas, dessen geplante Machtergreifung zu verhindern. Eile schien geboten, denn in einer Art Präventivschlag hatte Berija eine 180-Grad-Kehrtwendung zum innenpolitischen Kurs Stalins vollzogen, dessen Untaten als Verbrechen gebrandmarkt wurden. Außerdem wurde knapp einen Monat nach Stalins Tod auch eine Amnestie für politische Opfer der Stalin-Zeit, an deren Verfolgung Berija selbst entscheidenden Anteil hatte, durchgesetzt. Die Allianz, die Chruščev gegen Berija geschmiedet hatte, wurde 79 Dazu u. a. Nikita Chruščev, Vremja, ljudi, vlast‘, Bd. 2, Moskau 1999, 128ff. 80 MVD = Ministerstvo vnutrennych del (Ministerium für innere Angelegenheiten). 81 Kokurin/Petrov, Lubjanka, 8, 148f. 82 Antonow-Owsejenko, Weg, 164.
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daher vor allem vom Interesse des eigenen Überlebens zusammengehalten. In einer spektakulären Aktion, sowohl was die Vorbereitungen als auch die Durchführung betraf, wurde Berija am 26. Juni 1953 im Laufe einer ZK-Sitzung im Kreml verhaftet. Bald nach ihm wurden noch Abakumov und Merkulov in Haft genommen, ebenso Berijas Frau Nina, sein Sohn Sergo und dessen Gattin Marta Peškova, die Enkelin des sowjetischen Schriftstellers Maxim Gorkij. Noch aus dem Gefängnis heraus schrieb Berija Bittbriefe an einzelne ZK-Mitglieder und an das Präsidium des ZK, in denen er um Gnade für sein Leben und um eine milde Behandlung für seine Familie, vor allem seine betagte Mutter und seinen Sohn Sergo, flehte.83 Im geheimen Gerichtsverfahren wurde Berija offiziell der völlig absurden Verschwörung mit westlichen Geheimdiensten, namentlich dem britischen, für schuldig befunden, weil man ihn öffentlich nicht als Massenmörder in Stalins Auftrag und als Massenvergewaltiger minderjähriger Mädchen hinstellen konnte.84 Am 22. Dezember 1953 verurteilte ihn ein Geheimgericht – gemeinsam mit Dekanozov, Kobulov und Merkulov – zum Tode. Berija wurde bis auf die Unterwäsche entkleidet und mit Handschellen an einen Wandhaken gefesselt. Der Mann, der Tausende Todesurteile und Verbrechen begangen hatte, flehte um sein Leben und machte einen derartigen Lärm, dass man ihn zusätzlich noch mit einem Handtuch knebelte. Der Schütze General A. Batickij, später zum Marschall der Sowjetunion befördert, schoss ihm direkt in die Stirn. Berija wurde eingeäschert.85 Berijas persönliche Dokumentensammlung wurde auf Anordnung Chruščevs skartiert, um das viele kompromittierende Material, das auch gegen Chruščev und andere Sowjetführer vorhanden war, zu vernichten.86 Denn natürlich fragten nicht wenige nach Chruščevs Abrechnung mit Stalin, Berija und anderen Parteigrößen auf dem XX. Parteitag : Und wo war Chruščev, als all diese Verbrechen geschahen ? Im engsten Führungskreis um Molotov, Malenkov, Kaganovič, Mikojan, Suslov, Vorošilov und Bulganin brachen heftige Schuldzuweisungen aus. Die Position des Bauernsohns Chruščev verschlechterte sich auch, weil bekannt war, dass er Stalin förmlich angebetet und sein Vertrauen genossen hatte. Schließlich hatte Stalin Chruščev auch aus der Ukraine geholt, um Malenkov und Berija langsam zu entmachten. Lazar’ Kaganovič erinnerte jedoch in einer ZK-Sitzung, bei der sich die Potentaten gegenseitig die Mitschuld an den Verbrechen unter Stalin zuschoben, daran, dass „das gesamte Politbüro [richtig : Plenum des ZK] die Todeslisten abgezeichnet“ hatte.87 83 Ein Teil der Briefe Berijas vom Sommer 1953 ist abgedruckt in : Chruščev, Vremja, Bd. 2, 745–752. 84 Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch, 11. 85 V. F. Nekrasov, Berija : Konec kar’ery, Moskau 1991 und Montefiore, Stalin, 743. 86 Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch, 11. 87 Montefiore, Stalin, 744.
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Fazit
Die knappe Vorstellung wichtiger Vorsitzender der sowjetischen Staatssicherheit ersetzt noch keine Analyse ihrer Lebensläufe, ihrer Werthaltungen, Ausbildung, Karrieremuster und ihres persönlichen Umfeldes. Dennoch lassen sich einige Trends ablesen : • A lle Geheimdienstchefs begannen ihre Karrieren in der Kommunistischen Partei, im Militär oder im Komsomol. • Die Partei- und geheimdienstlichen Karrieren der Vorsitzenden verliefen oft parallel. • Nachrichtendienstlicher Einfluss konnte daher fast immer mit politischem Einfluss gleichgesetzt werden. • Die Vorsitzenden der sowjetischen Staatssicherheit verfügten über keine außenpolitische bzw. diplomatische Erfahrung, obwohl der von ihnen geleitete Dienst (zumeist) auch die Auslandsspionage und Spionageabwehr umfasste. Dies spricht sehr für abgeschottete Karrieremuster in kleinstem Kreise einer geschlossenen Gesellschaft. • Von den zehn Vorsitzenden der sowjetischer Staatssicherheit bis 1954 (Ende der Amtszeit von Sergej Kruglov) wurde die Hälfte (Jagoda, Ežov, Berija, Merkulov und Abakumov) verhaftet, zum Tode verurteilt und als „Verräter“ bzw. „Konterrevolutionäre“ erschossen. Nach 1954 ereilte nur Vladimir Krjučkov 1991 ein vergleichbares Schicksal. Allerdings entkam er einer Verurteilung.
Barry McLoughlin
ÖsterreicherInnen im „Großen Terror“ 1936–38 in der UdSSR
Es ist still geworden um die Opfer des Kommunismus. Die Hochkonjunktur der Stalinismusforschung während der russischen „Archivrevolution“ währte nicht lange, denn restaurative Kräfte im Archivwesen gewannen bald die Oberhand und sperrten wieder den Zugang zu empfindlichen Quellen. Nicht betroffen von diesem „Rollback“ sind jedoch die Unterlagen, die die Opfer des Bolschewismus betreffen, und zwar aufgrund des Rehabilitierungsgesetzes der Russischen Föderation vom 18. Oktober 1991. Bezüglich der Rezeption solcher Forschungsergebnisse in Europa stößt man auf einige Verständigungsbarrieren. Erstens hat sich die Welt seit 1989 so stark verändert (Zusammenbruch des Kommunismus, Globalisierung der Wirtschaft, „Internetrevolution“), dass Gedächtniskulturen unterbrochen oder zugeschüttet werden. Wir haben, laut Tony Judt, mit „mis-memory“ zu tun : Infolge des Fehlens von „national narratives“ – in vielen Ländern wurden sie im Schulunterricht durch Moduleinheiten ersetzt – ist das historische Gedächtnis höchst selektiv, einerseits nostalgisch/triumphierend, andererseits selektiv/gedenkend.1 Zweitens verschwand der Sowjetkommunismus erstaunlich schnell und weitgehend konfliktfrei ; er hinterließ ein ideologisches „schwarzes Loch“, praktisch ohne Nachlassenschaft oder Anhänger. Obwohl der Niedergang von Stalins Epigonen nur 20 Jahre zurückliegt, ist die 70 Jahre andauernde Strahlkraft der Sowjetunion für Millionen weltweit heute kaum noch zu vermitteln, gegenüber jungen Menschen könnte man genauso über die primitiven Kommunarden Englands zu Cromwells Zeiten reden. Die Geschichte des Kommunismus gehörte niemals zum Kanon der österreichischen Geschichtsschreibung, sieht man von der zehnjährigen sowjetischen Okkupationsmacht – einschließlich des Generalstreiks 1950 – ab. Karl Stadlers Studie zur Schutzbund-Emigration in der UdSSR erschien 1974 und erregte verdientermaßen großes Aufsehen.2 Es lebten damals noch viele Teilnehmer des Bürgerkrieges 1934, nicht zuletzt jene zu Stalinisten mutierten ehemaligen Sozialdemokraten, welche Stadler angriffen. Zwanzig Jahre später jedoch, als die ersten archivalisch fundierten Studien zu ÖsterreicherInnen in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit veröffentlicht wurden, fehlte diese „Februar-Generation“ vollkommen, sodass sich die Interes1 Tony Judt, Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century, London 2008, 2–6. 2 Karl R. Stadler, Opfer verlorener Zeiten. Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, Wien 1974.
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sen an solchen Publikationen im Wesentlichen auf den Rest des marxistischen Lagers und die Familien sowie Verwandten der Opfer beschränkten.3 Praktisch als Schlusspunkt dieser langjährigen Forschungen wird derzeit ein biografisches Handbuch mit Biografien zu 750 Opfern aus Österreich (1925–1945) im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) vorbereitet, das auch auszugsweise im Internet publiziert wird.4 Im Gedenkbuch nicht berücksichtigt sind die Biografien jüdischer Opfer, die nach 1939 im Baltikum und in der Westukraine in sowjetische Haft gerieten.5 Die 750 österreichischen Opfer des Stalinismus in der Sowjetunion werden im Handbuch in drei Hauptgruppen kategorisiert : WirtschaftsemigrantInnen, die in der Mehrzahl nach zwei Jahren zurückkehrten ; politische AsylantInnen sowie ehemalige Angehörige der k. u. k. Armee, die in russische Kriegsgefangenschaft gerieten und in Sowjetrussland verblieben.
WirtschaftsemigrantInnen
Von 1919 bis Ende Jänner 1938 versuchten 80.000 österreichische StaatsbürgerInnen sich eine neue Existenz im Ausland aufzubauen.6 Nach den Ländern des amerikanischen Kontinents (Vereinigte Staaten von Amerika, Brasilien, Argentinien, Kanada) rangierte die UdSSR an fünfter Stelle der Zielländer.7 Laut offiziellen österreichi3 Barry McLoughlin/Hans Schafranek/Walter Szevera, Aufbruch – Hoffnung – Endstation. Österreicherinnen und Österreicher in der Sowjetunion 1925–1945, Wien 1996 ; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) (Hg.), Österreicher im Exil. Sowjetunion 1934–1945. Eine Dokumentation, Einleitung, Auswahl und Bearbeitung : Barry McLoughlin, Hans Schafranek, Wien 1999 ; Hans Schafranek, Zwischen NKVD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der Sowjetunion an Nazideutschland 1937–1941, Frankfurt/Main 1990 ; ders., Die Betrogenen. Österreicher als Opfer stalinistischen Terrors in der Sowjetunion, Wien 1991 ; ders. (unter Mitarbeit von Natalija Mussijenko), Kinderheim Nr. 6. Österreichische und deutsche Kinder im sowjetischen Exil, Wien 1998 ; Memorial Österreich (Hg.), Österreichische Stalin-Opfer, Wien 1990 ; Barry McLoughlin/Walter Szevera, Posthum Rehabilitiert. Daten zu 150 österreichischen Stalin-Opfern, Wien 1991 ; Berthold Unfried/Brigitte Studer, Der Stalinistische Kader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der Dreißiger Jahre, Köln/Wien 2001. 4 Für vorläufige Ergebnisse siehe : www.doew.at/projekte/exil/opfer_su.html 5 Zur jüdischen Emigration in die baltischen Länder siehe Stefan Karner/Philipp Lesiak/Heinrich Strods (Hg.), Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung, Innsbruck/Wien/Bozen 2010. 6 Österreichisches Staatsarchiv (ÖSTA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt/Wanderungsamt (BKA/WA), Karton 2236/451, Beilagen zum Bericht der Deutschen Auswanderungsstelle. Übersicht 1. Viertel 1938 und Zusammenfassung 1919–1937. 7 Michael John, Arbeitslosigkeit und Auswanderung in Österreich, in : Traude Horvath/Gerda Neyer (Hg.), Auswanderung aus Österreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien 1996, 89.
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schen Statistiken betrug die Anzahl der in die UdSSR ausgewanderten WirtschaftsemigrantInnen (einschließlich Familienangehöriger) im Zeitraum von 1919 bis 1937 3.169 Personen.8 Die ersten Arbeitsemigranten aus Österreich in der Sowjetunion waren ehemalige k. u. k. Soldaten, die im Ersten Weltkrieg russische Kriegsgefangene gewesen waren und repatriiert wurden. Da sie in der Heimat keine wirtschaftliche Perspektive für sich sahen, kehrten einige Hunderte aus dieser Gruppe in den 1920er-Jahren nach Russland zurück. Im Jahr 1926 emigrierte außerdem eine Gruppe von 36 Metallarbeitern auf Vermittlung der Wiener Arbeiterkammer, um in einer Moskauer Autofabrik bzw. im neuen Traktorenwerk in Charkov zu arbeiten.9 Im selben Jahr reiste auch die von der Bundesregierung unterstützte Uhlfeld-Kolonie in die UdSSR, aber das Experiment scheiterte bald und die meisten KolonistInnen kehrten wieder heim.10 Begonnen hatte die Einreise größerer Gruppen ausländischer Spezialisten in die UdSSR – es handelte sich fast ausnahmslos um männliche Arbeitskräfte ; Frauen, Lebensgefährtinnen oder Kinder fuhren meistens nicht mit – bereits im Herbst 1928, in der Anfangsphase des 1. Fünfjahresplans (1928–32).11 Österreichische Industriespezialisten rangierten an dritter Stelle (18–20 Prozent) hinter Deutschen und Nordamerikanern in einer Auflistung der Arbeitskräfte, die in dem Volkskommissariat für Schwerindustrie direkt unterstellten Betrieben Anfang 1933 arbeiteten – 6.550 Facharbeiter und 4.121 Ingenieure.12 Bis 1935 hatte aber die Gesamtzahl dieser Ausländer wegen der Heranbildung sowjetischer Industriefachkräfte bereits stark abgenommen – 4.066 Facharbeiter und 744 Ingenieure.13 Die Österreicher hatten in der Regel schon vor der Abreise persönliche Verträge mit einer sowjetischen Fabrik abgeschlossen. Das 1920–1940 bestehende Wanderungsamt (WA) im Bundeskanzleramt übte eine Beratungsfunktion für Ausreisewillige im Wege der Passausstellung aus. Der Höhepunkt der Ausreisewelle nach Sowjetrussland fand während der Weltwirtschaftskrise statt : 1.262 (1931) und 896 (1932) Personen, davon insgesamt 696 Familienangehörige.14 In den Jahren 1926 bis 1929 8 ÖSTA, AdR, BKA/WA, Karton 2236/451, Übersicht 1. Viertel 1938. 9 ÖSTA, AdR, BKA/WA, Karton 2236/81, Zl. 77.752/34. 10 McLoughlin/Schafranek/Szevera, Aufbruch, 49–69 (Beitrag Hans Schafranek). 11 Zum sowjetischen Hintergrund der Abwerbungspraxis siehe Oleg Dehl (Hg.), Verratene Ideale. Zur Geschichte deutscher Emigranten in der Sowjetunion in den 30er Jahren, Berlin 2000, 20–22 ; Gerhard Kaiser, Rußlandfahrer. Aus dem Wald in die Welt. Facharbeiter aus dem Thüringer Wald in der UdSSR 1930–1965, Tessin 2000, 24–25. 12 Russisches Staatsarchiv, Moskau (GARF), 5451/39/59 : 39–41. 13 GARF, 5451/19/585 : 284. 14 McLoughlin/Schafranek/Szevera, Aufbruch, 73 (Beitrag Walter Szevera).
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fuhren 433, 108, 67 und 27 Personen von Wien Richtung Russland ab.15 Im Juli 1929 wurde das WA durch die Berliner Handelsvertretung der UdSSR erstmals vom sowjetischen Bedarf an Ingenieuren informiert. Ein Jahr später begann die Anwerbung von Ingenieuren, Technikern, Werkmeistern und qualifizierten Arbeitern in Österreich.16 Nach der Einrichtung einer bei der Handelsvertretung der Botschaft der UdSSR in Österreich ansässigen Werbungsagentur für Fachkräfte (spetsbjuro) in der Wiener Innenstadt17 stieg die Zahl der Wirtschaftsemigranten im letzten Quartal 1930 auf 60 und im Jahr 1931 auf 1.262, fiel aber 1932 auf 896 und 1933 auf 114 zurück.18 Die meisten österreichischen Wirtschaftsemigranten erhielten als Erwerbslose einen Fahrtkostenzuschuss vom zuständigen Arbeitsamt bis zur polnisch-sowjetischen Grenze bei Stolpce (jetzt in Belarus). Für die Bahnkosten von Negoreloje, dem sowjetischen Grenzbahnhof, bis zum Bestimmungsort in der UdSSR kam der russische Betrieb auf.19 Die Fahrkosten der Familienangehörigen musste der Arbeitsemigrant selbst bestreiten. Die Facharbeiter stammten großenteils aus Industrieorten in Wien, Niederösterreich, aus dem Raum Steyr und der Obersteiermark. Sie fuhren recht oft in Gruppen, beispielsweise Arbeitslose aus dem Leobener Raum zur Arbeit im Magnesit-Werk in Satka (Ural), Bergarbeiter aus Fohnsdorf oder Grünbach am Schneeberg zum Kohlentrust Kusbassugol in Prokopjevsk (Westsibirien), Wiener und Steyrer Metallarbeiter nach Penza (Fahrradfabrik) oder zu Flugzeugfabriken in Moskau und Rybinsk, Büchsenmacher nach Tula oder Stalingrad, Bauarbeiter nach Leningrad usw. Größere Kontingente von österreichischen Arbeitsemigranten fanden Stellen in den großen Traktorenwerken von Čeljabinsk, Charkov und Stalingrad. Vermutlich die größten Ansammlungen von österreichischen Facharbeitern (genaue Statistiken liegen nicht vor) waren in Fabriken beschäftigt, die landwirtschaftliche Maschinen produzierten, vor allem bei der Herstellung von Mähmaschinen bei Rostselmasch in Rostov am Don oder im Werk Zavod kombainov in Saratov.20 Die Auswanderer aus Österreich schlossen ihre Arbeitsverträge von ein bis zwei Jahren Dauer mehrheitlich zu einem ungünstigen Zeitpunkt ab, d. h. nachdem die anfangs verlockend klingenden Bedingungen rückgängig gemacht worden waren. Als 15 ÖSTA, AdR, BKA/WA, Karton 2236/451, Übersicht Auswanderung 1. Viertel 1938. 16 ÖSTA, AdR, BKA/WA, Karton 2236/81, Zl. 77.752/34. 17 Vgl. Ilse Korotin/Karin Nusko (Hg.), „… genug Geschichte erlebt“. Hilde Koplenig (1904–2002), Wien 2008, 128–131. Hilde Koplenig war Angestellte des spetsbjuro. 18 ÖSTA, AdR, BKA/WA, Karton 2236/450, Auswanderungsstatistik 1932. 19 ÖSTA, AdR, BKA/WA, Karton 2236/30, Zl. 61.047/32. 20 Wohn- und Bestimmungsorte scheinen in den Reisepassanträgen auf (ÖSTA, AdR, BKA/WA, Kartons 2235/19 -171, 225–244).
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Nachteil erwies sich die Umwandlung der Entlohnung von einem fixen Gehalt in Stücklohnsätze, da deren Kalkulation oft undurchsichtig schien und daher umstritten war. Noch gravierender war die Streichung der Teilzahlung in Valuten ab Mai 1931.21 Die für die Unterstützung der Familie in der Heimat beabsichtigte monatliche Summe in Dollar oder Reichsmark fiel damit weg, und weil der Rubel nicht konvertierbar war, verloren die österreichischen Familien zu Hause die größte finanzielle Stütze. Viele Facharbeiter kehrten damals schon aus diesem Grund in die Heimat zurück, einige aber vorzeitig wegen der hohen Lebenskosten, niedriger bzw. ausstehender Löhne oder aufgrund von klimatischen Bedingungen und Erkrankungen.22 1935 errechnete das österreichische Wanderungsamt, dass sich nur etwa zehn Prozent der in den Jahren 1930–33 nach Russland vermittelten Kräfte noch dort aufhielten.23 Eine unbekannte Zahl von österreichischen Fachkräften wurde ab 1933 aus der UdSSR ausgewiesen, weil ihr Betrieb in ein Rüstungsunternehmen umgewandelt worden war. 1937 erfolgte eine zweite Ausweisungswelle, die viele österreichische Facharbeiter vor der Verhaftung rettete.24
Politische Emigration
Auch unter den politischen EmigrantInnen, die von der Legitimationskommission der sowjetischen Roten Hilfe (MOPR) anerkannt wurden und somit den Flüchtlingsstatus erhielten, bildete das Kontingent aus Österreich eine bedeutende Gruppe : 832 Personen in den Jahren 1925–40.25 Auffallend ist, dass die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge aus Österreich relativ spät (1933–35) einreiste und aus zwei ungleich großen Gruppierungen bestand : den nach dem KPÖ-Verbot (Mai 1933) aus „Kaderschutzgründen“ abgezogenen leitenden Parteimitgliedern sowie den besiegten Schutzbündlern. Zusammen stellten sie (832 Personen) ein Viertel der in den Jahren 1933 bis 1935 positiv entschiedenen Asylgesuche (insgesamt 2.733).26
21 Oleg Dehl, Ot illjuzij k tragedii. Nemetskie emigranty v SSR v 30-e gody, Moskau 1997, 29–30. 22 Nach der Ankunft in der Heimat wurden Hunderte von Rückkehrern am zuständigen Arbeitsamt über die Arbeits- und Lebensbedingungen in der UdSSR befragt. Siehe die Protokolle in : ÖSTA, AdR, BKA/WA, Kartons 2236/30, 63, 64, 88, 375, 376. 23 ÖSTA, AdR, BKA/WA, Karton 2236/107, Zl. 72.303/35. 24 Zahlreiche der 1937 heimgekehrten bzw. aus der Sowjetunion ausgewiesenen Facharbeiter wurden polizeilich einvernommen. Siehe die Berichte in : ÖSTA, AdR, BKA/Inneres 22/gen., Karton 5008. 25 Russisches Staatsarchiv für Sozial- und politische Geschichte (RGASPI), 495/80/558. 26 Dehl, Ideale, 25.
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Die Anträge der ÖsterreicherInnen wurden meist en bloc abgehandelt und üblicherweise zustimmend erledigt. Diese Erfahrung markierte einen Gegensatz zur zunehmend restriktiven Einreisepolitik der Sowjets in Bezug auf politisch Verfolgte. Von sowjetischer Seite wurde die Ablehnungstendenz finanziell begründet und ließ schon im Zeitraum 1931 bis 1933 die Proportion der negativen Bescheide auf 51,6 Prozent ansteigen.27 In der Regel verlangte die MOPR ab Dezember 1934, dass neue Flüchtlinge die sowjetische Staatsbürgerschaft beantragen mussten, und verbot ihnen gleichzeitig, sich dauerhaft in Moskau, grenznahen Gebieten und Hafenstädten aufzuhalten. FunktionärInnen der MOPR in Moskau schlugen 1936 vor, im „Haus der Politemigranten“ und in Hotels einen Spitzeldienst einzurichten, der über die Stimmung unter den EmigrantInnen und deren Benehmen berichten sollte. Es wurde auch in Betracht gezogen, die Einreise der nachkommenden Verwandten in die UdSSR zu verhindern.28 Eine Untergruppe der österreichischen Politemigration in der UdSSR stellten die 120 „Schutzbundkinder“. Sie stammten großenteils aus Familien, in denen ein Elternteil, meist der Vater, nach den Februarkämpfen eingesperrt wurde. Zwischen 1935 und 1941 durften mindestens 27 dieser Kinder, meistens auf Drängen der Eltern und trotz einiger Hindernisse, die Heimreise antreten. Die Mehrheit fuhr erst nach dem Krieg nach Österreich zurück, einige blieben freiwillig in der UdSSR und andere gingen in Strafanstalten oder Arbeitslagern der UdSSR zugrunde.29 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die russischen Machthaber den Februarkämpfern – ihre Familien trafen meistens später ein – nur bedingt vertrauten. Bei der ersten Diskussion im Politbüro über die Einreise der Schutzbündler am 10. März 1934 entschied man, allen Schutzbündlern die Einreise zu genehmigen, „sofern sie nicht der Spionage verdächtigt sind“.30 Siebzehn Tage später bewilligte das Politbüro 300 Schutzbündlern die Einreise über Prag und Polen und weiteren hundert Ende April.31 Tatsächlich umfasste der erste Transport Ende April 326 Personen,32 der zweite Anfang Juni weitere 230.33 Schon nach dem Beschluss der sowjetischen Parteiführung vom 25. Mai, der den österreichischen Bürgerkriegskämpfern Privilegien 27 GARF, 8265/3/33 : 55, 57. 28 S. V. Žuravlev/V. S. Tjashel’nikova, Inostrannaja kolonija v sovetskoj Rossii w 1920-1930-e gody, in : Otečestvennaja Istorija 1 (1994), 181. 29 Siehe dazu Schafranek, Kinderheim Nr. 6. 30 G. M. Adibekov u. a. (Hg.), Politbjuro TsK RKP(b)-VKP(b) i Komintern, 1919–1943 dokumenty, Moskau 2004, 699. 31 Ebd., 700–701. 32 Eigene Berechnung, gestützt auf Listen und Protokolle der Legitimationskommission beim ZK der MOPR (RGASPI, 495/80/558, 539/4/109, 529/4/112). 33 Die Rundschau Nr. 35 (1934, 7. Juni 1934), 1365.
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in Bezug auf Arbeit, Wohnraum, Lebensmittelzuteilung und Betreuung sicherte,34 änderte sich die Situation gravierend. Eine Ursache war die Heimkehr zweier Schutzbundfunktionäre (unter Einschaltung der österreichischen Gesandtschaft), deren Ausreise das Politbüro am 29. Juni 1934 bewilligte.35 Einen Monat später ergab eine Rundfrage unter Mitgliedern des Politbüros, dass ein dritter Schutzbundtransport abzulehnen sei. Der Botschaft der UdSSR in Prag wurde allerdings das Recht eingeräumt, zusammen mit Vertretern der tschechischen und der österreichischen KP die Einreiseanträge weiterer Schutzbündler individuell zu entscheiden.36 Auf diese Weise durften noch 90 Schutzbundemigranten, teils mit Familie, aus der Tschechoslowakei zwischen September und Dezember 1934 in die Sowjetunion einreisen. Die letzten kleineren Gruppen erreichten 1935 Moskau. Die endgültige Entscheidung des Politbüros in dieser Sache fiel Ende August 1935 : Schutzbündler seien an der Ausreise (Heimkehr) nicht zu hindern, aber die Genossen Ežov und Artusov müssten die materielle Lage und die politische Betreuung in den Schutzbündlerenklaven (Moskau, Leningrad, Gorky, Charkov, Rostov am Don) überprüfen.37 Offensichtlich erregte die wachsende Rückkehrbewegung unter den Schutzbündlern (1934–35 : 41, bis 1941 insgesamt 220) bereits im August 1935 Argwohn, wenn nicht Spionageverdacht. Ežov war Sekretär im ZK, und im September 1936 wurde er auf den Platz von Genrikh Jagoda als Kommissar für Inneres (NKVD) berufen. Artusov leitete die Auslandsabteilung des NKVD, als er die Überprüfung der Schutzbündler übertragen bekam. Ein interner Erlass der Geheimpolizei vom August 1935 begründete die Notwendigkeit der stärkeren Überwachung der deutschsprachigen Politemigration : „Überall ist die Arbeit der Agenturbeobachtung [Spitzelwesen] von deutschen und österreichischen Polit-Emigranten zu aktivisieren [sic], eingedenk der Tatsache, dass die PolitEmigration von der ‚Gestapo‘ aktiv als Kanal für das Eindringen in unser Gebiet benutzt wird und eingedenk des Umstandes, dass im Zusammenhang mit der abnehmenden Zahl deutscher Spezialisten auf unserem Gebiet die Organe des deutschen Nachrichtendienstes der Werbung und Ausnutzung von Polit-Emigranten zum Zwecke der Späharbeit noch größere Aufmerksamkeit beimessen werden […]. Die Aufklärungsarbeit, Beobachtung und Liquidierung der Spionage-Agenturen des Gegners, insbesondere der Agenturen der ‚Gestapo‘, die als Schutzbündler oder unter denselben arbeiten, ist zu verstärken.“38 34 Adibekov u. a., Politbjuro, 703–704. 35 Ebd., 706. 36 Ebd., 707. 37 Ebd., 723. 38 Russisches Staats- und Militärarchiv, Moskau (RGVA), 500/1/1050a : 201–202.
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Der propagandistische Wert der österreichischen Barrikadenkämpfer hielt sich bis etwa Mitte 1936. Nach dem ersten großen Schauprozess gegen einstige Parteiführer im August 1936, der politische „Abweichler“ mit Gestapo-Agenten gleichsetzte, schlug AusländerInnen, besonders deutschsprachigen, eine Welle von Argwohn und Misstrauen entgegen. Als Schaltstelle zwischen dem Exekutivkomitee (EKKI) der Kommunistischen Internationale und der sowjetischen Geheimpolizei fungierte die 1932 gegründete Kaderabteilung des EKKI, die bis 1935 zur größten Untergliederung in der KI-Zentrale anwuchs. Eine besondere Gruppe in der Kaderabteilung befasste sich mit „Fällen der Spionage und der Provokation“.39 Bei der Überprüfung der ausländischen KP-Mitglieder und Schutzbündler durch die Kaderabteilung wurde der MOPR „eine verbrecherische Nachlässigkeit“ vorgeworfen, da durch ihre Strukturen „verdächtige Elemente“ und „Agenten des Klassenfeindes“ in die sowjetische Partei eingedrungen seien.40 In einer aus dreizehn Punkten bestehenden Resolution, die Ende Februar 1936 vom Politbüro verabschiedet wurde, kündigte man die Auflösung der Legitimationskommission der MOPR an, da sich dieses bei der Gewährung von Aufenthaltsgenehmigungen an AusländerInnen Rechte „eines Sowjetorgans“ herausgenommen habe. Diese Funktion durfte künftig nur vom NKVD ausgeübt werden.41 Die Kriterien für die sowjetische Begutachtung (Kadercharakteristik) der Einzelpersonen aus den Asylgruppen waren großenteils jene, die in der parallel dazu laufenden Säuberung in der sowjetischen Partei Anwendung fanden : reale oder unterstellte Abweichungen von der „Generallinie“, so weit sie auch zurückliegen mochten, konnten mit dem Parteiausschluss geahndet werden. Anders als in der Vergangenheit wurde nun privaten Verfehlungen ein politisch feindlicher Anstrich verpasst. Da die Mehrheit in den österreichischen Asylantengruppen kurz vorher in die KPÖ eingetreten war oder parteilos blieb, wurde nicht selten die politische Vergangenheit in Österreich (z. B. Teilnahme an den Februarkämpfen 1934, Verhalten 1934 in der Polizeihaft) unter die Lupe genommen. So bildete Jahre zurückliegendes „Fehlverhalten“ im Ausland die Basis für eine Strafanklage durch die sowjetische Geheimpolizei, eine im internationalen Maßstab einzigartige Rechtsauffassung. Zudem lieferten Betriebe auf Wunsch des NKVD belastendes Material. 39 Peter Huber, Kontroll- und Repressionsmechanismen in der Zentrale der Kommunistischen Internationale, in : Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 1994 (Heft 1), 1–28. 40 Leonid Babičenko, Die Moskvin-Kommission. Neue Einzelheiten zur politisch-organisatorischen Struktur der Komintern in der Repressionsphase, in : The International Newsletter of Historical Studies on Comintern, Communism and Stalinism 2 (1994/1995, 5–6), 35. 41 RGASPI, 17/162/19 : 79, 99–100.
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Die 1937 gebildete Säuberungskommission (genannt nach dem EKKI-Kaderverantwortlichen Mikhail Moskvin) setzte Untergruppen ein, die in Zusammenarbeit mit den Länderreferenten aus der Kaderabteilung des EKKI (Österreich : Richard Uccusic, Hans Täubl) und den Parteigruppen vor Ort Berichte sammelten und auswerteten. Ein Drittel der 900 überprüften polnischen KP-Kader standen „unter Verdacht“, ebenfalls 139 der noch nicht verhafteten KPD-Mitglieder.42 Was die Österreicher anbelangte (Ehefrauen wurden selten mit hineingezogen), steht das Endresultat der Überprüfung nicht zur Verfügung. Sehr viele Einzelempfehlungen belegen allerdings, dass die meisten Schutzbündler für nicht vertrauenswürdig befunden und zur Ausweisung oder freiwilligen Rückkehr vorgeschlagen wurden. Dazu kam es aber nicht, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die Schutzbündler in Österreich eine „Feber-Anklage“ seitens der österreichischen Staatsanwaltschaft zu gewärtigen hatten. Diese 1936 ins Auge gefasste, mit der KPÖ akkordierte Auflösung der Schutzbundemigration sollte die Kaderreserve in der Heimat verstärken. Die ungeklärte Frage der nachträglichen Verfolgung in Österreich hinderte jedoch die Umsetzung der beabsichtigten „Heimschickung“ der Schutzbundkämpfer. In den darauffolgenden Jahren des „Großen Terrors“, als alle AusländerInnen als spionageverdächtig galten, hätte der NKVD die gruppenweise Ausreise nicht erlaubt, zumal sich auch die Initiatoren der Rückkehraktion in der Moskauer KPÖ-Leitung unter den Verhafteten befanden.43
Ehemalige k. u. k. Armeeangehörige
Im Gegensatz zu den wirtschaftlichen oder politischen EmigrantInnen, die in Österreich im Kontext ihrer Auswanderung (Passausstellung, Fahrtkostenzuschuss) oder politischer Tätigkeit für die KPÖ polizeilich oder anders amtlich registriert wurden, sind biografische Daten über einstige „deutsch-österreichische“ Militärangehörige, die nach der Gefangennahme 1914–17 in Russland verblieben, schwer zu ermitteln. Der Umfang der Problematik lässt sich an der Zahl der in russische Kriegsgefangenschaft geratenen k. u. k. Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten erahnen, die zwischen 1,6 und 2,1 Millionen liegt. Die Registrierung war nicht nur bei der Gefangennahme durch die Russen mangelhaft, sondern auch bei der Heimkehr in Wien. Die Rückkehr nach Österreich war großteils „wild“ und führte „auf Schleich-
42 Babičenko, Moskvin-Kommission, 37. 43 DÖW, Österreicher, 139, 166–171.
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wegen durch die nicht mehr existierende Front“.44 Bis Mitte Oktober 1918 sollen nach Armeeangaben knapp 670.000 österreichisch-ungarische Kriegsgefangene aus Russland zurückgekehrt sein, der „deutsch-österreichische“ Anteil daran ist aber unbekannt.45
Der „Große Terror“ 1936 – 38
Der Beginn der Massenrepression in der Sowjetunion wird oft mit der nach dem Mord an Sergej Kirov, dem Leningrader Parteisekretär, am 1. Dezember 1934 eingeleiteten Verschärfung von Strafmaßnahmen in direkte Verbindung gebracht. Anschließend wurden ehemalige Oppositionelle („Trotzkisten“) verfolgt, ab Ende 1936 auch führende Kader in den Volkskommissariaten (Ministerien). Aber erst nach dem Beginn von „Massenoperationen“ der Geheimpolizei NKVD im Spätsommer 1937 begann der Terror alle Bevölkerungsschichten zu erfassen, einschließlich der Ausländerkolonien.46 Den Großteil der österreichischen Opfer nahm die sowjetische Geheimpolizei NKVD während kampagneartigen Verhaftungsoperationen 1937/38 und 1941 fest. Die Massenverfolgung 1937/38 ist mittlerweile gut erforscht. Das Ausmaß des Terrors, die Opfertypen und die Verantwortung von Tätern sind nunmehr unbestritten. Veröffentlichte NKVD-Befehle und Beschlüsse des Politbüros zeigen deutlich, dass der Terror von oben gelenkt und dosiert eingesetzt wurde.47 Historiker sind jedoch uneins über die Gewichtung von Motiven, die das Politbüro im Sommer 1937 bewog, einen in der modernen Geschichte beispiellosen Vernichtungsfeldzug gegen das eigene Volk in Gang zu setzen.48 Einerseits wird die für die UdSSR ungünstige 44 Hannes Leidinger/Verena Moritz, Österreich-Ungarn und die Heimkehr aus russischer Gefangenschaft im Jahr 1918, in : Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie 41 (6) (1997), 390. 45 Ebd. 46 Vgl. Barry McLoughlin, „Vernichtung des Fremden“. Der Große Terror in der UdSSR 1937/38. Neue russische Publikationen, in : Hermann Weber (Hg.), Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2000/2001, Berlin 2001, 50–88. Für vorläufige Forschungsergebnisse in internationalem Maßstab siehe Wladislaw Hedeler (Hg.), Stalinscher Terror 1934–41. Eine Forschungsbilanz, Berlin 2002 ; Barry McLoughlin/Kevin McDermott (Hg.), Stalin’s Terror. High Politics and Mass Repression in the Soviet Union, Houndmills 2003. 47 Siehe das Standardwerk von Oleg W. Chlewnjuk, Das Politbüro. Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der Dreißiger Jahre, Hamburg 1998. 48 Unverzichtbar wegen des reichen Dokumententeils, aber umstritten wegen der Interpretation des Terrors („Die Partei beging Selbstmord“) ist J. Arch Getty/Oleg V. Naumov (Hg.), Stalin and the SelfDestruction of the Bolsheviks, 1932–1939, New Haven/London 1999.
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außenpolitische Lage ins Treffen geführt – in Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg, dem Scheitern von Verständigungsgesprächen mit Deutschland auf den direkten Befehl Hitlers (Kandelaki-Mission) und der japanischen Invasion in China.49 Andererseits gilt auch die innenpolitische Situation, die sozusagen „hausgemacht“ und eine Folge des stalinistischen Voluntarismus war, als Ursache. Letzteres bezieht sich auf die Unruhe unter Parteifunktionären über die „entkulakisierten“ und deportierten Bauern und Bäuerinnen, welche aus der fünfjährigen Verbannung nach Hause gekommen oder aus der Verbannung geflohen und in Städten untergetaucht waren und nun als hoffnungslos verbitterte „Feinde der Sowjetmacht“ apostrophiert wurden. Drittens, und damit im Zusammenhang stehend, befürchtete das Regime einen weiteren Anstieg der Kriminalität oder eine Wiederholung von Bauernaufständen und Banditentum, wie etwa 1930/32 in Westsibirien.50 Wirklich neu in der Forschung ist das Hervorheben des sozialen Elements der Massenverfolgung – als Erste wurden Kriminelle während der „Massenoperationen“ der Geheimpolizei hingerichtet. Später verhaftete man sozial Deklassierte wie Obdachlose, Bettler und sogenannte „Zigeuner“ (tsigany).51 1937 und 1938 wurden 1,5 Millionen Menschen aus politischen Gründen verhaftet, wovon 700.000 erschossen wurden.52 Sieht man von Geheimprozessen gegen Führungskader einmal ab, wurden ca. 80 Prozent der Opfer dieser beiden Jahre im Zuge von zwei Typen von „Massenoperationen“ verhaftet : erstens gegen „Kulaken“ und andere „antisowjetische Elemente“ (770.000 Verurteilungen, davon 390.000 Todesurteile) und zweitens gegen vermeintliche Feinde mit Verbindungen zum Ausland. Letztere liefen unter der Bezeichnung „Nationaloperationen“, wurden gegen 16 verschiedene Minderheiten durchgeführt und resultierten in 335.000 Verurteilungen. Dass die Relation zwischen Todes- und Lagerstrafen bei der „Anti-Kulaken“-Operation eins zu eins, bei den „Nationaloperationen“ jedoch drei zu eins betrug, zeigt, wie hoch das Politbüro die Gefahr einer „fünften Kolonne“ damals einschätzte.53 Nach 49 Oleg Khlevniuk, The Reasons for ‚The Great Terror‘ : the Foreign-Political Aspect, in : Silvio Pons/ Andrea Romano (Hg.), Russia in the Age of War, Milan 2000, 159–169 ; ders., The Objectives of the Great Terror, in : Julian Cooper u. a. (Hg.), Essays in Honour of R. W. Davies, London 1995, 158–176. 50 Diese auf dem Februar/März-Plenum der VKP(B) 1937 abgegebenen Stellungnahmen der mittleren Parteibasis sind zusammenfassend nachzulesen in : Wladislaw Hedeler, Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung, Berlin 2003, 161–206. 51 David R. Shearer, Policing Stalin’s Socialism. Repression and Social Order in the Soviet Union 1924– 1953, New Haven/London 2009. 52 Getty/Naumov, Stalin, 587–594 (Opferstatistiken). 53 Zum Phänomen der „Massenoperationen“ siehe Barry McLoughlin, Die Massenoperationen des NKWD. Dynamik des Terrors 1937/38, in : Hedeler, Terror, 33–50.
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der „polnischen Operation“ (111.000 Erschießungen) war die „deutsche Operation“ (42.000 Erschießungen) der wichtigste Feldzug gegen ethnische Minderheiten sowie AusländerInnen.54 Die österreichischen Opfer der Jahre 1937/38 fielen zu einem großen Teil ins Kontingent der „deutschen Operation“ ; auch wurden die meisten der 200 während der Gesamtperiode bis 1945 gegen ÖsterreicherInnen gefällten Todesurteile in den Jahren 1937/38 exekutiert (vorwiegend in Moskau). Haftbefehle gegen ÖsterreicherInnen bis Ende 1936 wurden meistens wegen einer parteimäßigen Abweichung oder dienstlicher Verfehlungen ausgestellt. Indes reichte, als Massenoperationen im Spätsommer 1937 anliefen, die nationale Zuordnung für die Festnahme. Während der Massenoperationen 1937/38 lag neben der Festnahme und dem Verhören von Verdächtigen auch deren Bestrafung mittels außergerichtlichen (polizeiinternen) Instanzen vollkommen in den Händen der im Volksmund als Čekisten genannten Geheimpolizisten des NKVD. Angesichts der relativ kleinen Zahl von operativen Offizieren des NKVD im Verhältnis zu den zu verhaftenden „Feinden“ wurde großteils auf Indizien oder Ermittlungen verzichtet. Man stand unter Zeitdruck und musste, um die Gefahr, nicht selbst verhaftet zu werden, gering zu halten, möglichst schnell Resultate vorweisen. Von einer „Untersuchung“ kann also keine Rede sein, denn der Festnahme lag nicht ein begangenes Verbrechen, sondern eine Vorbeugungsstrategie zugrunde : im Falle von „Ausländerkontingenten“ etwa die Eliminierung von potenziellen Verbündeten einer fremden Macht im Kriegsfall.55 Deshalb wurde in den 1937/38 gegen grob definierte „ausländische“ Bevölkerungsgruppen erhobenen Strafanklagen in den meisten Fällen Punkt 6 („Spionage“) des § 58 („konterrevolutionäre Verbrechen“) des sowjetischen Strafkodex (1927) angeführt. Darauf stand die Todesstrafe. Die dreizehn anderen Punkte des § 58 ließen dem NKVD indes genug Spielraum, um Verhaftete zu einer Gefängnis- oder Lagerstrafe zu verurteilen.56 Besonders oft verwendete man Punkt 10 („antisowjetische Propaganda“) und 11 („Mitgliedschaft in der konterrevolutionären Organisation“), die sich nicht selten auf Angaben von Dritten stützten : verschiedenartige Unmutsäußerungen, die von einem „Stalin-Witz“ bis zur Kritik an den Zuständen im Betrieb oder an der herrschenden „Mangelwirtschaft“ reichten. Spitzel des NKVD lieferten 54 Siehe ausführlich dazu Nikita Petrov/Arsenii Roginskii, The ‚Polish‘ Operation of the NKVD, 1937– 8, in : McLoughlin/McDermott, Terror, 153–172 ; Nikita Ochotin/Arsenii Roginski, Zur Geschichte der ‚Deutschen Operation‘ des NKWD 1937–1938, in : Weber, Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2000/2001, 89–125. 55 Paul R. Gregory, Terror By Quota. State Security from Lenin to Stalin. An Archival Study, New Haven/London 2009, 202–218. 56 Die wichtigsten Punkte des § 58 sind nachzulesen in : DÖW, Österreicher, 272–273.
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die gewünschten Auskünfte, aber auch Personen aus der Nachbarschaft oder dem Betrieb, die allerdings häufig dazu gezwungen wurden. Die unausgesprochene Strategie hinter den „Massenoperationen“ war das Ausfiltern „versteckter Feinde“, wobei man die Verfolgung von Schuldlosen in Kauf nahm. In einer Rede vor dem Militärsowjet am 2. Juni 1937 forderte Stalin, dass Parteimitglieder „Feinde“ angeben müssten, auch wenn der Vorwurf nur auf fünf Prozent zutreffen sollte.57 Auf dem Februar/März-Plenum des Zentralkomitees 1937 rechtfertige er indirekt die „Rasenmähermethode“ der Verhaftungen : „Um eine große Eisenbahnbrücke zu bauen, dazu braucht man Tausende von Menschen. Sie zu sprengen bedarf es höchstens einiger Leute“.58 Stalins Geheimpolizeichef Ežov, der 1937/38 insgesamt 840 Stunden mit dem Diktator konferierte,59 machte sich diese Vernichtungslogik zu eigen. Im Kreis seiner Führungsoffiziere meinte er, im Zusammenhang mit der Eliminierung von „Feinden“ werde auch eine bestimmte Zahl unschuldiger Menschen zugrunde gehen, dies sei jedoch unvermeidlich.60 Dass die Verhörenden auf einem Geständnis beharrten, war formal und operativ begründet. Der formale Aspekt bestand darin, dass ein Schuldbekenntnis nachträglich als eine rechtliche Begründung für die Verhaftung diente : „soziale Prophylaxe“. Dieser Begriff kam im sowjetischen Strafkodex natürlich nicht vor, weswegen der Generalverdacht in den Vorwurf der „konterrevolutionären Tätigkeit“ umgewandelt wurde, in welcher Form auch immer. Damit die Fiktion, dass „die Organe keine Unschuldigen verhaften“, weiter aufrechterhalten werden konnte, musste das Geständnis in Einklang mit der Anklage stehen.61 Die operative Komponente bezog sich erstens auf Resolutionen des Zentralkomitees (Februar/März-Plenum 1937), zweitens auf Reden Stalins und drittens auf interne Befehle. Darüber hinaus fungierte das Geständnis im operativen Alltag – Zeit wie Ressourcen für Ermittlungen fehlten – als eine Methode, weitere „versteckte Feinde“ zur Verantwortung zu ziehen. Die Zahl der Geständnisse fungierte als Kontrollziffer für die Arbeitseffizienz der Untersuchungsmannschaften des NKVD, deren Empfehlungen (Lager- oder Todesstrafe) die entsprechende Verurteilungsinstanz absegnete.62
57 V. N. Khaustov/V. P. Naumov/N. S. Plotnikova (Hg.), Lubjanka. Stalin i Glavnoe Upravlenie Gosbezopasnostii NKVD 1937–1938, Moskau 2004, 208f. 58 Chlewnjuk, Politbüro, 259. 59 Ebd., 294. 60 Marc Jansen/Nikita Petrov, Stalin’s Loyal Executioner. People’s Commissar Nikolai Ezhov 1895–1940, Stanford 2002, 84–85. 61 F. Beck/W. Godin, Russian Purge and the Extraction of Confession, London 1952, 192–200. 62 Gregory, Terror, 208–209, 215.
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Die Strafakten der 1937/38 in Moskau verhafteten österreichischen Opfer wiesen inhaltlich wie strukturell eine starke Einheitlichkeit auf.63 Das erste Dokument war eine Information zur Festnahme (spravka na arest), welche die – fast immer erfundenen – Haftgründe anführte – in der Regel lauteten sie auf kollektive Spionage – und andere „Verschwörungsmitglieder“ namentlich auswies. Dieses Informationsblatt, das meistens zwei bis drei Tage vor der Inhaftnahme aufgesetzt wurde, trug die Bestätigung von Leonid Zakovskij, dem Leiter der Moskauer NKVD-Verwaltung zwischen Januar und April 1938, sowie die Sanktionierung zur Verhaftung seitens eines zivilen oder militärischen Staatsanwaltes. Im Dossier folgte ein Bescheid, meistens gleichen Datums und wieder mit den oben erwähnten Bestätigungen versehen, der, neben Personalien, den konkreten Verdacht nannte. Anschließend wurde der Verhaftungsbefehl ausgestellt, meistens ohne Datum und nicht selten nach der Inhaftnahme. Bei der Festnahme, die meistens in der späten Nacht erfolgte, sodass manchmal Unklarheit über das richtige Datum besteht, setzte der operative NKVDTrupp ein handschriftliches Protokoll auf, das auch von der verhafteten Person und zwei Zeugen (meistens der Hausbesorger und eine Nachbarin) mit unterzeichnet wurde und die beschlagnahmten Dokumente (Reisepass, Partei- und Gewerkschaftsausweise) auflistete. Bei der Konfiszierung von Wertsachen (Gold, Anleihezertifikate, Sparbücher) hätte eine detaillierte Quittung ausgestellt werden sollen.64 Die Razzien boten sich indes als Gelegenheit für die Čekisten, sich Wertgegenstände und sogar Wohnraum zu beschaffen.65 Bei den Massenverhaftungen 1937/38 in Moskau war es Usus, Häftlinge zuerst in die Lubjanka zu bringen, wo die Personalien auf einem Fragebogen mit zweiundzwanzig Spalten festgehalten wurden. Relativ rasch transferierte man Gefangene in die Taganka, das Untersuchungsgefängnis der Moskauer NKVD-Verwaltung, wo die Verhöre bald begannen. Nach Beendigung des Strafverfahrens wurden die Häftlinge in die Butyrka-Strafanstalt übergeben, wo Sammeltransporte für die Straflager zusammengestellt wurden. Üblicherweise erzielte die Verhörgruppe das gewünschte Resultat relativ schnell, vornehmlich durch pausenlose Befragungen (Schlafentzug) 63 Folgende Ausführungen über Inhalt und Struktur von NKVD-Strafakten basieren einerseits auf Unterlagen, die vom Autor 1992–2000 aufgrund einer Vollmacht der Opferfamilie eingesehen und kopiert werden durften, andererseits auf Kopien aus 177 Strafakten, die im Zuge einer wissenschaftlichen Kooperation zwischen dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) und dem Moskauer Staatsarchiv (GARF) in den Jahren 2009/2010 angefertigt wurden (Projekt P08-0425 des Zukunftsfonds der Republik Österreich). 64 Vgl. ebd. 65 Alexander Vatlin, Tatort Kunzewo. Opfer und Täter des Stalinschen Terrors 1937/38, Berlin 2003, 76–97.
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sowie körperliche und psychische Folter. Lag bereits ein Schuldbekenntnis vor, formulierte die sich mit dem Fall befassende Polizeieinheit die Anklageschrift. Häufig hieß es darin, „der/die Verhörte bekannte sich in Bezug auf die Anklage vollkommen schuldig/nicht schuldig/teilweise schuldig“. Für die Schläger war der Fall nun abgeschlossen, und die Anklageschrift, versehen mit der Bestätigung von Zakovskij, ging an die zuständige außergerichtliche Instanz.66 Das letzte Dokument im ersten Teil des Strafaktes war das Urteil. Lautete dieses auf Erschießen, liegt eine datierte Bestätigung der Hinrichtung mit der Unterschrift des Leiters des Exekutionskommandos vor. Im Urteilspruch der zur Lagerhaft Verurteilten sind die „Begründung“ wie das Strafausmaß angegeben, aber selten, wohin der Gefangene verschickt wurde. Im zweiten Teil des Strafaktes befinden sich diverse Eingaben in Zusammenhang mit einer Revidierung des Urteils und der (meistens posthum erfolgten) Rehabilitierung.67 Die im Stil einer Militäroffensive geführten „Massenoperationen“ des NKVD zwischen August 1937 und November 1938 produzierte Opfer am Fließband. Nur eine geringe Zahl wurde aus der Untersuchungshaft freigelassen,68 und zwar jene Häftlinge, deren Anklageschriften beim Abflauen der Razzien im Herbst 1938 noch nicht fertig waren und nun an militärische Staatsanwälte im Berufungsverfahren abgetreten wurden. Unter den 220 uns bekannten Straffällen mit einem Österreich-Bezug aus der sowjetischen Hauptstadt und Umgebung in den Jahren 1932 bis 1945 befinden sich 80 Schutzbündler, allein fünfzig zwischen Januar und Juli 1938. Die erste Jahreshälfte 1938 erwies sich daher als der Höhepunkt des Terrors gegen AusländerInnen.
ÖsterreicherInnen im Opferspektrum
Wie lässt sich die Opferbilanz der verschiedenen Emigrantengruppen miteinander vergleichen ? Die Antwort wird durch den Umstand erschwert, dass es zwar für etliche Nationalitäten Opferlisten gibt, jedoch keine zuverlässigen Zahlen über die Gesamtgröße der verschiedenen ausländischen Wohnenklaven. Lässt man den schwer einzuschätzenden Umfang historisch gewachsener Siedlerkolonien oder die Dunkelziffer für ehemalige Kriegsgefangene außer Acht, verengt sich die Vergleichsgröße auf eingereiste Facharbeiter und politische EmigrantInnen. Frauen aus dem Ausland 66 Vgl. FN 63. 67 Vgl. ebd. 68 Bis Ende 1939 hatte die Staatsanwaltschaft nur 19.000 der fast 1,5 Millionen Fälle untersucht (Gregory, Terror, 216).
136
Barry McLoughlin
wurden vergleichsweise selten verhaftet.69 Im Hinblick auf die Facharbeiter in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, in der Mehrheit Vertragsbeschäftigte, findet man manchmal Gesamtzahlen. Unklar ist jedoch, wie viele von ihnen in einem bestimmten Jahr in der Sowjetunion noch arbeiteten, bereits nach Hause gereist waren bzw. in der UdSSR blieben. Für Vergleichszwecke eignen sich daher lediglich die jeweiligen Kontingente der politischen Flüchtlinge. Die bulgarische politische Emigration (1917–1944) zählte ungefähr 2.000 Personen (ohne Familienangehörige), wovon 415 (20,7 Prozent) Repressionen unterworfen wurden.70 Die Verhaftungszahl unter BulgarInnen ist vermutlich vergleichsweise niedrig, weil der Status ihres Landsmanns Georgii Dimitrow als Generalsekretär der Komintern einen gewissen Schutz bot oder er manches Mal nach der Verhaftung für sie intervenierte.71 Schätzungsweise 200 Personen aus Italien wurden verhaftet, aber die Anzahl emigrierter ItalienerInnen, die oft über Drittländer einreisten und schon Anfang der 1920er-Jahre in die UdSSR kamen, ist unbekannt.72 Der Blutzoll unter JugoslawInnen wird mit 700–800 beziffert, wovon 189 Biografien veröffentlicht sind, aber auch hier fehlen genaue Daten über die Größe der Asylgruppe.73 Während Flüchtlinge aus Polen wegen ihrer ungeheuren Dezimierung 1937/38 für nähere Vergleichsmöglichkeiten ausscheiden, bleibt eine Gegenüberstellung von deutschen und österreichischen Opferdaten (Politemigration). Ein punktueller Vergleich suggeriert, dass Deutsche ungleich härter als ÖsterreicherInnen von der Terrorpolitik Stalins getroffen wurden. Gemäß einem internen Schreiben der Exilführung der KPD in Moskau im März 1938 waren 70 Prozent der dort registrierten deutschen KommunistInnen bereits verhaftet,74 schätzungsweise 3.000 von den in der Sowjetunion befindlichen 4.000 PolitemigrantInnen aus Deutschland.75 Der entsprechende Prozentteil bei KPÖ-Mitgliedern und Schutz69 Insgesamt etwa 50 Österreicherinnen aus der Gesamtzahl von 750, also sieben Prozent. Meistens handelte sich um Frauen, die entweder die sowjetische Staatsbürgerschaft angenommen oder mit einem bereits verhafteten Russen zusammengelebt hatten. 70 BKP (Hg.), Sa poimennoto polititscheko reablitirane na b’’lgarskite polititscheski emigranti, represirani v SSSR, Sofia 1989. Ich danke Wladislaw Hedeler (Berlin) für eine Kopie dieser Broschüre. 71 Fridrikh I. Firsov, Dimitrov, the Comintern and Stalinist Repression, in : McLoughlin/McDermott, Terror, 56–81. 72 Vgl. dazu : Rolf Wörsdörfer, Italienische Opfer des Stalin-Terrors, in : Hermann Weber (Hg.), Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und ‚Säuberungen‘ in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993, 178. 73 Ubavka Vujosevič/Vera Mujbegovič, Die jugoslawischen Kommunisten in den stalinistischen ‚Säuberungen‘ 1929 bis 1949, in : Weber (Hg.), Kommunisten, 157–173. 74 L. G. Babičenko, Esli budut aresty prodolžat’sja…, in : Istoričeskij Arkhiv 1 (1992), 120. 75 Carola Tischler, Flucht in die Verfolgung. Deutsche Emigranten im sowjetischen Exil, Münster 1996, 108.
ÖsterreicherInnen im „Großen Terror“ 1936–38 in der UdSSR
137
bündlern liegt zwischen 15 und 20 Prozent. Angaben aus Leningrad belegen, dass die KPD-Organisation wegen Verhaftungen zwischen Jänner 1937 und Februar 1938 von 103 auf 12 Mitglieder zusammenschrumpfte,76 während im selben Zeitraum fünf Mann (drei Prozent) des dortigen Schutzbundkollektivs inhaftiert wurden. Die Verhaftungsrate unter österreichischen politischen AsylantInnen dürfte daher als vergleichsweise hoch bezeichnet werden – hinter jener aus Polen und Deutschland, aber proportional höher als der Opferzoll unter Flüchtlingen aus Bulgarien, Jugoslawien und Italien. Auch wenn verschiedene Zeitrahmen bestehen, dürfte 1941 Ausgewogenheit erreicht worden sein, als die Sowjetbehörden zwischen Deutschsprachigen keinen Unterschied mehr machten, denn der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war wieder der Anlass, großflächige Verhaftungsaktionen „vorbeugenden Charakters“ gegen Deutschsprachige durchzuführen.
76 Dehl, Ideale, 101.
Walter M. Iber
Von Spionen, Saboteuren und antisowjetischen Agitatoren Zur sowjetischen Herrschaftspraxis in den Wirtschaftsenklaven SMV und USIA 1945–1955
„Ich gab dem CIC einige wertlose Kopien von Materialbestellungen und eine Übersetzung einer Gebrauchsanweisung und weitere, alles durch mich erfundene, Angaben[,] für welche ich Geld bekam. Meine Verbindung zum CIC dauerte zwei Monate, und ich erhielt als Belohnung 700 Schilling und 900 Zigaretten.“1
So argumentierte Franz Sellner, ein Mitarbeiter der Sowjetischen Mineralölverwaltung (SMV) in Österreich, in seinem Gnadengesuch. Sellner wurde 1950 verhaftet, der Wirtschaftsspionage für westliche Geheimdienste angeklagt und vom sowjetischen Militärtribunal in Baden zum Tod verurteilt. Er hatte dem CIC Informationen über die sowjetischen Erdölbetriebe in Österreich weitergegeben. Das Urteil wurde am 15. Oktober 1951 in Moskau vollstreckt.2 Sellner teilte dieses Schicksal mit rund 200 weiteren österreichischen Zivilisten, die in der Nachkriegszeit verhaftet und von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Tod verurteilt wurden.3 Rund 1.000 Österreicher wurden darüber hinaus mit Haft bestraft. Einem großen Teil dieser Zivilverurteilten wurde das Delikt der Spionage zur Last gelegt, wobei speziell Wirtschaftsspionage ein häufiger Verhaftungsgrund war.4 Der Kontext dieser Schicksale sind die beiden sowjetischen Wirtschaftsenklaven, die nach Kriegende 1945 in Ostösterreich entstanden – die Sowjetische Mineralölverwaltung, kurz SMV, und die Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich, kurz USIA.
1 Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, Moskau (GARF), F. 7523, op. 76, d. 40, 43–45, hier : 44f., Gnadengesuch von Franz Sellner, 31.10.1951.
2 Walter M. Iber, Wirtschaftsspionage für den Westen. Erdölarbeiter im Spannungsfeld des Kalten Krieges, in : Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1953–1955, Wien/München 2008, 169–188, hier 182–184. 3 Siehe ausführlich die Beiträge in Karner/Stelzl-Marx, Opfer. 4 Archiv des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz (AdBIK), Datenbank der österreichischen Zivilverurteilten (DB ZIV).
140
Walter M. Iber
Sowjetische Wirtschaftsenklaven in Österreich – SMV und USIA
Auf der Basis des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 beschlagnahmte die sowjetische Besatzungsmacht 1945/46 die reichsdeutschen Vermögenswerte („Deutsches Eigentum“) in Ostösterreich und unterstellte die Vermögensmasse den eigens dafür gegründeten Verwaltungen SMV und USIA. Die SMV kontrollierte einen Großteil der österreichischen Erdölindustrie (in der Nachkriegszeit immerhin die drittgrößte in Europa nach der UdSSR und Rumänien) : die reichen Erdölfelder und die großen Raffinerien im Wiener Becken. Ihr Netz aus über 300 Tankstellen verpachtete die SMV an die – mit sowjetischem Kapital gegründete, jedoch unter österreichischem Recht firmierende – Handels-AG für Erdölprodukte österreichischer und russischer Provenienz (OROP).5 Die USIA vereinigte unter sich Land- und Forstbesitz, Immobilien, vor allem aber über 400 Betriebe, die zum Teil eine marktbeherrschende Stellung innehatten. Darunter so prominente Firmen wie das Maschinenbauunternehmen Voith, die AEGUnion oder die Siemens Schuckert Werke.6 Zeit ihres Bestehens erwirtschafteten die sowjetischen Betriebe einen „Reingewinn“ von über 11 Milliarden Schilling.7 Im Jahr 1955 waren sie allerdings heruntergewirtschaftet und längst nicht mehr rentabel, weshalb sie nach dem Staatsvertrag gegen umfangreiche Ablösezahlungen an Österreich übergeben wurden.8 Die sowjetischen Betriebe waren weitgehend exterritorial. USIA und SMV wurden von sowjetischen Generaldirektoren geleitet, und auch direkt darunter, auf der höheren Verwaltungsebene, waren überwiegend sowjetische Staatsbürger beschäftigt. 5 Walter M. Iber, Die Sowjetische Mineralölverwaltung in Österreich. Zur Vorgeschichte der OMV 1945– 1955, Innsbruck/Wien/Bozen 2011 ; ders., Die versteckten Reparationen. Zur wirtschaftlichen Ausbeutung Österreichs durch die Sowjetunion 1945–1955/63, in : Wolfram Dornik/Johannes Gießauf/Walter M. Iber (Hg.), Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, 555– 574. 6 Zur USIA siehe die in vielerlei Hinsicht immer noch grundlegenden Arbeiten von Otto Klambauer, Die USIA-Betriebe, 2 Bde., Diss. Wien 1978 ; Ernst Bezemek/Otto Klambauer, Die USIA-Betriebe in Nieder österreich. Geschichte, Organisation, Dokumentation (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde, Bd. 5), Wien 1983. 7 Die auf den ersten Blick durchaus ansehnlichen Gewinne der Unternehmen waren zu einem erheblichen Teil das Resultat nicht ausbezahlter Steuern an Österreich. So blieb die SMV der Republik Österreich allein im Zeitraum 1946–1954 rund eine Milliarde Schilling Steuergelder schuldig, während die USIA 1946–1953 2,9 Milliarden Schilling Steuerschulden als „Gewinne“ verbuchte ; vgl. Michail Prozumenščikov, Nach Stalins Tod. Sowjetische Österreichpolitik 1953 –1955, in : Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Graz – Wien – München 2005, 729–754, hier 741. 8 Siehe Iber, Reparationen.
Von Spionen, Saboteuren und antisowjetischen Agitatoren
141
Abb. 1 : Der USIA-Betrieb „Brucker Zuckerfabrik“ in Bruck/Leitha (Quelle : Stadtarchiv Bruck/Leitha)
Auf der mittleren Verwaltungsebene und vor Ort in den Betrieben arbeiteten indes hauptsächlich Österreicher. In ihrer wirtschaftlichen Hochblüte um das Jahr 1950 waren in den sowjetischen Betrieben in Österreich insgesamt rund 60.000 Arbeiter und Angestellte tätig. Sowohl die sowjetischen Führungskräfte als auch die österreichischen Beschäftigten waren zu strengster Geheimhaltung in Bezug auf betriebsinterne Vorgänge verpflichtet. Man war bemüht, nach außen hin keine Transparenz zu zeigen, und das galt im Kontext des frühen Kalten Krieges natürlich vor allem in der Auseinandersetzung mit den Westmächten. Auf der anderen Seite versuchten aber sowohl die britische als auch die amerikanische (und daneben auch die französische) Besatzungsmacht, insbesondere ab dem Ende der 1940er-Jahre, als es durch den Marshallplan und den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) auch zu einer ökonomischen Spaltung Europas kam, über das wirtschaftliche Potenzial der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten im Bilde zu bleiben – insbesondere im Hinblick auf kriegswichtige Rohstoffe. Vor allem das Erdöl aus Österreich spielte hier eine wichtige Rolle.9 9 Iber, Mineralölverwaltung.
142
Walter M. Iber
Spione
Um an die gewünschten Informationen über die Sowjetbetriebe zu gelangen, warben die westlichen Geheimdienste nicht selten österreichische Arbeiter an. Als „Wirtschaftsspione“ leiteten sie, direkt oder über Mittelsmänner, Informationen aus den Sowjetbetrieben an westliche Geheimdienste weiter. Die Informationen betrafen vor allem die SMV : die Fördermengen, die Weiterverarbeitung von Erdöl, den Abtransport von Rohöl und Mineralölprodukten.10 Auf diese Weise kam etwa die CIA in den 1950er-Jahren zu dem Schluss, dass Moskau seine zentral- und osteuropäischen Satellitenstaaten nicht etwa aus den Lagerstätten in der UdSSR mit Öl versorgte. Bis zu 90 Prozent des zwischen den kommunistischen Staaten des Ostblocks Abb. 2 : Hermine Rotter, hingerichtet am 9. Oktober1951 (Quelle : AdBIK) gehandelten Rohöls kamen über die SMV aus den – strategisch sehr günstig gelegenen, da in unmittelbarer Nähe zur Tschechoslowakei befindlichen – Ölfeldern in Ostösterreich.11 An dieser Stelle schließt sich nun wieder der Kreis zu oft tragischen Schicksalen : etwa zum eingangs erwähnten Franz Sellner oder zu Hermine Rotter. Letztere arbeitete als Buchhalterin in der Abteilung für Arbeiterversorgung der USIA und gab über einen Mittelsmann (den ebenfalls verurteilten Karl Berger) Informationen an den CIC weiter : persönliche Daten und Namenslisten von USIA-Mitarbeitern,
10 Vgl. exemplarisch das Urteil gegen Franz Halama ; Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyi Archiv, Moskau (RGVA), F. 461, d. 190988, 7f.
11 Provisional Intelligence Report : Soviet Bloc Trade in Petroleum an Petroleum Products : Intra Bloc and East-West 1947–53, 6.4.1955, 16 u. 17, abrufbar unter : www.foia.cia.gov, 15.7.2008, 11 :00, MS Internet Explorer ; CIA/RR IM-375, 3, Intelligence Memorandum : Flow of Petroleum in the Soviet Bloc European Satellites 1952, 13.7.1953, abrufbar unter : www.foia.cia.gov, 15.7.2008, 09 :00, MS Internet Explorer.
143
Von Spionen, Saboteuren und antisowjetischen Agitatoren
Auflistungen von USIA-Warenbeständen und USIA-Läden etc.12 Dass die „Spionin“ Rotter Beziehungen mit verschiedenen sowjetischen USIA-Mitarbeitern eingegangen war, war indes – anders als von Rotter erhofft – kein Milderungsgrund. Im Gegenteil – der sowjetische Geheimdienstapparat schätzte derartige Verhältnisse als risikoreich ein, könnte eine Österreicherin den Sowjetbürgern doch Militär- und Staatsgeheimnisse entlocken.13 Hermine Rotter wurde zum Tod verurteilt und im Oktober 1951, im Alter von 24 Jahren, in Moskau erschossen.14 Bislang sind mindestens 34 Personen mit Verbindungen zur SMV (bzw. zur OROP) oder zur USIA aktenkundig, die von den Sowjets wegen „Spionage“ verhaftet und verurteilt wurden. Von diesen Verurteilten waren 24 Personen zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung bzw. irgendwann in den Jahren davor tatsächlich in einem der Betriebe tätig gewesen. Die restlichen zehn Personen waren zwar nicht bei SMV, OROP oder USIA beschäftigt, holten aber in anderen Funktionen Informationen über die Erdölfelder und ‑betriebe ein und gaben diese an westliche Nachrichtendienste weiter. Was das jeweilige Strafmaß betrifft, ist für „Wirtschaftsspionage“ eine gewisse Bandbreite bemerkbar ; die Urteile reichten von 10 Jahren Haft bis zum Todesurteil, das an insgesamt zwölf Personen vollstreckt wurde.
Name
SMV/OROP/USIA-Dienststelle
Spionage für
Berger Karl
ehem. USIA-Arbeiter
USA
Urteil Tod
Blazejovsky Walter
Raffinerie Lobau (Chemiker)
Groß britannien
25 Jahre
Brenner Ingeborg
Arbeiterin im USIA-Betrieb „Beiersdorf“
USA
10 Jahre 25 Jahre
Dubik Stanislaus
Miteigentümer der USIA-Handelsfirma „Degos“
USA
Gastinger Edwin
OROP (Vertriebsleiter)
USA
25 Jahre
Halama Franz
Zistersdorf (Werksdirektor)
Frankreich
25 Jahre
Haselberger
Buchhalter bei der USIA
USA
25 Jahre
Leibnitz Gerhard
USIA-Werkschutz
USA
25 Jahre
Lobner Rudolf
Mühlberg (Arbeiter)
USA
Tod
Manfred Maximilian
Rechtskonsulent der USIA
unbek.
25 Jahre
Nebily Hubert
Raffinerie Vösendorf (Werkschutz)
unbek.
15 Jahre
Ramhapp Erna
Sekretärin bei der USIA-Handelsfirma „Degos“
USA
25 Jahre
12 Edith Petschnigg, Stimmen aus der Todeszelle. Kurzbiographien der Opfer, in : Karner/Stelzl-Marx, Opfer, 301–587, hier 502.
13 Barbara Stelzl-Marx, Verschleppt und erschossen. Eine Einführung, in : Karner/Stelzl-Marx, Opfer, 21–78, hier 41f.
14 Petschnigg, Stimmen, 504.
144
Walter M. Iber
Name
SMV/OROP/USIA-Dienststelle
Spionage für
Urteil
Rotter Hermine
Buchhalterin bei der USIA
USA
Tod
Ruew Viktor
Dolmetscher bei der SMV/Büro für Tiefbohrungen
unbek.
25 Jahre 25 Jahre
Schicklgruber Karl
USIA-Angestellter
USA
Schischka Egon
Miteigentümer der USIA-Handelsfirma „Degos“
USA
25 Jahre
Schneider Karl
Raffinerie Lobau (Produktionsleiter)
Frankeich
Tod/umgewandelt in 25 Jahre
Schuh Walter
Raffinerie Lobau (Chemiker)
Großbritannien
25 Jahre
Sellner Franz Hermann
unbenannter SMV-Betrieb (Fahrdienstleiter und technischer Einkäufer)
USA
Tod
Svehla-Chartschuk Gertrude
OROP (Dolmetscherin)
unbek.
25 Jahre
Turyn Iwan Karl
SMV-Zeitung Erdöldienst (Redakteur)
unbek.
25 Jahre
Wahsmann Franz
Arbeiter bei der USIA, sammelte gemeinsam mit Steinkellner Informationen über die Erdölfelder der SMV
USA
Tod
Wertel Erwin
Raffinerie Lobau (Chemiker)
unbek.
20 Jahre Tod
Zofka Kurt
unbenannter SMV-Betrieb (Arbeiter)
USA
Name
Bezug zu SMV/OROP/USIA
Spionage für
Urteil
Crevato Edwin
sammelte Material über fünf SMV-Betriebe
Frankreich
Tod
Ehn Alfred
sammelte Informationen über die Erdölindustrie
USA
Tod
Grestenberger Josef sammelte Informationen über das Erdölgebiet in Zistersdorf
USA
Tod Tod
Groissl Johann
sammelte Informationen über die Erdölbetriebe
USA
John Erich
sammelte Informationen über die Erdölbetriebe
USA
Tod
Harth Josef
sammelte durch Rudolf Lobner Informationen über das Erdölfeld Mühlberg
USA und Großbritannien
15 Jahre
Marek Anton
sammelte Informationen über die Erdölbetriebe
unbek.
Tod/umgewandelt in 25 Jahre
Ottillinger Margarethe
als Sektionsleiterin im BMfVuW für Fragen zu SMV und USIA zuständig
USA
25 Jahre
Steinkellner Ferdinand
sammelte gemeinsam mit Wahsmann Informationen über die Erdölfelder der SMV
USA
Tod
Wertel Rudolf
Vater von Erwin Wertel, gab Informationen aus der Erdölindustrie an den US-amerikanischen Geheimdienst CIC weiter
USA
25 Jahre
Verurteilte „Wirtschaftsspione“ aus dem Umfeld von SMV/OROP/USIA (Quelle : AdBIK, DB ZIV)
Nahezu alle Verurteilten zeigten sich geständig. Mit Blick auf die Mehrheit der öster reichischen Zivilverurteilten lässt sich jedoch sagen, dass die verhängten Strafen in keiner Relation zu den zur Last gelegten Delikten standen. Das belegen die zahlreichen, erst Jahrzehnte später erfolgten Rehabilitierungen betroffener Personen durch
Von Spionen, Saboteuren und antisowjetischen Agitatoren
145
die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.15 Auch muss man sagen, dass das von den sowjetischen Besatzungsorganen an den Tag gelegte Misstrauen gegen die Arbeiter in den eigenen Betrieben in seiner Intensität fraglos überproportional zur Häufigkeit der nennenswerten Anlassfälle war. Es sind zahlreiche weitere Fälle bekannt, in denen Arbeiter als vermeintliche Wirtschaftsspione Repressalien ausgesetzt waren, d. h. verhaftet und oft wochenlang verhört und festgehalten wurden. In den meisten Fällen kam es jedoch zu keiner Verurteilung.16 Dieses Misstrauen war keineswegs österreichspezifisch, Ähnliches lässt sich auch in den sowjetischen Betrieben in Ostdeutschland (z. B. in der Wismut AG)17 beobachten. Es handelte sich hier um einen Automatismus, der bereits auf höchster Ebene, d. h. in Moskau, seinen Ausgang nahm. Als erste Instanz in Moskau war die GUSIMZ, die Hauptverwaltung des sowjetischen Vermögens im Ausland, mit den Agenden des sowjetischen Vermögens in Österreich befasst. Eine allein verantwortliche Zentralstelle gab es jedoch nicht. Vielmehr handelte es sich um eine Fülle von Moskauer Ministerien und Behörden, die sich allesamt mehr oder weniger intensiv in die Belange der sowjetischen Unternehmen in Ostösterreich einschalteten : z. B. das Außenministerium, das Außenhandelsministerium und das Staatsicherheitsministerium, um nur einige wenige zu nennen. Solche unscharfen Kompetenzaufteilungen waren zweifellos ein allgemeines Merkmal des sowjetischen Totalitarismus, der sein Machtgefüge durch Bürokratisierung erreichte und absicherte. In der sowjetischen Verwaltung war eine Vielzahl an Kontrollinstanzen installiert, beispielsweise wurden bewusst mehrere Kontrollorgane (in Gestalt von Ministerien, Komitees etc.) auf den sowjetischen Firmendirektor „angesetzt“, wobei die „Kontrolleure“ wiederum einer permanenten Überwachung durch die Kommunistische Partei ausgesetzt waren. Als Folge vertiefte sich das gegenseitige Misstrauen – mit ein Grund, warum die Planwirtschaft nicht funktionierte. Nicht selten war jedoch auch eine unfreiwillige Kollaboration zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten die Folge, indem die auf dem gemeinsamen Arbeitsgebiet begangenen Fehler wechselseitig vertuscht wurden. Diese Konstellation wirkte sich hemmend auf Produktivität und Effektivität aus. Die herrschende Gruppe sah im Schüren des gegenseitigen Misstrauens jedoch ein geeignetes Mittel zu dem Zweck, die eigene Machtstellung und Abgesichertheit zu festigen.18 Die Tatsache, dass sämtliche GUSIMZ-Leiter bis 1953 hohe Geheimdienstfunktionäre waren und dem Terrorapparat 15 Iber, Wirtschaftsspionage, 185. 16 Vgl. exemplarisch die Fälle Gagstädter,Kurt, Kopriva,Felicia und Rennert Karl in AdBIK, DB ZIV. 17 Siehe Rainer Karlsch, Uran für Moskau : die Wismut – eine populäre Geschichte, 3. Aufl., Berlin 2008, 84–88. 18 Iber, Mineralölverwaltung.
146
Walter M. Iber
rund um Lavrentij Berija angehörten19, deutet auf die eindeutig sicherheitsdienstlich geprägte Ausrichtung dieser Verwaltungsebenen hin. Diese Wesenszüge der hohen sowjetischen Bürokratie übertrugen sich bis auf die untersten Ebenen, und damit auch auf die sowjetischen Betriebe in Österreich.
Antisowjetische Agitatoren
Die Sowjets boten den Beschäftigten eine verhältnismäßig gute Entlohnung und eine solide berufliche Ausbildung, andererseits stellten sie aber in gesellschaftlicher Hinsicht einen – zumindest theoretischen – Totalanspruch an die Belegschaft in ihren Firmen. Eine Mitgliedschaft in der KPÖ war kein unbedingtes Muss, aber ein großer Vorteil, wenn es um die Sicherung des Arbeitsplatzes ging. Nicht selten kam es zu Entlassungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer (aus sowjetischer Sicht) reaktionären Partei, in den meisten Fällen zur SPÖ. In den Betrieben und auf den Bohrfeldern wurde die Tätigkeit der Arbeiter vom bewaffneten Werkschutz überwacht, einer 700 Mann starken Einheit aus Mitgliedern der KPÖ. Darüber hinaus wurden USIA und SMV mit einem engmaschigen Propagandanetz überzogen. Zeitungen, Vorträge, Ausstellungen, Theatervorführungen, Bibliotheken und eine eigene Sportsektionen waren Teil des Propagandakonzepts, das den Mitarbeitern v. a. von österreichischen Kulturreferenten aus der KPÖ nähergebracht werden sollte. Die sowjetischen Organe zeigten sich indes bemüht, die Arbeit der österreichischen Kommunisten zu lenken und zu koordinieren. Somit erscheint es nicht unzulässig, von SMV und USIA als einer kommunistischen Bastion in Österreich zu sprechen, insbesondere, wenn man die Stärke der KPÖ in den Betrieben im Verhältnis zu ihrer seit November 1945 marginalisierten Position in der Bundespolitik betrachtet.20 Wer sich innerhalb dieser Bastion kritisch über die Sowjetunion und die Ideologie des Kommunismus äußerte, musste mit harten Strafen rechnen. Diese Erfahrung machten zwei Mechaniker einer SMV-Autobasis, Herbert Terp und Johann Frank. Ihnen wurde vorgeworfen, durch abfällige Äußerungen über die Sowjetunion und kritische Stellungnahmen gegen kommunistische Kollegen im Auftrag einer westlichen Macht eine „Gruppenbildung“ innerhalb der SMV-Arbeiterschaft forciert zu haben. Im Laufe des Sommers 1948 verschwanden beide jeweils nach Dienstfahrten 19 Vsevolod Merkulov, Bogdan Kobulov und Vladimir Dekanosov waren enge Vertraute Berijas und wurden gemeinsam mit diesem im Dezember 1953 zum Tod verurteilt und hingerichtet. Siehe Helmut Roewer/Stefan Schäfer/Matthias Uhl, Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert, München 2003. 20 Iber, Mineralölverwaltung.
Von Spionen, Saboteuren und antisowjetischen Agitatoren
147
Abb. 3 : Bericht der Arbeiter Zeitung über das mysteriöse Verschwinden von Herbert Terp und Johann Frank, 28. Juli 1948 (Quelle : www.arbeiter-zeitung.at)
mit einem sowjetischen Vorgesetzten spurlos, wie die Arbeiter Zeitung berichtete.21 Akten aus sowjetischen Archiven belegen, dass sie in Neunkirchen wegen „antisowjetischer Agitation“ von einer sowjetischen Sonderbehörde zu 25 Jahren Haft verurteilt wurden. Die folgenden Jahre verbrachten sie in verschiedenen Lagern und Gefängnissen in der Sowjetunion, ehe sie schließlich im Juni 1955 nach Österreich zurückkehren durften.22
Saboteure
Auch nach Arbeitsunfällen, die Sach- oder Personenschäden zur Folge hatten, wurden Erdölarbeiter von der sowjetischen Autorität wegen „Sabotage“ zur Verantwortung gezogen. Die Sowjets taten dies wohl in dem Bewusstsein, dass westliche Geheimdienste ihre Agenten anwiesen, gezielte Informationen über die Stärke der Werk21 Arbeiter Zeitung, 28.7.1948. 22 AdBIK, DB ZIV.
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Abb. 4 : Feuer in Zistersdorf, 1952 (Quelle : ÖNB/Bildarchiv Austria)
schutzmannschaften und die Bewachung einzelner Anlagen zu beschaffen.23 Dass aber andererseits die Sicherheitsstandards bei USIA und SMV völlig unzulänglich waren,24 tat nur wenig zur Sache. Am 5. Juni 1947 geriet in Zistersdorf ein Öltank in Brand. Da die Feuerwehren aus den umliegenden Gemeinden die auch auf andere Behälter übergreifenden Flammen nicht unter Kontrolle brachten, musste sogar die Wiener Berufsfeuerwehr eingreifen.25 Erst nach mehr als drei Stunden konnte der Brand gelöscht werden. Das Schadensausmaß war enorm : 200 Tonnen Erdöl waren verbrannt, neun Gebäude zerstört, zwei Messbehälter beschädigt, sieben in Betrieb befindliche Bohrungen standen für 20 Stunden still.26 Weitere Brandkatastrophen größeren Ausmaßes
23 National Archives And Record Administration, College Park (NARA), RG 319, Box Nr. 208, File Nr. XE009634, Dossier Sellner. 24 Iber, Mineralölverwaltung. 25 Arbeiter-Zeitung, 7.6.1947, 3. 26 Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii, Moskau (RGASPI), F. 82, op. 2, d. 486, 1, Merkulov an Molotov, 12.6.1947.
Von Spionen, Saboteuren und antisowjetischen Agitatoren
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ereigneten sich am 2. November 194927 in Neusiedl an der Zaya und 1952 in Zistersdorf.28 Nach derartigen Brandkatastrophen kursierten Sabotagegerüchte, und die Besatzungsmacht neigte zu hartem Vorgehen. So wurden als Folge des Zistersdorfer Großbrandes von 1947 acht Erdölarbeiter verhaftet, weil die Sowjets einen Anschlag als Ursache für die Katastrophe vermuteten, wie GUSIMZ-Chef und Berija-Intimus Vsevolod Merkulov in einem ausführlichen Bericht darlegte.29 Das weitere Schicksal dieser Verhafteten lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, ihre Spur verliert sich. Oft wurden vermeintliche Saboteure nach umfangreichen Verhören wieder entlassen, teilweise durften sie sogar wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Letzteres, wie in einem Fall ausführlich dokumentiert, aber z. B. nur unter der Bedingung, dass sie für die Sowjets betriebsinterne Spitzel- und Denunziantendienste leisteten.30 Eine tatsächliche Verurteilung wegen „Sabotage“ ist zwar in nur einem Fall dokumentiert, die Strafe fiel hier dafür umso härter aus : Betroffen war Friedrich Götz, ein Kranführer bei der SMV in Zistersdorf. Nachdem im März 1949 an seinem Kran ein Seil gerissen war, wodurch es zu einem Sachschaden von 15.000 Schilling kam, wurde Götz von Organen der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet und hatte sich in weiterer Folge wegen „Sabotage“ zu verantworten. Am 24. April 1949 verurteilte ihn das sowjetische Militärtribunal in Baden zu 25 Jahren Haft. Götz wurde in die Sowjetunion verbracht, konnte aber im Oktober 1953 nach Österreich zurückkehren.31
Schlussbemerkung
Eine ständig präsente Furcht, ein ständiger Kampf gegen „subversive reaktionäre Kräfte“ – das war es, was die sowjetische Herrschaftspraxis in den Wirtschaftsenklaven USIA und SMV kennzeichnete. Natürlich war diese Herrschaftspraxis im westorientierten Österreich der Nachkriegszeit kaum dazu angetan, für eine nachhaltige Stärkung des Kommunismus zu sorgen ; jedenfalls hatte sie maßgeblichen Anteil daran, dass den sowjetische Besatzern vonseiten österreichischer Medien ein rauer Wind 27 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Wien (ÖStA/AdR), BMfF, Sekt. Vermögenssicherung : Staatsvertragsakten, Kart. 4876, GZ 66/349, Reichmann (BMfI) an Dr. Meixner (BMfVuW), 2.11.1949. 28 Österreichische Nationalbibliothek, Wien (ÖNB), Bildarchiv. Sign. H 9141/1. 29 RGASPI, F. 82, op. 2, d. 486, 1, Merkulov an Molotov, 12.6.1947. 30 Archiv Matzen. Gedächtnisprotokoll aus einem Interview mit Maria Kainzmayer (Gattin von Josef Kainzmayer), 26.6.2007 ; zu Kainzmayer Josef siehe AdBIK, DB ZIV. 31 AdBIK, DB ZIV.
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Walter M. Iber
entgegenschlug und dass die KPÖ schon während der Besatzungszeit immer wieder mit massiven Problemen bei ihrer kulturpolitischen Arbeit, bei der Mobilisierung innerhalb der Arbeiterschaft zu kämpfen hatte. Nach 1955 traten die Arbeiter in den ehemaligen USIA- und SMV-Betrieben schließlich zu Tausenden aus der KPÖ aus.32
32 Vgl. Iber, Mineralölverwaltung.
Gerhard Botz
Einleitung. Zu einer Erfahrungsgeschichte des Zweiten Weltkrieges Militärgeschichte war – vor allem in deutschsprachigen Ländern, besonders auch in Österreich – lange Zeit primär ereignisbezogene Kriegsgeschichte, historisches Nachspielen verlorener (seltener gewonnener) Schlachten, Geschichte der militärischen Einheiten und der Heerführer.1 Einerseits war sie instrumentalisiert von militaristischen Ideologien und Staatspolitiken (und profitierte davon). Andererseits diente sie oft nur der Traditionspflege und der nostalgischen Rekonstruktion von Identitäten ehemaliger Kriegsteilnehmer, die durch die modernen Kriegsereignisse gebrochen waren. Beides war nicht unbedingt demokratisch motiviert und widersprach zunehmend gesellschaftlichen Vorstellungen in (nicht kriegerischen) „Normalzeiten“, wie sie in großen Teilen Europas in den 1970er- und 1980er-Jahren vorherrschten ; erst recht passten sie nicht in den Kontext eines entstehenden kritischen historischen Bewusstseins, das die „verdrängten Vergangenheiten“ von Nationalsozialismus und Vernichtungskrieg bzw. stalinistischer Diktatur und „Großem Vaterländischem Krieg“ aufzulösen begann. Daher auch hielt sich die deutschsprachige Geschichtswissenschaft,2 als sie anfing, sich thematisch, methodologisch und von ihren weltanschaulichen Grundlegungen her zu erneuern, lange Zeit von solchen „gefährlichen“, durch Verstrickungen der Kriegsgenerationen „kontaminierten“ Themen fern und überließ diese weitgehend den historiografischen und politischen Traditionalisten. An der Militärgeschichte ging folglich auch der wissenschaftliche Paradigmenwandel, der sich in einer Hinwendung zu sozial- und gesellschafts-, dann auch alltags- und gendergeschichtlichen Perspektiven und Themen äußerte,3 zunächst meist wirkungslos vorüber. Dies trifft auch auf den langjährigen Pionier der neueren österreichischen Militär- und Kriegsgeschichte, Manfried Rauchensteiner, in einem gewissen Maße noch zu. In Österreich, wo man noch in den 1980er-Jahren weder die Erneuerungen in diesem Fachgebiet in der BRD und die daraus entstandenen Arbeiten4 in größerem Ausmaß zur Kenntnis nahm noch von der angelsächsischen – durchaus konservativen,
1 Vgl. Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Militärgeschichte ?, Paderborn 2000. 2 Vgl. Dieter Langewiesche (Hg.), Militärgeschichte heute, Göttingen 1996. 3 Vgl. Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997 ; Mark Moyar, The Current State of Military History, in : The Historical Journal 59 (2007), 225–240.
4 Zunächst vor allem im Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Freiburg im Breisgau, etwa von Manfred Messerschmidt und Wolfram Wette.
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Gerhard Botz
jedoch sozial- und politikgeschichtlich fundierten – Militär- und Kriegsgeschichte5 etwas wissen wollte,6 bedurfte es der Waldheim-Affäre, bis eine jüngere Generation von ZeithistorikerInnen zu erkennen begann, dass hier ein ganzes Forschungsfeld7 brach lag. Nicht zuletzt hatte die Geschichtsvergessenheit8 in der breiten Öffentlichkeit und in der österreichischen Politik zu den ärgsten internen Konfusionen und internationalen Konflikten um die tabuisierte oder beschönigte Kriegsvergangenheit von Hunderttausenden Österreichern geführt. Nach den Erschütterungen, die von dieser Affäre ausgingen, den Arbeiten Walter Manoscheks9 und den Ausstellungen über „Verbrechen der Wehrmacht“ in den 1990er-Jahren, die eine prononciert kritische Revision der bisherigen Militärgeschichte (zum Zweiten Weltkrieg) einleiteten, wurden Militär- und Kriegsgeschichte auch in Österreich allmählich als Thema der wissenschaftlichen Zeitgeschichte relevant ; damit folgte man nun auch einem neueren Trend in vielen westlichen Ländern Europas, wo Militär- und Kriegsgeschichte zu einem „emerging market“ für die Geschichtswissenschaft wurden. Hier sind vor allem auch die zahlreichen Projekte und Publikationen des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, aber auch Arbeiten der anderen Ludwig Boltzmann Institute, die diesen Sammelband (und die vorausgehende Konferenz von 2009) bestritten, zu nennen. Querverbindungen und wesentliche Anregungen können jedoch noch von dem, was mittlerweile als „neuere TäterInnenforschung“ und manchmal sogar als „eigenständiges Teilgebiet“ der NS-Geschichte bezeichnet wird, erwartet werden.10 5 Vgl. etwa Michael E. Howard, War in European History, Oxford 2009 ; oder Peter Paret (Hg.), Makers of Modern Strategy. From Machiavelli to the Nuclear Age, Princeton/NJ 1986.
6 Ich selbst nehme mich davon nicht aus, obwohl mir schon am Beginn des geschichtspolitischen Konflikts um Waldheims Kriegsvergangenheit die Bedeutung dieses Feldes klar gewesen ist ; vgl. Gerhard Botz, Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung. Probleme des „typischen Österreichers“ mit der NS-Vergangenheit (1987), in : ders./Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, 2. Aufl., Frankfurt/Main 2008, 89–104. 7 Vgl. jedoch etwa Arbeiten von Manfried Rauchensteiner (Hg.), Österreich 1945. Ein Ende und viele Anfänge, Graz 1997 ; Erwin A. Schmidl, März ’38. Der deutsche Einmarsch in Österreich, Wien 1987 ; sowie Peter Broucek (Hg.), Edmund Glaise von Horstenau, Ein General im Zwielicht, 3 Bde., Wien 1980, 1983, 1988. 8 Vgl. zu Deutschland : Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, 151–292. 9 Vgl. Walter Manoschek, „Serbien ist judenfrei“. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993 ; ders., Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003. 10 Vgl. Horst Dülffer, zit. nach Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul, Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung, in : dies. (Hg.), Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2000, 1.
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Eine derartige Konjunktur und Auffächerung des Felds der neuen Militär- und Kriegsgeschichte, das – überschießend – gelegentlich auch von kultur-, medien-, erfahrungs- und erinnerungsgeschichtlichen Zugängen geradezu „kolonisiert“ zu werden beginnt,11 mögen auf ein europäisches und globales kulturell-gesellschaftliches Umfeld zurückzuführen sein, in dem um die Jahrtausendwende tief greifende Änderungen sichtbar wurden : der Kollaps des Sowjetimperiums und das Auftreten kriegerischer Handlungen im Südosten Europas, ein grundlegender Wandel der Erscheinungsformen von „Kriegen“ im 21. Jahrhundert (nun „asymmetrisch“ oder entterritorialisiert)12 und der beunruhigende Umstand, dass völkerrechtswidrige Offensivkriege auch für westliche Demokratien wieder denkbar geworden sind. Dem entspricht, dass in den vergangenen Jahrzehnten, noch vor den Wellen des internationalen Terrorismus und der gesteigerten Sensibilität für subtile und offene ethnischpolitische Gewalttaten, eine neue Gewaltforschung13 entstanden ist, die innovative Ansätze zur Bearbeitung auch der (scheinbar „nur“) zwischenstaatlichen und staatlich sanktionierten Gewalt zu liefern imstande ist.14 In dieser historiografischen und geschichtsmentalen Zwischenzone sind auch die Beiträge dieses Panels positioniert ; deren Ziel ist es, work in progress zu individuellen bzw. kleingruppenspezifischen Erinnerungsäußerungen über Gewalterlebnisse im Zweiten Weltkrieg anhand bisher kaum oder nicht ausgewerteter Quellenbestände darzustellen und Wege zu ihrer Analyse zu zeigen. Inhaltlich geht es dabei überall um komplexe Kontexte, Handlungen und Situationen, um Erlebnisse, Erfahrungen und Wahrnehmungen von Wehrmachtssoldaten (und Waffen-SS-Angehörigen). Im Hintergrund stehen dabei unter anderem die von Thomas Kühne formulierten,15 immer noch drängenden Fragen : Wie haben die im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg kämpfenden Deutschen und Österreicher mental „den Weg in den Terror“ und – weniger explizit – nach 1945 wieder „aus dem Terror“ heraus gefunden ? 11 Vgl. Jay Winter/Emmanuel Sivan, Setting the Framework, in : dies. (Hg.), War and Remembrance in the Twentieth Century, Cambridge 1999, 6–39.
12 Vgl. Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006. 13 Vgl. Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt/Main 1995 ; Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002 ; Wolfgang Sofsky, Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg, Frankfurt/Main 2002. 14 Hiezu fand am 7. und 8. Oktober 2010 in Wien eine Tagung „Räume der Gewalt im Europa des 20. Jahrhunderts“ von einem Forschungsverbund um den Cluster Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, Thomas Lindenberger (Wien, Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit), Dieter Pohl (Univ. Klagenfurt) und Jörg Baberowski (Humboldt-Univ. Berlin) statt. Ich selbst fungierte dabei als Koordinator. 15 Vgl. Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, 15.
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Keineswegs sollen die soziografischen, generationellen, herkunftsmäßigen, funktionalen und sonstigen Differenzen der unterschiedlichsten Personengruppen, die als AkteurInnen exzessiver Gewalt und menschenverachtender Vorgänge im nationalsozialistischen Regime und in seinem Krieg auftraten, übersehen oder marginalisiert werden. Aber es ist durchaus sinnvoll und anregend, die Themen und Ansätze der drei Beiträge zu diesem Kapitel mit zentralen Fragestellungen und Kontroversen der neueren NS-„TäterInnengeschichte“ in Beziehung zu setzen. Das zeigt sich, wenn zum Abschluss dieser Sektion (der breiteren Öffentlichkeit bisher kaum bekannte16) Berichte von österreichischen Wehrmachtssoldaten zitiert werden und diese Dokumente bisherige wissenschaftliche Antworten zu illustrieren vermögen oder neu überdenken lassen (siehe den Beitrag von Marianne Enigl über die „Einübung in den Vernichtungskrieg“17). Die schockierende Wirkung dieser Quellen scheint aus dem Kontext der lange andauernden „Verdrängung“ der österreichischen NS-Vergangenheit18 verständlich. Es zeigt sich auch anhand eines noch laufenden, hier vorgestellten Projekts, das die vielfältigen Berichte deutscher (und „österreichischer“) Angehöriger der Wehrmacht und der Waffen-SS über ihre Kriegserfahrungen einer ersten systematischen Evaluierung unterzieht (siehe den Beitrag von Richard Germann mit dem Titel „Angezapftes Wissen“). Dasselbe Thema steht auch im Mittelpunkt des hier unmittelbar folgenden Artikels, der parallele Forschungsergebnisse in einen breiteren theoretischen und komparativen Kontext stellt (Beitrag Sönke Neitzels über „Die Banalität des Kriegsalltags“).19 16 Dies trifft auch auf zeitgenössische, allerdings propagandistisch geschönte Berichte zu wie : [Heinz] Guderian (Hg.), Mit den Panzern in Ost und West, I. Erlebnisberichte von Mitkämpfern aus den Feldzügen in Polen und Frankreich 1939/40, Berlin u. a. 1942, etwa 18f., 69 ; vgl. auch Sandra Paweronschitz, „Damit der Krieg ein anderes Gesicht kriegt …“, in : Gerhard Botz (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation. Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern, 2. Aufl., Wien 2007, 39–46. 17 Überwiegend Jochen Böhler (Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Bonn 2006) folgend vermeidet Enigl doch dessen Fehler, das von Anfang an feststellbare Auftreten von Erscheinungen des späteren (ab 1941) Vernichtungskriegs bereits 1939 als dessen Beginn selbst zu interpretieren und die qualitativen Unterschiede zwischen Polen und Juden, gegen die sich vor allem 1939 bzw. 1941–44 die massenhaften Tötungen richteten, zu übersehen. Vgl. hierzu auch Klaus-Peter Friedrich, Did the Nazi War of Extermination in Eastern Europe Start in September 1939 ?, in : Yad Vashem Studies 34 (2006), 193–204, hier 199 ; Thomas Sandkühler, Die Täter des Holocaust. Neuere Überlegungen und Kontroversen, in : Karl Heinrich Pohl (Hg.), Wehrmacht und Vernichtungspolitik. Militär im nationalsozialistischen System, Göttingen 1999, 45f. 18 Vgl. etwa Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese : NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in : Christian Gerbel u. a. (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien 2005, 50–85. 19 Vgl. bereits Sönke Neitzel, Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945, Berlin 2007 ; sowie nunmehr auch : ders/Harald Welzer (Hg.), Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt/Main 2011.
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Gerade wegen der spezifischen Traditionsbelastung dieses Themas durch gewisse militaristische oder Österreicher-exkulpierende Untertöne bei manchen (Laien-) Historikern dieses Feldes und wegen der immer noch gegebenen nationalgeschichtlichen Relevanz können hier die Österreich-Bezüge nicht außer Acht gelassen werden. Richard Germann beschäftigt sich daher folgerichtig mit diesen und präzisiert dabei die wechselseitigen Fremdstereotype von Deutschen und „Ostmärkern“ während des Kriegs und unmittelbar danach. Auf die größeren Zusammenhänge von Verhalten und Erinnern in und nach dem Zweiten Weltkrieg verweist vor allem Sönke Neitzels Beitrag. Was sich schon durch Einzelfallstudien oder illustrative Zitate und in anderen aussagekräftigen Quellen, wie Tagbüchern, Memoiren, Fotos und Feldpostbriefen,20 abzeichnet und was von „dichten Beschreibungen der Taten“21 bestätigt wird, wird in diesen beiden Beiträgen von einer anderen methodischen Ecke her beleuchtet. Beiden ist gemeinsam, dass sie komplexe Tatbestände und Daten kategorisieren und damit einer quantifizierenden Analyse zugänglich machen. Bei aller damit verbundenen Reduktion der Komplexität können so wissenschaftlich über einen bestimmten Personenkreis (Deutsche und „Österreicher“ in amerikanischer und britischer Kriegsgefangenschaft gegen Kriegsende) verallgemeinerbare Aussagen über politische Einstellungen, Regimeloyalität oder ‑distanz, Zukunftseinschätzungen und Sinnkonstruktionen über Kriegsgeschehen und Vernichtungsaktionen getroffen werden. Da diese qualitativ und quantitativ ausgewerteten Erzählungen der Wehrmachtsund SS-Angehörigen, die sich in ihrem eigenen Kreis unbeobachtet glaubten, relativ zeitnahe – nicht zeitgleich – zu den Vorgängen, an denen sie (seltener) persönlich beteiligt waren oder von denen sie (öfter) „bloß“ wussten, entstanden sind, haben sie ein starkes und aussagekräftiges Moment der Authentizität von „Mittäter/Täter“Diskursen. Dies darf allerdings nicht dazu verleiten, Probleme der Erinnerungs- und Rechtfertigungsformierungen, die aus der Oral History mit jahrzehnteweit zurückliegenden Ereignissen und Handlungen bekannt sind, in diesem Zusammenhang nicht zu beachten. Denn die in der Wehrmacht indirekt erfahrene, unmittelbar gesehene 20 Studien hierzu mussten hier aus Zeit- bzw. Platzgründen entfallen, vgl. jedoch Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg ? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998 ; Hans Joachim Schröder, Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992 ; Jens Ebert/Thomas Jander (Hg.), Endlich wieder Mensch sein. Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Deserteurs Hans Stock 1943/44, Berlin 2009 ; Konrad Jarausch/Klaus Jochen Arnold (Hg.), „Das stille Sterben…“ Feldpostbriefe aus Polen und Russland 1939–1942, Paderborn 2008, vor allem 13–19, 20–53. 21 Klaus-Michael Mallmann u. a. (Hg.), Deutscher Osten 1939–1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003, 8.
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oder mit verübte Brutalität den „Anderen“ gegenüber wurde von den eigenen Soldaten als bloße Begleiterscheinung des Kampfes gegen den – in seinen Ursachen nicht hinterfragten – erbitterten feindlichen Widerstand gegen den als „legitim“ empfundenen deutschen Vormarsch verharmlost. In der Erinnerung war dann auch „der industrielle Massenmord an vielen Millionen Menschen […] lediglich ein weiterer Beleg für die Grausamkeit des Krieges schlechthin und kein Zeichen für die Einzigartigkeit des von Nazideutschland entfesselten Krieges“ 22, wie schon Omer Bartov festgestellt hat. So stellen sich hier aufs Neue die Fragen nach TäterInnen und TäterInnenschaft23, strukturellen und erfahrungsgeschichtlichen Vorprägungen, ideologischen und propagandistischen Reflexen, militärischem Auftrag, „eigensinnigem“ Unterlaufen oder/ und überschießendem Ausführen von Befehlen, nach realen oder imaginierten Bedrohungsszenarien und dem im Krieg geschaffenen bzw. ermöglichten ungehemmten Ausleben von Gewaltphantasien (gegen PartisanInnen, polnische, russische oder allgemein slawische „Hinterhältigkeit“, „bolschewistische Grausamkeit“ oder „jüdische Verkommenheit/Allmacht“ etc.)24. Weder ein langfristig bestehender „eliminatorischer Antisemitismus“25 in der politischen Kultur und Gesellschaft Deutschlands und Österreichs noch eine vornazistische Sozialisation in roher Gewalt,26 noch im (Kriegs- und Vernichtungs-)Alltag ablaufende kurzfristige Lern- und Einübungsprozesse von „ordinary men“ oder „normalen“ Deutschen27 (und Österreichern)28 22 Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1995, 273.
23 Vgl. Harald Welzer unter Mitarbeit von Michaela Christ, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/Main 2005, vor allem 76–219.
24 Allgemein zur Täterforschung vgl. vor allem Sandkühler, Täter, 40–65 ; Mallmann/Paul, Sozialisation, 1–32 ; Gerhard Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen, in : ders. (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche ?, Göttingen 2002, 13–92 ; Peter Longerich, Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung, in : Aus Politik und Zeitgeschichte 14–15 (2007), 3–7 ; Michael Wildt, Blick in den Spiegel. Überlegungen zur Täterforschung, in : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2) (2008), 13–37. 25 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. 26 Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 27 Vgl. Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993. 28 Vgl. hierzu die wenigen Hinweise in Bertrand Michael Buchmann, Österreicher in der deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, Wien u. a. 2009 ; vgl. auch Marcel Stein, Österreichs Generale im deutschen Heer 1938–1945. Schwarz/Gelb – Rot/Weiß/Rot – Hakenkreuz, Bissendorf 2002, 139–199, 256–286 („Die ‚stummen Diener‘ ohne Kommandogewalt“).
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aus der „Mitte der Gesellschaft“29 können hinreichend erklären, warum und wie im Krieg in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß kriegsrechtswidrige Massengewalt und der Genozid an den Jüdinnen und Juden (wie an anderen „Untermenschen“) ausgeführt werden konnten – nicht nur von NS-Gläubigen und SS-Mitgliedern, sondern auch von Zehn-, vielleicht Hunderttausenden von „Landsern“, Offizieren oder Polizisten, gleichwohl sie vorher und nachher meist „biedere“ Söhne oder Väter,30 „Kleinbürger“, Arbeiter oder Akademiker31 waren. Weder eine unausweichliche Gewaltdisposition und „Automatik“ der Eskalation der Grausamkeit bei Einzelnen und in den handelnden Gruppen noch sogenanntes „freies“ und planvolles Handeln können erklären, was biografienahe Erkundungen zutage bringen, wie Alf Lüdtke in einem bemerkenswerten Aufsatz32 resümiert : „Jeder einzelne machte sich die Befehle zu eigen, nutzte dabei alltagsweltliche Orientierungen, vermengt mit ideologisch geprägten Vorurteilen wie NS-Stereotypen : Gewalt- und Mordimaginationen hatten dabei jede Chance. Die Mischungen bestimmten, was ‚man‘ tat – und wie man es tat.“33
So können bei ein und derselben Person bzw. Gruppe TäterInnenschaft und TatDistanz (wenn nicht gar Opposition) von einer den Handlungsrahmen beeinflussenden Situation zur anderen mäandrieren und sich geradezu in einer „Gleichzeitigkeit beider Identitäten“ niederschlagen.34 Auch Neitzel kommt zu dem Schluss, dass in den Deutungsmustern der meisten Wehrmachtssoldaten der scheinbar banale Kriegsund Militäralltag im Vordergrund steht und nicht die „Verbrechen der Wehrmacht“. Die Fokussierung auf Letzteres war vor allem vor der Täterforschung der 1990erJahre in der Dialektik wissenschaftlicher Debatten notwendig gewesen und hatte diese auch nachhaltig beeinflusst. Das vielschichtige und ambivalente Verhalten (und die „agency“) aufseiten der Mehrheit der Wehrmachtssoldaten sowie der anderen Mitglieder der „Volksgemeinschaft“ – ein Element von persönlicher Handlungskom29 Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903– 1989, 2. Aufl., Bonn 1996 ; ders. (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt/Main 1998. 30 Vgl. Harald Welzer u. a., „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/Main 2002 ; Gerhard Botz, Nazi, Opportunist, „Bandenbekämpfer“, Kriegsopfer. Erinnerungssplitter zu meinem Vater, in : ders. (Hg.), Schweigen, 135–159. 31 Vgl. Mallmann/Paul (Hg.), Karrieren, 6–9. 32 Vgl. Alf Lüdtke, „Fehlgreifen in der Wahl der Mittel“. Optionen im Alltag militärischen Handelns, in : Mittelweg 36 (12.1) (2003), 61–75.
33 Ebd., 75. 34 Vgl. ebd., 70f.
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Gerhard Botz
petenz in der Diktatur des Regimes und des unmittelbaren sozialen bzw. kameradschaftlichen Umfelds, das die Massen- und Kriegsverbrechen im Dritten Reich nicht verhindert hatte – hatte diese Konzentration jedoch nur unzureichend erklären können. Neue Anläufe dazu werden im folgenden Abschnitt vorgeschlagen.35
35 Für wertvolle Literaturhinweise danke ich Eva Brücker, Regina Fritz, Richard Germann und Peter Stadlbauer.
Sönke Neitzel
Die Banalität des Kriegsalltags Anmerkungen zu den Wahrnehmungen und Deutungen deutscher Soldaten im Totalen Krieg
Saubere Wehrmacht – verbrecherische Wehrmacht. Diese Schlagworte umreißen überspitzt formuliert die wissenschaftlichen Debatten über die deutsche Armee im Zweiten Weltkrieg. Nachdem die historische Forschung in den 1970er- und 1980erJahren die Dimension der Mitwirkung der Wehrmacht an Unrecht und Gewalt erörtert hatte, ging es bald darum, die zahllosen Verbrechen zu erklären. Dabei kristallisierten sich intentionale und in letzter Zeit immer mehr situative Handlungsmotive heraus. Vor allem aus der Forschung zu Verbrechen entwickelte sich eine vielschichtige Mentalitätsgeschichte, die den Handlungen vorgelagerten Perzeptionen des Krieges nachspürte, um festzustellen, wie nationalsozialistisch und wie verbrecherisch die Wehrmacht gewesen ist1. Dabei sind zwei Probleme zutage getreten. Das erste betrifft die Quellenlage. Dokumente, die uns über die zeitgenössischen Wahrnehmungen und Deutungen Auskunft geben könnten, sind seltener, als man vielleicht erwarten könnte. Die Quellengattung des Feldpostbriefes, einst als besonders aussagekräftig begrüßt, ist in ihrer Reichweite doch begrenzt. Der Umstand, dass sich die Soldaten in ihren Briefen in die Heimat in der Regel eine Gegenwelt konstruierten, die mit ihren Erfahrungen an der Front nur wenig zu tun hatte, ist hier gewiss die bedeutendste Einschränkung2. 1 Rafael A. Zagovec, Gespräche mit der „Volksgemeinschaft“. Die deutsche Kriegsgesellschaft im Spiegel der westalliierten Frontverhöre, in : Jörg Echternkamp (Hg.), Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Zweiter Halbband : Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzungen, München 2005, 289–381. An älteren Studien vgl. Morris Jannowitz/Edward A. Shils, Cohesion and Desintegration in the Wehrmacht in World War II, in : Moris Jannowitz (Hg.), Military Conflicts. Essays in the Institutional Analysis of War and Peace, Beverly Hills/CA 1975, 177–221 ; Omer Bartov, The Eastern Front, 1941–1945. German Troops and the Barbarisation of Warfare, London 1985. Wenige Jahre später verallgemeinerte Bartov die Ergebnisse dieser Untersuchung auf das gesamte Ostheer : ders., Hitler’s Army. Soldiers, Nazis, and War in the Third Reich, New York 1991. 2 Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg ? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn [u. a.] 1998 ; Ortwin Buchbender/Reinhold Sterz (Hg.), Die andere Geschichte des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945, München 1982 ; Peter Knoch, Feldpost – eine unentdeckte historische Quellengattung, in : Geschichtsdidaktik 11 (2) (1986), 154–171 ; Peter Knoch
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Das zweite Problem ist vielleicht noch gewichtiger. Indem die Forschungen zur Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht sich vor allem mit Kriegsverbrechen und Ideologisierung befassten, blickten sie zu selektiv auf die Quellen. Überspitzt formuliert : Man suchte nach Schlagworten wie Kommissar, Jude, Banden usw. und legte jene Quellen beiseite, in denen davon nichts zu finden ist. Ob das dann gezeichnete Bild den zeitgenössischen Wahrnehmungen auch nur von großen Teilen der Wehrmacht entsprach, muss zumindest infrage gestellt werden. Bei der Auswertung des rund 150.000 Seiten umfassenden Quellenbestandes von Abhörprotokollen deutscher Soldaten in britischem und amerikanischem Gewahrsam3 sind wir mit unserer Projektgruppe an der Universität Mainz und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen anders vorgegangen. Für uns waren prinzipiell alle Aussagen interessant, mögen sie auch noch so banale Aspekte beinhalten. Mit einer computergestützten Analyse vermochten wir die Vielzahl an Themen herauszuarbeiten, die die Gefangenen in ihren Gesprächen behandelten. Dies erlaubt uns zumindest weite Teile ihres Referenzrahmens zu rekonstruieren und damit eine sinnvolle Einordnung der Gespräche über Gewalt, Unrecht und Verbrechen vorzunehmen. Da die Auswertung des Materials noch nicht abgeschlossen ist, können an dieser Stelle nur erste Ergebnisse vorgestellt werden. Die Analyse ergab bislang, dass sich etwa 80 Prozent aller aufgezeichneten Gespräche der rund 10.000 in britischer Kriegsgefangenschaft abgehörten deutschen Soldaten mit Aspekten des Kriegsalltags, wie etwa den Vorgesetzten, der Nachschubsituation oder der Waffentechnik befassten. In knapp 20 Prozent der Gespräche kamen aber auch im weitesten Sinne politische Fragen, etwa über die Zukunft Deutschlands, den Nationalsozialismus, Hitler oder auch Kriegsverbrechen vor. Hier zeigt sich, dass das NS-Herrschaftssystem im Referenzrahmen der gefangenen Soldaten kaum positiv konnotiert war. Die Person Hitlers ist – wenn sie reflektiert wurde – in gleichem Umfang ablehnend wie zustimmend bewertet worden. Die Zustimmung war vielfach mit einer Verehrung verbunden, die dazu diente, in Zeiten der Niederlagen Orientierung zu finden. Ein Gefreiter meinte (Hg.), Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und Friedenserziehung, Stuttgart 1989 ; Wolfram Wette, Militärgeschichte von unten. Die Perspektive des „kleinen Mannes“, in : ders. (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, Zürich/München 1992, insbesondere 20 ; Gerald Lamprecht, Feldpost und Kriegserlebnis. Briefe als historisch-biografische Quelle, Innsbruck [u. a.] 2001 ; Wolfgang Wiesen (Hg.), Es grüßt Euch alle, Bertold. Von Koblenz bis Stalingrad. Die Feldpostbriefe des Pioniers Bertold Paulus aus Kastel, Nonnweiler-Otzenhausen 1992. Eines der wahrscheinlich prominentesten Beispiele dürften die Briefe von Heinrich Böll sein ; vgl. Jochen Schubert (Hg.), Heinrich Böll. Briefe aus dem Krieg 1939–1945, Köln 2001. 3 Näheres zur Quelle der Abhörprotokolle in Sönke Neitzel, Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945, Berlin 42009, 12–25.
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etwa, er „tröste [s]ich mit den Worten des Führers, er habe alles eingerechnet.“4 Und ein Oberst der Heeresgruppe Afrika tröstete sich nach dem Zusammenbruch der Front damit, dass Hitler doch „ein genialer Mann [sei], der findet sicher noch einen Ausweg da unten.“5 Diese Urteile wurden sachlich nicht begründet, sie drückten schlicht den Glauben aus, dass der Führer es noch richten werde. Die ablehnenden Urteile waren tendenziell deutlich fundierter und rationaler begründet. So etwa jene von General Wilhelm Ritter von Thoma, der die hoffnungslose Kriegslage mit dem Argument der wirtschaftlichen Unterlegenheit des Reiches zu untermauern suchte.6 Rund sieben Prozent der Sprecher teilten den NS-Rassismus, drei Prozent stellten sich ihm dezidiert entgegen, die ganz große Mehrheit, 90 Prozent, schwieg aber zu diesem Thema. Während die Masse der Soldaten in den Gesprächen ohne erkennbare politische Haltung argumentierte, gab es zwei kleine Gruppen – quasi die Ränder einer Gauß’schen Normalverteilung – deren politische Einstellung sich klar zuordnen lässt : die überzeugten Nazis und die überzeugten „Anti-Nazis“. Beides waren überaus heterogene Gruppen, in denen sich alle Dienstgrade, Altersgruppen und auch Mitglieder aller Teilstreitkräfte finden. Lediglich eine einzige Auffälligkeit ist zu vermerken : Die Gruppe der jungen Leutnante war in signifikantem Maße höher nationalsozialistisch ideologisiert. Dies ist in der Forschung immer wieder vermutet worden, konnte so schlüssig bislang aber noch nicht belegt werden. Die Abhörprotokolle belegen einmal mehr, dass das Wissen um Verbrechen weit verbreitet gewesen sein muss. Dies ergibt sich weniger aus der absoluten Zahl entsprechender Textstellen7 als aus den Reaktionen der Gesprächsteilnehmer. Die Berichte von Massakern, Massenerschießungen usw. wurden fast ausschließlich als an sich längst bekannte Tatsachen aufgenommen. Nur Details des Einzelfalls sind als Neuigkeiten verstanden worden. Die meisten kriegsverbrecherischen Handlungen wurden von den Soldaten nicht als Kriegsverbrechen gedeutet. Völkerrechtliche Definitionen spielten für sie demnach keine nennenswerte Rolle. Lediglich bei massenhaften Tötungen etwa von Gefangenen, insbesondere aber von Frauen und Kindern, fiel überhaupt der Begriff des „Verbrechens“. Die Verantwortung daran wurde in mehr als 4 5 6 7
S.R.X. 228, 29.3.1941, TNA, WO 208 / 4158. S.R.X. 1802, 24.6.1943, TNA, WO 208 / 4163. Vgl. Neitzel, Abgehört, 29–36. In dem 3.500 Seiten umfassenden S.R.X.-Bestand, der Abhörprotokolle von Heeres-, Luftwaffenund Marinesoldaten umfasst, die zusammen belauscht wurden, sind Verbrechen ca. 100 Mal erwähnt worden. Konzentrationslager 14 Mal, Vernichtungslager 8 Mal ; vgl. Alexander Hoerkens, Kämpfer des Dritten Reiches ? Die nationalsozialistische Durchdringung der Wehrmacht, Magisterarbeit Uni Mainz, 2009.
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50 Prozent der Fälle der SS in die Schuhe geschoben. Erklärt wurden die Gräueltaten stets aus den situativen Umständen des Krieges heraus, nicht hingegen mit Ableitungen aus der NS-Ideologie. Die verbrecherische Dimension des Weltanschauungskrieges im Osten, vor allem das Ziel der Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“, wurde daher in ihrer Reichweite und Konsequenz meist nicht begriffen. Kriegsverbrechen spielten im Referenzrahmen der Soldaten somit nur eine untergeordnete Rolle. Die eigenen Entbehrungen und Opfer, die eigenen Erfolge erschienen demgegenüber viel relevanter und wirkungsmächtiger für die Kriegswahrnehmung. Überspitzt formuliert : Das Schicksal der Gegnerinnen und Gegner, sei es jener Soldaten und Zivilistinnen und Zivilisten, die Opfer von Verbrechen wurden, oder auch nur jener, gegen die man auf dem Schlachtfeld kämpfte, fand bei den Soldaten kaum Beachtung. So wurde nicht darüber reflektiert, ob Partisaninnen und Partisanen ein Recht gehabt hätten, gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen. Aus der Perspektive der Soldaten erschien ihr Widerstand illegitim. Aus solchen Perzeptionsmustern folgte, dass vieles, was de jure und auch nach heutigen moralischen Maßstäben ein Kriegsverbrechen war, zeitgenössisch nicht im Entferntesten so wahrgenommen wurde. Und selbst wenn man es doch als moralisch verwerflich registrierte, wurde es im Zuge des Ausgleichs einer kognitiven Dissonanz umgedeutet – indem man die Schuld stets auf andere schob. So ist es zu erklären, dass nur in ganz wenigen Ausnahmefällen die Verbrechen dazu führten, die Deutung des Krieges insgesamt zu beeinflussen. Der Befund, dass die eng begrenzte soziale Nahwelt-Perspektive für die „mental maps“ der Soldaten maßgeblich war, lässt sich auch bei dem Blick auf die „Anderen“, also Gegner und Verbündete, belegen. So kommt in den abgehörten Gesprächen deutscher Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft der in der Forschung nachgewiesene Antikommunismus der Wehrmacht8 erstaunlich selten vor. Es gab zwar etliche Aussagen über „dumme, tierische, stumpfe Russen“. Die meisten Soldaten sprachen aber mit Anerkennung von der Moral und dem Widerstandswillen der russischen Soldaten. Aufschlussreich sind auch die Sprachbilder. Es wurde kaum je von „Bolschewisten“, „Kommunisten“, noch nicht einmal von „den Sowjets“ geredet. Diese Einschätzungen mögen 1941 andere gewesen sein. Als ab 1943 die große Masse von Soldaten in die britischen Abhörlager kam, hatte sich ihr Russlandbild offenbar längst gewandelt. Die Erfahrungen im tagtäglichen Kampf an der Front – fast alle kannten die Ostfront aus eigenem Erleben –, formte jenseits ideologischer Stereotype der Propaganda ein Bild des Gegners, das schon im Sprachbild erstaunlich 8 Vgl. z. B. Jürgen Förster, Zum Rußlandbild der Militärs 1941–1945, in : Hans-Erich Volkmann (Hg.), Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln 1994, 141–164.
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nüchtern war. So wird die Bezeichnung „die Russen“ doppelt so häufig verwendet wie „der Russe“. Termini wie „Bolschewisten“ oder „Bolschewiken“ werden zur Benennung der Rotarmisten praktisch überhaupt nicht verwendet. Gewiss hatten etliche Gefangene Angst vor einer Besetzung Deutschlands durch die Rote Armee. Die Sowjetunion war im Referenzrahmen insgesamt sicher negativer besetzt als Frankreich oder Großbritannien. Entscheidend ist jedoch, dass die ideologische Deutung der UdSSR im Sinne des Weltanschauungskrieges das Sprechen über den Ostfeldzug nicht prägte. Im Übrigen spielten bei der Konstruktion eines Bildes von den Italienern – um den wichtigsten Verbündeten zu erwähnen – die vermeintlichen oder realen Erlebnisse an der Front die zentrale Rolle. Die Italiener wurden durchweg negativ gesehen, weil man es erlebt habe, dass sie nicht tapfer kämpften, bei feindlichen Angriffen wegliefen oder kapitulierten. Interessanterweise wurde erst mit dem Seitenwechsel Italiens im September 1943 auf rassische Argumentationen („der Romane“) oder den Ersten Weltkrieg („Verrat“) zurückgegriffen. Ideologie, Politik und Verbrechen – so lässt sich als Zwischenbilanz festhalten – kommen in den Deutungen des Krieges zwar vor, spielten bei den meisten Soldaten aber eine vollkommen untergeordnete Rolle. Entscheidend für die Wahrnehmungen waren die eigenen Erlebnisse an der Front – und diese standen für die Soldaten in der Regel nicht in einem für sie erkennbaren oder wahrgenommenen Zusammenhang mit Ideologie, Politik oder Verbrechen. Hier ging es – in ihrer Wahrnehmung – um ihre Rolle als Soldat, als ein Rädchen im Getriebe der Wehrmacht. An der Front wurde ein Wertekorsett bestätigt, das die Soldaten spätestens mit dem Eintritt in die Wehrmacht vermittelt bekamen : die Wehrmacht als eine der leistungsfähigsten Armeen der Welt, der deutsche Soldat als der potenziell beste der Welt, der für Deutschland tapfer, diszipliniert, meist siegreich und in der Niederlage (potenziell) bis zur letzten Patrone kämpfe. Wenngleich an der Wehrmacht und dem Krieg im Einzelfall massive Kritik geübt wurde, so führte das in der Regel nicht dazu, dass das System als Ganzes abgelehnt oder gar erwogen wurde, gegen es zu handeln. Wie wirkungsmächtig der im Referenzrahmen verankerte Verhaltenskodex war, lässt sich an den Gesprächen über das eigene Handeln im Krieg ablesen. Hier wurde stets darauf rekurriert, dass man ein guter Soldat gewesen sei und seine Pflicht getan habe. Der Umstand, dass man sich nunmehr in Kriegsgefangenschaft befand, was ja kaum Sinn des eigenen Handelns gewesen sein konnte, wird daher so gedeutet, dass durch die eigene Person keine Verletzung des Verhaltenskodex erfolgt sei. „Wir hatten keine Munition mehr“ ; „wir waren umzingelt“ und – insbesondere von höheren Offizieren sehr häufig verwendet : „Mein Bunker war der letzte, der kapitulierte“. Unabhängig davon, wie die Gefangennahme wirklich abgelaufen war, wurde es in den Gesprächen
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als notwendig erachtet, das eigene Handeln kongruent mit dem militärischen Wertesystem als besonders ehrenvoll zu präsentieren. Ehrenvoll meinte hier, „tapfer“ bis zuletzt gekämpft und sich dabei handwerklich als „guter“ Soldat präsentiert zu haben – etwa indem man seinen Panzer, sein Geschütz, sein Flugzeug trotz der verlorenen Schlacht erfolgreich zum Einsatz gebracht hatte. Erstaunlich ist dabei, dass die fortwährende Erfahrung der Niederlagen ab 1943 nicht zu einem Zusammenbruch der Moral führte, obwohl die Wehrmacht nicht mehr siegreich war. Dies konnte gelingen, weil zwar etliche Schlachten verloren gingen, der individuell erlebte Kampf aber durchaus noch erfolgreich verlaufen konnte oder aber auch der Kampf sui generis zur positiven Sinnbildkonstruktion diente. Hatte man als Soldat im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten individuell erfolgreich gekämpft, so konnte man sein Gesicht, seine „Ehre“ wahren, auch wenn die Schlacht oder gar der Krieg verloren ging. Für die Soldaten ging es – wie schon Thomas Kühne angedeutet hat9 – vor allem darum, in ihrem sozialen Umfeld zu funktionieren und die ihnen zugewiesene Rolle auszuführen. Die Vorstellung, etwas Richtiges richtig zu tun und dabei keine Handlungsalternative zu haben, war so stark verankert, dass sie kaum zu erschüttern war und als Erkenntnis auch in den Jahrzehnten nach dem Krieg Bestand hatte. Wenn selbst die permanenten Niederlagen seit 1943 das Vertrauen in Staat und Armee allenfalls punktuell und zeitweise erschüttern konnten, vermochten dies die Verbrechen von Staat und Armee erst recht nicht. Zu schwach und zu kleinteilig war der Bezug zum Alltag der allermeisten Soldaten, als dass dies eine nachhaltig Wirkung hätte entfalten können. Die Institution der Wehrmacht wurde – trotz aller Kritik – nicht generell infrage gestellt, und sie blieb bis ins Frühjahr 1945 hinein positiv konnotiert und nahm bis in die Gefangenschaft hinein eine handlungsleitende Funktion ein. Vor diesem Hintergrund erscheint die oft aufgeworfene Frage, warum deutsche Soldaten auch 1944/45 weitergekämpft haben10, falsch gestellt : Warum hätten die Soldaten anders handeln sollen ? Die Möglichkeit, das System Wehrmacht mit Befehl und Gehorsam infrage zu stellen, lag außerhalb der Vorstellungswelt der Soldaten. Es wurde so lange gekämpft, wie man individuell dazu die Möglichkeit hatte. War dies nicht mehr gegeben, kapitulierte man schon 1940 ebenso wie 1944. Kapitulieren aus einer übergeordneten Einsicht erschien bis weit ins Frühjahr 1945 hinein nicht vorstellbar. 9 Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. 10 Zuletzt als leitende Forschungsfrage bei John Zimmermann, Pflicht zum Untergang. Die deutsche Kriegführung im Westen des Reiches 1944/45, Paderborn 2009.
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Der Vergleich mit den Abhörprotokollen italienischer Soldaten offenbart, dass diese Deutungsmuster in anderen Ländern so nicht auftraten, es sich in dieser Aggregation um ein spezifisch deutsches Phänomen der Zeit handelte. Der faschistische Staat und die eigene Armee wurden von den italienischen Soldaten 1942/43 in toto als so unfähig und inkompetent wahrgenommen, dass es keinen Sinn zu machen schien, sich für eine Clique von Politikern und Generälen totschießen zu lassen – ein Befund, der von den deutschen Soldaten selbst im April 1945 so nicht geteilt wurde. In den Wahrnehmungen der italienischen Soldaten vermischten sich dabei allgemeine Vorstellungen von Staat und Armee mit der konkret erlebten Kampfsituation, in der aufgrund mangelnden Nachschubs, minderwertiger Ausrüstung, feindlicher Überlegenheit und einer als unfähig erlebten Führung der Einsatz des eigenen Lebens nicht mehr gerechtfertigt erschien. Die Kapitulation wurde dementsprechend nicht als unehrenhaft, sondern als sinnvoll erachtet. Auf die Frage, warum man „tapfer“ kämpfen und sein Leben riskieren solle, fanden die Soldaten keine positive Antwort – sodass es für sie keinen Sinn machte, sich in diesem Krieg in besonderem Maße zu engagieren. Anders gewendet : Die Verankerung militärischer Werte in einer Gesellschaft, insbesondere aber das System Militär und das Kriegserlebnis formten den Referenzrahmen der Soldaten. Gewiss spielten dabei auch Propaganda, Ideologie oder generationelle Einflüsse eine wichtige Rolle. Die Abhörprotokolle zeigen freilich, dass das unmittelbare Kriegserlebnis so zentral war, dass es auch vorgefertigte Deutungsmuster – etwa über „die Slawen“ als „Untermenschen“ – in den Hintergrund drängen konnte. Daraus folgt, dass man den „Kern des Krieges“, den Kampf, die Schlacht, den Feldzug, in den Mittelpunkt einer Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht stellen sollte, da hiervon die wirkungsmächtigsten Einflüsse auf die Deutungen der Soldaten ausgingen. Dass die Wahrnehmungen der Soldaten überaus selektiv gewesen sind, ist wenig verwunderlich, wird aber in der Forschung kaum thematisiert. Lediglich bei besonders reflektierten Soldaten – vor allem höherer Dienstgrade – war der Drang, das Erlebte zu interpretieren, so stark, dass sie das eigene Erleben in einen größeren Zusammenhang stellten – sei es in einen nationalsozialistisch oder in einen anti-nationalsozialistisch konnotierten. Jene reflektierten Geister haben besonders häufig Quellen hinterlassen, auf die sich die Forschung gerne stützt. Dabei verliert man allerdings aus den Augen, dass die Deutungen des Krieges bei den allermeisten Wehrmachtsoldaten von der Banalität des Alltags bestimmt waren und dass die Frage „saubere Wehrmacht – verbrecherische Wehrmacht“ vor allem etwas über unsere heutigen Deutungsmuster aussagt, die zeitgenössischen Wahrnehmungen der Soldaten aber nur unzureichend abbildet.
Richard Germann
Angezapftes Wissen Abgehörte Gespräche „österreichischer“ Wehrmachts- und Waffen-SSAngehöriger in britischer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft
1,3 Millionen „Österreicher“ wurden zwischen 1938 und 1945 zur deutschen Wehrmacht eingezogen.1 Bei der Waffen-SS dürften es 60.000 gewesen sein.2 Die meisten von ihnen gerieten – sofern sie überlebten – in alliierte Kriegsgefangenschaft. Prinzipiell sind für Krieg führende Staaten jene Gefangene besonders interessant, derer man noch während des Krieges habhaft werden kann, da sie die Schlagkraft des Gegners minimieren und nach Kriegsrecht zu nichtmilitärischen Arbeiten (ausgenommen davon waren Offiziere) herangezogen werden können. Neben diesen naheliegenden Argumenten sind – je nach Funktion und Dienstgrad schwankende – militärische Informationen zentral. Jede der Krieg führenden Parteien versuchte, diese zu gewinnen, unter anderem, um technische Daten und den taktischen Einsatz von Waffensystemen zu kennen oder die Stimmung im gegnerischen Lager besser einschätzen zu können. Auf amerikanischer und britischer Seite wurde diese Informationsabschöpfung besonders effizient in speziellen, mit verborgenen Mikrofonen ausgestatteten („verwanzten“) Kriegsgefangenenlagern durchgeführt.3 Die Gespräche deutscher, „österreichischer“ und italienischer Kriegsgefangener – prisoners of war (POWs) –, die in den Aufenthaltsräumen bzw. mit den Zellenkameraden geführt wurden, wurden von alliierten Nachrichtendienstmitarbeitern4 systematisch und mittels neuester Abhörtechnik unbemerkt belauscht, schriftlich festgehalten und ausgewertet. Die daraus entstandenen Abhörprotokolle werden heute in Archiven in London und Washington verwahrt und sind mittlerweile der wissenschaftlichen Forschung frei zugänglich. 1 Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 2000, 224. 2 Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005, 382. 3 Dies war das nördlich von London gelegene Speziallager Trent Park, zu dem ab August 1942 aufgrund der steigenden Gefangenenzahlen Latimer House und Wilton Park, ebenfalls in der Nähe von London, hinzukamen. In den USA nahm das Lager Fort Hunt, vorgesehen für die Gefangenen des europäischen Kriegsschauplatzes, im Bundesstaat Virginia unweit von Washington im Juli 1942 den Betrieb auf. 4 Großbritannien : Combined Services Detailed Interrogation Centre (CSDIC) sowie USA : Military Intelligence Division (MID).
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Das Projekt
Diese Archivquellen bilden die Grundlage eines Forschungsprojektes5, aus dem hier einige vorläufige Ergebnisse vorgestellt werden können. Die zusammengenommen etwa 20.000 Abhörprotokolle auf ca. 120.000 Seiten sind im Zeitraum 1940–1945 (Großbritannien) und 1942–1945 (USA) entstanden, wodurch gerade die Londoner Quellen eine interessante Vergleichsmöglichkeit der Kriegswahrnehmungen für die Dauer von fünfeinhalb Jahren bieten. Insgesamt wurden bis zu 10.000 deutsche Soldaten, unter ihnen viele Hunderte „Österreicher“6, abgehört, die allen Teilstreitkräften der Wehrmacht (Heer, Luftwaffe und Marine) sowie der Waffen-SS und allen Dienstgradstufen entstammten. Mehrheitlich kamen der Strukturierung der Armee entsprechend Vertreter der Mannschaften und Unteroffiziere zu Wort. Dadurch eröffnen sich Perspektiven auf die Kriegswahrnehmungen „einfacher Soldaten“, die in der Militärgeschichtsschreibung oftmals nur ein Schattendasein führen.7 Der besondere Wert der hier herangezogenen Massenquelle liegt in der Überlieferung der zeitgenössischen Kriegswahrnehmung und ‑deutung. Die Soldaten kamen 5 Dieses Projekt „Perceptions and Interpretations of the war by ‚Austrian‘ members of the Wehrmacht while in American and British captivity 1940–1945“ wird vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert (P22065 – Laufzeit : 23.11.2009–22.12.2012 – deutscher Kurztitel : „Kriegswahrnehmungen ‚österreichischer‘ Wehrmachtsangehöriger“). Es wird von Gerhard Botz geleitet und von mir am Ludwig Boltzmann Institut für Historische Sozialwissenschaft in Wien (LBIHS) koordiniert sowie bearbeitet. Mit den Kooperationspartnern Harald Welzer (Kulturwissenschaftliches Institut Essen) und Sönke Neitzel (Historisches Seminar an der Universität Mainz) – Letzterer hat die Abhörprotokolle in London und Washington aufgefunden und im Sinne bester wissenschaftlicher Zusammenarbeit dem LBIHS zugänglich gemacht – wurde eine interdisziplinäre und internationale Forschungspartnerschaft etabliert, für die auch Oliver Rathkolb (Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien) und Michael Matheus (Deutsches Historisches Institut in Rom) gewonnen werden konnten. 6 Zur vorläufigen Definition dieses Begriffs siehe Absatz weiter unten. 7 Dafür können folgende Umstände verantwortlich gemacht werden : Neben der Vorliebe für die „Perspektive von oben“ ist dies auch mit einem spürbaren Quellenmangel zu begründen. In den Militärakten spielen Nichtoffiziere eine höchstens untergeordnete Rolle. Tagebücher von Wehrmachtsangehörigen ermöglichen zwar gewöhnlich tiefe und authentische Einblicke in das Denken und Handeln ihrer Autoren, allerdings haben Soldaten aus bildungsferneren Schichten zumeist keine solchen Aufzeichnungen angefertigt. Feldpostbriefe stehen zwar ausreichend zur Verfügung, und deren Verfasser decken alle Bildungsschichten ab, jedoch wird die inhaltliche Aussagekraft durch mehrere Faktoren beeinträchtigt. Die briefliche Korrespondenz der Soldaten, die zudem von den Feldpostprüfstellen (als Zensurstellen) stichprobenartig geprüft wurden, richtete sich zumeist an ihre nächsten Angehörigen, die beruhigt werden sollten ; das Ergebnis waren vielfach Beruhigungsfloskeln anstatt zutreffender Einblicke in den nervenzerreißenden Kriegsalltag. War der Feldpostbrief an die Mutter, Freundin oder Frau gerichtet, ist zudem ein geschlechterspezifischer Aspekt besonders zu beachten, der erklärt, warum Themen wie Prostitution oder Affären keinen Niederschlag fanden.
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bereits in den ersten Tagen der Gefangenschaft in die „verwanzten“ Speziallager, wo sie noch unter dem unmittelbaren Eindruck der oft dramatischen Umstände ihrer Gefangennahme standen. Das daraus vielfach resultierende starke Mitteilungsbedürfnis wurde zudem durch den Umstand erhöht, dass sie sich – aus ihrem bis dahin aktiven militärischen Umfeld entrissen, aber im zukünftigen gesellschaftlichen Bezugssystem noch lange nicht angekommen – in einer einmaligen Interimssituation befanden. Weder vorher (Militärjustiz, Denunziation) noch nachher (gesellschaftlich-politische Tabus) konnten sich die Kriegsgefangenen so unbefangen über ihre Erlebnisse austauschen. Die Bandbreite der Inhalte der abgehörten Gespräche zwischen den kriegsgefangenen Soldaten ist vielfältig und erstreckt sich häufig von Eindrücken und Erlebnissen an der Front bis zu (dem Verbleib von) Kameraden, Technik, Heimat sowie Verpflegung. Aber auch Politik, Einschätzungen über den weiteren Kriegsverlauf und Kriegsverbrechen standen im Mittelpunkt der Gespräche. Das gesamte Spektrum, das hier nur exemplarisch angedeutet ist, erlaubt Antworten auf Fragestellungen, welche in folgende inhaltliche Hauptkategorien gegliedert sind : österreichische Identität, Kriegserlebnis, Sinnkonstruktion, Erfahrung des Todes, Binnenstruktur der Wehrmacht, Verbrechen, Verhältnis zum NS-System, Wahrnehmung der Kameraden, des Gegners und der Verbündeten sowie Vorstellung von Männlichkeit respektive Weiblichkeit. Eine dominierende methodische Längsachse durch die Untersuchung bildet die kontinuierliche Gegenüberstellung der Kriegswahrnehmungen und ‑deutungen von „österreichischen“ Wehrmachtsangehörigen zu jenen ihrer deutschen (und italienischen) Kameraden.8 Die Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse wird durch die Anwendung der gleichen Methodenstrategie gesichert. Als inhaltliche Längsachse durch die Untersuchung ist die Frage nach dem Einfluss der biografischen Prägung auf die Kriegswahrnehmung anzusehen, welche alle übrigen Fragestellungen überwölbt. Methodologisches Ziel kann es sein, ein Verfahren der Referenzrahmenanalyse weiterzuentwickeln, das bisher nur heuristisch9 bzw. exemplarisch10 angewandt worden ist. Als „österreichische“ Wehrmachts- oder SS-Angehörige werden jene Personen definiert, deren Geburtsort auf dem Territorium der Republik Österreich lag/liegt. In 8 Die internationalen Kooperationspartner unseres Projekts erforschen seit Herbst 2007 respektive Frühjahr 2008 mit dem gleichen Quellenmaterial – also den britischen und amerikanischen Abhörprotokollen – die Kriegswahrnehmungen und ‑deutungen deutscher (in den Grenzen von 1937 ; also ohne die ab 1938 annektierten Gebiete) und italienischer Kriegsgefangener, wodurch geeignete Vergleichsgruppen entstehen. 9 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/ Main 1980. 10 Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/Main 2005.
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Einzelfällen ist diese Zuordnung – dort wo es möglich ist – um den Sozialisationshintergrund zu erweitern.11 Eine weitere aussagekräftige Zuordnungsmöglichkeit bietet die Berücksichtigung von subjektiven Selbst- und Fremdbezeichnungen in den Abhörprotokollen, die eine Zuordnung einer Person zu ihrer Identität erkennen lassen („Ich bin Österreicher“ bzw. „Du als Österreicher“). Wenn ich nun in drei ausgewählten Themenkomplexen in medias res gehe, so kann das noch keine repräsentative Analyse des Quellenmaterials darstellen.12 Vielmehr sollen Auszüge aus den Abhörprotokollen eine erste Vorstellung der thematischen Reichhaltigkeit dieser Quelle geben.13
„Österreicher“ und Deutsche : Wechselseitige Wahrnehmungen
Die Abhörprotokolle zeigen verschiedene Ebenen auf, auf denen „Österreicher“ Unterschiede zu ihren deutschen Kameraden (et vice versa) festgehalten haben. Die wenigsten Meinungsverschiedenheiten unter den Gesprächspartnern ergaben sich im Zwiegespräch zwischen „österreichischen“ und deutschen Frontsoldaten dann, wenn man auf gemeinsam erlebte Kampferfahrungen verweisen konnte. Diese Konversationen, die stark das Kampfgeschehen und das Leben an der Front in den Vordergrund stellten, waren zumeist von Respekt füreinander und gegenseitiger Anerkennung geprägt. Bewegte sich die Einschätzung weg von der individuellen Ebene hin zu einem gedachten Kollektiv, so wurde das Gespräch zwischen „Österreichern“ und Deutschen rasch rauer. Auf „österreichischer“ Seite tauchte immer wieder eine besondere Verbitterung gegenüber „den Reichsdeutschen“ – und insbesondere gegenüber „den Preußen“ – auf. Besonders charakteristisch dafür sind abweichende Lesarten des Zeitraums zwischen dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 und dem Kriegsbeginn im September 1939. Dabei wurden von den „Österreichern“ besonders folgende Einschät11 Dafür sei das folgende Beispiel angeführt : Alexander Löhr, Generaloberst der deutschen Wehrmacht, wurde 1885 in Turnu Severin (Rumänien) geboren. Demnach würde er aus dem skizzierten Rahmen (nach Geburtsort) fallen. Zunächst Berufssoldat in der k. u. k. Armee, wurde er 1920 ins Österreichische Bundesheer übernommen. Dort stieg er 1935 zum Kommandanten der Luftstreitkräfte auf, war folglich zur Zeit der Ersten Republik/des autoritären „Ständestaates“ auch österreichischer Staatsbürger. Somit ist Löhr trotz seines rumänischen Geburtsortes als Wehrmachtsangehöriger österreichischer Provenienz zu führen (Löhr kam allerdings im Mai 1945 in jugoslawische Kriegsgefangenschaft). 12 Eine solche wird erst zu Projektende 2012/13 vorliegen und veröffentlicht werden. 13 Naturgemäß finden aussagekräftige Textpassagen Eingang in diesen Beitrag. Nicht jedes Abhörprotokoll ist dafür gleich wertvoll. Die Kriegsgefangenen unterhielten sich oftmals stundenlang über (den Verbleib von) Kameraden, Technik oder taktische Gefechtssituationen. Unterhaltungen über Verbrechen tauchen zwar immer wieder auf, gemessen am Gesamtvolumen spielen sie jedoch eine sekundäre Rolle.
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zungen heftig kritisiert : oberlehrerhaftes und herrisches Auftreten von deutscher Seite, die vermeintliche Klassifikation als „Deutsche zweiter Wahl“ („Beutedeutsche“) und das Aufflackern des angeblich im Ersten Weltkrieg entstandenen Stereotyps, wonach Österreicher als Soldaten „minderwertiges Menschenmaterial“ darstellten. Gerade bei der Militärausbildung bis September 1939 – hatte diese nun in der „Ostmark“ oder im „Altreich“ stattgefunden – klagten „Österreicher“ über verletzendes Verhalten deutscher Vorgesetzter,14 ein Befund, der nicht selten von den deutschen Kriegsgefangenen in den Abhörlagern als tatsächliches Fehlverhalten anerkannt wurde. Die Ablehnung des „Reichsdeutschen“ und „Preußischen“ bedingte bei den „österreichischen“ Kriegsgefangenen aber nicht zwangsläufig eine Opposition zum Nationalsozialismus.15 Auf deutscher Seite nahm man die „Österreicher“ mitunter differenzierter wahr. Während für die ehemaligen österreichischen Bundesländer wenig Widerstand festgestellt wurde, war das deutsche Bild über Wien und seine Bewohnerinnen und Bewohner oftmals ein negatives, wie einige Beispiele aus den Abhörprotokollen verdeut lichen können : „Die Wiener sind aber ein Mischmasch von Rassen“16, „Mit Österreichern bin ich gut ausgekommen, aber mit dem schlappen Gesindel aus Wien ist nichts zu machen“17, „Die [hier sind Österreicher gemeint] sind viel zu lange mit fremden Völkern zusammen gewesen“.18
14 Die Akten der deutschen Wehrmacht (v. a. Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg im Breisgau) respektive der zivilen Behörden (Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik, Wien) spiegeln dieses angespannte Stimmungsbild als quellentechnische Kontrollmöglichkeit wider. Diesen Übergriffen wurde jedoch seitens der Wehrmachtsführung von Beginn an entschieden entgegengetreten, galt es doch, das österreichische Militärpotential umfassend für die deutsche Wehrmacht nutzbar zu machen ; daher wurde arrogantes Verhalten als kontraproduktiv bewertet. Siehe dazu Richard Germann, „Österreichische“ Soldaten in Ost- und Südosteuropa 1941–1945. Deutsche Krieger – Nationalsozialistische Verbrecher – Österreichische Opfer ?, unveröffentlichte Dissertation an der Univ. Wien, 2006, 51–53. 15 Zu einer ähnlichen Conclusio kam auch Günter Bischof, Editorial „Kriegsgefangenschaft und Österreichbewusstsein im Zweiten Weltkrieg“, in : Zeitgeschichte 29 (3) (2002), 109–112. 16 The National Archives (TNA – ehemals Public Record Office), War Office (WO) 208/4125, Special Reports Air Force (SRA – Sonderberichte Luftwaffe) 2260, vom 25.10.1941. Dieses wie auch die folgenden Zitate aus Abhörprotokollen sind den maschinenschriftlich angefertigten Abschriften entnommen. 17 TNA, WO 208/4123, SRA 1608, vom 28.04.1941. 18 TNA, WO 208/4119, SRA 629, vom 27.09.1940.
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Man war sich auf deutscher Seite zudem einig, dass Wien besonders deutschfeindlich und „kommunistisch“ geprägt sei, ein Befund, den auch der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS in seinen Lageberichten immer wieder einfließen ließ.19 Bei der Eigenwahrnehmung – also wenn „Österreicher“ ihre eigenen Landsleute beurteilten – fällt auf, dass hier oftmals ein Bild von Weltläufigkeit und „Kultiviertheit“ bemüht wurde. So antwortete der in Wien geborene Konteradmiral Paul Meixner – der einzige „Österreicher“, der in der deutschen Marine einen Admiralsrang erlangte20 – auf die Frage eines deutschen Generalmajors der Luftwaffe, wie er die Lage und Stimmung in „Österreich“ respektive in Wien beurteile, Folgendes : „[Die Stimmung in Wien] ist sogar wahrscheinlich besser und weniger gefährlich, als beispielsweise in HAMBURG oder in BREMEN, da bin ich überzeugt, dass die Stimmung dort schlechter ist, teils durch die Luftangriffe, und der Österreicher ist nicht so geneigt – auch der österreichische Arbeiter ist kein solcher Revolutionär – andererseits ist er auch nicht, so der Massenpropaganda zugänglich, wie es im ALTREICH in vielen Gegenden ist. Er ist kritischer, er ist mehr Weltbürger, er ist nicht so schnell begeistert, aber daher auch nicht so schnell hassend, und nimmt so die Sache etwas leichter.“21
Ob dieser günstige Eindruck Meixners zutreffend war, sei mit Verweis auf die sogenannte „Reichskristallnacht“, die in Wien beziehungsweise in der „Ostmark“ eine besonders heftige Eigendynamik entwickelte, dahingestellt.22 Einen immer wiederkehrenden Aspekt der deutschen Eigenwahrnehmung stellt die Argumentation einer weitgehenden Isolierung der Deutschen in der Welt dar. Auf den Punkt brachte dies ein deutscher Generalmajor, der im Gespräch mit Kameraden feststellte : „Alles, was Macht hat, haben wir ja angegriffen auf einmal, dann haben wir nach dem Westen angegriffen, nach dem Osten angegriffen, alles auf einmal. Die Kirche haben wir angegriffen, [und] das Judentum haben wir angegriffen […]“.23 19 Siehe dazu Heinz Boberach (Hg.) Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Herrsching 1984.
20 Marcel Stein, Österreichs Generale im Deutschen Heer 1938–1945. Schwarz/Gelb – Rot/Weiß/Rot – Hakenkreuz, Bissendorf 2002, 2.
21 TNA, WO 208/4167, Special Reports German Generals (SRGG – Sonderberichte deutsche Generäle) 522, vom 03.11.1943. Großschreibung im Original.
22 Siehe dazu Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008, 523.
23 TNA, WO 208/4363, General Reports German Generals (GRGG – Allgemeine Berichte deutsche Generäle) 168, vom 31.07.–01.08.1944.
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Gewalt, Terror und Verbrechen
Immer wieder geht es in den Gesprächen zwischen den kriegsgefangenen Soldaten um die Vernichtung der Jüdinnen und Juden, aber auch um die Tötung von Partisaninnen und Partisanen sowie von Zivilistinnen und Zivilisten im Zuge des Krieges. Da man sich in einem vertraulichen Gespräch wähnte, äußerten sich die Abgehörten oftmals rückhaltlos. Wenngleich die Beurteilung dieser Verbrechen von vehementer Ablehnung bis zur völligen Zustimmung zu nationalsozialistischen „Wertvorstellungen“ reichte, so trat bei der Quellenauswertung zutage, dass sich die Soldaten mehrheitlich von diesen Verbrechen distanzierten ; vielfach wurde Bedauern, fallweise Entrüstung bekundet. In dieser Frage unterschieden sich die Wahrnehmungen und Deutungen von „österreichischen“ und deutschen Soldaten offenbar nicht. Gespräche, in denen Soldaten ihr eigenes Mitwirken beim Töten von Nichtkombattanten ausführen, sind im Bestand nur vereinzelt zu finden, geben dann aber umso erschreckendere Beispiele ab. Ein SS-Sturmmann – es ist unklar, ob er „Öster reicher“ oder Deutscher war – schilderte zwei Wehrmachtskameraden, dass seine Einheit (eine Kompanie eines SS-Panzerregiments) in Frankreich „einhundertfünfzig Partisanen“24 – oder Personen, die man dafür hielt – erhängt hatte. Der SS-Sturmmann führte en détail aus, dass, wenn sich der Knoten im Strick hinter dem Kopf befinde, die Wirbelsäule sofort breche, aber in diesem Falle der Knoten nach vorne geschoben wurde. Wörtlich sagte er : „[…] da erstickte er langsam. Da quält er sich.“25 Dieser Massenhinrichtung sei ein Partisanenüberfall auf eine Wehrmachtseinheit vorausgegangen, wobei die Wehrmachtssoldaten laut Aussage des SS-Sturmmanns teils bestialisch ermordet worden seien. Mit einer sinnkonstruierenden Gleichung – Gewalt nähre Gewalt – begründete der SS-Angehörige diese Tat. Die erste Auswertung der Abhörprotokolle hat ergeben, dass sich die kriegsgefangenen Soldaten bei ihren Gesprächen über Terror und Verbrechen keiner verschlüsselten Codes bedienten, sondern die Vorgänge beim Namen nannten. Wie klar von den Konzentrations- und Vernichtungslagern gesprochen wurde und wie wenige Illusionen man sich bezüglich der Vernichtung der Juden machte, geht aus den folgenden Beispielen hervor : M 32026, SS-Hauptscharführer (Oberfeldwebel), 1908 in Höchst/Vorarlberg geboren und in Bregenz lebend, wurde im Oktober 1943 in Italien gefangengenommen und hielt fest : 24 TNA, WO 208/4138, Special Reports Army (SRM – Sonderberichte Heer) 753, vom 03.08.1944. 25 Ebd. 26 Chiffre des CSDIC. Name kann aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht verwendet werden.
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„Ich kenne das Konzentrationslager TAUSCHWITZ[27] […], ich kenne es so vom Hören und Sagen. Man sieht es nämlich, es ist ein Ju[d]enlager da, da haben sie Baracken, das kannst du von der Bahn aus sehen. Dann habe ich eben erzählen gehört, dass da das Krematorium ist. Also wer in dieses Lager ’reinkommt, kommt nicht mehr lebend ’raus.“28
KP 3009629, Leutnant, 1923 in Adelsheim/Baden geboren und ebendort lebend, er zählte nach seiner Gefangennahme im Juli 1944 in Frankreich : „Wenn ich daran denke, was die SS in SIMFEROPOL [auf der Halbinsel Krim] gemacht hat ! […] Vierzigtausend Juden erschossen, mit Mann, Kind und Kegel, alles ! Die mussten erst ihr eigenes Grab schaufeln. Es war so : da sind ungefähr täglich erschossen worden : tausend Stück. Da mussten sie ein grosses Loch schaufeln zuerst ’mal. Dann haben sie geschippt bis 12 Uhr, und dann wurden so zweihundert umgelegt ; dann wurden nochmal zweihundert umgelegt, und dann nochmal zweihundert, also sechshundert im ganzen. Dann haben die restlichen vierhundert zugeschippt und haben dann gleichzeitig nachher bis 7 Uhr ein neues Grab geschaufelt für sich. Wenn die erschossen waren, mussten die nächsten her und mussten wieder zu schaufeln.“30
Jener Leutnant gab auf eine Nachfrage seiner Kameraden an, von diesen Erschießun gen nur gehört zu haben. Nach unserem bisherigen Quellenstudium zeigt sich, dass nur verhältnismäßig wenige Kriegsgefangene angaben, selbst Augenzeugen der systematischen Judenvernichtung geworden zu sein. Ob dies allerdings den Tatsachen entsprach oder man eine Augenzeugenschaft im Kameradenkreis nicht direkt ansprechen wollte, ist durch die Eruierung von militärischen Lebensläufen weiterer Abgehörter noch zu klären. In den Gesprächen mit Kameraden nahm dieses Thema zwar keinen dominierenden, aber jedenfalls einen breiteren Raum ein. Diese Verbrechen wurden von den Abgehörten auch dahingehend gedeutet, dass angesichts einer derartigen Gewaltsamkeit Deutschland siegen müsse, ansonsten würde es keine Zukunft für die Deutschen geben.
27 Hier ist das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gemeint. Aus der Quelle geht nicht hervor, ob der Fehler bei dem kriegsgefangenen Soldaten oder bei den protokollierenden Alliierten lag.
28 TNA, WO 208/4137, SRM 426, vom 28.12.1943. 29 Chiffre des CSDIC. Name kann aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht verwendet werden. 30 TNA, WO 208/4138, SRM 702, vom 28.07.1944.
Angezapftes Wissen
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Zukunftsvorstellungen
Seit dem Sommer 1943 wurde die Kriegslage von einer anwachsenden Gruppe von Abgehörten negativ beurteilt. Zu dieser Einschätzung gelangten gleichermaßen „Österreicher“ und Deutsche aller Dienstgrade. In Anbetracht der vielen Toten und der zerstörten Städte wurde immer wieder auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Weiterführung des Krieges gestellt. Der maßlose deutsche Expansionsdrang, mit dem man sich die halbe Welt zum Gegner machte, wurde zusehends als fataler Irrsinn wahrgenommen. Wenige Illusionen machte man sich in britischem Gewahrsam darüber, ob man in Berlin die Zeichen der Zeit erkennen und durch ein Angebot auf Waffenstillstand eine totale Niederlage abwenden würde.31 Der „österreichische“ Luftwaffenoberstleutnant Wilfried von Müller-Rienzburg schätzte das Kommende zutreffend ein, als er Anfang 1944 einem deutschen Generalmajor erklärte, dass die Partei, die Gauleiter, Kreisleiter und Funktionäre „bis fünf Minuten nach Zwölf“ kämpfen lassen würden. Schließlich würden sie sich keinen Täuschungen über ihr weiteres Schicksal hingeben, und von daher sei jeder Tag kostbar.32 Müller-Rienzburg hielt es noch im Februar 1944 für möglich, dass die Nazi-Eliten die deutschen Streitkräfte notfalls auch bis zum Stadtrand von Berlin kämpfen lassen würden. Als Ausweg aus dieser Situation sah er eine Meuterei der Armee33, welche fünf Monate später durch die Wehrmachtsoffiziere um Oberst Stauffenberg tatsächlich auch stattfand, aber niedergeschlagen wurde. Zu derselben Erkenntnis – also Regimewechsel als conditio sine qua non – kam auch der erwähnte „österreichische“ Konteradmiral Paul Meixner, der bereits im Juli 1943 – also noch vor der Moskauer Deklaration – eine Abtrennung Österreichs von einem Nachkriegsdeutschland aus machtpolitischen Gründen als gesichert annahm. Meixner meinte allerdings auch, es werde zwangsläufig zu einem Krieg Englands gegen Russland kommen, und hoffte, dass die sowjetischen Streitkräfte soweit östlich wie möglich zum Stillstand kämen, da er angesichts der deutschen Verbrechen im Osten entsprechende Folgen für Deutschland befürchtete. Aus dieser Vorstellung heraus entwickelte er folgendes Zukunftsszenario : Indem ein General die Führung zu übernehmen hätte, solle das Deutsche Reich den Briten den Einmarsch nach Deutschland und in die deutsch besetzten Gebiete ermöglichen, um gemeinsam Front gegen die Sowjetunion zu machen.34 31 Allerdings forderten die Alliierten bereits im Jänner 1943 auf der Konferenz von Casablanca die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches.
32 TNA, WO 208/4167, SRGG 793, vom 23.01.1944. 33 TNA, WO 208/4168, SRGG 837, vom 15.02.1944. 34 TNA, WO 208/4166, SRGG 287, vom 26.07.1943, und SRGG 365, vom 22.08.1943.
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Der „Österreicher“ Müller-Rienzburg bezog in seine Vorstellungen von der Zeit nach dem Krieg im Jänner 1944 neben politischen auch wirtschaftliche Überlegungen mit ein. So plädierte er in der Kriegsgefangenschaft für einen wirtschaftlich sich gegenseitig ergänzenden Block von Agrar- und Industriestaaten und erkannte auch die Abschaffung von Zoll- und Währungsgrenzen als konfliktmilderndes Instrument. Die Frage, ob Deutschland Teil eines Weststaatenbunds mit Frankreich, Italien, Spanien und Belgien oder eines Nordbunds mit den skandinavischen Ländern oder gar eines Donaubunds – in Anlehnung an die bereits 25 Jahre früher angedachten Ideen einer Donaukonföderation – werden sollte, ließ er allerdings offen.35 An weiteren Varianten für eine Nachkriegsordnung ergaben sich in den Abhörprotokollen auch eine Zerschlagung Deutschlands u. a. in einen Süddeutschen Bund mit Österreich, Baden-Württemberg und Bayern wie auch eine vollkommene Fremdherrschaft durch die Alliierten. In einer kritischen Reflexion stellte ein deutscher Oberst, ein verbreitetes Juden-Stereotyp reproduzierend, fest : „Wenn wir die Juden noch gehabt hätten, hätten wir den Krieg schon gewonnen. Mit dem germanischen Zahlmeister kann man keinen Krieg gewinnen. Unser grundlegender Fehler ist und war, dass wir diese kleinen Beamtennaturen in den wichtigsten Stellen im OKH usw. sitzen haben. Das beste ist, die Alliierten machen aus DEUTSCHLAND eine amerikanische Provinz. Alle sollen Englisch lernen. Dann hätten wir wenigstens Frieden.“36
Ausblick
Mit diesen Abhörprotokollen steht der mentalitätshistorischen Forschung – möglicherweise erstmals – ein ausreichend dichtes und authentisches Quellenmaterial über zeitgenössische Kriegswahrnehmung zur Verfügung, das zusätzlich fallweise für die „österreichischen“ Kriegsgefangenen durch eine Materialverdichtung mittels persönlicher Tagebücher37 und anderer (Ego-)Dokumente in Archiven und bei Privatperso-
35 TNA, WO 208/4167, SRGG 797, vom 26.01.1944. 36 TNA, WO 208/4139, SRM 806, vom 22.08.1944. Unterstreichung wie im Original. 37 So wird im Österreichischen Staatsarchiv das persönliche Tagebuch von Konteradmiral Paul Meixner aufbewahrt. Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Nachlässe B 1544/8 (Nachlass Paul Meixner). In Meixners Tagebuch finden sich äußerst umfangreiche und detaillierte Ausführungen zu seiner Zeit im Speziallager Trent Park, in dem auch er – ohne es zu wissen – vom britischen Nachrichtendienst abgehört wurde. Diese beiden Quellen (Tagebuch vs. Abhörprotokolle) gewähren einen hervorragenden Vergleich über Wahrnehmungen und Einstellungen im Kollektiv und in der Eigenbetrachtung.
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nen ergänzt wird.38 Aufgrund dieser Quellenlage wird sich rekonstruieren lassen, wie „österreichische“ Angehörige der Wehrmacht zeitgenössische Situationen während des Zweiten Weltkrieges wahrgenommen und gedeutet haben. Dies wird unser Wissen über die Perzeption des NS-Systems, der Kriegsverbrechen, der Binnenstrukturen der Armee, der Kriegsgegner, aber auch des erwarteten Kriegsverlaufs und der Nachkriegsfolgen erheblich erweitern.
38 In den National Archives (London) ist zusätzlich der Bestand der Interrogation Reports, in dem die briti sche Intelligence den Inhalt der Abhöraktionen zusammenfasste und interpretierte, zu erschließen. Im Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg im Breisgau) sind über die Akten der Truppenverbände/Dienststellen eingehende Nachforschungen erforderlich, um klärungsbedürftigen Hinweisen in den abgehörten Gesprächen (etwa zur Rekonstruktion von erwähnten Kriegsverbrechen) nachgehen zu können. An der Deutschen Dienststelle (eh. Wehrmachtsauskunftsstelle, Berlin) und im Archiv der Republik (Österreichisches Staatsarchiv, Wien) werden neben den bekannten – Geburtsdatum, Truppenzugehörigkeit, Dienstgrad und Ort der Gefangennahme – noch zusätzliche soziobiografische Daten der „österreichischen“ Abgehörten gesammelt (wie z. B. schulische und berufliche Bildung, Fremdsprachenkenntnisse, Konfession, Zugehörigkeit zu NSOrganisationen), um eine vertiefende personelle Rückbindung zu den Textpassagen zu ermöglichen. Somit können die Sozialisation, der Bildungs- und Reflexionsgrad sowie private und politische Einstellungen der Personen mitberücksichtigt und eine weitaus differenziertere Analyse des Quellenmaterials vorgenommen werden. Es ließe sich beispielsweise aufzeigen, ob und inwieweit für einzelne Personengruppen verschiedene Referenzrahmen gelten und in welchen soziobiografischen Merkmalen (z. B. regionale Provenienz oder sozialer Status) sich diese Gruppen von anderen unterscheiden.
Marianne Enigl
„Österreichische“ Gebirgsjäger in Polen 1939 Berichte aus der „Einübung“ in den Vernichtungskrieg in Ausschnitten
Freimütig haben „österreichische“ Gebirgsjäger beschrieben, wie sie während des Einmarschs mit der Deutschen Wehrmacht in Polen 1939 Zivilisten erschossen und ganze Dörfer verwüstet haben. Ihre Berichte haben mich, seit ich durch den deutschen Historiker Jochen Böhler darauf aufmerksam gemacht worden bin, nicht mehr losgelassen. Ausgangspunkt meiner Beschäftigung war eine Serie in der Zeitschrift profil1 zum 70. Jahrestag des Überfalls auf Polen. Der Titel des von mir dafür verfassten Artikels trug den Titel „Größte Härte“, ein Zitat aus jener Rede, in der Adolf Hitler die Oberbefehlshaber, Heeresgruppen- und Armeeführer der deutschen Wehrmacht am 22. August 1939 auf den bevorstehenden Angriff auf Polen eingeschworen und gefordert hatte : „Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen.“
„Das Land der Juden, Läuse und Gänse“
Im folgenden ersten Abschnitt soll zunächst dokumentiert werden, mit welchen Bildern von PolInnen und Juden bzw. Jüdinnen im Kopf „österreichische“ Gebirgsjäger 1939 in den Krieg zogen und wie gewalttätig sie vorgingen. Der Grazer Jurist Dr. Herbert O. etwa schrieb vom Einmarsch in „das Land der Juden, Läuse und Gänse, jenes Land, das Polen heißt“. Und weiter : „Jeder nahm sich vor, im Notfalle sein Leben so teuer wie möglich an die polnischen Halsabschneider zu verkaufen, bevor seine Gurgel einer Probe auf Haltbarkeit unterzogen würde.“2 – O. war dann einer der 138 Richter im Sprengel des Oberlandesgerichts Graz, die wegen NS-Belastung am 27. Juli 1945 vom Dienst enthoben wurden ; in seinem Fall lautete die Begründung, er sei ab 1933 SA-Mitglied gewesen. Die Quelle, in der sich die zitierte Schilderung findet, hat unmittelbaren Charakter, haben die „österreichischen“ Gebirgsjäger ihre Einstellungen und ihr Verhalten als „einfache Soldaten“ in Polen 1939 doch selbst beschrieben, und das bereits kurz 1 Marianne Enigl, Größte Härte, in : Profil, 3.8.2009. 2 Bestand Wehrkreiskommando Salzburg im Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg im Breisgau (BAMA), RH 53-18, VII B24-258.
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Marianne Enigl
nach dem Ende des Kriegseinsatzes in Polen. Die Erfahrungsberichte wurden großenteils nach der Truppenverlagerung an die Westfront bis Dezember 1939 verfasst. Die Sammlung wurde 1939 von der Propagandaabteilung (I c) des Wehrkreiskommandos XVIII in Salzburg angelegt. Insgesamt sind rund 360 Berichte in den originalen orange- und grünfarbenen Leitz-Mappen in 16 Bänden im deutschen BundesarchivMilitärarchiv in Freiburg im Breisgau erhalten.3 Manche dieser Berichte sind namentlich nicht gezeichnet, häufig ist die militärische Einheit des Verfassers nicht angegeben. In besagtem Bestand befinden sich auch 16 Fotobände.4 Zahlreiche der Fotos tragen zeitgenössische Beschriftungen wie etwa : „Zerschossene und brennende Orte in Polen“, „Die polnischen Heckenschützen warten auf ihre Aburteilung“, „Während der Rast werden die männlichen Einwohner als Geiseln genommen“, „Erschossene Freischärler Polen“, „Pol. Juden lernen arbeiten in Grodek“, „Unsere ersten poln. Gefangenen“. Bei den hier erwähnten Aufnahmen fehlt wie beim Großteil jeder Hinweis auf den Fotografen/die Fotografin. Die Abbildungen sind in den Alben neben üblichen Fotos aus dem Soldatenalltag, die mit Bildzeilen wie „Gut rasiert, gut gelaunt“ versehen sind, eingeklebt. In einer von der Firma Foto Hagner Innsbruck gekennzeichneten Serie finden sich Fotos mit Beschriftungen wie „In einer poln. Judenwohnung“. Diese Aufnahme zeigt einen Wehrmachtssoldaten in einem umgerissenen Türrahmen stehend und den Blick in einen teilweise verwüsteten Raum gerichtet. Ein anderes Hagner-Foto wurde mit „Geflüchtete poln. Juden“ bezeichnet, man sieht darauf jüdische Männer auf einem Pferdewagen, bewacht von einem Wehrmachtssoldaten. Auch mit „Zigeuner“ beschriftete Aufnahmen sind erhalten. Soweit aus beiliegenden Dokumenten ersichtlich ist, wurden die Berichte zumindest teilweise zu dem Zweck gesammelt, sie in Zeitungen zu publizieren. Auch zu einer geplanten Buchveröffentlichung findet sich Korrespondenz. Tatsächlich erschien 1940 ein Buch mit dem Titel Alpenkorps in Polen im NS-Gauverlag Innsbruck5 ; darin aufgenommen wurden jene Berichte von Gebirgsjägern und jene Fotos, die sich mit dem Kriegsalltag beschäftigen, nicht jedoch solche, in denen Gewalttaten an der Zivilbevölkerung beschrieben werden. Direkte Zensur ist – über sprachliche 3 BA-MA RH 53-18. Die einzelnen, heute unter RH 53-18 zusammengefassten Berichte und Dokumente tragen teilweise drei verschiedene Signaturen : Gesammelt wurden sie im Auftrag der Wehrmachtspropaganda, nach 1945 gelangten sie in die USA, bis sie Anfang der 1960er-Jahre nach der Rückgabe in die Bestände des Bundesarchivs-Militärarchivs eingegliedert wurden. Aufgrund dessen wird im Folgenden immer aus dem gesamten Bestand, ohne Nennung einzelner Signaturen, zitiert. 4 Hieraus stammen auch die in der Folge abgedruckten Bilder. Wir danken für die Genehmigung des Abdrucks. 5 Hergo Manz (Hg.), Alpenkorps in Polen, Innsbruck 1940.
„Österreichische“ Gebirgsjäger in Polen 1939
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Glättungen hinausgehend – nur in einem Bericht zu erkennen. In dieser Schilderung des Gefreiten G. wurde ein Absatz überklebt, in dem er von „Menschenjagd“ auf Franktireure, also mutmaßliche Freischärler, schreibt. Die zensurierte Passage lautet im Original folgendermaßen : „Einzelne berittene Truppen machten Jagd auf diese Franktireure. Wir von der Artillerie verfolgten mit Spannung diese Menschenjagd. Doch dauerte es nicht lange bis auch wir aus einem Hause, das sich in unmittelbarer Nähe der Feuerstellung befand, Feuer erhielten. Die Nervosität, von der jeder Soldat bei den ersten scharfen Schüssen befallen wird wurde schnell abgelegt, das Haus umstellt und durchsucht. Außer zwei Frauen wurde nichts Verdächtiges gefunden. Die Frauen leugneten. Doch da mit Sicherheit festgestellt worden ist, dass aus dem Haus geschossen wurde, hat unser Chef die beiden Frauen der Feldpolizei übergeben.“
Offensichtlich als für eine Veröffentlichung geeignet befunden, da nicht geändert, wurde eine andere Passage im Bericht des Gefreiten G.: „In Birza erkannten wir die Notwendigkeit einer radikalen Lösung der Judenfrage. Hier konnte man diese Bestien in Menschengestalt hausen sehen. In ihren Bärten und Kaftanen, mit ihren teuflischen Fratzen machten sie auf uns einen scheußlichen Eindruck. Jeder, der noch nicht ein radikaler Judengegner war, musste es hier werden. Gegen die polnischen Juden waren unsere jüdischen Blutsauger noch wahre Lämmchen. Kein Wunder, dass der polnische Staat nach 20-jährigem Bestehen ein Opfer dieser Parasiten wurde.“
Im Bestand der Propagandaabteilung finden sich auch Zeitungsartikel mit Soldaten berichten. Etwa aus dem Vorarlberger Tagblatt, das Abdrucke unter dem Titel „So schreiben unsere Feldgrauen“ brachte. Die Verfasser wurden nicht genannt, jedoch die Kreise, das heißt Bezirke, aus denen sie stammten. Diese Schilderungen sind von beinahe nicht überbietbarer Abwertung der Menschen und Umstände in Polen und von der Behauptung einer eigenen „rassischen“ Überlegenheit gekennzeichnet. Im Folgenden seien drei Auszüge aus den im Vorarlberger Tagblatt publizierten Berichten wiedergegeben. Ein Soldat aus dem Kreis Bregenz schrieb : „Alles war ein einziges Flammenmeer. Auf den Straßen lagen erschossene Menschen und Tiere. Diese Städte wurden deshalb zerstört, da die Zivilbevölkerung nach uns schoss. […] Das Land ist nicht besonders schön, Straßen unter aller Sau und die Häuser so einfach, die Leute voll Dreck und Speck, von oben bis unten zerlumpt, sie sehen Vogelscheuchen ähnlich. Mit welcher Grausamkeit die Polen vorgingen, könnt Ihr Euch alle gar nicht vor-
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stellen. Die meisten hatten Rasiermesser, mit denen sie den Deutschen Ohren oder Hals abschnitten. Die Zivilisten feige bis dorthinaus. Die schossen meistens aus dem Hinterhalt, von Bäumen oder aus Häusern. Ich hoffe, dass wir bald aus diesem Schweinestall herauskommen und wieder in unser schönes Deutschland zurückkehren.“
Eine weitere Schilderung eines ebenfalls aus Bregenz stammenden Soldaten enthielt folgenden Absatz : „[…] Mir geht es nach wie vor ausgezeichnet. Ich habe natürlich inzwischen allerhand erlebt, was allerdings schon zur Selbstverständlichkeit geworden ist, denn es ist halt schließlich Krieg. Doch es sieht hier schon so aus, als ob bald Schluss damit werden würde, dann gibt es Arbeit genug, denn kultiviert ist hier überhaupt nichts. Ich möchte nur wissen, wo die hohe Kultur der Polen, von der sie so oft sprechen, zu finden ist. Bis jetzt sah ich noch nicht einen Menschen, der nicht in Lumpen steckte …“ (vgl. Abb. 1)
Ein Soldat aus Dornbirn berichtete : „[…] Das ganze Gebiet, durch das mich dieser Feldzug führte, ist ein sehr fruchtbares Gebiet, von armen Bauern besiedelt, daneben der Großgrundbesitzer, für den die Bewohner den ganzen Tag arbeiten, Frauen wie Männer. Man macht sich keine Vorstellung, wie armselige Dörfer es hier gibt, mit den Strohdächern, ebenerdig sehen sie aus wie NEGERSIEDLUNGEN [Blockbuchstaben im Original]. Przemysl habe ich mir als eine schöne Stadt vorgestellt, ich sah aber genau das Gegenteil. Schmutzig und voller Juden, 99 Prozent aller Firmentafeln lauten : Sußkind, Bienstock, Dintenfaß, Wetterstein, Sara Teitelbaum usw. Es graut einem, wenn man hier durch größere Orte fährt, alles war überschwemmt von Juden. Hier gibt es sehr viel zu tun, ich glaube aber, mit großem Erfolg.“
Nach diesem Exkurs in publizierte Artikel jener Zeit möchte ich wieder zu jenen Berichten zurückkehren, für deren zeitgenössische Veröffentlichung es keine Hinweise gibt.
„Zum Herrenvolk ausersehen“
Der Gefreite Hubert P. aus Innsbruck schrieb von der „großen Stunde für Deutschland, in der wir der Welt beweisen müssen, dass wir zum Herrenvolk ausersehen sind.“ Er gibt den Einmarsch in ein polnisches Dorf und die Beschießung der deutschen Soldaten aus einem Haus wie folgt wieder :
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Abbildung 1: „Polnische Juden lernen arbeiten in Grodek“; Deutsches Bundesarchiv, BArch RH 5318/184
„Sofort wurde das ganze Dorf durchsucht und geräumt. Die ersten gefangenen Polen und die ganze Zivilbevölkerung wurden unter großem Geschrei und Wehklagen nach hinten geführt. Einige Häuser leuchteten als brennende Mahnungen in den Himmel. … Ein Bild, wie es uns durch ganz Polen begleiten sollte. Überall zerschossene und brennende Häuser, die uns oft unseren Weg erhellten und bei einer kurzen Stockung wärmten.“
Zum weiteren Vormarsch schrieb Hubert P.: „Die Straße ist gesäumt mit toten Pferden. Gefangenentransporte gehen zurück. Juden mit schwarzem Kaftan schaufeln Gräber.“ Erwähnungen über „brennende Häuser“ und die „nach hinten“ geführten Einwohner finden sich in vielen Berichten. Das Leid der Menschen wird – wenn überhaupt – zynisch wiedergegeben. Dr. Leo L., ein Angehöriger der Propagandakompanie, schreibt über den Einmarsch in Tarnow : „Heute ist Sabbath, mit festlich geringelter Beikeleslocke huschen die Kaftanträger durch die schmutzigen Gassen. Rattert am Straßenrand ein Motor mit Vollgas auf – schon fliegen sie angstgepeitscht dahin wie Laub im Wind […].“ Von der Abfahrt aus Krosno verschriftlicht er einen in seinen Worten „letzten komischen Eindruck vom Marktplatz“ : „Ein Gebirgsjäger
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drückt einem Juden den Besen in die Hand, damit er den Platz von Unrat befreie. Der Jude wimmert und fleht, als würde er zur Schlachtbank geführt.“ Der Leutnant der Reserve Franz P. von der 4. Gebirgsfahrkolonne hält einen „beeindruckenden Tag“ fest, der ebenfalls in Krosno begann6 : „In der zweiten Woche unseres Wanderns war es. Auf dem heißen Marktplatze in Krosno ein buntes Durcheinander von Autos und Pferden. Plötzlich ein lautes Hallo und gleichzeitiges Gejammer. Auf ein Auto wurden Juden verstaut, jeder mit einem Besen in der Hand ; man sagte, sie sollen die von den Polen verwüstete Fliegerkaserne reinigen. Da saßen sie nun im Auto, die einstigen Herren von Polen. Aber wie ? Ganz verschämt, die bleichen Gesichter tief zu Boden geschlagen, manche Träne sah man aus den Augen perlen. Da wollte jemand die ganze Bande photographieren. Nach langem Verhandeln, schließlich mit einem gewissen Nachdruck – mehr oder minder sanft – war ein Gruppenbild gestellt. War das Bild echt, das die Juden darboten oder war alles nur Komödie ? Ein Filmmann hätte da die beste Gelegenheit gehabt, die jüdische Klagemauer von Jerusalem zu kopieren. War dies alles nur Theater, was wir uns ansehen sollten oder waren die Tränen ein Ausdruck des Schreckens vor dem ‚Furor teutonicus‘, der die Glieder der Juden lähmte ? Eine Jüdin stand neben dem Auto und mit ihrem Klagegeheul übertönte sie das Lachen der Soldaten, bis ein Feldgendarm sie abführte.“ (vgl. Abb. 2)
Gänzlich anders als diese Demütigungsszenen und schließlich die Festnahme der jüdischen Frau schildert Leutnant Franz P. den Umgang mit einem „armen Tier“, das an einer Kolik leidet : „Leute aus dem Dorf waren dabei und halfen bereitwillig mit, dem armen Tiere zu helfen. Man sieht, es gibt auch in den Zeiten, wenn alles nur Gift und Galle speit, Augenblicke, in welchen man die Umwelt vergisst : dem kranken Geschöpfe half Freund und Feind, hier verstummte Hass, hier wurde die werktätige Liebe wieder wach. Drei Stunden waren wir bei dem kranken Pferde dabei, bis die Gefahr vorüber war.“
Die Entwürdigung von gefangen genommenen polnischen Soldaten aus der Sicht eines Gefreiten P.: „Ungefähr 100 Gefangene liegen am Boden auf Strohbündeln und jeder stiert teilnahmslos vor sich hin ; keiner der an Widerstand oder Ausreißen denkt. Eine Herde von Lebewesen 6 Vgl. dazu auch : Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt/Main 2006, 96f.
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Abbildung 2: „Die polnischen Heckenschützen warten auf ihre Aburteilung“; Deutsches Bundesarchiv, BArch RH 53-18/184
der Gattung ‚Mensch‘. Ob die wohl ernstlich glauben, dass sie Soldaten sind oder waren ? Uniformen hatten ja die meisten und dazu eine Waffe in der Hand, […] aber als Gesamtheit waren sie doch nur eine Bande von Lanzknechten [sic] und keine Truppe von Soldaten. Marionetten, geführt von politischen Strauchrittern, englischen Deutschenhassern und jüdischen Couponschneidern. […] Das nationalsozialistische Volksheer und die Rote Armee marschieren, aber nicht gegeneinander sondern gemeinsam gegen den Weltfeind Juda.“
„Ein kurzer Schrei“
Die „österreichischen“ Wehrmachtsangehörigen beließen es in ihren Berichten nicht bei der Wiedergabe ihrer Einstellung, sie beschrieben auch rücksichtsloses Vorgehen freimütig. Demnach bereitete die Unübersichtlichkeit des Kampfgebiets anfangs offenbar Schwierigkeiten bei der Identifizierung polnischer Soldaten. Im Orts- und Häuserkampf wurde dann nicht mehr unterschieden, ob man es mit Soldaten oder ZivilistInnen zu tun hatte. Ein Mitglied der Propagandaabteilung gab die Erzählung eines nicht genannten Tirolers darüber wieder, wie bewohnte Häuser nicht durchsucht, sondern sofort in Brand gesetzt wurden, nachdem aus ihnen geschossen worden war :
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„Es wird dunkel und da kommen wir zu einer Ortschaft. Eigentlich waren es nur drei Häuseln an einer Hügellehne. Das eine hat so ausgesehen, daß ich mir gedacht hab, da drinnen gibt’s Milch und Butter oder Kas, da wirst was ‚requirieren‘. Auf einmal kracht’s aus dem Haus, ganz deutlich seh ich das Mündungsfeuer. Nun haben wir dagegen bald ein Mittel g’habt. Zuerst einmal zwei, drei Handgranaten eini, und da haben halt die Häuseln immer gleich brennt. So war’s auch da und wieder war es nichts mit dem Kas !“
Gefreiter Leonhart E. bezeichnete solche Vorgänge als „Säuberung eines Abschnitts vom Feind“ und schilderte sie in diesen Worten : „Polnisches Militär war keines vorhanden, wohl aber genug Freischärler. Natürlich waren diese nicht zu unterschätzen, denn die schossen manchmal aus allen Ecken und Enden hervor. Weiber, Kinder und Greise, alles half mit. Wenn es gar zu arg wurde, dann schossen wir halt eine Leuchtpatrone in eines der Strohdächer. Was sich aus den Flammen retten wollte, wurde von unseren Läufen empfangen.“
Der Gefreite Mathias S. war den Gebirgsjägern als Aufklärer zugeteilt. Seinen Bericht nannte er „Stockerauer Kavallerie im polnischen Krieg“. Er beginnt mit dem Satz : „Nun konnten auch wir Ostmärker dem Vaterlande einen Dienste erweisen. Wir wollten freudig beweisen, dass wir wert waren, ins große deutsche Reich heimgeholt zu werden.“ Im festen Willen, „uns das zu holen, was uns friedlich nicht gewährt wurde“, sei es in endlosen Kolonnen ins Feindesland gegangen. Der Gefreite schreibt weiter : „Beklemmende Gefühle, Ungewissheit traten auch in unserer Seele auf, doch sie wurden eingenommen. Jüdischer Gestank und Bestialismus drang uns entgegen. Scheu huschten diese Pharisäer in ihre Wohnungen, ein jeder von ihnen ein Typ vom ewigen Juden. Nicht leicht war es uns vor[an]zukommen, denn diese Gauner von Juden stellten uns oft schwere Hindernisse in den Weg, und so manch ein guter Kamerad wurde feige aus dem Hinterhalt von ihnen angeschossen. Doch wir vergalten gleiches mit gleichem.“
Leutnant Walter L. beschreibt die Erschießung eines offensichtlich schwerst verwundeten Zivilisten knapp so : „Wir sichern die Straße mit Minen gegen Panzer. Ein Zivilist, der auf unsere Leute aus dem Hinterhalt schoss, wird eingeliefert. Ich muss feststellen, dass in dem Kerl kein Leben mehr ist, er ist nur mehr ein menschenähnliches Bündel. An einen Baum gelehnt ereilte ihn das Schicksal. Wenig später musste an der gleichen Stelle ein zweiter Franktireur ebenfalls justifiziert werden.“ (vgl. Abb. 3)
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Abbildung 3: „Während der Rast werden die männlichen Einwohner als Geiseln genommen“; Deutsches Bundesarchiv, BArch RH 53-18/184
Jäger K. vom Gebirgsjägerregiment 137 findet folgende Worte zur Tötung von „Freischärlern“ : „Wir konnten es kaum noch erwarten, an den Feind heranzukommen. Schüsse peitschten vereinzelt auf, Baumschützen durchzuckte es unsere Gehirne. […] Aber mancher von ihnen wurde aus luftiger Höhe herabgeholt. Hart und hell peitschten unsere Schüsse auf. Ein kurzer Schrei und alles war vorbei.“
Gefreiter Karl F. von der Aufklärungsabteilung einer Gebirgsdivision schreibt in seinem Bericht : „Wir marschieren nun schon einige Tage ohne vom Feind das geringste zu sehen. Die Bevölkerung ist auf uns nicht gut zu sprechen. Sie hasst uns fanatisch. Es kommt nicht selten vor, dass aus einem Hause Schüsse auf uns abgegeben werden. Da wird kurzer Prozess gemacht. Das betreffende Haus wird durchsucht und angezündet. Die Strafe ist hart, aber sie muss sein. Es geht nicht, dass man lange verhandelt, das würde bestenfalls die Truppe aufhalten.“
Ein Oberschütze F. vom Stab berichtet über das Vorgehen gegen ein Dorf :
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„Als alle unsre Abwehr aus den Karabinern nicht nützte, befahl der Führer der Jägertruppe : ‚Handgranaten werfen‘. Nun ging es los, bald brannten einige Häuser und Zivilisten mit Karabinern im Anschlag liefen auf die Straße. Nun lag es an uns und flott fiel Schuss um Schuss, so mancher Franktireur musste glauben daran. Frauen und Kinder kreischten auf der Straße. So dauerte dies ungefähr eine Stunde bis endlich Ruhe war. Als wir nach vollendeter Säuberung den Ort wieder verlassen wollten, bemühte sich noch ein Pfarrer, der hinter der Umzäunung der Kirche lag die Truppe weiter zu belästigen, ein Jäger wurde getroffen, der Pfarrer aber musste seine Tat mit dem Tode bezahlen.“ (vgl. Abb. 4)
Das Resümee des Oberschützen lautet folgendermaßen : „Ein Gefühl der Befriedigung erfüllte uns über das gewiss nicht ungefährliche Erlebnis und das Bestehen der Feuertaufe.“ Abschließend sei noch aus einem Bericht zitiert, in dem der Verfasser offen darlegt, dass er während der Einnahme Polens im September 1939 Zivilisten erschossen hat. Der Gefreite Johann F. vom Gebirgsjägerregiment 137 schrieb am 5. November 1939 in Salzburg unter dem lapidaren Titel „Fronterlebnisse“ nieder : „[…] hinunter zum Haus, wo wir glücklich angekommen sind. Dort wurde Oberleutnant von einem Zivilisten erschossen. Wir zündeten das Gebäude an, und warteten ab, bis die Zivilisten heraus kamen. Ich erschoss sie und dann mussten wir uns zurückziehen durch ein fürchterliches Feuer und fanden die Kompanie in Pirtscha (Bircza). Wir hatten viel Verluste und Verwundete.“
Zur Diskussion der Dokumente Als Erster hat über den hier in Auszügen wiedergegebenen Aktenbestand Alexander B. Rossino vom United States Holocaust Memorial Museum publiziert.7 Seine zentrale Aussage lautet : „Vom Beginn des Krieges 1939 an war die Mentalität der normalen deutschen Truppen so, dass die Radikalisierung der deutschen Kriegsziele im Jahr 1941 – eingeschlossen die Ausrottung der Juden – Aufnahmebereitschaft unter den normalen deutschen Soldaten fand.“ Aus den Dokumenten sei laut Rossino zu folgern, dass die „österreichischen“ Gebirgsjäger beim Überfall auf Polen an die Kriegsziele und ihre eigene „rassische“ und kulturelle Überlegenheit glaubten : „Die in ihren Briefen, Tagebüchern und Berichten der Invasion in Polen ausgedrückten 7 Alexander B. Rossino, Destructive Impulses : German Soldiers and the Conquest of Poland, in : Holocaust and Genocide Studies, 11 (3) (1997), 351–365.
„Österreichische“ Gebirgsjäger in Polen 1939
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Abbildung 4: „Erschossene Freischärler Polen“; Deutsches Bundesarchiv, BArch RH 53-18/184
Einstellungen enthüllen eine grundsätzliche Basis der Bereitschaft deutscher Soldaten, den verbrecherischen Befehlen der Wehrmacht 1941 zu folgen.“ Die Mehrzahl der mindestens 100.000 „österreichischen“ Soldaten marschierte im September 1939 am rechten Flügel der Heeresgruppe Süd in Polen ein. Sie waren Teil der 14. Armee, die überwiegend in der „Ostmark“ aufgestellt worden war : Sie bestand aus dem Armeekorps XVII mit Infanteriedivisionen und dem Armeekorps XVIII mit den Gebirgsjägern. Für ihre erste Feindberührung – den Wald- und Ortskampf – waren die Soldaten unzureichend geschult. Schon vor Kriegsbeginn setzte die militärische Führung jedoch auf das Schüren von Feindbildern und eine Verstärkung der abschätzigen Haltung gegenüber SlawInnen und Juden/Jüdinnen. So warnte das Oberkommando der Wehrmacht alle Divisionen ausdrücklich vor „Grausamkeiten, Brutalität, Hinterlist und Lüge“, die von der polnischen Bevölkerung als eingesetzte Kampfmittel zu erwarten seien. Das Armeeoberkommando gab die Losung aus, Juden/seien im besetzten Gebiet als feindlich anzusehen und daher ein entsprechendes Verhalten ihnen gegenüber zu wählen. Der deutsche Historiker Jochen Böhler fasste zusammen, dass die Feindbilder vor allem gepaart mit der polnischen Kampfweise, bei der den Wehrmachtssoldaten selten Gegner direkt gegenüberstanden, in kollektivem Misstrauen und einem „Freischärlerwahn“ resultieren.8 Nach der Haager Landkriegsordnung hätten „Freischär8 Böhler, Auftakt, 54–75.
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ler“ bzw. Partisanen, also Angehörige nicht uniformierter militärischer Kämpfer, von Standgerichten abgeurteilt werden müssen. Böhler fand in den Akten deutscher militärischer und polizeilicher Stellen jedoch „keinen Namen eines polnischen Zivilisten, der mit der Waffe in der Hand gegen die Wehrmacht gefasst worden wäre“. Ganz im Gegensatz dazu wurden versprengte polnische Soldaten als „Banditen und Räuber“ erschossen. Uniformen und Munition, von den flüchtenden polnischen Truppen in Dörfern zurückgelassen, reichten als Anlass aus, dass Häuser – oft mitsamt den Bewohnerinnen und Bewohnern– in Brand gesetzt wurden. Laut Forschungen von Historiker Böhler hat die Wehrmacht selbst kaum Dokumente über das Ausmaß ihrer Beteiligung an Übergriffen im September und Oktober 1939 hinterlassen. Aus diesem Grund können Erfahrungsberichte wie jene der „österreichischen“ Gebirgsjäger als Hauptquelle für diesen Problemkomplex dienen. Böhler sagt dazu : „In den überlieferten Kriegstagebüchern von Wehrmachtseinheiten wird ein besonders rücksichtsloses Vorgehen der Truppe gegen polnische und jüdische Zivilisten […] freimütig eingeräumt.“ Eine Einschätzung, ob vor allem überzeugte Anhänger des NS-Regimes und/oder Befürworter des deutschen Überfalls auf Polen sich zur Abfassung der Berichte entschlossen, ist nicht möglich. Gesichert ist, dass ihre Schilderungen zwecks Veröffentlichung gesammelt worden sind. In einem Schreiben, das am 7. Dezember 1939 vom ersten Generalstabsoffizier der 2. Gebirgsdivision an den Presseoffizier des XVIII. Armeekommandos in Salzburg gerichtet wurde, heißt es : „Es ist im Interesse der 2. Geb. Div., wenn zahlreiche Aufsätze in Tageszeitungen erscheinen.“ Als Beilage wird „eine Anzahl von Gefechtsschilderungen, geschrieben von Soldaten der 2. Gb.Div.“ genannt. Einige der Berichte wurden dem Presseoffizier in Salzburg als „brauchbar“, andere als „gute humorristische [sic] Schilderung“ oder mit der Bemerkung „Sehr gut, weil sie die Moral der Polen zeigt“ empfohlen.9 Was sich in den Akten der Armeeführer sehr wohl findet, sind deutliche Hinweise darauf, dass sie über die Lage informiert waren. Das IV. Armeekorps hielt am sechsten Kriegstag, dem 6. September 1939, fest : „Es besteht bei rückwärtigen Teilen mit ungeübten Mannschaften und Führern zur Zeit zweifellos die Gefahr der Freischärlerpsychose.“ Und General von Reichenau, Oberbefehlshaber der 10. Armee, schrieb : „Die Nervosität der Truppe gegenüber Schießereien im rückwärtigen Gebiet muss aufhören. Sie werden häufig von uns selbst verursacht. Einzelne Fälle wirklicher Feindhandlungen dürfen nicht dazu verleiten, dass die ganze Truppe beim kleinsten Anlass eine ungeordnete Schießerei beginnt. Das Niederbrennen von Häusern ist verboten.“
9 Vgl. RH 53-18/17.
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In einem Dokument des Gerichts für das XVII. Armeekorps vom 7. September 1939 heißt es, dass der „Nachweis der Freischärlerei“ schwer zu erbringen sei. Begründet wird das mit der folgenden Darstellung : „Die Truppe ist etwas nervös und trifft selbst nicht die erforderlichen Feststellungen an Ort und Stelle. Keine Angaben, ob und bei wem Waffenbesitz festgestellt worden ist, ob das betreffende Haus nach Waffen durchsucht worden ist.“ Ein Befehl zum Anzünden von Häusern zur „Freischärlerbekämpfung“ ist auch aus dem gesamten Einsatzgebiet der Heeresgruppe Süd, in der die rund 100.000 Mann des XVIII. Armeekorps eingesetzt waren, nicht überliefert. Dennoch lassen sich keine Maßnahmen der Heeresleitung gegen dieses Verhalten belegen. Die Führung der Armee schritt erst ein, als sie ein „Nachlassen in Haltung und Disziplin der Truppe“ bemerkte. Am 18. September 1939 erließ der Oberbefehlshaber der 14. Armee, Generaloberst List, einen Geheimbefehl : „Es mehren sich in den letzten Tagen die Meldungen über Disziplinlosigkeiten, Übergriffe und Willkürmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung. Als Beispiele müssen angeführt werden. Plünderungen, eigenmächtiges Erbrechen von Läden […] willkürliche Erschießungen ohne vorheriges kriegsgerichtliches bzw. standrechtliches Urteil.“
Freilich ist in dem Befehl von einem nötigen Schutz der polnischen Zivilbevölkerung nichts erwähnt. Aufschlussreich ist auch der Bericht des Quartiermeisters des XVIII. Armeekommandos, der sich ebenfalls im Bestand RH 53-18 im Bundesarchiv-Militärarchiv befindet. Darin ist ebenfalls ausdrücklich von „Übergriffen“ die Rede. In der entsprechenden Passage heißt es im vollen Wortlaut : „Übergriffe und Disziplinlosigkeiten der eigenen Truppe und die Unsicherheit des rück w[ärtigen] Gefechtsgebietes durch Banden und Versprengte hätten teilweise vermieden werden können, wenn dem Korps für sein Gefechtsgebiet ausreichende Polizeikräfte unterstellt worden wären.“
Was bewegte Wehrmachtssoldaten – unter ihnen die „österreichischen“ Gebirgsjäger – dazu, in Polen 1939 Menschen willkürlich zu erschießen ? Jochen Böhler hat in der Auseinandersetzung mit dieser Frage auch Christopher Brownings Analyse Ganz normale Männer10 herangezogen. Brownings situativer Ansatz lässt sich nach Ansicht Böhlers auf die Gewaltakte in Polen 1939 nicht anwenden, wie er zusammenfasst : 10 Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993.
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„Deutsche Soldaten töteten 1939 nicht – wie das Polizeibataillon 101 in Polen oder Wehrmachtverbände in der Sowjetunion – auf höhere Weisung. Von einer allmählichen Gewöhnung an den Krieg als Dauerzustand kann im Hinblick auf den wenige Wochen andauernden Polenkrieg ebenso wenig die Rede sein wie von einer Brutalisierung der Soldaten oder einer allmählichen Auflösung der kameradschaftlichen Verbände.“11
Auch Daniel Jonah Goldhagens in seinem viel diskutierten Buch Hitlers willige Vollstrecker vertretene Thesen greifen laut Böhler zu kurz.12 Goldhagen führt die Ermordung der europäischen Juden im Holocaust im Wesentlichen auf den in Deutschland seit Jahrhunderten virulenten „eliminatorischen Antisemitismus“ zurück, der von „willigen Vollstreckern“ umgesetzt worden sei. Die mentale Disposition, das abwertende Bild von SlawInnen- und Juden/Jüdinnen, das unter Wehrmachtssoldaten verbreitet war, kann aus Böhlers Sicht die Gewalt gegenüber Zivilisten nicht hinreichend erklären. Vielmehr kommt er zu dem Schluss, dass die Täter in Wehrmachtsuniform in Polen 1939 in einem Spannungsfeld zwischen innerer Disposition und äußeren Rahmenbedingungen, zwischen Motivation und Situation gehandelt hätten. Am deutlichsten trete dieses Spannungsfeld im Blickwinkel der unmittelbar betroffenen Soldaten zutage. Die Wirkung der Feindbilder, die unmittelbar vor dem Einmarsch verlesenen Warnungen vor der „Heimtücke“ von Polen und Juden, die von den unerfahrenen Soldaten als außerordentliche Bedrohung erlebten Situationen in Wald- und Ortskampf hätten in ihren Augen außerordentliche Maßnahmen erfordert und gerechtfertigt. Übergriffe und Morde seien ihnen in diesem Licht nicht als Kriegsverbrechen, sondern als legitime Selbstverteidigung erschienen. Die Wehrmachtsführung sei bereits zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bereit gewesen, völkerrechtliche Bedenken über Bord zu werfen zugunsten der von ihr als besonders effektiv erachteten „Befriedung“ des zu erobernden Landes – in dem ihrer Meinung nach nur als minderwertig erachtete SlawInnen und Juden/Jüdinnen lebten. Der Tod tausender ZivilistInnen, die im September 1939 in Polen durch Feuer, Handgranaten und Gewehrsalven umkamen, blieb nach dem Krieg juristisch ungeahndet.
Postskriptum
In Kenntnis der Kriegstagebücher fuhr ich im Herbst 2009 nach Polen. Mein Ziel waren die Dörfer am Fuß der Karpaten, von denen viele von den „österreichischen“ 11 Böhler, Auftakt, 18. 12 Ebd., 17.
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Gebirgsjägern während ihres Einmarschs im Jahr 1939 ganz oder teilweise in Brand gesteckt worden waren – wie diese Holzhäuser ausgesehen haben, sieht man nur noch selten. Ein Dorf nahe Zakopane, in dem sie erhalten geblieben sind, wird jetzt TouristInnen als Attraktion gezeigt. Weiter bin ich bis Przemyśl nahe der Grenze zur Ukraine gefahren, wo im September 1939 das größte Massaker an Juden/JüdInnen vor dem Einmarsch in die Sowjetunion stattgefunden hat. In drei Tagen wurden dort, wahrscheinlich von Einsatzgruppen und zumindest mit Kenntnis der Wehrmacht fünfhundert, möglicherweise sogar neunhundert Menschen erschossen. Anders als in Österreich, wo es keine einzige Ausstellung zum Beginn des Zweiten Weltkriegs gab, hatte der junge Historiker Jacek Błoński im kleinen Stadtmuseum in Przemyśl zeitgenössische Fotos und Berichte vom Übergreifen des Krieges auf die Stadt zusammengestellt. Er führte mich zum Bild eines Bauern, der von Wehrmachtssoldaten als mutmaßlicher Freischärler – gemeinsam mit seiner Tochter – erschossen worden war. Dabei stellte mir Błoński die Frage : „Viele der Wehrmachtssoldaten in unserem Raum waren Österreicher, warum haben sie das getan – Bauern erschossen ?“ Alte BesucherInnen, denen er erzähle, dass viele der Wehrmachtssoldaten Gebirgsjäger aus Österreich waren, schüttelten ungläubig den Kopf : „Wir und die Österreicher haben im Ersten Weltkrieg doch Seite an Seite gekämpft.“ Wer für das Massaker an den jüdischen BürgerInnen von Przemyśl im September 1939 verantwortlich war – und ob auch Wehrmachtssoldaten aus Österreich beteiligt waren –, konnte laut Historiker Jacek Błoński noch nicht geklärt werden. Auf dem jüdischen Friedhof der Stadt wurden unterdessen Steine mit den Namen jener Opfer errichtet, die bisher eruiert werden konnten. Es sind mehr als einhundert.
Andrea Strutz
Einleitung. Psychische und psychiatrische Konsequenzen von Krieg und Terror
Die Kriegs- und Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundert prägten die Entwicklung Europas bzw. der Welt grundlegend und hatten gesellschaftliche wie individuelle Traumata zur Folge. Der Umgang mit und die Verarbeitung von solchen Traumata hatten nicht nur maßgeblichen Einfluss auf die psychische Verfasstheit von Individuen, sondern auch auf die Ausprägung kollektiver Erinnerungskulturen und der Geschichtsschreibung in den betroffenen Gesellschaften. Im vierten und abschließenden Kapitel des vorliegenden Sammelbandes beschäftigen sich nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Disziplinen Geschichtswissenschaft, Psychologie und Medienwissenschaft mit Aspekten von Traumatisierungen aufgrund kollektiver oder individueller Terrorerfahrungen in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und am Beispiel des Staatsterrors in der ehemaligen DDR. Die Autorinnen und Autoren dieses Kapitels beziehen sich in ihren Beiträgen nicht so sehr auf die unmittelbare Ebene der Gewalterfahrungen, sondern vielmehr auf deren Verarbeitung etwa bei Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, bei weiblichen KZ-Häftlingen und bei als regimefeindlich geltenden Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR. Zuletzt werden Fragen rund um die rezente Geschichtsästhetik in filmischen Darstellungen des NS-Terrors am Beispiel der Hollywoodproduktion Inglourious Basterds (Drehbuch und Regie : Quentin Tarantino) geboten. Alle Autorinnen und Autoren behandeln in ihren Analysen die zeitgenössischen gesellschaftlichen Reaktionen und den jeweiligen Umgang mit jenen Personengruppen, die starken Gewalt- und Terroreinwirkungen in Kriegen bzw. diktatorischen Regimen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren. Sie verweisen auf gesellschaftliche, politische und wissenssoziologische Kontexte, die es ermöglichen bzw. auch verhindern, dass erlittene Traumata – individuell wie gesellschaftlich – zumindest partiell thematisiert oder bearbeitet werden können. Generell stellt die Auseinandersetzung mit Kriegs- und Terrorerfahrungen hohe Anforderungen an die betroffenen Gesellschaften. In diesem Rahmen kommt vor allem dem gesellschaftlichen Umgang mit dem Erlebten bzw. der Möglichkeit, überhaupt darüber sprechen zu können, ein zentraler Stellenwert zu. Auch stehen individuelle und gesellschaftliche Verarbeitungsmöglichkeiten von Kriegs- und Gewalter-
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fahrungen in einem engen Konnex mit dem Angebot für die Opfer von politischer Gewalt, Repression und Terror, Rehabilitierung bzw. gesellschaftlichen Integration erreichen zu können. In diesem Zusammenhang spielt die prinzipielle Haltung von Nachkriegsgesellschaften hinsichtlich einer „Wiedergutmachung“, etwa die Bereitschaft, Entschädigungsleistungen an Betroffene zu gewähren, eine signifikante Rolle vor allem auch in symbolischer Hinsicht. Die klinische Psychologin Brigitte Lueger-Schuster diskutiert in ihrem Beitrag die gesellschaftlichen Auswirkungen des Staatsterrors in der ehemaligen DDR, in der nach Schätzungen mehr als 300.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert wurden. Die politischen Häftlinge in den ostdeutschen Gefängnissen waren psychischen und physischen Extrembedingungen wie beispielsweise Schlaf- und Essensentzug, Dauerverhören, Isolationshaft und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Zwar hinterließen diese Gewaltübergriffe der staatlichen Untersuchungsbehörden in den DDR-Gefängnissen oftmals keine bleibenden körperlichen Spuren, umso mehr zeigten zahlreiche Inhaftierte später nachhaltige psychische Folgesymptome. Auf gesellschaftlicher Ebene bildete sich in Reaktion auf den Überwachungsstaat und den darauf aufbauenden Terror in der DDR sehr rasch eine „Misstrauenskultur“ aus, die bis in die familiäre Ebene hinein wirkte. In der ehemaligen DDR war es den politischen Häftlingen nach ihrer Haftentlassung streng verboten, über das Erlebte zu sprechen, und daher auch unmöglich, eine durch die Haft erlittene Traumatisierung zu thematisieren. Auch wurden den Betroffenen jegliche Unterstützung und das Recht auf Rehabilitierung bzw. eine vollständige gesellschaftliche Wiedereingliederung verwehrt. Brigitte Lueger-Schuster zeigt, dass die Traumatisierungen infolge staatlicher Repressionen in der DDR häufig posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) hervorriefen bzw. dass ehemals politische Häftlinge ein erhöhtes Risiko, an einem somatischen Leiden zu erkranken, tragen. Außerdem arbeitet die Autorin heraus, dass eine erfolgreiche Verarbeitung solcher Psychotraumata eine auf allen Ebenen offene gesellschaftliche Atmosphäre zwingend voraussetzt. Für diesen Zweck erweist sich gerade eine disziplinenüberschreitende Zusammenarbeit von Historikerinnen bzw. Historikern und Psychotraumatologinnen bzw. Psychotraumatologen als besonders vielversprechend. Während die Psychotraumatologie die Leidtragenden bei der Bewältigung von tiefen seelischen Wunden, hervorgerufen durch Gewalterfahrungen im Krieg, gezielt auf einer individuellen Ebene unterstützt, kann die historische Aufarbeitung von Krieg und Terror auf einer anderen Ebene unterstützend wirken. Die historische Analyse leistet einen wesentlichen Beitrag dafür, dass die Betroffenen gesellschaftliche Wertschätzung erfahren und zugleich ihre Ansprüche auf Entschädigungsleistungen besser durchsetzen können.
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Daran schließt Hans-Georg Hofer unmittelbar an, wenn er das psychiatrische Wissen, das um den Ersten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum in unterschiedlichen Ausformungen entstand, zum Ausgangspunkt einer wissenschaftshistorischen Analyse des Traumabegriffes macht. In seinen einleitenden Bemerkungen setzt sich Hofer kritisch mit dem Umstand auseinander, dass rezente Traumakonzepte wie das posttraumatische Belastungssyndrom vielfach auf vergangene Zeiten rückprojiziert werden, im Glauben, auf diesem Weg Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften besser verstehen zu können. Eine solche Übertragung gegenwärtiger psychiatrischer Konzepte auf historische Kriegsereignisse ignoriert jedoch den entscheidenden Faktor, dass auch Traumakonzepte medizinisch-gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unterworfen sind. Konsequenterweise sind daher die Entstehungsbedingungen von psychiatrischen Konzepten stets mitzudenken, weshalb aktuelle Traumakonzepte nicht als objektive und allgemeingültige Erklärungskategorien verstanden werden können. Hofer schlägt auf dieser Basis vor, die Gründe für die Privilegierung der posttraumatischen Belastungsstörung als analytisches Tool selbst zu analysieren. In diesem Zusammenhang plädiert er dafür, das zeitgenössische psychiatrische Wissen im Umfeld des Ersten Weltkriegs einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, Kriegsneurosen bei Soldaten und deren (psychische) Folgewirkungen besser an die zeittypischen Wissensordnungen rückbinden und analytisch erschließen zu können. Im zweiten Teil seines Beitrages untersucht Hans-Georg Hofer die Entwicklung der Diskussion zeitgenössischer Psychiater zum Verhältnis von Krieg und (traumatischer) Neurose und geht den psychiatrischfachwissenschaftlichen Kontroversen über die zeitgenössische Interpretation von Wirkungsmechanismen psychischer Kräfte anhand der Frage nach, ob Soldaten ihre psychischen Kräfte willentlich beeinflussen und somit eine Neurose simulieren (hätten) können. In der Zwischenkriegszeit wurde zwar anerkannt, dass die neue Form der industriellen Kriegsführung und der Grabenkrieg eine außerordentliche Belastung für die Soldaten darstellten, jedoch wurde ins Treffen geführt, dass „Zittererscheinungen“ bzw. andere Kriegsneurosen nicht bei allen Soldaten des Ersten Weltkriegs auftraten. Die Weiterführung der psychiatrischen Debatten in den 1920er-Jahren, speziell der Disput über die sogenannte Rentenneurose, berührte für die betroffenen Soldaten jedoch existenzielle Fragen. Jene Soldaten, deren psychische wie körperliche Beeinträchtigungen so stark waren, dass sie Invalidenrenten beantragten, waren davon in extremer Weise abhängig. In der Praxis blieb die psychiatrische Theoriebildung um die Folgewirkungen von traumatisierenden Kriegserlebnissen aus dem Ersten Weltkrieg bis in die 1960er-Jahre wirksam ; beispielsweise in der Gutachtertätigkeit von Psychiaterinnen und Psychiatern sowie anderen Fachärztinnen und Fachärzten in
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den Opferfürsorgeverfahren in der Zweiten Republik Österreich.1 Wie Hans-Georg Hofer am Beispiel der Diskussion um die Invalidenrenten für österreichische Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg ausführt, kommt medizinischen Gutachtern bzw. dem zeitgenössischen medizinisch-psychiatrischen Wissen in solchen Verfahren eine ganz besondere Relevanz zu. Die Ethnologin und Soziologin Helga Amesberger beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Traumatisierungen am Beispiel sexualisierter Gewalterfahrungen durch nationalsozialistischen Terror. Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht die kritische Reflexion der methodischen Anwendung der Oral History und ihrer möglichen Folgewirkungen bei überlebenden weiblichen KZ-Häftlingen anhand des Stichworts sekundäre Traumatisierung. Helga Amesberger verweist eindringlich auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaft mit Traumatisierung und Trauma auf mindestens zwei Ebenen ; zum einen mit den Traumareaktionen des Individuums unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontexts und zum anderen mit der Möglichkeit und der Bedeutung einer eventuellen sekundären Traumatisierung der interviewten Personen, aber auch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen von Forschungsprozessen. Am Beispiel mündlicher Zeugnisse von weiblichen Überlebenden der Konzentrationslager Ravensbrück und Mauthausen untersucht Amesberger individuelle Traumareaktionen aufgrund sexualisierter Gewalterfahrungen, die bei vielen der untersuchten Frauen (zumeist) lebenslang wirksamen waren (z. B. Scham, Ekel, Schuldgefühle, Verlust des Weltvertrauens und Selbstwertgefühls, Bindungsängste, Isolation und Schweigen über das Erlebte etc.). Amesbergers Beitrag verweist darauf, dass im Umgang mit traumatisierten Personen insbesondere der Wahl der Forschungsmethode, der Interviewform und der Interpretation des Erzählten/Nichterzählten spezielle Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu schenken ist, um die Gefahr einer eventuellen sekundären Traumatisierung durch die Forschung möglichst gering zu halten. In diesem Prozess ist die Wichtigkeit der Rolle der Interviewerinnen und Interviewer eminent, zumal beispielsweise eine Vermeidung des Ansprechens von belastenden und schmerzhaften Erinnerungen aus Gründen der Schonung der Interviewten letztendlich zu einer weiteren Tabuisierung bzw. Verfestigung der Sprachlosigkeit, die bei vielen betroffenen Personen festzustellen ist, beiträgt, wie Amesberger nachweisen kann. Im letzten Drittel ihres Beitrages reflektiert sie ihre eigene Rolle im Forschungsprozess aus einer weiteren Perspektive und verweist dabei 1 Siehe dazu Karin Berger u. a., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“. Analyse der praktischen Vollziehung des einschlägigen Sozialrechts (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 29/2), Wien/München 2004 ; Andrea Strutz, Wieder gut gemacht ? Opferfürsorge in Österreich am Beispiel der Steiermark 1945 bis 1964, Wien 2006.
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auf ein spezielles Desiderat in der qualitativen Sozialforschung : auf die weitgehend ausgeblendete Gefahr einer sekundären Traumatisierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durch ihre eigene Forschungstätigkeit. Zwar hatten Helga Amesberger und ihre Kolleginnen im hier besprochenen Forschungsprojekt eine psychologische Begleitung vor allem deshalb angestrebt, um zu verhindern, dass die ehemaligen KZ-Häftlinge durch die Teilnahme am Projekt erneut traumatisiert würden, doch stellte sich rasch heraus, dass die Forscherinnen wie auch die Forschungsergebnisse von einer Supervision enorm profitierten. Nicht zuletzt wirkten sich das Gehörte und die Lebensgeschichten der überlebenden Frauen spürbar auf das Leben und die Empfindungen der Forscherinnen selbst aus. Dieser sehr persönliche Einblick in die Verarbeitung und Reflexion des eigenen wissenschaftlichen Handelns und Tuns im Beitrag von Helga Amesberger bietet für ähnliche Forschungsunternehmen eine außerordentlich wertvolle Unterstützung im Umgang mit psychischen Belastungen infolge der wissenschaftlichen Forschungsarbeit. Der vierte und abschließende Beitrag dieser Sektion bietet schließlich eine völlige Verschiebung der Perspektiven auf die für den Sammelband relevanten konzeptuellen Begriffe „Terror“, „Trauma“ und „Geschichte“. Aus filmtheoretischer Sicht beleuchtet Drehli Robnik, wie Trauma und Terror als Kategorien einer medialisierten Geschichtskultur fungieren und inszeniert werden. Startpunkt der Analyse des Filmwissenschaftlers ist der jüngere Erfolg von Trauma als Schlüsselkonzept von Medienkulturen wie auch deren wissenschaftlicher Deutung. Robnik bezieht sich in seinem Beitrag „Wendungen und Grenzen der Rede vom Trauma und Nachträglichkeit“ auf den kommerziell wie in der Kritik erfolgreichen Kinofilm Inglourious Basterds (USA/ BRD 2009, Regie : Quentin Tarantino), in dem eine jüdisch-amerikanische Guerillagruppe Widerstand gegen den Nazi-Terror leistet. Durch Tarantinos Inszenierung der jüdischen Partisanen als gewaltbereit und blutrünstig (etwa in der Figur des einen Baseballschläger zückenden „Bärenjuden“) verliert das herkömmliche Opfer-TäterSchema seine Gültigkeit. Robnik verweist darauf, dass diese Art der Inszenierung des jüdischen Widerstand, in deren Rahmen sich ruhmlose, unkreative und identitätslose „Bastarde“ mit blanker Gewalt gegen die grausame NS-Herrschaft zur Wehr setzen, gegen ein implizites Ethos der Medialisierung des Holocaust verstößt, der die Jüdinnen und Juden bisher so gut wie ausnahmslos auf die Rolle der passiven Opfer festlegte. Der Autor verweist in seinem Beitrag darüber hinaus auch auf Auswirkungen in der Rezeption und Wahrnehmung von „Opfern der Geschichte“, die sich durch eine verstärkte Medialisierung des Themenbereiches „Zweiter Weltkrieg“ ergibt. So erzeugt die mit der Medialisierung von Trauma und Nationalsozialismus hervorgerufene Instrumentalisierung der Chiffre Trauma auch eine allgegenwärtige Universalisierung der Opfer-Erfahrung. Dies lässt sich beispielsweise bei Guido Knopps
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zahlreichen Fernsehdokumentationen zum Zweiten Weltkrieg oder auch im Spielfilm Der Untergang (BRD 2004, Oliver Hirschbiegel) beobachten. In diesem Kontext kritisiert Robnik nun, dass sich daraus eine völlig undifferenzierte Sichtweise ergibt. Durch die mediale Inszenierung von Trauma werden alle historischen Akteurinnen und Akteure zu „Opfern der Geschichte“, d. h., alle, die Nationalsozialismus und Krieg überlebt haben, sind auch Opfer, auch dann, wenn sie selbst gar keiner NSVerfolgung oder auch nur Marginalisierung ausgesetzt waren. Diese „Entwicklung“ durch die mediale Inszenierung von Terror, Trauma und Nationalsozialismus ähnelt unübersehbar dem über Jahrzehnte gepflegten Umgang der Republik Österreich mit Fragen der NS-Vergangenheit. Bekannterweise begriff sich die Republik als „erstes Opfer Hitlers“, wodurch im Zuge einer allgemeinen Viktimisierung z. B. Wehrmachtssoldaten und Nationalsozialistinnen bzw. Nationalsozialisten zu „Opfer[n] einer ‚unseligen Zeit‘“2 wurden. Im zweiten Teil des Beitrages greift der Autor entsprechend die spannende Frage auf : „What shall history books read ?“ Die Frage wird im Film durch die Figur des SS-Oberst Landa aufgeworfen und spaltete Filmkritik wie Rezipientinnen bzw. Rezipienten in zwei Lager auf. Die negativen Reaktionen, die von der Prämisse ausgingen, dass in „Geschichtsbüchern ‚etwas‘ steht, das Tarantino nicht unangemessen verwenden darf“, warfen dem Regisseur u. a. vor, dass er den Holocaust für eine Filmästhetik jenseits aller moralischen Absicht missbrauchet habe. Die Beiträge dieses Kapitels machen offensichtlich, dass enge Kooperationen im Bereich der Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften wertvolle Aufschlüsse hinsichtlich individueller und gesellschaftlicher Verarbeitungsmöglichkeiten von Kriegs- und Gewalterfahrungen und eine außerordentliche Stärkung der wissenschaftlichen Analyse- und Erkenntnispotenziale bieten können. Diese Aussicht sollte Ansporn für eine vermehrte disziplinenüberschreitende Zusammenarbeit bzw. eine transdisziplinäre Herangehensweise an diese Thematik sein.
2 Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese : NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in : Christian Gerbel u. a., Transformationen gesellschaftlicher Erinnerungen. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik, Wien 2005, 55.
Hans-Georg Hofer
Gewalterfahrung, „Trauma“ und psychiatrisches Wissen im Umfeld des Ersten Weltkriegs
Der Zusammenhang von Krieg und Trauma hat in den vergangenen Jahren in Psychologie und Psychiatrie sowie in den Geschichts- und Kulturwissenschaften große Aufmerksamkeit erfahren. Im Zuge dessen sind zum Teil erhebliche Auffassungsunterschiede über die Bezeichnung, Deutung und Bewertung von kriegsbedingten psychischen Erkrankungen sowie über die Rolle der Psychiatrie sichtbar geworden. Dies gilt insbesondere für den Ersten Weltkrieg, auf dessen Status als traumatisches Fundamentalereignis des 20. Jahrhunderts wiederholt verwiesen worden ist. In keinem anderen Krieg zuvor traten so viele – und so vielgestaltige – psychische Erkrankungen auf ; der „Kriegszitterer“ wurde zur emblematischen Figur für die Folgen industrieller Zerstörungsgewalten. Im folgenden Beitrag möchte ich zeigen, dass der Begriff „Trauma“ – zumal in seinen aktuellen neuropsychologischen Konzeptionen – nicht voraussetzungslos auf den Ersten Weltkrieg übertragen werden kann. Hierbei werde ich eine wissenschaftshistorische Position einnehmen, die keinen bestimmten rezenten Traumabegriff privilegiert (und retrospektiv auf historische Gewaltkonstellationen projiziert), sondern diesen in seiner Wandlungsdynamik begreift – und solcherart historisiert. Dies erfordert, das psychiatrische Wissen, das sich im Umfeld des Ersten Weltkriegs bildete, mitsamt seinen spezifischen Herstellungsbedingungen, Funktionsmerkmalen und heterogenen Ausformungen ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen.1 1 Hierbei stütze ich mich auf neuere Arbeiten zur historischen Traumaforschung : Mark S. Micale/ Paul Lerner (Hg.), Traumatic Pasts. History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870–1930, Cambridge 2001 ; Julia B. Köhne, Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914–1920), Husum 2009 ; Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004 ; Paul Lerner, Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890–1930, Ithaca 2003. Für vergleichende Perspektiven siehe das von Jay Winter herausgegebene Special Issue Shell-Shock des Journal of Contemporary History 35 (1) (2000) sowie Hans-Georg Hofer, War Neuroses, in : John Merriman/Jay Winter (Hg.), Europe since 1914. Encyclopedia of the Age of War and Reconstruction, Detroit 2006, 2699–2705. Zur vormodernen Begriffsgeschichte von Trauma siehe Heinz Schott, Das psychische Trauma in medizinhistorischer Perspektive – von Paracelsus bis Freud, in : Günther H. Seidler/Wolfgang U. Eckart (Hg.), Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung, Gießen 2005, 41–55.
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Hans-Georg Hofer
Reichweite und Grenzen eines psychiatrischen Konzepts : Post-traumatic Stress Disorder
Wer in den vergangenen Jahren über Gewalterfahrung, Krieg und Trauma sprach, tat dies häufig mit Bezug auf eine Diagnose, die, nachdem sie 1980 in die dritte Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM III) aufgenommen worden war, eine erstaunliche Karriere gemacht hat : Post-traumatic Stress Disorder (PTSD, deutsch häufig übersetzt als Posttraumatisches Belastungssyndrom). PTSD bekam seine Konturen in den späten 1970er-Jahren und war Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Veteranenverbänden des Vietnamkriegs, die die Anerkennung ihrer psychischen Leiden forderten, und Expertinnen bzw. Experten der amerikanischen Sozialpsychiatrie und Gesundheitspolitik, die sich zur Neugestaltung eines psychiatrischen Konzepts beziehungsweise zur Neudefinition einer Diagnose veranlasst sahen. Im deutschsprachigen Raum war die Reaktion auf dieses Konzept anfänglich verhalten. Erst in den 1990er-Jahren – mit der sich neu konstituierenden Disziplin der Psychotraumatologie2 sowie im Zusammenhang mit den Folgen der Balkankriege, den Terroranschlägen des 11. September 2001 und den Kriegen im Irak und in Afghanistan – hat das Posttraumatische Belastungssyndrom auch hier in wissenschaftlichen und medialen Öffentlichkeiten größere Aufmerksamkeit erfahren. Die psychiatrische und klinisch-psychologische Traumaforschung verleiht PTSD mittlerweile hegemonialen Status.3 In mehreren Neuauflagen des oben genannten psychiatrischen Manuals hat die Diagnose zum Teil erhebliche inhaltliche Änderungen erfahren. Was genau unter einem Posttraumatischen Belastungssyndrom zu verstehen ist, hat sich ebenso wie die Ein- und Ausschlusskriterien hierfür gewandelt. Diese Veränderungen sind ein erstes Indiz dafür, dass mit dem PTSD-Konzept extreme psychische Belastungserfahrungen und Symptome zwar klassifiziert und in eine Erklärungskategorie überführt werden können, darüber hinaus aber kein kontextunabhängiges und überzeitliches Abbildungsverhältnis begründet werden kann. Allan Young hat dies in seiner Monografie über die „Erfindung“ von PTSD pointiert zum Ausdruck gebracht : „The disorder is not timeless […]. Rather, it is glued together by practices, technologies, and narratives with which it is diagnosed, studied, treated 2 Gottfried Fischer/Peter Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, München 1999. 1991 wurde von den Autoren an der Universität Freiburg das Institut für Psychotraumatologie gegründet. 3 Einen guten Überblick über den Forschungsstand offerieren Gilbert Reyes/Jon D. Elhai/Julian D. Ford (Hg.), The Encyclopedia of Psychological Trauma, Hoboken/New Jersey 2008 und Matthew J. Friedman/Terence M. Keane/Patricia A. Resick (Hg.), Handbook of PTSD. Science and practice, New York 2007. Zur klinisch-psychologischen Traumaforschung vgl. den Beitrag von Brigitte LuegerSchuster in diesem Band.
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and represented and by the various interests, institutions, and moral arguments that mobilised these efforts and resources.“4 Mannigfaltigen Prägungen und Veränderungen unterworfen sind somit auch die jeweiligen Wissensbestände, auf denen das Konzept basiert. Mit PTSD sind neuroendokrinologische, psychiatrische und psychologische Wissensbestände zusammengeführt worden ; diese stehen trotz aller klassifikatorischer Bemühungen in verschiedenen wissenschaftlichen und nationalen Kontexten in unterschiedlicher Gewichtung zueinander. Ebenso sind – auch übersetzungsbedingt – Parallelkonzepte von PTSD in Umlauf, die in verschiedenen Anwendungsbereichen sowohl synonym als auch mit differenten Akzentsetzungen gebraucht werden.5 In den Geschichts- und Kulturwissenschaften ist auf die Karriere von PTSD unterschiedlich reagiert worden. Die kulturwissenschaftliche Traumaforschung, traditionell von psychoanalytischen Konzepten und Begrifflichkeiten geprägt, positionierte sich gegenüber dem PTSD-Konzept vorsichtig-distanziert – und mit Hinweis auf die zum Teil einseitige Privilegierung (und Verabsolutierung) biomedizinischer Wissensbestände auch kritisch.6 Gleichzeitig zeigten sich im Sog der „neurokulturellen Geschichtswissenschaft“ affirmative Tendenzen, die sich in spektakulären Thesen manifestierten. PTSD wurde hierbei in Form einer retrospektiven Diagnose gebraucht, um psychisch-mentale Signaturen von Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften besser verstehen zu können.7 Dass psychiatrisches Wissen und psychiatrische Konzepte al4 Allan Young, The Harmony of Illusions. Inventing Post-traumatic Stress Disorder, Princeton 1995, 5. 5 Ein Beispiel dafür ist der im PTSD-Konzept prominent platzierte Stressbegriff, der in der deutschsprachigen Akronymisierung (PTBS – Post-traumatisches Belastungssyndrom) durch den Begriff „Belastung“ ersetzt wurde. „Stress“, von amerikanischen Militärpsychiatern des Zweiten Weltkriegs sowie durch den Biochemiker Hans Selye rezeptionsrelevant geprägt, war in den 1960er- und 1970er-Jahren ein Schlüsselbegriff der US-amerikanischen Militärforschung über das Kampf- und Fluchtverhalten und avancierte im gleichen Zeitraum zu einem catch-all term für Überlastungserfahrungen in modernen westlichen Industriegesellschaften. Mit trauma und stress wurden somit zwei hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Genese unterschiedliche Begriffe in einer Diagnose verbunden, die aber den Vorteil hatte, schockartige Gewalteinwirkung und anhaltende Überlastungserfahrung in einem Erklärungskonzept zu vereinen. Vgl. Russell Viner, Putting Stress in Life. Hans Selye and the Making of Stress Theory, in : Social Studies of Science 29 (1999), 391–410. 6 Exemplarisch genannt seien hier Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkriegs, Wien 2000 ; Ruth Leys, Trauma. A Genealogy, Chicago 2000 ; Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln 1999. 7 Beispiele dafür sind Alice Förster/Birgit Beck, Post-Traumatic Stress Disorder and World War II. Can a Psychiatric Concept Help Us Understand Postwar Society ?, in : Richard Bessel/Dirk Schumann (Hg.), Life After Death. Approaches to a Cultural and Social History of Europe during the 1940s and 1950s, Cambridge 2003, 15–35 oder auch der von Niels Birbaumer und Dieter Langewiesche unternommene Versuch, den „Fall Österreich : Kollektive PTSD mit soziopathischen Zügen im Ein-
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lerdings selbst ihre Geschichte haben und hinsichtlich ihrer Entstehung, Aussagekraft und Reichweite zu historisieren sind, ist hierbei jedoch übersehen worden. Dies gilt nicht zuletzt auch für den Zusammenhang von Psychiatrie und Trauma im Ersten Weltkrieg. So ist etwa in geschichtswissenschaftlichen und psychiatrischen Arbeiten die Auffassung vertreten worden, dass die Kriegsneurosen des Ersten Weltkriegs im Kern ein posttraumatisches Belastungssyndrom gewesen seien.8 Die Soldaten des Ersten Weltkriegs, so das Argument, hätten bereits an diesem Syndrom gelitten ; nur hätten die Psychiater das damals angesichts ihres unzureichenden Wissensstands noch nicht erkannt. Hier wird davon ausgegangen, dass „traumatische“ Symptome auf ein bestimmtes psychophysisches Korrelat, auf spezifische neuroendokrinologische Prozesse oder zumindest auf konkrete psychologische Mechanismen zurückgeführt werden könnten und in den Kriegen des letzten Jahrhunderts bloß unter wechselnden Begriffen firmiert hätten. Mit einer solchen Argumentation geht nicht selten ein linear-positivistisches Wissenschaftsverständnis einher, wonach die Psychiatrie ihr Wissen über „traumatische“ Erkrankungen mit jedem Krieg verbessert habe. „Trauma“ war und ist jedoch keine fest definierbare, essenzialisierbare Kategorie. Nichts deutet darauf hin, dass traumatische Erlebnisse und Erfahrungen eine universelle, statische und somit transhistorische Signatur haben. Englische Psychiater und Historiker haben jüngst in umfassenden Längsschnittuntersuchungen über psychische Kriegserkrankungen gezeigt, dass jeder Krieg ein spezifisches Repertoire an Erklärungskonzepten und therapeutischen Vorgehensweisen hervorgebracht hat.9 Diese hier nur kurz angedeuteten Überlegungen und Hinweise bedürften jeweils für sich genommen einer eingehenderen Analyse, können aber verdeutlichen, dass in historischer Perspektive ein voraussetzungsloses Sprechen über Krieg und Trauma nicht möglich ist. Die Trauma Studies zerfallen in unterschiedliche Bereiche mit jeweils unterschiedlichen Vorannahmen, Herangehensweisen, Begründungszusammenhängen und Vorstellungen, wie Trauma als Explanandum und Explanans zu setzen ist. Darüber hinaus ist es wichtig zu sehen, dass Traumakonzepte unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz und Gestalt sein können sowie durch spezifische zelnen ?“ zu analysieren. Niels Birbaumer/Dieter Langewiesche, Neuropsychologie und Historie. Versuch einer empirischen Annäherung, Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und Soziopathie in Österreich nach 1945, in : Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), 153–175. 8 Beispielsweise bei Brigitte Biwald, Von Helden und Krüppeln. Das österreich-ungarische Militärsanitätswesen im Ersten Weltkrieg, Wien 2002, 581. 9 Edgar Jones/Simon Wessely, War Syndromes. The impact of culture on medically unexplained symptoms, in : Medical History 49 (2005), 55–78 ; Edgar Jones u. a., Flashbacks and Post-traumatic Stress Disorder. The Genesis of a 20th-Century Diagnosis, in : British Journal of Psychiatry 182 (2003), 158–163.
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historische Entstehungskontexte bedingt sind. Bei einer Annäherung an die psychischen Folgewirkungen des Ersten Weltkriegs gibt es somit keinen hinreichend plausiblen Grund, PTSD als privilegiertes analytisches Tool zu benutzen. Sinnvoller ist es, medizinisch-psychiatrische Konzepte als kontingente Kulturleistungen zu verstehen, die in einem bestimmten historischen Kontext und innerhalb bestimmter wissenschaftlicher Erklärungssysteme erbracht wurden.
Psychiatrische Konzepte im Ersten Weltkrieg : „Traumatische Neurose“ und „Hysterie“
Eine unter diesen Vorzeichen stehende Perspektive legt am Beginn einen merkwürdig anmutenden Umstand frei. So naheliegend es aus gegenwärtiger Perspektive erscheint, die Schrecken eines industriellen Krieges als „traumatisch“ zu bezeichnen, so wichtig ist es zu sehen, dass die Begriffe „Trauma“ und „traumatisch“ im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkriegs nicht an Bedeutung zu-, sondern abnehmen. Von 1916 an unternahmen führende deutsche und österreichische Psychiater sogar alles, um den Begriff „traumatisch“ aus ihrem diagnostischen Arsenal zu verbannen und diesen durch „hysterisch“ zu ersetzen. Aus heutiger Sicht scheint diese entschlossene Substitutshandlung nicht weniger merkwürdig, bedenkt man, dass die Begleitvorstellungen der Hysterie – als „prototypisch“ „weibliche“ und „jüdische“ Krankheit – nur schwer mit jenen von Männlichkeit und Krieg zu vereinbaren waren.10 Im Ersten Weltkrieg war der Begriff „Trauma“ untrennbar mit der Diagnose „traumatische Neurose“ verbunden. Das dieser Diagnose zugrunde liegende Krankheitskonzept hatte in den 1880er-Jahren der Berliner Psychiater Hermann Oppenheim formuliert.11 Nach Oppenheims Vorstellung zogen Unfallereignisse, die mit einem Schock für Psyche und Nervensystem einhergingen, feinste Schädigungen in Gehirn, Rückenmark und Nervensystem nach sich. Das Konzept der „traumatischen Neurose“ spiegelte solcherart den herkömmlichen Traumabegriff wider, der eine sichtbare, körperliche Verletzung meinte. Im Zusammenhang mit den Sozialreformen des 10 Zur Geschlechtergeschichte der Hysterie vgl. Karen Nolte, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt/Main 2003. In einzelnen Fällen wurde die Hysteriediagnose bei Soldaten bereits vor 1914 vergeben, wie Martin Lengwiler gezeigt hat : Martin Lengwiler, Zwischen Klinik und Kaserne. Die Geschichte der Militärpsychiatrie in Deutschland und der Schweiz 1870–1914, Zürich 2000, 77–104. Zur diffamierenden Funktion der Hysteriediagnose siehe Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997. 11 Hans-Georg Hofer, Hermann Oppenheim, in : Reyes/Elhai/Ford, Encyclopedia, 454–455.
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ausgehenden 19. Jahrhunderts – insbesondere mit der Einführung der Arbeiter- und Unfallversicherung – erfuhr das Oppenheim’sche Konzept wachsenden Widerspruch, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs in offene Ablehnung umschlug. Denn die versicherungsrechtliche Anerkennung der Diagnose „traumatische Neurose“ hatte in den Jahren vor dem Krieg zu einem starken Anstieg staatlicher Entschädigungszahlungen geführt. Gleichzeitig waren die Wissensgrundlagen dieses Konzepts immer stärker infrage gestellt worden – etwa dahingehend, dass die mit den versicherungsmedizinischen Gutachten beauftragten Psychiater die von Oppenheim behaupteten molekularen Schädigungen nicht identifizieren konnten und psychologische beziehungsweise psychogene Mechanismen für die Ausbildung von „nervösen Zuständen“ und Zittererscheinungen verantwortlich machten.12 Neuere Arbeiten zur Geschichte der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg – wie jene von Paul Lerner oder Julia Köhne – haben die Wende zur Hysterie herausgearbeitet. Lerner konnte zeigen, wie psychiatrische Wissensproduktion und die Gestaltung therapeutischer Praktiken an einzelne Akteure, professionelle Netzwerke, politische Strukturen und militärische Erfordernisse gebunden waren. Von großer Bedeutung war die Rolle, die der Hamburger Psychiater Max Nonne einnahm. Mit seinen suggestivhypnotischen Behandlungsverfahren, die er 1916 an mitgebrachten Patienten auf der Münchener Kriegstagung der deutschen Psychiater coram publico vorführte, verhalf er der psychologischen Richtung und der Hysteriediagnose zum Durchbruch.13 An diese und andere Aspekte von Lerners Auseinandersetzung anschließend setzte Köhne zum einen auf das von der Forschung noch zu wenig beachtete Medium der Patientenakte und zum anderen auf visuelle Repräsentationen der Kriegshysterie in Form von wissenschaftlicher Fotografie und Kinematografie. Erst über diese medientechnisch erzeugten Bilder konnte die Medizin Wissen über die Kriegshysterie herstellen, sortieren und legitimieren ; erst mithilfe von flimmernden Bildern zitternder Soldaten gelang es den Psychiatern, sich über die rätselhaften Symptomkomplexe in ein nüchternes Verhältnis von Distanz und Kontrolle zu setzen.14 Was also heißt es, den Ersten Weltkrieg als Ort psychiatrischer Wissensproduktion zu befragen ? Das Beispiel der traumatischen Neurose und der Hysterie zeigt : Die Psychiatrie des Ersten Weltkriegs generierte kaum neues Wissen, sondern disputierte 12 Paul Lerner, From Traumatic Neurosis to Male Hysteria. The Decline of and Fall of Hermann Oppenheim, 1899–1919, in : Micale/Lerner, Traumatic Pasts, 140–171. Freilich griffen auch jene Psychiater – und Psychoanalytiker –, die zum Verständnis „traumatischer“ Symptome ausschließlich psychische Kräfte postulierten, auf biologisch-technische Metaphorik zurück ; „Apparat“, „Schaltung“, „Erregungsenergien“ sind Beispiele dafür. 13 Lerner, Hysterical Men, 86–123. 14 Köhne, Kriegshysteriker, 214–221.
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erneut über Erklärungsansätze von Neurosen, die im Grunde genommen seit den späten 1880er-Jahren existierten. Die Kontroverse über die „richtige“ Deutung von Kriegsneurosen verhalf nicht genuin neuen wissenschaftlichen Methoden oder diagnostischen Instrumentarien zum Durchbruch, sondern reaktivierte, modifizierte und privilegierte bestimmte psychiatrische Wissensbestände, Techniken und Praktiken, die bereits vor dem Krieg existierten. Gleichwohl beschleunigten die Kriegsjahre Entwicklungen, die sich an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert abgezeichnet hatten : Die naturwissenschaftliche Psychiatrie, die in organischen Erkrankungen, in feinsten materiellen Schädigungen und pathologisch veränderten Substanzen und Geweben die Ursache von psychischen Erkrankungen hatte sehen wollen, verlor zugunsten psychologischer Erklärungskonzepte an Erklärungskraft. Die Sachzwänge des Krieges, insbesondere die Einbindung der Psychiatrie in die umfassenden Mobilisierungsanstrengungen für den Kriegsgewinn, die nach Prinzipien der Effizienzsteigerung und Affektdisziplin ausgerichteten therapeutischen Regime15 und nicht zuletzt die angesichts der enormen Dimensionen von psychischen Kriegserkrankungen in ihrer Bedeutung gestiegenen Gutachtersysteme, die bei der Vergabe von Invalidenrenten eine entscheidende Rolle spielten, präformierten psychiatrisches Denken und Handeln in einer bis dahin nicht gekannten Art und Weise. Dies zeigt sich gerade auch in der Frage, in welchem Verhältnis Krieg und Hysterie beziehungsweise Krieg und Neurose standen. Denn dies war eine der Kernfragen, wenn nicht die Kernfrage schlechthin, der sich die Psychiater zu stellen hatten. Wie war unter den Bedingungen eines modernen, industriellen Krieges dieses Verhältnis zu bestimmen ? Nach dem Scheitern der anfänglichen Erwartungen an einen kurzen und „nervenstärkenden“ Waffengang war mit dem Auftreten der Kriegsneurosen schnell klar geworden, dass an allen Fronten ein ungeheures Destruktionspotenzial entfesselt worden war. Niemand leugnete, dass der Grabenkrieg eine enorme Belas tung darstellte ; kein Psychiater des Ersten Weltkriegs stellte in Abrede, dass die Bedingungen des Grabenkrieges Nervensystem und Psyche des Soldaten schwer belasteten. Nicht zufällig wurde der „Nervenkrieger“, den ein passiver, erduldender, der zermürbenden Gewalt trotzender Heroismus kennzeichnete, zu einer der zentralen Phantasmagorien dieses Krieges.16 Dennoch verfestigte sich unter den Psychiatern mit Fortdauer des Krieges der Konsens, Krieg und Neurose in kein zwingendes Kausalitätsverhältnis zu stellen. Em15 Hans-Georg Hofer, Effizienzsteigerung und Affektdisziplin. Zum Verhältnis von Kriegspsychiatrie, Medizin und Moderne, in : Petra Ernst/Sabine Haring/Werner Suppanz (Hg.), Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004, 219–242. 16 Hofer, Nervenschwäche, 267–282.
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pirische Beobachtungen und Erfahrungen in den Neuroselazaretten spielten hierbei ebenso eine Rolle wie externe Handlungszwänge. Denn trotz aller Gleichförmigkeit des Grabenkrieges zeigten nach einem Granatbeschuss nicht alle beteiligten Soldaten Symptome der Kriegsneurose ; manche litten unter Schreckreaktionen und Zittererscheinungen, die sich nach der Verlegung in die Etappe oder in das Hinterland wieder legten ; andere zeigten unmittelbar nach dem Angriff keine Reaktionen, jedoch stellten sich Wochen später Zittererscheinungen ein. Wieder andere Soldaten zitterten, ohne jemals Feindkontakt gehabt zu haben, noch bevor sie überhaupt an die Front verlegt worden waren. Häufig wurde zudem über Kriegsneurosen als eine plötzlich auftretende Massenerscheinung berichtet, und zwar an Orten fernab der Kriegsgewalt, wie etwa Lazaretten und Kliniken. Wenn ein Soldat mit Erscheinungen des Zitterns in ein Lazarett eingeliefert wurde, zitterten häufig auch alle anderen Insassen. Aus Kriegsgefangenenlagern hingegen wurden keinerlei Fälle von Kriegsneurosen bekannt, obwohl auch dort eine größere Anzahl von Soldaten versammelt war, die schreckliche Fronterlebnisse zu ertragen gehabt hatte.17 Aus diesen Beobachtungen und Berichten schlussfolgerten die Psychiater, dass die Konfrontation mit Zerstörungskräften an der Front hysterische Symptome zwar auslösen konnte, jedoch nicht zwingend zu diesen führen musste bzw. nicht deren einzige Ursache sein konnte. Was aber dann ? Was war unter der „Hysterie“ eines Soldaten im Krieg zu verstehen ? Wann, wo, wie und in welchem Umfang wirkten „hysterische“ Kräfte ? An der Hysterie, so hielt der Münsteraner Psychiater Ferdinand Kehrer rückblickend zu diesen Fragen fest, sei nichts Wesenhaftes, nichts, was man jenseits des Begriffs genau eingrenzen und abbilden, substanziell erfassen und definieren könnte ; „die“ Hysterie existiere in Reinform gar nicht, vielmehr gebe es nur „Menschen, die hysterische Züge, Symptome, Mechanismen oder Reaktionen aufweisen“.18 Wesenhaft sei nur der Zweck, den ein an der Hysterie Erkrankter verfolge, nämlich als tatsächlich Kranker angesehen zu werden, um damit die Vorteile, die einem wirklich Kranken seitens der Umgebung entgegengebracht würden, in Anspruch nehmen zu können. Für diesen psychogenen Mechanismus hatte der Internist Adolf Strümpell bereits in den späten 1880er-Jahren den Begriff der „Begehrungsvorstellungen“ geprägt.19 Einem „gesunden“ Soldaten seien dessen Begehrungsvorstellungen bewusst, 17 Beispiele in Lerner, Hysterical Men, und Hofer, Nervenschwäche, passim. 18 Ferdinand Kehrer, Hysterie, in : Karl Birnbaum, Handwörterbuch der medizinischen Psychologie, Leipzig 1930, 230. Kehrer räumte allerdings ein, dass hysterische Erscheinungen eine Antwort auf „fürchterliche Erlebnisse“ und somit „durch äußere Reizeinwirkung eindeutig bestimmt“ sein konnten. 19 Susanne Michl, Im Dienste des „Volkskörpers“. Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2007, 202–205.
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und er könne damit selbstdisziplinierend umgehen. Der „hysterische“ Soldat hingegen könne die Gründe seines Verhaltens nicht erkennen, könne keine Außenposition zu sich selbst einnehmen und sich über die Gründe und Mechanismen in seinem Inneren nicht klar werden. Seine „Begehrungsvorstellungen“ würden vielmehr so mächtig, dass sie – in motorische Energien übersetzt – einzelne Gliedmaßen zum Schütteln und ganze Körper zum Zittern brächten. Mit anderen Worten : Der alle Willensenergien vereinnahmende, zwanghafte Wunsch nach Entschädigung und Existenzsicherung bzw. die Angst, eine bereits zugesprochene Kriegsrente wieder zu verlieren, charakterisierte hysterische Soldaten.20 Auch die Wiener Psychiatrie hatte sich schon während des Krieges darauf geeinigt, die Kriegsneurosen als psychische Erkrankungen zu deuten. Emil Redlich hatte 1915 im Verein für Psychiatrie und Neurologie den Leitsatz vorgegeben : „Für das Entstehen dieser nervösen Symptome kommen in erster Linie psychische Momente in Betracht, speziell für die hysterischen Formen. Es handelt sich vornehmlich um sogenannte psychogene Krankheiten. Vielfach spielt auch eine nervöse Disposition mit ; viele der Kranken sind schon vor dem Kriege nervös oder mindestens dazu veranlagt gewesen.“21 An diese Sichtweise knüpfte die Einstufung von Kriegsneurosen als prinzipiell heilbare Erkrankungen an ; die Wiederherstellung der Dienst- und Arbeitsfähigkeit von kriegsnervenkranken Soldaten wurde zum Ziel psychiatrischen Handelns erklärt. Gleichzeitig erteilte man der im ersten Kriegsjahr geübten Praxis, nervenkranke Soldaten mit einer Invalidenrente zu entlassen, eine scharfe Absage. Die in Aussicht gestellten Renten, so die Psychiater, hätten bei vielen Soldaten zu den Begehrungsvorstellungen geführt, die sich als krankheitsbeschleunigend erwiesen hätten. Ohne Aussicht auf Entlassung aus dem Heeresdienst – oder „Superarbitrierung“, wie es im Habsburgerdeutsch hieß – würde es für die Soldaten keinen bewussten oder unbewussten Anreiz mehr geben, ihre Krankheit psychisch zu fixieren. Über die Art und Weise, wie diese psychischen Kräfte wirkten, warum sie bei dem einen Soldaten aktiv waren, bei dem anderen nicht, ob – und in welchem Umfange – diese psychischen Kräfte willentlich beeinflusst und gebahnt werden konnten, entwickelten sich heftige psychiatrische Kontroversen. Umstritten war im Verlauf des Krieges insbesondere die Frage, was als Simulation und was als Hysterie zu behandeln war. In Wien brachte der Psychiater Julius Wagner-Jauregg dieses Dilemma auf den Punkt. Im Umgang mit den Soldaten, die an die psychiatrische Klinik überstellt worden waren, seien willentlich vorgetäuschte psychisch-motorische Symptome 20 Kehrer, Hysterie, 227. 21 Emil Redlich, Einleitendes Referat. Diskussion zur Frage der Entschädigung der traumatischen Neurosen im Kriege, in : Wiener klinische Wochenschrift 29 (1916), 630–632.
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nur schwer von nicht willentlichen zu trennen : Das Nichtkönnenwollen könne vom Nichtwollenkönnen nur in der begrifflichen Welt scharf abgegrenzt werden ; in der Wirklichkeit seien diese hingegen nur sehr schwer unterscheidbar. Nichtkönnenwollen bedeutete : „Ich will nicht gesund werden können, ich will krank sein, weil mir daraus Vorteile erwachsen.“ Nichtwollenkönnen meinte : „Ich kann nicht gesund werden wollen, es ist mir willentlich nicht möglich“.22 In der Praxis wurden solche feinen Unterscheidungen jedoch nicht immer berücksichtigt. Ein wesentlicher Grund für die Radikalisierung in der Behandlung von Kriegsneurosen lag in dem Umstand, dass vor allem deutsch-österreichische Psychiater davon ausgingen, nicht-„deutsche“ Soldaten würden ihre Symptome bloß simulieren, um im Sinne ihrer eigenen nationalen Interessen den Zusammenbruch der Kampfkraft der Armee zu beschleunigen. Mit Fortdauer des Krieges erfüllten die elektrischen Behandlungsverfahren („Faradisation“) daher nicht mehr nur eine therapeutische, sondern auch eine disziplinierende Funktion. In dieser Doppelfunktion, als Mittel gegen Kriegsneurosen, das bei Soldaten unterschiedlicher Herkunft und Sprache zur Anwendung kam, und als verlässliches Instrument zur Entlarvung von Simulation, sahen die Wiener Psychiater den Anwendungsnutzen elektrischer Verfahren – und hielten daran bis Kriegsende fest. 1920 wurde im Rahmen einer Untersuchungskommission, bei der Sigmund Freud als Gutachter auftrat, deutlich, dass an der Wiener Psychiatrischen Klinik gegenüber Soldaten, die der Simulation verdächtigt wurden, mit brutalen Methoden vorgegangen worden war.23
Psychiatrische Diskussionslinien der 1920er-Jahre : „Rentenneurose“ versus „Hysteriefähigkeit“
In den 1920er-Jahren setzte sich die Kontroverse um den psychiatrischen, juristischen und moralischen Status der „Rentenneurose“ fort. Waren die Symptome eines Veteranen im Rahmen der psychiatrisch-nervenärztlichen Begutachtung, die über die Gewährung oder Ablehnung einer Invalidenrente entschied, direkt und kausal auf fortwirkende Kriegserlebnisse zurückzuführen ? Oder waren sie doch vielmehr das 22 Julius von Wagner-Jauregg, Erfahrungen über Kriegsneurosen, in : Wiener Medizinische Wochenschrift 67 (1917), 189–193. 23 Kurt Robert Eissler, Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen, Wien 1979 ; Hofer, Nervenschwäche, 189–193, 284–290 ; ders., Beyond Freud and Wagner-Jauregg : War, Psychiatry and the Habsburg Army, in : Hans-Georg Hofer/Cay-Rüdiger Prüll/Wolfgang U. Eckart (Hg.), War, Trauma and Medicine in Germany and Central Europe (1914– 1939), Freiburg 2011, 49–71.
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manifeste Produkt von psychischen Energien, die den Körper vor den Augen des begutachtenden Nervenarztes zittern ließen, um eine Existenzsicherung zugesprochen zu bekommen ? So verständlich Letzteres war : Wo war zwischen diesen beiden Kategorien die Grenze zu ziehen ? Wie war zu unterscheiden, ob ein traumatischer Erlebniszusammenhang aus der Kriegssituation heraus entstanden war – oder dadurch, dass sich derselbe nachträglich des Lebens bemächtigte ? Vehement forderten Kriegsveteranen eine Entschädigung für Schmerz und erfahrenes Leid.24 Die Frage nach den kausalen Mechanismen und Dynamiken von Willenshandlungen wurde anhaltend als eines der dringlichsten Probleme der Psychiatrie angesehen. „Störungen des Wollens“ galten hierbei als charakteristisches Merkmal des „Rentenneurotikers“, dessen Willensanstrengungen nicht auf die schnellstmögliche Erlangung der Gesundheit, sondern im Gegenteil auf die Fixierung seines Krankheitszustandes gerichtet und somit in falsche Bahnen geraten waren.25 Hysterische Erscheinungen, so argumentierten Psychiater, waren durch eine falsche Zweckbestimmung charakterisiert, nämlich von der den gesamten Willenshaushalt beherrschenden Vorstellung, Anspruch auf Entschädigung zu haben. In weiterer Folge entstehe eine „seelische Selbstvergiftung“,26 deren Triebkraft übermächtige Gefühle der Benachteiligung, Vergeltungsgedanken sowie – zumeist uneingestandene – Wünsche nach Entschädigung für erlittenes Leid seien. Entzöge man die Aussicht auf Entschädigung dadurch, dass man die Erscheinungen nicht als krankhaft, sondern bloß als fehlgeleitete Willenshandlung erklärte, könne der Betroffene die Unberechtigtheit seiner Ansprüche einsehen – die „Rentenneurose“ würde dadurch ohne weiteres therapeutisches Zutun abklingen.27 Ein solche Deutung erlaubte freilich keine verlässliche Aussage darüber, ob derjenige, der zweckbestimmte hysterische Symptome erkennen ließ, dies von 24 Zu den Auseinandersetzungen um die Anerkennung kriegsbedingter psychischer Störungen als Krankheit und den daraus resultierenden Rentenanspruch siehe Stephanie Neuner, Politik und Psychiatrie. Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920–1939, Göttingen 2011 und Jason Crouthamel, ‘The Nation’s Leading Whiner’ : Visions of the National Community from the Perspective of Mentally Traumatized Veterans, in : Hofer/Prüll/Eckart, War, Trauma and Medicine, 72–96. 25 August Bostroem, Störungen des Wollens, in : Oswald Bumke, Handbuch der Geisteskrankheiten. Zweiter Band, Allgemeiner Teil II, Berlin 1928, 1–90. Bostroem war im Ersten Weltkrieg – als Assistent von Max Nonne in Hamburg – mit der Behandlung von Kriegsneurosen befasst, die er als „Willenssperrungen“ auffasste. 26 Kehrer, Hysterie, 233. 27 So etwa der deutsche Psychiater Ewald Stier, Über die sogenannten Unfallneurosen, Leipzig 1926, dessen Thesen in die Grundsatzentscheidung des Reichsversicherungsamtes (1926) einflossen. Andreas Killen, From Shock to Schreck. Psychiatrists, Telephone Operators and Traumatic Neurosis in Germany, 1900–1926, in : Journal of Contemporary History 38 (2003), 212.
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einem „gesunden“, „beeinträchtigten“ oder „kranken“ Zustand aus getan hatte. Auch „Gesunde“, so insistierte der Freiburger Psychiater Alfred Hoche, einer der gewichtigsten Akteure der Debatte, hatten „Hysteriefähigkeit“.28 Eine andere, noch stärker ins Grundsätzliche gehende Kritik formulierte der Heidelberger Neurologe Viktor von Weizsäcker. Weizsäcker stellte fest, dass staatliche und ökonomische Erfordernisse die medizinisch-wissenschaftliche Anschauung derart verschoben hätten, dass eine „Krise der Meinungen“ entstanden sei. Auf begrifflicher Ebene sah Weizsäcker durch Bezeichnungen wie „Rentenhysterie“ oder „Unfallneurose“ eine unvorteilhafte Vermengung von juristischer, sozialpolitischer und psychiatrischer Terminologie gegeben, die der analytischen Trennung und Neuformulierung bedürfe. Der seit dem Krieg geltende Grundsatz, wonach Neurosen „psychogen“ und nicht „somatogen“ seien, dürfe nicht als das Ergebnis, sondern müsse als Ausgangspunkt erneuter Forschung verstanden werden.29 Auch Alfred Hoche vertrat eine ähnliche Position. Hoche konstatierte vor dem Hintergrund der Praxis der Begutachtungsmedizin, dass die wissenschaftliche Diskussion auf ein Nebengleis gefahren sei. Die Frage nach dem Wesen der Hysterie sei durch die Wunsch- und Motivtheorie bestenfalls neu aufgeworfen, aber keineswegs gelöst worden : „Wir stehen wie von jeher am Anfang – vor einer verschlossenen Tür.“30 Um 1930 hatten somit skeptische Positionen an Bedeutung gewonnen. Ihnen gemeinsam war die Ansicht, dass externe Handlungszwänge die wissenschaftliche Theoriebildung auf dem Gebiet der Kriegs- und Unfallneurosen stark verfremdet und in letzter Konsequenz auch unmöglich gemacht hatten. Die Rückgewinnung eines psychiatrischen Binnenraums, in dem sich fernab staatlich-juristischer Einflussnahme die „Wahrheit“ über das „Wesen“ der Kriegs- und Unfallneurosen gewinnen ließ, erschien jedoch schon deshalb illusorisch, weil das zugrunde liegende, behauptete oder negierte Gewalterlebnis niemals für sich allein stehen konnte, sondern ex post immer von subjektiven Wirklichkeitswahrnehmungen und daraus resultierenden Handlungsstrategien geprägt sowie von versicherungsrechtlichten und sozialen Konsequenzen determiniert war. Erwin Straus, wie Weizsäcker einer der Proponenten der anthropologischen Psychiatrie, versuchte in seiner Studie Geschehnis und Erlebnis eben dieses prekäre Verhältnis näher zu bestimmen. Geschehnis und Erlebnis, so Straus, stünden nur dann 28 Alfred Hoche, Ist die Hysterie wirklich entlarvt ?, in : Deutsche Medizinische Wochenschrift 58 (1932), 1–3. Hoche hatte 1920 zusammen mit dem Juristen Carl Binding die Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens veröffentlicht und darin radikal biopolitisches Gedankengut vertreten, nahm aber in der Frage der Kriegsneurosen einen differenzierten Standpunkt ein. 29 Viktor von Weizsäcker, Über Rechtsneurosen, in : Der Nervenarzt 2 (1929), 569. 30 Hoche, Hysterie, 3.
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in einem zwingenden Zusammenhang, wenn in einer neuen Wahrnehmungssphäre dem Geschehnis ein spezifischer Sinn gegeben werden könne – etwa dadurch, dass die Möglichkeit zu einer Antragstellung auf eine Invaliden- oder Unfallrente bestehe. Durch diese Sinnstiftung in Bezug auf das Gewalterlebnis, das solcherart zu einer Gewalterfahrung werde, erhalte die „Unfall- und Rentenneurose“ ihr spezifisches Gepräge. Ein psychisches Trauma lag für Straus dann vor, wenn ein erschütterndes Erlebnis einen Zwang hin zu einer bestimmten Sinnstiftung ausübte. Hierbei war es aus Straus’ Sicht einerlei, ob dies durch ein Erdbeben, einen Unfall oder durch Kriegsgeschehen ausgelöst wurde ; das Ereignis, das der Ausbildung der Neurose zugrunde gelegt werde, wirke nicht als „Naturereignis“, sondern nur durch die Art des Sinngehalts, der diesem entnommen werde.31 In einer solchen Sichtweise war der Krieg nicht nur kein Kausalitätsereignis ; er konnte auch keinen Sonderstatus als exzeptionelles Gewaltereignis für sich beanspruchen. Zwischen „Unfall“ und „Krieg“ zu differenzieren bezog sich in der psychiatrischen Neurosenlehre der 1920er-Jahre auf keine prinzipiellen, sondern nur graduelle Unterschiede.
Ausblick : Der Erste Weltkrieg und die Transformation psychiatrischen Wissens
Die mit Begriffen wie „Kriegshysterie“, „Psychogenie“ und „Rentenneurose“ vollzogene Aufwertung von psychologischen Erklärungskategorien im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkriegs hat viele weitere Aspekte und Dimensionen ; sie ist etwa eine der wichtigsten Bedingungen dafür, dass psychotherapeutische Behandlungsverfahren in der Psychiatrie der 1920er-Jahre enorm an Bedeutung gewannen. Festmachen lässt sich dieser Aufschwung an einschlägigen Kongressen und neu gegründeten Fachvereinigungen und Zeitschriften. 1926 wurde in Baden-Baden etwa der Erste Allgemeine Ärztliche Kongreß für Psychotherapie abgehalten ;32 ein Jahr später konstituierte sich in Berlin die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie, die wiederum ein Jahr später, 1928, eine eigene Zeitschrift, die Allgemeine Ärztliche Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene herausgab. Vor allem im Umfeld der Psychiatrischen Universitätsklinika in Heidelberg und Berlin bildeten sich Forschergruppen, die psychotherapeutische Ansätze in der Psychiatrie zu stärken suchten. Ebenso von 31 Erwin Straus, Geschehnis und Erlebnis. Zugleiche eine historiologische Deutung des psychischen Traumas und der Renten-Neurose, Berlin 1930, 83–85. 32 Wladimir Eliasberg (Hg.), Psychotherapie. Bericht über den I. Allgemeinen Ärztlichen Kongreß für Psychotherapie in Baden-Baden, Halle 1926.
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1928 an erschien die Zeitschrift Der Nervenarzt, die sich dezidiert psychotherapeutischen Ansätzen verpflichtet fühlte. Die Herausgeber dieser Zeitschrift, die Heidelberger Psychiater Kurt Beringer, Karl Hansen und Wilhelm Mayer-Gross sowie der an der Nervenklinik der Berliner Charité arbeitende Erwin Straus, gehörten zu einer neuen Generation von Psychiaterinnen und Psychiatern, für die die Erfahrungen in den Neurosenlazaretten des Krieges zum Ausgangspunkt ihrer weiteren wissenschaftlichen Arbeit wurden.33 Eine Reihe von psychiatrischen Programmatiken, disziplinären Formierungsversuchen und therapeutischen Praktiken entstand im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkriegs. Die in allen Bereichen der Medizin vertretene Ansicht, den Krieg als einmalige Forschungschance und Experiment zu sehen, das wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und neue therapeutische Ansätze versprach, wurde auch in Psychiatrie und Psychotherapie geäußert. Drei Beispiele, die sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts als besonders wirkmächtig erwiesen, seien hier abschließend kurz angesprochen. (1) Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs stellte der Jenaer Nervenarzt Johannes H. Schultz seine Idee von der „konzentrativen Selbstentspannung“ vor. Ende der 1920er-Jahre benannte Schultz diese psychotherapeutische Methode in „autogenes Training“ um.34 Als Leiter eines der großen Kriegsneurosenlazarette an der Westfront hatte Schultz während des Krieges begonnen, mit psychotherapeutischen Techniken des Selbst zu experimentieren. Den Symptomen von Kriegsneurotikern, die ihr Zittern nicht zu kontrollieren vermochten, setzte Schultz die „seelische Selbstführung“ entgegen, eine therapeutische Idee, die zentrale Erkenntnisse der Kriegspsychiatrie wie die Aufwertung der individuellen Persönlichkeit, die Stärkung des Willens in der Abwehr zerstörerischer Kräfte sowie die Anwendung von (auto‑) suggestiv-hypnotischen Behandlungsverfahren kombinierte.35 (2) Wie für Schultz wurde auch für den Tübinger Psychiater Ernst Kretschmer das Kriegsneurosenlazarett zum Ort der Erprobung von Ideen und Wissensordnungen. Kretschmer, der 1916 in Bad Mergentheim die Leitung einer „Nervenstation“ 33 Zur Psychotherapie im Berlin der Zwischenkriegszeit siehe Thomas Müller (Hg.), Psychotherapie und Körperarbeit in Berlin. Geschichte und Praktiken der Etablierung, Husum 2004. 34 Johannes H. Schultz, Das Autogene Training (konzentrative Selbstentspannung). Versuch einer klinisch-praktischen Darstellung, Leipzig 1930. 35 Johannes H. Schultz, Lebensbilderbuch eines Nervenarztes, Stuttgart 1964, 79. Zu Schultz’ Nahverhältnis zum Nationalsozialismus siehe Florian Steger/Jürgen Brunner, Johannes Heinrich Schultz (1884–1970). Begründer des Autogenen Trainings. Ein biographischer Rekonstruktionsversuch im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, in : Bios. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 19 (2006), 16–25.
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übernahm, begegnete dort einer großen Anzahl von Patienten, über die er nicht nur ärztliche, sondern auch militärische Verfügungsgewalt hatte. Kretschmer interessierte sich insbesondere für die Frage, warum bestimmte Soldaten, die im Grabenkrieg ganz ähnlichen Bedingungen und Gefahren ausgesetzt waren, auf Gewalteinwirkungen unterschiedlich reagierten. Auch Kretschmer stellte die Frage nach der psychophysischen Verfasstheit in den Mittelpunkt ; aber anders als Schultz, der die Möglichkeit autosuggestiver Selbststeuerung betonte, war für Kretschmer die konstitutionelle Determiniertheit das Entscheidende. Auf der Basis vergleichender Untersuchungen publizierte er 1921 seine Studie Konstitution und Charakter, in der er drei unterschiedliche Konstitutionstypen (Leptosom, Pykniker, Athletiker) beschrieb. Kretschmers Konstitutionstypologie entfaltete bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts enorme Wirkung in Psychiatrie und Medizin.36 (3) Der Berliner Psychiater Karl Birnbaum, der im Krieg regelmäßig Sammelreferate zu den Veröffentlichungen über die Kriegsneurosen publizierte und auf diesem Wege unter Beweis stellte, dass er wie kaum ein anderer mit der immens angewachsenen Literatur zu dieser Thematik vertraut war, versuchte in den 1920er-Jahren Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie als neue Spezialdisziplinen zu etablieren.37 Die Erscheinungsformen von Neurosen – das war Birnbaum vor allem anhand der Kriegs- und Unfallneurosen deutlich geworden – ließen sich nur in ihren sozialen, politischen und gesellschaftlichen Bezügen verstehen. Lokalistische und anatomische Prinzipien, die Suche nach organischen Veränderungen und pathologischen Substraten, halfen Birnbaum zufolge in der Neurosenforschung nicht weiter. Das „Wesen“ der Neurose bestand für Birnbaum nicht so sehr in ihrer „Naturform“, sondern in ihrer „Sozial- und Kulturform“. Wollte man sich dieser bestimmend nähern, so sei eine Auseinandersetzung mit dem „Hineingestelltsein der Persönlichkeit in den sozialen Raum“ unverzichtbar.38 Auch wenn – vereinfacht gesagt – im deutschsprachigen Raum Medizinische Soziologie und Psychologie ihre disziplinäre Formierung und institutionelle Professionalisierung erst in den 1960er- und 1970erJahren erfuhren, so waren in Birnbaums Handwörterbuch grundlegende Einsichten und Prinzipien antizipiert worden. Diese hier nur kursorisch skizzierten Beispiele zeigen, dass der Erste Weltkrieg als Ort der Herstellung, Beschleunigung und Transformation psychiatrischen Wissens in seinen mittel- und längerfristigen Auswirkungen noch eingehender zu untersu36 Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, Berlin 1921. 37 Birnbaum, Handwörterbuch. 38 Karl Birnbaum, Soziologie der Neurosen. Die nervösen Störungen in ihren Beziehungen zum Gemeinschafts- und Kulturleben, Berlin 1933, 11.
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chen wäre. Dies gilt nicht zuletzt für den Umgang mit psychischen Kriegsfolgen und „traumatisch“ klassifizierten Erkrankungen. Die im Umfeld des Ersten Weltkriegs entstandenen Wissensgrundsätze und Handlungsanweisungen hatten große Reichweite. Noch 1958 wurde in einem deutschen Standardwerk der psychiatrischen Kriegs- und Unfallforschung der Begriff „psychisches Trauma“ als ein aufgrund seiner Vieldeutigkeit unscharfer, „nichtssagender Terminus“ bezeichnet, der „gutachtlich völlig irrelevant“ sei. Hingegen wurden Begriffe wie „Rentenneurose“ oder „Begehrungsvorstellungen“ nahezu bedeutungskongruent wie im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkriegs gebraucht.39 Die Freiburger Historikerin Svenja Goltermann hat kürzlich in ihrer Studie Die Gesellschaft der Überlebenden am Beispiel des Umgangs mit Kriegsheimkehrern in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft skizziert, wie stark psychiatrisches Wissen des Ersten Weltkriegs bis in die 1950er- und 1960erJahre hinein wirkte.40 Diesen Entwicklungslinien in wissenschaftshistorischer und vergleichender Perspektive genauer nachzugehen wäre ein lohnendes Unternehmen, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten präziser einschätzen zu können.
Zusammenfassung
Es ist in wissenschaftlichen und medialen Öffentlichkeiten selbstverständlich geworden, die Kriegsfolgen und Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts als „traumatisch“ zu bezeichnen ; selbsterklärend ist der Konnex von „Krieg“ und „Trauma“ jedoch nicht. „Trauma“ ist keine fest definierbare, essenzialisierbare und retrospektiv eindeutig anwendbare Kategorie. Bei aller Bedeutung, die PTSD als gegenwärtig hegemoniales Traumakonzept haben mag : Für geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion und Problematisierung ist das analytische Potenzial eines aktuellen Konzepts eingeschränkt. Demgegenüber plädiert dieser Beitrag am Beispiel des Ersten Weltkriegs dafür, nach jenen historischen Wissensbeständen zu fragen, die sich im unmittelbaren zeitlichen Umfeld dieses Krieges zur Charakterisierung und Legitimierung bzw. Delegitimierung von psychischen Verwundungen herausgebildet hatten. Diese Wissensbestände wurden mit unterschiedlichen Begriffen und Konzepten – wie etwa der „Hysterie“ oder der „Rentenneurose“ – in Stellung gebracht ; deren spezifische Funktion und Bedeutung ist im Zusammenhang mit den Bedingungen 39 Walter Schellworth, Grundbegriffe, in : Martin Reichardt, Einführung in die Unfall- und Rentenbegutachtung, 4. Aufl., Berlin 1958, 4. 40 Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009, 165–272.
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dieses Krieges zu sehen, der im Zeichen maschineller Zerstörungskräfte und der Mobilisierung aller – auch der medizinischen – Ressourcen für den Kriegsgewinn stand. Die Auseinandersetzung mit diesen Konzepten ermöglicht nicht nur eine Kenntnis jener Kontroversen, die sich im und nach dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit kriegsbedingten Gewalterfahrungen zeigten, sondern kann zudem deutlich machen, wie wichtig es ist, „Kriegstraumata“ nicht als eine monolithische Kategorie der Psychiatrie(geschichte) zu setzen, sondern diese in ihrer – historisch bedingten – Andersartigkeit und Veränderlichkeit aufzusuchen und darzustellen.
Brigitte Lueger-Schuster
Posttraumatisches Syndrom als Folge von Terrorerfahrungen am Beispiel totalitärer Staaten
In der ehemaligen Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten wurden Tausende von Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Sie setzten sich vor allem für Demokratie, Menschenrechte und Freiheit ein. Nicht nur litten sie dabei unter Überwachung, Schikanierung, Folter, extremem Stress und Ausgrenzung. Auch wenn sie aus der Haft entlassen wurden, blieben die gesundheitlichen Folgen auf psychischer und physischer Ebene nachhaltig bestehen. Für viele Überlebende dieser meist politisch motivierten Inhaftierungen blieb der Zusammenhang zwischen der Haft und den gesundheitlichen Schäden jedoch unerkannt. Auch die Behandlung durch Fachkräfte konnte oder wollte diese Verbindung nicht herstellen. Für die ehemalige DDR liegt ein Expertengutachten vor, welches diesen Zusammenhang aufzeigt und den ehemaligen Häftlingen Unterstützung bei der Beantragung auf Entschädigungszahlungen gibt.1 In der Folge wird insbesondere in der Beschreibung von Staatsterror unddessen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit eingegangen. Im Fokus stehen Studienergebnisse von Opfern aus der ehemaligen DDR, die die posttraumatische Belastungsstörung als psychische Konsequenz politischer Repression diskutieren. Traumatisierung durch Terror
Für die DDR wird geschätzt, dass über 300.000 Menschen aus politischen Gründen zwischen 1945 und 1989 inhaftiert wurden.2 Schlaf- und Essensentzug, Dauerverhöre, Einzelhaft, Stehhaft und Misshandlungen waren die Regel. Gerichtsprozesse mündeten in langen Haftstrafen. Es herrschten extreme Haftbedingungen, gekennzeichnet durch Mängel in Hygiene und Ernährung, Gewaltübergriffe durch das Personal und schlechte medizinische Versorgung. Schätzungen gehen davon aus, dass ein Drittel der Inhaftierten während der Haft verstarb.3 1 Vgl. Harald J. Freyberger u. a., Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR. Expertengutachten, Dresden 2003, http ://www.landesbeauftragter.de/pics/Publikationen/LSTU_BR_Haftfolgeschae den.pdf, 04.10.2010. 2 Vgl. ebd., 14. 3 Vgl. Doris Dennis/E. Baum, Entschädigung psychischer Gesundheitsstörungen nach politischer Haft in der SBZ/DDR, in : Neue juristische Wochenschrift 45 (1999), 3289–3301.
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Ab der Gründung der DDR wurden insbesondere sogenannte „Republikflüchtlinge“ inhaftiert, auch Kontakte mit dem westlichen Ausland, Staatsverleumdung oder Staatsfeindlichkeit waren Haftgründe. Die Haftbedingungen wurden ab 1953 bis zur Unterzeichnung der Menschenrechtskonvention durch die DDR 19724 etwas besser, Einschüchterung, Bedrohung von Familienmitgliedern etc. waren dennoch relativ weit verbreitet. Den meisten Häftlingen waren Kontakte nach außen verwehrt. Angewendet wurden außerdem repressive Methoden wie Schlafentzug, Dauerverhöre und Einzelhaft. Sie hinterließen keine körperlichen Spuren, zeitigten jedoch in der Regel nachhaltige psychische Auswirkungen. Dennoch lassen sich auch langwierige körperliche Erkrankungen als eine Folge der Haftbedingungen auffassen. So weisen die Prävalenzraten zu Herzerkrankungen und Angsterkrankungen im OstWest-Vergleich deutliche höhere Zahlen in den entsprechenden Geburtsjahrgängen für den Osten Deutschlands auf.5 Die Traumatisierung durch die Haft war allerdings nur ein Element des Terrors in der DDR. Die Überwachung der Bevölkerung führte insgesamt zur Bildung einer Misstrauenskultur in der Gesellschaft, die in vielen Fällen einen Rückzug in das individuelle „innere Exil“ bedingte, Lebensperspektiven verschob und dazu beitrug, dass sich ein Gefühl von Unsicherheit weit verbreitete. Die Misstrauenskultur konnte auch das familiäre Alltagsleben massiv verändern. Politische Betätigung wurde, abgesehen von strategischen Gründen, hauptsächlich im Geheimen ausgeübt, um Familienmitglieder zu schützen oder Konflikte in den Familien zu vermeiden.6 Auch Haftentlassene litten unter diesen allgemeingesellschaftlichen Bedingungen. Es war ihnen verboten, über die Inhaftierung bzw. die Haftbedingungen zu sprechen, im Umgang mit Behörden litten sie unter Stigmatisierung, Unsicherheit und Perspektivenlosigkeit hielten an. Rehabilitierung blieb den Inhaftierten in den meisten Fällen so lange versagt, wie die DDR existierte.
Trauma und Traumatisierung
Die sowjetisch besetze Zone Deutschlands, die spätere DDR, entstand auf den Trümmern des nationalsozialistischen Staates. Der Osten Deutschlands war zu Ende des Zweiten Weltkriegs von NS-Endphaseverbrechen, Einmarsch der Sowjettruppen, Bombenangriffen, Zerstörung und wirtschaftlichem Niedergang gekennzeichnet. 4 Vgl. Dennis/Baum, Entschädigung. 5 Vgl. Freyberger u. a., Folgen, 16. 6 Angela Kühner, Kollektive Traumata. Konzepte, Argumente, Perspektiven, Gießen 2007.
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Aufgrund der Nazi-Propaganda war die Sowjetarmee gefürchtet und verhasst, man hatte auch große Angst. Diese Verunsicherung bereitete den Boden für eine intensive psychische Reaktion auf die Terrormethoden, die dem Kommunismus zugeschrieben wurden. Die Ausübung von Repressionen erzeugte eine zusätzliche Verunsicherung und Verängstigung. Die Traumatisierung durch kommunistische DDR-Behörden fiel also auf „fruchtbaren“ Boden, da die Bevölkerung bereits verunsichert war.
Krankheitsbilder
Ein Psychotrauma ist eine überwältigende, seelisch nicht integrierbare Lebenserfahrung. Es führt zu einer Desintegration psychischer Vorgänge und zu einer dauerhaften seelischen Entwicklungsstörung.7 In den Klassifikationen (Diagnoseschlüssel, die von der WHO bzw. der American Psychiatric Association herausgegeben und weltweit sowohl in der Forschung als auch in der Praxis eingesetzt werden) wurde die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) in den 1970er-Jahren eingeführt. Sie beruht vor allem auf den Erfahrungen der Vietnamveteranen, die erste Forschungsbemühungen motivierten.8 Im Zentrum stehen folgende Symptombeschreibungen : • v erzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei so gut wie allen Betroffenen eine tief greifende Verzweiflung hervorrufen würde • anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Bedrohung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen, lebendige Erinnerungen, Träume, innere Bedrängnis, Grübeln • weitgehende Vermeidung von Umständen, die der Belastung ähneln • teilweise oder vollständige Unfähigkeit, wichtige Aspekte zu erinnern, erhöhte psychische Sensibilität und Erregung, Ein- bzw. Durchschlafstörungen, Reizbarkeit, Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz, erhöhte Schreckhaftigkeit • häufig begleitet von Isolationsgefühlen, Verzweiflung, Suizidtendenzen 7 WHO, The ICD-10 classification of mental and behavioural disorders. Clinical descriptions and diagnostic guidelines, Genf 1992 ; American Psychiatric Association, Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM), 4. Aufl., Washington DC 1994. 8 Vgl. auch den Beitrag von Hans-Georg Hofer (Gewalterfahrung, „Trauma“ und psychiatrisches Wissen im Umfeld des Ersten Weltkriegs) in diesem Sammelband.
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Eine weitere Diagnosemöglichkeit, die in Zusammenhang mit Traumatisierungen steht, ist die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastungen. Sie wird vor allem bei Opfern von langandauernden und multiplen Trauma-Expositionen beobachtet. Auf Symptomebene zeigen sich zusätzlich zu den oben genannten Kriterien • f eindliche, misstrauische Haltung gegenüber der Welt, sozialer Rückzug, Gefühle der Leere und Hoffnungslosigkeit, chronisches Gefühl der Anspannung, Gefühl der Bedrohtheit und Entfremdung ; • Symptome der Vermeidung – wenig Inanspruchnahme von therapeutischen Hilfen. Traumatisierung ist ein Risikofaktor für die Entwicklung andere psychischer Störungen, insbesondere für • A ngststörungen, Panikstörungen, Agoraphobien (Vermeidungsverhalten beim Verlassen der schützenden Umgebung), • depressive Episoden und langanhaltende depressive Störungen, • Substanzmissbrauch und -abhängigkeit sowie • Somatisierungsstörungen. Die psychopathologischen Folgen von traumatischem Stress sind ausführlich in der Klassifikation der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) der Klassifikationssysteme DSM und ICD beschrieben worden. Das Risiko eine Traumafolgestörung zu entwickeln, ist insbesondere hoch, wenn das Terroropfer bereits vor der Traumaerfahrung unter einer psychischen Erkrankung litt oder bereits Traumaerfahrungen ausgesetzt war. Darüber hinaus haben Frauen ein höheres Risiko als Männer, Jugendliche und ältere Menschen ebenso. Weitere Risikofaktoren für Traumafolgestörungen sind : • niedriger Bildungsstand • u nzureichend soziale Vernetzung mit Personen, zu denen eine emotionale Bindung besteht • passives Bewältigungsverhalten • Schweregrad der Traumatisierung • sequenzielle Traumatisierung • Ausmaß körperlicher Verletzung • Perversionsgrad der Handlungen, denen man ausgesetzt war • Ausmaß des Kontrollverlustes durch die Traumatisierung
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Epidemiologie der PTSB nach Terrorerfahrungen
Die Epidemiologie erstellt Daten über die Häufigkeit von körperlichen bzw. psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung zur Verfügung, entweder zu einem bestimmten Zeitpunkt, also zu einem Stichtag (z. B. leiden per 01.01.2000 x Personen unter der Krankheit Y), oder in Bezug auf die Lebenszeit (für die Bevölkerung besteht die Wahrscheinlichkeit von X, zu einem Zeitpunkt in seinem/ihrem Leben an der Krankheit Y zu erkranken). Für die Entwicklung einer PTSB nach Terrorerfahrung wurde für Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR folgendes Risiko festgestellt :9 • m ittleres Risiko für einen Betroffenen, an einer posttraumatischen Belastungsstörung i. w. S. zu erkranken : 30 % • mittel- bis langfristiger Verlauf : von den 50 % der Betroffenen, die initial eine PTBS entwickeln, remittieren 50 %, 50 % erkranken chronisch • Die letztgenannte Gruppe hat ein hohes Risiko, Zusatzerkrankungen zu entwickeln (2,5- bis 3,5‑fach höher als in der Normalbevölkerung). • längerfristig : Erkrankungen aus dem kardio-vaskulären Bereich, insgesamt erhöhtes somatisches Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko (= Erkrankungs- und Sterberisiko) Begründet werden die massiven Erkrankungsraten durch ein erhöhtes dauerhaftes Stresspotenzial sowie durch ein geringeres angemessenes Gesundheitsverhalten sowie die insgesamt seltenere Inanspruchnahme medizinischer Behandlungen, weil diese einerseits nicht zur Verfügung stehen und andererseits die symptomatische Vermeidungshaltung den Weg in die Behandlung verhindert. Dieses Verhalten hängt damit zusammen, dass jede Form von Behandlung unausweichlich an die erlittenen Traumata erinnert.10
Entstehung der Traumatisierung – Erklärungsfaktoren
Nicht nur das Erleben der Traumatisierung selbst, sondern auch die Situation davor und die der Phase danach erklären die psychischen Reaktionen auf solches Erleben.11 9 Vgl. Freyberger u. a., Folgen, 10–13. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Hans Keilson, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-sta-
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Bedingt dadurch lebt die betroffene Person in einer Atmosphäre der ständigen Bedrohung. Damit gehen eine tiefe Erschütterung menschlicher Grundüberzeugungen sowie der Verlust des Vertrauens in die eigene Selbstwirksamkeit einher. Es besteht eine häufig akute Todesgefahr und Todesangst – auch wenn die Bedrohung nicht immer sichtbar ist, ist sie stets präsent. Aus dieser Konstellation entspringt eine Verunsicherung aller mitmenschlichen Bezüge und Kontakte, die sich oft als nachhaltig erweist. Betroffene fühlen sich schutzlos in ihrem Dasein – eine Empfindung, die besonders von Zuständen völliger oder nahezu völliger Rechtlosigkeit unterstützt wird. Nicht immer besteht eine Gefährdung durch öffentliche und persönliche Beschimpfungen, Verleumdungen, Anschuldigungen, die jedoch charakteristisch für das Erleben der eigenen Position in der Umwelt sein können.12
Psychische Folgen und Verhaltensweisen
Die psychischen Folgen von Terrorerfahrungen drücken sich in einem relativ typischen Bündel an Verhaltensweisen aus, die in vielen Gruppen, die Terror erlebt haben, von psychologischer Seite beobachtet werden können. Vorherrschend sind z. B.: erschweigen und Verdrängen, was auch durch die politische Struktur forciert • V wird • Ablenkung durch den Wiederaufbau (vor allem in von der Terrorherrschaft befreiten Gesellschaften) • Rechtfertigungsdialog in der Familie • Erschöpfung und Krankheit als erlaubte Form, seelisches Leid auszudrücken • Zusammenbruch der Abwehr im Alter • Suizid Aber auch Familiengründung, Berufsausbildung, Berufsausübung, das Finden neuer Freunde, das Erleben von sozialer Geborgenheit und Freude sowie die Gewissheit, überlebt zu haben, sind von Bedeutung. Insbesondere bei Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors standen diese Verhaltensweisen im Vordergrund.13 tistische Follow-up-Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden, Stuttgart 1979.
12 William G. Niederland, Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frankfurt/ Main 1980. 13 Vgl. David Vyssoki u. a., Trauma bei den Opfern der NS-Verfolgung, in : Alexander Friedmann u. a. (Hg.), Psychotrauma. Die Posttraumatische Belastungsstörung, Wien/New York 2004, 197–211 ;
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Studienergebnisse
Es gibt insbesondere für die ehemalige DDR einige Studien, die auf der Basis von Untersuchungen an den Opfern des Terrors erstellt wurden. Sie werden in dem bereits erwähnten Expertinnen- und Expertengutachten im Detail beschrieben und im Folgenden hier zusammengefasst. • 5 5 Patientinnen und Patienten, die aus politischen Gründen mindestens 6 Wochen inhaftiert waren, litten unter depressiven Verstimmungen, Ängsten, Misstrauen, Alpträumen, Gereiztheit, Kontaktschwierigkeiten, Aggressivität und somatischen Beschwerden. 28% sahen diese Symptome als haftbedingt an.14 • Von 40 Patientinnen und Patienten, die nach einem Ausreiseantrag Repressalien ausgesetzt waren, litten 85 % vor und nach dem Antrag an psychischen Beschwerden. Anzumerken ist, dass die Phase vor dem Ausreiseantrag als psychisch belastend bezeichnet werden kann, da anzunehmen ist, dass diesem Entschluss vielfältige Überlegungen bzw. aversive Erlebnisse vorangegangen sind. Anzunehmen ist auch, dass sich Antragsteller mit der Situation nach Antragstellung gedanklich konfrontiert und mögliche Folgen antizipiert haben.15 • Unter 54 Personen, die vor 1972 politisch inhaftiert waren, hatten mehr als 50 % Angststörungen und Depressionen sowie typische Symptome der PTBS. Die Schwere der PTBS korrelierte positiv mit einer schlechten beruflichen und sozialen Integration nach der Haft.16 • 25–50 % der Inhaftierten mit PTBS hatten einen erhöhten Mitteilungsdrang, verbunden mit erhöhter emotionaler Mitreaktion.17 Haim Dasberg, Late-onset of post-traumatic reactions in Holocaust survivors at advanced age, in : Alexandra Rossberg und Johan Lansen (Hg.), Das Schweigen brechen, Berlin/New York 2003, 311–348 ; Henry Krystal, Holocaust survivor studies in the context of PTSD, in : PTSD Research Quarterly 5 (1994), 1–5. 14 Stefan Priebe/Heidi Rudolf/Michael Bauer/B. Häring, Psychische Störungen nach politischer Inhaftierung in der DDR – Sichtweisen der Betroffenen, in : Fortschritte Neurologie Psychiatrie 61 (1993), 55–61. 15 Stefan Priebe/K. Bolze/Heidi Rudolf, Andauernde psychische Störungen nach Repressalien in Folge eines Ausreiseantrages in der damaligen DDR, in : Fortschritt Neurologie Psychiatrie 62 (1994), 433– 437. 16 Doris Dennis u. a., Psychische Störungen nach politischer Inhaftierung in der sowjetischen Besatzungszone und der ehemaligen DDR von 1945–1972, in : Fortschritte Neurologie Psychiatrie 65 (1997), 524–530, zitiert nach Freyberger u. a., Folgen. 17 Julia Müller/Andre Beauducel/Johannes Raschka/Andreas Maercker, Kommunikationsverhalten nach politischer Haft in der DDR. Entwicklung eines Fragebogens zum Offenlegen der Traumaerfahrung, in : Zeitschrift für politische Psychologie 8/9 (2000), 413–427, zitiert nach Freyberger u. a., Folgen.
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• I m Vergleich von 146 ehemals politisch Inhaftierten ohne therapeutische Behandlung mit einer Kontrollgruppe (n = 75) ohne Hafterfahrung hatten die Inhaftierten zu 30 % eine aktuelle PTBS, zu 60 % eine Life-Time-PTBS.18 • Unter 984 ehemals politisch Inhaftierten litten 62 % unter aktuellen psychischen Beschwerden, die auf die Haft zurückzuführen sind. Davon befanden sich 17 % während der Haft in Lebensgefahr, 40 % wurden während der Haft misshandelt. Insgesamt zeigte sich ein 1,9‑fach höheres Risiko für psychische Störungen.19 • Zu nennen sind zuletzt auch noch Ärgerausdruck und Ärgererleben bei ehemals Inhaftierten. Die traumatisierten Personen berichten häufiger Ärger – akzentuiertes Ärgererleben trägt zur Aufrechterhaltung der PTBS bei.20 Resümee
Zahlreiche Personen entwickeln aufgrund politischer Repression und Terrorerfahrungen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder andere psychische Folgeerkrankungen bzw. haben ein erhöhtes Risiko, körperlich zu erkranken. Die Opfer stoßen in den sie umgebenden Gesellschaften häufig auf wenig Verständnis für ihre Schicksale und sind von geänderten politischen Verhältnissen enttäuscht. Auch Hoffnung auf Gerechtigkeit wird durch eine vom Opfer als nicht zufriedenstellend erlebte juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen bzw. Terror relativiert. Damit ist häufig ein hohes Risiko, eine Retraumatisierung zu erleiden, verbunden. Diese kann etwa durch eine angesichts vermeintlich geänderter politischer oder juristischer Verhältnisse eingetretene Ernüchterung oder durch die Entdeckung von Terrorverantwortlichen ausgelöst werden, das Sichtbarwerden der repressiven Mechanismen oder der gesellschaftlichen oder juristische Aufarbeitung geht damit einher. Eine offene gesellschaftliche Atmosphäre, Offenheit vonseiten der Behörden und Ähnliches könnten für die Auseinandersetzung mit Terror hilfreich sein – individuell und kollektiv. Dies zeigen nicht nur die Studien des hier zitierten Experteninnen- und
18 Andreas Maercker/Matthias Schützwohl, Long-term effects of political imprisonment, a group comparison study, in : Soc Psychiatry Epidemiol 32 (1997), 435-442, zitiert nach Freyberger u. a., Folgen. 19 Andreas Maercker u. a., Trauma severity and initial reactions as precititating factors for posttraumatic stress symptoms and chronic dissociation in former political prisoners, in : Journal Traumatic Stress 13 (2000), 651–660, zitiert nach Freyberger u. a., Folgen. 20 Matthias Schützwohl/Andreas Maercker, Anger in Former East German Political Prisoners. Relationship to Posttraumatic Stress Reactions and Social Support, in : Journal of Nervous and Mental Disease 188 (2000), 483–489, zitiert nach Freyberger u. a., Folgen.
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Expertengutachtens21, sondern auch die Ergebnisse von Basoğlu22 (2005, 2007). Er untersuchte die Auswirkungen von Strafverfolgung und Entschädigung auf die Erholung von der PTBS und von Depressionen bei 1.358 Kriegsüberlebenden aus allen Teilen von Ex-Jugoslawien, die zumindest einem kriegsbedingten Trauma ausgesetzt waren (Kampf, Folter, interne Vertreibung, Flucht, Belagerung, Bombardierung). Die Nichtbestrafung der als verantwortlich Erachteten ist nur einer der Faktoren, der das Ungerechtigkeitsgefühl erklärt ; für die Betroffenen ist dieser Aspekt jedoch als zentral zu betrachten : Die Überlebenden reagierten emotional signifikant heftiger auf Nichtbestrafung, hatten mehr Angst und Kontrollverlust, weniger Vertrauen in das prinzipielle Wohlwollen der Menschen, zweifelten häufiger am Sinn dieses Krieges, nahmen ein stärkeres religiöses Bewusstsein für sich selbst in Anspruch und litten mehr unter PTBS und Depressionen als die Angehörigen der Kontrollgruppen. Die emotionale Reaktion auf Ungerechtigkeit scheint nur eine geringe Erklärungskraft für PTBS und Depression bei Kriegsüberlebenden zu haben, erscheinen diese doch – unabhängig vom Gefühl der Ungerechtigkeit – durch fehlende Strafen und Kompensationen bedingt. PTBS und Depression sowie deren Aufrechterhaltung lassen sich besser durch Angst vor dem Verlust der Kontrolle über das Leben und über die eigene Sicherheit erklären. Aus Sicht der Psychotraumatologie spricht für die historische Aufarbeitung von Terrorregimen eine Vielzahl von Gründen, obwohl die Erhebung von Daten durch Interviews für viele Betroffene belastend ist. Die historische Auseinandersetzung und Erschließung von Fakten zeitigt unter anderem die folgenden positiven Ergebnisse für die Betroffenen : • • • •
egünstigung der Anerkennung als Opfer B objektive Begründung der Traumatisierung Legitimation von Ansprüchen auf Ausgleichszahlungen Interviews und Interesse von Historikerinnen und Historikern werden als Zuwendung und Wertschätzung erlebt („Wenn sich die Wissenschaft interessiert …“). • Beitrag zur Gerechtigkeit und Aussöhnung zwischen Opfer- und Tätergruppen • Förderung des Dialogs, den es für die Aufarbeitung braucht, und eines offenen Gesellschaftsklimas. 21 Vgl. Freyberger u. a., Folgen, 26. 22 Metin Basoğlu u. a., Psychiatric and Cognitive Effects of War in Former Yugoslavia. Association of Lack of Redress for Trauma and Posttraumatic Stress Reactions, in : JAMA 294 (2005), 580–590 ; M. Basoğlu u. a., Torture versus Other Cruel, Inhuman, and Degrading Treatment. Is the Distinction Real or Apparent ?, in : Arch Gen Psychiatry 64 (3) (2007), 277–285.
Helga Amesberger
Oral History und Traumatisierung am Beispiel der Erfahrung sexualisierter Gewalt während der nationalsozialistischen Verfolgung
Die Rede von „Trauma“ und die Verwendung des Traumabegriffs geht mittlerweile zu Recht weit über den Fachbereich der Medizin hinaus.1 Da Traumata auch sozialpolitisch verursacht sein können und als solche Teil des politischen Geschehens bleiben, ist meines Erachtens eine Beschäftigung mit der Thematik in der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung notwendig.2 Wichtig sei, so David Becker, „dass sozialpolitische Traumatisierungsprozesse immer innen und außen wirksam sind, sie töten und bleiben doch lebendiger Schmerz, sie sind immer Vergangenheit und Gegenwart.“3 Gemeint ist damit, dass Traumatisierungen ebenso individuelle wie gesellschaftliche Folgen zeitigen und deren Bewältigung maßgeblich vom gesellschaftspolitischen Umgang mit der Vergangenheit geprägt ist. Vor einer unreflektierten Verwendung des Begriffes und der Konzepte ist dennoch zu warnen. Es ist vor allem die Individualisierung des Traumas sowie die Nichtberücksichtigung der gesellschaftlichen Dimension, die kritisch zu reflektieren sind. Die Pathologisierung betroffener Einzelner, die häufig zu beobachten ist, deckt soziale Aspekte von Traumatisierung, welche im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzung stehen sollten, zu. Das Hauptinteresse dieses Artikels ist es, anhand der Erfahrung sexualisierter Gewalt während der nationalsozialistischen Verfolgung zu zeigen, wie Traumatisierungen in den Forschungsprozess intervenieren. Um die Traumaforschung für Historikerinnen und Historiker nutzbar zu machen, müssen gleichwohl wesentliche Erkenntnisse aus dem medizinisch-psychologischen Bereich berücksichtigt werden. Schwierigkeiten verursacht beispielsweise, dass Traumatisierungen nicht auf ein einziges Traumaerlebnis (wie etwa die Erfahrung sexu1 Vgl. Harald Welzer, Abstract zum Vortrag im Rahmen der vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften organisierten Tagung „Gedächtnis zwischen Erfahrung und Repräsentation. Was bleibt von der verstörenden Kraft der Erinnerung ?“, am 12.–13.12.2003 in Wien ; Ulrich Sachsse, Trauma, Trauma-Coping und Posttraumatische Belastungsstörung. Theorie und Therapeutische Ansätze (Tonbandabschrift des Further Fortbildungstages „Schwere Traumatisierungen – wie bewältigen ?“ vom 07.10.1998, http ://www.fachklinik-furth.de/sachs.htm, (07.08.2001). 2 Vgl. David Becker, Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten, Berlin 2006, 10. 3 Becker, Erfindung, 15.
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alisierter Gewalt) zurückzuführen sind. Nicht nur ein einzelnes Ereignis, sondern ein ganzer Komplex von Vorkommnissen kann zu einer Traumatisierung führen. Vera Folnegović-Šmalc, Hans Keilson und David Becker, der Keilsons Theorie der sequentiellen Traumatisierung weiterentwickelt hat, haben herausgearbeitet, wie entscheidend die Bedingungen vor und nach dem Traumaerlebnis sind.4 Das Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung, die Dauer des traumatischen Ereignisses, der Verfolgungsgrund, die Folgen der Gewalt (hier z. B. Schwangerschaft, Unfruchtbarkeit), die Reaktion des sozialen Umfelds und andere Faktoren haben wesentlichen Einfluss auf die individuelle Traumareaktion. Kinder und Jugendliche können traumatisierende Erfahrungen wesentlich schwerer verarbeiten als Erwachsene.5 Verschiedene Untersuchungen zeigen auch, dass die Phase nach dem Traumaereignis – in unserem Fall die Zeit nach der Befreiung – von enormer Bedeutung ist. Verläuft diese Phase ungünstig, kann dies zu schwerwiegenderen Erkrankungen führen als bei einem ungünstigen Verlauf der Phase des eigentlichen Traumaereignisses.6 Das heißt, individuelle Dispositionen und gesellschaftliche Faktoren sind maßgeblich für die Traumareaktion und die Bewältigung des Traumas. Zeugnisse von Traumatisierung, der Verletzung von Körper und Geist, der Verletzung von Gesellschaften, sind immer auch mündliche und schriftliche Quellen im historiografischen Sinn – eine Auseinandersetzung mit Trauma und Traumatisierung vonseiten der Geschichtsforschung scheint mir daher notwendig. Eine solche Beschäftigung berührt immer zumindest drei Ebenen, nach denen ich diesen Beitrag gliedern werde : Den individuellen Traumareaktionen im Zusammenhang mit sexualisierten Gewalterfahrungen während der nationalsozialistischen Verfolgung gehe ich im ersten Teil unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes, den die Opfer nach der Befreiung vorfanden, nach. Als empirische Grundlage werde ich dabei lebensgeschichtliche Interviews mit weiblichen Überlebenden der Konzentrationslager Ravensbrück und Mauthausen heranziehen.7 Die Bedeutung von Traumatisierung 4 Vera Folnegović-Šmalc, Psychiatrische Aspekte der Vergewaltigungen im Krieg gegen die Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina, in : Alexandra Stieglmayer (Hg.), Massenvergewaltigung. Krieg gegen Frauen, Freiburg 1993, 223–231 ; Hans Keilson, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, in : Gertrud Hardtmann (Hg.), Spuren der Verfolgung. Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder, Gerlingen 1992, 69–79 ; Becker, Erfindung. 5 Judith Kestenberg/Milton Kestenberg, Die Verfolgung von Kindern durch die Nazis, in : Hardtmann (Hg.), Spuren, 80–92. 6 Vgl. Keilson, Traumatisierung, 71–74, 79 ; Ulrike Jureit, Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, in : Forum Zeitgeschichte, Bd. 8, Hamburg 1999, 119f. 7 Zwischen 1998 und 2000 wurden im Rahmen des Forschungsprojektes „Dokumentation der Lebensgeschichten von österreichischen Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück“ von
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im Forschungsprozess, in der Erhebung wie Analyse, ist Gegenstand des zweiten Teils meiner Ausführungen, wobei ich mich auch auf indirekte Hinweise auf Traumatisierung, die sich in lebensgeschichtlichen Erzählungen finden lassen, beziehen werde. Zuletzt darf der Aspekt der sekundären Traumatisierung der Forschenden nicht übersehen werden. Im abschließenden dritten Teil beschäftige ich mich mit diesem bislang selten berücksichtigten Phänomen, von dem Interviewende und Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftler als Folge des Forschungsprozesses betroffen sein können.
Individuelle Traumareaktionen
Nationalsozialistische Verfolgung ist per se ein traumatisierendes Ereignis. Die allgegenwärtige Gewalt in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vergegenwärtigte jedem Häftling, dass die Absicht der Nazis die psychische und physische Auslöschung der Verfolgten war. Sexuelle Gewalt (wie Vergewaltigungen, Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisation und Zwangsprostitution) und sexualisierte Gewalt (wie etwa erzwungenes Nacktsein, das Entfernen aller Körperhaare, der Zwang zu demütigenden Posen, Spott über körperliche Beschaffenheit u. v. m.) waren Teil alltäglicher Erfahrungen im Konzentrationslager. Daraus folgt, dass sich die Opfer sexueller/sexualisierter Gewalt in Form eines einzelnen Traumaereignisses (etwa einer Zwangssterilisation oder der 25 Stockhiebe auf das nackte Gesäß) nach dem traumatisierenden Erlebnis weiterhin in einem traumatisierenden Umfeld befanden. Wir haben es hier also mit einer langen traumatisierenden Periode zu tun, die durch einzelne Ereignisse noch verstärkt wurde. Das Umfeld machte damit eine Bewältigung so gut wie immer unmöglich. Jean Améry vergleicht in seinem Essay über die Tortur die Wirkungen von Folter und Vergewaltigung. Er beschreibt darin, wie durch die Überschreitung der Körpergrenzen das Weltvertrauen zusammenbricht. Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr mit 42 Frauen biografisch-narrative Interviews geführt (vgl. Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr, Vom Leben und Überleben – Wege nach Ravensbrück. Das Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung. Bd. 1 : Dokumentation und Analyse. Bd. 2 : Lebensgeschichten, Wien 2001). Die Interviews mit Überlebenden des Konzentrationslagers Mauthausen sind im Rahmen des „Mauthausen Survivors Documentation Project“ (MSDP) in den Jahren 2002 und 2003 geführt worden. Insgesamt wurden ca. 860 Lebensgeschichten gesammelt, davon rund 90 von Frauen (vgl. Gerhard Botz/Brigitte Halbmayr/Helga Amesberger, „Zeitzeugen- und Zeitzeuginnenprojekt Mauthausen“ („Mauthausen Survivors Documentation Project“ – MSDP). Genese, Projektstruktur und erste Ergebnisse, in : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Jahrbuch 2004 (mit Schwerpunkt Mauthausen), Münster 2004, 30–67).
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„Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt : auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag aber bricht dieses Weltvertrauen zusammen. Der andere, gegen den ich physisch in der Welt bin und mit dem ich nur solange sein kann, wie er meine Hautoberfläche als Grenze nicht tangiert, zwingt mir mit dem Schlag seine Körperlichkeit auf. Er ist an mir und vernichtet mich damit. Es ist wie eine Vergewaltigung, ein Sexualakt ohne das Einverständnis des einen der beiden Partner.“8
Améry thematisiert hier, was in der feministischen Forschung als „Einschreiben von Gewalt in den Körper“ theoretisiert wurde.9 Dem Körper wird mit der Gewalttat von außen eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben, indem der Mensch dadurch auf seinen Körper reduziert wird. Aus seinen Erlebnissen und Reflexionen schließt Jean Améry : „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen.“10 Diese Auslöschung des Selbst wird in zahlreichen Interviews mit KZ-Überlebenden in vielen Facetten thematisiert ; als ein Beispiel zitiere ich hier aus einem Interview mit einer italienischen, wegen politischer Betätigung deportierten Überlebenden des KZ Mauthausen. Sie war zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung 18 Jahre alt : „Wir sind traumatisiert, denn : Vor diesen jungen Männern, die grinsten, die ihren Spott trieben, die uns um jeden Preis überall berühren wollten, das war eine schreckliche Erfahrung. […] Eh, ich sage Ihnen, es war sehr leidvoll, man fühlte sich eben nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein Ding, nicht einmal wie ein Tier, wie ein Ding, ein / jenseits jeglichen menschlichen Maßes.“11
Immer wieder bringen Frauen die sexuellen Gewalterfahrungen in Zusammenhang mit sozialem Tod, auch wenn sie dies nicht selbst so benennen. Unmittelbare Folgen solcher Übergriffe sind der Verlust des Weltvertrauens und des Selbstwertgefühls. Scham, Ekel und/oder Schuldgefühle bestimmen das Leben vieler Frauen nach Erfahrungen sexualisierter Gewalt.12 8 Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, in : ders., Werke, Bd. 2, Stuttgart 2002, 66. 9 Vgl. bspw. Kate Millet, Entmenschlicht. Versuch über die Folter, Hamburg 1993 ; Gabriele Mörth, Schrei nach innen. Vergewaltigung und das Leben danach, Wien 1994 ; Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt/Main 1992. 10 Améry, Schuld, 85. 11 Mauthausen Archiv (AMM), Oral History/Zeitzeugenprojekt 1 (OH/ZP1) OH/ZP1/005, Abs. 242– 244. 12 Vgl. das Editorial in : beiträge zur feministischen theorie und praxis 37 (1994), 8–11 ; Mörth, Schrei, 107.
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„Ich hatte ein Erlebnis, das mich traumatisiert hat : Eines Abends bin ich hinausgegangen, um/ um meinen körperlichen Bedürfnissen nachzukommen, und stoße mit einem Burschen zusammen, einem Tschechen. Und der, ungestüm, küsst mich auf den Mund. Ich war überzeugt davon, ein Kind zu bekommen, ich war verzweifelt. Wie weit hat doch meine Naivität gereicht ? Wenn ich es den Jugendlichen heute erzähle, wenn ich […] gehe / ich sage ihnen : ‚Kinder, heute seid ihr besser informiert, aber stellt euch vor, ich war 18 und wusste noch nicht …‘. Jedenfalls war es ein Trauma für mich. Ich gehe zu Teresa, und sie beruhigt mich und sagt : ‚Beruhig dich, mach dir keine Sorgen !‘. Zuerst war es Ekel, den ich empfand, und später die Sorge, dass etwas passiert sein könnte.“13
Dass diese Gefühle oft jahrzehntelang anhielten und weitgehende Konsequenzen für die individuelle Lebensgestaltung zeitigten, verdeutlichen ebenso viele Erzählungen. Eine österreichische jüdische Ravensbrück- und Auschwitz-Überlebende, die unmittelbar nach der Befreiung auf dem Nachhauseweg von mehreren Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wurde – sie war damals 26 Jahre alt –, antwortet auf die Frage der Interviewerin, warum sie niemals geheiratet hat : „Durch die Männer. Weil die Männer benehmen sich manche wie Tiere. Ich habe ja einen Dammriss gehabt. Soll niemand wissen. Mir hat das Grausen, mir hat es gegraust, ich habe zehn, zwölf Jahre keinen Mann sehen können. Das muss man verstehen. Wie komme ich da dazu ? Ich will meine Reinheit haben. Die haben ja andere auch – vergewaltigt. […] und dann habe ich mir gedacht, aber was, habe ich so viel verloren, habe ich das auch verloren. Mache mir nichts so draus. Bin sehr rein, jeden Tag frische Wäsche und alles […].“14
Diese Interviewpartnerin ist nicht die Einzige, die ihre Lebensweise mit ihren Gewalterfahrungen begründet. In zahlreichen Interviews mit Überlebenden des NSTerrors werden die gelebten und nicht gelebten Partnerinnen- und Partnerschaften, die Entscheidung für oder gegen Kinder, mit der Erfahrung sexualisierter Gewalt und der gesellschaftlichen Tabuisierung derselben begründet. Im obigen Interviewausschnitt verweist die Wendung „Soll niemand wissen“ auf die noch nach 60 Jahren bestehende Scham und die scheinbare Notwendigkeit, über derartige Vorfälle zu schweigen. Es ist zu vermuten, dass die wenigsten Frauen ihren Ehemännern und Kindern über erlittene sexualisierte Gewalt erzählten. Dadurch entsteht eine Kluft zwischen den Eheleuten und den Kindern ; die Frauen bleiben in ihren Trau-
13 AMM, OH/ZP1/005, Abs. 59. 14 Institut für Konfliktforschung, Ravensbrück Interviews (IKF-Rav.-Int.) 41_3, 49f.
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mata isoliert.15 Eine ungarische Überlebende des KZ Mauthausen, die in Auschwitz zwangssterilisiert wurde, reflektiert über ihre Beziehungen : „Es kann sein, wenn ich mich so zurückerinnere, dass ich deswegen erfolglose Beziehungen hatte, weil ich mit niemandem [betonend] über die Sterilisation sprach. Auch mein Mann wusste nichts davon und das sexuelle Zusammensein selbst, das/ das hat Angst in mir ausgelöst.“16 Gleichzeitig hat die Auswertung von 42 Interviews mit österreichischen Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück jedoch ergeben, dass die meisten Frauen trotz zahlreicher Erfahrungen sexualisierter Gewalt nach der Befreiung in Partnerinnen- und Partnerschaften lebten und viele von ihnen auch Kinder bekamen.17 Die Gründe hierfür waren ebenso vielfältig wie die Gründe, sich gegen eine Ehe und Kinder zu entscheiden. Dies bestätigt, dass individuelle Dispositionen (soziale und ethnische Herkunft, das Alter und der Familienstand zum Zeitpunkt der Verfolgung oder etwa der Wunsch nach gesellschaftlicher Konformität und danach, dem Genozid etwas entgegenzusetzen) ebenso bedeutsam sind wie die Gewalterfahrungen während der Verfolgung selbst. Dennoch zeigt die Analyse auch, dass die erlebte Gewalt während der Verfolgung (und insbesondere die Erfahrung sexueller Gewalt) nicht nur zu individuellen körperlichen und psychischen Verletzungen führte, sondern auch weitreichende und vielfältige Auswirkungen auf die individuelle Lebensweise, auf Partnerinnen- und Partnerschaften, Familiengründung und die folgenden Generationen hatte. Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, verfügen, ähnlich wie Gefolterte, über keine Worte, Art und Ausmaß der Schmerzen anderen mitzuteilen. Noch Jahre und Jahrzehnte später ist dieser Schmerz (oft) nicht mitteilbar. „Ich habe schon versucht, über der Sache [Vergewaltigung] zu stehen, aber es gelingt mir überhaupt nicht, rein theoretisch darüber zu sprechen, jedes Mal wühlt es in mir die Wunde auf und ganz einfach, es hat mir mein weiteres Leben fast verdorben, muss ich sagen, diese Begebenheit. Ja, nicht ganz, aber, natürlich hatte ich dann noch Freunde und Beziehungen, aber immer war die Angst, ja, jetzt habe ich das Kind mit dem, und der kriegt einen Vater, 15 Vgl. Gabriele Rosenthal, Sexuelle Gewalt in Kriegs- und Verfolgungszeiten : Biographische und transgenerationelle Spätfolgen bei Überlebenden der Shoah, ihren Kindern und EnkelInnen, in : Medica monidale e. V./Marlies W. Fröse/Ina Volpp-Teuscher (Hg.), Krieg, Geschlecht und Traumatisierung. Erfahrungen und Reflexionen in der Arbeit mit traumatisierten Frauen in Kriegs- und Krisengebieten, Frankfurt/Main 1999, 25–56, hier 28. 16 AMM OH/ZP1/058. 17 Vgl. Helga Amesberger/Katrin Auer/Brigitte Halbmayr, Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern, Wien 2004, 301–325.
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der nicht gut ist zu ihm und so. Also dadurch war die Beziehung nie so, wie man sich das vorstellt, ich wollte nie heiraten aus dem Grund, obwohl ich auch Gelegenheit hatte, ich war ja nicht so übel (lacht) als junge Frau.“18
Mehr als 50 Jahre nach der Vergewaltigung kann diese Interviewpartnerin, ehemalige kommunistische Widerstandskämpferin und Ravensbrück-Überlebende, die Gewalttat noch immer nicht benennen (wie viele andere auch). Sie verwendet dafür Wörter wie „Sache“, sie benennt sie als „es“ oder „dieses furchtbare Erlebnis“. Sie hat noch immer Schwierigkeiten, darüber zu reden, es ist nach wie vor zu aufwühlend, wie sie selbst sagt. Im ersten Interview erzählte sie über die Vergewaltigung nur off records und weil die Interviewerin eine Frau war. Im dritten Interview durfte das Aufnahmegerät eingeschaltet bleiben. Es kann angenommen werden, dass diese Scheu, die Gewalttat zu benennen und auf Band festzuhalten, nicht nur auf die gesellschaftliche Tabuisierung von sexueller Gewalt, sondern auch auf die Reaktionen des Umfelds und gesellschaftliche Diskurse, die den Frauen oft zumindest Mitschuld an der Gewalt zuwiesen, zurückzuführen ist. Die eben zitierte Interviewpartnerin führt weiters aus, dass sie und eine ihrer Freundinnen, die zum gleichen Zeitpunkt vergewaltigt wurde, den Kameradinnen von der Gewalttat erzählten. Gemeinsam beschlossen sie – um der kommunistischen Idee nicht zu schaden –, darüber Stillschweigen zu bewahren. Einige Kameradinnen unterstellten den beiden Frauen, durch ihr Verhalten die Vergewaltigung provoziert zu haben. Sowohl das vereinbarte Stillschweigen wie die Schuldzuweisung könnten das Trauma verstärkt haben : „Denn wie kann ein Mensch so was sagen, ich hätte mich angeboten. Sie hat keine Ahnung, wie tief wir verletzt wurden, erst einmal also als Idealistinnen, und zweitens selbstverständlich als Frauen auch, und ich habe ein gestörtes Verhältnis zu den Männern gehabt, ich habe nicht lieben können, ich habe/ es war schrecklich für mich.“19 Die Unterstellung, selbst an der Vergewaltigung Schuld zu sein, dürfte den Druck, zu schweigen, verstärkt haben. Wir können hier davon sprechen, dass das Unverständnis der Kameradin eine Retraumatisierung ausgelöst hat. Die Abwehr und die Nichtanerkennung der Erfahrung sexualisierter Gewalt durch die Gesellschaft – und hiervon müssen wir für die österreichische Gesellschaft bis in die 1990er-Jahre ausgehen20 – führte zu einer Verfestigung der Traumatisierung, die sich in den Interviews mit Überlebenden bemerkbar macht. 18 IKF, IKF-Rav-Int. 35_1, 53. 19 IKF, IKF-Rav-Int. 35_1, 51 20 Vergewaltigung und sexuelle Gewalt wurden erst im Zuge der Frauenbewegung ein Thema. Mit der Errichtung von Notrufen, Gewaltschutzzentren und Beratungseinrichtungen sowie mit begleitenden gesetzlichen Maßnahmen erfolgte auch ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel.
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Die Berücksichtigung einer eventuellen Traumatisierung im Forschungsprozess
In der historisch-forscherischen Beschäftigung mit Verfolgten des Nationalsozialismus ist eine Begegnung mit Menschen, die mehr oder weniger stark traumatisiert wurden, zu erwarten. Im Erstkontakt mit diesen Personen ist noch nicht abschätzbar bzw. erkennbar, wie stark die Traumatisierung noch gegenwärtig ist. Dieser Umstand ist im Zugang zu den Interviewpartnerinnen und ‑partnern, in der Wahl der Forschungsmethode und der Form des Interviews wie auch bei der Interpretation der gewonnenen Daten zu berücksichtigen.21 Meines Erachtens empfiehlt es sich, insbesondere wenn man eine Interviewpartnerin oder einen Interviewpartner noch nicht kennt, ein lebensgeschichtliches Interview zu führen. Dies gibt den Interviewten die Möglichkeit der freien Gestaltung und zwängt sie nicht in ein vorgegebenes Fragekorsett. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hingegen erhalten Einsicht in die als wesentlich erachteten – und daher erzählten – Aspekte eines Lebens. Es entsteht ein Gesamtbild mit all seinen Lücken, Auslassungen und Zurechtlegungen. Durch diese „indirekten“ Informationen können erzählte Fakten schließlich im Kontext analysiert und bewertet werden. Die Traumatisierung kann an verschiedenen Aspekten in einem Interview festgemacht werden, ohne dass sie direkt als solche benannt werden muss. Zur Geheimhaltung von sexualisierten Gewalterfahrungen kommen verschiedene Strategien – ob bewusst oder unbewusst – zum Einsatz. Häufig werden solche Gewalterfahrungen anderen Mithäftlingen zugeschrieben ; die Interviewpartnerinnen seien selbst höchstens Ohren- oder Augenzeuginnen gewesen. Eine hermeneutische Feinanalyse bestätigt dann oft die Annahme, dass die Erzählerin jedoch selbst das Opfer war. Die gesellschaftliche Tabuisierung, die auch im wissenschaftlichen Kontext erfolgt, bedingt ebenfalls, dass Frauen – wenn überhaupt – nur in Andeutungen über derartige Erfahrungen sprechen und die Lücken in ihren Geschichten mit „Notlügen“ auffüllen müssen. Dadurch werden sie mit ihren Traumata weiterhin alleingelassen. „Für die Überlebenden sexueller Gewalt während der Shoah hat die sekundäre Traumatisierung oder ‚sekundäre Viktimisierung‘ ein besonderes Gewicht : Über den Vorwurf hinaus, ‚als passive Lämmer zur Schlachtbank‘ gegangen zu sein, trifft sie – und besonders die Frauen – das zusätzliche Stigma ‚entehrt‘ und ‚geschändet‘ worden zu sein.“22 Das Schweigen 21 Vgl. hierzu Ludwig Boltzmann Institut für historische Sozialwissenschaft/Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes/Institut für Konfliktforschung, „Manual for Interviewers“ (unveröffentlichtes Manuskript, Wien 2002). In diesem Manual wird insbesondere auf die Aspekte des Zugangs, der Forschungsmethode und der Interviewweise eingegangen. 22 Rosenthal, Gewalt, 28.
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beeinträchtigt ebenso die psychosomatische Gesundheit der Frauen – sie können über einen der leidvollsten Teile ihrer Lebensgeschichte nicht sprechen, obwohl er auch die Gegenwart noch bestimmt. Und so bleiben die Interviews mit diesen Frauen bruchstückhaft, sie sind durch Andeutungen und wiederkehrende Gesprächsabbrüche bei bestimmten Themen sowie durch eine sehr sprunghafte chronologische Erzählweise gekennzeichnet.23 Ungenaue Erzählungen dienen in erster Linie dazu, sich nicht durch Detailkenntnis zu verraten. Darüber hinaus haben sie auch eine Schutzfunktion, wird doch dadurch vermieden, in die Geschichte hineinzukippen, das Erlebte nochmals nachzuerleben. Weitere Strategien der Geheimhaltung sind, vom Thema abzuschweifen oder dieses zu wechseln, Fragen nicht verstehen zu können/wollen oder falsch zu verstehen. Ein Hinweis auf die Erfahrung sexualisierter Gewalt ist zudem, wenn Sexualität in Zusammenhang mit Hunger und Essen thematisiert wird.24 In der Analyse von Interviews ist es wichtig, diese Auslassungen, Brüche, Sprünge und Deckgeschichten als verschleierte Gewalterfahrung zu erkennen und zu benennen. In all diesen Interviews mit Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager ist eine Ambivalenz in der Haltung der Interviewten zu spüren : Sie möchten einerseits schweigen und andererseits reden. Aus diesem Grund wird die Rolle der Interviewerinnen und Interviewer besonders virulent. Wie eingangs schon erwähnt, besteht hier durchaus die Gefahr einer Retraumatisierung oder sekundären Traumatisierung25 durch die Forschung. Aus dieser Angst heraus vermeiden die Interviewenden häufig, sexuelle Gewalt zu thematisieren. Sie gehen 23 Vgl. hierzu die ausführliche Analyse des Interviews mit Margit M. in Amesberger/Auer/Halbmayr, Gewalt, 310–314 ; vgl. auch Rosenthal, Gewalt, 28f. 24 Vgl. Rosenthal, Gewalt, 31. 25 Unter Retraumatisierung wird die Wiederholung bzw. das erneute Erleben eines primären Trauma ereignisses verstanden, die zu einer kurz- oder langfristigen emotionalen Belastung führen. Vgl. Sepp Graessner, Retraumatisierung – Überlegungen zu einem klinisch benutzten Begriff, http ://www.trauma politik.de/index.php ?view=articlecatid=34 :essays&Itemid=18, (04.10.2010). Von einer sekundären Traumatisierung spricht man, wenn Symptome einer Traumatisierung auftreten, auch ohne dass direkte sensorische Eindrücke des primären Traumaereignisses erlebt/gespürt werden. Forscherinnen und Forscher oder Therapeutinnen und Therapeuten nehmen bspw. selber Gerüche, Geräusche oder Bilder des erzählten Traumas nicht wahr, verarbeiten aber die Information auf traumatisierende Weise. Vgl. Judith Daniels, Sekundäre Traumatisierung – eine Interviewstudie zu berufsbedingten Belastungen von TherapeutInnen, http ://www.sekundaertraumatisierung.de/uploads/assets/Artikel_Psychothe rapeut.de, (04.10.2010). Entsprechend dieser Definitionen müsste in Zusammenhang mit Überlebenden eher von Retraumatisierung gesprochen werden und bei Personen, die das Trauma nicht selbst erlebt haben, von einer sekundären Traumatisierung. Die Soziologin und Psychotherapeutin Gabriele Rosenthal spricht jedoch auch in Zusammenhang mit Überlebenden von sekundärer Traumatisierung, und zwar dann, wenn die Handlungsweise der Interviewenden Symptome der Traumatisierung (z. B. Sprachlosigkeit) verfestigt (siehe Zitat von Rosenthal im Fließtext).
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damit zum einen auf möglicherweise vorliegende Erzählangebote der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner nicht ein, zum anderen tragen sie so auch zu einer neuerlichen Tabuisierung bei. Ich schließe mich Gabriele Rosenthal an, die sich dezidiert gegen die häufig anzutreffende Auffassung wendet, dass es in solchen Fällen genüge, an der Oberfläche zu bleiben. „Beziehen sich die erlebten Traumata auf sexuelle Gewalterfahrungen, dann setzt diese Tabuisierung noch viel stärker ein. Oft wird dabei die eigene Abwehr einer Konfrontation mit den traumatischen Erlebnissen auf die Überlebenden projiziert : Man glaubt, sie durch Vermeidung von Fragen vor ihren belastenden Erinnerungen oder gar dem psychischen Zusammenbruch zu schützen. Doch wenn wir uns als ZuhörerInnen im Gespräch mit traumatisierten Frauen und Männern nicht den schmerzhaften Details stellen, vielmehr nur in einer abstrakten, allgemeinen Weise darüber sprechen oder gar das Gespräch auf weniger belastende Themen lenken, dann tragen wir zur weiteren Verfestigung oder Institutionalisierung der Sprachlosigkeit bei. Damit haben wir Anteil an einer sekundären Traumatisierung der Überlebenden, die auf der Interaktion mit Überlebenden beruht und zur ersten Traumatisierung hinzukommt.“26
Es ist vor allem Aufgabe der Forscherinnen und Forscher, neuerliche Traumatisierungen durch die historisch-forscherische Begegnung zu unterbinden. Die Interviewweise kann erheblich dazu beitragen, solche sekundären Traumatisierungen zu verhindern, indem den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern durch einfühlsames Nachfragen ermöglicht wird, tabuisierte Erinnerungen zu verbalisieren. Überlebende und deren Nachkommen brauchen Unterstützung bei der Thematisierung ihrer Verfolgungsvergangenheit – eine Hilfe, die auch von Sozialwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftlern kommen kann. Sprechen kann heilsam sein, während auferlegtes Schweigen traumatisierend wirkt.
Sekundäre Traumatisierung der Forschenden
Nicht nur unsere Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sind durch die Forschungstätigkeit der Gefahr einer sekundären Traumatisierung ausgesetzt. Dass Historikerinnen und Historiker sowie Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die sich mit der nationalsozialistischen Verfolgung und der Shoah beschäftigen (egal ob in Form von Akten, schriftlichen Zeugnissen oder Interviews), selbst 26 Rosenthal, Gewalt, 25.
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der Gefahr einer sekundären Traumatisierung ausgesetzt sind, wird meist zu wenig, wenn überhaupt, beachtet. Ich möchte dies anhand persönlicher Erfahrungen ausführen :27 Als ich 1998 gemeinsam mit meiner Kollegin Brigitte Halbmayr begann, lebensgeschichtliche Interviews mit Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück zu führen28, arbeiteten wir bereits drei Jahre ehrenamtlich für die Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück. Die Lebensgeschichten waren uns zum Teil bekannt, wir wussten um die Stärken der Interviewpartnerinnen ebenso wie um die Schwierigkeiten, die mit einem In-Erinnerung-Rufen des erfahrenen Leids zusammenhängen, und ahnten ihre Verletzlichkeiten. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir selbst bereits erfahren, dass es durchaus belastend sein kann, solchen Erzählungen zu folgen. Vor diesem Hintergrund war es naheliegend – wenn auch im wissenschaftlichen/historischen Bereich ein Novum –, sich für das lebensgeschichtliche Forschungsprojekt eine psychologische Begleitung zu suchen. Diese Unterstützung fanden wir bei ESRA bzw. der Psychotherapeutin Traude Tauber – auch für ESRA war die Supervision von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Neuland. Die Unterstützung der Supervisorin suchten wir ebenso beim Folgeprojekt „Sexualisierte Gewalt während der NS-Verfolgung“. In erster Linie wollten wir damit verhindern, dass durch unsere Tätigkeit die Frauen traumatisiert würden. Es war also auch eine Auseinandersetzung mit unserer Angst, dies zu tun. Wie gestaltete sich nun die Supervision ? Man würde erwarten, dass die Lebensgeschichten der Frauen, die wir in diesen fünf Jahren interviewten, zentrales Thema der Supervision gewesen seien. Dem war aber nicht so – was uns selbst überraschte. In den ersten Supervisionsstunden setzten wir uns in erster Linie mit unserer Angst auseinander, unseren Interviewpartnerinnen durch die Interviews neuerliches Leid zuzufügen und Retraumatisierungen oder sekundäre Traumatisierungen zu verursachen. Mit ihrem umfangreichen Fachwissen vermittelte uns Traude Tauber gleichzeitig Fragetechniken, die helfen, derartigen Folgen von Interviews vorzubeugen. Dabei griff sie immer auf unsere bisherigen Interviewerfahrungen und ‑techniken zurück und ergänzte diese um eigene Erfahrungen und Einsichten. Mit diesem Vorgehen bestärkte sie uns nicht nur in unserer Arbeitsweise, sie bereicherte damit auch unser Wissen um Traumatisierung – ein Wissen, das speziell im Hinblick für die Interview führung, aber auch für die Analyse der Interviews von großer Bedeutung war und ist. 27 Vgl. Helga Amesberger u. a., Ein-Blick von Außen. Supervision für Wissenschafterinnen, in : ESRA – Zentrum für psychosoziale, sozialtherapeutische und soziokulturelle Integration, Ambulanz für Spätfolgen und Erkrankungen des Holocaust- und Migrations-Syndroms (Hg.), 10 Jahre ESRA, Wien 2004, 132–135. 28 Vgl. Amesberger/Halbmayr, Leben.
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Wissenschaft bzw. wissenschaftliches Arbeiten bedeutet nicht nur objektive Aus einandersetzung mit Sachverhalten. An wissenschaftliche Projekte und damit auch an die ausführenden Personen sind zum einen vielfache Erwartungen von verschiedensten Akteurinnen und Akteuren geknüpft, zum anderen erschweren oftmals strukturelle Bedingungen das Arbeiten. Auch diesen Themen bot die Supervision Raum. Die sozialhistorische Arbeit ist oftmals gerade bei Zeitzeugeninterviews eine Gratwanderung zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und psychologischer „Betreuung“ bzw. Konfrontation mit „Betreuungswünschen“. Als Sozialwissenschaftlerinnen mit nur rudimentären psychologischen Kenntnissen fühlten wir uns dadurch (vielfach) überfordert. Die Supervisorin lenkte jedoch unsere Aufmerksamkeit auch immer wieder auf den Aspekt, dass wir Forscherinnen und Forscher selbst ebenso der Gefahr der sekundären Traumatisierung ausgesetzt sind. Sie wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Lebensgeschichten unserer Interviewpartnerinnen ebenso unser Leben maßgeblich beeinflussen. Durch ihre wiederholten Aufforderungen, uns ausgleichende Aktivitäten zu suchen, über das Gehörte zu reden oder auch von Träumen zu erzählen, bestärkte und ermöglichte uns die Supervisorin, unsere eigenen Empfindungen und Belastungen zu thematisieren und ernst zu nehmen. Als wir im Jahr 2005 mit dem Forschungsprojekt „Namentliche Erfassung von österreichischen Frauen und Männern im Konzentrationslager Ravensbrück“29 begannen, waren wir der Meinung, dass die primär „bürokratische“ Tätigkeit der Namensrecherche in den diversen Archiven weitaus weniger belastend sei als das Anhören von Verfolgungsgeschichten – es wurde daher auch keine Supervision eingeplant. Wir sollten uns irren. Spätestens als wir wochenlang Daten ergänzten, Name um Name, Haftzeit um Haftzeit, Sterbedatum um Sterbedatum in die Datenbank eintrugen, realisierten wir den Irrtum. Das persönliche, individuelle und doch so viele betreffende individuelle Leid, die unsägliche Gewalt, die Frauen, Männern, Kindern, Alten und Jungen angetan wurde, ließ bzw. lässt sich nicht mit kühlen Zahlen zudecken. Bald stellten sich wieder Niedergeschlagenheit, Trauer und schlechte Träume ein. Nicht zurückdrängen ließen sich auch Assoziationen, die auf Ähnlichkeiten zwischen der eigenen und der Tätigkeit der Nazis anspielten : am Schreibtisch sitzend, akribisch Daten suchend und erfassend – zwar mit dem wichtigen und entscheidenden, aber dennoch nicht wirklich entlastenden Unterschied, nicht Menschen für die Vernichtung zu „sammeln“, sondern ihnen ein Stück Leben zurückzugeben. Die 29 Das Forschungsprojekt wird seit 2005 am Institut für Konfliktforschung von Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr und Kerstin Lercher durchgeführt. Bislang konnten gut 2700 Frauen und Männer, deren Verfolgungsgeschichte sowie biografische Hintergründe eruiert werden.
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langen Schatten des Nationalsozialismus (und Behauptungen der Revisionistinnen und Revisionisten) „zwingen“ dazu, die Arbeit der Nazis bis zu einem gewissen Grad zu wiederholen. Damit ist ein Teil der Belastung durch diese Tätigkeit erklärt. Dazu kommt, dass abstrakte Zahlen „Gesichter“ und Geschichten bekommen, das intellektuelle Wissen um die Verfolgung und den Massenmord damit auch emotional besetzt wird. In den nun doch genommenen Supervisionsstunden realisierten wir, dass wir die von der nationalsozialistischen Verfolgung Betroffenen durch die Beschränkung auf Akten/Dokumente fast ausschließlich als Opfer imaginierten, während im direkten Kontakt mit Überlebenden neben ihrer Verletztheit auch ihre Stärken, ihr Humor, die positiven Aspekte ihres Lebens sicht- und spürbar sind. Die psychologische Begleitung während des Forschungsprozesses trug meines Erachtens dazu bei, aus diesem als Person unversehrt herauszugehen. Sie ermöglichte eine Balance von Empathie und Distanz und stärkte nicht zuletzt die Reflexionsfähigkeit in Bezug auf das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse.
Schluss
Abschließend möchte ich nochmals den in der Einleitung erwähnten Aspekt der Heilung aufgreifen. Dem Ansatz von David Becker folgend bedeutet Heilung vom Trauma auf individueller Ebene für die Traumatisierten „die Fähigkeit, die furchtbare Vergangenheit in ihr Dasein so integrieren“ und eine andere Zukunft aufbauen zu können, in der die Traumatisierten auch nicht mehr Teilaspekten des Traumas ausgesetzt sind. Inwiefern dies unseren Interviewpartnerinnen vollständig gelungen ist, kann nicht gesagt werden. Tatsache ist, dass sie ihr Leben dennoch meisterten, dass sie Wege fanden, mit dem Erlittenen umzugehen. Sie hatten sich – im Gegensatz zu ihrer Umwelt – damit auseinanderzusetzen, denn, wie Jean Améry, selbst Opfer von Folter, schreibt : „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt, auch dann wenn keine klinisch objektiven Spuren nachzuweisen sind.“30 In Österreich begann eine breitere politische wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Trauma des Holocaust und der Beteiligung vieler Österreicherinnen und Österreicher an der industriellen Massenvernichtung erst in den späten 1980er-Jahren. Die österreichische Gesellschaft hat damit den Überlebenden von nationalsozialistischem Terror und Vernichtung vielfach die notwendige Anerkennung des an den Verfolgten begangenen Unrechts über Jahrzehnte hinweg verwehrt und damit auch Heilung unmöglich gemacht. Sie hat sich damit lange Zeit aber ebenso 30 Améry, Schuld, 75.
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Helga Amesberger
selbst einer Gesundung vom Trauma beraubt. „Für die Gesellschaft bedeutet Heilung die Rekonstruktion der Erinnerung, d. h. dass es möglich ist, die Vergangenheit wirklich Vergangenheit werden zu lassen. Heilung beinhaltet das Wiederherstellen von Gesetzen, Moral und Sicherheit. […] Heilung heißt immer auch Integration.“31 Die Geschichts- und Sozialwissenschaften können hierzu ihren Beitrag leisten, indem sie sich dieser Thematik annehmen.
31 Becker, Erfindung, 123.
Drehli Robnik
Wendungen und Grenzen der Rede von Trauma und Nachträglichkeit Filmtheoretische Bemerkungen zur Geschichtsästhetik (am Beispiel von Tarantinos Inglourious Basterds)
1. Begriffe : Trauma, ethische Wende, Nachträglichkeit
Ich setze an bei Formen der Kritik an der Hegemonie von Trauma als „kulturelles Deutungsmuster“, wie sie zeitgleich mit der Blüte des Traumadiskurses vor zehn Jahren formuliert wurden. Da ist etwa der Einwand, den die Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel gegen die „Positivierung“ des Konzepts Trauma als Krise der Erzählbarkeit im Umgang mit Vergangenheit vorgebracht hat : Weigels Kritik bezieht sich zum einen darauf, dass das Ersetzen von Geschichte durch ein Modell der Generationenfolge im Zeichen von Traumatisierung – was einer Entsorgung von Geschichtlichkeit selbst gleichkommt – noch als Symptom traumatisch nachwirkender Geschichte zu verstehen ist.1 Zum anderen moniert sie, dass die von der Dekonstruktivistin Cathy Caruth vorgeschlagene tendenzielle Gleichsetzung von Geschichte mit traumatischer Nicht-Repräsentierbarkeit schlechthin auf eine „Universalisierung von Trauma als anthropologische Konstante“ hinausläuft und die Ausblendung der Momente der Störung und des verzögerten Erkennens im Bezug zum traumatischen Ereignis zur Folge hat.2 Wir könnten diese Spur weiterverfolgen zur Kritik einer Diskursökonomie, die Trauma als das regenerierende, Kontingenz verdeckende „Andere“ zur Einheit von „kulturellem Gedächtnis“ auffasst, wie Michael Staudigl dies formuliert.3 Eine solche ideologiekritische Perspektive auf den Traumabegriff möchte ich, dem Thema „Terror“ entsprechend, wie folgt zuspitzen : In der Nähe der von Sigrid Weigel durchgeführten Quasi-„Dekonstruktion der Dekonstruktion“ (mit der eine Kritik einhergeht 1 Sigrid Weigel, Télescopage im Unbewussten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur, in : Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln/Weimar/Wien 1999, 51–76, hier 67, 76. 2 Ebd., 56. 3 Michael Staudigl, Das Trauma und die Logik des kulturellen Apparates, in : Stefan Nowotny/Michael Staudigl (Hg.), Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien, Wien 2003, 77–96, hier 80, 89.
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Drehli Robnik
am Gestus, Trauma ins Positiv-Anthropologische zu wenden) weist die Literaturwissenschaftlerin Birgit Erdle darauf hin, wie die entgrenzte Rede vom Trauma in der public history des Holocaust einer Metaphorisierung und Universalisierung von Opfer-Erfahrung entgegenkommt.4 Die Rede vom Trauma scheint ein entlastendes Versprechen von Allgemeingültigkeit zu enthalten. In eine ähnliche Richtung geht die Kritik der Historikerin Pamela Ballinger an der Herausbildung einer medialen „culture of survivors“, in der die Beanspruchung des Überlebendenstatus einer beliebigen Bandbreite sozialer Subjektpositionen – wohlgemerkt auch von solchen, deren Erfahrungen nicht von Marginalisierung oder Verfolgung geprägt sind – eine Art Nobilitierung einräume, eben dort, wo es um Behauptung (und Perpetuierung) von geschichtskultureller Deutungsmacht geht.5 Eine solche Kritik an der Funktionalisierung der Chiffre Trauma trifft den Punkt. Erinnert sei daran, wie sehr die deutschsprachige Medialisierung des Nationalsozialismus das Traumatische – das an Grenzen der Repräsentierbarkeit Gehende – des Holocaust als Referenz für eine Metaphorisierung einsetzt, wodurch alle historischen AkteurInnen als Opfer von Geschichte und deren blinder Gewalt erscheinen : Das reicht von Guido Knopps Fernseh-Dokumentationen zum Zweiten Weltkrieg,6 in denen Wehrmachtsveteranen nach wie vor Sinnträger der Geschichte sein können, nun allerdings kraft des ihnen eingeräumten Status als traumatisierte Opfer, bis zum KinoBlockbuster Der Untergang (BRD 2004 ; Oliver Hirschbiegel), der „die Deutschen“ als Hitlers kategoriale Opfer zu verstehen gibt und den Kindermord der Magda Goebbels als Zentralverbrechen des Nationalsozialismus7 inszeniert. Die letztgenannte Darstellung geschieht in offenem Anklang an Ikonografien und Erzählfiguren der HolocaustMedialisierung, wie sie uns auch im Ausmalen deutschen Leidens (Leid der im Jumbojet zusammengepferchten Geiseln als re-enactment jüdischer Opfererfahrung) in der TV-Großproduktion Mogadischu (BRD 2008 ; Roland Suso Richter) begegnen. 4 Birgit R. Erdle, Die Verführung der Parallelen. Zu Übertragungsverhältnissen zwischen Ereignis, Ort und Zitat, in : Bronfen/Erdle/Weigel (Hg.), Trauma, 27–50.
5 Pamela Ballinger, The Culture of Survivors. Post-Traumatic Stress Disorder and Traumatic Memory, in : History & Memory 10 (1) (1998), 99–132.
6 Gemeint sind die groß budgetierten, medieneventförmig in Umlauf gebrachten Dokumentationen der vom Historiker und Fernseh-Promi Guido Knopp geleiteten Redaktion Zeitgeschichte des ZDF, die vor allem in den „Nullerjahren“ überwiegend den Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg thematisierten und deren Titel notorischerweise die aufmerksamkeitsökonomisch ergiebige Trademark „Hitler“ enthalten. Vgl. dazu Drehli Robnik, Geschichtsästhetik und Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im Film 1948–2008, Wien 2009, Kapitel 4. 7 Vgl. Drehli Robnik, Kino, Krieg, Gedächtnis. Affekt-Ästhetik, Nachträglichkeit und Geschichtspolitik im deutschen und amerikanischen Gegenwartskino, phil. Diss., Universiteit van Amsterdam, Amsterdam 2007, Kapitel 6.
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Der Filmtheoretiker Thomas Elsaesser votiert unter dem Titel Terror und Trauma dafür, diese beiden auch für diesen Band entscheidenden konzeptuellen „siamesischen Zwillinge“ zu trennen – weil Terror und Trauma nämlich sonst in der politisch-medialen Öffentlichkeit in einer allzu geschlossenen, sauber komplementären Beziehung in Erscheinung treten würden. Terror und Trauma, Hand in Hand ein Ganzes bildend, würde nicht zuletzt heißen : Eine Handlung lässt sich umso leichter als terroristisch verurteilen, je mehr ihr (besonders unter dem Namen „Trauma“) eine Position des bloßen Erleidens und „reiner“ Opferschaft komplementär gegenübergestellt wird (und vice versa). Anders gesagt, wirft Elsaesser die Frage auf, welche Konstellationen den Unterschied machen – etwa zwischen dem Aktivismus des dynamischen Zupackens (etwa gegen „Reformstau“) einerseits und anderseits jener Art von obszönem Exzesshandeln, das Terror verbreitet. Darüber hinaus gibt er zu verstehen, dass die Rede vom Trauma vielleicht eine ganz wesentliche Verlusterfahrung impliziert – nämlich den Verlust der Vorstellung, zielgerichtetes öffentliches Handeln könnte zur Verbesserung gesellschaftlicher Lagen (womöglich unter dem Aspekt einer wie auch immer unbenannten, virtuell oder „im Kommen“ begriffenen Gerechtigkeit) beitragen.8 In einem ähnlichen Sinn wie Elsaesser hat der politische Philosoph und (Film-) Ästhetiker Jacques Rancière jüngst die soziale und kulturelle Durchschlagskraft der Reden von Terror und Trauma als Facetten dessen angeführt, was er als „ethische Wende“ in der Politik wie auch in der Kunst kritisiert. Die Wende zum Ethischen in öffentlichen Sinnbildungen meint eine nicht zu beendende Verpflichtung gegenüber Imperativen der Sicherheit im Kampf gegen den Terror wie auch ein unaufhebbares Verschuldet-Sein von Denken und Handeln gegenüber einem als ursprünglich gesetzten Trauma – dem Holocaust, unpolitisch als abgründiger Zeitenbruch gesehen, oder den stalinistischen Gulags als Menetekel jeglicher Hybris eines Projekts politischer Ermächtigung. Dabei verunmöglicht die Wende zum Ethischen, in der Einrichtung von Gemeinschaften Fälle eines Unrechts politisch zu adressieren.9 Was heißt „politisch“ in diesem Kontext ? Rancières politische Theorie – darin dem „radikaldemokratischen“ Diskurs vergleichbar – setzt dem Ethischen, das auf der Fundiertheit, auf der vorausgesetzten Begründetheit sozialer Ordnungen und gemeinschaftlicher Positionierungen beharrt, die Politik entgegen. Politik ist darin verstanden als Akt von Subjektbildungen in Situationen des „Unvernehmens“, und letzterer Schlüssel8 Vgl. Thomas Elsaesser, Terror und Trauma : Siamesische Zwillinge im politischen Diskurs. in : ders., Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin 2007, 7–47.
9 Vgl. Jacques Rancière, Die ethische Wende der Ästhetik und der Politik, in : ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, 125–51 ; zur Filmästhetik und Ethikkritik bei Rancière vgl. Drehli Robnik, Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière, Wien/Berlin 2010.
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begriff Rancières (in etwa synonym mit seiner Verwendung von „Dissens“) wiederum meint, dass in gemeinschaftlichen Streitfällen immer auch die Bedingungen und Teilnahmebeschränkungen ebendieser Streitfälle mit artikuliert, regelrecht in Szene gesetzt sind. Dadurch wird die, wie Rancière sagt, „polizeiliche“ Aufteilung sozialer Funktionen und Aufenthaltsorte gestört. Kurz, Politik besteht in dissensualen, „riskanten“, gerade nicht durch „gute Gründe“ im Register sozialer Identitäten abgesicherten Subjektivierungen, in arrogierten Ansprüchen und Wortergreifungen, die mit der ethischen Logik fundierender Voraussetzungen brechen. Schließlich sei noch „Retroaktivität“ bzw. „Nachträglichkeit“ als die dem Trauma inhärente Zeitlogik angesprochen. Elsaesser hat in film- und medienkulturtheoretischen Schriften angeboten, das Konzept Trauma als ein Drittes zu verstehen – als eine (interpretierende) Referenz auf Vergangenheit, die zwischen dem „Fundamentalismus der ‚authentischen Erfahrung‘“ einerseits und der „(zynischen) Tyrannei des Performativen“ andererseits situiert ist.10 Was heißt das ? Trauma bedeutet zum einen, dass die Kontinuität zwischen vergangenen Ereignissen und späterer Sinnzuschreibung, sei es in traditionalen oder kausalen Erzählungen, zerreißt ; es bedeutet aber auch, und das ist für uns heute dringlicher, dass die Performanz von Vergangenheit nach Maßgabe jeweiliger Gegenwartsinteressen ihre Grenzen hat bzw. dass es gilt, ein Geschichtliches festzuhalten, das dem postmodernistischen Gestus retroaktiver Neuschreibung widersteht – im Sinn Nietzsches : „sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt“11. In einer analogen Geste, mit (noch stärker als bei Elsaesser) psychoanalytischer Begrifflichkeit, setzt Jean Laplanche die Zeitlogik der „Nachträglichkeit“ zwischen einem Determinismus faktischer Vergangenheit und einem hermeneutisch-kreativen Entwerfen von Herkünften aus dem Rahmen der Gegenwart : Nachträglichkeit ist mehr als bloße Verzögerung in einem Kausalnexus und zugleich etwas, das innerhalb der retroaktiven Umarbeitung von Vergangenheit insistiert ; Laplanche spricht von einer zu entziffernden Botschaft des Anderen, die in der Vergangenheit niedergelegt ist, im bisherigen Vergangenheitsbezug jedoch nicht vernommen werden konnte und deren verzögertes „Ankommen“ mit jener Irritation einhergeht, auf die auch Weigels Traumaverständnis abzielt.12 10 Thomas Elsaesser, Traumatheorie in den Geisteswissenschaften, oder : die Postmoderne als Trauerarbeit, in : ders., Terror, 191–207, hier 206f.
11 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück : Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in : ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1999, 265.
12 Jean Laplanche, Interpretation between Determinism and Hermeneutics : a Restatement of the Problem, sowie : Notes on Afterwardsness, in : ders., Notes on Otherness, New York/London 1999, 138–165, 260–265.
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2. Begriffsskizze : Geschichtsästhetik – mit Blick auf Tarantinos Widerstands-Bild
In die Adressierungsweise, durch welche Quentin Tarantinos Filme dem Massenkonsum Sinnangebote machen, ist das Decodieren von Zitaten quasi routinemäßig eingebaut (d. h., Fanverhalten ist bei diesen Filmen eine bereits als Normalmodus der Rezeption anvisierte Haltung). Also liegt es nahe, sich die Film-Referenzen zu jener Motivationsrede zu vergegenwärtigen, die der von Brad Pitt gespielte Anführer der vorwiegend jüdisch-amerikanischen Guerillatruppe in Inglourious Basterds (USA/ BRD 2009) an sein Team hält. Wichtig daran ist, wie hier vergleichbare Szenen, eine Motivationsrede bzw. ein Antreten eines Teams für eine Spezialmission, aus zwei stilbildenden US-Kriegsfilm-Klassikern herbeizitiert werden – nämlich um deutlich werden zu lassen, was in der Handlungsmotivation der „Basterds“-Truppe entfernt wurde. Das ist zum einen die patriotische Beschwörung einer amerikanischen Siegeskultur, wie sie im divenhaften, transgressiven Habitus und in den obszönen Kraftausdrücken des Generals Patton in der nach ihm benannten Spielfilm-Biografie Patton (USA 1970 ; Franklin J. Schaffner ; der Titelzusatz der Synchronfassung lautet bezeichnend : Rebell in Uniform) zum Ausdruck kommt. Das ist zum anderen der Appell an ein antiautoritäres, maskulinistisches Ethos und an das Teamwork von „Freaks“, Verweigerern und Außenseitern als zu re-evaluierende Experten der Kreativ- und Affektarbeit, wie er aus Robert Aldrichs The Dirty Dozen (USA 1967) überliefert ist. The Dirty Dozen ist Tarantinos offensichtlichster, während der langen Planungszeit zu Inglourious Basterds häufig verheißungsvoll ventilierter Referenzfilm. Wichtig ist allerdings, dass hier beides durch die Auslassung impliziert ist (im Sinn der „Fehlleistung“ als „parapraktische Performance“, als „Leisten eines Fehlens“ laut Elsaesser13) : das Patton’sche Charisma des patriotischen Kriegergenies und das dreckig-dutzendhafte Expertenethos devianter Identitätskultivierung fällt weg, wird aber gerade damit aufs Tapet gebracht. Gegenüber all den Freak-Teams gewalttätiger SelbststilisierungsexpertInnen, die in Tarantino-Filmen oder auch im rezenten SuperheldInnen-Kino kanonisch wurden, sind die Basterds ostentativ identitätslos und unkreativ. Hier liegt ein Bruch mit Erwartungen und Voraussetzungen vor. Ein solches Bild des jüdischen Widerstands dient sich dem Entwurf von Gegenwartsinteressen nicht an. Zugleich verstößt es 13 Vgl. Thomas Elsaesser, Geschichte(n) und Gedächtnis. Zur Poetik der Fehlleistungen im Mainstreamkino am Beispiel von Forrest Gump, in : Irmbert Schenk u. a. (Hg.), Experiment Mainstream ? Differenz und Uniformierung im populären Kino, Berlin 2006, 31–42 ; ders., Die „Gegenwärtigkeit“ des Holocaust im Neuen Deutschen Film am Beispiel Alexander Kluge, in : ders., Terror, 113–149.
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gegen ein implizites Ethos in der Medialisierung des Holocaust, das darauf beharrt, Juden ganz auf die Rolle passiver Opfer festzulegen. Etwas Ähnliches gilt übrigens für das Bild des von Til Schweiger gespielten Wehrmachtsdeserteurs, der hier ganz direkt als „Kameradenmörder“ und nicht als in Schutz zu nehmendes Opfer inszeniert ist. Eine solche Inszenierung des Wehrmachtsdeserteurs als reines Opfer und verfemtes „nacktes Leben“ trat beispielsweise in Peter Liskas Dokumentation Die Ungehorsamen, Teil 2, des zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns in Europa im September 2009 erstausgestrahlten ORF-Fünfteilers Der Zweite Weltkrieg zutage : So als wäre der Preis, den die rechtliche Anerkennung von Deserteuren als von Unrechtsurteilen der NSJustiz Geschädigte fordert, deren heutige Wahrnehmung als passive Leidensträger – und nicht als politische Akteure, Widerständler, Überläufer, Bekämpfer der NSKriegsmaschine oder (horribile dictu) Partisanen. Das Bild des reinen „killing Nazis business“, das Inglourious Basterds so groß herausstellt : Gegenüber der Tradition eines Kinos, das jüdischen Widerstand und jüdische Gegengewalt nur Hand in Hand mit einer reflexartig mitformulierten ethischen Problematisierung derselben gezeigt hat und zeigt, wie auch gegenüber einem heutigen Actionkino der devianzidentitär fundierten Transgression (von rezenten James Bond- und Batman-Blockbustern bis in die Niederungen filmischer Rache-, Folterund Ausnahmerechtsbeschwörungen) hängt Tarantinos Bild, wie gleich auszuführen sein wird, in suspense – in einer Schwebe, die das, was es zeigt, als unmotiviert, exzessiv und terroristisch erscheinen lässt. Im Rahmen der filmkritischen Evaluierung dieses Films wurde darauf mit zweierlei Arten von Nihilismus gegenüber der Geschichte reagiert : Die einen empörten sich darüber, dass Tarantino Geschichte, zumal das Schicksal der Ermordeten, missbrauche. Die andere, die cinephile Fraktion tendierte dazu, hier eine rein kinoimmanente Phantasie am Werk zu sehen, die mit der „buchstabenklaubenden“ Historiographie nichts zu tun habe. Die eine Kritik negiert die Eigenlogik der Inszenierungen von der Warte eines Geschichtsdeterminismus her, die andere negiert die Geschichte zugunsten einer besseren Welt der selbstbezüglichen Bilder. Dem stelle ich gegenüber, dass Geschichtlichkeit gerade in der Art der Inszenierungen ausgelotet werden sollte, und schlage dafür die Chiffre „Geschichtsästhetik“ vor. Das heißt in etwa (orientiert an oben erörterten Theoremen von Laplanche und Rancière) : Es geht nicht darum, filmische Bilder und die Ästhetik ihrer Inszenierung in einen Gegensatz zur Geschichte zu stellen, sondern eben um Geschichtsästhetik : darum, dass ich mich weit in die Bilder hineinbegebe – nicht um in ihnen mein Gegenwartsinteresse bestätigt zu finden (obwohl das unweigerlich passiert), sondern in dem hartnäckig offenen Vertrauen, dass darüber hinaus und in genau dieser gegenwärtigen Konstellation noch etwas ist, das Geschichte genannt werden kann – aller-
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dings nicht im Sinn einer fundierenden Gegebenheit, sondern Geschichte, die mehr insistiert, als dass sie existiert14, und dass ich (und beliebige andere) in den Bildern etwas antreffen werde(n), das in deren Konstellation in Bezug auf eine konkrete Gegenwart eben deren hegemoniale Ordnungslogik irritiert. Diese Begegnung bzw. das Eintreffen der lange unvernommenen, in der Vergangenheit eingefalteten Nachricht betrifft das Erscheinen eines handelnden, im Rancière’schen Sinn des „Unvernehmens“ politischen Subjekts dort, wo das vorherrschende (besonders das Opfer-universalistische und Trauma-ethische) Geschichtsbild nur Passivität vorsieht.
3. „What shall the history books read ? “ Inglourious Basterds als Fallbeispiel
„What shall the history books read ?“, fragt SS-Oberst Landa gegen Ende von Inglourious Basterds den Anführer der Guerillatruppe, nach welcher Tarantinos Film benannt ist. Was soll in den Geschichtsbüchern zu lesen sein ? Die Frage bezieht sich auf einen Deal : Landa, der Jew-Hunter, ermöglicht im Sommer 1944 ein Attentat auf Hitler und die Führungsspitze des NS-Staats, ein Attentat, das im Film gelingt ; dafür soll er als reicher Mann und vor allem unbehelligt und unerkannt im Nachkriegsalltag der westlichen Welt untertauchen dürfen – was im Film (im Gegensatz zum allzu häufigen Erfolg von vergleichbaren Vorhaben in den Nachkriegsjahren) doch nicht ganz gelingt. Was in den Geschichtsbüchern zu lesen sein soll, genau das ist die Frage, in der Inglourious Basterds und seine Rezeption, die Passion und die Performance des Films, ineinander verflochten sind ; eine Frage, in der Tarantinos Inszenierung in aller Öffentlichkeit mit der Geschichte intim wird. Die Frage nach dem in Geschichtsbüchern zu Lesenden schied die Filmkritik 2009 in zwei Lager. Die einen gingen davon aus, dass in Geschichtsbüchern etwas „steht“, das Tarantino nicht unangemessen verwenden darf. So las es sich etwa bei Jonathan Rosenbaum : Seine Einwände mündeten in das Verdikt, Inglourious Basterds erschwere es, den Holocaust als „historical reality“ zu begreifen ; dieses Urteil war eingerahmt in ein Bewertungsschema, das den Film als „boy’s fun“ abwertete. Konkret formulierte Rosenbaum Erstaunen darüber, dass viele jüdische Filmkritiker der Meinung seien, „that this boy“ – gemeint ist Tarantino als öffentliche Figur mit notorisch kindischem Fan-Habitus – „should be al14 Diese Gegenüberstellung ist Teil von Gilles Deleuze’ Definition des „Ereignisses“ als reine, ausdruckhaftakausale Wirkung von Sinn. Vgl. Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt/Main 1993, 19. Die vielen Anknüpfungspunkte zwischen dem Deleuze’schen Ereignisbegriff und Rancières Geschichtsbegriff auszuloten, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.
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lowed to enjoy every last drop of his all-American fun, even at the expense of real-life Holocaust victims.“15 Eine dem „boy’s fun“ vergleichbare Egomanie attestierte Jens Jessen Tarantinos cinephiler Kernzielgruppe : In seiner Kritik für Die Zeit mit dem Titel „Skalpiert die Deutschen !“ schrieb Jessen, das „Schicksal der Juden“ werde „für eine Filmästhetik jenseits aller moralischen Absicht missbraucht“, für ein „Fest für intellektuelle Kinoliebhaber, denen die Würde des Gegenstands gleichgültig ist, solange er nur ihrem Scharfsinn Betätigung gibt.“ Von dem, „was Cineasten besonders lieben : Selbstreflexion auf das Medium“, im Sinn von „das Kino besiegt die Nazis“, war da abschätzig die Rede.16 Genau beim Kino, das die Nazis besiegt, setzte der Wertschätzungsdiskurs der anderen Fraktion an. Hier war nun eine Rhetorik der Demystifizierung am Werk, die implizit unterstellte, dass in Geschichtsbüchern ja nur tote Worte zu lesen seien – so wie es im Kino „nur Licht auf Leinwand“ zu sehen gebe. Dieses Licht allerdings schaffe eine „alternative Realität“, jene der Kunst. Diese Einschätzung wurde von Christoph Waltz mit explizitem Verweis auf den Kinomystiker Peter Kubelka zitiert.17 Waltz, Darsteller des SS-Obersts Landa, wurde im Sommer 2009 häufig zu seiner Rolle befragt. Mit Nachdruck sprach Waltz sich immer wieder gegen die „Verwertung von Geschichte in Spielfilmen“ aus und wies den aus solcher Verwertung abgeleiteten Wahrheitsanspruch zurück.18 Das entsprach ganz dem Gegensatzschema, das die cinephile Kritik bediente, die Tarantinos Projekt(ion) wohlgesonnen war. In Ekkehard Knörers Rezension wurden unter dem Titel „Eiskalt serviert“ folgender Gegensatz in Stellung gebracht : „Begehren“ versus „Fakten des buchstabenklaubenden Historikers“, „das durch Darstellung Vermittelte“ versus das „Buchstäbliche“, „Fantasie und Blut aufrührendes Sekundärmaterial“ versus „faktenklapperndes Geschichtsmaterial“.19 Kürzer gefasst konnte man Ähnliches bei Andreas Hartmann in der Jungle World lesen : „Historizität“ (im Sinn von Fakten-Check), die „Tarantino kein Stück [interessiert]“, gegen „Kino“, das „für Tarantino alles [ist]“.20 FilmkritikDoyen Georg Seeßlen schließlich legte zum Kinostart eine schnell geschriebene, detail- und interpretationsreiche Fibel zu Inglourious Basterds vor, die Tarantinos „Un15 http ://www.jonathanrosenbaum.com/ ?p=16514 (18.09.2009). 16 Jens Jessen, Skalpiert die Deutschen !, in : Die Zeit, 20.08.2009, http ://www.zeit.de/2009/35/Kino-Inglourious-Basterds (18.09.2009).
17 Dominik Kamalzadeh, „Es ist eine alternative Realität“. Interview mit Christoph Waltz, in : Der Standard Album, 15. August 2009, A3.
18 Stefan Grissemann, Der Lustneurotiker, in : Profil, 10. August 2009, 88. 19 Ekkehard Knörer, Eiskalt serviert, http ://www.perlentaucher.de/artikel/5680.html 18.09.2009. 20 Andreas Hartmann, Die Rache an Guido Knopp. Das Inglourious Basterds-ABC, in : Jungle World Nr. 34, 2009, http ://jungle-world.com/artikel/2009/34/37577.html (18.09.2009).
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verschämtheit“ hervorhebt : als „Rachephantasie, die sich um die historische Realität nicht kümmert, weil für Tarantino sowieso schon immer das Kino die bessere Wirklichkeit war. […] Das Kino rächt sich an der ungerechten Wirklichkeit selber.“21 Nun geht es diesen cinephilen Tarantino-Befürwortern ja um einen auf dem reinen Bild basierenden Antifaschismus ; gegen diesen ist wohl an sich kaum etwas einzuwenden. Wenn sie aber denen, die über Tarantino sagen : „Wie kann er nur ?“, sinngemäß antworten : „Er kann, indem er sich um nichts schert !“, dann ist das ein Problem. Dann stehen hier einander (mit Nietzsche bzw. Deleuze22 formuliert) zwei Arten von Nihilismus gegenüber : ein „negativer Nihilismus“, der feststehende höhere Werte voraussetzt, die dazu dienen, was ist, abzuurteilen und zu entwerten ; und ein „reaktiver Nihilismus“, der auch noch diese höheren Werte selbst entwertet und lieber mit einer entleerten Wirklichkeit zurückbleibt, als sich auf auch nur irgendein Sprachspiel zur Konstruktion von Wahrheit einzulassen. Für die beiden Fraktionen der Tarantino-Kritik heißt dies : Die einen NihilistInnen entwerten Tarantinos Bilder als nichtig, kindisch oder zynisch unter Verweis auf die einer Geschichte impliziten Wertmodelle, die offenbar vorgeben, wie sie inszeniert werden darf oder soll. Die GegnerInnen dieses auf das Wertprinzip fixierten Nihilismus der GeschichtsdeterministInnen reagieren mit einem coolen Votum für ein hingebungsvolles Aufgehen in einer Alternativwirklichkeit. Exemplarisch dafür ist ein Gestus von Hauptdarsteller Waltz selbst, dessen Äußerungen in Zeitungs- und Fernsehinterviews so anmuten, als sollten sie eine Emulation der wortklauberischen Pingeligkeit des von ihm gespielten Landa sein (als wäre er noch in character). Waltz betonte immer wieder – kokett und mit dekonstruktiver Verve –, Tarantino ziele ja, entgegen einer vorherrschenden Annahme, weder auf Geschichte noch auf Wirklichkeit, noch auf Wahrheit ab.23 Jener Diskurs, der festhält, dass auf der Leinwand nichts als Licht zu sehen sei, wendet sich nicht bloß gegen die Idee vorgegebener Wahrheiten ; vielmehr neigt eine solche Sichtweise dazu, die Möglichkeit jeglicher situativen Herstellung von Wahrheit auszuschließen (womit oft, wie etwa in den Interviews mit Waltz, die Zurschaustellung von Stolz auf die Radikalität dieser Haltung einhergeht). Fast schon rituell mutet die Art an, in der die „reaktiv-nihilistische“, also cinephil und pro-Tarantino eingestellte Kritik Geschichte ob ihrer blutleeren Faktenklapprigeit als irrelevant verwirft. Hier läge die zugespitzte Frage nahe : Hat Guido Knopp also gesiegt ? Das heißt : Hat jenes gedächtniskulturelle Konzept von televisual history, das sich als mediales Wellnessangebot gegenüber nationalen Identitätsnöten versteht und das ein 21 Georg Seeßlen, Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über Inglourious Basterds, Berlin 2009, 140. 22 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991, 161f. 23 Etwa im 3sat-Magazin Kulturzeit am 28.07.2009.
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Guido Knopp oder auch ein Bernd Eichinger oder Hugo Portisch mit der ganzen Markenzeichenhaftigkeit ihrer jeweiligen media personality repräsentieren – hat dieses Geschichtsverständnis sich so weit durchgesetzt, dass es nun, zumal in den Augen seiner KritikerInnen, für Geschichte schlechthin steht – sodass eine anti- oder nicht nationalistische Haltung gleichsam automatisch mit Geschichtsphobie einhergehen müsste ? Um auf die Diskurslogiken beider Tarantino-Kritik-Fraktionen zurückzukommen : Ist demnach Geschichte das, was entweder steht oder fällt – was in Büchern feststeht oder aber als Buchstabe hinfällig wird ? Oder ist sie nicht doch etwas, das geht, das nämlich gegenwärtige Öffentlichkeiten „angeht“ (mitunter nachgerade anstarrt oder anspringt) – dies im emphatischen Sinn von : sie in ihren hegemonialen Selbstverständnissen herausfordert und irritiert ? Wobei dieses Verhältnis nicht so sehr in einem ethischen Sinn, sondern politisch zu verstehen wäre. Damit steht zur Diskussion, wie mit Inglourious Basterds der Nationalsozialismus, begriffen als völkische Politik des Antisemitismus und Rassismus, und der Widerstand gegen diese NSPolitik in eine Konstellation zu gegenwärtigen Wahrheitspoetiken, Wahrnehmungsästhetiken und Begehrenstaktiken treten, in eine ihrerseits historische Konstellation, in der etwas Wahres als Bild herstellbar wird. Zum Vergleich : Wenn Seeßlen schreibt, Tarantinos Zitieren sei weniger Stehlen denn Retten (Tarantino wird immer wieder eine Funktion als Retter von Schauspielerkarrieren zugeschrieben), dann träfe dies doch auch auf Schindler’s List (USA 1993 ; Steven Spielberg) zu. In diesem Film wurde die Totalität des Massenmords zur wundersamen Rettungsanekdote umerzählt ; deren Protagonist agiert exemplarisch als Entertainer, Zyniker des Glamour und der Inszenierung, der wie z. B. die Bogart-Rolle in Casablanca (USA 1942 ; Michael Curtiz) gezeichnet und vergleichbar bekehrt wird. Damit steht Kino als Gedächtnis bildende list of life gegen das Todesprinzip einer Traditionen auslöschenden history : „Today is history,“ wie es der Kommandant des Arbeitslagers bei seiner „Motivationsrede“ der zur Liquidierung des Ghettos von Kraków versammelten SS-Truppe verkündet.24 Popgedächtnis als Genrebestandsrecycling, cinephil verknüpft mit einem Ethos, das Retter- und Opferschaft als Zentralkategorien historischer Erfahrung beschwört – von diesem so lange sinnträchtigen Modell weicht Inglourious Basterds in zweierlei Hinsicht ab.
24 Zu einer Interpretation der betreffenden Sequenz in Hinblick auf die Rolle der audiovisuellen Montage in der Entfaltung der Art, wie Schindler’s List die Bildung von Gedächtnis gegenüber der (allerdings tout court als Schlachtbank verstandenen) Geschichte sehr wohl reflexiv problematisiert, vgl. Miriam Bratu Hansen, Schindler’s List Is Not Shoah. The Second Commandment, Popular Modernism, and Public Memory, in : Yosefa Loshitzky (Hg.), Spielberg’s Holocaust. Critical Perspectives on Schindler’s List, Bloomington/Indianapolis 1997, 77–103.
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Erstens heißt Cinephilie – Gedächtnisbildung zum und mit dem Kino im Zeichen des Affiziert-Seins – hier „Retten durch Reden“. Ich kann diesen Aspekt in diesem Rahmen nur andeuten : In Tarantinos Filmen wird seit jeher viel, in Inglourious Basterds zumal viel übers Kino geredet. Praktiken der Filmwertschätzung wird hier eine Selbstabbildung zuteil : In früheren Genre-Recycling-Filmen – von SpielbergInszenierungen bis zu Genre-Parodien vom Typ The Naked Gun (USA 1988 ; David Zucker) – lebten Filmfiguren in Welten, von denen nur das Publikum wusste, dass sie aus Filmzitaten bestanden ; heute hingegen sehen – und hören ! – wir, ob bei Tarantino oder in Komödien, die Judd Apatow produziert (The Forty Year Old Virgin, USA 2005 ; Knocked Up, USA 2007 ; Superbad, USA 2008), Figuren zu, die selbst wissendes und zitierendes Publikum sind. Diese Figuren spielen Filmbestände nach oder durch. In Inglourious Basterds tun sie dies mittels Identity-Spielkarten, die Namen von Filmstars tragen, auf der Stirn ; durch King-Kong-Deutungen, die wie eine PopVersion von Repräsentationskritik an rassistischen Darstellungen kolonisierter nicht weißer Bevölkerungen anmuten ; in Person eines Agenten, im Zivilberuf Filmkritiker, der an Siegfried Kracauer und dessen Nazi-Kino-Studien erinnert. Oder Filmbestände werden neu und abweichend geschrieben : Ein Propagandafilm-im-Film wird wie Found Footage ummontiert, ein Filmarchiv (der kardinale Ort des Nachlebens von Kino) wird zum Abfackeln eines Projektionssaals voller Nazis genutzt, wobei mit der als Rache-Fanal erstrahlenden Licht-auf-Rauch-Projektion des Gesichts eines jüdischen Holocaust-Opfers (einer nur zeitweise Überlebenden des NS-Judenmordens, die zwischen zwei Toden als Kinobetreiberin, Filmarchivarin und ArchivkunstfilmSaboteurin agiert) im brennenden Kinosaal ein fast Spielberg’sches „cineontologisches“ Bild entsteht. Da ist nichts, nur Rauch. Und Licht-Bilder – die sich in einer Art „schwachen messianischen Kraft“ (Walter Benjamin) materialisieren. Zweitens heißt Cinephilie hier Retten durch Rächen. Inglourious Basterds durchkreuzt eine Diskursformation, die in (missbräuchlicher) Anknüpfung an Schindler’s List als Ikone ein Geschichtsbild ausgemalt hat, das nur noch RetterInnen und Opfer zu kennen scheint : So zeigt, wie bereits angesprochen, deutsches Historienkino und ‑fernsehen zur Jahrtausendwende eine NS-Zeit voller widerständiger, schützender Deutscher und universeller Opfer, wobei der Holocaust für die Bildwerdung der „Traumata“ Stalingrad und Bombenkrieg Modell stehen muss – die Deutschen als Hitlers ultimatives Opfer, Österreich als sein erstes Diese „viktimologische Ethik“ – mit ihrer Fokusierung auf das Opfer, von dem sie verlangt, dass es rein und universell sein müsse – impliziert ein Bildverbot : ein Verbot, filmisch-mediale Bilder von Jüdinnen und Juden aus dem Status reiner Opfer zu lösen. Dies bestimmt maßgeblich – so viel sei hier noch angedeutet – auch das Vorbehalts- und Zerknirschungskino zum Thema jüdische Rache an Judenmördern : von
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The O.D.E.S.S.A. File (GB/BRD 1974 ; Ronald Neame) über Momente in Spielbergs Saving Private Ryan (USA 1998) bis zum Wechselspiel in den Rollen des als James Bond zur ultimativen Rächer-Kino-Ikone stilisierten Daniel Craig in Spielbergs Munich (USA 2005) und in Edward Zwicks Drama über weißrussische jüdische Partisanen mit dem Titel Defiance (USA 2008). Jüdisch, so scheint es, ist Rache nur, wenn sie automatisch mit großem Katzenjammer einhergeht. Die Vorstellung, gerade Juden hätten doch gelernt, wozu entfesselte Gewalt führt, folglich verstoße der Anblick gewalttätiger Juden gegen die den Nazi-Opfern zugedachte Reinheit („Unschuld“, die offenbar rückwirkend verdient sein will), hat einen langen Atem. Noch durch die (gut gemeinte) Empörung in Jessens BasterdsRezension spukt diese mit „Auschwitz als Besserungsanstalt“ etikettierbare Idee : Der Anblick des von den Nazis als „Bärenjude“ bezeichneten Guerilleros, der einen Wehrmachtssoldat mit dem Baseballschläger totknüppelt, sei skandalös als „Spiegelung und Aneignung deutscher Gewaltexzesse“ bzw. „symmetrische jüdische Antwort“ auf den Holocaust.25 Aber schwingt in dieser Rede von Symmetrie nicht allzu viel an Verharmlosung der Morde in Auschwitz und Mauthausen mit ? Ob bei Pogromen, in den Gaskammern, bei der „Vernichtung durch Arbeit“ oder auf „Todesmärschen“ – da gibt es nichts, wozu die wilde Knüppelei des „Bärenjuden“ oder die TerrorTaktik der Basterds symmetrisch oder gespiegelt wäre ; nationalsozialistische Morde waren nicht Exzesse und Exekutionen von oder an Einzelnen, auch nicht Akte der Selbstermächtigung im Rahmen der Verbreitung von Terror, sondern Systemroutine einer Biopolitik der Volkskörperreinigung im Modus von Massenvernichtung. Die Wahrnehmung von Tarantinos Basterds als Terroristen, die durch ihre Gräueltaten den Nazis Albträume bereiten, wie ihr Anführer dies fordert, diese Sicht hätte zu gewärtigen, dass der NS-Holocaust nicht primär „Terror“ ist, weil er nicht auf die Psychologie und Öffentlichkeitspraktiken des stigmatisierten Feindes zielt, sondern auf dessen totale – nicht wahllos exemplarische – physische Vernichtung. Die Art, wie Tarantinos Inszenierung Vorbehalte beiseitelässt, wie sie Zusatz-SinnAnsprüche nicht erfüllt, Voraussetzungen suspendiert, Fundierungen aushebt, wie Tarantinos Inszenierung eine „Poetik performter Fehlleistungen“ (im Sinn Elsaessers) praktiziert – Fehlleistungen, die bei der Titelschreibweise beginnen –, dafür ist die Baseballschlägerszene beispielhaft ; dies nicht zuletzt aufgrund der Diskrepanz der Szene zu ihren Einschätzung in der Filmkritik. In ihrer taz-Rezension schreibt Christina Nord : „Als es soweit ist, macht Donowitz seinem Spitznamen ‚Bärenjude‘ alle Ehre. Er prügelt den Mann tatsächlich zu Klump ; die Kamera schaut hin, statt
25 Jessen, Skalpiert die Deutschen.
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sich dezent abzuwenden.“26 Das liest sich, als ginge es um die Knüppel-Blutorgie am Ende von Scorseses Casino (USA 1995). In Tarantinos Szene jedoch wendet sich die Kamera per Umschnitt in eine Totale und durch eine Rückfahrt ab, und das Ausstellen von Gewalt bleibt in der Baseballschlägerszene weit unter dem Level heutiger Slasherfilme oder von „Folterpornos“ vom Typus des Saw-Filmzyklus sowie, gemessen an deren Standards von creative torture, ostentativ unkreativ. Betont wird diese Nichtentsprechung noch durch die Besetzung des bear Jew mit Regisseur Eli Roth, dem Regisseur der Hostel-Filme (USA 2005, 2007), die weniger Folterfilme sind als satirische Reflexionen auf die touristischen Projektionen und geopolitischen Ökonomien, in denen das Versprechen von Fleisch und Folter als Suspendierung von Rechtsverhältnissen seinen Sinn als notorische „Ost-Phantasie“ macht. Was für eine Phantasie aber führt zur Projektion der taz-Rezensentin auf den jüdischen Gewalttäter in der Baseballszene ? Entgegen ihrer Formulierung macht Donowitz dem Beinamen „Bärenjude“ eben nicht alle Ehre : Seine Erscheinung weist nichts auf, was den Namen identitär ausfüllen könnte. Wie denn auch ? Der Name „Bärenjude“ wird nicht, wie Nord schreibt, als „Spitzname“ eingeführt, sondern als eine von den Nazis in Umlauf gebrachte Bezeichnung, und als solche ist sie ein performatives Zeichen. Diese Art von Stigmatisierung ist vergleichbar mit in der NSPropaganda üblichen Chiffren „Filmjude“ oder „Geldjude“ – und nicht zuletzt mit dem in der FPÖ-Wahlkampfpropaganda in Vorarlberg fast zeitgleich zum Kinostart von Inglourious Basterds eingesetzten Stigma „Exiljude“. Wie inszeniert Tarantino hier einen Voraussetzungsbruch ? Nicht nur ist Inglourious Basterds ein unsinnlicher Actionfilm, ein ostentativer Nicht-Action-Film, der weitaus mehr und heftigere Wortexzesse denn Gewaltexzesse ausagiert. (Das überbietet noch die endlosen Sprechdurchfallszenen in früheren Tarantino-Filmen, und „Action“ bietet in Inglourious Basterds eher der Nazi-Propaganda-Film-im-Film, der in dem Pariser Kino uraufgeführt wird und an den Kleinstadt-Showdown mit dem Scharfschützen im Kirchturm in Saving Private Ryan erinnert). Inglourious Basterds enttäuscht auch die dem Tarantino-Normal-Fandiskurs innewohnende Erwartung, die Basterds wären Upgrades des Dirty Dozen im gleichnamigem „Men on a Mission“-TeamworkKriegsfilm – wie dies schon das Deserteurs- und Delinquententeam im IngloriousBastards-„Originalfilm“ von 1977 war (Quel maledetto treno blindato, I 1977 ; Enzo G. Castellari). Enttäuscht wird auch die Erwartung, die Basterds von 2009 stünden in einer Reihe mit den Freakteams cooler Gewalt- und Selbst-Styling-ExpertInnen in Tarantinos Reservoir Dogs (USA 1993), Kill Bill (USA 2003/2004) und Death Proof 26 Christina Nord, Sieg Hollywood !, http ://www.filmzentrale.com/rezis2/inglouriousbasterdscn.htm (18.09. September 2009).
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(USA 2007). Den Sinnansprüchen unserer postfordistisch-neoliberalen, flexibilisierten Ökonomie der Affekt- und Kreativarbeit und unserer auf Marottenbewirtschaftung und Devianzproduktivität ausgerichteten Medienkultur enthalten Tarantinos Basterds etwas ganz Entscheidendes vor : Vorenthalten werden diesen Ansprüchen genau jene fundierenden, identitären Sinn-Gebrauchswerte, die sich ergeben hätten, wenn das Team um Brad Pitt als eine Art D-Day-X-Men oder eine ins Jahr 1944 verlegte Viper Assassination Squad gestaltet worden wäre. Dass die ins Vorspiel zur Baseballschlägerszene insertierte Sequenz rund um den desertierten und zur US-Armee übergelaufenen Wehrmachtssoldaten Hugo Stiglitz deutlich dem Styling der Viper-Squad-Mitglieder aus Kill Bill nachempfunden ist, diese Ausnahme bestätigt noch den Normalfall jener Gestaltung, kraft derer die Basterds auffallend – fast obszön – normal erscheinen : Nur wenig Identitätskapital wird akkumuliert, niemand ist Experte für irgendetwas, wie das sonst in TeamworkKriegsfilmen – oder auch in den Freakteam-Filmen der Ocean’s-Serie (USA 2001, 2004, 2007 ; Steven Soderbergh), in denen ebenfalls Brad Pitt prominent mitwirkt – üblich ist. Die aufwändige Ärmelschussvorrichtung, die Donowitz im Pariser Kino zum Einsatz bringt, ist redundant und ostentativ unoriginell. Am ehesten erweisen sich die Basterds als boshafte Verhörexperten mit Deutschkenntnissen im Umgang mit gefangenen Feindsoldaten, so wie die reale, „Ritchie-Boys“ genannte, vorwiegend aus jüdischen Emigranten gebildete Propaganda- und Verhörspezialeinheit der USArmy, denen sie ein wenig nachempfunden sind. Der von Brad Pitt gespielte Aldo The Apache ist nicht besonders indianisch, seiner Praxis des Skalpierens haftet etwas von einem Anspruch auf identitäre Herkunft an, der doch bloßes Indianerspielen bleibt, und der von den Nazis The Little Man genannte Basterd namens Yurtevitch ist, wie im Dialog vermerkt, eigentlich nicht besonders klein. Die (als Internet-Teaser prominent gewordene) Szene mit Pitts Motivationsrede an die Basterds, samt ihren offenherzigen Kriegsfilmzitaten, performt letztlich nur das Fehlen überlieferter Motivationen für die terroristische Gewalt : Was inszenierterweise wegfällt, ist etwa der antiautoritäre Macho-Impuls aus The Dirty Dozen : Auch in diesem Film von 1967 gibt es ein finales Massaker an eingeschlossenen NaziMilitärs und ihrer Entourage, das unverkennbar an eine Gaskammer (wie auch an den damals aktuellen Vietnamkrieg) erinnern soll ; allerdings entspricht dieser krasse Anblick eher einer plebejisch-maskulinistischen Anti-Establishment-Attitüde als einer Anti-Nazi-Haltung, und es ist eben auch vom Spaß am „killing Generals“ und nicht am „killing Nazis“ die Rede. Was ebenso herbeizitiert wird, um als Wegfallendes erkennbar zu werden, was also als Leerstelle performativ erkennbar gemacht wird, ist der obszöne Appell an eine US-patriotische Krieger- und Siegeskultur im (bisweilen psychedelischen) Monumentalismus des Erfolgskriegsfilms Patton von
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1970. Auch Patton malt sich, wie Aldo the Apache, in seiner – oft zitierten und parodierten – Motivationsrede zu Filmbeginn in blutrünstigen Kraftausdrücken die Verstümmelung des Feindes aus. Aber (mit formelhafter Assonanz ausgedrückt) : Pitt ist nicht Patton. Patton (im Generalsleben u. a. für antisemitische Äußerungen bekannt) nennt 1970 die Nazis the hun : der „Hunne“ als Gegenüber der „real Americans“ im Kräftemessen derer, die Lust am Sieg haben. In Inglourious Basterds geht es um Jewish Americans, und Nazis werden als „footsoldiers of a Jew-hating mass-murdering maniac“ benannt. Nach einer Absage an die Kreativitätsvoraussetzungen, an die Appelle an Nation und fundierende Männlichkeit, wie sie dirty Kriegs- und Actionfilme kultivier(t)en, bleibt bei Tarantino reines „killing Nazis business“. Zumal der Judenhass der Nazis in Inglourious Basterds als Motivation ausreicht : Nazis sind hier Feindbild ob ihres Antisemitismus – und nicht weil sie hässlich, autoritär, pervers, unsportlich oder genussfeindlich sind wie im Mainstreamkino sonst so häufig. Und Landa ? Der aus Österreich stammende SS-„Colonel“ Hans Landa, der schon in seinem Offiziersrang die Grenze von der kriminellen Organisation mit TotenkopfInsignie hin zur so lange als „sauber“ hingestellten Wehrmacht überschreitet, bietet sich uns als faszinierendes Monster an, (selbst‑)genießerisch, scharfsinnig, redegewandt, wie Christoph Waltz selbst sich im Interview gibt oder wie einst Dr. Hannibal Lecter uns auf irritierende Weise im Kino begegnet ist. Landa will den Film als etwas anderes verlassen und in der Nachkriegszeit wie auch in unserer Erinnerung (die so viel Freude daran hat, Filmfiguren zu Kultfiguren zu stilisieren) als etwas anderes weiterleben als der antisemitische Gewaltverbrecher, der er ist : Schon in der Eröffnungsszene stilisiert Landa sich mit zu groß dimensionierter Sherlock-HolmesCalasbash-Pfeife als Detektiv ; gegen Ende, als er den Amerikanern einen Deal anbietet, stellt sich der Jew-hunter, der Detektiv sein will, als Experte hin, von dessen Fähigkeiten zufällig eben auch zahlreiche Juden betroffen gewesen seien. Solch funktionalistische Relativierung der antisemitischen Vernichtungsabsicht der NS-Politik wird Landa nicht erlaubt. Ihm wird jedenfalls nicht erlaubt, sein Jew-hunter-Sein abzulegen, als wäre es „just a name that stuck“, wie er sagt, oder eine auf die Stirn geklebte Spielkarte. Tarantinos drastische Absage sieht so aus : In Landas Stirn wird ein Hakenkreuz geritzt, um festzuhalten, dass er – Distinktion und Faszination hin oder her – ein Nazi ist, und damit auch, dass das sich diesseits von Schuld und Gesetz situierende Ethos der Kulturen, Vorlieben und Leistungskräfte seine Grenze und sein Ende hat. Und sei dies nur Tarantinos Filmende, das ob seiner Abruptheit umso „befriedigender“ ist (auch in seiner Ähnlichkeit zum brutalen Bestrafungsritual am abrupten Ende von Death Proof ) : Das „masterpiece“, von dem im Schlussbild von Inglourious Basterds die Rede ist, besteht in dieser Markierung, die diskriminiert – die den Nationalsozialismus als spezifisch und kriminell festhält und verbietet, dass er
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sich metaphorisch und „ethisch gewendet“ in etwas Allgemeinmenschliches oder Allgemein-Soziales oder in heimatverbundene politische Begleitmusiken zum Regime der totalen Sicherheit auflöst. Dies geschieht in einem vorwiegend in Babelsberg gedrehten, deutsch koproduzierten und verblüffend deutschen Film, der viele deutsche Geschichtsbilder ein- und umfaltet (vom „Widerständler“ Winnetou (ein Apache, aber so wie Aldo kein „wirklicher“) und G. W. Pabsts vitalistischer Kino-Erleuchtungsmetaphysik oder Christian Brückner (der unverwechselbare Sprecher u. a. von Guido Knopps Nazi-FernsehDokus ist hier nur just im Telefonat mit Hitler zu hören) bis hin zum wandelnden Deutschlandklischee Daniel Brühl). Selbst ein unerwartetes geschichtsästhetisches Surplus an österreichischen Bildern des Nationalsozialismus wird mit(auf )geführt : Hugo Stiglitz als Deserteur, der auch und gerade als „Kameradenmörder“ Subjekt einer Zelebrierung ist (und eben gar nicht erst vor diesem Vorwurf, wie ihn etwa BZÖBundesrat Ing. Siegfried Kampl 2005 erhoben hat, in Schutz genommen werden muss : Bei Kameraden wie diesen – wo ist das Problem ?) bis hin zu H. C. Straches selbstverräterischer Fingergeste beim Bestellen von drei Getränken. In und mit Inglo urious Basterds bedeutet Geschichte, wie eine Gegenwart durch eine Vergangenheit, die nicht einfach so vergeht, gefordert ist. Insbesondere vermittelt der Film, in all seiner irritierenden Drastik, ein Geschichtsbild, in dem Nationalsozialismus nicht als Abweichung von als gesund imaginierten Normalidentitäten verkannt und Widerstand (oder auch die Ablehnung von NS-Ideologie) nicht an voraussetzungshafte Vorstellungen von Männlichkeit oder Patriotismus rückgebunden wird. This is what the history books shall read.
Autorinnen und Autoren Helga Amesberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Konfliktfor-
schung, Wien. Forschungsschwerpunkte: Oral History, Rassismus, Frauen und NSVerfolgung. Aktuelles Forschungsprojekt: „ÖsterreicherInnen im KZ Ravensbrück“. Gerhard Botz, em. o. Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien, Grün-
der und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Historische Sozialwissenschaft Wien–Salzburg. Forschungsschwerpunkte: politische Gewalt, Nationalsozialismus, österreichische Zeitgeschichte. Aktuelles Forschungsprojekt: „‚Mauthausen Survivors Research Project‘: Mauthausen überleben und erinnern“. Marianne Enigl, Redakteurin beim Nachrichtenmagazin profil, Wien. Serien und Berichte zu Themen der NS- und Zeitgeschichte. Richard Germann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für
Historische Sozialwissenschaft, Wien. Forschungsschwerpunkte: „Österreicher“ in der Deutschen Wehrmacht 1938–1945, Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg. Aktuelles Forschungsprojekt: „Perceptions and Interpretations of the war by ‚Austrian‘ members of the Wehrmacht while in American and British captivity 1940– 1945” (FWF). Hans-Georg Hofer, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Medizinhistori-
schen Institut der Universität Bonn. Fellowships in Wien, Manchester und Durham. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Medizin, der Psychiatrie und Nervenheilkunde sowie Medizin, Altern und Geschlecht. Walter M. Iber, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Forschungsschwerpunkte: politischer Katholizismus/Christlichsoziale Partei 1918–1933/1934, deutsche und sowjetische Besatzung im Baltikum, Österreich 1945–1955. Stefan Karner, Gründer und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgen-
Forschung, Graz – Wien – Klagenfurt, Professor und stv. Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Karl-Franzens-Universität
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Autorinnen und Autoren
Graz. Forschungsschwerpunkte: Zeitgeschichte Österreichs, Ost- und Südosteuropas, Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Amália Kerekes, Wissenschaftliche Oberassistentin am Germanistischen Institut der
Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte: Unterhaltungskultur und Pressegeschichte in der Zwischenkriegszeit, etwa im aktuellen Projekt: „Die ungarische Emigration im Wien der Zwischenkriegszeit“. Helmut Konrad, o. Professor für Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Uni-
versität Graz und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Forschungsbereiche: Erinnerungsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Labour History, nationale Frage und Identität, Kulturgeschichte und europäische Strukturen von Wissenschaft und Forschung. Michael Loebenstein, 2009–2011 Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institut für Ge-
schichte und Gesellschaft und seit 2004 Kurator am Österreichischen Filmmuseum. Schwerpunkte: Filmgeschichte, Dokumentarfilm und Zeitgeschichte, Digitale Medien. Aktuelles Forschungsprojekt: „Like Seen on the Screen. Die Medien und unsere Lebenswelten“ (BMWF). Seit Oktober 2011 Leiter des National Film and Sound Archive of Australia (Canberra). Brigitte Lueger-Schuster, Assistenzprofessorin am Institut für klinische, biologische
und differentielle Psychologie, Fakultät für Psychologie und Mitglied der Forschungsplattform „Human rights in the European context“, beide an der Universität Wien. Forschungsgebiete: psychische Störungen in Folge von massiven Menschenrechtsverletzungen, chronische Traumatisierung, Traumafolgestörungen aufgrund von Katastrophen und Großschadenslagen. Aktuelles Forschungsprojekt: „Kriegskinder in Österreich“. Siegfried Mattl, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesell-
schaft, Dozent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwer punkte: Kultur-, Stadt- und Mediengeschichte. Projekte: „Destinations of Desire, Routes of Agency“ (Wien 2005, gem. mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften), „FilmStadtWien“ (Wien 2009–2011, gem. m. Österreichisches Filmmuseum und Hanna Schimek&Gustav Deutsch). Barry McLoughlin, Senior Lecturer am Institut für Geschichte der Universität Wien.
Forschungsbereiche: Irland und Spanischer Bürgerkrieg, österreichische Opfer des
Autorinnen und Autoren
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stalinistischen Terrors in der UdSSR bis 1945, „Displaced Persons“ in Österreich. Aktuelles Forschungsprojekt: „Auswanderung aus Österreich von Displaced Persons, 1945–1955“. Jörg Müller, Universitätsdozent am Institut d’Etudes Politiques de Paris und For
schungsleiter am CREDOC. Forschungsschwerpunkte: Vergangenheitspolitik, Natio nalismustheorien, Geschichtstheorien. Aktuelles Forschungsprojekt: „Die Auswirkungen der deutschen Wiedervereinigung auf die Geschichtsschreibung in Deutschland, Frankreich und Österreich“. Sönke Neitzel, Lehrstuhl für Modern History/Global Security an der University of Glasgow. Forschungsschwerpunkte: Militärgeschichte, Geschichte der Internationalen Beziehungen. Aktuelles Forschungsprojekt: „Der Referenzrahmen des Krieges“. Drehli Robnik, Filmwissenschaftler, Lehre an der Universität Wien. Forschungsschwer
punkte: Theorie, Ästhetik und Politik von Film und Kino. Barbara Stelzl-Marx, Stellvertretende Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für
Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Klagenfurt, Dozentin am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955, Kalter Krieg, Kriegsgefangenschaft und Zwangs arbeit im „Dritten Reich“ und in der Sowjetunion. Aktuelles Forschungsprojekt: „Der Wiener Gipfel 1961: Kennedy und Chruschtschow“. Andrea Strutz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für
Gesellschafts- und Kulturgeschichte und Lehrbeauftragte am Institut für Geschichte der Universität Graz. Forschungen zu den Themenbereichen Migration, jüdische Vertreibung, Gedächtnis und Erinnerung, Nationalsozialismus und „Wiedergutmachung“ und zur Methode der Oral und Video History. Aktuelle Forschungsarbeit: „Die österreichische Zuwanderung nach Kanada 1938 bis 1972“. Jay Winter, Charles J. Stille Professor für Geschichte an der Yale University. Lehrver-
anstaltungen und Forschungen speziell zu Europa in der Ära des totalen Krieges, zu moderner britischer Geschichte, zu Geschichte und Gedächtnis und zu europäischen Identitäten.
SIEGFRIED MATTL, GERHARD BOTZ, STEFAN KARNER, HELMUT KONRAD (HG.)
KRIEG. ERINNERUNG. GESCHICHTSWISSENSCHAFT VERÖFFENTLICHUNGEN DES CLUSTER GESCHICHTE DER LUDWIG BOLTZMANN GESELLSCHAFT, BAND 1
Gewalt, Krieg, Vertreibung und Vernichtung sind am Beginn des 21. Jahrhunderts zu dominanten Gegenständen historiografischer, erinnerungspolitischer und populärkultureller Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geworden. Gegenüber der militärhistorischen und diplomatiegeschichtlichen Perspektive gewinnen dabei Fragen nach den Erfahrungen von Opfern organisierter Gewalt und die Auseinandersetzung mit den kulturellen Kontexten, in denen Kriege und kriegsförmige Akte stattfinden und legitimiert werden, an Bedeutung. Die Beiträge in diesem Band spannen einen weiten Bogen: vom Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg zu NS-Vernichtungslagern und Massenvertreibungen während des jüngsten Balkankrieges; von medialen Strategien im Ersten und Zweiten Weltkrieg über massive, gewaltförmige Bevölkerungsverschiebungen nach 1945 bis zu aktuellen Formen der ritualisierten und gedächtnispolitischen Erinnerung an diese Ereignisse. 2009. 378 S. 5 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78193-6
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Stefan K arner, BarBar a Stel zl-Mar x (Hg.)
StalinS letzte Opfer VerScHleppte und erScHOSSene ÖSterreicHer in MOSK au 1950 –1953
Auf dem Donskoe Friedhof in Moskau liegen 104 der letzten Stalin-Opfer, großteils Österreicherinnen und Österreicher. Sie waren noch in den letzten drei Jahren der Stalin-Herrschaft in Moskau erschossen worden. In geheimen Transporten in die Sowjetunion verschleppt, hatte man sie für einige Wochen im größten Moskauer Gefängnis, der Butyrka, festgehalten und danach hingerichtet. Das häufigste Todesurteil lautete „antisowjetische Spionage“. Bisher geheime Strafprozessakte aus dem einstigen KGB-Archiv, Gerichtsbescheide aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation sowie die Gnadengesuche der Hingerichteten ermöglichen erstmals eine Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Besatzungszeit in Österreich. Das Buch beleuchtet die Biographien dieser späten Stalin-Opfer. 2009. 676 S. Br. 155 x 230 mm. iSBn 978-3-205-78281-0 (A), 978-3-486-58936-8 (D)
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LEXIKON DER VERTREIBUNGEN DEPORTATION, ZWANGSAUSSIEDLUNG UND ETHNISCHE SÄUBERUNG IM EUROPA DES 20. JAHRHUNDERTS
Das „Lexikon der Vertreibungen“ ist das erste Nachschlagewerk zu einem Thema, das in letzter Zeit sowohl in der Forschung wie in der breiten Öffentlichkeit heftig diskutiert worden ist. Es hat zum Ziel, den derzeitigen Stand der Forschung zur Geschichte der Deportationen, Zwangsaussiedlungen und ethnischen Säuberungen in Europa zwischen 1912 und 1999 zu bilanzieren. Pressestimmen: „Den Autoren ist ein Standardwerk gelungen.“ Deutschlandfunk „Europäisches Aufarbeiten und Erinnern sowie nationales Gedenken müssen sich nicht ausschließen; Grundvoraussetzung ist eine natürliche Offenheit und Neugier, auch die anderen Blickwinkel kennenlernen und verstehen zu wollen. Das vorliegende Opus leistet dazu einen epochalen Beitrag, es ist ein Meilenstein.“ Die Zeit 2010. 801 S. GB. 170 x 240 MM. ISBN 978-3-205-78407-4
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WOLFGANG BENZ (HG.)
VORURTEIL UND GENOZID IDEOLOGISCHE PR ÄMISSEN DES VÖLKERMORDS
Massengewalt vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart als politische Praxis und gesellschaftliche Realität ist Gegenstand dieses Buches. Die These, dass Völkermord aus Intention nach ideologischen Prämissen entsteht, dass Genozid in Vorurteilen wurzelt, wird an den einschlägigen Ereignissen eines Jahrhunderts der Gewalt untersucht. Staatsverbrechen mit massenhafter Gewalt, politisch motivierte Vertreibung von Bevölkerungsgruppen mit allen Folgen für die Opfer sind jedoch nicht immer nach ihrer Intention und auch nicht wegen der Dimension des Leids Völkermorde. Aber auch Genozide, begangen aus dem ideologischen Vorsatz der Ausrottung von Menschen wegen ihrer ethnischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Identität werden aus politischen und diplomatischen Gründen oft nicht als Völkermord wahrgenommen. 2010. 296 S. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78554-5
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HANS-HEINRICH NOLTE
WELTGESCHICHTE DES 20. JAHRHUNDERTS
Das 20. Jahrhundert ist durch vielfältige Emanzipationen, außerordentliche Erfindungen und eine schnelle Globalisierung, aber auch durch wachsende Ungleichheit, Genozide und Vertreibungen, unsichere und multiple Identitäten, Terrorismus und einen ungezügelten Verbrauch von Umwelt gekennzeichnet. Der Wiederaufstieg Indiens und Chinas sowie neue Hoffnung für Afrika und Lateinamerika bestimmen den Jahrtausendwechsel. Der Band bietet einen Überblick über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, von der Industrialisierung bis heute. 2009. 448 S. 5 GRAFIKEN GB. 240 X 170 MM. ISBN 978-3-205-78402-9
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europa und der 11. SepteMber 2001
Am 11. September 2001 erschütterten die Terroranschläge von New York und Washington die Welt. Das Buch unternimmt einen Rückblick auf die Reaktionen darauf in Europa. Wie hat man die Anschläge wahrgenommen und gedeutet und welche politischen Konsequenzen haben sich daraus ergeben? Auch die Debatten über den Irakkrieg, das brüchige Verhältnis zwischen Europa und den USA sowie über Amerikakritik und Islam(feindlichkeit) werden beleuchtet. 2011. 284 S. 9 S/w-Abb. frAnz. br. 155 x 235 mm. ISbn 978-3-205-78677-1
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