Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und19. Jahrhundert: Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland [1 ed.] 9783428460427, 9783428060429


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German Pages 494 Year 1986

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Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und19. Jahrhundert: Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland [1 ed.]
 9783428460427, 9783428060429

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Schriften des Vereins für Socialpolitik Band 35

Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland

Von

Rainer Fremdling

Duncker & Humblot · Berlin

RAINER

FREMDLING

Technologischer W a n d e l und internationaler H a n d e l i m 18. und 19. Jahrhundert

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte

I n V e r b i n d u n g m i t R u d o l f Braun, Otto Büsch und Peter Czada herausgegeben von W o l f r a m Fischer

Band 35

Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert D i e Eisenindustrien i n Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland

Von

Privatdozent Dr. Rainer Fremdling

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

A l s H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t a u f E m p f e h l u n g des Fachbereichs W i r t s c h a f t s - u n d Sozialwissenschaften d e r U n i v e r s i t ä t M ü n s t e r g e d r u c k t m i t U n t e r s t ü t z u n g der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Fremdling, Rainer: Technologischer Wandel und internationaler Handel i m 18. und 19. Jahrhundert: d. Eisenindustrien i n Grossbritannien, Belgien, Frankreich u. Deutschland / von Rainer Fremdling. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1986. (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 35) I S B N 3-428-06042-3 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1986 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06042-3

Vorwort Das vorliegende Buch ist die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Habilitationsarbeit, die im Herbst 1982 abgeschlossen und unter dem Titel „Technologietransfer in der Eisenindustrie — Britische Exporte und die Ausbreitung der Koksverhüttung und des Puddelverfahrens in Belgien, Frankreich und Deutschland" vom Fachbereich für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Münster und bei meiner Umhabilitation vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Den Titel des Buches habe ich weiter gefaßt, vor allem um zu verdeutlichen, daß es handelsgeschichtliche Aspekte mehrerer Länder behandelt und Entwicklungen im 18. Jahrhundert, insbesondere bei der britischen Eisenindustrie, mitverfolgt. Ein Teil der Kürzungen wurde dadurch vorgenommen, daß Zitate aus ausländischen Archivalien und anderen Texten in der Regel nur noch in der deutschen Übersetzung erscheinen. Die fremdsprachigen Originalzitate können im Manuskript der Habilitationsarbeit in den Institutsbibliotheken für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der F U Berlin und der Universität Münster nachgelesen werden. Eine Reihe von Institutionen hat durch finanzielle Zuwendungen oder durch Bereitstellen ihrer Ressourcen dieses Buch ermöglicht: Hervorheben möchte ich die Stipendien von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der British Academy/Wolfson Foundation und der Leverhulme Foundation sowie die hervorragenden Arbeitsbedingungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Münster, am St. Antony's College in Oxford und am Arbeitsbereich Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Freien Universität Berlin. Zahlreichen Kollegen und Freunden verdanke ich Rat und tatkräftige Hilfe. Einigen möchte ich besonders danken: Mein langjähriger akademischer Lehrer Richard Tilly hat diese Arbeit kritisch wohlwollend gefördert. Ich bin sicher, daß von ihm mehr Ideen und Anregungen verarbeitet sind, als ihm und mir bewußt sind. Patrick O'Brien holte mich für ein dreiviertel Jahr an das St. Antony's College und vermittelte mir als ständiger Gesprächspartner wesentliche Einsichten, die den Modellcharakter der britischen Industrialisierung in Frage stellen. Herman Van der Wee ließ mich überaus freundlich und hilfsbereit an seinem universalen Wissen teilhaben und öffnete mir darüber hinaus in Belgien so manche zunächst verschlossene Tür. Wolfram Fischer stellte die Weichen, daß ich nach dem Auslaufen meiner Stelle in Münster die Arbeit in Berlin in der geplanten Breite zu Ende bringen konnte und beschleunigte in zahlreichen Gesprächen durch

6

Vorwort

manch aufmunterndes Wort die Fertigstellung des Manuskriptes in der Endphase wesentlich. Für das fertige Produkt zeichnet er nun zudem als Herausgeber verantwortlich. Hubert Kiesewetter hat das Manuskript akribisch gelesen und etliche detaillierte Verbesserungen vorgeschlagen. Für ihre zwar nicht unermüdliche, aber doch unerläßliche Hilfe und Unterstützung danke ich meiner Frau, Barbara Fremdling, der ich das Buch widme. Berlin, im August 1985

Rainer Fremdling

Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis 1. Einleitung 2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert 3. Wachstum und Richtung britischer Eisenexporte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Fallstudie: Französische Schutzzölle gegen britische Eisenexporte Fallstudie: Dowlais' erste Exporte nach Deutschland Fallstudie: Wirtschaftliche Auswirkungen von Neilsons Erfindung des Heißluftgebläses (hot blast) aus dem Jahre 1828 4. Traditionelle und moderne Eisenindustrie auf dem Kontinent im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts 4.1 Belgien Zolltarife und Außenhandel Struktur und Entwicklung der Produktion 4.2 Frankreich Struktur und Entwicklung der Produktion und des Außenhandels Fallstudie: „Société des houillères et fonderie de l'Aveyron" in Decazeville . Fallstudie: Département Haute-Marne 4.3 Deutschland Zolltarife und Außenhandel Struktur und Entwicklung der Produktion Fallstudie: Die Haubergswirtschaft im Siegerland 5. Der Puddler 6. Wachstum und Richtung britischer Eisenexporte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts 7. Durchbruch der modernen und Rückgang der traditionellen Eisenindustrie auf dem Kontinent im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts 7.1 Belgien Zolltarife und Außenhandel Fallstudie: Auswirkungen des belgischen Eisenkartells und des Roheisenzolls auf die S.A. Cockerill Struktur und Entwicklung der Produktion 7.2 Frankreich Zolltarife und Außenhandel Struktur und Entwicklung der Produktion 7.3 Deutschland Zolltarife und Außenhandel Struktur und Entwicklung der Produktion 8. Produktion und Produktivität im internationalen Vergleich 9. Zusammenfassende Thesen 10. Anhang

9 13 25 45 52 59 63 66 66 67 71 80 80 99 110 117 117 138 164 176 215 234 234 234 248 253 265 265 283 307 307 325 352 372 377

Inhaltsverzeichnis

8 10.1 10.2 10.3 10.4

Preise und Exportdaten zur britischen Eisenindustrie 377 Statistiken zum Außenhandel und zur Produktion in Frankreich 408 Statistiken zum Außenhandel und zur Produktion in Belgien 435 Statistiken zum Außenhandel, zur Produktion, zu Preisen und Kosten in Deutschland 445

Abkürzungsverzeichnis Umrechnungsfaktoren Quellen- und Literaturverzeichnis Index

455 455 456 486

Tabellenverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Roheisenproduktion in Großbritannien, 1750 -1790 Englische Stabeisenimporte, 1700-1799 Anteile der Importe am Stabeisenangebot (Produktion plus Importe) in Großbritannien, 1750 -1815 Stabeisenpreise und Importzölle in Großbritannien, 1790-1815 Britischer Außenhandel mit Stabeisen, 1805-1818 Schmiedeeisenproduktion während des 18. Jahrhunderts Britische Eisenexporte und Roheisenproduktion, 1821-1835 Britische Roheisen- und Stabeisenexporte, aufgegliedert nach Empfangsländern, 1821-1835 Britische Exporte von Stangen- und Bolzeneisen und Gußeisenprodukten, aufgegliedert nach Empfangsländern, 1821-1835 Französische Importe von Roheisen und Stabeisen, aufgegliedert nach Herkunftsländern, im Jahre 1788 Französische Eisenimporte, 1815-1828 Französische Importe von Roheisen und Stabeisen, aufgegliedert nach Herkunftsländern, 1820 -1828 Britische Eisenexporte nach Frankreich, 1815-1828 Die Roheisenproduktion von Südwales und Schottland in Beziehung zur britischen Gesamtproduktion Anzahl der betriebenen Hochöfen in Belgien, 1815-1844 Roheisenproduktion in Belgien, 1831-1844 , Eisenproduktion in Frankreich, 1819-1828 Produktionskosten von Holzkohlenroheisen, 1828 Produktionskosten von Stabeisen aus Holzkohlenroheisen, 1828 Produktionskosten von Koksroheisen, 1828 Produktionskosten von Steinkohlenstabeisen aus Koksroheisen, 1828 Eisenproduktion in Frankreich, 1829 -1835 Eisenproduktion und Eisenpreise im französischen Département Haute-Marne, 1809-1835 Produktionskosten für Holzkohlenroheisen im Département Haute-Marne, 1834 Produktionskosten für Stabeisen im Département Haute-Marne, 1834 Eisenproduktion, Importe und Exporte Preußens, 1825-1833 Außenhandel der preußischen Rheinprovinz mit Eisenprodukten, 1824-1828 Preise für Stabeisen in Deutschland, 1830-1848 Eisenproduktion, Importe und Exporte des Zollvereins, 1834-1849 Schlesische Eisenpreise am Werk, 1838-1850 Preise für Roheisen und Eisenerz, 1820-1855 Leistungen und Löhne bei der Westfälischen Union, 1869, 1873 und 1878 .. Leistungen und Löhne bei dem Stabeisenwalzwerk Dortmunder Union, 1869, 1873 und 1878

31 39 40 41 42 43 48 49 50 53 54 56 58 64 75 78 82 93 94 95 96 98 112 114 115 123 124 132 134 151 158 192 194

10

Tabellenverzeichnis

34 35 36 37

Löhne pro Tag in Oberschlesien, 1869 -1878 Budgets von Arbeiterfamilien in Besseges (Frankreich), 1872 Wanderbewegung der 1824/25 bei Remy beschäftigten Puddler Britische Roheisenexporte (Pig Iron), aufgegliedert nach Empfangsländern, 1836-1870 Britische Stabeisenexporte (Bar Iron), aufgegliedert nach Empfangsländern, 1836-1870 Britische Exporte von Eisenbahnschienen (Rails), aufgegliedert nach Empfangsländern, 1856 -1870 Britische Exporte von Stangen- und Bolzeneisen (Bolt and Rod), aufgegliedert nach Empfangsländern, 1836-1870 Britische Exporte von Gußeisenprodukten (Cast Iron, Castings), aufgegliedert nach Empfangsländern, 1836 -1870 Eisenproduktion, Importe und Exporte Belgiens, 1834-1870 Roheisenproduktion und -preise in Belgien, 1845-1870 Schmiedeeisenproduktion, Anzahl der Frischfeuer und Puddelöfen in Belgien, 1845-1870 Eisenproduktion, Importe und Exporte Frankreichs, 1825-1870 Produktion aus Hochöfen in Frankreich, 1819-1870 Stabeisenproduktion in Frankreich, 1819-1870 Anteil der Eisenbahnschienen an der Stabeisenproduktion in Frankreich, 1842 1870 Roheisennachfrage für die französische Schienenproduktion, 1842-1870 Die Verbreitung der Winderhitzung bei französischen Hochöfen, 1837-1844 Stabeisenproduktion und -preise in Frankreich, 1831-1846 Anteile ausgewählter Regionen an der französischen Erzeugung von Roheisen und Stabeisen, 1834 und 1869 Preise verschiedener Eisensorten in den wichtigsten eisenschaffenden Bezirken Preußens, 1865-1870 Belgische Roheisenexporte nach Deutschland, 1841-1856 Stabeisenproduktion, Importe und Exporte des Zollvereins, 1850-1870 Roheisenproduktion, Importe und Exporte des Zollvereins, 1850-1870 Herkunft des Schienenbestandes preußischer Eisenbahnen, 1843-1863 Verflechtungsmatrix ausgewählter Sektoren in Deutschland bzw. im Zollverein oder in Preußen, 1840er bis 1860er Jahre Produktion aus Hochöfen in Preußen, Rheinland/Westfalen und Schlesien, 1823-1870 Stabeisenproduktion in Preußen, Rheinland/Westfalen und Schlesien, 1823 1870 Eisenherstellung in Preußen mit verschiedenen Brennmaterialien, 1836-1870 Roheisenproduktion aus Kokshochöfen und Anzahl dieser Hochöfen in Preußen, 1852-1870 Roheisenproduktion in Preußen, aufgegliedert nach den wichtigsten Provinzen und Regierungsbezirken, 1850 und 1870 Gewichts- und Wertzölle gegenüber Importen von Roheisen und Stabeisen aus Großbritannien, 1825-1870 Balassa-Index und Außenhandelsquotient, 1825-1870 Eisenerzeugung in Belgien, Frankreich und Preußen, 1836-1870

38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

195 200 213 223 227 228 231 233 249 260 262 283 285 286 289 290 295 301 303 316 322 323 324 330 336 338 340 342 344 349 353 355 359

Tabellenverzeichnis 67 68 69 70

Jährliche Wachstumsraten der Eisenproduktion verschiedener Länder, 18211870 Kosten der Roheisenerzeugung Quotienten von Roheisen- zu Brennstoffpreisen und von Stabeisen- zu Roheisenpreisen Roheisenpreise am Werk, 1860/61

11

361 364 367 370

Anhang GB 1 GB 2

Preise britischen Eisens, 1821 -1870 Quotient von Stabeisen zu Roheisen bei britischen Eisenexporten, 1821-1870 GB 3.1-3.25 Britische Eisenexporte, 1821-1870 F 1 - F 12 Französische Eisenimporte und -exporte, 1821-1870 F 13 Preise verschiedener Stabeisensorten am Werk und in Paris, 18261846 F 14-F 23 Eisenproduktion und Preise in französischen Départements, 18341870 ' B 1 -B 8 Belgische Eisenimporte und -exporte, 1831-1870 HB 1 - HB 3 Bremer Eisenimporte, 1851-1870 D 1 Stabeisenpreise im Königreich Sachsen, 1825-1858 D 2 Preise für Holzkohlenroheisen in Deutschland, 1839-1850 D 3 Produktion, Kosten und Verkaufspreise von Roheisen der Hochdahler Hütte, 1861/62-1870/71 D 4 Produktion, Kosten und Verkaufspreise von Roheisen der GeorgsMarienhütte, 1858/59-1870/71 D 5 Eisenpreise in Deutschland, 1850-1870

380 382 383 411 423 425 436 446 449 450 451 452 454

1. Einleitung Der französische Wirtschaftshistoriker Crouzet leitet sein Lehrbuch über „Die Wirtschaft Großbritanniens im viktorianischen Zeitalter" folgendermaßen ein: „Das 19. Jahrhundert der Historiker — von 1815 bis 1914 —, das symbolisch mit dem Sieg Wellingtons in Waterloo einsetzte, ist das Jahrhundert Englands, der ,englischen Vormachtstellung' 1 ." Mehr noch als auf politischem Feld wird Großbritannien im vorigen Jahrhundert der Vorrang im ökonomischen Bereich zugewiesen, und dies sowohl gegenüber dem traditionellen Rivalen Frankreich als auch gegenüber den zukünftigen Konkurrenten, den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland 2 . Grundlage für die ökonomische und politische Macht dieses 1821 nur 14 Millionen Einwohner 3 zählenden Landes war die Industrielle Revolution 4 , die Großbritannien als erstes Land der Welt schon im 18. Jahrhundert erfaßte 5. Traditionell wird diese grundlegende strukturelle Veränderung im ökonomischen Bereich mit einer Reihe von spektakulären Innovationen verbunden. Ohne sie hier ihren verschiedenen Bezugsebenen zuzuordnen, werden mit der Industriellen Revolution in Großbritannien folgende Schlagworte verknüpft: Dampfmaschine, Baumwollindustrie, Steinkohle und Eisenindustrie. Sie stecken das Umfeld ab, in dem gemeinhin die technologischen Innovationen vermutet werden, welche die Industrialisierung und damit das moderne Wirtschaftswachstum trugen. Als zwei prominente Vertreter, die diese Sichtweise sowohl theoretisch als auch empirisch dargelegt haben, seien Schumpeter und Rostow genannt 6 . Ihren traditionellen Zugriff zur Industrialisierungsgeschichte haben allerdings neuere Interpretationen erheblich revidiert, für die wiederum zwei unterschiedliche 1

Crouzet, Economie, S. 17. Unter Deutschland wird in dieser Arbeit nicht der Deutsche Bund verstanden, sondern das Gebiet, das später das Deutsche Reich (ohne Elsaß-Lothringen) bildete. Viele Zeitreihen beziehen sich — wie dort immer angegeben — auf Preußen in den Grenzen vor 1866 oder auf den jeweiligen Gebietsumfang des Deutschen Zollvereins. Diese mit der Quellenlage begründete Eingrenzung dürfte die Repräsentativität der Ergebnisse nicht beeinträchtigen, erfassen sie doch bei weitem den Großteil der Eisenindustrie. 3 Dies war die Bevölkerung von England, Wales und Schottland. Der traditionelle Rivale Frankreich zählte 1821 immerhin mehr als doppelt so viele, nämlich über 30 Millionen Bewohner. Zu den Bevölkerungsdaten vgl. Mitchell, Historical Statistics, S. 4, 8. 4 Die Begriffe Industrielle Revolution oder Industrialisierung bezeichnen hier synonym die erste Industrialisierungsphase. 5 Dies wird bereits im Titel des Lehrbuchs von Mathias, The First Industrial Nation, An Economic History of Britain 1700-1914, deutlich. 6 Schumpeter, Theorie; ders., Business Cycles; Rostow, Process; ders. Stages. 2

14

1. Einleitung

Ansätze zu nennen sind: Erstens die revisionistischen Arbeiten der New Economic History School und zweitens Untersuchungen, die den Modellcharakter der britischen Industriellen Revolution relativieren, wenn nicht aufheben. Der erste Ansatz, die New Economic History School, bleibt insofern logisch auf derselben Ebene wie die traditionellen Erklärungsmuster, als sie einzelne Innovationen oder Sektoren in ihrer historischen Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung abschätzt. Als eigentliches Problem stellt sich ihr der Maßstab oder die Vergleichsebene. Im Kern werden die Kosten alternativer Techniken miteinander verglichen, die für die Erzeugung derselben oder vergleichbarer Produkte entstehen. Die Technik- und Wirtschaftsgeschichte ist vorrangig daran interessiert, die Kosten- und Produktivitätsentwicklung der jeweils konkurrierenden Verfahren zu messen, um eine Veränderung in ihrer Rangfolge aufzuspüren. M i t dieser Methode hat Hyde gearbeitet, als er das Verharren traditioneller Verfahren und das Aufkommen konkurrierender neuer Techniken in der britischen Eisenindustrie untersuchte 7. Dieser Ansatz bietet auch die Möglichkeit, in einem kontrafaktischen Modell die hypothetischen Kosten für eine gesamte Volkswirtschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu berechnen, die entstünden, wenn man dasselbe Produkt mit der zweitbesten Technik herstellte. M i t einer solchen Kosten-Nutzen-Analyse hat v.Tunzelmann vor kurzem versucht, den Beitrag der Boulton & Watt Dampfmaschinen zum britischen Volkseinkommen im Jahre 1800 zu errechnen 8. Neben diesen beiden exemplarisch angeführten Arbeiten zur Wirtschaftsgeschichte Großbritanniens ließen sich weitere Untersuchungen im Rahmen der New Economic History School nennen9. Bei aller kontroversen Diskussion scheint sich doch allmählich ein Konsens darüber zu bilden, daß die wirtschaftliche Entwicklung während der ersten Industrialisierungsphase weitaus weniger von unmittelbar spektakulären Innovationen geprägt war, als dies Schumpeter oder Rostow nahegelegt haben. Zwar ändern die neueren quantitativ-theoretischen Untersuchungen nicht die bisher festgesetzte Rangfolge der wichtigsten Innovationen, stufen aber deren ökonomische Bedeutung gegenüber konkurrierenden Alternativen deutlich zurück. Auch innerhalb der für die erste Industrialisierungsphase führenden

7

Hyde, Technological Change. v. Tunzelmann (Steam Power, S. 286 f.) schlußfolgert: „ . . . allein für Boulton & Watt Maschinen (einschließlich der Nachahmungen) [seien] die Social Savings im Vergleich zu atmosphärischen Dampfmaschinen mit ca. 0,11 Prozent des Volkseinkommens von 1800 zu bewerten,... das Niveau des Volkseinkommens, das am 1. Januar 1801 erreicht wurde, wäre ohne James Watt noch vor dem 1. Februar 1801 erreicht worden." Ginge man von der hypothetischen Alternative aus, bei der man sämtliche Dampfmaschinen (d. h. die vom Typ Watt einschließlich der atmosphärischen) durch andere Formen von Bewegungsenergie (eine Kombination von Wasser- und Windkraft wäre optimal gewesen) ersetzt hätte, so wäre das Niveau des damaligen Volkseinkommens um höchstens zwei Monate verzögert erreicht worden. 9 Vor allem aus den USA stammen weitere Arbeiten. A m bekanntesten sind hier wohl die schon klassischen Studien von Fishlow (American Railroads) und Fogel (Railroads) zum Eisenbahnsektor. 8

1. Einleitung

15

Sektoren gilt, daß einzelne Prozeßinnovationen zunächst selten zu gewaltigen Produktivitätssteigerungen und Kosteneinsparungen führten, ihre spätere ökonomische Bedeutung also nicht sogleich voll zur Geltung kam 1 0 . Der zweite Ansatz, der die herkömmliche Auffassung von der Industrialisierung korrigieren und ergänzen kann, löst sich vom Paradigma der ersten Industrienation. Traditionelle Historiographie begreift die kontinentaleuropäische Industrialisierung im 19. Jahrhundert als Zurückbleiben mit folgendem Aufholen gegenüber Großbritannien. Der Industrialisierungsgrad wird generell an Kriterien gemessen, die als allgemeingültig erscheinen, nämlich dem Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten oder der Produktion der Eisen-, Kohlen- und Baumwollindustrie; doch wird dabei implizit die britische Industrialisierung als Modell benutzt. Denn der Industrialisierungsgrad eines Landes (und seine Rückständigkeit) wird letzten Endes danach bestimmt, wie weit es die britische Technologie und das britische Fabriksystem übernommen hatte. Wohl am klarsten, ohne die theoretische Überhöhung oder Abstraktion wie bei Rostow oder Gerschenkron 11 , nimmt Landes diese Position in „The Unbound Prometheus" ein. Sein drittes Kapitel mit der Überschrift „Kontinentale Nacheiferung" beginnt mit dem „Gemeinplatz", daß die Crystal Palace Weltausstellung von 1851 den Höhepunkt britischer Dominanz als „Werkstatt der Welt" markierte. „Diese kleine Insel mit einer halb so großen Bevölkerung wie Frankreich produzierte etwa zwei Drittel der Kohle, mehr als die Hälfte des Eisens und der Baumwollstoffe auf dieser Welt. . . . Sie war, kurz ausgedrückt, das eigentliche Modell aller industriellen Vorzüge und Leistungen... 1 2 ." O'Brien und Keyder umreißen diese gängige Auffassung von der Industrialisierung klar, um dann eine überzeugende konzeptuelle Alternative zu bieten, die sie im Vergleich Frankreichs zu Großbritannien mit zum Teil überraschenden Resultaten ausführen. Unter dem Gesichtspunkt der Wohlfahrtsentwicklung 10 Dabei muß man das Konzept des ungleichgewichtigen Wachstums mit seinen Führungssektoren keineswegs aufgeben. Spekulativ überhöhte Erwartungen und das Überschreiten von Schwellenwerten können sehr wohl überschießende Reaktionen mit diskontinuierlichen Diffusionsschüben herbeiführen. Rückblickend kann aber nicht aus der weiten Verbreitung einer Technik geschlossen werden, sie sei Alternativen von vornherein und ständig weit überlegen gewesen, denn die ökonomische Überlegenheit setzt sich erst auf lange Sicht durch und drängt konkurrierende Verfahren allmählich ganz oder in Randbereiche ab. Siehe dazu jetzt den Überblick von Rosenberg, Technological Progress, S. 19 ff., 22 f. u. pass. 11 Bei Rostow (Take-Off, S. 36 - 58 u. pass.) entscheidet der Zeitraum des Take-Off und das damit verbundene erstmalige Auftreten von Führungssektoren über den Aufstieg von Ländern in den Kreis der Industrienationen, die ein sich selbst tragendes Wachstum erreicht haben. Gerschenkrons Typologie (Backwardness) ist zwar weniger starr als Rostows Stufenschema, thematisiert er doch gerade, daß keine festgefügte Konstellation der Bedingungen vorliegen müsse, um einen Industrialisierungsprozeß zu ermöglichen — z.B. kann die Funktion freien Unternehmertums (England) von Universalbanken (Deutschland) und dem Staat (Rußland) übernommen werden. Letztlich bestimmt aber der Grad der Rückständigkeit gegenüber dem führenden Industrialisierungsland den Charakter der Industriellen Revolution bei den Spätkömmlingen. 12 Landes, Prometheus, S. 124.

16

1. Einleitung

versuchen sie, den relativen Rückstand Frankreichs gegenüber Großbritannien zu messen und stellen fest, daß der Unterschied im Pro-Kopf-Einkommen unerwartet klein war. Weiterhin erstaunlich ist, daß fast im gesamten 19. Jahrhundert die französischen Industriearbeiter den britischen in ihrer Arbeitsproduktivität überlegen waren, während Großbritannien eine deutlich höhere Arbeitsproduktivität im Agrarsektor vorzuweisen hatte. Auch für den gewerblichen Bereich müssen Großbritannien eindeutige Produktivitätsvorteile bei den unteren Produktionsstufen, d. h. bei der Massenproduktion in Fabriken oder Bergwerken zugestanden werden. Das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser Arbeit wird bereits im Untertitel programmatisch vorweggenommen: „Two Paths to the Twentieth Century". Es gab also im 19. Jahrhundert Industrialisierungsabläufe, die deutlich vom Vorläufer Großbritannien abwichen und somit nicht daran gemessen werden sollten 13 . Die Eisenindustrie, Gegenstand der hier vorgelegten Arbeit, war einer der Schlüsselsektoren für die erste Industrialisierungsphase sowohl in Großbritannien als auch in Belgien, Frankreich und in den deutschen Staaten. Wie zahlreiche andere Beobachter des Industrialisierungsprozesses stellte Beck am Ende des vorigen Jahrhunderts fest, „ . . . daß die Fortschritte der Eisenbereitung . . . mit den Fortschritten der modernen Kultur so innig verknüpft sind, daß der Eisenverbrauch im Jahre auf den Kopf der Bevölkerung angeschlagen, den besten Maßstab für die Industrie, den Wohlstand und die Macht der Völker gibt 1 4 ." Fortschritte in der Eisenindustrie wurden also geradezu als Indikator oder auch Operationalisierung wirtschaftlicher und selbst zivilisatorischer Entwicklungen betrachtet. Stark übertreibend sah Sombart wegen der „Holzbremse", der Erschöpfung der Zentralressource Holz, im 18. Jahrhundert gar das Ende der europäischen Kultur und des Frühkapitalismus nahen. Die Lösung boten die Steinkohle und jenes Eisen, das statt mit Holzkohle mit Steinkohle zu erzeugen war 1 5 . Nun dürfte es unter Industrialisierungshistori13 Eine ausführliche Diskussion der „Historiography of Retardation", konkretisiert am Beispiel Frankreichs, präsentieren O'Brien/Key der, Economic Growth. Bei diesem kompakten Buch lohnt es kaum auf einzelne Seiten zu verweisen, in den Teilen 2 und 3 werden die wichtigsten Resultate präsentiert, S. 57-179. Kritik an den Ergebnissen wie den Methoden dieses Buches äußert Kindleberger in seiner Rezension in: Economic History Review, 32, 1979, S. 295 f. Hentschel (Produktion) hat einen kritischen Rezensionsaufsatz mit zahlreichen eigenen Berechnungen vorgelegt. Unter Anwendung von Gerschenkrons Typologie hat Roehl (French Industrialization) im Umkehrschluß schon wichtige neue Erkenntnisse gewonnen, die Zweifel daran begründen, daß England eine so klare Führung im Industrialisierungsprozeß besessen habe. Originell ist Crafts' durch empirisches Wissen abgesichertes Gedankenexperiment: Mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen versucht er die Frage zu beantworten, warum sich die erste Industrielle Revolution in England früher als in Frankreich vollzog. Er lehnt es ab, die englische Industrielle Revolution als vorwiegend zufälliges Ereignis zu klassifizieren; doch glaubt er, daß auch Frankreich diese Position hätte einnehmen können, vgl. Crafts, Industrial Revolution. Kritisch dazu, Rostow, Random Walk, in: Economic History Review, 31, 1978, S. 610-612, und die Antwort von Crafts, ebd., S. 613 f. 14 15

Beck, Geschichte 1801-1860, S.3. Sombart, Kapitalismus Bd. 2, S. 1137 ff.

1. Einleitung

kern unumstritten sein, daß sich in dem Massenprodukt Steinkohleneisen wesentliche Elemente der Industriellen Revolution manifestieren: in seiner Herstellung der Übergang von vegetabilischen (Holzkohle) zu mineralischen (Steinkohle) Brennstoffen, in seiner Verwendung der Übergang vom Holz zum Eisen als Baumaterial und als Werkstoff 16 . Die Eisenindustrie trug selbst zur Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses bei, als sie zu sinkenden Preisen 17 immer größere Mengen Eisen erzeugte. Vor allem die primäre Eisenindustrie schuf mit ihrem Übergang zu den Steinkohlentechniken dafür die Voraussetzungen. Sie umfaßt zwei Produktionsstufen: Als erstes wird Roheisen produziert, das man aus Eisenerz im Hochofen erschmilzt. Die beiden wichtigsten alternativen Brennmaterialien dazu sind Holzkohle oder Koks. Als zweites wird schmiedbares Eisen 18 hergestellt, indem man Roheisen unter Verwendung von Holzkohle im Herdfeuer oder von Steinkohle im Puddelofen frischt. Beim Frischen reduziert sich der KohlenstofTgehalt des Roheisens so weit, daß sich das Eisen nun in warmem oder kaltem Zustand mit dem Hammer oder der Walzanlage zu Stabeisen verformen läßt. Diese einfache Beschreibung soll durch folgende schematische Darstellung ergänzt werden: Primäre Eisenindustrie Produktionsstufe 1. Stufe

2. Stufe

traditionell

Verfahren modern

Produkt

Schmelzen im Hochofen mit Holzkohle mit Koks

Roheisen

Frischen im Herdfeuer im Puddelofen mit Holzkohle mit Steinkohle

schmiedbares Eisen (Stahl)

mit dem Hammer

Formen mit der Walzanlage

Stabeisen Eisenbahnschienen

In den vier Jahrzehnten nach 1820 vollzog sich in den Eisenindustrien Belgiens, Frankreichs und Deutschlands der grundlegende Wandel, den die 16 Eisen fand eine derart universale Verwendung, daß Spiethoff (Wechsellagen, S. 38 f. u. pass.) sogar als Konjunkturindikator für den Bereich der Investitionsgüter den Verbrauch an Roheisen nahm. 17 Daß allein die Eisenmenge ein ausschlaggebender Kostenfaktor war, zeigen Hoffmann et al. (Wachstum, S. 573) auf: Selbst bei so komplizierten Produkten wie Maschinen war die Kalkulationsgrundlage für Preise in der Regel „pro Pfund Gußeisen" und „pro Pfund Schmiedeeisen". 18 Seit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nennt man schmiedbares Eisen Stahl.

2 Fremdling

1. Einleitung

18

britische Eisenindustrie bereits im 18. Jahrhundert durchgemacht hatte, nämlich der Ersatz von Holzkohle durch Steinkohle als Brennstoff. Mit dem neuen Brennmaterial verbreiteten sich die neuen Verfahren des Puddelns und Walzens sowie des Koksschmelzens. Hauptaufgabe dieser Arbeit ist nun, den räumlichen und zeitlichen Ablauf jener tiefgreifenden Umgestaltung von den Holzkohlenzu den Steinkohlentechniken in Belgien, Frankreich und Deutschland zu beschreiben und zu erklären. Nach der Auffassung von Landes müßte sie sich darin erschöpfen können, die Hemmnisse vorwiegend im außerökonomischen Bereich aufzuspüren, die sich der Verbreitung der neuen Verfahren entgegenstellten. Nachdem er die technologischen Niveauunterschiede zwischen Großbritannien und dem kontinentalen Europa nach dem Ende der napoleonischen Kriege abgeschätzt hatte, erwartete Landes nämlich eigentlich, daß angesichts der enormen ökonomischen Überlegenheit dieser [britischen] Innovationen . . . alle anderen [Länder] automatisch gefolgt wären 1 9 ." Nun können technisch funktionierende Arbeitsweisen aber nur in einem bestimmten ökonomischen Umfeld auch wirtschaftlich erfolgreich sein. Das damalige wirtschaftliche Entwicklungsniveau Großbritanniens stellt Landes aber gerade nicht auf eine Stufe mit dem Belgiens, Frankreichs und Deutschlands, so daß die Erwartung einer automatischen Angleichung auf der Verwechslung von technischer mit ökonomischer Effizienz beruht 20 . Tatsächlich ging die kontinentaleuropäische Eisenindustrie durchaus auch eigene Wege, auf denen sich lange Zeit wirtschaftlich lebensfähige Alternativen zur britischen Großtechnologie hielten. Nur wenn man diese Seitenwege der traditionellen und teilmodernisierten Eisenindustrie auf dem Kontinent mitverfolgt, entdeckt man Gabelungen, durch die sich selbst die modernen reinen Steinkohlentechniken ergänzen und verbessern ließen. Auch wo es sich wirklich um die einlinige Verbreitung einer Innovation handelt, werden bei der Adaptation an eine neue ökonomische Umwelt oft zahlreiche Verbesserungen an dem ursprünglichen Verfahren angebracht, die es weit über das technologische Ausgangsniveau heben können 21 . So verbietet es sich, einzig und allein von einem Aufholprozeß („catching-up process") zu sprechen 22. Eine solche statische Sichtweise verstellt den Blick dafür, daß „Spätkömmlinge" langfristig und 19

Landes, Prometheus, S. 126. Auf den in der wirtschafts- und technikgeschichtlichen Literatur sehr häufigen Trugschluß, technische Verbesserungen mit wirtschaftlicher Überlegenheit gleichzusetzen, weist auch Rosenberg hin, Perspectives, insbesondere Kapitel 11 „Factors affecting the diffusion of technology", S. 189-210. 21 Vgl. Cameron, France, S. 41 ff.; Nabseth/Ray, Technologien, S. 4 ff.; Rosenberg, Perspectives, S. 187 ff. 22 Als ich vor einigen Jahren mit diesem Forschungsprojekt begann, ging ich vom traditionellen einlinigen Diffusionsmodell aus und glaubte also, lediglich Aufholprozessen nachgehen zu müssen. Diese Vorstellung stützt sich ja nicht nur auf die zahlreichen retrospektiven wirtschaftshistorischen Darstellungen, sondern auch auf viele zeitgenössische Abhandlungen. 20

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früh angelegte Keime für eine spätere Überlegenheit in sich tragen und entwickeln können. Die Erfahrung, daß technische Errungenschaften heute wie damals in ihrer ökonomischen Bedeutung leicht überschätzt werden, erzwingt einen theoretischen und methodischen Zugriff, der die Betrachtung der technischen von der wirtschaftlichen Seite nicht trennt. U m die Modernisierungsprozesse in der primären Eisenindustrie zu beschreiben und zu analysieren, werden hier Preisund Kostenniveaus verschiedener Länder und Regionen im Zeitablauf verglichen. Setzt man eine Marktwirtschaft mit ausreichendem Wettbewerb voraus, so spiegeln Kosten und Preise die Faktorausstattung eines Gebietes sowie sein Produktivitätsniveau wider. Auf diesem Maßstab zeichnen sich technische Errungenschaften nur ab, wenn sie ökonomisch bedeutsam wurden, also die Kosten minderten. So kann die mögliche langfristige ökonomische Relevanz einer Innovation nicht mit kostensenkenden Wirkungen zur Zeit, als die Neuerung auftauchte, verwechselt werden. Eine solche Bewertung von Innovationen erscheint vom Standpunkt der ökonomischen Theorie sehr einfach. Jedoch taucht hier ein genuin historiographisches Problem auf, nämlich zuverlässige und repräsentative Quellen aufzufinden. Die größte und schwierigste Aufgabe bei der Quellenbeschaffung bestand denn auch darin, Preis- und Kostendaten zu mobilisieren, die dem theoretischen Ansatz genügten. Er setzt voraus, daß Preise sowohl Ergebnis als auch Grund unternehmerischer Wahlhandlungen sind 23 . Dabei wird allerdings kein rigides neoklassisches Modell unterstellt, in dem der Mensch sich lediglich zum Exekutor ökonomischer Gesetze reduziert. Vielmehr genügt es, wenn die Akteure innerhalb eines sehr flexiblen Rahmens auf Preissignale reagieren. Die Funktion von Märkten, in denen Preise als Informations- und Koordinationsmechanismus wirken, bleibt eben auch dann erhalten, wenn Unternehmer nicht zielstrebig nur als Profitmaximierer agieren, sondern sich einfach routinemäßig verhalten. Daß ein solches Verhaltensmuster keineswegs innovationsfeindlich wirkt, haben Evolutionstheorien über das Wirtschaftswachstum herausgestellt 24. Gegen eine Betrachtungsweise, die auf Preise und Kosten abstellt, wird nicht selten vordergründig eingewandt, außerökonomische Faktoren kämen damit nicht genügend zur Geltung. Gemeint ist wohl, daß subjektive Einstellungen von Nachfragern oder generell qualitative Faktoren nicht ausreichend berücksichtigt seien. Nun reflektieren in einem System mit freier Preisbildung Preise und Kosten solche Faktoren sehr wohl. So besaß Holzkohleneisen lange Zeit einen Qualitätsbonus, der an bestimmten technischen Merkmalen festzumachen war und natürlich mit einem höheren Preis gegenüber Steinkohleneisen honoriert 23 Technische Konstanten und natürliche Gegebenheiten können auch kurzfristig den Wahlhandlungsspielraum allenfalls begrenzen, ihn aber nicht aufheben. Auf längere Sicht erweitert sich dieser Spielraum ohnehin beträchtlich. 24 Vgl. Nelson/Winter, Theories, S. 886-905. Siehe auch Röpke, Strategie, insbesondere S. 351-376.

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wurde. Doch konnte auch dann noch ein höherer Preis für dieses Eisen erzielt werden, als die objektive Grundlage dafür schon ganz oder doch teilweise entzogen war, die Verbraucher aber noch an die bessere Qualität glaubten. Auch schlugen sich qualitativ ungünstige Inputfaktoren, wie etwa schwefelreiche Kohle und phosphorreiches Eisenerz, in den Kosten und Preisen nieder. Technisch hätte man aus diesen Materialien durchaus die besten Eisenqualitäten herstellen können, doch wären dazu mehrere zusätzliche Arbeitsvorgänge erforderlich gewesen, die höhere Kosten und nicht mehr konkurrenzfähige Preise verursacht hätten 25 . Angaben über Preise und Kosten allein reichen aber keineswegs hin, um den räumlichen und zeitlichen Verlauf bei der Verbreitung wichtiger Innovationen vollständig nachzuvollziehen. So wurde weiteres quantitatives und qualitatives Material herangezogen. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend: Erstens gibt es für den Betrachtungszeitraum kaum durchgängige statistische Daten. Zweitens kann quantitatives Material nicht ohne genaue Kenntnis des sozioökonomischen Umfeldes interpretiert werden. Deshalb waren neben den Zahlen über Preise, Kosten, Produktion und Außenhandel zur Ergänzung und als Interpretationshilfe Geschäftsbriefe, Vorstandsprotokolle, regierungsinterne Gutachten und Berichte, Enqueten sowie die umfangreiche Literatur zeitgenössischer Beobachter als Quelle auszuwerten. Das vielschichtige Material spiegelt den Wandel der westeuropäischen Eisenindustrie auf vier verschiedenen Ebenen wider: auf der internationalen, der staatlichen, der regionalen und der betrieblichen Ebene. Für die internationale Ebene, die damalige Weltwirtschaft, wurde der Modernisierungsprozeß zunächst aus der Perspektive des weltweit führenden Landes betrachtet. In der sich ändernden Struktur und Richtung britischer Eisenexporte zeigt sich der Wandel der kontinentaleuropäischen Eisenindustrie geradezu spiegelbildlich. M i t dem Kauf der neuen britischen Produkte übernahmen die Kontinentaleuropäer nämlich auch die neue Technik, die darin verkörpert war. So zeigen die Außenhandelsströme, denen diese Arbeit nachgeht, einen wichtigen Kanal zur Verbreitung der neuen Eisentechniken auf. Die nationenübergreifende Perspektive eröffnete sich auch dadurch, daß Frankreich und Belgien schon sehr früh hervorragende Außenhandelsstatistiken führten, die eine recht genaue Beobachtung der Außenhandelsströme, nach Ländern gegliedert, erlaubten. Derartige Statistiken hat diese Arbeit detailliert erfaßt, weil sich damit der geeignete Markttest bot, die Verschiebung der internationalen Wettbewerbsbedingungen und damit das Vordringen der modernen Produktionsverfahren festzustellen. 25 Es gab zahlreiche weitere Einflußfaktoren für die Preise und Kosten. So machten sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etliche hier nicht durchgehend systematisch, sondern in Fallstudien untersuchte staatliche Maßnahmen zur Gewerbeförderung geltend.

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Die Analyse einzelner Länder bietet sich ohnehin an, weil hierzu Statistiken am leichtesten zugänglich sind. Sinnvoll ist sie, weil staatliches Handeln Bedingungen setzte, die den Entwicklungsablauf der Eisenindustrie erheblich beeinflußten. Hier ist vor allem die Zollpolitik zu nennen, aber auch die Eisenbahnpolitik, durch die sich die Nachfrage nach Eisenprodukten maßgeblich verschob. Da sich die Modernisierung räumlich stark differenziert vollzog, verdecken aggregierte Daten auf staatlicher Ebene das Nebeneinander und die zeitliche Abfolge von Industrialisierung und Entindustrialisierung im selben Land 2 6 . Deshalb wurden einzelne Regionen aus der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung losgelöst betrachtet. In exemplarischen Fällen sind sie so eingehend beschrieben, daß sie als Fallstudien aus den zugehörigen Länderkapiteln herausgenommen wurden. Auf der betrieblichen Ebene schließlich sind mit einzelnen Unternehmen die Einheiten erfaßt, die tatsächlich über die Einführung neuer Techniken entschieden. Auch hier konnte nur exemplarisch gearbeitet werden. Die Ergebnisse dieser Studien erscheinen entweder gesondert als Fallstudien, oder sie sind in kurzer Form zur Stützung der Argumentation in die Länderkapitel eingearbeitet. Die mit den Fallstudien bedingte exemplarische Darstellung sollte allerdings nicht den Blick für ihren analytischen Stellenwert innerhalb der gesamten Arbeit verstellen. Exemplarisch wurde in den beiden repräsentativen Fallstudien über eine herkömmliche eisenschaffende Region in Frankreich und über ein modernes Eisenwerk dort konkret und im Detail aufgezeigt, warum die neuen Techniken nicht automatisch übernommen werden konnten, wie es Landes erwartet hätte. Die britischen Herstellungsweisen funktionierten technisch natürlich auch in Frankreich, wirtschaftlich aber anfanglich kaum (Beispiel: Decazeville). Traditionelle und teilmodernisierte Verfahren hingegen funktionierten technisch und noch lange auch wirtschaftlich (Beispiel: Haute-Marne). Von vornherein auch ökonomisch erfolgreich aber war die neue Technik da, wo sie in Produkten verkörpert aus Großbritannien kam. Hier aber blockten die prohibitiven Zölle Frankreichs weitere Erfolge schnell ab. Bis auf das Schlußkapitel und den längeren Abschnitt über den Puddler gliedert sich diese Arbeit nach einzelnen Ländern; allerdings mit einer durchgehenden Zweiteilung in die Zeit vor und nach dem Eisenbahnbau etwa um 1835. Diese zeitliche Aufteilung erleichtert den Ländervergleich, ergibt sich aber vor allem aus der Tatsache, daß der Eisenbahnbau auf dem Kontinent die Zäsur bildet zwischen der Anbahnung und der Durchsetzung der modernen Eisentechniken. Nun bedeutet die Gliederung nach Ländern nicht, daß alle Ergebnisse ausschließlich das jeweilige Land betreffen; vielmehr wurden einige Problemkreise nur am Beispiel eines Landes einmal erörtert, tauchten aber durchaus auch bei anderen Ländern auf. Das exemplarische Vorgehen, bei dem sich 26 Auf die regionale Dimension der europäischen Industrialisierung hat vor allem Pollard (Peaceful Conquest) hingewiesen.

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verschiedenartige Schwerpunkte bilden, hat zwei Gründe: Rein zeitlich gesehen, konnten aufwendige Fallstudien natürlich nur begrenzt durchgeführt werden. Vor allem aber gibt es in den Ländern jeweils unterschiedliche Traditionen in der statistischen Erfassung des Sektors wie in der Wirtschaftshistoriographie. Bei ähnlichen Problemen und Problemlösungen in der Eisenindustrie verschiedener Länder bietet sich einer international vergleichenden Forschung die Möglichkeit, mit bestimmten Zugriffen, die nationale Bestände an Quellen und Sekundärliteratur nahelegen, analog an die Probleme anderer Länder heranzugehen, in denen die Quellen entsprechende Fragen und Antworten vielleicht verstellen. So können Informationen über eine französische eisenschaffende Region oder über ein belgisches Eisenwerk Erkenntnisse über die deutsche Eisenindustrie vermitteln, die man aus hiesigem Datenmaterial überhaupt nicht hätte gewinnen können. In einem abschließenden Versuch, den gegenwärtigen Forschungsstand auf diesem Gebiet zu bestimmen, ist zunächst festzustellen, daß es keine Arbeit gibt, die in systematischer Weise den britischen Eisenexport von 1820 bis 1870 analysiert 27 . Bezeichnenderweise sind es klassische Arbeiten wie die von Scrivenor 28 , die als Nachdrucke diese Markt- und Forschungslücke zu füllen haben. Auch die historische Wirtschaftsstatistik von Mitchell/Deane 29 arbeitet auf ihrer hohen Aggregationsstufe den entscheidenden Strukturwandel britischer Eisenexporte in diesem Zeitraum nicht klar heraus. Eine Statistik des britischen Eisenexports, aufgegliedert nach Produktarten und Empfangsländern, fehlt also. Über die Modernisierung der kontinentaleuropäischen Eisenindustrie in Belgien, Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert gibt es keine neueren Untersuchungen, die auf eine vergleichende Analyse abzielen. Da sich wichtige Regionen, die in dieser Arbeit behandelt werden, ungeachtet (späterer) Grenzziehungen in vieler Hinsicht als zusammengehöriges Wirtschaftsgebiet verstanden — so das Rheinland, Belgien und teilweise auch Nordfrankreich —, müßte die Wirtschaftshistoriographie hier nationenübergreifend arbeiten. Die herausragende Arbeit von Landes bietet im Rahmen einer Industriegeschichte Westeuropas zwar sehr viel qualitatives Material zur Entwicklung der Eisenindustrie in vergleichender Perspektive 30; jedoch scheinen mir Landes' Ausführungen durch eine quantitative Analyse dringend ergänzungsbedürftig 31. Eine 27

Auch Hyde (Technological Change) geht darauf nur mit wenigen Absätzen ein. Scrivenor, History 1854. 29 Mitchell/Deane, Abstract, S. 146f. 30 Landes, Prometheus, S. 124-154, 174-197, 203f., 215-219. 31 Wie hilflos Landes ohne ausreichendes quantitatives Material seinem einlinigen Diffusionsmodell ausgeliefert ist, zeigt folgendes wirres Zitat: „The 1850's and 1860's then were the years when western Europe caught up with Britain. Not in a quantitative sense; that was to come later, and then only in certain areas. Nor even qualitatively, whether in scale and efficiency of production of given industries, or in degree of industrialization of the economy as a whole." Landes, Prometheus, S. 229. 28

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Fundgrube bildet das umfassende Werk von Lévy-Leboyer, das sehr viele Primärquellen über die Entwicklung der Eisenindustrie in Großbritannien, Frankreich und Belgien verarbeitet hat. Deutschland bleibt in seiner Arbeit nahezu ausgeklammert. Leider erscheinen die zahllosen qualitativen und quantitativen Fakten zur Eisenindustrie meistens unverbunden ohne klare Auswertung im Hinblick auf eine gezielte Fragestellung 32 . Bei den älteren vergleichenden Studien ist das mehrbändige Werk von Beck unter technikgeschichtlichen Aspekten unentbehrlich. Es enthält allerdings, wenn überhaupt, nur eine oberflächliche ökonomische Analyse 33 . Auch auf nationaler Ebene sind neuere Studien, die den Zeitraum von den 1820er zu den 1860er Jahren abdecken, rar. Eine Ausnahme bildet Frankreich mit den zahlreichen Arbeiten von Gille 3 4 und der von ihm betreuten, inzwischen nicht mehr erscheinenden Zeitschrift „Revue d'histoire de la sidérurgie". Aus dieser Sekundärliteratur konnten sehr viele qualitative Informationen verarbeitet werden. Vom Titel her scheint sich das Buch von Vial 3 5 genau auf die Thematik und den hier gesetzten zeitlichen Rahmen für Frankreich zu beziehen. Doch bleiben sowohl die deskriptive wie die analytische Darstellung hinter der ausführlichen Kommentierung französischen Archivmaterials zurück. Für Belgien gibt es als wichtige Arbeit, die quantitative Informationen mit ökonomischer Argumentation verbindet, das Werk von Reuss et al 3 6 . Da ihr Interesse aber vorrangig der langfristigen Entwicklung über mehr als ein Jahrhundert gilt, ist der hier gewählte Betrachtungszeitraum nicht eingehend genug behandelt. Das von Lebrun et al. kürzlich veröffentlichte Werk zur belgischen Industriellen Revolution enthält erstaunlich wenig quantitatives Material und bleibt trotz seines ausgeprägt theoretisch orientierten Anspruchs, der in einer ausführlichen Einleitung formuliert ist, weitgehend auf der deskriptiven Ebene traditioneller Wirtschaftshistoriographie 37 . Zu Deutschland gibt es seit der Arbeit von Marchand 38 keine neuere Abhandlung, die den gesamten Bereich der Eisenindustrie von den 1820er Jahren bis in die 1860er Jahre hinein abdeckt 39 . Sicherlich leisten etwa die Arbeiten von Wagenblaß 40 und Spree 41 einen bedeutenden Beitrag zu Teilaspekten der Modernisierung der 32

Lévy-Leboyer, Banques Européenes. Beck, Geschichte des Eisens, 3.-5. Abteilung. 34 Vgl. hierzu das Literaturverzeichnis. Zur Zeit unmittelbar vor diesem Zeitraum, die Revolution und das erste Kaiserreich, vgl. Woronoff, L'industrie. 35 Vial, Industrialisation. 36 Reuss et al., Progrès. 37 Lebrun et al., Essai. 38 Marchand, Säkularstatistik. Die Arbeit bietet im wesentlichen eine statistische Erfassung des Sektors in tabellarischer Form, aber kaum eine Analyse. 39 Vgl. auch den gerade erschienenen und deshalb nicht mehr eingearbeiteten Aufsatz von Eric Dorn Brose über „Competitiveness and Obsolescence in the German Charcoal Iron Industry", der genau in den von mir dargelegten Argumentationsrahmen paßt. 40 Wagenblaß, Eisenbahnbau. 33

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deutschen Eisenindustrie. Wichtig ist auch Plumpes Dissertation 42 , denn die kleine württembergische Eisenindustrie ist beispielhaft für die Innovationsfähigkeit und Produktivitätssteigerung im Bereich der herkömmlichen Eisenindustrie, die mit Holzkohle arbeitete. Doch ersetzen diese Arbeiten nicht eine Monographie zur Eisenindustrie für die Jahre vor 1870. Für die Zeit danach liegen jetzt die Bücher von Krengel 43 und Feldenkirchen 44 vor, und zur statistischen Erfassung der Zeit von 1850 an steht das umfangreiche Quellenwerk von Jersch-Wenzel und Krengel nun zur Verfügung 45 . Diese Bemerkungen zum Stand der Forschung sollten deutlich machen, daß in all den kontinentaleuropäischen Ländern eine Analyse der Eisenindustrie auf quantitativer Basis von den 1820er Jahren bis in die 1860er Jahre hinein entweder fehlt oder nur in Teilbereichen geleistet worden ist. Eine Untersuchung der außenwirtschaftlichen Verflechtung gibt es für diese Länder und auch für Großbritannien kaum. M i t der hier vorgelegten Arbeit möchte ich einen Teil der aufgezeigten Forschungslücken schließen und zugleich vom Beispiel der Eisenindustrie ausgehend zur Klärung offener Fragen zum Technologietransfer beitragen.

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Spree, Wachstumszyklen. Plumpe, Württembergische Eisenindustrie. 43 Krengel, Deutsche Roheisenindustrie. 44 Feldenkirchen, Eisen- und Stahlindustrie. 45 Jersch-Wenzel/Krengel, Produktion. Inzwischen liegt auch die Dissertation von Martin (Industrialisierung) vor. 42

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert Beschreibt man die erste Industrielle Revolution als einen von Sektoren getragenen Wachstumsprozeß, so nimmt darin die Baumwollindustrie in der Regel den ersten Platz als Führungssektor ein. Neben der Dampfkraft wird an zweiter Stelle allerdings die Eisenindustrie genannt 46 . Begreift man aber die Industrielle Revolution nicht als die relativ kurze Phase etwa im Sinne von Rostows Take-Off, dann dürfte den Innovationen im Sektor Eisenindustrie eine größere Bedeutung für das Wirtschaftswachstum zukommen als denen in der Baumwollindustrie: „Wenn wir davon ausgehen, daß sich die Industrielle Revolution über eine längere und weniger scharf begrenzte Spanne — etwa in der Zeit zwischen 1770 und 1850 — entwickelt hat und wenn wir die Bedeutung eines Industriesektors für diesen Prozeß danach bemessen, welches Gewicht und welcher Rang ihm in Hinblick auf seine Rückwirkungen auf die übrige Wirtschaft zukommt, dann kann die Eisenindustrie für sich in Anspruch nehmen, die Schlüsselrolle gespielt zu haben. Hinsichtlich ihrer Vorwärts- und Rückwärtskopplungen für die übrige Wirtschaft, d. h. ihrer Nachfrage nach Kohle und Eisen sowie nach einem umfassenden Transport- und Kapitalangebot einerseits und hinsichtlich der Kostenminderungen sowohl bei einer großen Zahl von gewerblichen Produkten als auch im Bau- und Transportsektor andererseits, verfügte die Eisenindustrie über eine mächtigere Durchschlagskraft im Prozeß der britischen Industrialisierung als die Baumwollindustrie 47 ." Die grundlegende Umgestaltung und Modernisierung der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert beruht im wesentlichen auf einer Kette von Innovationen beim Gebrauch des Brennmaterials. Wurde zu Beginn des Jahrhunderts in allen Prozessen der primären Eisenindustrie ausschließlich Holzkohle eingesetzt, so war um 1800 Steinkohle zur wichtigsten Energiequelle geworden 48 . Bei der Herstellung und Verarbeitung von Eisen müssen mehrere Produktionsstufen unterschieden werden. Hier interessieren vor allem die ersten beiden, d.h. die primäre Eisenproduktion 49 . Zunächst wird das Eisen aus dem Erz im Hochofen geschmolzen. Das Produkt auf dieser Stufe ist Roh- oder 46

Lilley, Technological Progress, S. 197. Deane, Industrial Revolution, S. 102f. 48 Hyde, Technological Change, S. 22. 49 Zur Begriffsbestimmung der verschiedenen Erzeugnisse vgl. die klare, knappe Darstellung bei.Marchand, Säkularstatistik, S. 2-5. Zur Entwicklung in Großbritannien siehe z.B. die Übersicht bei Ashton, Industrial Revolution, S. 30-34. 47

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2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

Gußeisen, das wegen seines hohen Kohlenstoffgehaltes nicht geschmiedet, gewalzt, gehämmert oder gepreßt werden kann, es ist mechanisch also weder in kaltem noch in warmem Zustand zu verformen. Teile dieses Roheisens wurden auch schon direkt aus dem Hochofen in Formen gegossen, und solche Gußwaren erster Schmelzung stellten bereits Endprodukte der Eisenindustrie dar. Der größte Teil des Hochofenproduktes wurde allerdings weiterverarbeitet: Entweder schmolz man es in kleineren Öfen erneut, um es zu Gußwaren zweiter Schmelzung zu gießen, oder man bearbeitete es in Frischfeuern und Hämmern zum Zwischenprodukt Stabeisen, das wegen seines geringen Kohlenstoffgehaltes schmiedbar war. Schneidwerke (slitting mills) z.B. produzierten daraus Nageleisen (nail rods), das wiederum an Spezialwerke in Mittelengland zur Erzeugung von Nägeln geliefert wurde. Die harten, aber brüchigen Gußeisenwaren wurden für private Haushalte (z. B. als Töpfe und Pfannen) und für das Militär (als Geschütze) hergestellt; das weiche, aber zähe Schmiedeeisen diente als Ausgangsmaterial für Hufeisen, Nägel, Hacken und Spaten, Schlösser und Riegel, Draht und alle Arten von Werkzeugen 50. Weil das Angebot von Holzkohle an einem Ort begrenzt war, bildeten sich im allgemeinen an verschiedenen Orten Hochöfen, Schmiede- und Hammerwerke sowie davon getrennt Schneide- und Walzwerke. Traditionelle Darstellungen des technischen Wandels in der britischen Eisenindustrie stellen in der Regel zwei Innovationen als entscheidend heraus: erstens die Erfindung von Abraham Darby aus Coalbrookdale, dem es 1709 als erstem gelang, brauchbares Roheisen im Ä^fcshochofen zu erzeugen, und zweitens Henry Corts Puddel- und Walzprozeß, der es mit den Patenten von 1783/84 schaffte, Schmiedeeisen unabhängig von dem Brennmaterial Holzkohle zu produzieren. Diese beiden Innovationen werden mit der These vom Niedergang der traditionellen Eisenindustrie auf Holzkohlenbasis seit dem späten 17. Jahrhundert verbunden 51 . Aus der Retrospektive ist es sicherlich nicht falsch, in diesen Innovationen Wendepunkte zu sehen, jedoch vermochte erst eine Kette von Innovationen in einem eher kontinuierlichen Prozeß die Eisenindustrie grundlegend umzugestalten, wobei eine Erfindung zum Zeitpunkt ihrer Einführung nur bescheidene Kostenvorteile gegenüber alternativen Verfahren bot. Die sehr lang anhaltende Koexistenz (aus der Perspektive späterer Jahrhunderte) letztlich „überholter" mit „modernen" Verfahren widerlegt die These vom geradlinigen Niedergang und unterstreicht vielmehr die Kontinuität des Modernisierungsprozesses. Eine Fixierung auf die technische Innovation verstellt zudem den Blick auf die Nachfrageseite; konkret geht es nicht nur um die Zunahme dieser Nachfrage im Rahmen der Industrialisierung

50 Im 17. und 18. Jahrhundert wurde möglicherweise ein Drittel des verbrauchten Stabeisens zu Nägeln verarbeitet, Flinn, Growth, S. 147. 51 Vgl. die Standarddarstellungen bei Ashton, Iron and Steel; Schubert, British Iron, S. 331-335; Birch, Economic History, S. 3-67; Deane, Industrial Revolution, S. 100-114.

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

Großbritanniens, sondern auch um die Marktchancen, die Importe aus Schweden und Rußland den inländischen Produzenten aufzeigten. Die folgenden Ausführungen sollen die Modernisierung der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert knapp darstellen. Bevor die technologischen Veränderungen, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer schneller verbreiteten, die Eisenproduktion umgestalteten, kann man keineswegs vom eindeutigen Niedergang der „veralteten" Eisenindustrie auf Holzkohlenbasis sprechen, wie es ältere Studien nahelegen52. Wachsende Knappheit von Holzkohle soll danach seit dem Bürgerkrieg (1660) den Verfall dieser Industrie verursacht haben. Auch wenn zwischen 1660 und 1720 die Anzahl der Hochöfen möglicherweise leicht abgenommen hat — es waren dies vor allem Öfen mit unterdurchschnittlicher Kapazität im Weald (Sussex, Kent, Surrey and Hampshire) —, ließen es die neuen Holzkohlenhochöfen in waldreichen Gebieten allenfalls zu einer Stagnation, eher jedoch zu einem leichten Anstieg der Gesamtproduktion kommen 53 . Kann demnach bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nicht von einem absoluten Niedergang gesprochen werden, so wurde doch offenkundig, daß die inländische Eisenproduktion weit hinter der vorhandenen Nachfrage zurückblieb und mit der herrschenden Produktionstechnologie dem Nachfragewachstum keinesfalls beikommen konnte. Zu dieser Zeit mußte Großbritannien schon mehr Stabeisen importieren, vor allem aus Schweden, als es selbst produzierte. Die britische Stabeisenproduktion dürfte seit dem frühen 17. Jahrhundert stagniert haben 54 . Auf der Roheisenstufe konnte es sich mit seinen Holzkohlenhochöfen allerdings noch weitgehend selbst versorgen. Bei der „Mannigfaltigkeit in Form und Größe, [welche] die Hochöfen im Laufe des 18. Jahrhunderts hatten" 5 5 , können hier keine genauen technischen Angaben gemacht werden, die sich auf alle Holzkohlenhochöfen bezögen56. Der zylindrische Schachtofen aus feuerfesten Steinen, mit Lehm verschmiert, war im mittleren Teil erweitert. Ihn umgab ein wärmedämmender eckiger Mantel, der entweder mit Steinen massiv gebaut war oder aus einer Holzumkleidung bestand, die man mit Steinen und Tonmörtel auffüllte und häufig noch mit eisernen Ankern verstärkte. Zur Kühlung und zum Antrieb des Gebläses brauchte man Wasser. So standen die Holzkohlenhochöfen zumeist an Wasser52 Vgl. dazu die revisionistischen Ansätze bei Flinn (Growth, S. 144-153) und Hyde, Technological Change, S. 20 - 22. Als prominente Vertreter der „Niedergangsthese" führen sie u. a. Ashton (Iron and Steel) und Schubert (British Iron) an. 53 Hyde, Technological Change, S. 21 f. Nach den Daten, die Riden (Output, S. 443) bringt, war das Produktionsniveau im gleichen Zeitraum um mehr als 10 Prozent gestiegen. 54 Hyde, Technological Change, S. 22. 55 Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 743. 56 Vgl. zur Konstruktion europäischer Holzkohlenhochöfen vor allem Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 713 ff. Die einzelnen Angaben hier stützen sich weitgehend auf Becks Beschreibung.

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läufen und oft an einem Abhang, weil man den Hochofen dann ohne Aufzüge, künstliche schiefe Ebenen oder Treppen einfach über eine Gichtbrücke mit den Rohstoffen versorgen konnte. Die gesamte Beschickung aus Holzkohle, Eisenerz und Zuschlägen zur Schlackenbildung (Kalkstein) wurde nämlich schichtweise von oben durch die Gichtöffnung in den Ofen geschüttet. Er mußte stets voll sein. Die Holzkohle diente sowohl als Brennmaterial wie als Reduktionsmittel, um das Erz vom Sauerstoff und unerwünschten Begleitstoffen zu trennen. Während die erhitzte Beschickung tiefer in den Ofenschacht sank, stiegen — im Gegenstromverfahren — von unten heiße Gase auf. Bei immer höheren Temperaturen im unteren Ofenteil verflüssigte sich das Eisen und tropfte mit der Schlacke in den Sammelraum des Untergestells 57 . Das war ein verschieden ausgekleideter Eisenkasten. Sobald er sich mehrmals am Tage gefüllt hatte, stach man das Roheisen ab und ließ es aus dem Hochofen in Sandbetten oder Gußformen abfließen. Die flüssigen Schlacken waren leichter als das Roheisen und konnten über einen Wallstein, der das Roheisen darunter zurückhielt, aus dem Sammelbecken abfließen oder wurden ebenfalls abgestochen. Seine Höchsttemperatur erreichte der Ofen im unteren Teil, im Gestell, weil eine Öffnung für die Windform (oder auch mehrere) die Gebläseluft dort hereinließ. Diese Windzufuhr erhielt die Verbrennung im Hochofen aufrecht. Seit 1828 konnte man Brennstoff sparen, indem man erhitzten Wind in den Hochofen blies. Mit den Gichtgasen ließ sich diese Gebläseluft höchst ökonomisch erwärmen. Seither schloß man die Gichtöffnung der Hochöfen teilweise trichterförmig, um die Gichtgase abziehen und weiter verwenden zu können. Der Schmelzvorgang vollzog sich je nach der Beschaffenheit des Erzes und der darauf abgestimmten restlichen Beschickung ein wenig anders und machte Abwandlungen in der Schachtform nötig. Zumeist mit rundem Querschnitt, verbreiterte sie sich über dem Gestell allmählich, verjüngte sich aber nach oben zur Gichtöffnung hin wieder. Die optimale Kurve kannte man nicht, sondern richtete sich vielfach nach ausgeblasenen ehemals guten Hochöfen, die ihre Form im Innern während der Schmelzungen nämlich durch Abbrennen der Steine an bestimmten Stellen geändert hatten 58 . M i t dem neuen Brennmaterial und Reduktionsmittel Koks brauchte man die Konstruktion der Hochöfen zwar nicht grundlegend zu ändern und konnte sogar in Holzkohlenhochöfen mit Koks experimentieren; für einen optimalen Schmelzvorgang erzwang der Koks aber auf Dauer doch andere Dimensionen. Damit die Beschickung mit dem festeren Koks, der dichter zusammenbackt, nicht im Ofen hängenblieb, mußte sich der Schacht breit genug erweitern 59 . Die Schlacken waren dickflüssiger, und die stärkere Gasentwicklung bei der Koksverbrennung verlangte besondere Ausmaße. Der höhere Brennwert und 57

Plumpe, Württembergische Eisenindustrie, S. 81. Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 720 ff. 59 Zur Konstruktion von Kokshochöfen vgl. auch Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Eisenhüttenwesen, S. 45, 52, 60f. 58

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das stärkere Zusammenbacken, welches den Koks tragfähiger machte, gestatteten eine größere Beschickung 60 , so daß sich Kokshochöfen also gegenüber Holzkohlenhochöfen allmählich beträchtlich vergrößerten. Ein 9 Meter hoher Holzkohlenhochofen galt schon als recht groß, richtige Kokshochöfen aber erreichten in Großbritannien am Ende des 18. Jahrhunderts bereits eine Höhe von 9 bis 21 Metern. Vor allem wurden stärkere Gebläse eingesetzt. Die ständig größer gebauten Holzbälge, von Wasserrädern getrieben, schafften es nicht mehr, die mächtige Beschickung durchdringend mit Luft zu versorgen. Erst das komplizierte eiserne Zylindergebläse, vom Wasserrad oder der Dampfmaschine getrieben, war leistungsfähig genug für die neuen großen Kokshochöfen 61 . Abraham Darby hatte das Verfahren zur Roheisenproduktion unabhängig von der Holzkohle schon 1709 eingesetzt62. Zu fragen bleibt allerdings, warum sich dieses Koksschmelzen so langsam verbreitete: Vor 1750 wurden nur drei Kokshochöfen — und zwar alle von den Darbys — regelmäßig betrieben, während gleichzeitig die Zahl der Holzkohlenhochöfen immer noch zunahm. Eine neue Interpretation für diese Verzögerung bietet Hyde 6 3 . Er lehnt die Erklärungen ab, die z. B. Ashton vorgebracht hat, daß nämlich die Geheimhaltung des Verfahrens, mit Koks zu schmelzen, seine Verbreitung stark verzögert habe oder potentielle Nachahmer nicht zum Zuge gekommen seien, weil sie nicht wie die Darbys Zugang zu Steinkohle mit einem niedrigen Schwefelgehalt gehabt hätten. Tatsächlich verfügte South Staffordshire über leicht zugängliche Kohlen dieser Qualität, und auch andere Eisenproduzenten aus der Gegend um Coalbrookdale in Shropshire hätten gleiche Kohlenqualitäten benutzen können. Der wichtigste Erklärungsversuch geht von den Qualitätsunterschieden zwischen Koks- und Holzkohlenroheisen aus: Koksroheisen sei kaltbrüchig 64 (cold-short) und deshalb als Input für Schmiedeeisen nicht zu gebrauchen gewesen. Hyde jedoch stellt heraus, daß die meisten britischen Eisenerze auch mit Holzkohle als Brennmaterial kaltbrüchiges Roheisen lieferten 65 . Technisch war es spätestens nach 1730 möglich, aus Koksroheisen ein akzeptables Stabeisen zu erzeugen. Allerdings verteuerte der höhere Siliziumgehalt des Koksroheisens dessen Weiterverarbeitung. Da aber dieser tatsächliche Qualitätsunterschied zwischen Holzkohlen- und Koksroheisen auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestehen blieb, kann er nicht als erklärende Variable für die verzögerte Verbreitung des Kokshochofens herangezogen werden. Hyde stellt vielmehr heraus, daß vor der Jahrhundertmitte die Holzkohlentechnik 60

Troitzsch/Weber, Technik, S. 268. Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 735ff. 62 Es gab eine Kontroverse über den Zeitpunkt, wann zuerst Koksroheisen erfolgreich erschmolzen wurde, vgl. Ashton, Iron and Steel, S. 26ff. Zu Abraham Darby vgl. auch Wertime, Coming, S. 228 f. 63 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Hyde, Technological Change, S. 23-41. 64 Schwefel- oder Phosphorrückstände im Roheisen sind dafür verantwortlich. Hyde, Technological Change, S. 7. 61

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kostengünstiger war. Detaillierte Kostenuntersuchungen bestätigen, daß um 1720 die variablen Kosten in Coalbrookdale höher als die von Holzkohlenhochöfen waren, erst in den späten 1730er Jahren dürften sie etwa gleich gewesen sein. Selbst wenn vielleicht nach 1740 Koksroheisen billiger hergestellt wurde, war der Unterschied doch nicht hoch genug, um es profitabel als Input für die Stabeisenproduktion zu verwenden. In Kombination mit dem anschließenden Raffinieren des Roheisens zu dem schmiedbaren Produkt arbeiteten also die Holzkohlenhochöfen bis zur Jahrhundertmitte ökonomisch effizienter, und damit erklärt sich die späte Verbreitung der neuen Technik, die auf Steinkohle als Brennmaterial basiert. Das Rätsel, warum die Darbys dennoch das Koksschmelzen schon so früh einführen konnten, löst sich nach Hyde durch die Erfindung eines profitablen Folgeprozesses auf: In Coalbrookdale war ein Verfahren entwickelt worden, dünne Gußwaren herzustellen. Und dazu war das siliziumhaltige Koksroheisen weitaus besser geeignet als Holzkohlenroheisen, denn es war bei derselben Temperatur flüssiger, wodurch sich beim Guß die Möglichkeit von Fehlern wie Löchern und Sprüngen verminderte und der Materialverbrauch beträchtlich herabgesetzt wurde 66 . Den Darbys gelang es, diese Methode geheimzuhalten67. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts beschleunigte sich die Verbreitung der Kokshochofentechnik. Tabelle 1 verdeutlicht, wie rasch dann die Produktion von Koksroheisen bei gleichzeitigem absoluten Rückgang des Holzkohlenroheisens wuchs. Diese Expansion läßt sich nicht einfach als angebotsinduziert erklären. Vielmehr muß die Nachfrageseite stark beachtet werden. Doch leider ist dieser Erklärungsbereich immer noch wenig erforscht, und auch Hyde beschränkt sich im wesentlichen auf die Bemerkung, der Produktionszuwachs reflektiere den Nachfrageanstieg einer sich industrialisierenden Volkswirtschaft 68 . Daß der Schmiedeeisensektor zunehmend Koksroheisen verarbeiten konnte und dieses Produkt deshalb nachfragte, beantwortet nicht die Frage nach den Endverbrauchern 69 . Ein starker Wachstumsimpuls dürfte in der Substitution schwedischer und russischer Stabeisenimporte durch heimische Produkte gelegen haben. Doch vor allem eine steigende Nachfrage nach Gußwaren regte in diesem Zeitraum die Erzeugung von Koksroheisen an. Daß Gußwaren sich zunehmend neue Märkte erschlossen hatten, zeigt die Entwicklung der Roheisenerzeugung im Vergleich zur Stabeisenproduktion auf. Hatte sich von 1750 bis 66 Hyde (Technological Change, S. 40) führt als Beispiel an, daß ein gußeiserner Topf bei gleichem Fassungsvermögen aus Holzkohlenroheisen doppelt so schwer sein mußte wie einer aus dem Coalbrookdaler Koksroheisen. 67 Es wäre wichtig, etwas über offensichtlich erfolglose Nachahmungsversuche von Konkurrenten zu erfahren. 68 Hyde, Technological Change, S. 58, 66. 69 Berichte schwedischer Reisender bieten einige Informationen über die Endnachfrager von Eisenprodukten: Schiffbau (z.B. für Anker) und Landwirtschaft (z.B. für Hufeisen und Radreifen) scheinen danach bedeutende Mengen Eisen verbraucht zu haben, vgl. Hildebrand, Foreign Markets, S. 20ff.

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert T a b e l l e 1:

Roheisenproduktion i n G r o ß b r i t a n n i e n , in jährlichen

Jahrfünft

1750-1790

Durchschnittswerten

Holzkohlenroheisen Anzahl der Hochöfen

31

Produktion i n tons

Koksroheisen Anzahl der Hochöfen

Produktion i n tons i n Prozent der Gesamtproduktion

1750-54

68

26.000

4

2.000

7 /1

1755-59

63

24.000

11

7.000

22,6

1760-64

57

22.000

18

12.000

35,3

1765-69

53

21.000

26

19.000

47,5

1770-74

42

30

23.000

57.5

1775-79

34

41

34.000

1780-84

23

56

50.000

80.6

1785-89

24

17.000 14.000 12.000 10.000

72

70.000

87,5

70,8

Quelle und Erläuterungen: Riden, Outpu,t, S. 448. Es handelt sich um grobe Schätzdaten i n runden Z i f f e r n , deshalb wurden ausnahmsweise n i c h t metrische Tonnen (1 ton = 1,016 Tonnen) e r r e c h n e t . Riden deckt den gesamten Zeitraum ab, während Hyde (Technological Change, S. 67) nur f ü r wenige S t i c h j ä h r e Angaben b i e t e t . Riden b a s i e r t seine Schätzungen zum T e i l auf Angaben von Hyde. Nennenswerte Abweichungen zwischen beiden Schätzergebnissen g i b t es nur beim Holzkohlenroheisen im Ausmaß von plus/minus zehn Prozent.

Ende 1780 die Herstellung von Roheisen fast verdreifacht, so verdoppelte sie sich beim Stabeisen nicht einmal. Danach, bis 1815, expandierten beide Produktionsstufen in gleichem Ausmaß 70 . Selbst wenn man die große kriegsbedingte Nachfrage nach Gußeisenprodukten vernachlässigt, ging dennoch 1815 der hohe Anteil von etwa einem Viertel des Roheisens in die Herstellung von Gußwaren 71 . A m gründlichsten erforscht ist die Angebotsseite bei dieser beschleunigten Produktionsausweitung 72 . Läßt man die Nachfrageseite hier außer acht, so können allein Kostenerwägungen die verbreitete Einführung des Koksschmelzens erklären: Während die Kosten für Holzkohlenroheisen dramatisch stiegen, fielen sie für das konkurrierende Produkt. Die Holzkohlentechnologie stagnierte, wohingegen die Kosten für die Rohmaterialien stiegen. Die Hälfte der Kostenreduktion bei den Kokshochöfen läßt sich auf zunehmende Effizienz zurückführen, während der Rest durch sinkende Inputpreise, vor allem für das 70 Vgl. die Daten in den Tabellen 1 und 3 sowie Riden, Output, S. 455. Dazu auch Deane, Industrial Revolution, S.105. 71 Hyde, Technological Change, S. 128. 72 Vgl. dazu Hyde, Technological Change, S. 53-75.

32

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

Brennmaterial, erklärt wird. U m herauszufinden, weshalb sich trotz dieser Kostenentwicklung die unterlegene Technologie noch so lange halten konnte, muß man jedoch die Nachfragebedingungen wieder einbeziehen: Die Nachfrage war so stark, daß sie hohe Eisenpreise garantierte 73 . Die Einführung von Steinkohle bei der Erzeugung von Schmiedeeisen ist keineswegs so geradlinig in Richtung auf Corts Puddel- und Walzprozeß 74 gelaufen, wie traditionelle Darstellungen — etwa von Ashton — nahelegen75. Die Produktion von Stabeisen stieg in Großbritannien von 18 800 tons im Jahre 1750 auf 32000 im Jahre 1788 an 7 6 . Die Erzeugung von Holzkohlenstabeisen aber fiel im gleichen Zeitraum, so daß der gesamte Zuwachs auf die Verwendung von Steinkohle als Brennmaterial zurückgeht 77 . Die Technik, die dies ermöglichte, war aber keineswegs das Puddelverfahren, sondern das Tiegelfrischen (potting process). Frischen heißt, den Kohlenstoffgehalt des Roheisens so weit zu reduzieren, daß es sich schmieden läßt. Bei wachsender Nachfrage hatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Schmiedeeisenproduktion stagniert, so daß der Importanteil beträchtlich zunehmen mußte. Auch nach 1750 konnte die Produktivität bei der Holzkohlentechnik des Frischens nicht gesteigert werden. Während die Inputpreise, also vor allem die für Holzkohle und Holzkohlenroheisen, stärker als das allgemeine Preisniveau zunahmen, kann für die beträchtlich fluktuierenden Outputpreise, also für Stabeisen, kein klarer Aufwärtstrend festgestellt werden. „Aufgrund steigender Produktionskosten sowie wachsender ausländischer Konkurrenz sahen sich die britischen Eisenhersteller ermutigt, wenn nicht gar genötigt, billigere Techniken zur Stabeisenproduktion herauszufinden 78 ."

73 In einem besonderen Abschnitt diskutiert Hyde (Technological Change, S. 69-75) noch die von Ashton und Deane vertretene Auffassung, die Dampfmaschine sei entscheidend für die Einführung des Koksschmelzens gewesen. Hyde glaubt, daß die Bedeutung der Boulton- und Watt-Dampfmaschine überschätzt wird: NewcomenMaschinen und Wasserkraft seien häufig ausreichend für Kokshochöfen gewesen. Die Dampfmaschine habe allerdings den Diffusionsprozeß beschleunigt. 74 Henry Cort erhielt dafür 1783 und 1784 zwei Patente. Eine ausführliche Darstellung und Würdigung der Verdienste Corts bringt Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 685-699. 75 Die folgenden Ausführungen halten sich eng an Hyde, Technological Change, S. 76 94. Zu Ashton vgl. Iron and Steel, S. 87-103. So z.B. im deutschen Sprachraum auch Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 668: „Die zahlreichen Versuche, welche man in England gemacht hatte, Eisen m i t S t e i n k o h l e n zu v e r f r i s c h e n , hatten bis 1780 nur wenig Erfolg gehabt." 76 Wie weit Großbritannien noch von der Stellung des weltweit führenden Eisenproduzenten und -exporteurs entfernt war, verdeutlicht folgender Vergleich: Schweden exportierte zwischen 1730 und 1799 im Jahresdurchschnitt etwas mehr als 43 000 tons Stabeisen, davon mehr als die Hälfte nach Großbritannien, Hildebrand, Foreign Markets, S. 3. 77 Hyde, Technological Change, S. 92 f. 78 Hyde, Technological Change, S. 80. Mir scheint, daß Hyde den traditionellen Bereich nicht ausreichend untersucht hat. Siehe dazu Hammersley, Did It Fall, S. 67-90; ders., Charcoal, S. 593-613.

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

Zwar wurde bei den letzten Stufen der Stabeisenherstellung (z.B. beim erneuten Erhitzen des schon gefrischten Eisens für den Schmiedehammer) Steinkohle verwendet, jedoch gab es vor dem Tiegelfrischen (potting) keinen kommerziell erfolgreichen Prozeß, in dem zum Frischen statt Holzkohle Steinkohle verbrannt wurde. Alle Versuche, mit Steinkohle die nötige Hitze zu erzeugen, lieferten rotbrüchiges (red-short) Eisen, das unter dem Schmiedehammer zerfiel. Beim Frischen nämlich gerieten Steinkohle und Roheisen in Kontakt, so daß der Schwefel der Steinkohle das Eisen verunreinigte. Beim Tiegelfrischen wurde zunächst der hohe Siliziumgehalt des Koksroheisens durch Feinen in einem Herdofen herabgesetzt. Allerdings erhöhte sich dabei der Schwefelgehalt des Roheisens, denn als Brennmaterial zum Feinen wurde Steinkohle genommen. Zu kleinen Stücken granuliert und zerstampft, wurde das Eisen in feuerfeste Tontiegel gefüllt und in einem Flammofen unter Verwendung von Steinkohle erhitzt. Das führte zum Frischprozeß, und beigegebene Flußmittel (z. B. Kalk) entfernten den Schwefel. Entscheidend aber war, daß die Tontiegel den Kontakt des Roheisens mit dem Brennmaterial und damit eine weitere Verunreinigung verhinderten. Als letzte Stufe dieses Verfahrens wurden die Tontiegel zerbrochen und das gefrischte Metall in Reckherden, die man mit Steinkohle befeuerte, erhitzt und wie üblich unter dem Hammer zu Stabeisen ausgeschmiedet79. Das Verfahren des Tiegelfrischens wurde in den 1760er Jahren von den Wood-Brüdern entwickelt. Auch wenn die variablen Kosten bei dieser Methode trotz ihres höheren Roheisenverbrauchs um etwa 25 Prozent geringer waren als beim Frischen mit Holzkohle 80 , dürften Produzenten von Schmiedeeisen dieses Verfahren nicht vor den späten 1770er Jahren in größerem Ausmaß übernommen haben. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß zu der Zeit, als Cort den Puddelprozeß einführte, also in den 1780er Jahren, etwa die Hälfte des Stabeisens über das Tiegelfrischen erzeugt wurde. Das Puddelverfahren kann demnach keineswegs als eine Innovation betrachtet werden, die von Anfang an zu einer dramatischen Umgestaltung im Sektor des Schmiedeeisens geführt hätte. Sicherlich war es letztlich dem Tiegelfrischen als kostengünstiger überlegen; jedoch wurden mit Corts Verfahren eher kontinuierliche und zeitlich gestreckte Veränderungen eingeleitet, die zu Beginn 79 Der Einsatz von Koks statt Steinkohle beim Feinen machte beim Tiegelfrischen Zuschlagstoffe als Flußmittel überflüssig, weil die Verschmutzung mit Schwefel gering war. Zur Beschreibung des Tiegelfrischens (potting process) vgl. Hyde, Technological Change, S. 83 - 85. Beck (Geschichte 18. Jahrhundert, S. 668 - 670) widmet diesem Verfahren nur einen kurzen Abschnitt, der zudem noch unvollständig ist und lediglich das wiedergibt, was Sven Rinman aus dem Bericht eines Quist herangezogen hatte. Bezeichnend, daß also offenbar auch Beck die Bedeutung dieses Verfahrens unterschätzt. Er leitet den Abschnitt folgendermaßen ein: „Rinman beschreibt ein eigentümliches Verfahren". Erstaunlicherweise, und hierauf geht Beck (ebd., S. 1036f.) ausführlicher ein, hatte das französische Werk Le Creusot schon einen Frischprozeß nur mit Steinkohle in den 1780er Jahren eingeführt: „Dieses Kapselfrischen entsprach dem von R i n m a n beschriebenen Tiegelfrischen" (ebd., S. 1037). Dazu weiter unten S. 83 f. 80 Berechnet aufgrund der Daten einiger Hersteller von Schmiedeeisen aus dem Jahre 1787. Vgl. Hyde, Technological Change, S. 87.

3 Fremdling

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2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

graduelle, wenn nicht nur marginale Kostenvorteile boten. Einen deutlichen Kostenvorteil gegenüber dem Tiegelfrischen gewann das Puddelverfahren erst, nachdem Corts ursprüngliches Patent durch eine Reihe von Anschlußinnovationen ergänzt worden war 8 1 . Der eigentliche Puddelprozeß, wie ihn Cort erfand, ist im Patent von 1784 beschrieben 82. Das bloße Roheisen wurde in einem Flammofen (Reverberierofen ohne Gebläse) mit einfacher Steinkohlenfeuerung ohne Tiegel gefrischt 83 . Ein solcher Puddelofen bestand im Innern prinzipiell 84 aus drei Teilen nebeneinander: aus der Rostfeuerung, durch eine halbhohe Mauer (Feuerbrücke) vom Zentrum, dem Herdraum zum Schmelzen, getrennt, welcher wiederum durch eine halbhohe Mauer (Fuchsbrücke) vom Abzugskanal (Fuchs) abgeteilt war. Die Fuchsbrücke auf der einen und die Feuerbrücke auf der anderen Seite trennten zwar den Arbeitsherd von den angrenzenden Ofenteilen, ließen aber, da sie nur halbhoch waren, das gesamte Ofengewölbe darüber frei, so daß die in der Rostfeuerung erzeugten, vom Windstrom darunter angefachten Flammen und Feuergase über den Arbeitsherd mit dem schmelzenden Eisen strichen und vom Fuchs weiter in den hohen Schornstein gezogen wurden. Und das war das Entscheidende: Das Brennmaterial und das Eisen hatten hier keine direkte Berührung. Von außen war der mit feuerfesten Ziegeln gemauerte und von Eisenplatten ummantelte Puddelofen weitgehend geschlossen. Hinter der Schüröffnung verbarg sich die Rostfeuerung. Die gußeiserne, inwendig mit Ziegeln ausgesetzte Arbeitstür daneben verschloß den Arbeitsherd nur teilweise. Sie hatte eine verschließbare Öffnung, durch die der Puddler das auf der (eisernen) muldenförmigen Herdsohle schmelzende Roheisen beobachten und mit Stangen 81 Diese Ausrichtung auf eine Neuerung und damit deren Überbetonung ist bezeichnend für eine Historiographie, die kontrafaktische oder sogar tatsächlich bestehende Alternativen zu bestimmten Erscheinungen wegläßt. Das Erwägen einer Alternative zum Puddeln (die hier mit dem Tiegelfrischen sogar tatsächlich existierte) hätte sicherlich dazu beigetragen, schiefe, wenn nicht falsche Akzente, wie sie z. B. Phyllis Deane (Industrial Revolution, S. 107) setzt, zu vermeiden. Sie behauptet: „ I t was not until 1783 and 1784 when Henry Cort patented a puddling and rolling process, which permitted the large-scale production of bar-iron with coal fuel", also erst Corts patentierte Puddel- und Walzverfahren hätten die Massenproduktion von Stabeisen mit Steinkohlen gestattet. Beck (Geschichte 18. Jahrhundert, S. 691) hatte nicht anders argumentiert: „Sie [Corts Erfindung] entschied mit einem Male den Konkurrenzkampf Englands mit den übrigen Eisenindustriestaaten zu seinen Gunsten. Durch Corts Erfindung wurde es erst unabhängig von der Holzkohle und konnte seinen nationalen Reichtum an Eisen und Steinkohlen unbeschränkt ausbeuten." 82 Ausführlich auf deutsch bei Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 668-691. Vgl. auch die knappe Beschreibung bei Hyde, Technological Change, S. 88 f. Zu Henry Cort vgl. auch Wertime, Coming, S. 229-234. 83 Troitzsch/Weber, Technik, S. 270. Zum Puddeln mit Braunkohle, Holz, Torf, Hochofengas vgl. Beck, Geschichte 1801-1860, S. 564fT. 84 Bei den zahllosen Abwandlungen und Varianten ist es ein heikles Unterfangen, die Ofenkonstruktion vereinfachend und allgemeingültig ohne eine Fülle von technischen Detailangaben beschreiben zu wollen. Vgl. diese z. B. bei Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 618ff., 688ff., 709f.; ders., Geschichte 1801-1860, S. 256ff.; Keller, Entwicklung, S. 101 ff.

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

35

bearbeiten konnte 85 . I m Ofen geschah folgendes: Über den „puddle" (Pfuhl, Lache) 86 geschmolzenen Roheisens, der nur die Mulde des Arbeitsherdes ausfüllte, strichen die Feuergase und verbrannten die Verunreinigungen des Roheisens nach und nach. Die Rückstände schwammen jedoch als Schlacken an der Oberfläche des Metallbades und entzogen das untere Eisen der Einwirkung durch die Feuergase. Dadurch schützten sie es zugleich vor dem Verbrennen. U m aber allmählich alles Eisen und vor allem dessen Begleitstoffe mit den Feuergasen und mit den ebenfalls oxydierend wirkenden Schlacken in Berührung zu bringen, rührte der Puddler mit einer langen Eisenstange die ganze Masse fortwährend um, bis auch zuletzt der Kohlenstoff oxydierte und mit seiner Gasentwicklung die Masse so aufblähte, daß sie den gesamten Herdraum ausfüllte und die Schlacken zuweilen durch die Arbeitstür abfließen ließ. M i t der Verbrennung der Verunreinigungen und mit der Verringerung des Kohlenstoffs stieg der Schmelzpunkt des Eisenbades über die im Ofen herrschende Temperatur. Auf der daraufhin niedersinkenden Schmelzmasse bildeten sich immer mehr einzelne Eisenkristalle und schweißten sich zu teigigen Klumpen zusammen. Damit sich der restliche Kohlenstoff gleichmäßiger verteilte, wendete der Puddler die Eisenklumpen mit einer Stange mehrmals um und häufte sie aufeinander. Aus dieser neu vermengten Masse von Schmiedeeisenklumpen, vermischt mit Schlacken und noch unzureichend gefrischten, fast rohen Eisenbröckchen, ballte der Puddler mehrere Luppen 8 7 . U m die poröse, schwammige, wenig homogene Eisenmasse zu verdichten, wurden die noch heißen Luppen außerhalb des Puddelofens gezängt. Hämmer, Quetschen (oder sogleich Luppenwalzen) 88 drückten jede Luppe einzeln und preßten die noch flüssige Schlacke heraus. Die Luppe erhielt beim Zängen mit dem Hammer in etwa einer Minute 50 Schläge und wurde jedesmal leicht gewendet. Die so vorgeschmiedeten Luppen wurden in zwei verschiedenen Walzvorgängen im Luppenwalzgerüst zumeist noch in derselben Wärme zunächst zu Quadratstäben und sodann zu Flachstäben, den sogenannten Rohschienen, ausgewalzt89. Eine solche Rohschiene galt in ihrer geringen Homogenität und Qualität in der Regel noch nicht als verkaufsfertiges Stabeisen90. Vielmehr legte man drei bis fünf zugeschnittene Rohschienen zu 85 Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Eisenhüttenwesen, S. 82f.; Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 688; ders., Geschichte 1801-1860, S. 258. 86 In der deutschen Literatur wird der Name des Puddelprozesses im Grunde tautologisch damit erklärt, daß „to puddle" generell „rühren" hieße. Das aber heißt „to stir", während das englische Verb „to puddle" neben „sich im Schlamm, Pfuhl (nämlich dem ,puddle*) suhlen" die fachspezifische Bedeutung der Eisenhüttenkunde hat: „stir about molten iron to produce wrought iron by expelling carbon", The Concise Oxford Dictionary of Current English, S. 990. 87 Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Eisenhüttenwesen, S. 83. 88 Bosak, Geschichte, S. 21. 89 Bosak, Geschichte, S. 21 ff., 67. 90 Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Eisenhüttenwesen, S. 83.

3*

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einer Garbe zusammen und brachte das Paket im Flammofen (das konnte nach Cort wieder der Puddelofen sein) 91 auf Schweißhitze, ließ die Rohschienen unter dem Hammer mit sechs bis acht Schlägen (oder durch die Vorwalze) verschweißen und reckte sie zu einem Stab aus. Bei diesem Paketieren oder Gärben konnte man ein homogeneres Produkt erreichen. Man machte sich aber auch bewußt die unterschiedlichen Qualitäten der Rohschienen zunutze, indem man verschieden harte Stäbe oder auch Alteisen (darauf verweist schon Cort) 9 2 gezielt zusammenstellte. Bestes Stabeisen erhielt man durch wiederholtes Paketieren. Dieser vor allem für die Schienenherstellung überaus wichtige und sorgfaltig auszuführende Arbeitsschritt erübrigte sich erst mit den Gußstahl- und Flußeisenverfahren 93. Weniger gute Eisenqualitäten ließen sich aber auch herstellen, indem man gleich nach dem Zängen das in Schweißhitze gehaltene Eisen fertig auswalzte, das Paketieren also ausließ 94 . Die endgültige Umformung der geschweißten Pakete geschah in mit Wasseroder Dampfkraft angetriebenen Walzen. Ein solches Puddeleisenwalzwerk zum Fertigwalzen bestand aus zwei waagerecht liegenden zylindrischen Walzen, die mit verstellbarem Abstand übereinander in einem eisernen Gerüst lagerten, das im Fundament verankert war. Schon früh wurden zwei oder noch mehr solcher Walzgerüste nebeneinandergestellt und von demselben Antrieb über ein Schwungrad gleichmäßig angetrieben 95. U m Stäbe formen zu können, waren die Walzen mit einer Reihe immer feinerer und genauer profilierter Rillen versehen. Das in Schweißhitze gehaltene Walzgut durchlief die Walzen in mehreren Durchgängen, wobei es jeweils in eine feinere Furche gelegt wurde. Solange die Walzen keinen Rücklauf hatten, also immer nur in eine Richtung führten, mußte das Walzgut jedesmal über das Gerüst gehoben werden, um es von vorn wieder einzuführen 96 . Hatten die Walzenrillen das Eisen erfaßt, so gaben sie ihm selbsttätig die gewünschte Form. Reibungskräfte bewirkten eine Stauung und eine anschließende Voreilung des Walzgutes, wodurch es sich mehr in die Länge streckte als in die Breite zog. Die Eisenteilchen verschoben sich dabei und machten das Walzeisen homogener, dichter und kohärent 97 , wenn es durch die vorbereitenden Arbeitsschritte gut genug präpariert war.

91

Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 690. Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 686. 93 Bosak, Geschichte, S. 27. 94 Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 696, 706 f. 95 Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Eisenhüttenwesen, S. 142; Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 706 f. Bei den ersten Walzgerüsten wurde nur die Unterwalze angetrieben und schleppte die daraufliegende Oberwalze einfach mit, Matschoß, Maschinenbau, S. 73 f. 96 Die Triowalzwerke lösten dieses Problem (um die Mitte des 19. Jahrhunderts) ohne Rücklauf: Der zweite Durchgang zwischen der mittleren und einer dritten Walze besorgte den Rücktransport des Walzgutes, Troitzsch/Weber, Technik, S. 269. Schon vorher hatte Wilkinson hin- und herlaufende Walzenpaare erfunden, Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 591 f., 707; Matschoß, Maschinenbau, S. 75. 92

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

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Corts Patente „für Herstellung, Schweißen und Verarbeiten von Eisen..." und für „Zängen, Schweißen und Bereiten von Eisen- und Stahlstangen.. . " 9 8 teilten den Gesamtprozeß des Puddelns und Walzens prinzipiell in die hier kurz beschriebenen Teilschritte (wobei Cort selbst schon in seinem zweiten Patent zu den schnell aufkommenden Varianten beitrug): 1. Das Puddeln des Roheisens99 im mit Steinkohle befeuerten Puddelofen. 2. Das Zängen der noch warmen Luppen zumeist mit dem Hammer oder mit Luppenwalzen. 3. Das Paketieren der Flachstäbe (Rohschienen) zu Garben, die geschweißt wurden. 4. Das Auswalzen der Pakete zur Endform des Eisens. Gegenüber dem Tiegelfrischen und Hämmern hatte dieser Prozeß folgende Vorteile: Erstens entfielen die Tontöpfe und Flußmittel, zweitens wurde mit dem Umrühren des Metallbades der Kohlenstoffgehalt beträchtlich schneller reduziert, und drittens konnten die größeren Puddelluppen sowie die schwereren Pakete von Rohschienen schneller und gleichförmiger gewalzt werden, als sie — wenn bei ihrer Größe überhaupt — zu hämmern gewesen wären. Unter technikgeschichtlichem Aspekt wäre es interessant, die Originalität der Cortschen Innovationen zu diskutieren. Wer nicht der Heldentheorie von Pionierunternehmern anhängt, wird kaum überrascht sein zu erfahren, daß es auch hier Vorläufer gab, die alle Elemente der Cortschen Patente zumindest erdacht hatten 1 0 0 , und daß erst spätere Nachahmer durch Nachfolgeinnovationen dieser sogenannten „Basisinnovation" zum endgültigen Durchbruch verhalfen. Vor 1790 hatten erst sechs Produzenten begonnen, auf diese Weise Schmiedeeisen herzustellen. Eine Reihe noch unzureichend gelöster technischer Probleme sowie mangelnde Erfahrung bei Unternehmern und Arbeitern mit der neuen Methode vereitelten anfangs deutlichere Kostenvorteile gegenüber dem Tiegelfrischen und verhinderten somit zunächst eine schnelle Verbreitung der neuen Verfahren 101 . Lernprozesse bei den Beteiligten und technische Verbesserungen gegenüber Corts ursprünglicher Methode — z.B. durch Richard

97

S. 22. 98

Verein Deutscher Eisenhüttenleute, Eisenhüttenwesen, S. 142; Bosak, Geschichte,

Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 686, 689. Anfanglich setzte man oft statt Roheisen vorgefrischtes Eisen zum Puddeln ein und verkürzte damit den Puddelprozeß. Beim Feinen oder Weißen oxydierte das Silizium des Roheisens, Bosak, Geschichte, S. 5. Koksroheisen wurde dabei (zumeist) in einem Weißofen (meistens) mit Koks unter Einwirkung von Gebläseluft geschmolzen und ergab gefeintes Eisen, Weißeisen. Häufig fand diese Operation im Hochofenbereich statt, wobei dann statt Koks auch Hochofengas eingesetzt werden konnte und wo man das Hochofengebläse mitverwendete. Da das Weißen nicht zwangsläufig zum Puddeln gehörte und man sich letztlich erfolgreich bemühte, es zu überspringen, wird es hier nur so kurz umrissen. Beck (Geschichte 1801-1860, S. 251 f., 560ff.; ders., Geschichte 18. Jahrhundert, S. 700 f.) beschreibt verschiedene Verfahren, graues Roheisen zu weißen. 100 Vgl. dazu etwa Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 683-685, 688; 696-698. Hyde, Technological Change, S. - . 99

38

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

Crawshay auf seinem Werk in Südwales 1791 102 — verhalfen dazu, daß Mitte der 1790er Jahre der Puddel- und Walzprozeß unbestritten das billigste Verfahren war, ein qualitativ gleichbleibendes Stabeisen herzustellen. Steigende bzw. auf hohem Niveau verharrende Preise der Konkurrenzprodukte aus Schweden und Rußland, zudem durch hohe Einfuhrzölle belastet, führten bei sinkenden realen Kosten für britische Stabeisenproduzenten zur raschen Expansion der britischen Eisenindustrie in der Kriegsperiode von 1790 bis 1815. Die heimische Produktion war nicht nur imstande, die bisherigen Importe zu substituieren, sondern konnte darüber hinaus die wachsende Nachfrage befriedigen. Wurde im 18. Jahrhundert in Schweden, Rußland und Frankreich jeweils mehr Eisen als in Großbritannien produziert, so stand dieses Land nach dem Ende der napoleonischen Kriege als größter Erzeuger da. Diese Entwicklung und Verbreitung neuer Produktionstechniken von der Angebotsseite zu erklären, beschreibt jedoch nur einen Teil des Weges bis 1815. Bevor der Hauptgegenstand dieser Arbeit erörtert wird — d. h. die Frage, unter welchen Bedingungen sich das Koksschmelzen sowie das Puddel- und Walzverfahren im westlichen Kontinentaleuropa ausbreitete — ist daher hier zunächst zu skizzieren, welche Rolle der Importsubstitution für die Modernisierung der britischen Eisenindustrie zukam. Die Entstehung einer modernen Eisenindustrie in Großbritannien während des 18. Jahrhunderts kann nämlich keineswegs als autonome Entwicklung gesehen werden. Unterstützt durch eine adäquate Zollpolitik, wirkte die englische Abhängigkeit von Stabeisenimporten als wichtiger Stimulus, eben diese Importe zu substituieren 103 . Tabelle 2 weist lediglich die Stabeisenimporte Englands auf 1 0 4 . Nachdem diese in den ersten beiden Dekaden des 18. Jahrhunderts konstant blieben, kam es in den zwanziger Jahren bis zum Ende der dreißiger Jahre zu einem ersten Anstieg, wobei der Höhepunkt um 1737 lag. Zu Beginn der 1740er Jahre gingen die Importe beträchtlich zurück, doch folgte ein rapider Anstieg mit seinem ersten Höhepunkt 1765, und danach blieben sie bis zum Jahrhundertende auf hohem Niveau relativ konstant 1 0 5 . Bemerkenswert ist die Verschiebung der Marktanteile zwischen Schweden und Rußland. Hatten in der ersten Hälfte des Zeitraumes schwedische Importe noch eindeutig dominiert, so übernahm Rußland die Rolle des führenden Anbieters im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Das russische Stabeisen wurde im Ural produziert 106 . 1781, 102

Hyde, Technological Change, S. 100f. Enttäuschend, daß ein soeben erschienenes Buch von Davis (Industrial Revolution, S. 25 f.) auf den Prozeß der Importsubstitution überhaupt nicht eingeht. 104 Hildebrand (Foreign Markets, S. 4, Anm.2) stützt sich dabei auf Daten, die Elizabeth B. Schumpeter zusammengestellt hat, Public Record Office, Customs 3 u. 17. 105 Hildebrand gibt keine jährlichen Einzel werte in numerischer Form, sie sind lediglich aus einer Graphik ablesbar, Foreign Markets, S. 9. 106 Zur Wirtschaftsgeschichte dieses Gebietes vgl. die ausführliche Darstellung von Portal, Oural. Die zum Teil widersprüchlichen Schätzungen der Exportdaten sind dort auf 103

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert z u m H ö h e p u n k t dieser Ausfuhren, gingen 50000 Tonnen Stabeisen v o n d o r t nach G r o ß b r i t a n n i e n 1 0 7 . Andere Länder, namentlich Spanien, verloren ihre einstige Bedeutung als Stabeisenlieferanten für Großbritannien. Schweden hatte i m Laufe des 18. Jahrhunderts zwar Marktanteile eingebüßt, doch i n absoluten Zahlen blieben die Lieferungen erhalten. D i e E n t w i c k l u n g schwedischer Exporte ist weniger durch Absatzprobleme a u f dem britischen M a r k t als m i t wirtschaftspolitischen M a ß n a h m e n i n Schweden selbst zu erklären, hauptsächlich m i t der Festschreibung der Eisenproduktion v o n 1746/47 bis 1803 a u f gleichem N i v e a u 1 0 8 . Tabelle

2:

Englische Stabeisenimporte, in jährlichen

Jahrzehnt

aus Schweden 1000 t

%

aus R u ß l a n d 1000 t

1700-1799,

Durchschnittswerten

%

aus a n d e r e n Ländern 1000 t

%

insgesamt 1000

1700-09

14,3

88

0,0

0,0

2,0

12,0

1710-19

10,7

65

0,0

0,0

5,5

35,0

16,5

1720-29

15,2

76

0,4

2,0

4,3

22,0

20,0

1730-39

19,3

74

3,4

13,0

3,3

13,0

26,0

1740-49

17,1

75

3,7

16,0

2,1

9,0

22,9

1750-59

19,0

64

8,2

27,5

2,6

8,5

29,8

16,3

1760-69

19,9

49

17,7

44,0

2,7

7,0

40,3

1770-79

17,0

38

25,7

57,0

2,1

5,0

44,8

1780-89

15,5

34,5

28,2

63,0

1,1

2,5

44,9

1790-99

18,5

40

26,7

58,0

1,0

2,0

46,2

Q u e l l e und

t

Erläuterungen:

H i l d e b r a n d , F o r e i g n M a r k e t s , S. 10. D i e I m p o r t e b e z i e h e n s i c h nur auf England, n i c h t a u f G r o ß b r i t a n n i e n . Weniger a l s zehn P r o z e n t davon wurden r e e x p o r t i e r t , e b d . , S . 6 .

S. 156 zusammengestellt, in den 1770er Jahren dürften sie die schwedischen Exporte übertroffen haben. Vgl. auch Koutaissof, Ural, der auf S. 252 bis 255 einen Literaturüberblick zur Metallindustrie im Ural während des 18. Jahrhunderts gibt. Ausführlich zur russischen Eisenindustrie Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 1122-1151. Nach Rinman betrug die Eisenerzeugung Rußlands 1786 fast 90000 Tonnen, wovon etwa die Hälfte exportiert wurde, Beck, ebd., S. 1150. Generell werden nach Großbritannien etwa 50 Prozent aller Exporte gegangen sein, Portal, Oural, S. 156. Nach den Daten, die Portal (ebd.) gibt, dürfte Rinmans Zahl mit den Exporten von 1784 (48 000 Tonnen) übereinstimmen. Zur jährlichen Roheisenerzeugung seit 1780 vgl. Mitchell, Historical Statistics, S. 215. 107 Koutaissof, Ural, S. 255. 108 Dazu knapp: Boethius, Swedish Iron, S. 150 F.; ausführlicher Beck, Geschichte 18. Jahrhundert, S. 1101-1122; Heckscher, Economic History, S. 92-100; Wertime Coming, S. 121-123.

40

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

Der Prozeß, in dem Großbritannien zwischen 1750 und 1815 importiertes Stabeisen substituierte, verlief nicht kontinuierlich. Bis um 1775 fluktuierten die schwedischen Stabeisenpreise zwar stark, bewegten sich aber um ein konstantes Niveau herum 1 0 9 , so daß sich bis dahin der Preis des importierten Stabeisens im Verhältnis zum inländischen Produkt nicht erhöht haben dürfte. Die ausländischen Anbieter vermochten ihre Wettbewerbsposition vermutlich bis in die 1760er Jahre zu verbessern. In Tabelle 3 sind die wenigen geschätzten Produktionsdaten aufgeführt, die sich auf Importe von Stabeisen beziehen. Doch können bei den groben Ausgangsdaten die Prozentanteile lediglich tendenziell richtig sein; z.B. waren die Importe 1750 gegenüber den angrenzenden Jahren extrem hoch, und damit wird ihr Prozentanteil nach oben verzerrt. Kontrollrechnungen mit Durchschnittswerten für die Importe ergaben für die Prozentanteile von 1750 und 1788 keinen signifikanten Unterschied. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, daß der Marktanteil ausländischen Eisens konstant geblieben sei. Vielmehr muß er nach Hildebrands Importwerten bis Mitte der 1760er Jahre angewachsen und danach bis 1788 wieder auf das Niveau von 1750 zurückgefallen sein. In absoluten Zahlen waren bis Mitte der 1760er Tabelle

3:

Anteile

d e r I m p o r t e am S t a b e i s e n a n g e b o t

(Produktion plus

Importe)

in

Großbritannien,

1750-1815 Jahr

Geschätzte b r i t i s c h e Stabeisenproduktion 1000 t o n s

Importe 1000 t o n s

Anteil %

1750

18,8

35,0

65,1

1788

32,0

47,0

59,5

1794

50,0

37,0

42,5

1805

100,0

23,1

18,8

1810

130,0

8,8

6,3

1815

150,0

7,4

4,7

Q u e l l e und

Erläuterungen:

Die P r o d u k t i o n s d a t e n s i n d grobe Schätzungen, v g l . Hyde, T e c h n o l o g i c a l Change, S . 92 f . , 1 1 3 . D i e I m p o r t e f ü r 1 7 5 0 , 1788 und 1794 s i n d aus dem S c h a u b i l d von H i l d e b r a n d ( F o r e i g n M a r k e t s , S . 9) a b g e l e s e n . Da d i e t a t s ä c h l i c h e n b r i t i s c h e n Importe ( d i e Werte beziehen s i c h nur auf England) d a m i t u n t e r s c h ä t z t w e r d e n , wurden a l s A u s g l e i c h k e i n e R e e x p o r t e abgezogen. Die Importe der r e s t l i c h e n Jahre s i n d T a b e l l e 5 entnommen, I m p o r t e minus R e e x p o r t e i n e n g l i s c h e n Tonnen ( t o n s ) .

109

Siehe die Graphik bei Hyde, Technological Change, S. 81. Zu den Preisen in Schweden vgl. Jörberg, History, Bd. I, S. 571 ff., Bd. II, S. 22, 83 ff., 175.

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

41

Jahre die Importe stark gestiegen und blieben danach bis zum Jahrhundertende relativ konstant 1 1 0 . Vielleicht schon von 1780 an, spätestens aber seit den 1790er Jahren, kletterten die Preise für schwedisches und russisches Stabeisen empor 1 1 1 . Wegen des Kriegsbedarfs wuchs die Nachfrage an und hielt das Preisniveau auf den Weltmärkten hoch. Eine Schutzzollpolitik mit steigenden Tarifen verteuerte darüber hinaus dieses Importeisen auf dem britischen M a r k t 1 1 2 . Als vorteilhaft für die inländischen Produzenten erwies sich zudem, daß die Kosten des Puddelprozesses seit den frühen 1790er Jahren real — d.h. unter Abzug der inflationsbedingten Preissteigerungen — sanken 113 . Das Resultat dieser Effekte auf die Preisverhältnisse in Großbritannien ist in Tabelle 4 dargestellt: Von 1790

T a b e l l e 4:

Stabeisenpreise und I m p o r t z ö l l e i n Großbritannien, 1790-1815, b pro ton

Jahr

Importzoll

P r e i s d i f f e r e n z zum b r i t i sehen Stabeisen i n London (einschl. Zoll) schwedisches russisches

Preis f ü r russisches b r i t i s c h e s StabStabeisen eisen i n L i v e r p o o l i n London (einschl.Zoll) (4) (5)

(1)

(2)

(3)

1790

2,81

6,00

1 ,48

1795

2,81

6,75

1,75

18,19

1800

3,78

10,00

4,50

24,53

16,81

1805

5,05

12,90

4,75

22,3

16 , 7 5 a

1810

5,49

13,75

6,75

22,49

14,50

1815

6,49

14,10

5,50

20,99

12,25

a) d i e Angabe b e z i e h t sich auf das Jahr 1806.

Quellen und Erläuterungen: Eine T a b e l l e m i t den Zahlen der ersten d r e i Spalten f i n d e t sich b e i Hyde, Technological Change, S. 105. Für d i e Preisdaten s t ü t z t er sich auf Gayer e t a l . (Growth), deren Daten d o r t l e d i g l i c h i n e i n e r Graphik ( e b d . , S. 104) wiedergegeben s i n d . J ä h r l i c h e Preise für russisches Stabeisen s e i t 1782 sind abgedruckt b e i Tooke, Prices Bd. 2, S. 406. J ä h r l i c h e Preise f ü r b r i t i s c h e s Stabeisen (merchant bar) s e i t 1806 sind abgedruckt b e i G r i f f i t h s , I r o n Trade, S. 288.

110

Hildebrand, Foreign Markets, S. 9. Vgl. die beiden Graphiken bei Hyde, Technological Change, S. 81, 105. Die Abweichungen zwischen den schwedischen Preisen — sie stammen aus unterschiedlichen Quellen — werden von Hyde leider nicht diskutiert. 112 Vgl. die steigenden Tarifsätze von 1782 bis 1825 bei Scrivenor, History 1854, S. 128. Danach, 1826, erfolgte eine drastische Reduktion, ebd., S. 130f. Hyde, Technological Change, S. 3. 111

42

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

bis 1815 vergrößerten sich die Preisdifferenzen zwischen ausländischem und britischem Stabeisen. Als Folge davon sank der Marktanteil der Importe von fast 60 Prozent im Jahre 1788 rasch auf unter fünf Prozent bis 1815 a b 1 1 4 . Von diesem relativen wie absoluten Rückgang 115 der Importe war Rußland stärker als Schweden betroffen. Als abgeschlossen kann ein solcher Prozeß der Importsubstitution erst gelten, wenn ein Land zum Nettoexporteur für das betreffende Produkt wird. Tabelle 5 zeigt, daß Großbritannien zum erstenmal 1808 mehr Stabeisen ausführte, als es für den inländischen Konsum importierte 1 1 6 . T a b e l l e 5: Jahr

B r i t i s c h e r Außenhandel m i t S t a b e i s e n ,

I m p o r t e Insgesamt 1000 Tonnen

davon aus Schweden in %

Reexporte davon aus Rußland in %

1000 Tonnen

1805-1818 Exporte britischen Stabeisens 1000 Tonnen

1805

27,7

62,3

36,8

4,3

1806

32,6

37,2

62,2

4,8

6,7 8,3

1807

24,1

55,3

43,6

6,6

11,0

1808

21 ,3

78,6

16,1

6,7

1809

24,9

67,6

29,2

8,7

16,5 _a

1810

20,5

59,7

36,5

11,6

_a

1811

28,4

67,2

30,5

8,2

1812 1813

17,7 _a

39,3 _a

56,2 _a

10,1 _a

24,2 _a

1814

22,3

55,4

44,0

10,4

23,0

1815

21 ,7

70,3

27,0

14;2

26,7

1816

8,6

71,1

28,2

8,8

26,7

1817

10,3

83,2

16,1

4,1

44,1

1818

16,9

72,8

26,2

5,1

52,3

_a

a) d i e U n t e r l a g e n f ü r d i e s e Jahre s i n d v e r b r a n n t .

Q u e l l e und E r l ä u t e r u n g e n : P a r l i a m e n t a r y Papers, 1 8 1 4 / 1 5 , Bd. X , S. 430 f . , 434 f . , 440 f . ? 1819, Bd. X V I , S. 172, 186, 188, 192, 194. B e i den Reexporten und Exporten s i n d Sendungen nach I r l a n d , der I n s e l Man und den K a n a l i n s e l n e i n g e s c h l o s s e n . Vor 1815 b e t r u g e n d i e s e b i s zu 50 %. Entsprechend s i n d b e i den Importen d i r e k t e L i e f e r u n g e n n i c h t b r i t i s c h e r G e b i e t e an d i e oben genannten b r i t i s c h e n Regionen nicht erfaßt. 114

Vgl. Tabelle 3. Vgl. Tabelle 2 und 5. 116 Von der primären Eisenpoduktion war Stabeisen mit weitem Abstand das wichtigste Außenhandelsgut. 115

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

Man mag sich fragen, welchen Einfluß die Kontinentalsperre auf die Entwicklung der primären Eisenindustrie ausübte 117 . Sehr wirksam scheint sie nicht gewesen zu sein, denn genau in diesem Zeitraum, also von 1806 bis 1813, wurde Großbritannien zum Nettoexporteur von Stabeisen. Das kräftige Wachstum der Puddeleisenindustrie von 1790 bis 1815 stimulierte die Roheisenproduktion lebhaft, denn diese lieferte den Input für das Stabeisen. Ebenso wie die Stabeisenproduktion hatte sie sich zwischen 1794 und 1815 verdreifacht, und zwar auf 340000 tons Roheisen 118 . Die regionalen Zentren der Roheisenindustrie hatten sich dabei von Shropshire nach Staffordshire und vor allem nach Südwales verlagert 119 . Dieser einleitende Abschnitt sollte anhand der Sekundärliteratur die Umgestaltung der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert — an sich nicht Gegenstand dieser Arbeit — umreißen. Dabei wurde offensichtlich, daß Nachfragefaktoren bisher fast gar nicht untersucht worden sind. Als erster Schritt zur Schließung dieser Forschungslücke wurde hier auf den Prozeß der Importsubstitution als Nachfragestimulus hingewiesen. Vor allem seit den T a b e l l e 6:

S c h m i e d e e i s e n p r o d u k t i o n während des 1 8 . hunderts,

in

1.000

Land

Jahr-

t

1725-1750

um 1800 ca.

175

England

17-25

Frankreich

40-70

90

50

60

Schweden Deutschland

15-20

Spanien

14-18

Böhmen

1

Italien

5

Rußland

10-15

5

Polen

Q u e l l e und

100-120

Erläuterungen:

W e r t i m e , Coming, S . 1 0 1 . Es h a n d e l t s i c h um g r o b e S c h ä t z d a t e n aus v e r s c h i e d e n e n Q u e l l e n , d i e das w a h r s c h e i n l i c h e P r o d u k t i o n s v o l u m e n l e d i g l i c h zu u m r e i ß e n vermögen.

117 Dieser Handelsboykott sollte nicht etwa die Versorgung Großbritanniens mit Importen verhindern — wie es Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg versuchte —, sondern er sollte, noch ganz in merkantilistischer Tradition, den Export britischer Waren nach Kontinentaleuropa unterbinden. Vgl. dazu Crouzet, Blocus Continental, zur Eisenindustrie insbesondere S. 50-52, 82f., 338f., 514f., 744-750. 118 Riden, Output, S. 455. Nach den napoleonischen Kriegen waren einige schwedische Stabeisensorten nur noch für die Stahlherstellung in Großbritannien gefragt, Boethius, Swedish Iron, S. 154. 119 Hyde, Technological Change, S. 114.

2. Der Wandel der britischen Eisenindustrie im 18. Jahrhundert

1780er Jahren scheint das zunächst vorwiegend angebotsinduzierte Wachstum der britischen Eisenindustrie durch Importsubstitution, abgestützt durch die Zollpolitik, und durch die zunehmende Gesamtnachfrage entscheidend beschleunigt worden zu sein. Für die britische Eisenindustrie war die Industrialisierung im frühen 19. Jahrhundert praktisch abgeschlossen. Fast im gesamten 18. Jahrhundert war die Eisenindustrie Großbritanniens hinter der von Schweden, Rußland oder Frankreich zurückgeblieben, trat aber in das neue Jahrhundert als größte und effizienteste ein 1 2 0 . Einen ungefähren Eindruck, wie sich die Schwerpunkte der Eisenproduktion im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa verlagerten, vermittelt Tabelle 6 mit ihren von Wertime zusammengestellten Daten.

2

Hyde, Technological Change, S.

.

3. Wachstum und Richtung britischer Eisenexporte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Als einzige bemerkenswerte Innovation in diesem Zeitraum erwies sich die Einführung des Heißluftgebläses oder der Winderhitzung (hot blast) im Jahre 1828 durch Neilson. I n Großbritannien wurde dadurch vor allem die schottische Roheisenindustrie begünstigt, die in den Folgejahren rasch zu einer der führenden Regionen in der Produktion und beim Export für Roheisen aufrückte 121 . Da diese Neuerung mit ihren Brennmaterialersparnissen relativ schnell auch in Kontinentaleuropa eingeführt wurde, soll dieses Verfahren weiter unten in einem gesonderten Abschnitt vorgestellt werden. Zwar ragen keine weiteren technologischen Einzelverbesserungen heraus, und die Produktivität im Roheisensektor stagnierte bis Ende der 1820er Jahre weitgehend, doch führte zu dieser Zeit eine Reihe kleinerer Prozeßinnovationen beim Raffinieren des Eisens im Puddelofen durchaus zu Produktivitätssteigerungen 122 . Bei dem Problemkreis, den diese Arbeit absteckt, kommt es weniger darauf an, die Produktivitätsentwicklung innerhalb Großbritanniens exakt aufzuspüren 1 2 3 , vielmehr ist seine Konkurrenzposition in Relation zu den Eisenindustrien anderer Länder festzuhalten. Ein greifbarer Beweis für die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber zuvor auf dem Weltmarkt dominierenden Eisenproduzenten ist die Öffnung des britischen Marktes für ausländische Anbieter durch eine drastische Zollsenkung im Jahre 1826 124 . Und es zeigte sich, daß lediglich spezielle Verarbeiter noch das teure schwedische und russische Stabeisen nachfragten 125 . Im allgemeinen war Großbritannien nicht nur auf seinen 121

Vgl. die Produktionsanteile nach Regionen bei Birch, Economic History, S. 128 f. Belege dafür bei Hyde, Technological Change, S. 135-143. Leichte Markteintrittsmöglichkeiten lösten bei hohen Preisen (wie 1825) sofort den Bau vieler Hochöfen aus. Die Anzahl selbständiger Anbieter vergrößerte sich rasch, so daß die Marktstruktur sich in Richtung auf die Bedingungen vollständiger Konkurrenz verlagerte. Hyde glaubt denn auch Preise als grobe Approximation für Kosten nehmen zu können, ebd., S. 138. 123 Dies ist ja der Hauptgegenstand des Buches von Hyde, Technological Change. 124 Für Stabeisen wurde er auf weniger als ein Viertel des Ausgangsniveau gesenkt, d. h. von 6,5 auf 1,5 Pfund Sterling pro ton, Scrivenor, History 1854, S. 130 f. Bezogen auf den Preis englischen Stabeisens in Liverpool (merchant bar iron) zu Beginn des Jahres 1826 von 11 Pfund Sterling pro ton (eine Preisreihe führt Porter auf, Progress of the Nation 1847, S. 586) wurde der Zollschutz von 59 auf 14 Prozent vermindert. Russisches Stabeisen notierte zur gleichen Zeit in London im Zollager, also vor der Verzollung, zwischen 17 und 23 Pfund Sterling pro ton (eine Preisreihe führt Tooke auf, Prices Bd. 2, S. 406). Erstaunlicherweise wurden erst mit der Tarifreform von 1846-1848 die wichtigsten Eisenzölle ganz aufgehoben. Zur Entwicklung der Importzölle von 1787 bis 1846/48 vgl. Parliamentary Papers 1849, Bd. LH, S. 92 f. 122

46

3. Britische Eisenexporte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts

heimischen Märkten von wirklicher Konkurrenz frei, darüber hinaus sah es sich auch in der Lage, immer größere Mengen seines Eisens zu exportieren. Für die meisten Produkte und Qualitäten der primären Eisenindustrie waren britische Unternehmen nach den napoleonischen Kriegen ohne Zweifel zum kostengünstigsten Produzenten auf der Welt aufgestiegen 126. Doch obwohl Großbritannien im 19. Jahrhundert so schnell und ausgeprägt zum weltweit führenden Eisenanbieter emporgewachsen war, gibt es bisher keine quantitativ fundierte Beschreibung oder gar Analyse der britischen Exporterfolge 127 . In den Standardwerken zur Entwicklung der britischen Eisenindustrie wird entweder mit verstreuten, wenig zusammenhängenden Informationen lediglich auf der Beispielebene argumentiert, oder aber die Exportdaten werden global, ohne zu berücksichtigen, daß sich die Struktur bei den Empfangsländern änderte, eher als Hintergrundmaterial präsentiert 128 . Nicht untypisch ist sicherlich das Werk von Hyde, das vorwiegend die Angebotsseite berücksichtigt und die Rolle der Exportnachfrage zwischen 1815 und 1830 mit einem einzigen Absatz abhandelt 129 . Immerhin betont er darin, daß Eisenexporte in Roheisenäquivalenten zwischen 1815 und 1830 um 50 Prozent zunahmen, ihr Anteil an der Gesamtproduktion im allgemeinen zwischen einem Viertel und einem Drittel ausmachte und der größte Teil dieser wachsenden Ausfuhr nach Europa geliefert wurde. Für die Aufgliederung der Exporte nach Ländern stützt sich Hyde auf die wenigen Angaben von Scrivenor 130 . Auch Davis vermag mit seinem kürzlich erschienenen Werk zur Rolle des Außenhandels für die britische Industrielle Revolution diese offensichtliche Lücke nicht zu schließen 131 . 125

So bevorzugten Hersteller von hochwertigem Zementstahl z. B. in Yorkshire lange Zeit das besonders reine Stabeisen aus diesen Ländern trotz seines hohen Preises als Ausgangsmaterial. Fairbairn (Iron, S. 206) schreibt noch 1869, daß diese Stabeisenqualitäten bis vor kurzem fast ausschließlich für die Stahlproduktion verwendet worden seien. Siehe auch Heckscher, Economic History, S. 96. 126 In diesem und späteren Abschnitten wird auf einen Sektor bezogen zugleich auch eine grundsätzliche Erscheinung der britischen wirtschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert eingehend erörtert, nämlich Großbritanniens Transformation zu einer „Export Economy". Zu diesem Thema vgl. Crouzet, Export Economy. 127 Eine Ausnahme macht der Aufsatz von Potter (Atlantic Economy), der ausdrücklich, belegt mit systematischer Qualifikation, britische Eisenexporte nach den Vereinigten Staaten diskutiert. 128 Vgl. z.B. Birch, Economic History, S. 225-231. Obwohl Birch mehr systematische Informationen als Hyde bietet, betont er: „ A systematic analysis of the development of the iron trade itself, and of the distribution of that trade between the various countries cannot be attempted here", ebd., S. 226f. 129 Hyde, Technological Change, S. 144. 130 Die Arbeit von Scrivenor, die Hyde zitiert (Scrivenor, Harry A Comprehensive History of the Iron Trade, London 18542), konnte ich nicht ermitteln. Das von mir hier benutzte Werk Scrivenors mit der zweiten Auflage aus dem gleichen Jahr enthält die von Hyde herangezogenen Seiten (S. 420-423) nicht. Beck (Geschichte 1801-1860, S. 325 f.) stützt sich ebenfalls auf Scrivenor.

3. Britische Eisenexporte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts

Das Wachstum der ausländischen Nachfrage nach britischem Eisen und die Ursache dafür wurden also noch nicht dargestellt. Die somit eher dürftige Behandlung britischer Eisenexporte kann man m. E. weniger mit einem Mangel an geeignetem quantitativen Material in britischen Quellen begründen, sondern die Hauptursache dafür dürfte darin liegen, daß sich die Verschiebungen von Exportmengen nur begrenzt aus der britischen Entwicklung selbst erschließen. Erst wenn man die innere Entwicklung der Empfangsländer einbezieht, kann man diesen Wandel hinlänglich erklären. Die oben skizzierte Lücke in der Literatur ergibt sich somit daraus, daß die nötige Erfassung der vielfaltigen und verstreuten Quellen in mehreren Ländern erhebliche Probleme bereitet. Aus methodischen Gründen wird hier zunächst die Entwicklung dieser Eisenexporte vorwiegend aus britischen Quellen skizziert, um sie dann rückkoppelnd jeweils bei der Diskussion der französischen, belgischen und deutschen Eisenindustrien zu betrachten. In Tabelle 7 sind die globalen Exportdaten neben die über die britische Roheisenproduktion zwischen 1821 und 1835 gesetzt. Während sich die Exporte in dieser Zeit mehr als verdreifachten, stiegen die Produktionsziffern auf das 2,2- bzw. 2,4fache. Schon hier zeigt die trendmäßige Entwicklung, daß die Auslandsnachfrage relativ stärker expandierte als die Absatzfahigkeit des Inlandmarktes 132 . Doch läßt sich die gewaltige Bedeutung der Exporte nicht nur aus den Zuwächsen ablesen, sondern auch die absolute Höhe dieses Marktsegmentes unterstreicht, wie wichtig Ausländer als Kunden britischer Eisenprodukte waren: I.d. R. umfaßten die Exporte in diesem Zeitraum zwischen 20 und 30 Prozent der Roheisenproduktion, vornehmlich in verschiedenen Formen der Weiterverarbeitung. Die fluktuierenden Exportquoten in Tabelle 7 spiegeln offensichtlich zyklische Schwankungen der britischen Nachfrage wider. Exporte verhalfen dazu, die Produktion überschüssiger Kapazitäten abzusetzen133. U m die Entwicklung der verschiedenartigen Eisenexporte bis zur Mitte der 1830er Jahre differenzierter nachvollziehen zu können, werden nun die Entwicklungslinien der Exporte nach Empfangsländern und Eisensorten aufgegliedert 131 Davis, Industrial Revolution. Sein Buch wurde posthum herausgegeben. Aus dem Umfang seiner statistischen Erhebungen ist zu schließen, daß ursprünglich eine gründlichere und detaillierte Darstellung der Eisenexporte auf niedrigerem Aggregationsniveau geplant war. Ebensowenig bietet der Aufsatz von Crouzet (Export Economy, S. 89 f.) detaillierte Informationen. 132 Die hier vorgenommene Umrechnung der Exporte in Roheisenäquivalente verwendet eher zu niedrige Multiplikatoren. Vgl. z. B. dazu Hyde, Technological Change, S. 144, Anm. 18, und Sering, Eisenzölle, S. 296 f. Andererseits kann verarbeitetes Eisen nicht vollständig der Roheisenpro^vkWon zugerechnet werden, da zunehmend Alteisen durch Recycling wiederverwendet wurde. Dadurch aber wird der tatsächliche Anteil des Roheisens für den Export überschätzt. Ein nicht unwichtiger Teil von Eisenexporten in Form von „machinery, hardware and cutlery" wurde nicht erfaßt. 133 Hier soll nicht auf die konjunkturbedingte Abhängigkeit der Exporte eingegangen werden — während dieser frühen Phase äußerte sie sich vor allem in einer deutlich preiselastischen Nachfrage der Importe britischen Eisens. Ausführlicher dazu vor allem in Bezug zu Deutschland vgl. Fremdling, Eisenindustrien.

48

3. Britische Eisenexporte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts T a b e l l e 7:

B r i t i s c h e E i s e n e x p o r t e und R o h e i s e n p r o d u k t i o n , 1821-1835,

Jahr

Export i n Roheisenäquivalenten X

in 1.000

t

Produktion nach Hyde nach Riden P

1

P

X • 100 P

1

X • 100 P

2

2

1821 1822 1823 1824 1825

91,6 96,9 101 ,5 82,5 81 ,6

427,0 417,0 459,0 533,0 623,0

383,8 354,3 442,9 541 ,3 570,8

21,4 23,2 22,1 15,5 13,1

23,9 27,3 22,9 15,2 14,3

1826 1827 1828 1829 1830

104,8 127,6 138,6 148,0 159,4

590,0 701 , 0 714,0 711 , 0 689,0

511 ,8 679,1 688,9 679,1 669,3

17,8 18,2 19,4 20,8 23,1

20,5 18,8 20,1 21 ,8 23,8

1831 1832 1833 1834 1835

168,2 200,5 219,6 212,4 276,3

615,0 640,0 787,0 803,0 945,0

590,2 620,0 767,7 777,5 915,3

27,3 31 ,3 27,9 26,4 29,2

28,5 32,3 28,6 27,3 30,2

Q u e l l e n und E r l ä u t e r u n g e n : D i e Berechnung der R o h e i s e n ä q u i v a l e n t e f ü r d i e E i s e n e x p o r t e b a s i e r t auf Daten i n den P a r l i a m e n t a r y P a p e r s , v g l . den Anhang. E r f a ß t wurden f o l g e n d e K a t e g o r i e n (der h i e r angewendete M u l t i p l i k a t o r , um R o h e i s e n ä q u i v a l e n t e zu e r h a l t e n , i s t j e w e i l s i n Klammern d a h i n t e r g e s e t z t ) : " P i g , Old I r o n f o r Remanufacture" ( 1 , 0 ) ; "Cast" ( 1 , 1 ) ; " B a r , B o l t and Rod" ( 1 , 4 ) ; " I r o n W i r e , Wrought I r o n , Unwrought S t e e l " ( 1 , 5 ) . D i e P r o d u k t i o n s d a t e n , es h a n d e l t s i c h meistens um r e c h t grobe Schätzungen, s i n d e n t nommen aus Hyde, T e c h n o l o g i c a l Change, S. 241, 243, 2 4 8 , und R i d e n , O u t p u t , S. 4 4 8 .

s k i z z i e r t 1 3 4 . V o m V o l u m e n her war Stabeisen eindeutig die umfangreichste Warengruppe, während Roheisen i n den 1820er Jahren noch hinter Stangenu n d Bolzeneisen (bolt and r o d ) 1 3 5 u n d Gußeisenprodukten (cast i r o n ) 1 3 6 zurückstand. D i e hochwertigen eisernen K u r z - u n d Messerwaren (hardware and cutlery) stellten ein traditionelles Exportgut dar, dessen bloßes Eisengewicht zu 134 Da Großbritannien unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen eindeutig der billigste Anbieter auf dem Weltmarkt war, kann die zutreffende Erklärung für seine Exporterfolge oder auch -mißerfolge nur bei Faktoren, welche die Empfangsländer betreffen, ansetzen. 135 Der größte Teil davon dürfte Eisen zur Herstellung von Nägeln gewesen sein, d. h. also speziell für diesen Zweck aus dem größer dimensionierten Stabeisen zugeschnittene Stangen. 136 U m welche Produkte es sich handelte, ist kaum abzuschätzen, doch sicherlich umfaßten sie Gegenstände für den Haushalts- und Landwirtschaftsbedarf. Darüber hinaus spielte die Nachfrage des Baugewerbes, z. B. nach gußeisernen Röhren, schon eine besondere Rolle.

3. Britische Eisenexporte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts T a b e l l e 8: B r i t i s c h e Roheisen- und Stabeisenexporte, a u f g e g l i e d e r t nach Empfangsländern, 1821-1835, j ä h r l i c h e Durchschnitte i n Prozent Land bzw. Ländergruppe

Roheisen (Pig I r o n ) 1821/25 1826/30

Rußland

-

Schweden/Norwegen

-

0 , rO

1831/35

Stabeisen ( e i n s c h l . Eisenbahnschienen (Bar I r o n ) 1821/25 1826/30 1831/35

0,1

0,0

0,0

0,2

-

0,0

0,0

0,1 1/1 5,6

Dänemark

0,4

0 o

2,r 0

o, 2

o, 1

0 ,, o

o ,, 0

O, 0

o ,0

4, 9

4, 3

4,4

7, 6

3, 6

5, 3

7, 2

1 8 ,, 0

1 0,2

1 7 , ,8

2 4 ,i 8

17, 4

38,o

37, 8

Mittelamerika

o , ,6

o, 2

0,1

o, 0

S ü d a m e r i ka

o. 2

o, 4

1 ,4

o, 5

o, 4

o, 4

Australien/ Ozeanien

o, 8

o ,3

o,5

o ,7

1, 2

1 ,1

1 ,1

44, 5

1 o3,7

165,o

276, 4

366, 1

47o, 0

626, 5

USA

Insgesamt (1ooo Tonnen)

a ohne

Vorderasien.

Q u e l l e und E r l ä u t e r u n g e n : V g l . d i e Bemerkungen z u r T a b e l l e 8. 1853/7o wurden k l e i n e r e L i e f e r u n g e n n i c h t g e s o n d e r t nach Ländern ausgewiesen, 1S66/7o machten d i e s e 6,3 Prozent aus.

224

6. Britische Eisenexporte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts

Hauptabnehmer britischen Roheisens in Europa waren Frankreich (mit seinem vorwiegenden Import von Gießereiroheisen) sowie Deutschland4* (das insbesondere im Rheinland und in Westfalen Puddel- und Walzwerke als Verarbeiter britischen Frischereiroheisens betrieb) 47 . Belgien fallt mit seinen hohen Einfuhren zu Beginn und wieder am Ende des Betrachtungszeitraums etwas aus dem Rahmen. Der vergleichsweise hohe belgische Importanteil in den 1830er Jahren geht auf küstennahe Weiterverarbeiter zurück, namentlich auf Gießereien, die ihren Bedarf an Roheisen bei konjunkturell bedingten Preissteigerungen (wie vor allem 1837 und 1838) kostengünstiger aus Großbritannien decken konnten 48 . In den 1860er Jahren hatten die Zollsenkungen und eine erhöhte Nachfrage britisches Roheisen wieder auf dem belgischen Markt konkurrenzfähig und notwendig gemacht, zumal Weiterverarbeiter (Gießereien und Walzwerke) immer größere Erfolge auf Exportmärkten verzeichnen konnten 49 . Daneben ließ, wie auch in Deutschland, die Einführung des Bessemerverfahrens die Einfuhr von Roheisen ansteigen, das nicht in ausreichender Menge aus belgischen Erzen gewonnen werden konnte 5 0 . Zugleich mit den vermehrten Roheisenimporten erhöhte Belgien seinen eigenen Export von Stabeisen gegen Ende des Betrachtungszeitraums, ein Prozeß, der sich im Prinzip umgekehrt in Großbritannien vollzog. So haben also offenbar diese beiden Länder ihre Eisenherstellung im Laufe der Zeit stärker auf die Produkte konzentriert, bei denen sie komparative Vorteile gegenüber dem konkurrierenden Land besaßen. Die anderen europäischen Länder, die nennenswerte britische Roheisenexporte aufnahmen, dürften dieses Eisen zumeist in Gießereien verarbeitet haben. Die Exporte von Stabeisen und Eisenbahnschienen entwickelten sich differenzierter. Hier gab es keine so klare Dominanz einiger weniger Empfangsländer wie bei den Roheisenausfuhren. Unter der Rubrik „Stabeisen" sind bis 1855 auch die Eisenbahnschienen mit erfaßt. Welches Gewicht ihnen bis dahin zukam, ist noch immer strittig. Diese Kontroverse ist eingebunden in die von der „New Economic History School" entfachte Debatte zur Rolle des Eisenbahnbaus für die Entwicklung einzelner Volkswirtschaften im 19. Jahrhundert. 46 Die größten Mengen des nach Holland verschifften Roheisens waren für das westliche Deutschland bestimmt. 47 M i t der Einfuhrung der neuen Frischtechnik, des Bessemerverfahrens, wurde es noch dringender, britisches Frischereiroheisen zu kaufen. Dem deutschen Roheisen mußte nämlich bei dieser Methode, Stahl herzustellen, sogar noch 1878 (als die Eisenenquete entstand) das aus Hämatiterzen erschmolzene und daher manganarme englische Roheisen beigemischt werden. In Osnabrück z.B. betrug der Anteil englischen Roheisens 20 Prozent, und bei Hoesch soll er sogar bei 67 Prozent gelegen haben, vgl. Reichs-Enquete, S. 265 f. 48 Vgl. Stainier, Histoire, S. 13 f., 36, 40. 49 Vgl. weiter unten die Ausführungen zum belgischen Außenhandel. Für belgische Investoren war es profitabler, stärker auf der Roheisenverarbeitungsstufe zu expandieren und die Roheisenlücke durch Importe aus Großbritannien zu schließen. 50 Das englische Roheisen aus Cumberländer Hämatit war günstig über Antwerpen zu beziehen, vgl. Dürre, Notizen, S. 264.

6. Britische Eisenexporte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts

225

Die Arbeiten von Fogel und Fishlow haben gezeigt, daß der amerikanische Eisenbahnbau vor dem Bürgerkrieg die amerikanische Eisenindustrie vor allem in seiner Nachfrage nach Roheisen weit weniger beeinflußt hatte als bisher angenommen wurde. Über den Import von Eisenbahnmaterial gingen diese Impulse nämlich weitgehend nach Großbritannien 51 . Hawke, der den Einfluß des englischen und walisischen Eisenbahnbaus auf die britische Eisenindustrie untersuchte, schlußfolgerte, daß Rückwärtskopplungen der Eisenbahnen „nicht wesentlich für die Existenz einer Eisenindustrie" waren 52 . So revidierte damals auch Hawke traditionelle Auffassungen über die Rolle des Eisenbahnbaus. Bei einer strikten Einhaltung der mit seiner Themenstellung auf England und Wales beschränkten Grenzen mag Hawkes Analyse des Zusammenhangs zwischen Eisenbahnbau und Eisenindustrie durchaus plausibel erscheinen: Für eine bereits modernisierte und quantitativ umfangreiche Eisenindustrie konnten die tatsächlichen und potentiellen Wachstumseffekte des Eisenbahnbaus sicherlich nicht so mächtig sein wie für die noch beträchtlich weniger entwickelten Eisenindustrien Kontinentaleuropas oder der Vereinigten Staaten. Doch wenn man Hawkes Arbeit in den Kontext der durch die „New Economic History" angeregten Untersuchungen rückt, so greift sie zu kurz. Denn bei dem exportinduzierten Wachstum Großbritanniens müssen m.E. unbedingt die britischen Ausfuhren von Eisenbahnmaterial einbezogen werden. Wird nun dieser Export zur inländischen Nachfrage hinzugefügt, so entfielen nach einer vorsichtigen Schätzung (Untergrenze) auf die Nachfrage des Welteisenbahnbaus (die abgeleitet auf britische Roheisenproduzenten traf) von 1844 bis 1851 26 Prozent und von 1852 bis 1859 18 Prozent der britischen Roheisenproduktion 5 3 . Eher großzügig berechnet Gourvish diese Nachfrage (Obergrenze) von 1844 bis 1851 auf 39 Prozent und von 1852 bis 1869 auf 24 Prozent 54 . Bei allen Spekulationen über die tatsächliche Nachfrage des Eisenbahnbaus nach britischem Eisen bleibt festzuhalten, daß Eisenexporte in hohem Maße für den Eisenbahnbedarf in anderen Ländern bestimmt waren. Ihr Ausmaß abzuschätzen, ist zwar schwierig, jedoch gliederten die Ausfuhrstatistiken von 1856 an die Eisenbahnschienen aus der Kategorie Stabeisen aus und wiesen sie seither mit anderem Eisenbahneisen gesondert aus. Wenn man die Exporte von Eisenbahnschienen als Prozentanteil der Stabeisen- und Schienenexporte ausdrückt, so beliefen sie sich in jeweils fünfjährigen Durchschnittswerten 55 :

51 Fishlow bewertet allerdings die Rückwärtskopplungseffekte, trotz etwa gleicher quantitativer Resultate, höher als Fogel. Der revisionistische Ansatz bleibt aber bei beiden deutlich, vgl. Fishlow, American Railroads, S. 132-149; Fogel, Railroads, S. 147-206. Siehe auch Adler, British Investment, S. 25 ff. 52 Hawke, Railways, S. 245. Einen kurzen Überblick über die Diskussion in Großbritannien gibt Crouzet, Economie, S. 261 ff. 53 Fremdling, Railroads, S. 600. 54 Gourvish, Railways, S. 24. 55 Berechnet nach den Werten der Tabellen 38 und 39.

15 Fremdling

226

6. Britische Eisenexporte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts

1856/60 auf 64,1 Prozent 1861 /65 auf 59,1 Prozent 1866/70 auf 69,2 Prozent. Es spricht nichts dagegen, anzunehmen, daß auch in den 1840er und in den beginnenden 1850er Jahren so gewaltige Anteile des als Stabeisen ausgewiesenen Exportes dem ausländischen Eisenbahnbedarf zuflössen. Doch ist mit dieser größten Einzelposition der Eisenausfuhren keineswegs die Eisenbahnnachfrage erschöpfend erfaßt; vielmehr waren darüber hinaus bedeutende Mengen der restlichen Eisenexporte unmittelbar (etwa als Kleineisenmaterial sowie als Schienenstühle) oder nach einer Weiterverarbeitung (z. B. in deutschen Walzwerken) für den ausländischen Eisenbahnbau bestimmt. Davis, der den Anstieg des Exportwertes aller Eisen- und Stahlausfuhren von 1844/46 und 1854/56 von dreieinhalb Millionen Pfund auf über elf Millionen beziffert, glaubt von der Steigerung vierzig Prozent dem Eisenbahnmaterial direkt zurechnen zu können 5 6 . Die Richtung der britischen Stabeisen- und Schienenexporte verschob sich im Zeitablauf deutlich. Neben Fluktuationen ohne erkennbare Tendenz, z. B. bei den Vereinigten Staaten 57 , sind im Trend einerseits Verluste auf traditionellen Märkten und andererseits Erschließungen neuer Absatzgebiete erkennbar. Der Aufholprozeß in Deutschland schlägt sich deutlich in sinkenden Absatzquoten nach Deutschland und Holland nieder 58 . Frankreich dagegen gewann durch die Lockerung seiner prohibitiven Zollpolitik zeitweilig (d.h. zwischen 1856 und 1859 sowie zwischen 1861 und 1863) einige Bedeutung. Doch insgesamt bot Frankreich nie einen größeren Absatzmarkt für britische Produzenten. Belgien, selbst bedeutender Exporteur von Eisenbahnschienen, fiel folglich als Stabeisenkäufer mehr oder minder aus. In Skandinavien trat allenfalls Dänemark als Abnehmer auf, während sich Schweden, das ja hochwertiges Stabeisen sogar nach Großbritannien exportierte, weitgehend selbst versorgte. Lediglich vom Massenprodukt Eisenbahnschienen bezog es einige nennenswerte Mengen 59 . Rußland aber, obgleich es wie Schweden selbst hochwertiges Stabeisen auf dem Weltmarkt anbot, wurde mit seinem Eisenbahnbau seit der Mitte der 1840er Jahre zum Großkunden britischer Eisenbahnschienen60. Durch die zollfreie 56

Davis, Industrial Revolution, S. 29. Zu den Gründen vgl. Fishlow, American Railroads, S. 139f.; Adler, British Investment, S. 26 ff. 58 Abgesehen von dem starken Anstieg der Exporte gegen Ende der 1850er Jahre wurde das Niveau der Jahre 1844 bis 1847 kaum jemals wieder erreicht. 59 1854 bzw. 1856 betrieben Norwegen und Schweden die ersten Eisenbahnlinien, vgl. Mitchell, Historical Statistics, S. 316. 60 Z. B. erhielt 1844 die Dowlais Iron Company von Rußland den kolossalen Auftrag über 50000 tons Schienen. Das war der größte Einzelauftrag, den sie je bekam, entsprach er doch fast einer Jahresproduktion. Natürlich wurde er sukzessive in den Folgejahren abgewickelt. Auch in den 1850er und 1860er Jahren war Dowlais mit großen Lieferungen am Ausbau des Netzes in Rußland beteiligt, vgl. Owen, Dowlais 1977, S. 33. Von 1853 bis 1870 verzehnfachte sich das in Rußland betriebene Streckennetz auf fast 11000 Kilometer, 57

6. Britische Eisenexporte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Tabelle

38:

Britische

Stabeisenexporte

aufgegliedert jährliche

1836/40

Durchschnitte

1841/45

(Bar

Iron),

Empfangsländern, in

1.836-1B7o,

Prozent

1846/5o

1851/55

1856/6o

1861/65

4,2

3,3

o,4

o ,, 8

2 ,, o

LT)