Tödliche Medizin im Nationalsozialismus: Von der Rassenhygiene zum Massenmord 9783412335816, 9783412232061


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Tödliche Medizin im Nationalsozialismus: Von der Rassenhygiene zum Massenmord
 9783412335816, 9783412232061

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Tödliche Medizin im Nationalsozialismus

Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Gisela Staupe Band 7

Tödliche Medizin im Nationalsozialismus Von der Rassenhygiene zum Massenmord Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke

$ 2008 BÖHLAU VERLAG KÖLN W E I M A R W I E N

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Anthropologischer Tastzirkel. Deutsches Historisches Museum, Berlin. Titelmotiv der Ausstellung »Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus / Deadly Medicine Creating the Master Race«. Mit freundlicher Genehmigung des United States Holocaust Memorial Museum, Washington DC.

© 2008 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Satzpunkt Bayreuth, Bayreuth Druck und Bindung: AALEXX Druck GmbH, Großburgwedel Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-23206-1

Inhaltsverzeichnis

Gisela Staupe Vorwort

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Klaus-Dietmar Henke Einleitung: Wissenschaftliche Entmenschlichung und politische Massentötung

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Richard J. Evans Zwangssterilisierung, Krankenmord und Judenvernichtung im Nationalsozialismus: Ein Überblick

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Heinrich Zankl Von der Vererbungslehre zur Rassenhygiene

47

Michael Schwartz Eugenik und „Euthanasie": Die internationale Debatte und Praxis bis 1933/45

65

Gisela Bock Nationalsozialistische Sterilisationspolitik

85

Hans-Walter Schmuhl Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus und der „Reichsgesundheitsführer" Leonardo Conti

101

Caris-Petra Heidel Schauplatz Sachsen: Vom Propagandazentrum fur Rassenhygiene zur Hochburg der Kranken-„Euthanasie"

119

Boris Böhm Die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41

149

Jochen-Christoph Kaiser Widerspruch und Widerstand gegen die Krankenmorde

171

6

Inhaltsverzeichnis

Henry Friedlander Von der „Euthanasie" zur „Endlösung"

185

Angelika Ebbinghaus Mediziner vor Gericht

203

Frank Hirschinger Die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen in der SBZ/DDR

225

Paul Weindling Entschädigung der Sterilisierungs- und „Euthanasie"-Opfer nach 1945?

247

Jan Philipp Reemtsma 1933/1945: Zäsuren zum Bösen - Zäsuren zum Guten

259

Uwe Kaminsky Die NS-„Euthanasie". Ein Forschungsüberblick

269

Auswahlbibliographie zu Eugenik, Rassenhygiene, Zwangssterilisation, NS-„Euthanasie" und deren Strafverfolgung nach 1945 Zusammengestellt von Jana Wolf

291

Autorenverzeichnis

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Vorwort

Von Oktober 2006 bis Juni 2007 zeigte das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden die Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum „Tödliche Medizin: Rassenwahn im Nationalsozialismus" („Deadly Medicine: Creating the Master Race"). Die Zusammenarbeit der beiden Museen war nicht ganz selbstverständlich: Das Deutsche Hygiene-Museum hatte während der Zeit des Nationalsozialismus die rassenhygienischen Programme als Institution vorbehaltlos unterstützt und propagiert. Das United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. gehört dagegen zu den bedeutendsten Einrichtungen für die Dokumentation und Erforschung des Holocaust. Die Ausstellung warf einen neuen Blick auf die Vernichtung der europäischen Juden im Zusammenhang mit den „Euthanasie"-Verbrechen der Nationalsozialisten und nahm die damalige Arbeit des Deutschen Hygiene-Museums auch selbst als Beispiel. Sie zeigte in ungewohnter Deutlichkeit, dass der nationalsozialistische Staat auf einer Biologisierung des Sozialen gründete: auf der Idee des Volkskörpers, der nur dadurch vor dem Verfall zu bewahren sei, dass sogenannte belastende Erbfaktoren systematisch aus ihm entfernt würden. Dieser Gedanke war die gemeinsame Wurzel für die Vernichtung der europäischen Juden und die eugenischen Tötungsmaßnahmen im Gewände der Medizin. Begleitet wurde die Ausstellung durch ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Vorträgen, Lesungen, Tagungen, Workshops und Podiumsdiskussionen. Ein wichtiger Bestandteil war die außergewöhnlich gut besuchte und herausragend besetzte Ringvorlesung „Tödliche Medizin: Von der Rassenhygiene zum Massenmord", die in diesem Band dokumentiert wird. Der Dresdner Zeithistoriker Klaus-Dietmar Henke hat diese Vortragsreihe ebenso engagiert konzipiert und geleitet wie er sich für diesen Band und die ergänzende Aufnahme weiterer renommierter Autoren eingesetzt hat. Dafür möchte ich ihm sehr herzlich danken. Das Ergebnis ist ein von international bekannten Forschern verfasster, umfassender Uberblick der wissenschaftlichen Diskussion, der in einer solchen leicht zugänglichen und interdisziplinären Form vermutlich nicht oft zu finden ist. Historiker, Mediziner und Sozialwissenschaftler schlagen den Bogen von den Anfangen der medizinischen Eugenik zu den staatlichen Massenmordprogrammen der Nationalsozialisten, von regionalspezifischen Darstellungen zu der Frage nach 1945, wie die Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden und welche Konsequenzen die medizinische Ethik aus den Vorgängen zog. Denn das Thema ist nach wie vor nicht abgeschlossen und verlangt weitere Forschung und kritische Diskussionen. Gisela Staupe

Klaus-Dietmar Henke

Einleitung: Wissenschaftliche Entmenschlichung und politische Massentötung

Die meisten Verbrechen, die seit dem Ärzteprozess vor dem amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg 1946/47 gemeinhin der „Medizin ohne Menschlichkeit" im Nationalsozialismus1 zugerechnet werden, haben mit Medizin als Wissenschaft und Praxis im strengen Sinne wenig zu tun. Die zwischen 1934 und 1945 durchgeführte massenhafte Verstümmelung und Vernichtung von Kranken, als „erbkrank" Abgestempelten oder sonst wie Missliebigen - darum geht es in diesem Buch vor allem war in erster Linie ein medizinisch getarntes und verbrämtes Ideologieverbrechen. Wenn die politischen Massentötungen hier dennoch unter dem Rubrum „Tödliche Medizin im Nationalsozialismus" abgehandelt werden, so signalisiert das lediglich, dass dieser Band in engem Zusammenhang mit der Ausstellung „Deadly Mediane. Creating the Master Race" des United States Holocaust Memorial Museum 2 entstanden ist, die 2006/7 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden gezeigt wurde. Zugleich bleibt dadurch kenntlich, dass die sozialutilitaristisch, rassenhygienisch oder rassenideologisch grundierten so genannten Medizinverbrechen im deutschen Herrschaftsbereich mit bestimmten Strängen der modernen Medizin- und Psychiatrietradition verknüpft waren und dass Anthropologen, Arzte, Psychiater, Gesundheitsbürokraten, Krankenschwestern und Pfleger bei diesen Untaten Expertise zur Verfügung gestellt oder ihre Hand unmittelbar dazu geliehen haben. Die hier versammelten Aufsätze, die zum Teil aus einer vom Dresdner Lehrstuhl für Zeitgeschichte besorgten Begleitvorlesung hervorgegangen sind,3 wenden sich an ein breiteres Publikum. Sie reflektieren die Ergebnisse einer zeitgeschichtlichen und medizinhistorischen Forschung zu Zwangssterilisation und „Euthanasie",4 die

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Mitscherlich, Alexander/ Mielke, Fred (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, 16. Auflage, Frankfürt am Main 2004 (Erstausgabe 1960). Siehe das Begleitbuch des United States Holocaust Memorial Museum, Deadly Medicine. Creating the Master Race, Washington 2004. Auf diese Vorlesung gehen die Beiträge von Richard J. Evans, Michael Schwartz, Hans-Walter Schmuhl, Caris-Petra Heidel und Angelika Ebbinghaus zurück. Zu den Wandlungen des Begriffes siehe Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens", 2. Auflage, Göttingen 1992, S. 25 ff

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Klaus-Dietmar Henke

sich erst in den achtziger Jahren zu intensivieren begann.5 Mittlerweile hat die breit gefächerte Beschäftigung mit diesem nationalsozialistischen Verbrechenskomplex nicht nur diesen selbst gründlich ausgeleuchtet. Wir sind inzwischen auch gut über die in den Industriestaaten seit dem 19. Jahrhundert zu beobachtende Entfaltung biopolitischen Machbarkeitsdenkens und den Verlauf des rassenhygienischen und rassenbiologischen Diskurses unterrichtet, speziell über den Status, die Institutionalisierung und die politisch-gesellschaftliche Verankerung solcher Vorstellungen in Deutschland vor der entscheidenden Zäsur des 30. Januar 1933. Dasselbe gilt für den gedanklichen und tatsächlichen Nexus zwischen dem Krankenmord und der Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs. Die fünfzehn Autorinnen und Autoren behandeln diese Fragen ebenso wie etwa die Schilderung des Widerspruchs gegen die Tötungen oder, mit Blick auf das Publikum aus dem unmittelbaren Einzugsbereich der Ausstellung, die Mittäterschaft von Personen und Institutionen in Sachsen, einer Kernregion des Krankenmords,6 die zu Zeiten der DDR lange im Dunkeln geblieben oder im Allgemeinen einer politisierten Faschismuskritik belassen worden war. Auch die „Nachgeschichte" der NS-Tötungsverbrechen mit der strafrechtlichen Verfolgung in Ost und West sowie dem Umgang mit den Sterilisierungs- und „Euthanasie"-Opfern findet Beachtung. Jan Philipp Reemtsmas Reflexionen über „Zäsuren zum Guten Zäsuren zum Bösen" beschließen die vorliegende Bestandsaufnahme. Die einleitenden Überlegungen steuern einige Gesichtspunkte bei, deren Kenntnis in den Einzelbeiträgen vorausgesetzt ist, die dort nur anklingen oder gar nicht thematisiert werden konnten. So soll neben ihrer Verknüpfung ein wenig auch die Aufmerksamkeit für die innere Kohärenz eines Ideologie- und Tatkomplexes politischer Massentötung gelenkt werden, der auf das Engste mit einem schon davor einsetzenden Prozess wissenschaftlicher Entmenschlichung verknüpft ist, ohne dessen Kenntnis diese Verbrechen schwer verständlich bleiben müssten. Historisch gesehen, ist die vertraute Vorstellung, dass alle Menschen - egal, wie sie aussehen und was sie leisten - von Geburt an dieselbe angeborene Würde und 5

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Neben den in der Auswahlbibliographie von Jana Wolf aufgeführten Arbeiten von Götz Aly, Dirk Blasius, Gisela Bock, Klaus Dömer, Benno Müller-Hill, Kurt Nowak, Karl Heinz Roth, Hans-Walter Schmuhl, Michael Schwartz und Paul Weindling ist vor allem auf das Pionierwerk von Ernst Klee, „Euthanasie" im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main 1983, zu verweisen, der dem Schicksal der Betroffenen von Anfang an besondere Aufmerksamkeit schenkte. Zur Entwicklung der Forschung siehe neben dem Beitrag von Uwe Kaminsky in diesem Band u. a. die Berichte von Nowak, Kurt, Sterilisation und „Euthanasie" im Dritten Reich. Tatsachen und Deutungen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 39 (1988), S. 327-341; Bock, Gisela, Rassenpolitik, Medizin und Massenmord im Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 30 (1990), S. 423-453; Süß, Winfried, Krankenmord. Forschungsstand und Forschungsfragen zur Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie", in: Bauer, Theresia/ ders. (Hg.), NS-Diktatur, DDR, Bundesrepublik. Drei Zeitgeschichten des vereinigten Deutschland. Werkstattberichte, Neuried 2000, S. 47-84; als erste Orientierung etwa Hamm, Margret (Hg.), Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie", Frankfurt am Main 2005. Siehe etwa den von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten herausgegebenen Band Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004.

Wissenschaftliche Entmenschlichung undpolitische Massentötung

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dieselben unveräußerlichen Rechte besitzen, die ihnen deswegen auch von niemandem verliehen oder abgesprochen werden können, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, die mittlerweile universelle Norm, nach der alle Menschen gleich viel wert sind und es schon deswegen keine höher- oder minderwertigen Individuen, Rassen, Völker und Nationen geben kann, ist selbst eine der bedeutenden Errungenschaften der Menschheit. Die Erfahrung mit der menschheitsfeindlichen Herrschaft des Nationalsozialismus hat wesentlich zur Verankerung dieser zivilgesellschaftlichen Grundüberzeugung beigetragen. Nach dem Verblassen der dominierenden Glaubensgewissheit von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der Heiligkeit des Lebens bestimmten seit dem 18. Jahrhundert zunehmend die Aufklärung und namentlich die Naturwissenschaften die Konturierung des Menschenbildes. Die Tendenz zu einer „vorrangig biologischen Betrachtung des Menschen" relativierte dessen einstige Sonderstellung im „Gesamtprozess der natürlichen Entwicklung".7 Verstärkt seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, waren es gerade Naturforscher, Anthropologen und Mediziner, die den Gedanken einer Ungleichheit des Menschen propagierten. Diese entwicklungsbiologisch untermauerte Uberzeugung existierte „nach der Metaphysik"8 in den meisten westlichen Gesellschaften parallel zu den Gleichheitsprinzipien der Amerikanischen und Französischen Revolution und zu den keineswegs zur Gänze ad acta gelegten jüdisch-christlich-humanistischen Traditionsbeständen. Die Naturwissenschaften erschütterten nicht nur die christliche Vorstellung von der gemeinsamen Abstammung und damit der universellen Brüderlichkeit und Gleichheit der Menschen, sie schienen dem in utopischen Entwürfen seit der Antike immer wieder ausgemalten Traum von der Vervollkommnung der menschlichen Art, diesem „unspezifischen Streben nach Höherentwicklung",9 zudem endlich konkrete Handlungsperspektiven zu eröffnen. Denn parallel zur industriellen Revolution und zu den epochalen medizinisch-hygienischen Umwälzungen, die das Leben in den fortgeschritteneren Staaten in kürzester Frist verwandelten, änderte sich nach dem Erscheinen des Werkes von Charles Darwin „On the Origins of Species" 1859 die Wahrnehmung der biologischen Realitäten des Menschen ebenfalls von Grund auf Mit dem Siegeszug der Selektions- und Evolutionstheorie, die mit naturwissenschaftlichen Argumenten bald nicht mehr in Frage zu stellen war, konnte das Geheimnis des menschlichen Ursprungs als gelüftet gelten. Es war vor allem der aus der Darwinschen Entwicklungstheorie herausgelesene Fortschrittsglaube, der

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Nowak, Kurt, „Euthanasie" und Sterilisierung im „Dritten Reich". Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und der „Euthanasie"-Aktion, 3. Auflage, Göttingen 1984, S. 15. Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankflirt am Main 2005, S. 11. Weingart, Peter/ Kroll, Jürgen/ Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankflirt am Main 1992, S. 27; daraus das folgende Zitat, S. 17.

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Klaus-Dietmar Henke

eine bezwingende Faszination ausübte. Viele gelangten zu der Überzeugung, moderne Technik, Medizin und Biowissenschaften erlaubten jetzt nicht nur eine fundamentale Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände, sondern sogar die Verwirklichung jener Utopien von der biologischen Höherentwicklung der Gattung Mensch. Das überaus einflussreiche Darwinsche Modell, das rasch die „Funktion eines Weltbildes" erlangte, schien zweierlei Schlussfolgerungen nahe zu legen, zum einen, dass es tatsächlich eine stete Höherentwicklung der menschlichen Art gebe, zum anderen, dass die moderne Zivilisation mit ihren inzwischen erreichten medizinischen, sozialen und ethisch-moralischen Standards die natürliche menschliche Evolution außer Kraft setze, weil sie kontraselektorisch sei, also den „Kampf ums Dasein", an dem doch aller Fortschritt hänge, gewissermaßen in Humanitätsduselei ersticke. Ersteres hatte Darwin nie behauptet, Letzteres war eine Verfälschung seiner Selektionstheorie. Dem britischen Naturforscher ging es um einen „grundsätzliche richtungsoffenen, wertneutralen Selektionsvorgang".10 Er vermied Wertkriterien und betonte, dass nicht „jede Entwicklung in der Natur Höherentwicklung bedeute". Die martialische Übersetzung des bald popularisierten und instrumentalisierten Terminus „struggle for life" und erst recht dessen Anwendung auf die menschliche Lebenswelt war nichts anderes als die irreführende Verzerrung der Darwinschen Beobachtung, dass es in der pflanzlichen und tierischen Natur um die biologische Tauglichkeit unter den jeweiligen Umweltbedingungen geht und sich dabei ein Wettbewerb um Lebenschancen entfaltet. Im Sozialdarwinismus, der Radikalisierung und Politisierung dieser Entdeckung, wurde daraus ein ewiges „Ringen um Selbstbehauptung durch Machtsteigerung, und zwar nicht mehr primär zwischen Individuen, sondern zwischen Kollektiven: sozialen Interessentengruppen, Völkern und Rassen". In diesem Diskussionsklima wäre es überraschend gewesen, wenn keine Denkschule entstanden wäre, die sich die Verbesserung der menschlichen Art und ihres Erbgutes durch geeignete Zuchtwahl auf ihre Fahnen geschrieben hätte. In allen modernen Staaten etablierte sich um die Jahrhundertwende die „Eugenik, die .Wissenschaft vom guten Erbe', die in Deutschland vorwiegend als Rassenhygiene bezeichnet wurde";11 in einigen Staaten wie den USA auch bereits als biopolitische Praxis.12 Grob gesprochen unterschied man die positive Eugenik, die den Genpool der Bevölkerung durch Fördermaßnahmen der „Aufartung" verbessern sollte, von der negativen Eugenik, die sich um die „Ausmerzung" unerwünschten Erbgutes 10 Zitate bei Zmarzlik, Hans-Günter, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), S. 246-273, hier S. 250 f. 11 Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1992, wie Anm. 9, S. 16. 12 Vgl. den Beitrag von Michael Schwartz in diesem Band sowie Friedlander, Henry, Der Weg zum NSGenozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, S. 27 ff. Als Überblick Allen, Garland E„ The Ideology of Elimination. American and German Eugenics, 1900-1945, in: Nicosia, Francis R./ Huener, Jonathan (Hg.), Medicine and Medical Ethics in Nazi Germany, New York 2002, S. 13-39.

Wissenschaßliche Entmenschlichung undpolitische Massentötung

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kümmern würde. In diesem Denkhorizont war eine Höherentwicklung der menschlichen Art oder einer bestimmten „Rasse" nur herbeizufuhren, wenn man Menschen, die nicht in das eugenische Positivschema passten, an der Fortpflanzung hinderte. Selbstverständlich ist es eine abwegige Suggestion, der Weg zu Hitler habe bei Darwin begonnen.13 Es führte natürlich auch kein gerader Weg von der Rassenhygiene zur NS-„Euthanasie"14 und schließlich zum Judenmord. Die immanente Konsequenz biologistischen Denkens liegt gleichwohl auf der Hand. Die „Verabsolutierung des .Erbfaktors'" suggeriert, „als seien die Erbanlagen das letzte Faktum, das über das Wohl und Wehe der Menschheit" entscheidet.15 In einem nachgerade paranoiden Reduktionismus und Reinheitswahn, wie er die NS-Ideologie kennzeichnet, traten die politischen, sozialen, ökonomischen, psychologischen, geistigen und künstlerischen Prozesse, welche das Leben der Gesellschaft bestimmen, ganz hinter den Gesetzen der Biologie zurück. In dieser Logik haben die als Überbleibsel bürgerlich-humanistischen Denkens gebrandmarkten elementaren Menschenrechte des einzelnen „Erbträgers" hinter dem Uberlebensinteresse seiner Gattung oder „Volksgemeinschaft" zurückzustehen,-die Interessen der lebenden Generation hinter denen der kommenden. Schon damals wurde freilich erkannt, dass diese Ideologie, wie Kurt Nowak schreibt, darauf hinauslief, „den Menschen seiner Freiheit und Würde zu berauben". Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende biologistische Paradigma bot nicht nur eine leicht fassliche Deutung der bisherigen Menschheitsentwicklung, sondern es schien auch Patentlösungen für die drückendsten Probleme der Gegenwart und Zukunft bereitzustellen, die sich in Europa und den Vereinigten Staaten infolge der sozialen und mentalen Verwerfungen der Industriellen Revolution aufgetürmt hatten. Da die rasante Urbanisierung und Pauperisierung auch als „Entartung" einer so lange fest gefugten Ordnung erfahren wurde, erhielten jetzt in Reaktion auf die Verwandlung der vertrauten Welt neben starken politischsozialen Bewegungen auch extrem ideologisierte Strömungen Konjunktur. Eindeutig sozial verursachte Krisen wurden einer biologischen Deutung unterworfen. Diese Biologisierung des Gesellschaftlichen ist der eigentliche Kern des eugenischen und rassistischen Credos. Eugenisch orientierte Arzte, Psychiater und Politiker qualifizierten nun die Geißeln der Moderne zu allererst als Folge der Degeneration des

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So Weikart, Richard, From Darwin to Hitler. Evolutionary Ethics, Eugenics and Racism in Germany, New York 2004. Siehe dagegen das Standardwerk von Weindling, Paul, Health, Race and Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge 1989. 14 Siehe die insgesamt fruchtbare Debatte zwischen Hans-Walter Schmuhl und Michael Schwartz: ders., „Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie"? Kritische Anfragen an eine These Hans-Walter Schmuhls, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 604-622, sowie Schmuhl, Hans-Walter, Eugenik und „Euthanasie" - Zwei Paar Schuhe? Eine Antwort auf Michael Schwartz, in: Westfälische Forschungen 47 (1997), S. 757-762. 15 Nowak, 1984, wie Anm. 7, S. 26; daraus das folgende Zitat.

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Klaus-Dietmar Henke

menschlichen Erbgutes. Ein Ausweg aus dieser Misere war für sie nur über eine „Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf biologistischer Grundlage"16 denkbar. Das existenzielle Gewicht, das die Eugeniker ihrer Wissenschaft für die Menschheitsentwicklung beimaßen, fasste Fritz Lenz, einer ihrer führenden deutschen Vertreter, kurz vor dem Machtantritt Hitlers in das selbstsichere Diktum, die Frage der genetischen Qualität sei hundertmal bedeutsamer als die Frage nach Kapitalismus oder Sozialismus und der Kampf zwischen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot.17 Neben der realen Lage kam die geistige Situation der Zeit um die Jahrhundertwende solchen Phantastereien ebenfalls entgegen. Im Fin de Siècle erfuhren, wie Peter Weingart gezeigt hat,18 die kulturpessimistischen Dekadenz- und Verfallsphantasien eine willkommene naturwissenschaftliche Unterfütterung. Auch wenn das so erweiterte Degenerationsszenarium ein Hirngespinst gewesen ist, so war es doch eines von beträchtlicher Faszinationskraft, das zudem auf einige Glaubensbereitschaft im akademischen Milieu traf und soziale Vorurteile trefflich abstützte. Das rührte mit davon her, dass mancher Verfallstheoretiker mit seinem Plädoyer für biosoziales engineering und die Eindämmung der angeblich ganz besonders fortpflanzungsfreudigen „Minderwertigen" zugleich eine Restabilisierung der Klassenund Rassenschranken anzielte. War die Grenze zwischen Wissenschaft und Ideologie schon bei dem Versuch sehr durchlässig, sich ein naturwissenschaftliches Bild von den Vererbungs- und Entwicklungsvorgängen zu machen, so gab es diese Grenze bei den ebenfalls im 19. Jahrhundert aus dem Boden schießenden Rassentheorien nie. Rassismus war immer pure Ideologie. Eugenik zielte nach der Definition eines führenden amerikanischen Vertreters auf die „Aufwertung der menschlichen Rasse durch verbesserte Fortpflanzung"19 - nicht einer bestimmten „Rasse". Rassentheoretiker und Rassenideologen dagegen suchten zu ergründen und zu beweisen, wieso der Genpool der einen „Rasse" wertvoller sei als der einer anderen. Dabei ging es nicht in erster Linie um äußere Merkmale, sondern um die angeblich überlegenen oder verwerflichen Eigenschaften, um die geistig-seelische Prägung einer „Rasse" oder eines Volkes. „Wenn es nur körperliche Rassenunterschiede gäbe, so wäre ja die ganze Rassenfrage ohne besondere Bedeutung", stellte Lenz einmal fest.20 Obgleich es wichtig ist, den Unterschied zwischen Rassenhygienikern und Rasseideologen im Auge zu behalten - ging es Ersteren darum, die Vermischung guter und schlechter Erbmasse zu vermeiden, so wollten Letztere die Vermischung von höherwertigen und niederwertigen „Rassen" verhindern -, gab es eine so säuberli16 Zmarzlik, 1963, wie Anm. 10, S. 266. 17 Vgl. Müller-Hill, Benno, Reflections of a German Scientist, in: United States Holocaust Memorial Museum, Deadly Medicine. Creating the Master Race, Washington 2004, S. 185-199, hier S. 189. 18 Siehe Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1992, wie Anm. 9, S. 58 ff. 19 Zit. n. Friedlander, 1997, wie Anm. 12, S. 32. 20 Zit. n. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1992, wie Anm. 9, S. 102.

Wissenschaftliche Entmenschlichung undpolitische Massentötung

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che Scheidung zwischen beiden Strömungen doch nie. Namentlich in Deutschland beeinflussten und befruchteten sie sich gegenseitig. Die Grenzen verschwammen oder wurden absichtlich verwischt. Die Reinheitsobsession der Rassisten war insofern von besonderer Absurdität, als Rassereinheit, wie man sehr gut wusste, ein in der Realität der modernen Welt nicht vorfindliches Konstrukt ist. Uber die Entstehung der verschiedenen Menschenrassen war nichts Konkretes bekannt, und bestimmte anthropologische Merkmalshäufungen sind solange politisch und sozial belanglos, wie sie nicht mit charakterlichen und sozialpsychologischen Wertungen verknüpft werden. Auf diese Ideologisierung des Rassebegriffs kam es den Rassentheoretikern seit dem 19. Jahrhundert jedoch gerade an. Für George L. Mosse ist Rassismus nicht lediglich Ausdruck von wertgeladenen Klischees, sondern ein „umfassendes Denksystem", eine Weltanschauung wie Konservativismus, Liberalismus oder Sozialismus.21 Dank einer leicht zugänglichen Ideologie des Augenscheins konnte der mit dem Segen der Naturwissenschaft als rassisch minderwertig Abgestempelte in der Ausweglosigkeit dieser Zuschreibung festgehalten werden. Ohne jeden wissenschaftlichen Beleg galt sogar bei Spezialisten bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein22 Rassenvermischung als ein Geschehen mit nachteiliger Auswirkung auf die vermeintlich höherwertige „Rasse". Wesen und Funktion des Rassismus (bei dem Deutschland als späte Nation und Kolonialmacht lange kein Schrittmacher gewesen ist) lagen vor allem darin, dass er den Mitgliedern eines Sozialverbandes Schutz vor als Außenseiter Stigmatisierten garantiert, in einer komplizierten Welt jedem seinen Platz zuweist und eine eindeutige Orientierung gibt, wer gut oder böse, wertvoll oder minderwertig sei. Damit gelang es rassistischen Gesellschaften zumindest partiell, über die tatsächlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebensbedingungen hinweg zu gehen. Diese Biologisierung des Gesellschaftlichen erleichterte die Verständigung zwischen Rassenhygienikern und Rasseideologen sehr. Die Politik zur Verbesserung des Erbgutes war keine spezielle Marotte der Nationalsozialisten. „Eugenik konnte sich grundsätzlich mit vielen weltanschaulichen Positionen verbinden",23 wie Stefan Kühl, Hans-Walter Schmuhl und Michael Schwartz gezeigt haben.24 Schon um die Jahrhundertwende gab es einen weltwei-

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Mosse, George L., Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main 1994, S. 7; auch zum Folgenden; insbes. S. 23 f. Siehe Teich, Mikulas, The Unmastered Past of Human Genetics, in: ders./ Porter, Roy (Hg.), Fin de Siècle and its Legacy, Cambridge 1990, S. 296-324, hier S. 308. Zu den naturwissenschaftlichen Aspekten Vogel, Friedrich, Sind Rassenmischungen biologisch schädlich?, in: Rössner, Hans (Hg.), Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie, München 1986, S. 92-109. Schwartz, Michael, Konfessionelle Milieus und Weimarer Eugenik, in: Historische Zeitschrift 261 (1995), S. 403-448, hier S. 444. Vgl. die Standardwerke von Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997; Schmuhl, 1992, wie Anm. 4; Schwartz, Michael, Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890-1933, Bonn 1995.

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Klaus-Dietmar Henke

ten eugenischen Diskurs und erste Institutionalisierung wie etwa die 1905 von Alfred Ploetz gegründete deutsche „Gesellschaft für Rassenhygiene". Ihr wissenschaftlicher Anspruch hinderte ihn und andere nicht daran, enge Beziehungen zum völkisch-nationalistischen Milieu zu unterhalten,25 dessen Rassenphantastereien von den frühen Nationalsozialisten und Hitler selbst begierig aufgesogen wurden. Der Arzt Wilhelm Schallmayer, ein weiterer Eugenik-Verfechter der ersten Stunde, verstand Rassenhygiene als eine Interventionswissenschaft und sprach offen aus, was der gebotenen radikalen Wende in der Gesundheits- und Gesellschaftspolitik im Wege stehe. Noch lasse sich, schrieb er in seinem Klassiker über Vererbung und Auslese, die Wertschätzung der großen Unterschiede zwischen den Erbanlagen beim Menschen leider „nicht mit unseren überlieferten Begriffen von Gerechtigkeit und freiem Willen" in Ubereinstimmung bringen.26 Damit erkannte er bereits vor dem Ersten Weltkrieg sehr gut, dass für eine breite Durchsetzung der rassenhygienischen wie der rassenideologischen Ideen das Wertesystem der Gesellschaft als Ganzes umgekrempelt werden musste. Genau darin bestand dann das politische Projekt der Nationalsozialisten. Es ist sogleich zu betonen, dass die deutschen Rassenhygieniker bis zum Ersten Weltkrieg nur ein überschaubarer Zirkel und im Milieu der Biologiewissenschaften und der klinischen Psychiatrie mitnichten diskursbestimmend waren. Gleichwohl erkannten Zeitgenossen bereits während der gedanklichen Grundlegung der Eugenik deren Gefahren für den Einzelnen und für das menschliche Zusammenleben. Daher sei die viel zitierte Warnung von Oscar Hertwig, Direktor des anatomischbiologischen Instituts der Universität Berlin, aus dem Jahr 1918 hier ebenfalls ausführlich wiedergegeben: „Man glaube doch nicht", schrieb er, „dass die menschliche Gesellschaft ein halbes Jahrhundert lang Redewendungen wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese der Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl usw. in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung der Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflusst zu werden." Sein Aufsatz „Warnung vor den Utopien eines Züchtungsstaates" enthält prophetische Sätze. In einem solchen Gemeinwesen, das zur Realisierung seiner Ziele Zwangsgesetze erlassen und geradezu ungeheuerliche Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen vornehmen werde, schreibt Hertwig, dürfte „nach den Utopien einiger Sozialdarwinianer eine Kommission schon den Neugeborenen empfangen und durch ärztliche Untersuchung feststellen, ob er zur Aufzucht geeignet oder besser gleich wegen zu schwacher Konstitution, oder wahrscheinlicher, erblicher Belastung als untauglich für eine Edelrasse, als unnützer Ballast für den Staat durch eine Dosis Morphium

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Siehe etwa Schmuhl, 1992, wie Anm. 4, S. 29 fE, oder Massin, Benoit, The „Science of Race", in: United States Holocaust Memorial Museum, Deadly Medicine. Creating the Master Race, Washington 2004, S. 89-125, hier S. 89 ffi Zit. n. Nowak, 1984, wie Anm. 7, S. 23; daraus das folgende Zitat, S. 25.

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oder andere Verfahren milde auszujäten ist".27 Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik lag es allerdings für die meisten noch jenseits des Vorstellbaren, dass eine deutsche Regierung solche, rein aus der inneren Logik der Rassenhygiene deduzierte Prophetie sogar noch übertreffen sollte. Auf dem Wege dorthin liegt der tiefe Einschnitt des Ersten Weltkriegs. Die Erfahrung dieser Katastrophe, als an der Front und zu Hause Millionen Menschen dahingerafft wurden und die radikal abgewertete Einzelexistenz ganz hinter dem „Uberlebenskampf' der Nation zurücktrat, das Trauma einer unverstandenen Niederlage sowie das von gekränktem nationalen Narzissmus, politischer Polarisierung und wirtschaftlicher Verheerung geprägte Klima der Nachkriegsjahre veränderten die Rahmenbedingungen des Diskurses über den Umgang mit „Minderwertigen" grundlegend. Karl Bonhoeffer, Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Charité und Vorsitzender des Deutschen Vereins für Psychiatrie, sprach bereits 1917 von einer „Wandlung des Humanitätsbegriffes".28 Das Desaster des Kaiserreichs katapultierte die Eugenik in Deutschland „aus ihrem sektiererischen Winkel in die Mitte der Gesellschaft - das rassenhygienische Programm schien eine Anleitung zu einer neuen Form der Biopolitik zu bieten, um Staat und Gesellschaft aus den vielen, sich überlagernden Problemlagen zu führen, die der Krieg hinterlassen hatte".29 Der Diskurs über die Weichenstellungen für eine zeitgemäße Biostrategie während der Weimarer Jahre lässt vier Hauptstränge erkennen, die einander berührten und durchdrangen: die Debatte über die „Euthanasie", über die Entfaltung der Rassenhygiene, die Entwicklung der Psychiatrie und die Kostenreduzierung im Sozialund Fürsorgewesen in den Krisenjahren ab 1930. Die in christlich-humanistischer Tradition wurzelnde Ubereinstimmung darüber, dass Kranke niemals gegen ihren Willen getötet werden dürfen, wurde erstmals um die Jahrhundertwende von einigen Einzelstimmen in Frage gestellt. Zwar blieb das bis 1918 ein „Wortwechsel unter Außenseitern",30 er lieferte aber bereits Stichworte für eine lebhafte „Euthanasie'-Debatte, deren entmenschlichende Begrifflichkeit im Nachkriegsdeutschland beträchtliche Breitenwirkung entfaltete. Schlüsselbegriff war dabei bekanntlich das Wort von dem „lebensunwerten Leben", welches nach der berüchtigten Schrift von Binding/Hoche aus dem Jahr 1920 aus Mitleid und aus Gründen der volkswirtschaftlichen Mittelersparnis der Vernichtung anheim gegeben werden könne. Die im Krieg gewonnene Vorstellung von der Bedeutungslosigkeit der Einzelexistenz und erst recht der für viel Geld durchgefütterten „Defekt-

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Hertwig, Oscar, Warnung vor den Utopien eines Züchtungsstaates, in: Altner, Günter (Hg.), Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie, Darmstadt, S. 179. Zit. n. Burleigh, Michael, Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900-1945, Zürich 2002, S. 22. Schmuhl, Hans-Walter, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945, Göttingen 2005, S. 31. Schwartz, Michael, „Euthanasie"-Debatten in Deutschland (1895-1945), in: Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte 46 (1998), S. 617-665, hier S. 620.

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menschen" und „Ballastexistenzen" verpflichte angesichts der Misere der Volksgemeinschaft zur „Zusammenraffung aller verfugbaren Kräfte unter Abstoßung aller unnötigen Aufgaben."31 Die Thesen und Forderungen der beiden angesehenen Gelehrten fanden viel Aufmerksamkeit, aber wenig Unterstützung. Politikfahig wurden sie bis 1933 nicht. Dennoch markieren sie eine Art Dammbruch, weil bereits die Diskussion selbst eine ganze Gruppe der Gesellschaft dem abwertenden Räsonnement und der Stigmatisierung aussetzte. Das Thema blieb in der Öffentlichkeit und sickerte in das breitere Bewusstsein. Scheinbar rationale Nützlichkeitserwägungen überlagerten allmählich das bigotte Nützlichkeitsmotiv, die vollkommen verschiedenen Tatbestände Sterbehilfe und Krankenmord gerieten zunehmend durcheinander. Am Ende profitierten die Nationalsozialisten von dieser Verwirrung der Begriffe, als sie die Patientenvernichtung in Umwertung der Werte und Begriffe als Euthanasie im traditionellen Verständnis hinstellten. Die Analyse der Begründungsmuster in den erhalten gebliebenen Krankenakten der Vernichtungsaktion T 4 zeigt, wie einflussreich die gängige Ineinssetzung von „geistig tot" und „lebensunwert" in der Mordpraxis dann gewesen ist - und damit die „mittelbar tödliche Fernwirkung"32 der zwanzig Jahre zuvor eröffneten „Euthanasie'-Debatte. Die meisten prominenten Rassenhygieniker lehnten die „Euthanasie" ab. Sie sprachen sich für eine Sterilisierung von Patienten aus, die sie als erbkrank einstuften, um „minderwertige" Menschen gar nicht erst entstehen zu lassen.33 Diese in einigen Ländern bereits praktizierte Variante erschien als „maßvolle Alternative"34 zur Vernichtung Geisteskranker. Nur einige wenige reformorientierte Psychiater sahen Eugenik und „Euthanasie" bei der Schaffung eines gesunden Volkskörpers als einander ergänzende Strategien an. Auf der Ebene der Diskurse waren Eugenik und „Euthanasie" allerdings „eng benachbart".35 Hier durchdrangen sich beide Strömungen und profitierten voneinander. Denn je intensiver sich die Debatte über den Krankenmord entwickelte, desto stärker gewann die Eugenik an sozialer Akzeptanz. Je schriller die Warnungen der Rassenhygieniker vor den psychisch Kranken und geistig Behinderten wurden, desto mehr fühlten sich Befürworter einer Vernichtung von „lebensunwertem Leben" bestätigt. In der Eugenik, die in der Weimarer Republik eine starken Institutionalisierungs-, Popularisierungs- und Politisierungsschub erhielt, schlummerte ein „aggressives Potential", wie schon Hertwig früh deduziert hatte. Im Hinblick auf die Potentiale der Rassenhygiene bestand nur

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Zit. n. Nowak, 1984, wie Anm. 7, S. 52. Fuchs, Petra/ Hohendorf, Gerrit/ Rauh, Phillipp/ Hinz-Wessels, Annette/ Richter, Paul/ Rotzoll, Maike, Die NS-„Euthanasie"-Aktion im Spiegel der Krankenakten. Neue Ergebnisse historischer Forschung und ihre Bedeutung für die heutige Diskussion medizinethischer Fragen, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/2006), S. 16-36, hier S. 34. 33 Vgl. Schwartz, 1998, wie Anm. 30, S. 628 f. 34 Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 24. 35 Schmuhl, 1997, wie Anm. 14, S. 579 ff.; dort auch die anderen Zitate. Hervorhebung im Original.

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„ein gradueller,; kein prinzipieller Unterschied zwischen Eugenik und .Euthanasie'". Zweifellos wirkte sich die „Werthierarchie, die hinter der Forderung nach Verhütung .minderwertigen' Lebens steht", so Schmuhl, „unweigerlich auf den moralischen Status des bereits geborenen behinderten und erblich kranken Lebens aus". Natürlich wirkten Eugeniker in viel geringerem Maße unmittelbar an den Krankenmorden mit als Psychiater, die eine Fülle unabdingbarer Organisations- und Selektionsleistungen für die Massentötungen erbrachten, ihre Schutzbefohlenen aus ihren Anstalten abzugeben hatten und ihre Patienten in der zweiten Kriegshälfte sogar eigenhändig umbrachten. Dennoch trugen die Rassenhygieniker mit zur Untergrabung der „moralisch-sittlichen Barrieren zum Töten" bei und lieferten so ein wichtiges „Verbindungsglied" zu den späteren Massenmorden. Peter Weingart qualifiziert diesen Beitrag so: „Reduktion ethnischer, religiöser und kultureller Unterschiede oder auch sozialer Verhaltensmuster, von bloßer Devianz bis hin zur Kriminalität, auf das Erbgut; die Verabsolutierung derartiger Differenzen zu biologisch gesetzmäßigen, die darauf sich stützende Delegitimierung sozialer Werte wie des Gleichheitsgrundsatzes, die Abstraktion vom Individuum mitsamt seinen unveräußerlichen Rechten zum ,Volkskörper', den es .rassisch rein' und .erblich gesund' zu erhalten gilt; und schließlich die dadurch ermöglichte Kategorisierung von .lebensunwertem Leben', von .leeren Menschenhülsen', ,Ballastexistenzen', .Defektmenschen' und .völlig wertlosen Toten' - dieses utilitaristische Kalkül hatte von Anbeginn eine enge Affinität zur negativen Eugenik".36 Seit der Ausgliederung der Geisteskranken und geistig Behinderten aus den reinen Verwahranstalten und der im frühen 19. Jahrhundert einsetzenden Humanisierung der Betreuung37 mit dem Ziel einer Heilung und Resozialisierung der Patienten waren und bleiben die vermeintlich oder tatsächlich „Unheilbaren" das brennende Problem der Psychiatrie. Sie belasteten das ohnehin wenig schmeichelhafte Image des neuen Heilberufes, der dabei war, sich einen Platz als Teilfach der Medizin zu erkämpfen. Obendrein verursachte die Dauerbetreuung der Untherapierbaren sehr hohe Kosten. Während des Ersten Weltkrieges traf es diese nach Zehntausenden zählende Gruppe, die weithin als nutzloser Bodensatz einer um ihre Existenz ringenden Nation galt, besonders hart. Nach dem Nützlichkeitskalkül der Notstandsgesellschaft, in der „die Besten" ihr Leben hingaben, rutschten „die Unnützen" an das Ende der Versorgungs- und Wertigkeitsskala. Über 70.000 Patienten kamen so in der zweiten Kriegshälfte in geschlossenen Anstalten um, ungefähr ein Drittel der gesamten Belegung.38 Zweifellos machte diese Erfahrung „das Thema der Lebensvernichtung der unheilbar Geisteskranker endgültig diskuta-

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Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1992, wie Anm. 9, S. 528 f. Allgemein und als Fallstudie dazu Schröter, Sonja, Psychiatrie in Waldheim/Sachsen (1716-1946). Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt am Main 1994. Vgl. Burleigh, 2002, wie Anm. 28, S. 21.

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bei",39 doch zu einer ernstlich erwogenen Krisenstrategie entwickelten sich solche Ideen selbst in den Weimarer Krisenjahren vor 1923 und nach 1930 nicht. Nach 1918 setzten sich in der Psychiatrie Vorstellungen und Trends durch, die das angeblich „lebensunwerte Leben" weiter entwerteten. Eine von beinahe euphorischen Erwartungen begleitete Reformpsychiatrie versuchte mit Hilfe der wieder entdeckten Arbeitstherapie, offener Fürsorge und neuen medizinischen Methoden ihre Heil- und Rückgliederungserfolge zu steigern und damit den „Graben zwischen Heilanstalt und Gesellschaft"40 zu überbrücken, und die Anstalten auf die Funktion von „Durchgangsstationen"41 für psychisch Kranke zurückzuführen. Dabei wurde die Arbeitstauglichkeit des Patienten zum bestimmenden Erfolgskriterium der Therapie. Diese Ausdifferenzierung nach individueller Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Nützlichkeit des Kranken steuerte die „Unheilbaren" mehr oder weniger aus. Der unter großen Anstrengungen erstrebten Heilung der Heilbaren entsprach die tendenzielle Aufgabe der Therapieresistenten.42 Ohne die beachtlichen Fortschritte in der Psychiatrie zu leugnen, erhoben sich warnende Stimmen gegen diese Ausdifferenzierung von Patienten nach ihrem Wert oder Unwert für die Gesellschaft, in der eine gefährliche Ausgrenzungsdynamik angelegt sei. Prominente Vorreiter der Reformpsychiatrie (darunter Valentin Faltlhauser und Paul Nitsche, die sich bald zu fuhrenden „Euthanansie"-Verbrechern entwickeln sollten) beschwichtigten sich mit der Rationalisierung, nach der man sich den Heilbaren mit um so größerer Sorgfalt zuwenden könne, je radikaler die Belastung durch die Unheilbaren reduziert sei. In der NS-„Euthanasie", die eine „ausgesprochen reformpsychiatrische Einbettung"43 zeigte, entschieden dann Arbeitsfähigkeit und Unheilbarkeit tatsächlich über Leben und Tod.44 Die Weltwirtschaftskrise und die damit einhergehende Krise des Weimarer Sozialstaates, der sich schon zuvor verstärkt an die Wissenschaft vom Menschen gewandt hatte, um einen Ausweg aus seiner Überforderung zu finden, beschleunigten dann beides: die Aufwertung des Kosten/Nutzen-Kalküls und die Hinwendung der Psychiatrie zur Rassenhygiene. In der 1930 einsetzenden „Wohlfahrtskrise",45 in der als oberste Priorität galt, das Existenzminimum der großen Masse der Bevölkerung zu sichern, brach mit der traditionellen Wohlfahrtspflege auch die Finanzie-

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Schwartz, 1998, wie Anm. 30, S. 628. Burleigh, 2002, wie Anm. 28, S. 42. Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 129. Zum Folgenden siehe Siemen, Hans Ludwig, Reform und Radikalisierung. Veränderungen der Psychiatrie in der Weltwirtschaftskrise, in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 191-200, hier S. 191 ff. Vgl. auch ders., Menschen blieben auf der Strecke - Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus, Gütersloh 1987. Schwartz, 1998, wie Anm. 30, S. 655. Siehe Fuchs u. a„ 2005/2006, wie Anm. 32, S. 26. Lohalm, Uwe, Die Wohlfahrtskrise 1930-1933, in: Bajohr, Frank/Johe, Werner/ Lohalm, Uwe (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 193-225, hier S. 193; daraus das folgende Zitat, S. 195.

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rungsgrundlage der Psychiatriereform weitgehend zusammen. Die „Interessen der geistig und körperlich Minderwertigen müssen heute unbedingt hinter dem Schutz der durch Not aufs höchste bedrohten wertvollen Teile der Volksgemeinschaft" zurückstehen, formulierte beispielsweise die Hamburger Wohlfahrtsbehörde die weitgehend unangefochtene Devise. Sparkommissare erklärten Therapien in geschlossenen Anstalten für nutzlos. Die vielfach als „Ballastexistenzen" abgestempelten chronisch Kranken erfuhren immer schlechtere Betreuung, die meisten Einrichtungen gingen den Rückschritt zum „Bewachen und Bewahren".46 Selbst der Preußische Staatsrat sprach Anfang 1932 die Empfehlung aus, die Reichsregierung möge die Pflegekosten für die „geistig Minderwertigen" schleunigst auf ein Maß absenken, das „von einem völlig ausgesogenen und verarmten Volke noch getragen werden kann".47 Insofern befand sich eine unter Druck geratene praktische Psychiatrie, die nun selber Sparkonzepte zu Lasten ihrer therapieresistenten Patienten exekutierte, durchaus im Einklang mit dem „makabren Utilitarismus"48 des öffentlichen Meinungsklimas und einer Notverwaltung, die wie selbstverständlich mit den Kategorisierungen „minderwertig" und „sozial wertvoll" hantierte. Mehr als nur eine hierarchisierende Klassifizierung, wurde damit „die humane Grundlage öffentlicher Wohlfahrtspflege" selbst in Frage gestellt. Hieran konnten die Nationalsozialisten bei der „Neubestimmung der Fürsorge nahtlos anknüpfen".49 Zur Radikalisierung der Psychiatrie in der Krise gehörte neben der utilitaristischen Verengung eine forcierte fachliche Hinwendung zur Rassenhygiene.50 Da durch die offene Fürsorge der Idee nach immer mehr Patienten in die Gesellschaft zurückkehren sollten, diese aber als „fortpflanzungsgefährliche" Träger minderen Erbguts galten, traten die Praktiker zunehmend für prophylaktische Zwangssterilisierung ein. Dies um so mehr, als die Forschung zu dieser Zeit von einer hochgradigen, zum Teil sogar einfach rezessiver Erblichkeit bei Geisteskrankheiten ausging. Dies war zugleich der Weg, dem wenig angesehenen Fach neue Handlungsräume zu erschließen. 1933 wurde die Zwangssterilisierung denn auch sogleich Teil des psychiatrischen Handlungskonzepts. Das Plädoyer für eine Synthese von Rassenhygiene und einer Psychiatrie, die „in jeder Hinsicht von der eugenischen Ideologie durchdrungen war",51 entsprang allerdings auch der gelinden Verzweiflung darüber, dass man (wie die geldgebenden Behörden und eine skeptische Öffentlichkeit durchaus bemerkten) nur wenige wirkliche Heilerfolge vorweisen und den Anteil der „Unheilbaren" an der Bevölkerung nicht merklich senken konnte. Hier ver-

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Faulstich, Heinz, Von der Irrenfursorge zur „Euthanasie". Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993, S. 170. Schwartz, 1998, wie Anm. 30, S. 633. Friedlander, Henry, From „Euthanasia" to the „Final Solution", in: United States Holocaust Memorial Museum, Deadly Medicine. Creating the Master Race, Washington 2004, S. 155-183, hier S. 170. Zitate bei Lohalm, 1991, wie Anm. 45, S. 217. Siehe Siemen, 1991, wie Anm. 42, S. 196 ff.; auch zum Folgenden. Burleigh, 2002, wie Anm. 28, S. 114.

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sprach die Erbforschung am ehesten Abhilfe, da die Seelenheilkunde zu dieser Zeit auf dem axiomatischen Grundsatz fußte, geistige Behinderungen und Geisteskrankheiten hätten ausnahmslos somatische Ursachen, die Psychiatrie jedoch nicht in der Lage war, angeblich gesetzmäßige Korrelationen für die wichtigsten Krankheitsbilder zu beschreiben. Diese Zuflucht zu eugenischen Erklärungsmustern war Ausdruck des „Unvermögens der psychiatrischen Forschung" 52 und zugleich der nicht nur in Deutschland bestehenden „außerordentlichen Glaubensbereitschaft zugunsten der Erblichkeitshypothese".53 Zwar ließ sich mancher von der haarsträubend versimpelten Utopie faszinieren, bei entsprechendem eugenischen Vorgehen würden Geisteskrankheiten eines Tages ausgestorben sein, doch war dieser namentlich unter den Praktikern virulente „doktrinäre genetische Determinismus" 54 niemals ausreichend wissenschaftlich untermauert. Im Gegenteil, im Laufe der dreißiger Jahre gewann die Forschung immer größere Sicherheit darüber, dass der menschliche Erbgang unendlich viel komplizierter sein müsse, als es ein einfacher Mendelismus sich hatte träumen lassen.55 Doch weder die für den psychiatrischen Praktiker mindestens zu ahnende naturwissenschaftliche Fragwürdigkeit der nach 1933 eingeleiteten politischen Massenverstümmelungen und Massentötungen im medizinischen Gewände noch der schwankende Boden, auf dem sich die Erbforschung bewegte, taten dem Elan Abbruch, mit dem Psychiater und Rassenhygieniker die phantastischen Möglichkeiten nutzten, die ihnen eine Ideologie mit dem harten Kern einer biologistischen Weltanschauung jetzt eröffnete. Die Rassenhygiene hatte sich noch etwas früher in Richtung Psychiatrie orientiert, „die bald zu ihrer wichtigsten Referenzwissenschaft wurde".56 In der Debatte über die psychiatrische Eugenik gab es in beiden Fächern durchaus prominente Stimmen, die angesichts der enormen Komplexität eugenisch-psychiatrischer Fragen eindringlich vor der Einführung irreversibler invasiver Zwangsmaßnahen warnten. Im Grunde waren sich alle Koryphäen darüber im Klaren, dass eine Ausrottung von „Erbkrankheiten" eine Angelegenheit von Jahrhunderten sein, aber wahrscheinlich trotzdem nicht funktionieren würde, weil Umwelteinflüsse und Mutationen weiterhin für Schädigungen sorgen würden. Ein späterer Vordenker der NSPsychiatrie gab der grassierenden wissenschaftlichen und ethischen Unbefangenheit schon 1931 gleichwohl mit der Bemerkung Ausdruck, vorerst ließen sich „gele52 53

Siemen, 1991, wie Anm. 42, S. 199. Dörner, Klaus, Psychiatrie und soziale Frage. Plädoyer für eine erweiterte Psychiatrie-Geschichtsschreibung, in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 287294, hier S. 292. 54 Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 537. Siehe auch Benzler, Susanne/ Pereis, Joachim, Justiz und Staatsverbrechen. Über den juristischen Umgang mit der NS-„Euthanasie", in: Loewy, Hanno/ Winter, Bettina (Hg.), NS-„Euthanasie" vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung, Frankfurt am Main 1996, S. 15-34, hier S. 16. 55 Vgl. etwa Teich, 1990, wie Anm. 22, S. 296 ff, sowie Faulstich, 1993, wie Anm. 46, S. 176 ff 56 Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 27.

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gentliche Fehlgriffe" nicht vermeiden. Sie könnten „angesichts der großen Notlage, in welcher sich unsere Rasse augenblicklich befindet," jedoch in Kauf genommen werden: „Die Eugenik darf vor einer gewissen Naivität der Betrachtungsweise nicht zurückschrecken, wenn sie ihre Forderungen nicht ad calendas graecas vertagen will."57 Bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten hatte die Radikalisierung der Psychiatrie zwar dazu geführt, dass die dominierende Lehrmeinung genau in deren Politik passte,58 doch war sie, sieht man von der gezielten Verschlechterung der Lebensverhältnisse in den Anstalten ab, im Wesentlichen eine „Radikalisierung der Konzepte" geblieben. „Gleichwohl lag darin eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der qualitative Sprung des Jahres 1933 von der übergroßen Mehrheit der Psychiater nachvollzogen, wenn nicht emphatisch begrüßt werden konnte."59 Was die tiefe Zäsur erwarten ließ, legte der nationalsozialistische Reichsinnenminister Wilhelm Frick in typischer Unterfiitterung ideologischer Glaubenssätze mit biologischen Argumenten bereits kurz nach Installierung der Hitler-Regierung in der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik dar. Angesichts des „kulturellen und völkischen Niedergangs" und der Notlage des Volkes werde der Staat nun an eine Verminderung der Ausgaben für „Asoziale, Minderwertige und hoffnungslos Erbkranke" herangehen. „Was wir bisher ausgebaut haben, ist also eine übertriebene Personalhygiene und Fürsorge für das Einzelindividuum ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Vererbungslehre, der Lebensauslese und der Rassenhygiene."60 So viele Anknüpfungspunkte an die NS-Ideologie sich in Psychiatrie61 und Rassenhygiene bis zum Ende der Weimarer Republik auch herausgebildet hatten, erst die Machtübertragung an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 räumte die Barrieren beiseite, die der Umsetzung radikaler biopolitischer Wunschvorstellungen bisher im Wege gestanden hatten. Denn das Neue am Nationalsozialismus war auch hier nicht die Analyse, sondern, so Ulrich Herbert, sein „Drängen auf Lösung".62 Es gehörte zu den unumstößlichen Glaubenswahrheiten der NS-Ideologie und zur festen Uberzeugung von Hitler selbst, dass nicht Individuen oder Klassen, sondern Rasseund Volksgemeinschaften die als ewiger Kampf ums Dasein gedeutete weltge-

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Zit. n. Burleigh, 2002, wie Anm. 28, S. 60 £ So Faulstich, 1993, wie Anm. 46, S. 178. Siemen, 1991, wie Anm. 42, S. 200. Zit. n. dem Beitrag von Gisela Bock in diesem Band und Lohalm, 1991, wie Anm. 45, S. 218. Sonja Schröter (1994, wie Anm. 37, S. 222) betont, der Mord an den geistig Behinderten im Nationalsozialismus sei eine „die Wesensqualität der Psychiatrie grundsätzlich umkehrende und nicht etwa unausweichliche Folge bestimmter negativer, der deutschen Psychiatrie immanenten Entwicklungstendenzen" gewesen. Herbert, Ulrich, Rassismus und rationales Kalkül. Zum Stellenwert utilitaristisch verbrämter Legitimationsstrategien in der nationalsozialistischen „Weltanschauung", in: Schneider, Wolfgang (Hg.), „Vernichtungspolitik". Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991, S. 25-35, hier S. 29.

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schichtliche Entwicklung bestimmten. Deren Erfolgsaussichten stünden und fielen mit der Qualität ihrer Erbsubstanz, aus der sich auch die „Naturgesetzlichkeit des Gemeinschaftsgeschehens"63 ableite. Da ihm der rassische Niedergang des deutschen Volkes als alarmierend weit fortgeschritten galt, war es für das zum Handeln drängende Regime politisch und naturwissenschaftlich unabweisbar, den vermeintlichen Verfall der deutschen Erbmasse infolge der Vermischung mit tiefer stehenden fremden Rassen - insbesondere mit der als extrem gefährlich eingestuften jüdischen - sofort zu stoppen und die Verbreitung „arteigenen" minderen Erbgutes ebenso unverzüglich zu unterbinden. Diesen Imperativ hatte der neue Reichskanzler bereits in „Mein Kampf' formuliert: „Es gibt nur ein heiligstes Menschenrecht, und dieses Recht ist zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich: dafür zu sorgen, dass das Blut rein erhalten bleibt, um durch die Bewahrung des besten Menschentums die Möglichkeit einer edleren Entwicklung dieser Wesen zu geben."64 Das war weder Mimikry noch Vorwand, sondern ein mit tödlichem Ernst betriebenes Großvorhaben „biopolitischer Gesellschaftsformung".65 Es gedachte bei der Purifizierung des Genpools anzusetzen, um in einer allumfassenden, in jeder Hinsicht antipluralistischen Reinheitsparanoia Volk und Rasse zu retten und nebenher die „beunruhigenden Erscheinungen der Moderne - von städtischer Kriminalität über Geisteskrankheiten bis hin zur .Asozialität' - [zu] beseitigen".66 Es bedarf keiner tiefen Menschenkenntnis, um sich vorzustellen, dass es das Selbstwertgefuhl der großen Masse der Dazugehörigen gehoben haben muss, zu den Wertvollen und nicht zu den aus der Volksgemeinschaft Ausgeschlossenen zu zählen. In mehreren Aufsätzen des vorliegenden Bandes sind wichtige Voraussetzungen und Stationen bei der Umsetzung dieser naturwissenschaftlich inspirierten Zwangsvorstellungen beschrieben. Sie müssen hier nicht rekapituliert werden. Stattdessen sei abschließend der Blick auf zeithistorische Befunde jüngeren Datums geworfen, die einige innere und äußere Zusammenhänge bei den politischen Massentötungen in medizinischer Camouflage besser begreifbar machen, die zwischen 1934 und 1945 an die 700.000 Menschen betroffen haben dürften, ungefähr 400.000 Männer und Frauen bei den Zwangssterilisierungen und etwa 300.000 als „minderwertig" Abgestempelte im Zuge der NS-„Euthanasie".67 Der 1939 vom Zaun gebrochene Krieg verschaffte dem Regime gegenüber den Friedensjahren nicht nur bequeme Rechtfertigungsmuster („Kampf nach außen und

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Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 539. Zit. n. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1992, wie Anm. 9, S. 369. Süß, Winfried, Der „Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, München 2003, S. 407. 66 Herbert, 1991, wie Anm. 62, S. 28. 67 Siehe den Beitrag von Gisela Bock in diesem Band und Faulstich, Heinz, Die Zahl der „Euthanasie"Opfer, in: Frewer, Andreas/ Eickhoff Clemens (Hg.), „Euthanasie" und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt am Main 2000, S. 218-234, hier S. 227 ff. Vgl. auch den Beitrag von Uwe Kaminsky in diesem Band.

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innen"), einen glaubwürdigen Vorwand („Notstandsmaßnahme") und bessere Geheimhaltungsmöglichkeiten für die erst in seinem unmittelbaren Vorfeld eingeleiteten Krankenmorde.68 Seine Sachzwänge, die sogar - oder gerade - ein Ideologiestaat nicht ignorieren konnte, wirkten selbst auf das Mordprogramm zurück. Art und Ablauf der von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnten Patiententötungen69 waren so weder durchwegs zentral geplant noch allein eine Funktion ideologischer Selbstgewissheit. Sie waren auch die Resultate „kriegswirtschaftlicher Nützlichkeitskalküle".70 Wie Winfried Süß gezeigt hat, legte die nationalsozialistische Gesundheitspolitik (die längst eine „Medizin der Ungleichheit" durchgesetzt hatte, in der nicht mehr der einzelne Kranke, sondern der „Volkskörper" das ärztliche Handeln bestimmen sollte) angesichts kriegsbedingt verknappter Ressourcen ihre Prioritäten ganz auf die medizinischen Anforderungen der Wehrmacht und die Regelversorgung der Bevölkerung. In „gegenseitiger Verdrängung hierarchisch differenzierter Patientengruppen"71 rutschten die „Minderwertigen" und „Unheilbaren" ans Ende der Aufmerksamkeits- und Zuwendungsskala. Das seit 1933 verbindliche Ungleichwertigkeitsdogma machte die staatsmedizinische Forderung beinahe zur Selbstverständlichkeit, Engpässe auf Kosten der „Lebensunwerten" zu überwinden. In den Jahren der Aktion T 4, dem zentral gesteuerten Massenmord mit Giftgas in speziellen Tötungszentren 1940/41, bestimmte noch eine „vorrangig durch biologistische Utopien geleitete Gesundheitspolitik"72 das Bild. Das veränderte sich jedoch nach dem von Hitler persönlich verfugten Abbruch der allgemein ruchbar gewordenen Vergasungsaktion im August 1941, für den das politische Kalkül ausschlaggebend war, angesichts des Unmuts in der Bevölkerung die Legitimationskrise des Regimes nicht noch zu verschärfen, die sich wegen des nicht nach Plan laufenden Krieges gegen die Sowjetunion zur selben Zeit zu schürzen begann. Die in der zweiten Kriegshälfte wieder aufgenommene Patientenvernichtung (die Tötung von Kindern und bestimmten KZ-Häftlingen73 erfuhr keine Unterbrechung) folgte einer etwas anderen Ratio als die Aktion T 4. Nun spielten die erwähnten kriegswirtschaftlichen Nützlichkeitserwägungen in die Durchführung des bis 1945 anhaltenden Mordens hinein. Da diese zweite Welle „in enger Beziehung zur katastrophenmedizinischen Bewältigung des Luftkriegs"74 stand, nahm sie bei gleich bleibender ideologischer 68

Vgl. Schmidt, Uli Kriegsausbruch und „Euthanasie", in: Frewer, Andreas/ Eickhoff, Clemens (Hg.), „Euthanasie" und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt am Main 2000, S. 120-143, hier S. 120 ff. 69 Siehe den Beitrag von Jochen-Christoph Kaiser in diesem Band. 70 Süß, 2003, wie Anm. 65, S. 410; daraus das folgende Zitat, S. 405. 71 Süß, 2000, wie Anm. 5, S. 74. 72 Süß, 2003, wie Anm. 65, S. 406; daraus das folgende Zitat, S. 410. 73 Vgl. Grode, Walter, Die „Sonderbehandlung 14fl3" in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Ein Beitrag zur Dynamik faschistischer Vernichtungspolitik, Frankfurt am Main 1987. 74 Süß, 2000, wie Anm. 5, S. 80.

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Grundüberzeugung der Beteiligten und denselben tödlichen Konsequenzen für die Betroffenen andere Formen als die erste an. Nicht allein wegen der zunehmenden Regionalisierung des Krisenmanagements in der zweiten Kriegshälfte, auch angesichts der „Morbiditätskrise" im Winter 1942/43 7 5 und der weiteren Ressourcenverknappung verstärkten sich auf allen Ebenen die seit langem salonfähigen Forderungen nach einer Beseitigung der „unnützen Esser" und einer rabiaten Freimachung der psychiatrischen Anstalten für kriegswichtige Zwecke. Wie in der zweiten Kriegshälfte generell, traten auch hier die lokalen und regionalen Instanzen des NS-Staates stärker in den Vordergrund. Die rivalisierende Dynamik dieser „Kriegs-Polykratie"76 förderte die mörderische Radikalisierung zusätzlich. Auch bei dieser zweiten Mordwelle, der „regionalisierten .Euthanasie'",77 in der die Patienten mit Hungerkost und medikamentöser Behandlung zu Tode gebracht wurden, hing viel von der ideologischen und menschlichen Härte der als Reichsverteidigungskommissare fungierenden Gauleiter und des ärztlichen Personals in den Anstalten ab. Im Sachsen des Martin Mutschmann, das vom Bombenkrieg noch weniger betroffen war als andere Landesteile und deshalb als bevorzugter Aufnahmegau galt, fehlte es in Medizin und Politik an beidem nicht.78 Obendrein gab es in der sächsischen Psychiatrie seit Mitte der dreißiger Jahre eine ausnehmend aggressive Tradition bei der Betreuung „Unheilbarer", die deren Sterblichkeitsrate bereits vor Beginn der zentralen Tötungsaktion T 4 auf das Sechsfache des Reichsdurchschnitts getrieben hatte. 79 Maßgeblich verantwortlich dafür war der renommierte Reformpsychiater Paul Nitsche, 80 langjähriger Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein und führender Vordenker und Funktionär des nationalsozialistischen „Euthanasie"-Programms. Im Sommer 1947 wurde er vom Landgericht Dresden zum Tode verurteilt und bald danach hingerichtet.81

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80

81

Süß, 2003, wie Anm. 65, S. 406. Kaiser, Jochen-Christoph/ Nowak, Kurt/ Schwartz, Michael (Hg.), Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, S. XXVI. Süß, 2000, wie Anm. 5, S. 84. Siehe Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V . / Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasie-Verbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung, 2., stark veränderte Auflage, Dresden 1996. Süß, 2000, wie Anm. 5, S. 82. Zu den regionalen Unterschieden während der Aktion T 4 siehe etwa Faulstich, 1993, wie Anm. 46, S. 283 ff., oder Kaminsky, Uwe, Zwangssterilisation und „Euthanasie" im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933-1945, Köln 1995. Siehe auch den Beitrag von Uwe Kaminsky in diesem Band. Vgl. Böhm, Boris/ Markwardt, Hagen, Hermann Paul Nitsche (1876-1948). Zur Biografie eines Reformpsychiaters und Hauptakteurs der NS-„Euthanasie", in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, S. 71-104, hier S. 71 ff Siehe den Beitrag von Frank Hirschinger in diesem Band sowie Böhm, Boris, „Eine Schande fur die gesamte medizinische Wissenschaft." Der Dresdner „Euthanasie"-Prozess im Jahre 1947, in: Haase, Norbert/ Sack, Birgit unter Mitarbeit von Gerald Hacke (Hg.), Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001, S. 136-152.

Wissenschaftliche Entmenschlichung undpolitische Massentötung

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In ihren apologetischen Einlassungen vor Gericht hoben die angeklagten Krankenmörder mit einiger Emphase auf ihre humanistischen Beweggründe und namentlich ihr Mitleidsmotiv ab, das sie dazu bestimmt habe, die unglücklichen Schutzbefohlenen von ihrem Leiden zu erlösen. Diese Anlehnung an die klassische Euthanasie-Debatte setzte jedoch nur die altbekannte Begriffverwirrung und Irreführung fort, denn die Todeskandidaten waren ohne ihre eigene Zustimmung getötet worden. Die Opfer verhielten sich nicht so, wie die Mörder erhofften. Viele der Selektierten zeigten sich entgegen der eugenisch-psychiatrisch und politischen Verharmlosungsrhetorik keineswegs so lebensuntüchtig und geistesgestört, um nicht zu wissen oder zu ahnen, dass sie umgebracht werden sollten. Ernst Klee hat dazu eine Fülle bewegender Zeugnisse gefunden und veröffentlicht.82 Diese Hilferufe und Abschiedsbriefe, auch viele Zeugenaussagen, sind in ihrer Eindringlichkeit Beleg genug dafür, wie lebendig und würdevoll viele der Todgeweihten gewesen sind, denen das NS-Regime und seine medizinischen Helfer das Etikett lebensunwerter „Ballastexistenzen" aufgedrückt hatte. Die tatsächlichen Motive der Männer und Frauen, die sich in den Heilanstalten, den Tötungsstätten oder an ihren Schreibtischen an den politischen Massentötungen beteiligten, liegen recht offen zutage. Sie unterscheiden sich kaum von den Handlungsantrieben anderer Tätergruppen, geben jedenfalls, wie Henry Friedlander gezeigt hat,83 für eine nachträgliche Verrätselung wenig her. Auch bei der NS„Euthanasie" wurde kein Täter zu seinen Taten gezwungen, die, eine Binsenweisheit, selten einem einzigen Motiv entsprangen. Die jeweilige Mischung persönlicher Beweggründe muss in jedem einzelnen Falle eigens bestimmt werden, doch stößt man dabei auf die immer gleichen Hauptmotive: die fachliche oder weltanschauliche Uberzeugung; das Hochgefühl, über Leben und Tod zu gebieten; die Genugtuung, für eine wichtige Staatsaktion ausgewählt zu sein; die Erwartung, Mitmachen werde sich karrierefördernd auswirken; die Suche nach einem sicheren Platz weitab der Front; Autoritätsgläubigkeit, persönliche Bindungen, eine bessere Vergütung, gewöhnlicher Opportunismus ... Wie immer die Motive bei denen aussahen, die dem Mordhandwerk nachgingen - wem zwischen 1933 und 1945 Zweifel an den Lehren des Nationalsozialismus und ihrer naturwissenschaftlichen Begründbarkeit kamen, der konnte bei den großen Disziplinen und Koryphäen der Wissenschaft vom Menschen keinen Halt und wenig Bestätigung finden. Gerade dies aber wäre von größtem Gewicht gewesen, denn im Zentrum der herrschenden Partei- und Staatsdoktrin stand nicht nur eine biologistische Welterklärung, auch die daraus abgeleiteten rassenhygienischen und rassenideologischen Massentötungen schritten in medizinischem Gewände einher. Hans-Walter Schmuhl hat am Beispiel des berühmten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) die innige Verschrän82 83

Siehe etwa Klee, 1983, wie Anm. 5, S. 184 ff Siehe Friedlander, 1997, wie Anm. 12, S. 304-392.

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Klaus-Diettnar Henke

kung von Wissenschaft, Politik und Ideologie während des Dritten Reiches eindrucksvoll vor Augen geführt und dabei tief in ein Wissenschaftsmilieu hineingeleuchtet, das mannigfache Bezugspunkte zu den nationalsozialistischen „Medizinverbrechen" hatte. Dabei konturiert er zugleich die Wesensmerkmale der Herrschaftsbeziehungen, die bei gründlicher Untersuchung auch in anderen Bereichen der damaligen deutschen Gesellschaft zutage treten: Kongruenz, Symbiose, Kollaboration, Kompromiss.84 Die „Kollaboration"85 der Naturwissenschaftselite mit dem nationalsozialistischen Staat beruhte auf einem gemeinsamen „ideologischen Basiskonsens", denn „Wissenschaft und Staat stimmten in der Zielutopie einer umfassenden Biopolitik überein, die nichts weniger beabsichtigte als die Steuerung der menschlichen Evolution". Was sich entfaltete, war eine Kollaboration zu beiderseitigem Nutzen. Nicht nur das Prestige der Biowissenschaften erführ einen enormen Schub als im innersten ideologischen Hort des neuen Deutschland operierende Zunft, sie erhielten zugleich mehr oder weniger unbegrenzte Finanzmittel und ethisch „entgrenzte Zugriffsmöglichkeiten auf Menschen". Die Machthaber ihrerseits profitierten in dieser Symbiose von der naturwissenschaftlichen Legitimationsbasis, die ihnen von den international angesehenen Gelehrten für ihre Erbgesundheits- und Rassenpolitik geschaffen wurde. Die Wissenschaftler trugen von Anfang auch wesentlich zu deren praktischer Umsetzung bei.86 Ohne je den Primat der Politik auf diesem Felde gefährden zu wollen oder zu können, wurden sie in dem klaren Bewusstsein, dass rassenbiologische Fragen weithin ungeklärt waren, und ungeachtet mancher nichtprinzipieller Querelen mittelbar und unmittelbar zu Erfüllungsgehilfen und Mittätern eines verbrecherischen Regimes. Selbst in der so genannten Judenfrage" verstanden es die führenden Männer des Kaiser-Wilhelm-Instituts, den Nationalsozialisten in besonders abstoßender Sophistik zu Diensten zu sein ohne sich zugleich wissenschaftlich lächerlich zu machen.87 In Elogen, die sich kaum von der Rhetorik eines NS-Funktionärs unterschieden, priesen der KWI-A-Direktor Eugen Fischer und sein Nachfolger Otmar Freiherr von Verschuer immer wieder den eisernen biopolitischen Zugriff des NS-Regimes. „Unser Führer und Reichskanzler Adolf Hitler", so Fischer anatomisch-semantisch nicht ganz stimmig zum internationalen bevölkerungswissenschaftlichen Kongress 84

Siehe die in Band 4 des gemeinsam mit Johannes Bähr (Band 1: „Die Dresdner Bank in der Wirtschaft des Dritten Reiches"), Dieter Ziegler (Band 2: „Die Dresdner Bank und die deutschen Juden"), Harald Wixforth (Band 3: „Die Expansion der Dresdner Bank in Europa") und weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durchgeführten Forschungsprojekts „Die Dresdner Bank im Dritten Reich" (Oldenbourg Verlag München 2006) vorgenommene Auswertung bei Klaus-Dietmar Henke, Die Dresdner Bank 1933-1945, insbesondere S. 1-35. 85 So Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 13; daraus die folgenden Zitate, sowie S. 14. Hervorhebung im Original. 86 Siehe Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 264 ff., sowie den Beitrag von Henry Friedlander in diesem Band. 87 Hierzu Schmuhl, 2005, wie Anm. 29, S. 160 f., S. 174 ff, S. 299 ff, S. 244 ff; daraus die Zitate S. 273, S. 400 f . , S. 448 f .

Wissenschaftliche Entmenschlichung undpolitische Massentötung

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in seiner Eröffnungsrede 1935 in Berlin, habe den tiefsten und folgenschwersten Sinn der Bevölkerungswissenschaft klar erkannt und auch die Entschlossenheit dazu, „die Folgerungen zu ziehen. So dürfen wir heute bei Beginn unserer Arbeit mit dankbarem Herzen des Mannes gedenken, dessen starke Hand den Willen und, so Gott will, die Kraft hat, vom deutschen Volk das Bevölkerungsschicksal abzuwenden, das vergangene Kulturen und Völker in den Tod geführt hat". Drei Jahre später machte sich Reichsfiihrer-SS Heinrich Himmler intern persönlich für seine und die Aufnahme seines nicht weniger prominenten Kollegen Fritz Lenz in die NSDAP stark. Beide hätten „in den letzten Jahren durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten erheblich zur Untermauerung und wissenschaftlichen Anerkenntnis des rassischen Teiles der nationalsozialistischen Weltanschauung beigetragen". Fischers Nachfolger Verschuer tat zur Jahreswende 1941/42, als die Judenvernichtung bereits begonnen hatte, in der Fachzeitschrift „Der Erbarzt" seine Ansicht so kund: „Noch nie in der Geschichte ist die politische Bedeutung der Judenfrage so klar hervorgetreten wie heute: Gesamteuropa im Bunde mit dem von Japan geführten Ostasien steht im Kampf gegen die durch das Judentum gemeinsam geführte englisch-amerikanisch-russische Weltmacht. Die mit uns vereinten Völker erkennen mehr und mehr, dass die Judenfrage eine Rassenfrage ist, und dass sie deshalb eine Lösung finden muss, wie sie von uns zunächst für Deutschland eingeleitet wurde." Wie diese Lösung aussah, war 1944, als Verschuers „Leitfaden der Rassenhygiene" in zweiter Auflage herauskam, durchaus deutlich. Das hinderte den Gelehrten nicht daran, eine „neue Gesamtlösung des Judenproblems" zu fordern, nachdem die „Aufsaugung der Juden", die „Abschließung der Juden durch das Ghetto" und die „Emanzipation des Judentums" historisch gescheitert seien. Einige Monate später bereitete die Anti-Hitler-Koalition dem menschheitsfeindlichen, auch durch eine extrem destruktive „Mischung von Wissenschaft und Ideologie"88 bestimmten Regime gewaltsam das Ende. Viele Wegbereiter, Erfüllungsgehilfen und Mittäter der biopolitischen Vernichtungsmaßnahmen wurden zur Rechenschaft gezogen,89 viele kamen mit milden Strafen davon, viele blieben unbehelligt - einige fanden in der jungen Bundesrepublik ohne größere Hindernisse ihren Weg in hohe ärztliche und akademische Positionen zurück.90 Sehr unwohl brauchten sie sich dort nicht zu fühlen, denn auf „Mitläufer" ihres Kalibers trafen sie in den oberen Rängen überall.

88 89 90

Müller-Hill, 2004, wie Anm. 17, S. 195. Vgl. die Aufsätze von Angelika Ebbinghaus und Frank Hirschinger in diesem Band. Vgl. Klee, Ernst, Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt am Main

2001.

Richard J. Evans

Zwangssterilisierung, Krankenmord und Judenvernichtung im Nationalsozialismus: Ein Überblick

Die Leistungen der deutschen Medizin im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren unbestreitbar. Die wissenschaftlichen Forschungen Robert Kochs und anderer entdeckten die Ursachen zahlreicher Krankheiten, die das Leben der Menschen gefährdeten und in manchen Fällen, wie zum Beispiel Cholera oder Tuberkulose, massenhaftes Sterben verursacht hatten. Eine „hygienische Revolution" brachte der Bevölkerung der Großstädte sauberes Wasser, sorgte fiir einwandfreie Lebensmittel und reduzierte Infektionsquellen auf ein Minimum. Die Menschen gewöhnten sich an Sauberkeit und Hygiene; der schnelle Aufstieg der Krankenversicherung sorgte für die schnelle und zunehmend effektive medizinische Behandlung der großen Mehrheit der Deutschen. Die Wohnungsreform und die Verbesserung der Säuglingspflege halfen mit, die Sterberate ständig zu vermindern. Damit spielte die Medizin eine immer wichtigere Rolle in der Gesellschaft. Es eröffnete sich eine Zukunftsperspektive des vollständigen Sieges nicht nur über die physischen Krankheiten sondern auch über die gesellschaftlichen Probleme, die von der medizinischen Wissenschaft im Sog der Eugenik zunehmend als vererbt, oder zumindest erblich bedingt, betrachtet wurden, einschließlich der Kriminalität, der Prostitution, der Landstreicherei, der „Arbeitsscheu" und der sogenannten geistigen und moralischen „Minderwertigkeit".1 Schon in den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es aber aus der Sicht einiger sozialdarwinistisch denkender Mediziner eine Kehrseite zu dieser Fortschrittsgeschichte. Je mehr die Medizin in die Gesellschaft eingriff desto mehr sorgte sie für die Schwachen, die Kranken, die geistig oder körperlich Behinderten, und - so diese Theorie - die Untauglichen, die anstatt im Kampf ums Dasein zugrunde zugehen, wie in einem Naturstand der Gesellschaft zu erwarten wäre, nicht nur fortlebten, sondern sich auch fortpflanzten. Das Resultat war nach dieser Meinung eine „Degeneration" der menschlichen Rasse, der entgegengewirkt werden musste, wenn die Deutschen nicht immer schwächer werden wollten, und so immer unfähiger, sich im internationalen Kampf ums Dasein zu behaupten. Es waren vor allem diejenigen Theoretiker, welche die Germanen als die höchstentwi-

1

Allgemein dazu: Weindling, Paul, Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism 1870-1945, Cambridge 1989, und Weingart, Peter/ Kroll j ü r g e n / Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1992.

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Richard J. Evans

ekelte Rasse in der Geschichte der Evolution betrachteten, die ein energisches Eingreifen gegen die Degeneration der Deutschen befürworteten. So empfahl zum Beispiel Alfred Ploetz, Begründer der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene", bei allen Geburten ein Gremium von Ärzten hinzuzuziehen, das darüber entscheiden solle, ob das Neugeborene überlebenstauglich sei oder getötet werden müsse. Alexander Tille trat offen dafür ein, Krankheiten bei Kindern nicht zu behandeln, um die Entfernung der Schwachen aus der Kette der Vererbung zu gewährleisten. Der berühmte Darwinist Ernst Haeckel hieß die Tötung Geisteskranker durch Giftspritzen oder elektrischen Strom gut. Eine besonders weit verbreitete Wirkung auf die Mediziner im Allgemeinen hatte eine 1920 veröffentlichte Schrift des Gerichtspsychiaters Alfred Hoche und des Juristen Karl Binding mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwertes Lebens". Binding und Hoche argumentierten, dass es den Ärzten erlaubt werden müsse, Menschen, die der Gemeinschaft nur zur Last fielen, zu töten, damit die Ressourcen, die verbraucht wurden, um sie am Leben zu erhalten, für die allgemeine Besserung der Gesundheit der Deutschen verwendet werden könnten.2 Für diese und andere Eugeniker waren erbliche Anlagen im Wesentlichen unabhängig von der Gesellschaftsschicht. Die Zukunft, die sie entwarfen, war eine auf der medizinischen Wissenschaft begründete Meritokratie. Sie betrachteten sich als Vorkämpfer der Moderne. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung kam ihre große Stunde. Die deutschen „Rassenhygieniker" sahen dem neuen Reich mit freudiger Erwartung entgegen. Endlich, dachten sie, hatte Deutschland eine Regierung, die bereit war, diese Probleme ernst zu nehmen und praktisch anzupacken so die Meinung von Fritz Lenz, seit langem ein Befürworter solcher Maßnahmen. Seine Begeisterung war nicht verfrüht. Spätestens seit 1924, als Hitler während seiner Festungshaft einige „rassenhygienische" Abhandlungen gelesen hatte, war er zu dem Schluss gelangt, dass Deutschland und die Deutschen nur dann wieder erstarken würden, wenn der Staat auf die deutsche Gesellschaft die Grundprinzipien der „Rassenhygiene" und der „Rassenverbesserung" anwendete. Das deutsche Volk sei schwach geworden, verdorben durch die Infusion des Bluts „entarteter" Elemente. Diese müssten so schnell wie möglich entfernt werden. Die Starken müssten ermutigt werden, mehr Kinder zu bekommen, während die Schwachen, auf welche Weise auch immer an ihrer Fortpflanzung gehindert werden müssten.3

2

3

Vgl. Weiss, Sheila F., Race Hygiene and National Efficienty. The Eugenics of Wilhelm Schallmayer, Berkeley 1987; Dies., The Race Hygiene Movement in Germany, 1904-1945, in: Adams, Mark B. (Hg.), The Wellborn Science. Euygenics in Germany, France, Brazil, and Russia, New York 1990, S. 8-68; Weikart, Richard, From Darwin to Hitler. Evolutionary Ethics, Eugenics and Racism in Germany, New York 2004. Vgl. Proctor, Robert N., Racial Hygiene. Medicine under the Nazis, London 1988, S. 47; Schmuhl, HansWalter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens" 1890-1945, Göttingen 1987, S. 49-105; Allg. dazu: Kaiser, Jochen-Christoph/ Nowak, Kurt/ Schwartz, Michael (Hg.), Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1893-1945, Berlin 1992.

Zwangssterilisierung, Krankenmord und Judenvernichtung im Nationalsozialismus

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Die praktische Politik ließ nicht lange auf sich warten. In den ersten Wochen des Dritten Reichs gab Reichsinnenminister Wilhelm Frick bekannt, das neue Regime werde sich darauf beschränken, das Geld des Steuerzahlers nur noch für „rassisch" einwandfreie und gesunde Menschen auszugeben. Es werde nicht einfach nur Kürzungen der Ausgaben für „Minderwertige und Asoziale, die Kranken, Schwachsinnigen, Debile, Krüppel und Kriminelle" vornehmen, sondern auch „die Fortpflanzung der schwer erblich belasteten Personen verhindern". Am 14. Juli 1933 erhielt diese Politik Gesetzeskraft mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Dies schrieb eine Zwangssterilisation bei jedem vor, der an einer der folgenden Krankheiten litt: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit und schwere körperliche Missbildung. Ein weiteres Symptom, das nach dem Gesetz eine Sterilisation notwendig machte, war „schwerer Alkoholismus". Diese (teils echten, teils nur vermeintlichen) Erbkrankheiten waren noch genauer von einem bürokratischen Apparat zu definieren, den der Reichsinnenminister errichtete, um das Gesetz anzuwenden. Die Entscheidung über die einzelnen Fälle wurden von 181 eigens eingerichteten Erbgesundheits- und Berufungsgerichten getroffen, die mit einem Juristen als Vorsitzendem Richter, einem beamteten und einem approbierten Arzt besetzt waren, nachdem ein Antrag auf Sterilisierung gestellt worden war. Antragsberechtigt waren die Betroffenen selbst oder deren gesetzliche Vertreter, Amtsärzte und Anstaltsleiter bei Insassen einer Kranken-, Heil- und Pflegeanstalt. Bevor ein solcher Antrag gestellt wurde, musste zunächst eine Anzeige erfolgen. Hierzu waren „alle approbierten Arzte oder sonstige Personen, die sich mit der Heilbehandlung und Untersuchung oder Beratung von Kranken befassten", verpflichtet; hierunter fielen beispielsweise auch Hebammen. Die Anzeige war beim jeweiligen Amtsarzt zu erstatten.4 Dieses Gesetz war seit langem von der einflussreichen „Rassenhygienebewegung" in Deutschland angestrebt worden, angeführt von namhaften „Rassenhygienikern" wie Alfred Ploetz und Fritz Lenz, und es wurde in den Jahren der Weltwirtschaftskrise mit Nachdruck gefordert. Die enorme finanzielle Belastung des staatlichen Sozialbudgets hatte die Zahl der Personen, die in der Wohlfahrt und als Arzte tätig waren, ebenso ansteigen lassen wie die Lautstärke ihrer Forderungen; sie waren überzeugt, dass viele Aspekte der sozialen Devianz, der Armut und des Elends das Ergebnis der „erblichen Entartung" deijenigen seien, die darunter litten. Bereits 1932 forderten Vertreter des Deutschen Arzteverbandes ein Gesetz, das eine freiwillige Sterilisierung ermöglichen sollte. Jetzt war es mit einem Schlag Wirklichkeit geworden.5

4

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Vgl. Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 154-168; Proctor, 1988, wie Anm. 3, S. 10-104; Ganssmüller, Christian, Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchfuhrung und Durchsetzung, Köln 1987, S. 42-72; Noakes, Jeremy, Nazism and Eugenics. The Background to the Nazi Sterilization Law of 14 July 1933, in: Bullen, Roger (Hg.), Ideas into Politics, London 1984, S. 75-94. Siehe auch den Beitrag von Gisela Bock in diesem Band. Vgl. Hong, Young-Sun, Welfare, Modernity, and the Weimar State, 1919-1933, Princeton 1998, S. 261265.

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Das Sterilisierungsgesetz von 1933 sah keine Freiwilligkeit bei der Sterilisierung vor. Die Arzte mussten jeden Fall einer „Erbkrankheit" registrieren, der ihnen zur Kenntnis gelangte, ausgenommen bei Frauen, die älter als 45 Jahre waren, und konnten bei Unterlassung mit einer Geldbuße bestraft werden; andererseits ließen ihnen die unbestimmten und willkürlichen Kriterien zur Definition dieser Fälle einen gewissen Spielraum bei der Diagnose. Manche Patienten erklärten sich mit einer Sterilisierung einverstanden, die meisten jedoch nicht. Im Jahr 1934, dem ersten, in dem das Gesetz angewandt wurde, legten knapp 4.000 Personen gegen die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte Berufung ein; in 3.559 Fällen wurde diese verworfen. Allein im Jahr 1934 erhielten die Gerichte über 84.500 Anträge auf eine Sterilisierung, die Hälfte davon betrafen Frauen. Knapp über 64.500 wurde noch im selben Jahr entschieden, in mehr als 56.000 wurde eine Sterilisierung angeordnet. Somit führte eine Anzeige eines Arztes, eines Sozialarbeiters oder einer Hebamme bei einem Amtsarzt, der daraufhin einen Antrag auf Sterilisierung stellte, in über 90 Prozent der Fälle zu einem Beschluss dieser sogenannten „Gerichte" auf Sterilisierung; von diesen wurde wiederum in rund 90 Prozent der Fälle eine Berufung zurückgewiesen. In den vier ersten Jahren der Durchführung dieses Gesetzes wurden auf diese Weise jährlich über 50.000 Personen sterilisiert; bei Kriegsende betrug die Gesamtzahl der Sterilisierten 360.000, die fast alle vor September 1939 sterilisiert worden waren.6 Grob zwei Drittel der Sterilisierten waren die Insassen von Nervenheilanstalten, wo sich viele Direktoren daranmachten, in den Akten ihrer Patienten nach Kandidaten für eine Sterilisierung zu suchen. In der Anstalt Kaufbeuren-Irsee wurde sogar bei 82 Prozent der 1.409 Patienten eine Sterilisierung beantragt, während anderswo ein Anteil von einem Drittel üblich war. Eine Sterilisierung war für die Direktoren der Anstalten vorteilhaft, weil die Patienten in vielen Fällen danach entlassen werden konnten. Das betraf insbesondere die jüngeren, weniger schwer gestörten Patienten, so dass bei ihnen um so eher ein Antrag auf Sterilisierung gestellt wurde, je höher die Chancen ihrer Genesung eingeschätzt wurden. In der Anstalt Eglfing-Haar wurden zwei Drittel der Patienten, die man 1934 einer Zwangssterilisierung unterworfen hatte, innerhalb weniger Monate entlassen; auf dem Eichberg im Rheingau wurden 80 Prozent der 1938 Sterilisierten ebenfalls nach kurzer Zeit entlassen. Das senkte die laufenden Kosten zu einer Zeit, da die zunehmend überbelegten Anstalten ebenso wie das übrige Wohlfahrtssystem einem starken Druck zur Kostensenkung ausgesetzt waren. Einige junge Frauen wurden sogar offensichtlich aus dem Grund sterilisiert, um zu verhindern, dass sie uneheliche Kinder gebaren, die der Allgemeinheit zur Last fallen würden.7

6 7

Vgl. Bock Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Frauenpolitik und Rassenpolitik, Opladen 1986, S. 230-233; Ganssmüller, 1987, wie Anm. 4, S. 45 f. Vgl. Burgleigh, Michael, Death and Deliverance. „Euthanasia" in Germany, 1900-1945, Cambrig 1994, S. 56-66.

Zwangssterilisierung,

Krankenmord und Judenvernichtung

im

Nationalsozialismus

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Die Sterilisierung der sogenannten „Minderwertigen" war keine ausschließlich deutsche Maßnahme. Ärzte außerhalb Deutschlands waren ebenfalls der Meinung, viele gesellschaftliche Übel seien das Ergebnis der erblichen Degeneration bestimmter Teile der Bevölkerung. Noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland hatten 28 Bundesstaaten in den USA Sterilisierungsgesetze erlassen, die zur Zwangssterilisierung von etwa 15.000 Menschen führten; bis 1939 waren es mehr als doppelt soviel. Deutsche „Rassenhygieniker" beriefen sich zur Rechtfertigung ihrer Position auf das amerikanische Beispiel; andere verwiesen gelegentlich auf die „Rassentrennungsgesetze" in den Südstaaten der USA als ein weiteres Beispiel, das für Deutschland nützlich sein könnte. Dem amerikanischen Eugeniker Harry Laughlin, der 1931 ein Programm zur Sterilisierung von rund 15 Millionen Amerikanern minderwertiger „Rasse" im Verlauf der kommenden 15 Jahre vorschlug, wurde 1936 von der Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde verliehen. US-Eugeniker bewunderten ihrerseits die deutschen Gesetze, und Laughlin selbst verkündete stolz, sie seien zu einem Teil von seinen eigenen Ideen inspiriert worden. Sterilisierungsgesetze wurden in dieser oder jener Form in der Schweiz 1928 erlassen, in Dänemark 1929, in Norwegen 1934 und noch in etlichen weiteren europäischen Ländern mit teils demokratischen, teils autoritären Regimen. 6.000 Dänen und nicht weniger als 40.000 Norweger wurden sterilisiert. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass in Schweden zwischen 1935 und 1975 knapp 63.000 Sterilisierungen an Menschen vorgenommen wurden.8 Der eigentliche Unterschied sollte sich erst später zeigen, als der Krieg begann und die Nationalsozialisten sozial unerwünschte Personen nicht mehr sterilisierten, sondern umbrachten. „Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen", sagte Hitler auf dem Nürnberger Parteitag im Jahre 1929, „und 70 000 bis 80 000 der Schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein."9 Im Jahre 1933 verzichtete er darauf, die Tötung der geistig Kranken und sogenannten „Minderwertigen" und anderen Anstaltsinsassen im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zu legalisieren. Dies tat er jedoch nur mit Rücksicht auf die mögliche negative öffentliche Reaktion, insbesondere der katholischen Kirche. Zwei Jahre später sagte er im Gespräch mit seinem Begleitarzt Karl Brandt, dass er diesen Schritt erst nach Ausbruch des Krieges tun würde, „wenn alle Welt auf den Gang der Kampfhandlungen schaut und der Wert des Menschenlebens

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Vgl. Proctor, 1988, wie Anm. 3, S. 95-101; Kühl, Stefan, The Nazi Connection. Eugenics, American Racism and German National Socialism, New York 1994; Spektorowski, Alberto/ Mizrachi, Elisabeth, Eugenics and the Welfare State in Sweden. The Politics of Social Margins and the Idea of a Productive Society, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 333-352. Siehe auch den Beitrag von Michael Schwartz in diesem Band. Zit. n. Nowak, Kurt, „Euthanasie" und Sterilisierungen im „Dritten Reich" - Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und der „Euthanasie"-Aktion, 2. Aufl., Göttingen 1984, S. 63 f.

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ohnehin minder schwer wiegt."10 Schon Ende 1936, Anfang 1937 begann die Planung fiir diese Aktion, mit der Gründung eines geheimen Reichsausschusses für Erbgesundheitsfragen in der Kanzlei des Führers und anderen vorbereitenden Maßnahmen. 11 Im Sommer 1939 war es soweit. Am 25. Juli befahl Hitler, dass der Ausschuss, inzwischen in „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erbund anlagebedingten schweren Leiden" umbenannt, die aktive Vorbereitung eines Programms zur Tötung geistig oder physisch behinderter Kinder in Gang setzen sollte. Als Vorwand diente die Eingabe des Vaters eines schwer behinderten, im Februar 1939 in Leipzig geborenen Kindes.12 Am 31. August 1939 wurde die Sterilisierung formell beendet. Schon am 18. August ordnete der Reichsausschuss die Erfassung aller „missgebildeten" neugeborenen Kinder an. Die Ärzte und Hebammen bekamen zwei Reichsmark für jedes solches Kleinkind, dessen Fall sie meldeten: Die Meldungen wurden dann gesammelt und an die Kanzlei des Führers geschickt, wo drei Arzte Gutachten schrieben, und die Namen der Kinder, die umzubringen waren, an die betreffenden öffentlichen Gesundheitsämter weiterleiteten. Die Kinder, die erfasst wurden, wohnten nicht in Anstalten, sondern mit ihren Eltern, und diese wurden nun angewiesen, die Kinder an Krankenhäuser und Kinderkliniken zu liefern wo, so wurde ihnen versichert, sie besser behandelt werden könnten. Wenn sie das nicht taten, so wurde die Entziehung der staatlichen Unterstützung angedroht. Ab März 1941 wurde Kindergeld nicht mehr für behinderte Kinder ausgegeben, und ab September 1941 wurde es den Behörden erlaubt, den Familien, die den Transfer in eine Anstalt verweigert hatten, die Kinder wegzunehmen. Der Besuch der Eltern wurde oft verboten, die meisten Tötungszentren waren ohnehin schwer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Die Kinder wurden abgesondert, die Ärzte ließen sie verhungern oder mit dem Beruhigungsmittel Limonal überdosieren, und nach einiger Zeit erlagen die Kinder Lungenkrankheiten oder wurden einfach mit einer Überdosis Morphium getötet.13 Viele Gesundheitsbeamte und Ärzte in allen Teilen des Deutschen Reiches nahmen an dem Programm teil, das dadurch in der deutschen Ärzteschaft noch weiter bekannt wurde. Nur wenige nahmen Anstoß daran. Idee und Praxis der Sterilisation

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Kogon, Eugen (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankflirt am Main 1986, S. 28 f. 11 Vgl. Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 149 £, 178-181. 12 Vgl. Roth, Karl Heinz/ Aly, Götz, Das .Gesetz über die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken'. Protokolle der Diskussion über die Legalisierung der nationalsozialistischen Anstaltsmorde in den Jahren 19381941, in: Roth, Karl Heinz (Hg.), Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum .Gesetz über Sterbehilfe', Berlin 1984, S. 101-179, insbes. S. 104-111; Schmidt, Ulf, Reassessing the Beginning of the „Euthanasia" Programme, in: German History 17 (1999), S. 543-550; Klee, Ernst, „Euthanasie" im NSStaat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main 1985, S. 95-98, 112-115 (1985a). 13 Vgl. Aly, Götz, Der Mord an behinderten Hamburger Kindern zwischen 1939 und 1945, in: Ebbinghaus, Angelika/ Kaupen-Haas, Heidrun/ Roth, Karl Heinz (Hg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984, S. 147-155; Burleigh, 1994, wie Anm. 7, S. 101 f.; Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 182-189.

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war vorher weitgehend akzeptiert worden, und von hier zur sogenannten „Euthanasie" war in den Augen der meisten nur ein kleiner Schritt. Die Tötung der „Minderwertigen" wurde als ein notwendiges Pendant zu den positiven Gesundheitsmaßnahmen des Regimes betrachtet. Während des Krieges, als viele der besten und tapfersten jungen Deutschen im Kampf fielen, gab es nach Meinung der führenden medizinischen Zeitschrift „Der neue deutsche Arzt" noch einen Grund, „mit der Gegenauslese im eigenen Volk fertig zu werden."14 Insgesamt betraf das Tötungsprogramm bis zum Ende des Krieges etwa 5.000 Kinder. Das war aber nur ein bescheidener Anfang. Im Oktober 1939 unterschrieb Hitler einen bemerkenswert informellen Befehl an Bouhler und Brandt, rückdatiert auf den 1. September, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Arzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranke bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."15 Der Befehl blieb geheim. Die eigentliche Entscheidung, Erwachsene in das Tötungsprogramm mit einzubeziehen, hatte Hitler bereits im August getroffen. Wahrscheinlich in Kenntnis davon hatte der SS-Wachsturmbann Eimann schon am 22. September begonnen, Patienten aus Anstalten für geistig Behinderte oder Geisteskranke in Danzig-Westpreußen zu erschießen. In Posen wurden die Insassen der Anstalt Owinska in einem versiegelten Raum innerhalb des Hauptgebäudes der Gestapo vergast, die erste Massentötung durch Giftgas in der Geschichte. Diese Tötungen dauerten bis Sommer 1940 an, insgesamt wurden mehr als 12.000 polnische Patienten ermordet. Diese Morde lassen sich jedoch nicht dadurch erklären, dass sie Plätze freimachten für Volksdeutsche Siedler. Es gab viel zu viele Siedler, als dass diese Morde auch nur einen kleinen Beitrag zu deren Unterbringung hätten leisten können. Die Morde waren grundsätzlich ideologisch motiviert.16 Der eigentliche Grund war derselbe, wie im sogenannten Altreich: „Ballastexistenzen" zu vernichten, „Minderwertige", die nicht mehr als Menschen anerkannt wurden, zu töten, damit sie ihr Erbgut nicht weitergeben konnten und die angeblich 14

Zit. n. Aly, 1984, wie Anm. 13, S. 148. Vgl. auch Schmuhl, Hans-Walter, Die Patientenmorde, in: Ebbinghaus, Angelika/ Dörner, Klaus (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001. S. 295-328, hier S. 305 f; Baader, Gerhard, Heilen und Vernichten. Die Mentalität der NS-Arzte, in: Ebbinghaus, Angelika/ Dörner, Klaus (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 275-294. 15 Klee, Emst (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie", Frankfurt am Main 1985, S. 85 (1985b); Vgl. Ganssmüller, 1987, wie Anm. 4, S. 158-170; Friedlander, Henry, The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill 1995, S. 67 £ 16 Vgl. Longerich, Peter, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 234 f., 648; Bernhardt, Heike, Anstaltspsychiatrie und „Euthanasie" in Pommern 1933 bis 1945. Die Krankenmorde an Kindern und Erwachsenen am Beispiel der Landesheilanstalt Ueckermünde, Frankfurt am Main 1994; Klee (Hg.), 1985b, wie Anm. 15, S. 70-81; Burleigh, 1994, wie Anm. 7, S. 130-133; siehe vor allem Riess, Volker, Die Anfange der Vernichtung „lebensunwerten Lebens" in den Reichsgauen Danzig-Westpreußen und Wartheland 1939/40, Frankfurt am Main 1995, S. 21-24, 98.

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Gesünderen und Stärkeren bessere Lebenschancen hätten. Die Tötung der erwachsenen „Minderwertigen" wurde ebenfalls in der Kanzlei des Führers organisiert. Die Leitung dieser „Aktion T4" hatte ein führender Beamter in der Kanzlei, Viktor Brack. Obwohl Hitlers Befehl nach der Rechtsauffassung des Dritten Reiches Gesetzeskraft hatte, war Brack doch bewusst, dass diese Aktion nicht nur als unmoralisch, sondern auch als ungesetzlich angesehen werden könnte: Er benutzte deshalb einen falschen Namen (Jennerwein") wenn er sich im Rahmen der Aktion betätigte, ebenso auch sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Werner Blankenburg, der sich in diesem Kontext „Brenner" nannte.17 Angesichts der Tatsache, dass Hitler bis zu 70.000 Patienten beseitigen lassen wollte, schienen die Methoden, mit welchen die Kinder umgebracht wurden, zu langsam und umständlich. Brandt schlug also Vergasung vor, und mit der Zustimmung Hitlers beauftragte Bouhler den leitenden Chemiker im Kriminaltechnischen Institut des Reichskriminalpolizeiamtes, Albert Widmann, die technischen Einzelheiten auszuarbeiten. Widmann ließ eine luftdichte Kammer innerhalb des alten Stadtgefangnisses in Brandenburg einrichten, die als Duschraum getarnt, und mit einer luftdichten Tür mit einem kleinen Glasfenster für Beobachtung versehen wurde. Die Vergasung in Posen, welcher der Reichsfiihrer-SS Heinrich Himmler beigewohnt hatte, hatte schon stattgefunden, als die neue Einrichtung fertig war; höchstwahrscheinlich hatten SS-Offiziere in Posen die Idee von Widmann oder dessen Stab bekommen und waren ihm vorausgeeilt. Himmler, Bouhler, Brandt und Ärzte aus der T4 Zentrale in Berlin sahen zu, als acht Patienten mit Kohlenmonoxid getötet wurden. Die Methode war erprobt. Nun wurde die Einrichtung in Brandenburg bis September 1940 in Betrieb gehalten; andere Gaskammern wurden gebaut, in den Anstalten Grafeneck (Januar bis Dezember 1940), Hartheim (ab Mai 1940), und Hadamar (ab Januar 1941). Diese Anstalten wurden ausschließlich im Rahmen der Aktion T4 benutzt, während zwei weitere Anstalten, Sonnenstein (ab April 1940) und Bernburg (ab November 1940), weiter als Krankenhäuser fungierten. Die Vergasungen fanden nur in einem Teil dieser Anstalten statt.18 Im Gegensatz zur „Kindereuthanasie" wurden die meisten Erwachsenen, die ins Visier der Aktion T4 gerieten, institutionell erfasst. Irrenhäuser und Anstalten fiir geistig Behinderte und Geistesgestörte wurden gebeten, Formulare mit Einzelheiten über die Insassen auszufüllen, die an Schizophrenie, Epilepsie, Syphilis im fortgeschrittenen unheilbaren Stadium, Senilität, Huntingtons Krankheit oder Encephalitis litten, langfristige Patienten oder einfach angeblich schwachsinnig waren. Die Unbestimmtheit dieser letzten Kategorie öffnete der Willkürlichkeit der begutachtenden Ärzte Tür und Tor, nicht zuletzt deshalb, weil die Oberärzte, die im Auftrag der Aktion T4 im Eiltempo sehr viele der Formulare, welche die vorläufigen Beschlüsse der Juniorärzte enthielten, durcharbeiteten. So unterschrieb Hermann 17 Vgl. Ganssmüller, 1987, wie Anm. 4, S. 155-157; Friedlander, 1995, wie Anm. 15, S. 68 f. 18 Vgl. Riess, 1995, wie Anm. 16, S. 355-358; Friedlander, 1995, wie Anm. 15, S. 86-94.

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Pfannmüller, Direktor des Krankenhauses Eglfing-Haar, zwischen dem 12. November und dem 1. Dezember 1940 durchschnittlich 121 Formulare pro Tag, während ein anderer Anstaltsarzt, Josef Schreck, vom April 1940 bis Ende des Jahres nicht weniger als 15.000 Formulare ausfüllte.19 Nachdem die Formulare ausgefüllt und unterschrieben waren, wurden die Namenslisten dem Transportamt der T4 zugeleitet, das die notwendigen Maßnahmen in Gang setzte. Die Patienten und Patientinnen wurden in grauen Omnibussen abtransportiert. Obwohl sie nach Angabe der verantwortlichen Ärzte irrsinnig waren oder geistig derart verworren, dass sie nicht mehr menschlich fühlen konnten, wussten sehr viele sehr genau was ihnen bevorstand. „Ich lebe wieder in einer Angst", schrieb eine Frau in einer Stettiner Anstalt an ihre Familie, „weil die Autos wieder hier waren (...). Es wurde uns so schwer, daß wir alle weinten." Ein Patient in Emmendingen sagte es in aller Deutlichkeit aus: .Jetzt kommen die Mörder", rief er beim Ankommen des Autobusses. Einmal am Ziel, wurden die Patienten ausgezogen und untersucht (hauptsächlich mit dem Zweck, eine plausible Todesursache anzugeben). Sie wurden dann gleich in die als Duschraum getarnte Todeskammer geführt, in der etwa 20 Menschen auf einmal getötet wurden. „Die Todesart war so qualvoll", wie ein angewiderter Beobachter später berichtete, „daß man von einer humanen Tötung nicht sprechen konnte."20 Die Leichen wurden herausgenommen und in vielen Fällen seziert, um Juniorärzten Instruktion in Pathologie zu geben; Goldzähne wurden abgebrochen und an die T-4 Zentrale geschickt; und was blieb, wurde in den Verbrennungsöfen eingeäschert. Den Angehörigen wurde später eine Todesursache wie z. B. Lungenentzündung mitgeteilt. Da sie wussten, dass sie gegen alle ethischen und wahrscheinlich auch gesetzlichen Normen verstießen, benutzten die Ärzte fingierte Namen, wenn sie die Sterbeurkunden unterschrieben; nicht nur die Todesursache, sondern auch das Datum war verfälscht, um den Eindruck zu geben, dass der Tod mehrere Wochen nach Eintreffen des Patienten erfolgt war, und nicht gleich danach.21 Insgesamt wurden etwa 20.000 Menschen in Hartheim vergast, 20.000 in Sonnenstein, 20.000 in Brandenburg und Bernburg zusammengenommen, und 20.000 in Grafeneck und Hadamar.22 Das Programm rief wachsende Angst und Empörung unter den Angehörigen hervor. Die Schwester eines ermordeten Patienten, die nach dem Abtransport ihres Bruders an den Direktor der Anstalt einen Beschwer19

20 21 22

Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 15, S. 73-84; Klee, 1985a, wie Anm. 12, S. 115-123; Klee (Hg.), 1985b, wie Anm. 15, S. 92-104; Burleigh, 1994, wie Anm. 7, S. 128 f.; Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 202 f , 215217 Klee (Hg.), 1985b, wie Anm. 15, S. 125. Vgl. Klee, 1985a, wie Anm. 12, S. 149-152; Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 203-208; Burleigh, 1994, wie Anm. 7, S. 146-149; Klee (Hg.), 1985b, wie Anm. 15, S. 149-159. Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 15, S. 109-110; vgl. auch die Beiträge in: Tuchel, Johannes (Hg.), „Kein Recht auf Leben". Beiträge und Dokumente zur Entrechtung und Vernichtung „lebensunwerten Lebens" im Nationalsozialismus, Berlin 1984; und Müller, Roland (Hg.), Krankenmord im Nationalsozialismus. Grafeneck und die „Euthanasie" in Südwestdeutschland, Stuttgart 2001.

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debrief schrieb, war nur eine von vielen: Die Krankheit, an der er angeblich gestorben war, war offensichtlich nicht „erst von gestern". Warum war also ein schwerkranker Mann so plötzlich in eine andere Anstalt verlegt worden? „Schließlich", schrieb sie empört, „handelt es sich um einen armen kranken hilfbedürftigen Menschen und nicht um ein Stück Vieh!"23 Es gab vereinzelte Proteste, am bemerkenswertesten von einem Vormundschaftsrichter, Lothar Kreyßig, der drohte, gesetzlich einzuschreiten, sollten in seinem Amtsgerichtsbezirk unter Vormundschaft getötete Personen im Rahmen der Aktion getötet werden.24 Etwa die Hälfte der Ermordeten kam aus Anstalten, die dem Caritasverband der katholischen Kirche oder der Inneren Mission der Evangelischen Kirche angehörten. Einige der betroffenen Anstaltsleiter, vor allem Pastor Friedrich Bodelschwingh, protestierten hinter den Kulissen und versuchten, den Abtransport ihrer Patienten zu verhindern. Die meisten aber duldeten oder billigten das Programm. Die Fuldaer Bischofskonferenz protestierte gegenüber dem Reichsinnenministerium ebenfalls, wagte aber nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen, da sie erneute Angriffe auf die Kirche fürchtete. Erst als die Gestapo begann, Priester in Münster zu verhaften und das Besitztum des Jesuitenordens zu beschlagnahmen, entschloss sich der Bischof von Münster, Clemens August von Galen, zu einem öffentlichen Protest. In drei Sonntagspredigten verdammte er die Aktion T4 in aller Deutlichkeit. Unschuldige Menschen dürften nicht getötet werden, bloß weil sie als unproduktiv eingeschätzt wurden, sonst „ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben (...) Wer kann dann noch Vertrauen haben zu seinem Arzt?", fragte er rhetorisch.25 Die Predigten wurden heimlich gedruckt und an viele Priester verteilt, die sie von der Kanzel vorlasen. Sie fanden ihren Weg in die Hände der britischen Regierung, die sie über die BBC in ihrem deutschsprachigen Programm sendete. Andere katholische Bischöfe folgten Galens Beispiel. Das nationalsozialistische Regime schrak vor Vergeltungsmaßnahmen zurück: Mitten im Krieg wollten Hitler und Goebbels die deutschen Katholiken durch eine etwaige Verhaftung Galens nicht noch weiter aufwühlen. Ein Rechtfertigungsversuch der Aktion T4, in Gestalt des Spielfilms „Ich klage an", stieß laut SD-Berichten auf Ablehnung unter der älteren Bevölkerung; die Mehrheit glaubte, dass die „Euthanasie" nur dann als legitim betrachtet werden könne, wenn sie vom Patienten freiwillig gewählt werde. „Der Film ist ganz interessant", so hieß es in einer vom SD niedergeschriebenen Auße-

23 Klee (Hg.), 1985b, wie Anm. 15, S. 307; vgl. auch Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 207-211. 24 Vgl. Gruchmann, Lothar, Ein unbequemer Amtsrichter im Dritten Reich. Aus den Personalakten des Dr. Lothar Kreyßig, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32 (1984), S. 463-488. 25 Löffler, Peter (Bearb.), Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten, 19331946, 2 Bde., Mainz 1988; Griech-Polelle, Beth A., Bishop von Galen. German catholicism and national socialism, New Haven 2002, S. 78-85, 169-196.

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rung aus dem Publikum, „aber da geht es genauso darin zu wie in den Irrenanstalten, wo sie jetzt die Tollen alle kaputt machen."26 Um weitere Proteste zu vermeiden, beschloss Hitler am 24. August 1941, die Aktion T4 bis auf weiteres anzuhalten, obwohl die „Kindereuthanasie" weitergehen sollte. Das Ziel der Tötung, etwa 70.000 bis 80.0000 Menschen, war erreicht worden, und die Vergasungsexperten wurden im Osten gebraucht, wo sie bald die Vernichtung der Juden in Gang setzten. Das alles soll aber Galens Leistung nicht mindern. Angesichts der Tendenz des Nationalsozialismus, sich ständig zu radikalisieren, ist es durchaus möglich, dass die Aktion T4 ohne seinen Protest fortgesetzt worden wäre, um noch mehr Menschen zu erfassen, als ursprünglich vorgesehen. Und in der Tat gingen die Morde weiter, nunmehr mit denselben Methoden des Verhungernlassens und der tödlichen Einspritzungen, die in der „Kinder-Euthanasie" angewandt wurden. Bis Ende des Krieges wurden vermutlich mindestens 117.000 Patienten und Anstaltsinsassen in der sogenannten „wilden Euthanasie" auf diese Weise ermordet. Dazu kamen auch etwa 80.000 Patientenmorde in den besetzten Gebieten Polens, Frankreichs und der Sowjetunion. Insgesamt dürfte die Zahl der Opfer (die Zahlen schwanken) einschließlich des Kinderpatientenmordes zwischen 250.000 und 300.000 betragen haben. Schon bis 1941 waren sehr weite Kreise in das Mordprogramm verwickelt. Arzte, Gesundheitsbeamte, Psychiater, Sozialarbeiter, Anstaltsmitarbeiter, Busfahrer, Krankenpfleger und -pflegerinnen, Sekretärinnen und viele andere, die vielleicht anfangs nicht zu den überzeugten Vertretern der „Vernichtung lebensunwerten Lebens" gehörten, befanden sich durch eine Mischung von bürokratischer Routine, kollegialem und institutionellem Druck, Propaganda, Drohung und Bestechung unter den Ausführenden und Komplizen des Mordprogramms. Das große Ausmaß der Aktion T4 vereitelte jeden Versuch, die Morde geheim zuhalten.27 Dieses Mordprogramm, wie auch die Zwangssterilisation vor dem Krieg, muss als Teil eines viel größeren Programms der eugenischen Aufwertung der deutschen „Rasse" verstanden werden, sowie der Vorbereitung und Durchfuhrung eines Krieges, dessen Endziel die Beherrschung Europas und die Etablierung Deutschlands als die fuhrende, alles dominierende Weltmacht war. Dazu gehörte auch schon vor dem Krieg die Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft, da Hitler nicht nur ein fanatischer Rasseantisemit, sondern auch fest davon überzeugt war, dass sie die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg durch den sogenannten „Dolchstoß" verursacht hatten - obwohl die Mehrheit der deutschen Juden tatsächlich immer patriotisch eingestellt waren. Nach 1933 versuchten Hitler und die Nationalsozialisten, die Wiederkehr der vermeintlichen Konstellation von 1918 dadurch zu verhindern, dass sie durch Gesetz und Gewalttätigkeiten die bürgerliche und

26 27

Boberach, Heinz (Hg.), Meldungen aus dem Reich, 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, 17 Bde., Herrsching 1984, Bd. EX, Nr. 251, 15. Januar 1942, S. 3176. Vgl. Longerich, 1998, wie Anm. 16, S. 241 f.; Schmuhl, 2001, wie Anm. 14, S. 316.

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wirtschaftliche Existenz der deutschen Juden vernichteten. In den Nürnberger Gesetzen vom September 1935 wurden Ehen und sexuelle Beziehungen überhaupt zwischen Juden und Nichtjuden verboten. Die Gewalttätigkeit erreichte einen Höhepunkt in den reichsweiten Pogromen vom 9./10. November 1938. Bis September 1939 emigrierte etwa die Hälfte der deutschen Juden ins Ausland.28 Mit der Eroberung Polens im September 1939 und noch mehr nach dem Einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 kam die Möglichkeit, die schon seit den späten zwanziger Jahren von Hitler propagierte Absicht, einen neuen „Lebensraum" für die Deutschen im Osten zu gestalten. Für Hitler waren Polen, die Ukraine, Weißrussland und Russland etwa so wie der amerikanische Westen zu behandeln. 30 Millionen slawische „Untermenschen" waren, wie die Indianer, zu vernichten. Volksdeutsche und deutsche Ansiedler würden neue, moderne Städte gründen, ein Netzwerk von Autobahnen und breitspuriger Eisenbahnen würde sie mit dem „Altreich" verbinden, das mit den landwirtschaftlichem Erzeugnissen dieser Region versorgt werden würde. So wurden mindestens 3,3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangene durch Krankheiten und Unterernährung absichtlich getötet, weitere Millionen sowjetischer Menschen wurden in den Dörfern und Städten erschossen, aufgehängt, oder, in der Mehrheit, durch Verhungernlassen umgebracht. Die jüdische Bevölkerung Europas stellte aber nach Meinung der Nationalsozialisten eine weit größere Gefahr dar, die Gefahr, einer Wiederholung der Ereignisse der Niederlage und Revolution von 1918, die Gefahr einer „Bolschewisierung" Europas. Die militärischen Siege der Jahre 1939 bis 1942 eröffneten den Nationalsozialisten die Möglichkeit, diese vermeintliche, tatsächlich aber überhaupt nicht existierende Gefahr zu beseitigen. Schon 1940 wurde die jüdische Bevölkerung der polnischen Provinzen, die von Deutschland besetzt waren, in schlecht versorgte, überfüllte Ghettos eingesperrt, gegen Ende 1941 begannen die Nationalsozialisten, Juden aus anderen Teilen Europas erst in diese Ghettos abzutransportieren, dann in eigens dafür errichteten Vernichtungslagern zu vergasen. Etwa fünfeinhalb bis sechs Millionen wurden auf diese Weise getötet oder von Einsatzgruppen des SD erschossen. Diese Tötungen, wie überhaupt die mörderische Gewalttätigkeit der Wehrmacht und der SS in Osteuropa, war kein Produkt einer vermeintlichen „Barbarisierung des Krieges", sie begann schon 1939 mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen, wo die polnische Armee kaum nennenswerten Widerstand leistete. Die Vernichtung der europäischen Juden gehörte zum nationalsozialistischen Programm einer rassischen Neuordnung Europas, wie die Tötung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die Vernichtung der deutschen Anstaltspatienten, die Einsperrung der deutschen „Asozialen" in Konzentrationslager, und der Mord an 20.000 deutschen Kleinkriminellen, die 1942 bis 1943 von staatlichen Gefängnissen in Ver-

28 Allg. dazu: Longerich, 1998, wie Anm. 16, sowie Friedländer, Saul, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998.

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nichtungslager abtransportiert wurden.29 Die Judenvernichtung ging freilich weit über diese Morde hinaus, denn die Nationalsozialisten betrachteten die Juden nicht bloß als „Untermenschen", sondern als eine reale Gefahr und weltweit agierende Bedrohung für die Deutschen.30 Wie erklärt man die Abkehr der Ärzte im Nationalsozialismus von den ethischen Grundlagen des Hippokratischen Eides? Der eingangs erwähnte utopische Glaube des frühen 20. Jahrhunderts, dass die Medizin viele der Hauptprobleme der Gesellschaft lösen könne, war sicherlich ein sehr wichtiger allgemeiner Einfluss. Trotz dieses Optimismus geriet die deutsche Ärzteschaft aber während der Weimarer Republik zunehmend in eine soziale und wirtschaftliche Krise. Viele Ärzte blickten auf den Nationalsozialismus, als sie einen Ausweg aus dieser Krise suchten. Mitte der dreißiger Jahre waren nicht weniger als 45 Prozent der deutschen Ärzte Mitglieder der NSDAP. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit, die Einfuhrung der allgemeinen Wehrpflicht, die Expansion der Streitkräfte, die Ausgrenzung der jüdischen Ärzte (etwa 17 Prozent der Ärzteschaft insgesamt) - das alles schuf neue Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten für die deutschen Ärzte, die sie dankend annahmen. 31 Medizin und Biologie erhielten eine enorme Prestigeaufwertung im Dritten Reich, einem Regime, das Eugenik, Rassenhygiene und Rassismus in den Mittelpunkt seiner Ideologie setzte. 1939 studierten 49 Prozent aller Universitätsstudenten Medizin, und zwischen 1933 und 1945 waren 59 Prozent aller Hochschulrektoren Mediziner. Anders als in manch anderem Fachbereich wurde die wissenschaftliche medizinische und biologische Forschung von den Nationalsozialisten stark gefördert. Sie war von offensichtlicher Relevanz für den Schutz deutscher Truppen vor Infektionskrankheiten und für die Verbesserung der Gesundheit der deutschen Bevölkerung generell. In ihrem Bemühen, die Gesundheit und Fruchtbarkeit des „rassisch" erwünschten Teils der deutschen Bevölkerung zu verbessern, legten die Nationalsozialisten ein besonderes Gewicht auf die Präventivmedizin und die Erforschung tödlicher Krankheiten. Es war ein NS-Epidemiologe, der als erster den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs entdeckte und im Juni 1939 eine staatliche Behörde zur Bekämpfung des Tabakkonsums ins Leben rief. Partei- und Regierungsstellen erließen Verbote von karzinogenen Substanzen wie Asbest, gefahrlichen Pestiziden und etlichen Lebensmittelfarben. Bereits 1938 hatte die Luftwaffe das Rauchen in ihren Räumen verboten, ein Beispiel, dem im April 1939 die Reichspost und die Büros der NSDAP selbst folgten. Bücher, Broschüren und Plakate warnten vor den Gefahren des Rauchens und wiesen immer

29 30 31

Siehe Wachsmann, Nikolaus, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006. Allg. dazu: Friedländer, Saul, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2: Die Jahre der Vernichtung 19391945, 2. Aufl., München 2006. Vgl. Kater, Michael H„ Doctors under Hitler, Chapel Hill 1989, Kap. 1-2.

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wieder daraufhin, dass der Führer selbst weder Pfeife noch Zigarren oder Zigaretten rauchte und außerdem keinen Alkohol trank.32 Eine Verbesserung der „Rasse" bedeutete für das NS-Regime jedoch nicht nur eine solche Forschung und Prävention, sondern auch die Ausschaltung angeblich negativer Einflüsse auf die „Rasse" und ihre Zukunft durch Zwangssterilisierung und am Ende Mord, eingekleidet in die neutral klingende Rhetorik einer Präventivmedizin. Die Aufnahme der „Rassenhygiene" in die medizinische Ausbildung im Dritten Reich hatte ihre Auswirkungen auch auf die medizinische Ethik, da die medizinischen Forscher auf anderen Gebieten ebenfalls der Vorstellung erlagen, dass „rassisch" Minderwertige oder „Untermenschen" legitimerweise als Objekte medizinischer Versuche dienen könnten.33 Die wachsende Macht und das große Prestige der Medizin und der mit ihr verbundenen Fächer brachte manche medizinischen Forscher zu der Uberzeugung, im Namen eines Fortschritts der Wissenschaft und einer Gesundung des Volkes sei alles gerechtfertigt. In dieser Uberzeugung wurden sie von der Verachtung des Regimes gegenüber der herkömmlichen Moral gestärkt. Eine besondere Exemplifizierung dieser allgemeinen Entwicklung bildete die Anstaltspsychiatrie. Neue therapeutische Methoden, neue Drogen, die Anwendung der Elektroschocktherapie und noch mehr in der Zwischenkriegszeit versprachen große Fortschritte in der Behandlung von Geisteskrankheiten, aber sie waren immer mehr dadurch gefährdet, dass die Anstalten immer überfüllter wurden, und zwar mit scheinbar unheilbaren Langzeitpatienten. Wenn diese hoffnungslosen Fälle also weggeschafft werden könnten, so öffnete sich freie Bahn für die erfolgreiche Inkraftsetzung der neuen Therapien, für welche sich viele der leitenden Euthanasieärzte begeisterten.34 Eine dieser Therapien war die Beschäftigungstherapie, und sie deckte sich mit einem anderen Imperativ des Regimes weitgehend, nämlich der Beschaffung neuer Arbeitskräfte zu einer Zeit, als ein zunehmend gefahrlicher Arbeitskräftemangel herrschte. So war ein Hauptgrund für die Entscheidung der T4 Arzte für Leben oder Tod eines Patienten häufig dessen Fähigkeit, durch Arbeit einen Beitrag zum Funktionieren der betreffenden Anstalt zu leisten. Somit entwickelte sich eine charakteristische Mischung von ideologischen und praktischen Gründen, die sich auch bei anderen nationalsozialistischen Massenmorden bemerkbar machte.35 Nach Kriegsende übte die große Mehrheit der deutschen Arzte ihren Beruf weiter aus. Sie wurden von der Gesellschaft noch immer gebraucht, sonst wäre die gesundheitliche Versorgung im besetzten Deutschland zusammengebrochen. Am 21. November 1946 eröffnete der Alliierte Militärgerichtshof in Nürnberg einen Prozess gegen 23 Angeklagte, von denen drei hohe Beamte gewesen waren, und 20 32 33 34 35

Vgl. Proctor, Robert N„ The Nazi War on Cancer, Princeton 1999, S. 4, 198 f. Vgl. Proctor, 1999, wie Anm. 32, S. 6 f. Vgl. Schmuhl, 2001, wie Anm. 14, S. 305 i Vgl. Klee (Hg.), 1985b, wie Anm. 15, S. 92-104; Friedlander, 1995, wie Anm. 15, S. 73-84; Burleigh, 1994, wie Anm. 7, S. 128 f.

Zwangssterilisierung, Krankenmord und Juderwernichtung im Nationalsozialismus

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Ärzte, hauptsächlich wegen Menschenversuchen in den Konzentrationslagern, aber auch wegen der „Euthanasie"-Morde. Am 20. August 1947 wurden sieben der Angeklagten, einschließlich zweier Hauptfiguren in der Aktion T4, Karl Brandt und Viktor Brack, zum Tode verurteilt, sieben wurden freigesprochen, die anderen bekamen Freiheitsstrafen. Die deutsche Ärzteschaft zeigte sich aber wenig betroffen. Es gelang, ihre Komplizenschaft bei den Patientenmorden zu verschweigen, und den Bericht der von den regionalen Ärztekammern eingesetzten Beobachterkommission unter dem jungen Heidelberger Privatdozenten Alexander Mitscherlich, einem bekannten Gegner des Nationalsozialismus, effektiv zu unterdrücken. Die deutschen Ärztekammer interpretierte den Bericht in ihrem Sinne: „Von etwa 90 000 in Deutschland tätigen Ärzten haben etwa 350 Medizinverbrechen begangen (...) Die Masse der deutschen Ärzte hat unter der Diktatur des Nationalsozialismus ihre Pflichten getreu den Forderungen des Hippokratischen Eides erfüllt, von den Vorgängen nichts gewusst und mit ihnen nicht im Zusammenhang gestanden."36 Mitscherlich, der einen wesentlich kritischeren Standpunkt vertrat, konnte danach keine medizinische Karriere mehr machen; erst 1960, als der Fischer Taschenbuch Verlag seinen Bericht unter dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit" veröffentlichte, erreichte er ein breiteres Publikum. Trotzdem übten viele Ärzte, die in die Aktion T4 verwickelt waren, weiter ihren Beruf aus. In vielen Fällen verteidigten sie sogar lange nach dem Krieg die Tötung behinderter Kinder und vertraten noch immer, wenn auch in sprachlich leicht abgeänderter Form, die Grundprinzipien der „Rassenhygiene". Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen einer neuen Generation jüngerer Ärzte begann die deutsche Ärzteschaft, sich kritisch mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung dauert bis heute an.37

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Zit. n. Freimüller, Tobias, Medizin: Operation Volkskörper, in: Frei, Norbert (Hg.), Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt am Main 2001, S. 13-69, hier S. 30. 37 Vgl. Freimüller, 2001, wie Anm. 36; Klee, Ernst, Was sie taten - was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt am Main 1986; Godau-Schüttke, Klaus-Detlev, Die Heyde-Sawade-Affare, Baden-Baden 1998; Jäckle, Renate, Die Ärzte und die Politik 1930 bis heute, München 1988; Kater, Michael H., The Sewering Scandal of 1993 and the German Medical Establishment, in: Berg, Manfred/ Cocks, Geoffrey (Hg.), Medicine and Modernity. Public Health and Medical Care in Nineteenth- and Twentieth-Century Germany, New York 1997, S. 213-234. Siehe auch die Beiträge von Angelika Ebbinghaus und Frank Hirschinger in diesem Band.

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Von der Vererbungslehre zur Rassenhygiene

1. Frühe Vorstellungen über die Vererbung Schon seit Jahrtausenden ist den Menschen bekannt, dass im Pflanzen- und Tierreich Eigenschaften der Elterngeneration bei den Nachkommen wieder auftauchen, also vererbt werden. Diese Beobachtung machte man sich schon früh in der Tierund Pflanzenzucht zunutze. In dem altorientalischen Reich Elam wurde bereits vor etwa 6000 Jahren eine intensive Pferdezucht betrieben. Die Babylonier führten schon um 1000 v.Chr. gezielte Kreuzungen von Dattelpalmen durch, um ihre Eigenschaften zu verbessern.1 Zweifellos wurde auch schon sehr früh erkannt, dass die Vererbung bestimmter Eigenschaften und Merkmale beim Menschen ebenfalls auftritt. Beispielsweise beschrieb Hippokrates (etwa 460-370 v.Chr.) seine Vorstellung von der Vererbung beim Menschen so: „Wenn nun von dem Kahlköpfigen Kahlköpfige, von den Blauäugigen Blauäugige, von den Schielenden Schielende in der Regel gezeugt werden und bei anderen Gebrechen dasselbe Gesetz obwaltet, was hindert da, dass von Langköpfigen Langköpfige gezeugt werden?" In dem Werk „De rerum natura" von Lucretius (98- 55 v.Chr.) heißt es: „Auch kommf s häufiger vor, dass die Kinder den Eltern der Eltern gleichen und oft an die Ahnen in ihrer Gestaltung erinnern. Dies kommt daher, daß häufig die Eltern im Körper verborgen mit sich fuhren so viele und vielfach gemischte Atome, welche vom Urstamm her die Väter den Vätern vererben."2 Wenn auch das Phänomen der Vererbung schon seit Jahrtausenden bekannt ist, so waren die Vorstellungen über die Vorgänge bei der Weitergabe von Erbanlagen doch noch lange Zeit sehr unklar und muten uns heute zum Teil recht merkwürdig an. Auf Hippokrates (460-377 v.Chr.) geht die sogenannte Panspermie-Hypothese zurück, die so formuliert wurde: „es kommt sowohl vom ganzen Körper des Man1

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Vgl. Löther, Rolf] Kenntnisse und Vorstellungen über Lebewesen und Lebensprozesse in frühen Kulturen, in: Jahn, Ilse (Hg.), Geschichte der Biologie. Theorie, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien, 3., neubearb. u. erw. Aufl., Heidelberg, Berlin 2000, S. 27-47, hier S. 36 f. Zit. n. Lenz, Widukind, Daten zur Geschichte der Humangenetik und ihrer Grundlagen, in: Becker, Peter Emil (Hg.), Humangenetik. Ein kurzes Handbuch in fünf Bänden, Band 1/1, Grundlinien, Terminologie, Methoden, Geschichte der Humangenetik, Abstammungsgeschichte, Chromosomen, Maßund Formmerkmale, Entwicklung, Konstitution, Geschlecht, Normale Merkmale von Haut- und Anhanggebilden, Stuttgart 1968, S. 77-113, hier S. 77-79.

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nes als auch des Weibes, und zwar von den schwachen Teilen schwacher und von den starken Teilen starker Samen. Dass er auch den Kindern ebenso weitergegeben wird, ist Naturgesetzlichkeit."3 Aristoteles (384 - 322 v.Chr.) widersprach dieser Auffassung und stellte die Bluttheorie der Vererbung auf Sie besagt, dass der Samen beim Mann durch einen wärmegesteuerten Umwandlungsprozess aus Blut entsteht. Da Frauen diese Wärme nicht aufbringen können, sind sie nicht im Stande Samen herzustellen, sondern erzeugen nur das Menstruationsblut. Aristoteles hielt auf Grund dieser Vorstellungen das weibliche Geschlecht für minderwertig. Nur dem Samen wohnt nach seiner Lehre ein inneres aktives Formprinzip (Entelechie) inne, das die weitere Entwicklung des Keimlings bestimmt.4 Obwohl diese Gedankengänge im Lichte des heutigen Wissenstandes abwegig erscheinen, spielt die Bluttheorie der Vererbung auch heute im täglichen Sprachgebrauch immer noch eine bedeutende Rolle. Das zeigt sich unter anderem darin, dass wir von Blutsverwandtschaft sprechen, wenn wir ausdrücken wollen, dass bei bestimmten Personen gemeinsame Erbanlagen vorhanden sind. Auch die aristotelische Vorstellung, dass nur der Vater für die Vererbung wichtig ist, hat sich Jahrhunderte lang gehalten: So schrieb beispielsweise noch Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541): „Also wird jetlicher geboren in die Art seines Vatters. Was ihm vom selben ingeleibet wird, mag er vollstrecken".* Erst William Harvey (1579-1628) entdeckte, dass bei der Zeugung auch das Ei eine wichtige Rolle spielt. Für die Entwicklung des Embryos und die Weitergabe der Erbanlagen hielt aber auch er den Samen für ausschlaggebend. Die Bedeutung des Samens betonte ebenfalls Antony von Leuwenhoek (1632-1723). Er entdeckte mithilfe eines neu entwickelten Mikroskops in der Samenflüssigkeit die Spermien und war der Auffassung, dass darin schon ein vorgeformtes Individuum enthalten ist. Marcello Malphigi (1628-1694) vertrat ebenfalls diese Präformationstheorie, übertrug sie aber auf die Eizelle. Aus diesen gegensätzlichen Vorstellungen entwickelte sich ein über hundert Jahre andauernder Streit zwischen den „Ovisten" und „Spermatisten".6 Der große englische Naturforscher und Vater der Evolutionstheorie Charles Darwin (1809-1882) befreite sich von diesen Vorstellungen und kehrte zu der hippokratischen „Panspermietheorie" zurück, die er allerdings konkretisierte und „Pangenesistheorie" nannte. Darwin nannte die hypothetischen Teilchen, die für die

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Zit. n. Stubbe, Hans, Kurze Geschichte der Genetik bis zur Wiederentdeckung der Vererbungsregeln Gregor Mendels, 2., Überarb. u. erg. Aufl., Jena 1965, S. 24. Vgl. Harig, Georg/ Kollesch, Jutta, Naturforschung und Naturphilosophie in der Antike, in: Jahn, Ilse (Hg.), Geschichte der Biologie. Theorie, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien, 3., neubearb. u. erw. Aufl., Heidelberg, Berlin 2000, S. 48-87, hier S. 63. Zit. n. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 80. Vgl. Stubbe, 1965, wie Anm. 3, S. 65.

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Vererbung verantwortlich sind „gemmules" (Keimchen). Die gemmules sollten aus allen Körperzellen hervorgehen und im Körper kreisen, bis sie in die Keimbahn gelangen.7 Mit dieser Hypothese glaubte Darwin einige Erblichkeitsphänomene und insbesondere die Vererbung erworbener Eigenschaften erklären zu können, die schon seit der Antike als ein ganz normaler Vorgang angesehen wurde.

2. Der Beginn der wissenschaftlichen Vererbungslehre Das Jahr 1866 gilt vor allem deshalb als Beginn der wissenschaftlichen Vererbungslehre, weil der Augustinermönch Gregor (bürgerlicher Name Johann) Mendel (1822-1884) in diesem Jahr seine Vererbungsregeln veröffentlichte. Die Arbeit trug den schlichten Titel „Versuche über Pflanzenhybriden".8 Er berichtete darin über seine mehljährigen Kreuzungsversuche mit Gartenerbsen, wobei er vor allem in der verschiedenen Ausprägung der Samen deutliche Gesetzmäßigkeiten beobachtete.9 Offensichtlich waren die zeitgenössischen Wissenschaftler von der Publikation dieser Regeln völlig überfordert, denn sie fand so gut wie keine Resonanz. Mendel hatte bei seiner Arbeit durchaus auch das Glück des Tüchtigen, denn die von ihm ausgewählten Merkmale waren jeweils nur von einem Gen abhängig, obwohl das damals noch gar nicht sicher feststellbar war. Wäre seine Auswahl anders ausgefallen, hätten sich die Erbregeln vermutlich nicht so klar ergeben.10 Während Mendels Erkenntnisse über die Vererbung für mehr als 30 Jahre wieder in Vergessenheit gerieten, machte die Zellforschung große Fortschritte. Oscar Hertwig (1849-1922) erforschte den Befruchtungsvorgang an Seeigeleiern und konnte die Bedeutung des Zellkerns für die Vererbung nachweisen. 1883 entdeckte schließlich Wilhelm Roux (1850-1924), dass die Chromosomen im Zellkern die Träger der Erbanlagen sind. Wenig später widerlegte August Weismann (1834-1914) durch eindrucksvolle Experimente die Pangenesis-Theorie und die Vererbung erworbener Eigenschaften. Weismann prägte den Ausdruck „Keimplasma" für den Teil des Organismus, der für die Vererbung notwendig ist. Heute spricht man von der Keimbahn und meint damit die Keimzellen, die sich schon in einem sehr frühen Entwicklungsstadium von den übrigen Körperzellen absondern.11 Erst im Jahr 1900 entdeckte der niederländische Botaniker Hugo de Vries (18481935) die Gültigkeit der Mendelschen Erbgesetze neu. Fast gleichzeitig publizierte

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Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 80. Zankl, Heinrich, Die Launen des Zufalls. Wissenschaftliche Entdeckungen von Archimedes bis heute, Darmstadt 2002, S. 48 f. 9 Vgl. Zankl, Heinrich, Genetik. Von der Vererbungslehre zur Genmedizin, München 1998, S.15-19. 10 Vgl. Di Trocchio, Federico, Der große Schwindel. Betrug und Fälschung in der Wissenschaft, Reinbek 1999, S. 130 f. 11 Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 85-87.

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auch der deutsche Pflanzenforscher Carl Correns (1864-1933) ähnliche Ergebnisse. Ihm ist es vor allem zu verdanken, dass die Erinnerung an Gregor Mendel wieder wachgerufen wurde.12 Der englische Zoologe William Bateson (1861-1926) prägte 1902 den Begriff „Genetik" und nannte als Hauptziele dieses neuen Wissenschaftszweigs „die Untersuchung von Gesetzmäßigkeiten der Erblichkeit von Merkmalen und deren Variation". Er entdeckte auch den ersten menschlichen Stoffwechseldefekt, der sich entsprechend den Mendelschen Regeln rezessiv vererbt.13 Nur ein Jahr später wies der amerikanische Anthropologe William C. Farabee (1865-1925) nach, dass eine bestimmte Form der Kurzfmgrigkeit sich in einer großen Familie über fünf Generationen dominant vererbte und damit ebenfalls den Erbgesetzen entsprach.14 In den Folgejahren wurde durch eine Vielzahl von Untersuchungen an den verschiedensten Organismen die Allgemeingültigkeit der Mendelschen Erbregeln belegt. Es gab aber auch immer wieder Versuche, Gegenargumente zu finden und insbesondere die Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften nachzuweisen. Großes Aufsehen erregte in dieser Hinsicht der Wiener Biologe Paul Kammerer (1880-1928), der mehrere Artikel publizierte, in denen er über die Vererbung umweltbedingter Brunftschwielen bei Geburtshelferkröten berichtete. Als der amerikanische Amphibienexperte Gladyn K. Noble (1804-1940) nachwies, dass die Befunde gefälscht waren, beging Kammerer Selbstmord.15 Einer der hartnäckigsten Verfechter der Vererbung erworbener Eigenschaften war der russische Agrarwissenschaftler Trofim Dessinowitsch Lyssenko (1898-1976). Er behauptete unter anderem, durch Kältebehandlung Weizen so verändern zu können, dass er dauerhaft bessere Erträge erbringt. Da diese Vorstellungen den kommunistischen Machthabern gut ins ideologische Konzept passten, wurde die ganze Pflanzen- und Tierzucht in der UdSSR neu ausgerichtet, was schwerste Rückschläge in der Landwirtschaft zur Folge hatte. Auch beim Menschen wurde die völlige Milieuabhängigkeit postuliert und man versuchte durch barbarische Maßnahmen, den „Sowjetmenschen" zu verwirklichen. Erst nach dem Sturz Chruschtschows im Jahre 1964 wurde Lyssenko entmachtet und die naturwissenschaftlich orientierte Genetik konnte in der UdSSR langsam wieder Fuß fassen.16

3. Die Anfange der Humangenetik als Wissenschaft Der englische Privatgelehrte Francis Galton (1822-1911) wird vielfach als Begründer der Humangenetik genannt. Er betätigte sich wissenschaftlich auf vielen ver12 13 14 15

Vgl. Zankl, 2002, wie Anm. 8, S. 46. Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 89. Vgl. Zankl, 1998, wie Anm. 9, S. 12. Vgl. Zankl, Heinrich, Fälscher, Schwindler, Scharlatane. Betrug in Forschung und Wissenschaft, Weinheim 2003, S. 63-67. 16 Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 104-105.

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schiedenen Gebieten. Nachdem 1859 das Buch seines Vetters Charles Darwin über die Entstehung der Arten erschienen war, begann Galton sich mit Fragen der Vererbung beim Menschen zu beschäftigen. Dabei interessierte ihn besonders die Erblichkeit geistiger Hochbegabung. Im Jahre 1869 erschien sein Buch „Der erbliche Genius", in dem er die Ergebnisse seiner Studien über 977 berühmte Männer aus 300 Familien zusammenfasste. Galton kam auf Grund dieser Studie zu dem Schluss, dass Hochbegabung familiär gehäuft vorkommt und deshalb eine starke erbliche Komponente haben muss.17 Nach heutigen Maßstäben war diese Untersuchung methodisch allerdings nicht sehr überzeugend, insbesondere da nur die männlichen Mitglieder der Familien einbezogen wurden. Das Buch fand damals aber große Beachtung und machte Galton berühmt. Er erkannte auch, dass viele körperliche Merkmale in der Bevölkerung eine weite Streubreite um einen Mittelwert aufweisen. Dieses Phänomen wird heute noch als „Galton-Regel" bezeichnet. Ahnliches beobachtete er auch für die geistige Leistungsfähigkeit, wobei er die großen Unterschiede ebenfalls für eine vorrangig biologische Gegebenheit hielt. Galtons größte Leistung war aber vermutlich, dass er den Begriff der Korrelation prägte und die Berechnung des Korrelationskoeffizienten einführte. Ein einfaches Beispiel einer solchen Korrelation von Merkmalen ist die Tatsache, dass Menschen mit langen Armen meist auch lange Beine haben. Mit Hilfe der Korrelationsrechnung erfasste Galton die Vererbung kontinuierlich variabler Merkmale. Außerdem gilt Galton als Begründer der Zwillingsforschung, die für die Abschätzung des Einflusses von Erbfaktoren und Umweltbedingungen auf die Entwicklung komplexer menschlicher Eigenschaften (z.B. die Intelligenz) eine große Bedeutung erlangte.18 Diese Forschungsrichtung wurde jedoch durch die Betrügereien des englischen Psychologen Sir Cyril Burt (1873-1971) zeitweilig stark diskreditiert.19 In der Kriminalistik spielte Galton ebenfalls eine wichtige Rolle, indem er die Daktyloskopie (Fingerabdruckverfahren) einführte. Er erkannte bereits, dass die Hautleistenmuster auf den Fingerbeeren so vielfaltig sind, dass keine zwei Menschen völlig gleiche Muster aufweisen. 1909 wurde Galton für seine erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit von der englischen Königin mit dem Titel „Sir" geehrt. Parallel zu seinen Forschungen über die Vererbung der Intelligenz entwickelte Galton die Vorstellung, dass eine gezielte Verbesserung der Erbanlagen angestrebt werden sollte, um die Entwicklung der Menschheit positiv zu beeinflussen. Er prägte dafür den Ausdruck „Eugenik". In seinem Buch „Genie und Geist" formulierte er die Ziele der Eugenik so: „Die natürlichen Anlagen, von denen dieses Buch handelt, sind der Art, wie sie ein moderner Europäer in einem weit größeren Durchschnitt besitzt als Menschen niedriger Rassen. Wir finden nichts, was uns 17 Vgl. Liungman, Carl G., Der Intelligenzkult. Eine Kritik des Intelligenzbegriffs und der IQ-Messung, Reinbek 1973, S. 14-16. 18 Vgl. Brand, Gregor, „The most original minded man...": Francis Galton (1822-1911), in: Labyrinth 76 (2003), S. 5-13, hier S. 5 f. 19 Vgl. Zankl, 2003, wie Anm. 15, S. 170 f.

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bezweifeln lässt, dass eine Rasse gesunder Menschen geschaffen werden kann, die den modernen Europäern geistig ebenso überlegen wäre, als die modernen Europäer den niedrigsten Negerrassen überlegen sind."20 Galtons Glaube an die Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen wurde maßgeblich durch Darwin beeinflusst, der ja das Prinzip der natürlichen Auslese als Triebkraft der Evolution beschrieben hatte. Da beim Menschen diese Selektionsmechanismen nur noch eingeschränkt wirksam sind, erschien es Galton notwendig, sie durch gezielte Eingriffe zu ersetzen. Er befürwortete deshalb auch den Ausschluss Minderbegabter von der Fortpflanzung. Für die weitere Entwicklung der Humangenetik als eigenständige Wissenschaftsdisziplin war es zweifellos eine große Belastung, dass schon die Anfänge von eher weltanschaulichen Diskussionen über Eugenik und Menschenzüchtung überschattet waren. Dadurch war der Weg zur Rassenhygiene schön mehr oder minder vorgezeichnet. Andere sehr erfolgreiche Bereiche wie z.B. die Erforschung der Vererbung vieler Krankheiten gerieten so in den Hintergrund. Ein herausragendes Beispiel fur diese Richtung humangenetischer Forschung ist das 1909 erschienene Buch von Archibald Garrod (1857-1936) über die Erblichkeit angeborener Stoffwechselstörungen. Ahnlich bedeutend waren die mit mathematisch-statistischen Methoden erarbeiteten Fortschritte in der Populationsgenetik und Mutationsforschung, die vor allem von Robert Weinberg (1862-1937) und John Burdon Sanderson Haidane (1892-1964) erzielt wurden.21

4. Die menschlichen Rassen Die Rasse bzw. Subspecies als Begriff der botanischen und zoologischen Systematik geht auf Karl von Linné (1707-1778) zurück, der damit verschiedene Arten (Species) noch weiter untergliederte. Beim Homo sapiens unterschied er H.s. europaeus, afer, asiaticus und americanus. Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840), der als Begründer der wissenschaftlichen Anthropologie gilt, beschrieb vor allem auf Grund von Schädelmessungen eine kaukasische, mongolische, äthiopische, amerikanische und malaiische Rasse.22 In der Folgezeit entstand eine Vielfalt von Rassengliederungen, wobei in neuerer Zeit meist eine europide, mongolide und negride Großrasse mit verschiedenen Unterrassen unterschieden wurden. Zusätzlich grenzte man die Australiden, Indianiden und Khoisaniden als Sondergruppen ab.23

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Zit. n. Gould, Stephen Jay, Der falsch vermessene Mensch, Basel 1983, S. 75 f. Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 92. Vgl. Baker, John Randal, Die Rassen der Menschheit. Merkmale, Unterschiede und ihre Beziehungen zueinander, Herrsching 1989, S. 23-24. Vgl. Knußmann, Rainer, Vergleichende Biologie des Menschen. Lehrbuch der Anthropologie und Humangenetik, 2., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 1996, S. 404 f.

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Die Europiden (oft auch als Kaukasier bezeichnet) wurden in Europa und Amerika lange Zeit gegenüber allen anderen menschlichen Rassen in jeder Hinsicht für weit überlegen gehalten. Als Beleg dafür spielten unter anderem die Schädelmessungen des amerikanischen Arztes Samuel George Morton (1799-1851) eine wichtige Rolle, die angeblich bewiesen, dass die Europiden ein wesentlich größeres Gehirnvolumen haben als die Mongoliden bzw. Indianiden und insbesondere die Negriden. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen damals auch andere Forscher. Erst 1978 konnte gezeigt werden, dass bei den Messungen ganz erhebliche Fehler gemacht worden waren und rassenspezifische Unterschiede in dieser Hinsicht gar nicht bestehen.24 Im 19. Jahrhundert passten die Messergebnisse aber so gut in das europazentrierte Weltbild, dass niemand auf die Idee kam, die Messungen kritisch zu überprüfen. Heftigen Streit gab es jedoch darüber, wie es zur Entwicklung der verschiedenen Rassen gekommen sein könnte. Die Vertreter des „Monogenismus" nahmen an, dass im Laufe der Zeit durch Degeneration der Zustand der schöpferischen Vollkommenheit von Adam und Eva verloren gegangen wäre. Die Europiden sollten dem idealen Urzustand noch am nächsten sein, während die Negriden am stärksten der Degeneration anheim gefallen wären. Als Ursache dafür wurden vor allem ungünstige klimatische Gegebenheiten angesehen. Die „Polygenisten" vertraten dagegen die Meinung, dass es keinen gemeinsamen Ursprung des Menschen gab, sondern die Rassenunterschiede von Anfang an vorhanden waren.25 Es dauerte nicht lange, bis versucht wurde, auch innerhalb der Europiden eine hierarchische Untergliederung einzuführen. Einer der ersten war Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882), der in seiner Schrift „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen" die germanische Rasse (die er auch schon als Arier bezeichnete) als Hauptkulturträger sah und vor einer Rassenmischung warnte, weil dadurch die Kultur zerstört würde. Diese Meinung vertrat auch Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), der 1899 in einem umfangreichen Buch ausführlich die Tugenden der Germanen pries und sie „als Begründer einer durchaus neuen Civilisation und einer durchaus neuen Kultur" beschrieb. Nach Chamberlains Ansicht gehörten die Juden nicht zum arischen Rassenkreis, sondern wären Mischlinge aus verschiedenen Rassen, wodurch sie in seinen Augen als minderwertig anzusehen waren. Auch der französische Anthropologe George Vacher de Lapouge (1854-1936) glorifizierte die nordische Rasse, die er mit den Ariern gleichsetzte. Der Jude war seiner Ansicht nach „der einzige gefährliche Rivale des Ariers".26 In Deutschland wurde diese Lehre vor allem durch Ludwig Schemann (1852-1938) populär gemacht.27 Eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung in angeblich hoch- und minderwertige Rassen spielte außerdem die von dem deutschen Zoologen Ernst Haeckel (1834-1919) 24 25 26 27

Vgl. Zank1, Heinrich, Der große Irrtum. W o die Wissenschaft sich täuschte, Darmstadt 2004, S. 54 f Vgl. Gould, 1983, wie Anm. 20, S. 35 f. Zit. n. Baker, 1989, wie Anm. 22, S. 30 f. Vgl. Weingart, Peter/ Kroll, Jürgen/ Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, S. 94.

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aufgestellte Rekapitulationstheorie, die auch als ontogenetische bzw. biogenetische Grundregel bezeichnet wird. Sie besagt, dass jedes Lebewesen während seiner eigenen Individualentwicklung (Ontogenese) Stadien seiner Stammesgeschichte (Phylogenese) durchläuft. Diese ursprünglich vor allem auf die Embryonalentwicklung bezogene Regel wurde später auf die ganze Lebensspanne erweitert. Mehr kinderähnliche Körpermaße und Proportionen im Erwachsenenalter sollten deshalb ein Hinweis auf eine niedrigere Entwicklungsstufe einzelner Rassen sein. Der bekannte amerikanische Paläontologe und Anatom Edward Drinker Cope (18401897) meinte, auf dieser Basis eine Überlegenheit der nordeuropäischen Rassen gegenüber den Südeuropäern und Juden feststellen zu können. Er forderte daher, in den USA die Einwanderung von Angehörigen dieser Menschengruppen zu beschränken.28

5. Die Entstehung der Rassenhygiene Der Begriff „Rassenhygiene" geht auf den deutschen Arzt Alfred Ploetz (18601940) zurück. Er verstand darunter die Lehre von den optimalen Erhaltungs- und Entwicklungsbedingungen einer Rasse. Den Ausdruck „Rassenhygiene" verwendete er erstmalig in seinem 1895 erschienenen Buch „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen: Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus". Darin schrieb er unter anderem: „Die Erzeugung guter Kinder (...) wird nicht irgend einem Zufall einer angeheiterten Stunde überlassen, sondern geregelt nach Grundsätzen, die die Wissenschaft für Zeit und sonstige Bedingungen aufgestellt hat. (...) Stellt sich trotzdem heraus, daß das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von einem Arzte-Collegium (...) ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium."29 Als Begründung für diese furchterregenden Vorstellungen diente vor allem die Darwinsche Evolutionstheorie, nach der ein natürlicher Ausleseprozess stattfindet, der mit dem Schlagwort „Survival of the fittest" beschrieben wurde. Diese Kurzaussage wird im Deutschen gerne mit „Überleben der Stärksten" übersetzt, was den Inhalt allerdings verfälscht. Mit dem Wort „fittest" ist nämlich der an seine Umwelt am besten Angepasste gemeint, was keinesfalls immer der Stärkste sein muss. Auch eine 1857 von dem französischen Psychiater Benedict Augustin Morel (1809-1873) publizierte Schrift hatte auf die rassenhygienischen Gedankengänge von Ploetz großen Einfluss. Morel machte darin vor allem schlechte Umweltein-

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Vgl. Gould, 1983, wie Anm. 20, S. 120. Zit. n. Fangerau, Heiner, Das Standardwerk zur menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz im Spiegel der zeitgenössischen Rezensionsliteratur 1921 1941, Bochum Univ. Diss. 2000, S. 18.

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flüsse und Fehlernährung für Degenerationserscheinungen beim Menschen verantwortlich, die sich auch auf deren Nachkommen übertragen würden.30 Aus den USA kam die Unterstützung eugenischer Maßnahmen zunächst von eher unerwarteter Seite. Alexander Graham Bell (1847-1922), der Erfinder des Telefons, hatte sich intensiv mit der Frage beschäftigt, warum bei den Bewohnern der Insel Martha's Vineyard so häufig Taubheit vorkam. Nachdem er festgestellt hatte, dass taube Eltern oft ausschließlich taube Kinder hatten, empfahl er ein Eheverbot für Betroffene und warnte vor der Entstehung einer tauben Menschenrasse. Die Rassenhygieniker beriefen sich noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor allem auf diese Schrift, um auch Taubheit als Grund für Zwangssterilisationen zu propagieren. Inzwischen war allerdings längst bekannt, dass es viele verschiedene Formen der Taubheit gibt und taube Eltern durchaus auch hörende Kinder haben können. Der erwähnte deutsche Arzt und Zoologe August Weismann (1834-1914) spielte für die Rassenhygiene ebenfalls eine wichtige Rolle. Er schrieb 1886 eine Arbeit mit dem Titel: „Über den Rückschritt der Natur". Darin zeigte Weismann vor allem an Hand des evolutiven Augenverlustes bei den im Dunkeln lebenden Grottenolmen, dass Organe die nicht gebraucht werden, wegen des mangelnden Selektionsdrucks während der Evolution zurückgebildet werden. Vielleicht noch wichtiger waren aber Weismanns Forschungen, die eine Vererbung erworbener Eigenschaften widerlegten. Dadurch war klar geworden, dass der befürchtete Niedergang der Menschheit nicht durch Erziehung oder Körperertüchtigung aufzuhalten war.31 Aus diesen wissenschaftlichen Grundlagen leiteten die Verfechter der Rassenhygiene die Forderung ab, dass die beim Menschen fehlende natürliche Selektion durch eugenische Maßnahmen ersetzt werden müsse. Als Vorbild galten dabei die Spartaner, die in der Antike durch strenge Selektion vor allem der männlichen Neugeborenen die Kampfeskraft ihres Volkes erhalten und sogar gesteigert haben sollen. Die Furcht vor einer „Entartung der Menschheit", oft verbunden mit dem Wunsch nach einer gezielten Förderung der Höherentwicklung, ist aber nicht erst durch die Darwinsche Evolutionstheorie entstanden, sondern wurde auch in früheren Zeiten immer wieder geäußert. So schrieb z.B. 1784 der damals sehr einflussreiche Johann Peter Frank (1745-1821): „das Heiraten der gänzlich ausgearteten, zwergartigen, sehr krüppelhaft verstellten Menschen solle nie gestattet werden." Zusätzlich forderte Frank ein Eheverbot bei Epilepsie, Hypochondrie, Schwachsinn und Psychosen.32 Unter Bezugnahme auf Plato formulierte Arthur Schopenhauer (1788-1860) in seinem Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung": „So werden wir zu der Ansicht

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Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 82. Vgl. Fangerau, 2000, wie Anm. 29, S. 13. Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 83.

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hingeleitet, daß eine wirkliche und gründliche Veredelung des Menschengeschlechts (...) auf dem Wege der Generationen zu erlangen sein möchte. Könnten wir alle Schurken unschädlich machen und alle dummen Gänse ins Kloster stecken, den Leuten von edlem Blut ein ganzes Harem beigeben (...), so würde bald eine Generation entstehen, die ein mehr als Perikleisches Zeitalter darstellt."33 Vermutlich hat bei der Entstehung solcher Vorstellungen eine wichtige Rolle gespielt, dass man schon zu allen Zeiten gerne die oft nicht sehr befriedigenden Zustände in der Gegenwart mit nachträglich glorifizierten Vergangenheitsperioden verglichen hat. Dadurch entsteht leicht der Eindruck eines kontinuierlichen Niedergangs des menschlichen Geschlechts.34 Die Verklärung der „guten alten Zeit" ist im deutschen Sprachgebrauch ein deutlicher Hinweis auf solche Tendenzen. Das heftige Aufflammen der Degenerationsfurcht im Zusammenhang mit den Darwinschen Publikationen erklärt sich möglicherweise dadurch, dass man glaubte, jetzt den Beweis für das Vorhandensein von Entartungstendenzen in der Menschheitsentwicklung gefunden zu haben. Im Gefolge dieser Furcht vor einer negativen Entwicklung des Menschen kam es in vielen Ländern zu eugenisch orientierten Bewegungen, die vor allem Sterilisationsgesetze forderten, um eine Ausbreitung „schlechter" Erbanlagen zu verhindern. Vorreiter waren in dieser Hinsicht einzelne Staaten der USA. In Michigan wurde bereits 1897 über einen entsprechenden Gesetzentwurf im Parlament diskutiert, der aber noch keine Mehrheit fand.35 Zwei Jahre später erfolgten in den USA die ersten Sterilisationen von Gefängnisinsassen aus eugenisch-sozialer Indikation. 1907 trat in Indiana das erste Sterilisationsgesetz in Kraft, das sich nicht nur gegen Geisteskranke, sondern auch gegen Insassen von Armenhäusern und Gefangnissen richtete.36 Innerhalb eines Jahrzehnts wurden dann ähnliche Gesetze in 15 Bundesstaaten der USA erlassen. Ab 1929 folgten etliche europäische und asiatische Staaten diesem Beispiel. Einige dieser Gesetze behielten auch noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Gültigkeit. In seinem Bestreben, die Rassenhygiene in Deutschland zu einer anerkannten wissenschaftlichen Disziplin zu machen, ging Ploetz recht planmäßig vor. 1904 gründete er die Zeitschrift „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie", ein Jahr später war er maßgeblich an der Gründung der „Gesellschaft für Rassenhygiene" beteiligt. Die von Ploetz und seinen Gefolgsleuten verfolgten Ziele ähnelten zunächst weitgehend denen, die schon Galton unter der Bezeichnung „Eugenik" propagiert hatte. Die Wahl des Begriffes „Rassenhygiene" deutete aber bereits darauf hin, dass rassenbezogenen Aspekten eine besondere Bedeutung beigemessen wurde. Das zeigte sich verstärkt in den Folgejahren, in denen Ploetz verschiedene 33 34 35 36

Zit. n. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 83. Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 82. Vgl. Kaiser, Jochen-Christoph/ Nowak, Kurt/ Schwartz, Michael (Hg.), Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, S. 200 f. Vgl. Lenz, 1968, wie Anm. 2, S. 88.

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Geheimbünde initiierte, deren Ziel die „Rettung der nordischen Rasse" war. Anfangs war Ploetz nicht eindeutig antisemitisch eingestellt, sondern befürwortete sogar eine „Rassenmischung" zur Steigerung der „Rassentüchtigkeit". Später plädierte er allerdings für die Rassenreinheit und unterstützte den militanten Antisemitismus der Nationalsozialisten.37 Für die wissenschaftliche Anerkennung der „Gesellschaft für Rassenhygiene" spielte eine große Rolle, dass der schon erwähnte Ernst Haeckel Ehrenmitglied wurde. Er war damals Professor für Zoologie in Jena und hatte in mehreren Büchern die Evolutionslehre auch in Deutschland populär gemacht. Seine Publikationen waren wohl auch deshalb so erfolgreich, weil er sich darin besonders intensiv mit der Entwicklung des Menschen beschäftigte und auch spekulative weltanschauliche Betrachtungen einfließen ließ. Sein 1868 erstmalig erschienenes Buch „Natürliche Schöpfungsgeschichte" erreichte neun Auflagen und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. In seinem 1904 publizierten Buch „die Lebenswunder" äußerte Haeckel auch eugenisches Gedankengut indem er schrieb: „Es kann daher auch die Tötung von neugeborenen verkrüppelten Menschen (...) vernünftigerweise nicht unter dem Begriff des Mordes fallen. (...) Vielmehr müssen wir dieselbe als eine zweckmäßige, sowohl für die Beteiligten wie für die Gesellschaft nützliche Maßregel billigen."38 Ein weiterer großer Schritt in Richtung akademischer Anerkennung gelang 1913, als die „Gesellschaft für Rassenhygiene" Mitglied der medizinischen Abteilung der renommierten „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte" wurde. 1923 wurde an der Medizinischen Fakultät der Universität München die erste Professur für Rassenhygiene geschaffen, auf die man den Arzt Fritz Lenz (1897-1976) berief Er war bereits seit 1913 Herausgeber der Zeitschrift „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie" und hatte sich 1919 im Fach „Hygiene" mit einer Arbeit „ Erfahrungen über Erblichkeit und Entartung bei Schmetterlingen" habilitiert. Gemeinsam mit Eugen Fischer und Erwin Baur veröffentlichte er 1921 in zwei Bänden einen „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene", der zum Standardwerk der Rassenideologie der Nazis wurde und bis 1940 fünf Auflagen ereichte. Er soll auch Adolf Hitler 1923 während seiner Festungshaft als Grundlage für den rassenhygienischen Teil von „Mein Kampf' gedient haben.39 1927 konnte als weiterer wichtiger Schritt bei der Etablierung der Rassenhygiene als wissenschaftliche Disziplin die Gründung des „Kaiser Wilhelm Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik" erreicht werden. Erster Direktor des Instituts wurde Eugen Fischer (1874-1967), ein auch international bekannter Wissenschaftler. Bevor er nach Berlin berufen wurde, war er Professor für Anatomie an verschiedenen deutschen Universitäten.40 Sein Hauptforschungsgebiet 37 38 39 40

Vgl. Fangerau, 2000, wie Anm. 29, S. 17 ff Haeckel, Ernst, Das Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie, Stuttgart 1904, S. 470. Vgl. Fangerau, 2000, wie Anm. 29, S. 38. Vgl. Fangerau, 2000, wie Anm. 29, S. 27 f.

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war die genetische Variabilität des Menschen. Er wollte nachweisen, dass Rassenmerkmale des Menschen entsprechend den Mendelschen Regeln vererbt werden. Zu diesem Zweck studierte er in Südwestafrika vor allem Rassenmischlinge, die von Europiden niederländischen Ursprungs (Burenmänner) und eingeborenen Hottentottenfrauen (Khoisaniden) abstammten und als „Rehobother Bastards" bezeichnet wurden. Die Untersuchungen von Fischer wiesen allerdings nach heutigen Maßstäben erhebliche methodische Mängel auf, sodass auch die daraus gewonnenen Erkenntnisse als nicht gesichert gelten können. Insbesondere lassen die Ergebnisse nicht den Schluss zu, dass eine Rassenmischung generell schädlich ist. Die Mischlinge wiesen nämlich eine gute körperliche und geistige Leistungsfähigkeit auf, die Fischer jedoch ganz einseitig ihren europiden Erbanlagen zuschrieb.41 Die Errichtung des Kaiser Wilhelm Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik wurde allgemein als ein deutliches Signal für die endgültige wissenschaftliche Anerkennung der Rassenhygiene verstanden und man beeilte sich vielerorts mit der Gründung weiterer Forschungseinrichtungen auf diesem Gebiet. Bis 1933 entstanden mehr als 30 Institute, die sich mit rassenhygienischen Fragestellungen beschäftigten.42 Die Nationalsozialisten fanden daher bei der Machtübernahme bereits ein ganzes Netz von Einrichtungen vor, das sie für die Verwirklichung ihrer Ziele nutzen konnten. Auf Grund der intensiven Mitarbeit dieser willfahrigen Basis war es 1934 möglich, das bereits jahrelang vorbereitete „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" zu erlassen und die für die Durchführung zuständigen Erbgesundheitsgerichte zu etablieren. Interessanterweise hatte das Gesetz große Ähnlichkeit mit einem Modellentwurf des amerikanischen Rassisten Harry H. Laughlin (18801943), der in den USA maßgeblich an der Einfuhrung von Sterilisierungsgesetzen mitgewirkt hatte.43 Laughlin erhielt 1936 von der Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde für seine Verdienste um die „Wissenschaft der Rassenreinheit" verliehen.

6. Das „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" In dem Gesetz wurde eine Reihe von sogenannten „Erbkrankheiten" aufgezählt, bei deren Vorliegen eine Sterilisation der Patienten angeordnet werden konnte. Im Einzelnen wurden genannt: „Angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressives Irrsein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung, schwerer Alkoholismus".44

41 42 43 44

Vgl. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1988, wie Anm. 27, S. 100 f. Vgl. Fangerau, 2000, wie Anm. 29, S. 19. Vgl. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1988, wie Anm. 27, S. 209 £ Zit. n. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1988, wie Anm. 27, S. 465.

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Um jenseits aller ethischen Bedenken eine Sterilisation überhaupt sinnvoll erscheinen zu lassen, war eigentlich der Nachweis notwendig, dass bei den Nachkommen eine hohe Wiederholungsgefahr fiir das entsprechende Leiden vorhanden ist. Am klarsten war in dieser Hinsicht die Situation beim erblichen Veitstanz, der heute nur noch als Chorea Huntington bezeichnet wird. Dieses tödlich verlaufende neurodegenerative Erbleiden wurde bereits 1872 von dem amerikanischen Arzt George Huntington ausfuhrlich beschrieben. Es wurde bald klar, dass die Chorea sich nach den Mendelschen Regeln vererbt, wobei ein autosomal-dominanter Erbgang auftritt. Das bedeutet, dass eine Person, die das Huntington-Gen trägt, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an Chorea erkranken wird. Da die Kinder eines Genträgers ein fünfzigprozentiges Risiko haben, dieses Gen zu erben, kann man davon ausgehen, dass die Hälfte seiner Nachkommen wieder eine Chorea entwickeln wird. Die ersten Symptome der Erkrankung treten aber meist erst zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf. Vorher fuhren die Genträger fast immer ein völlig normales Leben, heiraten und können Kinder bekommen.45 Aufgrund der Schwere des Krankheitsbildes, der fehlenden Therapierbarkeit und des hohen Wiederholungsrisikos verzichten heute die meisten Anlageträger nach einer entsprechenden genetischen Familienberatung freiwillig auf eigene Kinder. Wahrscheinlich hätten sie das im Dritten Reich auch getan, wenn man ihnen die Chance dazu gegeben hätte. Bei erblicher Taubheit bzw. Blindheit sind die genetischen Grundlagen wesentlich komplizierter. Viele Formen dieser Erkrankungen beruhen zwar auch auf dem Defekt nur eines Gens und folgen deshalb den Mendelschen Regeln, es zeigen sich aber verschiedene Erbgänge. Häufig liegt ein autosomal-rezessiver Erbgang vor, bei dem zwei krankhafte Varianten eines Gens in einer Person vorhanden sein müssen, um jeweils eine spezielle Form der Taubheit oder Blindheit auszulösen. Wenn nur ein Elternteil erkrankt ist, besteht deshalb kein deutlich erhöhtes Risiko für die Nachkommen auch betroffen zu werden, weil er nur eine krankmachende Genvariante an seine Kinder vererben kann. Allerdings neigen Blinde und Taube dazu, sich ihre Partner unter Ihresgleichen zu suchen. Dadurch steigt das Risiko, dass beide die gleichen Erbanlagen für einen bestimmten Blindheits- bzw. Taubheitstyp besitzen. Wenn das der Fall ist, werden alle ihre Kinder auch an dem entsprechenden Leiden erkranken. Es gibt jedoch ziemlich viele verschiedene Krankheitsformen, sodass die Eltern oft an zwei unterschiedlichen Arten von Blindheit bzw. Taubheit leiden. Ihre Kinder haben dann kein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko. Sie sind lediglich Träger von krankhaften Erbanlagen, die in späteren Generationen wieder zur Wirkung kommen können, wenn ihr Partner zufallig das gleiche Krankheitsgen trägt.46 Die Tatsache, dass Blinde bzw. Taube oft völlig gesunde Kinder

45 46

Vgl. Tariverdian, Gholamali/ Buselmaier, Werner, Humangenetik, 3., aktual. Aufl., Berlin 2004, S. 222 f. Vgl. Tariverdian/ Buselmaier, wie Anm. 45, S. 215.

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haben, ist auch schon in der Zeit des Nationalsozialismus durchaus bekannt gewesen. Eine Sterilisierung von Betroffenen war daher nicht nur ethisch sondern auch wissenschaftlich unvertretbar. Allenfalls konnte man mit einer gewissen Vermehrung krankhafter Gene in der Bevölkerung argumentieren, deren Auswirkungen aber bis heute noch ungeklärt sind. In den seltenen Fällen, in denen bereits ein krankes Kind geboren wurde, hätte es vermutlich genügt, die Eltern darüber aufzuklären, dass höchst wahrscheinlich alle zukünftigen Kinder auch erkranken werden, um weiteren Nachwuchs zu verhindern. Besonders komplex sind die Ursachen bei den im Gesetz von 1934 genannten Erkrankungen „Schizophrenie, manisch-depressives Irrsein und angeborener Schwachsinn". Die Krankheiten treten durchaus familiär gehäuft auf aber eine Vererbung nach den Mendelschen Regeln lässt sich fast nie feststellen. Da neben mehreren Erbanlagen auch viele Umweltfaktoren eine ursächliche Rolle spielen können, spricht man von multifaktoriell bedingten Leiden. Eine Möglichkeit den erblichen Anteil an den Ursachen abzuschätzen, bietet die Zwillingsforschung. Von besonderem Interesse ist dabei ein Vergleich von eineiigen (EZ) und zweieiigen (ZZ) Zwillingen, da E Z genetisch gleich ausgestattet sind, während Z Z nur in 50 Prozent ihrer Gene übereinstimmen. Wenn beide E Z in einem hohen Prozentsatz das Leiden zeigen, Z Z aber deutlich seltener gemeinsam betroffen sind, so kann man annehmen, dass eine starke erbliche Komponente bei der Erkrankung vorhanden ist.47 Tatsächlich zeigen fast alle Zwillingsstudien, dass E Z deutlich häufiger gemeinsam erkranken oder geistig minderbegabt sind als ZZ. Allerdings fallt auf dass in früheren Untersuchungen die Unterschiede besonders hoch waren. So waren z.B. bei einer deutschen Schizophreniestudie von 1928 die E Z zu fast 80 Prozent beide betroffen, während bei den ZZ die Übereinstimmung unter 5 Prozent lag. Dieses Ergebnis weist auf eine sehr hohe Erblichkeit von Schizophrenie hin. In später publizierten Untersuchungsserien wurde aber eine so große Differenz nie wieder beobachtet. Bei zehn Studien aus den sechziger Jahren lagen die entsprechenden Werte im Durchschnitt bei ca. 30 Prozent für E Z und 10 Prozent für ZZ. 48 Der Einfluss von Erbfaktoren auf die Entstehung einer Schizophrenie erscheint demnach viel niedriger. Wenn man bewusste Datenmanipulationen ausschließen will, kann man als Ursachen für die großen Differenzen annehmen, dass die Zusammensetzung der Untersuchungsgruppen und die Kriterien für die Diagnose einer Schizophrenie in den Studien sehr unterschiedlich waren. Als Grundlage für das Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses wurden aber vermutlich ohne allzu große Bedenken die hohen Erblichkeitswerte herangezogen.

47 48

Vgl. Tariverdian/ Buselmaier, wie Anm. 45, S. 367 f. Vgl. Vogel, Friedrich/ Motulsky, Arno G., Human genetics. Problems and approaches, 3., completely rev. ed., Berlin 1997, S. 693 i.

Von der Vererbungslehre zur

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Bei dem im Gesetz von 1934 ebenfalls genannten Sterilisierungsgrund „schwerer Alkoholismus" ist eine Erblichkeit im engeren Sinne nicht vorhanden. Es gibt zwar in manchen Familien vermehrt Betroffene, aber die Erbfaktoren dürften gegenüber den ungünstigen Umwelteinflüssen eine vergleichsweise geringe Rolle spielen.49 Im Gesetzestext wird erstaunlicherweise auch gar nicht auf die Erblichkeit Bezug genommen. Man kann daher annehmen, dass hier ein sozial unerwünschtes Verhalten unter einem falschen gesetzlichen Deckmantel bekämpft werden sollte, wobei die Sterilisierung nicht nur ein unethisches sondern auch ein untaugliches Mittel war. 7. Weitere Gesetze zur Rassenhygiene Bald nach dem Erlass des oben genannten Gesetzes folgten das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" und das „Ehegesundheitsgesetz", die sich insbesondere gegen Juden und Zigeuner richteten und ihre Vernichtung vorbereiteten. Zur Begründung dieser höchst unethischen gesetzlichen Regelungen berief man sich immer wieder auf die angeblich allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundlagen der Rassenhygiene. Durch sie wäre die Notwendigkeit solcher Maßnahmen für die „Gesunderhaltung des Volkskörpers" bewiesen. In Wirklichkeit bestand in der Wissenschaft durchaus keine Einigkeit darüber, ob diese Regelungen sinnvoll sind. Insbesondere war die Erblichkeit vieler Merkmale und Krankheiten noch so unklar, dass der „rassenhygienische" bzw. „volksgesundheitliche" Erfolg von Eheverboten und Zwangssterilisationen höchst zweifelhaft erschien. Sogar der Psychiater Ernst Rüdin (1874-1952), der maßgeblich an den Rassengesetzen mitwirkte, hatte einige Jahre vorher noch festgestellt, dass bei den allermeisten psychischen Erkrankungen der Erbgang noch weitgehend unerforscht ist. Ähnlich äußerten sich seine Kollegen Johannes Lange (1891-1938) und Alfred Grotjahn (1869-1931). Trotzdem befürworteten sie die Sterilisierung psychisch Kranker.50 Ein standhafter Gegner der Rassenhygiene war der Internist und Konstitutionsforscher Friedrich Martius (1850-1923), der schon den Rassenbegriff kritisiert hatte. Er stellte klar, dass die Mendelschen Erbregeln, die vor allem durch Experimente an reinerbig gezüchteten Pflanzen entdeckt wurden, keinesfalls auf genetisch meist sehr heterogene menschliche Populationen angewendet werden können. Aus einer anderen Richtung kam die Kritik des erwähnten Zellforschers Oscar Hertwig (1849-1922). Er hatte große Zweifel an der Selektionstheorie Darwins und bekämpfte insbesondere die Übertragung dieser Hypothese auf den sozialpolitischen Bereich. Nach 1923 verstummten allerdings die kritischen Stimmen deut49 50

Vgl. V o g e l / Motulsky, 1997, wie Anm. 48, S. 677 f. Vgl. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1988, wie Anm. 27, S. 301 f.

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scher Wissenschaftler weitgehend. Eine seltene Ausnahme stellte der Anatom und Anthropologe Karl Salier (1902-1969) dar, der noch 1933 den Mut hatte, einige Ausführungen von Fritz Lenz als „Auswüchse" zu bezeichnen, die „keine sachliche Wissenschaft" mehr seien. Sallers berufliche Karriere erlitt durch diese kritische Stellungnahme einen erheblichen Schaden. 51 Aus anderen Ländern, insbesondere den USA, gab es hinsichtlich der wissenschaftlichen Basis der Rassenhygiene bzw. Eugenik ebenfalls massive Kritik. Der Bevölkerungswissenschaftler Raymond Pearl (1879-1940) schrieb, die eugenische Literatur sei ein „vermischtes Durcheinander von schlecht begründeter und unkritischer Soziologie, Ökonomie, Anthropologie und Politik geworden, voll von emotionalen Appellen an Klassen- und Rassenvorurteile, weihevoll als Wissenschaft vorgetragen." Der berühmte amerikanische Genetiker und Nobelpreisträger Herman J. Muller (1890-1967) kritisierte den zweiten Teil des erwähnten rassenhygienischen Standardwerks mit den Worten: „werden Fischer und Lenz immer weniger wissenschaftlich und bald finden wir sie als Sprachrohre der krassesten Form populärer Vorurteile."52 Diese warnenden Stimmen wurden aber im zunehmend nationalsozialistisch geprägten Deutschland kaum mehr wahrgenommen, sodass die unheilvolle Entwicklung der Rassenhygiene ungehemmt ablaufen konnte. Aus heutiger Sicht kann man kaum mehr nachvollziehen, dass damals durchaus auch ernsthafte Wissenschaftler der Meinung waren, die barbarischen rassenhygienischen Maßnahmen könnten das Erbgut des ganzen deutschen Volkes nachhaltig verbessern. Obwohl die Mutationsforschung noch nicht sehr weit entwickelt war, hätte man zumindest grob abschätzend die Auswirkungen von Spontanmutationen vergleichsweise in Betracht ziehen können. Darunter sind spontan auftretende Veränderungen im Genom zu verstehen, die jedes Individuum betreffen. Sie haben daher einen viel größeren Einfluss auf die gesamte „Erbmasse" einer Population als die gezielte Sterilisation einer kleinen Minderheit mit unerwünschter genetischer Ausstattung. Heute wissen wir, dass jeder von uns mehrere Erbanlagen für schwere Krankheiten besitzt, die nur deshalb nicht ausbrechen, weil jeweils auch noch eine gesunde Kopie dieser Anlage vorhanden ist, die unsere normalen Körperfunktionen aufrecht erhält.53 Sehr erstaunlich ist auch, dass einige Hauptverfechter der Rassenhygiene nach dem Zweiten Weltkrieg in der Wissenschaft weiterhin Anerkennung fanden. Eugen Fischer wurde 1952 Ehrenmitglied der deutschen Gesellschaft für Anthropologie und zwei Jahre später auch der Gesellschaft für Anatomie. Otmar von Verschuer blieb sogar Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie und erhielt 1951 einen Lehrstuhl für Humangenetik in Münster. Fritz Lenz wurde bereits 1946

51 52 53

Vgl. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1988, wie Anm. 27, S. 318. Zit. n. Weingart/ Kroll/ Bayertz, 1988, wie Anm. 27, S. 316. Vgl. Tariverdian/ Buselmaier, 2004, wie Anm. 45, S. 68 f.

Vm der Vererbungslehre zur Rassenhygiene

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Professor in Göttingen und blieb dort im Amt bis 1955. 54 Noch 1968 wirkte er an der Herausgabe des Handbuchs für Humangenetik mit.

54

Vgl. Fangerau, 2000, wie Anm. 29, S. 29 f.

Michael Schwartz

Eugenik und „Euthanasie": Die internationale Debatte und Praxis bis 1933/45

Für Jochen-Christoph Kaiser

1. Eugenik und „Euthanasie" als Elemente moderner Biopolitik Im Jahre 1922 attackierte ein konservativer Brite, der Publizist Gilbert Chesterton, die Eugenik als „médical tyranny", die mit Hilfe der modernen Bürokratie die privatesten Freiheiten - insbesondere das Recht auf Fortpflanzung - zerstören wolle. Das Ziel dieser Eugenik sei nicht das individuelle Glück, sondern die Stabilisierung der modernen Industriegesellschaft und ihres „industrialism".1 Ein halbes Jahrhundert nach Chesterton betrachtete ein linker Franzose, der Philosoph Michel Foucault, dieselbe eugenische Biopolitik als wissenschaftlich gestützte „Macht zum Leben", der es nicht nur um disziplinierende „Dressur" jedes menschlichen Körpers ging, sondern auch um die Konstruktion eines kollektiven „Gattungskörpers" durch regulierende „Bio-Politik der Bevölkerung".2 Biopolitik - und ihre Elemente Eugenik und „Euthanasie" - sind Teile eines größeren Rationalisierungsprozesses, der von dessen Anhängern als emanzipative Selbstermächtigung der Menschheit begriffen wurde. Aufjeden Fall bewirkt dieser Prozess die Ermächtigung bestimmter (Berufs-) Gruppen, das Leben anderer zu bestimmen - allen voran Arzte und Gesundheitsbürokraten. Das Faszinosum für die politisch vielseitigen, stets aber „modern" denkenden Anhänger der „eugenischen" Variante solcher Biopolitik war - wie schon deren Gründer, Darwins Vetter Francis Galton, klarstellte - nicht nur nüchterne Wissenschaft, sondern eine enthusiastische „eugenic religion". Damit ging die Fähigkeit zur Selbstkritik verloren, doch das war keineswegs einzigartig im Zeitalter wechselnder, stets aber autoritativ auftretender wissenschaftlicher Ersatzreligionen. Auch deutsche „Eugeniker", „Rassenhygieniker", „Rassehygieniker" oder „Fortpflanzungshygieniker" (man stritt bis 1933 um die korrekte Bezeichnung, was viel 1 2

Chesterton, G.filbert] K., Eugenics and Other Evils. An Argument against the scientifically organized Society, London 1922, hrsg. v. Michael W. Perry, Seattle 2000, S. 44, 58, 112. Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1983, S. 165 f; Dickinson, Edward R., „Biopolitics, Fascism, Democracy: Some Reflections on our discourse about .Modernity'", in: Centra] European History 37 (2004), S. 1-48.

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mit dem Verhältnis zum Rassismus zu tun hatte) pflegten die typische Mischung aus Nietzsches gegenwartskritischer Verheißung des „Ubermenschen" (neben dem „die Schwachen und Missratenen" zugrunde gehen sollten), aus quasi-religiösen Versatzstücken und naturwissenschaftlicher Akribie. Eugenik - die Wissenschaft der Unterscheidung zwischen gutem und sog. „minderwertigem" Erbgut und die daraus folgende selektive Geburtenpolitik - teilte die Menschheit in kontrollierende Subjekte und kontrollierte Objekte, bestimmten Mit-Menschen konnte sogar, wie die eugenische Diskussion um Schwangerschaftsabbruch und die parallele Diskussion um „Vernichtung lebensunwerten Lebens" zeigte, das Recht auf Leben abgesprochen werden. Ging es im Falle der „Euthanasie" darum, bereits lebende MitMenschen zu beseitigen (was weniger mit eugenischen als mit ökonomischen und „humanitären" Motiven begründet wurde), plädierte die Eugenik für eine Verlagerung dieser auch in ihrer Sicht notwendigen „Selektion" vor die Geburt. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen Eugenik und „Euthanasie".3

2. Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland Die frühe Eugenik wurde von protestantisch geprägten, nicht unbedingt religiösen, jedoch stets wissenschafts- und fortschrittsgläubigen bürgerlichen Bildungseliten getragen. Wissenschaftsgläubigkeit war auch der wesentliche Grund für die Aufgeschlossenheit der europäischen Arbeiterbewegungen - allen voran der SPD - für eugenische Themen. 4 In den konfessionellen Milieus, in denen sich die entschiedensten Gegner von Eugenik und „Euthanasie" sammelten, gab es ebenfalls der modernen Naturwissenschaft gegenüber „aufgeschlossene" Theologen, Ärzte und Wohlfahrtsfiinktionäre. In Deutschland wurde die Weimarer Republik zur ersten Hochphase dieser Eugenik: Sozialistische und konfessionelle Eugeniker bestimmten die Debatte und machten eugenische Prämissen diskussionsfahig, wenn auch nur in Ansätzen politikfahig. Diese Eugenik im demokratischen Wohlfahrtsstaat unterschied sich von der NS-Rassenhygiene deutlich, indem sie auf Freiwilligkeit Wert legte, doch beide Varianten teilten denselben Denkstil - die Unterscheidung

3

4

Der von Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens", Göttingen 1987, vertretenen These von der notwendigen Verschränkung von Eugenik und „Euthanasie" wird vom Verfasser widersprochen; vgl. Schwartz, Michael, Sozialismus und Eugenik. Zur falligen Revision eines Geschichtsbildes, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung 25 (1989), S. 465-489; ders., „Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie"? Kritische Anfragen an eine These Hans-Walter Schmuhls, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 604-622; Schmuhl, Hans-Walter, Eugenik und „Euthanasie" - zwei Paar Schuhe? Eine Antwort auf Michael Schwartz, in: Westfälische Forschungen 47 (1997), S. 757-762; Schwartz, Michael, „Euthanasie'"-Debatten in Deutschland (1895-1945), in: Vierteljahrshefte fiir Zeitgeschichte 46 (1998), S. 617-665. Vgl. Schwartz, Michael, Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890-1933, Bonn 1995 (1995a).

Die internationale Debatte und Praxis bis 1933/45

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zwischen höher- und minderwertigen Erbträgern.5 Die SPD setzte auf negative, geburtenverhindernde Eugenik und suchte diese verschiedenartig umzusetzen: über Gesundheitszeugnisse, Eheberatung, eugenische Indikation beim Schwangerschaftsabbruch und freiwillige Sterilisation. Heraus kam 1920 nur ein eugenisches Merkblatt zur Verteilung an Eheschließende und die eugenische Elemente einschließende Ehe- und Sexualberatung in Preußen und Sachsen. Die konfessionelle Eugenik favorisierte quantitative Bevölkerungspolitik (Geburtenförderung) und brauchte bis um 1930, als auch sie auf das Kernziel der Geburtenverhinderung bei „Minderwertigen" einschwenkte.6 Nach der NS-Machtübernahme wurden die Wortführer dieser gemäßigten „Weimarer Eugenik" konsequent verdrängt.7 Aus ihren Amtern geworfen und z.T. ins Exil getrieben oder ermordet wurden insbesondere Vertreter der sozialistischen Eugenik, die ab 1933 in Deutschland jeden Einfluss verlor. Die konfessionellen Eugenik-Befürworter passten sich hingegen den radikalen Konzepten des NSRegimes weitgehend an - namentlich Protestanten kooperierten und kollaborierten in der Selbsttäuschung, mäßigend wirken zu können. Erleichtert wurde dies dadurch, dass viele Protestanten Familie, Staat, Volk oder Rasse als „überindividuelle Schöpfungsordnungen" begriffen, die Vorrang vor den Rechten des Einzelnen hätten. 1931 hatten angesehene Kirchenfuhrer wie Pastor Fritz von Bodelschwingh ihre Akzeptanz der (damals noch freiwilligen) Sterilisation mit christlicher Verantwortung für künftige Generationen begründet. Nach 1933 konnte auf diese Weise auch die NS-Zwangssterilisation als sittliches Opfer für die Allgemeinheit legitimiert werden: So hat die evangelische Wohlfahrtsorganisation „Innere Mission" das NS-Sterilisationsgesetz „freudig (...) begrüßt". Bodelschwingh wiederum schwieg aus taktischen Gründen, um nichtöffentlich „an den maßgebenden Stellen auf eine schonsame und vorsichtige Ausführung des Gesetzes hinzuwirken".8 Doch Verhandlungsstrategien der Kaiserzeit konnten die NS-Diktatur weder beim Thema Zwangssterilisation noch später bei den „Euthanasie"-Verbrechen zu Zugeständnissen nötigen. Hier half allenfalls öffentlicher Protest. Auf katholischer Seite sahen sich pro-eugenische Neigungen unter „modernistischen" Theologen, Ärzten und Caritasfunktionären 1930 gebremst, als die päpstliche Enzyklika „Casti connubii" zwar nicht die Berechtigung der Eugenik an sich, wohl aber das staatliche Recht auf Sterilisation bestritt. Nichts einzuwenden hatte

5 6 7

8

Vgl. Schwartz, Michael, Konfessionelle Milieus und Weimarer Eugenik, in: Historische Zeitschrift 261 (1995), S. 403-448 (1995b). Vgl. Weindling, Paul J., Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945, Cambridge 1989, S. 365, 371, 421. Vgl. Schwartz, 1995a, wie Anm. 4 und Schwartz, 1995b, wie Anm. 5; Weingart, Peter/ Kroll, Jürgen/ Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, Neudruck 1992. Zit. n. Kaiser, Jochen-Christoph/ Nowak, Kurt/ Schwartz, Michael (Hg.), Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, S. 165 f., 174 £

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der Vatikan gegen eine (u.U. lebenslange) Anstaltsunterbringung („Asylierung") zur Verhinderung unerwünschter Fortpflanzung. In Deutschland, wo der Katholizismus in der Minderheit und ab 1930 wachsender Sterilisations-Befurwortung im nicht-katholischen Umfeld ausgesetzt war, lösten sich einige prominente katholische Eugeniker von dieser römischen Linie. Der moraltheologische Grenzgänger Joseph Mayer, dem Caritas-Spektrum entstammend, suchte nach Notstandsargumenten für Sterilisationspolitik.9 Die von der Weltwirtschaftskrise ausgelöste Krise des Sozialstaates ließ bis dato eugenikkritische Zentrumspolitiker darüber nachdenken, ob Sterilisationspolitik die Kosten des Heil- und Pflegeanstaltswesens reduzieren könnte. 1932 bekundete die Reichsregierung Brüning der SPD-Reichstagsfraktion ihr grundsätzliches Interesse an von den Sozialdemokraten favorisierter Sterilisationspolitik gegenüber „erbkranken Gewohnheitsverbrechern", und der gemäßigte katholische Eugeniker Hermann Muckermann - als ehemaliger Jesuit Direktor eines Forschungsinstituts, das heute ein Max-Planck-Institut ist - arbeitete auf Wunsch des katholischen Volkswohlfahrtsministers Preußens an einem Gesetzentwurf zur freiwilligen Sterilisation von Erbkranken mit. Im Sommer 1933 zimmerte dann die NSDAP aus diesen Vorarbeiten ihr „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", das allerdings weit radikalere Ziele verfolgte - vor allem das des nahezu uneingeschränkten staatlichen Zwangs zur Unfruchtbarmachung. Obwohl die protestantischen Milieus die NS-Zwangssterilisation akzeptierten, ergaben sich Konflikte mit der NS-Politik. Der Protestantismus wehrte sich nicht nur gegen die schleichende Delegitimierung seines Anstaltswesens, sondern mehr noch gegen den vom NS-Regime 1935 eingeführten eugenisch motivierten Schwangerschaftsabbruch, den man bisher als „Kindermord'-Projekt Weimarer Linksparteien scharf bekämpft hatte.10 Dadurch gerieten radikale RassenhygienePropagandisten wie Bernhard Bavink, die den eugenischen Abort ebenso unterstützten wie die Lebensvernichtung von Geisteskranken, im protestantischen Milieu in die Isolation.11 Der Mehrheit erschien die eugenische Abtreibungsfreigabe als Abgleiten in Richtung „Euthanasie".12 Katholische Eugeniker waren ab 1933 unter doppelten Druck geraten - durch das fortdauernde päpstliche Veto zur Sterilisation und die radikale NS-Sterilisationspolitik. Bei Muckermann führte dies zur Wiederanpassung an die „päpstliche" Linie und das „katholische Mehrheitslager", während Mayers „Affinitäten mit dem NS-Rassismus" seine Außenseiterposition verewigten. Die katholischen Bischöfe

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Vgl. Schwartz, 1995b, wie Anm. 5; Richter, Ingrid, Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn 2001. 10 Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz (Hg.), 1992, wie Anm. 8, S. 142 f., 170-178. 11 Vgl. Schwartz, Michael, Bernhard Bavink: Völkische Weltanschauung - Rassenhygiene - „Vernichtung lebensunwerten Lebens". Wissenschaftliches Gutachten im Auftrag der Stadt Bielefeld, Bielefeld 1993. 12 Allerdings ist - wie zahlreiche Indikationenmodelle im Abtreibungsrecht zeigen - diese Maßnahme nicht zwangsläufig „ein erster Schritt in Richtung auf die Vernichtung lebensunwerten Lebens", wie Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 164, suggeriert.

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distanzierten sich von der Zwangssterilisation und hoben das Recht von Katholiken hervor, ihre Mitwirkung zu verweigern; letzteres gestand das NS-Regime umso bereitwilliger zu, als dadurch Sterilisationen nicht verhindert wurden. Zugleich aber propagierte auch die Scheinalternative der „eugenischen Volkserziehung", welche die katholische Kirche propagierte, die abwertenden und ausgrenzenden Denkkategorien des NS-Regimes - denn auch diese katholische Eugenik brachte unkritisch den Begriff der „Minderwertigkeit" unters Volk. Auf der anderen Seite entstanden lautstarke konservative Widerstände, deren Wortführer negative Eugenik polemisch mit „Vernichtung lebensunwerten Lebens" gleichsetzten - was die vom NSStaat zugelassene „Abtreibung aus eugenischer Indikation" zu beweisen schien. Schon 1933 hatte der Münchner Kardinal Faulhaber vor drohender „Euthanasie" gewarnt, falls die Berechtigung von Zwangssterilisation anerkannt würde.13

3. Eugenik im internationalen Kontext Eugenik und „Euthanasie" waren als Gedankengut nicht nur deutsche, sondern internationale Phänomene. Im Unterschied zu den Mordaktionen der „Euthanasie", die ab 1939 allein in Deutschland und Hitlers osteuropäischen Herrschaftsbereichen umgesetzt wurde, wurde negative Eugenik (insb. Sterilisationspolitik) beileibe nicht nur in Deutschland praktiziert. In zahlreichen Ländern Europas und in den USA existierten lange vor 1933 starke Eugenik-Bewegungen - und Zwangssterilisation von erblich „Minderwertigen" wurde bereits vor dem NS-Sterilisationsgesetz in Teilen der USA, in Dänemark und einem Kanton der Schweiz (Waadt) in die Tat umgesetzt. In den USA sorgten dafür protestantische (oder ehemals protestantische) bürgerliche Eugeniker, während in Skandinavien eine Synthese aus sozialistischer und bürgerlich-protestantischer Eugenik maßgeblich war. Das erste europäische Sterilisationsgesetz wurde 1929 in Dänemark in Kraft gesetzt. Dort war der Leiter der konfessionellen Pflegeanstalt Bregninge, der Pfarrersohn und Hochschullehrer Dr. Christian Keller, seit 1920 der prominenteste Sterilisations-Befürworter im protestantisch-bürgerlichen Milieu. Auf Kellers Vorstoß verfügte 1923 die damals bürgerliche Regierung, dass geistig Behinderte nur noch mit staatlicher Genehmigung eine Ehe eingehen durften. Als 1924 die Sozialdemokraten erstmals an die Regierung kamen, wurde auch Kellers Sterilisationspolitik akut. Eine Expertenkommission, der Keller angehörte, erarbeitete 1926 einen Gesetzentwurf in dem anstößige soziale Phänomene wie Prostitution, Kriminalität und Landstreicherei als Symptome von Erbkrankheiten und Sterilisationsgründe definiert wurden.14 (Ganz ähnlich richtete sich später in Schweden die 1941 von 13 Vgl. Richter, 2001, wie Anm. 9, S. 319-355, 372, 479 ffi 14 Vgl. Hansen, Bent Sigurd, Something rotten in the State of Denmark. Eugenics and the ascent of the Welfare State, in: Broberg, Gunnar/ Roll-Hansen, Nils (Hg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996, S. 9-76.

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einer sozialdemokratisch geführten Allparteien-Regierung verabschiedete Novelle des dortigen Sterilisationsgesetzes gegen Menschen mit „asozialer Lebensweise" und Randgruppen wie Landstreicher, Alkoholiker oder „Zigeuner".15) In Dänemark kam Opposition nur von wenigen konservativ-autoritären Protestanten und von der kleinen katholischen Minderheit: 1929 wurde daher das erste Sterilisationsgesetz Europas mit nur sechs Gegenstimmen im dänischen Parlament (damals wieder mit bürgerlicher Mehrheit) verabschiedet. Die ab 1935 erneut regierenden Sozialdemokraten bauten diese Eugenikpolitik aus: 1938 wurde das Ehegesetz verschärft, wobei immerhin das Vorhaben einer Zwangs-Scheidung von „Minderwertigen" an konservativen Widerständen scheiterte. Ein Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch, das auch die eugenische Indikation enthielt, konnte hingegen 1939 in Kraft gesetzt werden.16 In Schweden und Norwegen kam negative Eugenik-Politik erst unter sozialdemokratischen Regierungen zum Durchbruch.17 Ein norwegischer Historiker hat deshalb die These aufgestellt, dass Sterilisationspolitik primär Angelegenheit protestantisch geprägter Gesellschaften gewesen sei, da die katholische Kirche diese Politik in mehrheitlich katholischen Ländern meist erfolgreich blockiert habe. Abgesehen vom gemischt-konfessionellen Sonderfall Deutschland seien Sterilisationsgesetze gegen „erblich Minderwertige" nur in Ländern mit einer dominanten lutherischen Staatskirche, einer relativ homogenen Kultur, einer egalitären Sozialstruktur und mit neu antretenden sozialdemokratischen Langzeit-Regierungen durchgesetzt worden; also in Skandinavien und dessen Einflusszonen im protestantischen Teil des Baltikums und auf Island.18 Diese Beobachtung ist fiir Europa weitgehend zutreffend. Freilich ist daraufhinzuweisen, dass die katholische Ablehnung negativ-eugenischer Politik keineswegs eindeutig war - nicht einmal in der Enzyklika von 1930, wo bekanntlich nur Sterilisation, aber nicht eugenisches Handeln an sich verurteilt wurde. Dass katholische Länder wie Italien und Frankreich ihre Eugenik-Bewegungen klar zurückgewiesen hätten,19 trifft zumindest für Frankreich nicht zu. Dort führte erst 1930 der Streit über Sterilisation zum Bruch jenes Bündnisses zwischen Eugenik und katholischer Kirche, das 1926 noch einträchtig ein Gesetz über Gesundheitsuntersuchungen vor

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Vgl. Spektorowski, Alberto/ Mizrachi, Elisabet, Eugenics and the Welfare State in Sweden. The Politics of Social Margins and the Idea of a Productive Society, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 333-352, insb. S. 348. Vgl. Hansen, 1996, wie Anm. 14. Vgl. Broberg/ Roll-Hansen, 1996, wie Anm. 14; Spektorowski/ Mizrachi, 2004, wie Anm. 15; Etzemiiller, Thomas, „Sozialstaat, Eugenik und Normalisierung in skandinavischen Demokratien", in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 492-512. Vgl. Roll-Hansen, Nils, Conclusion. Scandinavian Eugenics in the International Context, in: Broberg, Gunnar/ Roll-Hansen, Nils (Hg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996, S. 259-271, insb. S. 268. Vgl. Black, Edwin, War against the Weak. Eugenics and America's Campaign to create a Master Race, New York, London 2003, S. 245.

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der Eheschließung durchgesetzt hatte.20 In Frankreich hatten „Klischees der Eugenik und die Idee einer .Degeneration'" bereits seit dem 19. Jahrhundert ein interessiertes Publikum gefunden. Georges Vacher de Lapouge, Sozialist und Rassist zugleich, hatte schon 1890 für Massensterilisierung plädiert, um die Tendenz zu „Chaos" und „Barbarei" in der modernen Gesellschaft einzudämmen. Zwar blieben Mediziner, die eine „Politik der Zwangssterilisierung, ja die Euthanasie" propagierten, in Frankreich stets „in der Minderheit", doch fanden sich darunter Nobelpreisträger wie Charles Richet und Alexis Carrel.21 Auch in anderen katholischen Ländern - von Litauen bis Brasilien - wurden zwar keine Sterilisationsgesetze verabschiedet, sehr wohl aber negativ-eugenische Eheverbotsgesetze. Ahnlich verhielt es sich in den gemischt-konfessionellen Niederlanden.22 Lediglich der britische Katholizismus scheint grundsätzlich eugenikkritisch geblieben zu sein. Damit konnte ausgerechnet die älteste Eugenik-Bewegung der Welt nur geringe Durchschlagskraft entfalten. Neben katholischen Widerständen war dafür wesentlich, dass unter britischen Politik- und Verwaltungseliten länger als anderswo konservative Vorbehalte gegen moderne Naturwissenschaft bestimmend blieben.23 Dies verhinderte nicht den frühen Erfolg des „Mental Deficiency Act" von 1913, der zwangsweise Anstaltsunterbringung eugenisch motivierte, sehr wohl aber den Erfolg einer erst 1930/31 lancierten Sterilisationsdebatte im Unterhaus.24 Diese fortschrittskritische Grundstimmung ermöglichte es Publizisten wie Chesterton, dem anderswo glorifizierten „eugenischen Staat" demonstrative „Rückständigkeit" entgegenzusetzen.25 Ganz anders verhielt es sich im US-Bundesstaat Kalifornien, einem mehrheitlich katholischen Land, in das britische Eugenik-Fans um 1930 zum Anschauungsunterricht in Sterilisationspraxis pilgerten. In Kalifornien war schon 1909 - eine Generation vor Dänemark - ein eugenisches Sterilisationsgesetz eingeführt und vergleichsweise rigide umgesetzt worden. Zwischen 1909 und 1928 wurden über 6.000 Menschen sterilisiert. Daran hatte die katholische Kirche bis 1930 offenbar wenig auszusetzen, denn der kalifornische Staat arbeitete mit dem Klerus einträchtig zusammen. Die gesellschaftliche Akzeptanz resultierte aus der großen Offenheit für neue wissenschaftliche Ansätze in diesem Zentrum der Wissenschaftsförderung,

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Vgl. Schneider, William H., The Eugenics Movement in France, 1890-1940, in: Adams, Mark B. (Hg.), The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia, New York, Oxford 1990, S. 69109, insb. S. 79 E Traverso, Enzo, Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, Köln 2003, S. 127 £ Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 245. Vgl. Weindling, Paul J., Eugenics an the welfare state during the Weimar Republic, in: Lee, William Robert/ Rosenhaft, Eve (Hg.), The State and Social Change in Germany, 1880-1980, New York u.a. 1990, S. 131-160. Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 228 £, 232. Chesterton, 2000, wie Anm. 1, S. 44, 111 £

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doch günstig wirkte auch die Entstigmatisierung der Sterilisation durch Verzicht auf Zwang und auf die Einbeziehung von Kriminellen.26 Für angewandte Eugenik war freilich nicht allein Kalifornien das Pionierland. Nirgends erfolgte der politische Durchbruch derart rasch und durchschlagend wie in der nordamerikanischen Massendemokratie. Die damals große Autonomie der US-Einzelstaaten, die stark voneinander abweichende Regional-Politiken in negativer (Rassendiskriminierung) wie auch in positiver Hinsicht (Frauenwahlrecht) gestattete, förderte die Durchsetzung der Eugenik, die vermutlich in einem Zentralstaat länger hätte auf sich warten lassen. Dabei half neben dem üblichen wissenschaftlichen Fortschrittsglauben auch das Abgrenzungsbedürfnis herrschender „weißer" protestantischer Eliten gegen nicht-weiße Rassen und „weiße" Unterschichten. 27 So hatten eugenische Eheverbote in den USA eine im Vergleich zu Europa weit höhere Akzeptanz, weil sie an ältere Traditionen rassistischer Eheverbote zwischen Weißen und Afroamerikanern oder Asiaten anknüpfen konnten28 eine Tradition, die durch den „Racial Integrity Act" des Staates Virginia 1924 neubelebt (und erst 1967 vom US Supreme Court beendet) wurde.29 Dass der US-Kongress 1924 „die Einwanderung von Slawen, Südeuropäern, Orientalen und russischen Juden sowie von geistig Behinderten" gesetzlich erschwerte,30 verweist auf diese rassistisch motivierte Defensivstrategie ebenso wie die zwischen 1890 und 1930 in vielen US-Staaten eingeführten Wahlrechtsverschlechterungen, die sich stets gegen Neueinwanderer oder Afroamerikaner richteten.31 1897 hatte sich in Michigan erstmals ein US-Parlament mit eugenisch motivierter Unfruchtbarmachung befasst, dieselbe aber noch abgelehnt. Den Durchbruch erzielten Eugenik-Aktivisten in Indiana, wo 1907 das erste Sterilisationsgesetz der USA vom republikanischen Gouverneur James F. Hanly - einem späteren Präsidentschaftskandidaten der Prohibitionsbewegung - in Kraft gesetzt wurde. Zwangssterilisation war seither legale Option bürokratischer und medizinischer Experten gegen Insassen von Irrenhäusern, Armenhäusern und Gefangnissen.32 Während im wilhelminischen Deutschland konservative Ministerialbürokraten und sozialistische Oppositionelle solche Maßnahmen in seltener Eintracht noch strikt ablehnten - die SPD wegen der Gefahr sozialer Voreingenommenheit staatlicher

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Vgl. Hodson, Cora Brooking Sanders, Human Sterilization To-Day. A survey of the present position, London 1934, S. 19 £, 23. Vgl. Rafter, Nicole Hahn (Hg.), White trash. The eugenic family studies, 1877-1919. Boston 1988; Seiden, Steven, Inheriting Shame. The Story of Eugenics and Racism in America, Ashley 1999; Larson, Edward J., Sex, Race and Science. Eugenics in the Deep South, Baltimore, London 1995. Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 146. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Racial_Integrity_Act_of_1924 [13.4.2007], Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 1997, S. 54. Vgl. Keyssar, Alexander, The Right to Vote. The contested history of democracy in the United States, New York 2000, insb. S. 113-115, 127 f., 136, 170. Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 66 f

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Eugenik-Beamter im Kapitalismus, wie man anhand der USA lernen könne33 -, gelangten nach dem Durchbruch von Indiana in Nordamerika rasch weitere Gesetzentwürfe in Staatsparlamente. Trotz einiger Ablehnungen existierten bis 1917 bereits in 15 US-Staaten Sterilisationsgesetze.34 Protestantische Milieus - auch ein Teil der Kirchenflihrer - hatten daran großen Anteil. Innerhalb des US-Katholizismus befürwortete nur eine Minderheit, vorwiegend Sozialkatholiken, solche Sterilisationspolitik, während die Mehrheit mit dem Erzbischof von Milwaukee Sterilisation als schweren Eingriff in individuelle Freiheitsrechte verurteilte.35 Ungleich wichtiger waren modernistische Strömungen im vielgestaltigen Protestantismus der USA. Die fuhrenden US-Eugeniker Davenport und Laughlin waren Söhne protestantischer Pfarrer, und ein Teil der protestantischen Kirchen unterstützte diese aus ihrem Milieu hervorgegangene Eugenik-Politik vehement. Der Baptistenpfarrer Fosdick und der episkopalistische Bischof von Massachusetts gehörten in den zwanziger Jahren - neben zwei Rabbis - zum Beirat der American Eugenics Society. Auch die politische Elite dachte pro-eugenisch: 1913 solidarisierte sich Ex-Präsident Theodore Roosevelt mit dem Ziel der Verhinderung „minderwertigen" Nachwuchses, und im selben Jahre wurde mit Woodrow Wilson der Sohn eines presbyterianischen Geistlichen Präsident der USA, für den es nicht karriereschädigend war, dass er 1911 als Gouverneur von New Jersey eines der neuen Sterilisationsgesetze unterzeichnet hatte.36 1912 lösten die Episkopalisten von Chicago mit der Einführung eugenischer Gesundheitszeugnisse bei kirchlichen Eheschließungen zwischen 1913 und 1919 in vielen US-Staaten eine entsprechende Gesetzgebungswelle aus. Katholische Widerstände ließen solche Gesetze in vier Staaten scheitern,37 doch der Trend zum eugenischen Gesundheitscheck - d.h. Eheverbote für Erbkranke - wurde in den USA noch breitenwirksamer als die Sterilisation. Bis 1933 existierten in 30 von damals 48 US-Staaten eugenische Sterilisationsgesetze, aber in 41 Staaten gesetzliche Eheverbote für Geisteskranke.38 Diese US-Eugenik entfaltete auf Europa großen Einfluss - als Schreckbild wie als Vorbild. Britische Eugeniker distanzierten sich von ihren US-Zauberlehrlingen, da sie von deren „unwissenschaftlichen" Argumenten und radikalen Zielen (nicht zu Unrecht) negative Rückwirkungen befürchteten.39 Der österreichisch-ungarische Vizekonsul in Chicago hingegen, Geza von Hoffmann, publizierte 1913 in Mün-

33 Vgl. Schwartz, 1995a, wie Anm. 4, S. 62 ff., 171 ff. 34 Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 67 £; die Liste der US-Staaten bei Chesterton, 2000, wie Anm. 1, Appendix G. 35 Vgl. Rosen, Christine, Preaching Eugenics. Religious Leaders and the American Eugenics Movement, Oxford 2004, S. 15, S. 20 f., 37, 46-48. 36 Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 68-70, 99, 116-118. 37 Vgl. Rosen, 2004, wie Anm. 35, S. 60, 67-69. 38 Vgl. Dowbiggin, Ian, A Merciful End. The Euthanasia movement in modem America, Oxford, New York 2003, S. 15 i. 39 Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 99 f.

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chen eine begeisterte Werbeschrift über die US-„Rassenhygiene".40 Der Zwickauer Medizinalrat Gustav Boeters, der ab 1923 deutsche Parlamente ein Jahrzehnt lang mit Sterilisationsentwürfen bombardierte und als Amtsarzt bis zu seiner Suspendierung provokativ illegale Sterilisationen durchführte,41 hatte diese Doppel-Strategie während seines früheren Aufenthaltes in den USA gelernt, wo die Eugenik-Anhänger in Indiana vor ihrem Sieg von 1907 ebenso vorgegangen waren.42 Selbst deutsche Sozialdemokraten zeigten sich vom „unsentimentale [n] Amerika", von der „echt amerikanische [n] Bewegung" für Sterilisation fasziniert.43 Im Reichstag verwies 1931 Wilhelm Hoegner (ein späterer bayerischer Ministerpräsident) zur Begründung eines SPD-Antrags zur Freigabe freiwilliger Sterilisation bei erbkranken Straftätern ausdrücklich auf das Ausland, wo die USA, Dänemark und die Schweiz mutig „vorangegangen" seien. Freilich fand sich lediglich die NSDAP vertreten durch den späteren Hauptkriegsverbrecher Hans Frank - zu taktischer Unterstützung des SPD-Sterilisationsplans bereit.44 Die Faszination der US-Eugenik resultierte aus ihrem Laborcharakter: In den USA wurde am lebenden Menschen verübt, worüber man in Europa erst redete. Als Hitler in Deutschland die Macht übernahm, existierten in den meisten Einzelstaaten der USA seit Jahrzehnten Eheverbote und Sterilisationsgesetze.45 Zwar hatte die Sterilisationspraxis nach 1918 nachgelassen, manche Gesetze waren sogar wieder abgeschafft worden, doch 1927 erhielt die US-Sterilisationsgesetzgebung (und deren Nachahmung in zwei Provinzen Kanadas und einem mexikanischen Bundesstaat46) einen kräftigen neuen Schub, als der Oberste Gerichtshof die Klage einer Bürgerin aus Virginia gegen ihre Zwangssterilisation zurückwies. Es sei besser für die Welt, so die Bundesrichter, wenn die Gesellschaft die Fortpflanzung lebensuntüchtiger Menschen verhindere, bevor deren Nachwuchs ins Verbrechen oder Elend abgleite.47 Daraufhin wurden nicht nur neue Gesetze geschaffen, es wurde vor allem mehr sterilisiert denn je: Waren bis 1933 in den USA 16.000 Menschen unfruchtbar gemacht worden, so stieg die Zahl bis 1939 auf 31.00048 und bis 1941

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Hoffmann, Geza von, Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, München 1913. Vgl. Schwartz, 1995a, wie Anm. 4, S. 274 ff Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 65-67, 268. Schwartz, 1995a, wie Anm. 4, S. 127, 271. Vgl. Schwartz, 1995a, wie Anm. 4, S. 287, 293, 301-304. Vgl. Dowbiggin, 2003, wie Anm. 38, S. 15 f. Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 242; zur Eugenik im angelsächsischen Raum: McLaren, Angus, Our Own Master Race. Eugenics in Canada, 1885-1945, Toronto 1990; Garton, Stephen, Sound minds and healthy bodies. Re-considering eugenics in Australia, 1914-1940, in: Australian Historical Studies 26 (1994), S. 163-181; Jones, Greta, Eugenics in Ireland. The Belfast Eugenics Society, 1911-15, in: Irish Historical Studies 28 (1992), S. 81-95; zu Vera Cruz: Müller joachim, Sterilisation und Gesetzgebung bis 1933, Husum 1985, S. 44 f. Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 117 f., 121 f. Vgl. Müller, 1985, wie Anm. 46, S. 35-37.

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auf 38.087 an.49 30.000 US-Amerikaner wurden erst nach dem Urteil von 1927 unfruchtbar gemacht.50 Europäische Staaten zogen mit den USA erst zwischen 1929 und 1938 gleich mit den wichtigsten Etappen in Dänemark (1929), Deutschland (1933), Schweden und Norwegen (1934). Ahnlich wie die US-Eugenik lange die Europäer fasziniert hatte, fühlten sich nun viele US-Eugeniker durch die rücksichtslose Sterilisationspolitik der Nazis beeindruckt. Daraus resultierte die fatale „Nazi connection" amerikanischer Eugeniker, die man ihnen in den USA später massiv verübelte.51 Tatsächlich ließ das NS-Zwangsgesetz die erst in Jahrzehnten erreichten Sterilisationsquoten der USA binnen kürzester Zeit hinter sich: Zwischen 1934 und 1939 wurden in Deutschland fast 300.000 Menschen zwangssterilisiert, und bis 1945 kamen weitere 60.000 dazu.52 Zwischen NS-Antisemiten und den „white Protestant men" der US-Eugenik, die sich in ihrer multiethnischen Einwanderergesellschaft überfremdet fühlten, gab es nicht zuletzt rassistische Affinitäten. Diese Grundkomponente der US-Eugenik ändert nichts an ihrem demokratisch-rechtsstaatlichen Systemkontext, der einen wichtigen Unterschied zur NS-Rassenhygiene bildet. Zugleich aber markiert das rassistische Bindemittel dieser transatlantischen „Internationale der Rassisten" einen scharfen Unterschied zu den meisten europäischen Eugenik-Bewegungen. Besonders die Eugenik Skandinaviens hatte um 1933 rassistische Anfänge weitgehend hinter sich gelassen. Doch auch beim dortigen sozialdemokratisch-wohlfahrtsstaatlichen Zugriff auf soziale Randgruppen ging es nicht ganz ohne Rassismus: Als „Mischling" im schwedischen „Volksheim" zu gelten, konnte zur Zwangssterilisation führen.53

4. „Euthanasie": Deutschland und USA Wie die Eugenik hatte auch die moderne, Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende „Euthanasie"-Debatte ihre Gestalt vor dem und ohne den Nationalsozialismus gefunden. Die „Euthanasie"-Frage stellt sich damit als grundsätzliches Problem der Moderne dar - ihres Werterelativismus und Wertewandels zugunsten der industriegesellschaftlichen Basisnorm größtmöglicher Brauchbar- und Verwertbarkeit. Die um 1895 in Deutschland und den USA einsetzende „Euthanasie"-Diskussion war zunächst nur eine Debatte weniger modernistischer Intellektueller ohne politische

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Vgl. Rosen, 2004, wie Anm. 35, S. 150. Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 120-123. Vgl. Kühl, Stefan, The Nazi Connection. Eugenics, American Racism and German National Socialism, New York 1994. Vgl. Blasius, Dirk, „Einfache Seelenstörung". Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945, Frankfurt am Main 1994, S. 151. Vgl. Clees, Ernstwalter, Zwangssterilisationen in Skandinavien. Weitverbreitete Ideologie der Eugenik, in: Deutsches Ärzteblatt 94 (1997), Nr. 40 v. 3.10.1997.

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Relevanz. 1895 postulierte Adolf jost in Deutschland das „Recht auf den Tod" nicht nur für Todkranke auf deren Verlangen, sondern auch für geisteskranke Anstaltsinsassen, bei deren minimaler sozialer Nützlichkeit „das Mitleid und das Interesse der Gesellschaft" ihren Tod forderten.54 1899 propagierte auch der US-Wissenschaftler W. Duncan McKim Euthanasie „nicht als Mittel eines .sanften Todes' für an unheilbaren Krankheiten leidende Menschen (...), sondern als .künstliche Selektion' der Bevölkerung, um ,die menschliche Rasse umzuzüchten'".55 Diese frühe Debatte wandte sich mit futuristischem Pathos gegen „überholte" Vorurteile und Tabus - namentlich gegen die religiöse Grundüberzeugung von der Unverfügbarkeit über eigenes oder mitmenschliches Leben. Damals war solches Denken nicht mehrheitsfähig. Nicht einmal Forderungen nach Freigabe der „Tötung auf Verlangen" hatten politische Durchsetzungschancen: Der sächsische Landtag beschloss 1901 einstimmig, eine solche Petition „auf sich beruhen zu lassen",56 und ähnlich erging es 1905 einem Gesetzentwurf in Ohio. Gleichwohl löste dieser Vorstoß in den USA Diskussionen über „Gnadentötung" an geistig Behinderten und namentlich an behinderten Kindern aus.57 Der Rassentheoretiker Madison Grant suchte 1916 in seinem Buch „The Passing of the Great Race" (das Hitler später zu seiner „Bibel" erklärte) dem von ihm befürchteten Selbstmord der „nordischen" Rasse nicht nur durch eugenische Politik und rassistische Einwanderungsbestimmungen entgegenzuwirken, sondern auch durch Lebensvernichtung: Grant erinnerte an die „Vernichtung der Indianer" in den USA und forderte eine solche Politik der Ausrottung auch bei all ,,jene[n] Unerwünschten, die unsere Gefängnisse, unsere Hospitäler und unsere psychiatrischen Anstalten bevölkern".58 Ein Jahrzehnt nach den Euthanasie-Debatten in Ohio und Iowa führte ein spektakulärer Fall der Verweigerung ärztlicher Hilfeleistung für ein neugeborenes behindertes Kind (der sog. Haiselden-Bollinger-Fall) ab 1915 landesweit zu heftigen Debatten; er wurde sogar verfilmt. Der Arzt Haisdelden rechtfertigte seine Entscheidung, das Kind durch unterlassene Hilfeleistung sterben zu lassen, als angewandte Eugenik und damit als Konsequenz eines weithin anerkannten Denkstils.59 Trotz überwiegender Verurteilung durch die katholische Kirche rechtfertigte der Kardinal-Erzbischof von Baltimore Haiseidens Entscheidung als „optional". Zwar blieb „Euthanasie" in den USA illegal und wurde von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Allerdings schrumpfte diese Mehrheit namentlich unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise beträchtlich: 1937 ergab eine Gallup-Umfrage, dass 45 Prozent der Befragten eine „Gnaden-Tötung" körperlich oder geistig behinderter Neugeborener

54 Jost, Adolf, Das Recht auf den Tod. Sociale Studie, Göttingen 1895, S. 19. 55 Traverso, 2003, wie Anm. 21, S. 125. 56 Zit. n. Kaiser/ Nowak/ Schwartz (Hg.), 1992, wie Anm. 8, S. 42. 57 Vgl. Dowbiggin, 2003, wie Anm. 38, S. 18; undeutlicher: Black, 2003, wie Anm. 19, S. 250. 58 Zit. n. Traverso, 2003, wie Anm. 21, S. 65. 59 Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 253.

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akzeptierten.60 Diese US-Euthanasiediskussion strahlte international aus: Der französische Medizin-Nobelpreisträger Alexis Carrel, der ab 1904 lange in den USA geforscht hatte und sich später dem Vichy-Regime zur Verfugung stellte, plädierte 1935 für eine „Einrichtung zur Euthanasie, die mit geeignetem Gas ausgestattet" werden sollte, um Abnormale „auf menschliche und wirtschaftliche Weise" zu beseitigen.61 In Deutschland erhielt die Debatte über Lebensvernichtung ihren entscheidenden Schub durch den Ersten Weltkrieg und vor allem durch die Niederlage. „Der Weltkrieg, der Hekatomben der besten, eugenetisch tüchtigsten Menschen hinweggerafft hat, läßt uns weniger ängstlich als früher über die Vernichtung lebensunwerten Lebens denken", konstatierte 1923 der Berliner Jurist Alexander Elster,62 schon länger ein Propagandist der Lebensvernichtung. Bahnbrechend wirkte die 1920 veröffentlichte Schrift zweier prominenter Wissenschaftler, des Leipziger Juristen Karl Binding und des Freiburger Psychiaters Alfred Hoche. Diese kombinierten die Tötung auf Verlangen mit fremdbestimmter Lebensvernichtung bei „geistig völlig Toten", die laut Hoche nicht mehr als Verbrechen, sondern als „erlaubter nützlicher Akt" betrachtet werden sollte, da solche Existenzen - ganz im Gefolge der Argumente Josts - „weder für die Gesellschaft noch für die Lebensträger selbst irgendwelchen Wert" besäßen. Heilbare solle man weiterhin pflegen, doch die „Zeiten der Not" rechtfertigten es, „Übertreibungen" bei der Erhaltung von „Ballastexistenzen" abzustellen. Auch andere Psychiater, etwa Robert Gaupp, attackierten eine „falsche Humanität, die wertlose Leben hätschelt und pflegt, während wertvolle Leben an anderer Stelle (...) elend zugrunde" gingen.63 Unter Juristen forderte damals der Berliner Kammergerichtsrat Professor Karl Klee - der sich 1941 allerdings Roland Freislers Propagierung von Kindereuthanasie öffentlich widersetzte - die „Ausscheidung parasitenhafter Existenzen" aus dem Volkskörper, worunter er Geisteskranke und „Gewohnheitsverbrecher" verstand.64 Während dessen kam der Öffentlichkeit kaum zu Bewusstsein, dass sich zwischen 1916 und 1918 längst ein kriegsbedingtes Hungersterben in deutschen Anstalten ereignet hatte, das ein Drittel aller Patienten das Leben gekostet hatte.65 Hatte diese Erfahrung kriegsbedingten Massensterbens inner- und außerhalb der Anstalten in den zwanziger Jahren das Thema der Lebensvernichtung diskutabel gemacht, scheint es doch niemals mehrheitsfahig geworden zu sein. Dies verdeutlicht die Ablehnung des BindingHocheschen Vorschlags durch den deutschen Ärztetag 1921. Diese Form der

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Vgl. Dowbiggin, 2003, wie Anm. 38, S. 28 f, 32. Zit. n. Traverso, 2003, wie Anm. 21, S. 128. Zit. n. Kaminsky, Uwe, Zwangssterilisation und „Euthanasie" im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933 bis 1945, Köln 1995, S. 296. Zit. n. Kaiser/ Nowak/ Schwartz (Hg.), 1992, wie Anm. 8, S. 79-82. Zit. n. Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 119. Vgl. Burleigh, Michael, Death an Deliverance. „Euthanasia" in Germany 1900-1945, Cambridge 1995, S. 15; Bresler, Johannes, Die zehn wichtigsten Kulturaufgaben der Anstalten für Geisteskranke, Halle 1935, S. 28.

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„Euthanasie" wurde unter Medizinern und Juristen mehrheitlich klar verworfen; erst recht war dies im kirchlichen Schrifttum der Fall.66 Jedoch bewirkten Binding und Hoche eine fatale diskursive Verschiebung von der „Euthanasie" zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens".67 Die späteren Reichstagsberatungen zur Strafrechtsreform konnten das Thema nicht ignorieren, wenngleich sich 1929 eine klare Ablehnung der Tötung auf Verlangen ergab und „Lebensvernichtung" im Sinne Bindings und Hoches „nur flüchtig gestreift" und erst recht verworfen wurde.68 Noch im Juli 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, lehnte der vom katholischen Zentrum dominierte preußische Landesgesundheitsrat jede „Tötung oder Vernachlässigung" von Anstaltspatienten ausdrücklich ab, sprach aber im selben Atemzug die prekären Denkkategorien vom „minderwertigen Erbgut" und „lebensunwerten Leben" unkritisch nach.69 1931 hatte sich in ihren Treysaer Beschlüssen - bei gleichzeitiger Befürwortung freiwilliger Sterilisation - die Innere Mission klar ablehnend zu Lebensvernichtung und Schwangerschaftsabbruch geäußert.70 Gegen Ende der Weimarer Republik entwickelte sich somit ein deutliches Konkurrenzverhältnis zwischen „Euthanasie" und Eugenik,71 wobei „gegenüber den düster irritierenden Forderungen der Euthanasie (...) die rassenhygienischen Konzepte allemal als ,human'" erschienen.72 Selbst die NSDAP musste vor 1933 dem „Euthanasie'-feindlichen Kontext Rechnung tragen. Als ihr die SPD-Presse 1932 vorwarf sie wolle das bisherige Leitbild des Arztes „als Helfer und Freund der kranken Menschen" durch den „Selektionsarzt" ersetzen, der einen „Vernichtungskampf gegen die unheilbar Kranken und Siechen" führe,73 sah sich noch wenige Wochen vor Hitlers Machtantritt der NS-Politiker Leonardo Conti - Hitlers späterer an den „Euthanasie'-Morden beteiligter „Reichsgesundheitsführer" - genötigt, jegliche Unterstützung von „Euthanasie" scharf abzustreiten.74 Zugleich aber nutzten Politiker, Theologen und Wohlfahrtsfunktionäre, die sich auf Eugenik einließen und „Euthanasie" ablehnten, das beiden Denkrichtungen

66 Vgl. Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 115-125. 67 Vgl. Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, S. 49, verweist auf die absichtliche „Begriffsverwirrung" Bindings und Hoches. 68 Merkel, Christian, „Tod den Idioten". Eugenik und Euthanasie in juristischer Rezeption vom Kaiserreich zur Hitlerzeit, Berlin 2006, S. 139 f 69 Zit. n. Kaiser/ Nowak/ Schwartz (Hg.), 1992, wie Anm. 8, S. 99. 70 Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992 (Hg.), wie Anm. 8, S. 106-110. 71 Vgl. Just, Günther, Eugenik und Weltanschauung, in: ders. (Hg.), Eugenik und Weltanschauung, Berlin, München 1932, S. 7-37, insb. S. 11 f 72 Reyer, Jürgen, Alte Eugenik und Wohlfahrtspflege. Entwertung und Funktionalisierung der Fürsorge vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Freiburg/Br. 1991, S. 115, 176-179. 73 Moses, Julius, „Bildet die Eiserne Front der Frauen! Frauen, Gesundheitspflege und Nationalismus", in: Arbeiterwohlfahrt 7 (1932), Nr. 7vom 1.4.1932, S. 193-200, insb. S. 197-199; ders., „Seltsame Ärzte", in: Arbeiterwohlfahrt 6 (1931), S. 664-667. 74 Vgl. Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 124; die Gegendarstellung Contis in Arbeiterwohlfahrt 8 (1933), Nr. 1, S. 19-20.

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gemeinsame menschenverachtende Vokabular gegen „Minderwertige" ebenso unkritisch wie den Begriff des „lebensunwerten Lebens" (dessen „Vernichtung" sie ablehnten) und trugen damit ungewollt zur Abwertung bestimmter Menschen bei.75 Hier entstand ein Legitimationsdefizit, das nach 1933 leicht radikalisiert werden konnte. Dieser unkritische Denkstil und Sprachgebrauch der Mehrheit wirkte vermutlich schlimmer - da breitenwirksamer - als jene wenigen Außenseiter, die, vom völkisch-protestantischen Standpunkt eines Bernhard Bavink76 bis zum SPDMilieu einer Oda Olberg,77 schon vor 1933 für Lebensvernichtung, namentlich für die Tötung neugeborener behinderter Kinder, eintraten. Zumindest in den Wirtschaftskrisen um 1923 und um 1930 könnte auch in Teilen der Bevölkerung etwas ins Rutschen gekommen sein. Auch wenn man unterstellt, dass kirchlich gebundene Bevölkerungskreise die „Euthanasie" ebenso grundsätzlich ablehnten wie ihre Kirchenführer,78 darf die 1925 veröffentlichte MeitzerUmfrage nicht ignoriert werden. Bereits im Herbst 1920 hatte - angeregt durch die Schrift von Binding und Hoche - der Leiter der evangelischen Diakonieanstalt im sächsischen Großhennersdorf, Ewald Meitzer, bei 200 Eltern und Vormündern ihm anvertrauter Kinder schriftlich angefragt, ob sie rein hypothetisch in eine „schmerzlose Abkürzung des Lebens ihres Kindes" einwilligen würden. Daraufhin erklärten 119 Befragte (73 Prozent der Antwortenden) ihr Einverständnis. Das hatte Meitzer ganz und gar „nicht erwartet", „das Umgekehrte" wäre ihm viel „wahrscheinlicher gewesen".79 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderten sich die Rahmenbedingungen der „Euthanasie'-Debatte gravierend. Wichtige „checks and balances" des demokratischen Rechtsstaates fielen in Deutschland ersatzlos weg oder verloren rapide an Bedeutung. Mancher bisher verantwortungsbewusste Wissenschaftler erlag dem neuen Trend zur Radikalität. Nur so ist die beispiellose NS-Sterilisationspraxis erklärbar, die ohne Mitwirkung zahlreicher Ärzte undenkbar gewesen wäre. Nur so erklärt sich der Fall des Heidelberger Ordinarius Carl Schneider, der zwischen 1939 und 1941 als Obergutachter der „T 4"-Aktion am massenhaften NSKrankenmord beteiligt war - obwohl er 1931, damals Leitender Arzt der Bodelschwinghschen Anstalten, an den Beschlüssen der Inneren Mission mitgewirkt hatte, die jede Tötung „minderwertigen" Lebens klar ablehnten.80

75 Vgl. Burleigh, 1995, wie Anm. 65, S. 25. 76 Vgl. Schwartz, 1993, wie Anm. 11, S. 72-85. 77 Vgl. Olberg, Oda, Die Entartung in ihrer Kulturbedingtheit. Bemerkungen und Anregungen, München 1926, S. 39 f. 78 Zu letzteren Schmuhl, 1987, wie Anm. 3, S. 123 £ 79 Zit. n. Kaiser/ Nowak/ Schwartz (Hg.), 1992, wie Anm. 8, S. 83; Meitzer eignet sich allerdings nicht für Heroisierung wie bei Burleigh, 1995, wie Anm. 65, S. 21 ff, der Meitzers „Euthanasie"-Positionen der dreißiger Jahre ignoriert; vgl. Schwartz, 1998, wie Anm. 3. 80 Vgl. Schmuhl, Hans-Walter, Kontinuität oder Diskontinuität? Zum epochalen Charakter der Psychiatrie im Nationalsozialismus, in: Kersting, Franz-Werner, u.a. (Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993, S. 112-136, insb. S. 130.

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Ein ähnlicher Kontextwandel fehlte trotz auch dort präsenter „Euthanasie"Debatten in den USA, und eben dieser Unterschied verhinderte ein praktisches Wirksam-Werden lebensvernichtenden Denkens. Zwar gab es auch in den USA eine radikale „Euthanasie"-Bewegung, die im modernistischen Spektrum des vielschichtigen amerikanischen Protestantismus Unterstützung erfuhr. Doch trotz einer offenbar engeren Verquickung von „Euthanasie"- und Eugenik-Bewegungen als in Deutschland war entscheidend, dass in den USA die demokratischen und rechtsstaatlichen Barrieren intakt blieben. Einen Leitsatz, wie ihn der preußische NS-Justizminister Hans Kerrl und sein Staatssekretär Freisler 1933 veröffentlichten, dass der Staat jederzeit das Recht habe, die „Vernichtung lebensunwerten Lebens" von Geisteskranken anzuordnen,81 hätte amerikanisches Demokratieverständnis niemals akzeptieren können, das gegen jede Form von „governmental tyranny" gerichtet war und auch die Gefahr eines „electoral despotism" der Wählermehrheit kannte.82 Diese Barrieren funktionierten zwar im Falle der Eugenik nicht, sehr wohl aber im Falle der „Euthanasie". Ein 1938 von der amerikanischen „EuthanasieGesellschaft" vorgelegter Gesetzentwurf zur Freigabe der Tötung auf Verlangen hatte in den Parlamenten der US-Staaten angesichts massiver Ablehnung durch katholische und konservativ-protestantische Wähler keine Chance.83 Mit einem noch radikaleren Gesetzentwurf zur Lebensvernichtung von „idiots, imbeciles, and congenital monstrosities" wagten sich die Euthanasie-Aktivisten erst gar nicht an die Öffentlichkeit, doch entwarfen sie dergleichen noch im Jahre 1943 - zu einer Zeit also, als die NS-Euthanasieverbrechen in den USA im Kern bekannt sein mussten.84

5. Schlussbetrachtung Außerhalb Deutschlands wurden die Irrwege der Eugenik und vor allem der Lebensvernichtung nicht derart radikal beschritten wie hierzulande. Doch auch andere Länder haben ihre Verblendungsgeschichte biopolitischen Handelns zumindest in Form der Sterilisationspolitik. Darauf ließen sich protestantisch geprägte Gesellschaften - primär in den USA und in Skandinavien - weit entschiedener ein als katholisch geprägte Gesellschaften. Die noch gravierendere Lebensvernichtung wurde zwar - vor allem in den USA - auch außerhalb des NS-Machtbereichs diskutiert, aber nirgendwo sonst in die Tat umgesetzt. 81 Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz (Hg.), 1992, wie Anm. 8, S. 200 f. 82 Beard, Charles A., The Republic. Conversations on Fundamentals, New York 1944, S. 126 f. 83 Vgl. Dowbiggin, 2003, wie Anm. 38, S. 56-58; insofern trifft die Darstellung bei Friedlander, 1997, wie Anm. 67, S. 51, dass - anders als in Deutschland - in den USA und Großbritannien „die öffentliche Auseinandersetzung um die Euthanasie sich nicht auf die Vernichtung unwerten Lebens konzentrierte, sondern auf den Gnadentod für Patienten im Endstadium", für die USA nicht zu. 84 Vgl. Dowbiggin, 2003, wie Anm. 38, S. 72.

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Die NS-Verbrechen haben oft den Blick dafür verstellt, dass Eugenik bis 1933 ausschließlich und bis 1945 mit der allerdings gewichtigen Ausnahme Deutschlands nur von demokratischen Staaten praktiziert worden ist. Unter den totalitären Regimes des frühen 20. Jahrhunderts war Zwangseugenik eine NS-Ausnahme. In der Sowjetunion wurden Ansätze „bolschewistischer Eugenik" um 1930 abgewürgt und niemals politikrelevant.85 Der italienische Faschismus beschränkte sich aufgrund seiner Abhängigkeit vom konservativen Katholizismus auf quantitative Bevölkerungspolitik mit etwas „eugenischer" Rhetorik.86 Zwar gab es im autoritärkaiserlichen Japan um 1940 Bestrebungen, die sich an Hitlers Sterilisationspolitik orientierten, doch erst der veränderte Kontext einer Nachkriegs-Demokratie unter US-Besatzung führte 1948 zur Inkraftsetzung eines Sterilisationsgesetzes. Totalitäre Eugenik-Politik nach Hitler kam erst im kommunistischen China erneut zum Durchbruch.87 Die Tatsache, dass bis 1933/45 negativ-eugenische Praxis mit Ausnahme Deutschlands ausschließlich in demokratischen Systemkontexten stattfand,88 ist weitaus verstörender als die lange übliche, aber falsche These von der Affinität zwischen Rassenhygiene und Faschismus. Der demokratische Kontext hat angewandte Eugenik „gemäßigt", doch verweist die vielfache Eugenik im demokratischen Kontext umgekehrt auch auf beträchtliche Radikalisierungspotentiale demokratischer Gesellschaften. Allzu oft haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Demokratien - gerade die besonders „modernen" US-amerikanischen und skandinavischen Massendemokratien - Individualrechte unerwünschter Minderheiten gegen den Zugriff bürokratisch-wissenschaftlicher Machtdispositive nicht geschützt, sondern preisgegeben. Immerhin stellte der demokratische Kontext sicher, dass Sterilisation öffentlich „umstritten" und politisch reversibel blieb. Auch wurde in der Praxis „längst nicht soviel sterilisiert", wie manche Gesetzesnorm vermuten ließ. Im Ergebnis machten die Sterilisierten der USA trotz sehr viel längerer „Laufzeit" der

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Vgl. Adams, Mark B., „Eugenics in Russia", in: ders. (Hg.), T h e Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia, New York, Oxford 1990, S. 153-216; Graham, Loren R., Science and values. T h e Eugenics movement in Germany and Russia in the 1920s, in: American Historical Review 82 (1977), S. 1133-1164. 86 Zu Mussolinis Pronatalismus: Weindling, 1989, wie Anm. 6, S. 476 f ; Quine, Maria Sophia, Population Politics in Twentieth-Century Europe. Fascist Dictatorships and Liberal Democracies, London, New York 1996; Mantovani, Claudia, Rigenerare la società. L'eugenetica in Italia dalle origini ottocentesche agli anni Trenta, o.O. 2004; Stepan, Nancy, Race, gender, and nation in Argentina. T h e influence of Italian eugenics, in: History of European Ideas 15 (1992), S. 749-756; dies., „The Hour of Eugenics". Race, gender, and nation in Latin America, Ithaca 1991; Nash, Mary, Social eugenics and nationalist race hygiene in early 20th century Spain, in: History of European Ideas 15 (1992), S. 741-748. 87 Vgl. Dikötter, Frank, Imperfect Conceptions. Medical Knowledge, Birth Defects, and Eugenics in China, New York 1998; Matsubara, Yoko, T h e Making of the Eugenic Protection Law of 1948. Reinforcing Eugenic Policy after WWII, in: http://www.aasianst.org/absts/1999abst/japan/j-32.htm [06.06.2007], 88 Autoritäre Kontexte prägten lediglich Estland 1936 und Lettland 1937; vgl. Müller, 1985, wie Anm. 46, S. 44 f

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dortigen Gesetze 1941 mit 38.08789 wenig mehr als 10 Prozent der 360.000 NS-Sterilisationsopfer aus, in Dänemark wurden zwischen 1929 und 1950 nur 5.940 Sterilisationen durchgeführt,90 und selbst in Schweden, wo das Sterilisationsgesetz 1941 erheblich verschärft worden war, stieg die Zahl der bis dahin 3.000 Sterilisierten bis 1948 nur auf 12.157.91 Andererseits widerlegt die Tatsache, dass die große Mehrheit von 30.000 Sterilisierten in den USA im kurzen Zeitraum von 1927 bis 1941 betroffen wurde,92 allzu glatte Einschätzungen mancher US-Historiker, trotz ähnlicher Gesetze habe die demokratische Eugenik der USA im Gegensatz zur totalitären NS-Politik nie den Schritt zur Massensterilisation vollzogen 93 Dies gilt eher fiir die skandinavische Eugenik, deren protestantisch-sozialdemokratischer Typus Europa prägte. Diese Form „wohlfahrtsstaatlicher" Sterilisationsgesetzgebung dehnte sich - ausgehend von Dänemark 1929 - im kurzen Zeitraum von 1934 und 1938 auf sieben Länder (ganz Skandinavien, die baltischen Staaten Estland und Lettland bis nach Island) aus. Für die sozialdemokratische Eugenik Skandinaviens aber war die deutsche NS-Sterilisationspolitik kein Vorbild, sondern im Gegenteil ein Feindbild - ein „leicht zu durchschauender und plumper Schwindel" (so der norwegische Gesundheitspolitiker Karl Evang).94 Die Eugenik Skandinaviens orientierte sich eher an Maximal-Vorstellungen der Weimarer SPD (z.B. hinsichtlich einer die freiwillige Sterilisation ergänzenden Zwangssterilisation), die in Deutschland bis 1933 keine Realisierungschancen gehabt hatten. Ihr relativ niedriger Interventionsgrad verbindet die skandinavische Eugenik mit der Mehrheit der US-Eugenik (mit Ausnahme Kaliforniens) und trennt sie deutlich von der NS-Rassenhygiene. Zugleich verhinderte der sozialdemokratisch-wohlfahrtsstaatliche Kontext, dass man sich auf die NS-Rassenhygiene ähnlich positiv einließ wie die US-Eugenik: Dadurch wurden die Sterilisationsgesetze Skandinaviens nach 1945 von den NS-Verbrechen nicht diskreditiert, sie wurden sogar zum neuen Bezugspunkt für die angeschlagene US-Eugenik. Im Ergebnis fiel die Sterilisationsgesetz-

89 Vgl. Rosen, 2004, wie Anm. 35, S. 150. 90 Vgl. Hansen, 1996, wie Anm. 14, S. 39 ff. 91 Überwiegend aus eugenischen Motiven, denn die seit 1941 gegebene Option für Frauen, sich aus medizinischen Gründen freiwillig sterilisieren zu lassen, spielte erst seit den fünfziger Jahren eine größere Rolle; vgl. Broberg, Gunnar/ Tyden, Mattias, Eugenics in Sweden. Efficient Care, in: Broberg, Gunnar/ Roll-Hansen, Nils (Hg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996, S. 77-149, insb. S. 108 ff.; die Gesamtzahl skandinavischer Sterilisierter liegt höher, lässt sich jedoch nach 1945 nicht mehr primär eugenischen Motiven zurechnen. 92 Vgl. Black, 2003, wie Anm. 19, S. 120-123. 93 Gegen Dickinson, 2004, wie Anm. 2, S. 19; richtig hingegen ist dessen Feststellung, dass es in den USA nie zu eugenisch indizierter Abtreibung oder gar zu Massenmorden an „Erbkranken" kam. 94 Zit. n. Schwartz, 1995a, wie Anm. 4, S. 122 f.

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gebung in den USA erst in den sechziger Jahren, 95 auch in Dänemark 1967,96 in Schweden sogar erst 1975.97 Aber darf man die Geschichte demokratischer Eugenik nicht länger in die Nachbarschaft der totalitären Rassenhygiene stellen? Muss man sie als eigenständige, rechtsstaatlich effektiv eingegrenzte Erfolgsgeschichte demokratischer Sozialstaatlichkeit begreifen?98 Bei aller Notwendigkeit zur ernsthaften Differenzierung globaler Eugenik-Politik in drei Hauptstränge (USA, Deutschland, Skandinavien), für die auch dieser Beitrag plädiert, würde eine derart strikte Trennung zu weit gehen. Sie würde übersehen, dass für sämtliche Eugenik-Politiken „stets Schwachsinnige die bevorzugte Zielgruppe der Eugeniker" gewesen sind - die „dehnbarste" Kategorie von Erbkranken, über deren Anwendung stets „eher soziale als medizinische Kriterien" - d.h. soziale Ressentiments der Experten - entschieden.99 In dieser Bereitschaft zur wissenschaftlich begründeten Vergewaltigung von Menschen, die durch traditionelle Vorurteile ohnehin ausgegrenzt waren, liegt eine frappierende Gemeinsamkeit aller Eugenik-Politiken im 20. Jahrhundert.

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Vgl. Stern, Alexandra, Eugenic Nation. Faults and Frontiers of Better Breeding in Modern America, Berkeley 2005. Vgl. Hansen, 1996, wie Anm. 14, S. 61 ff. Vgl. B r o b e r g / Tyden 1996, wie Anm. 91, S. 111, 134 f. Dieser Vorschlag findet sich bei Dickinson, 2004, wie Anm. 2, S. 47 f. Friedlander, 1997, wie Anm. 67, S. 73.

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Nationalsozialistische Sterilisationspolitik

Ende Juni 1933 hielt der Reichsinnenminister Wilhelm Frick eine programmatische, oft publizierte und zitierte Rede über „Bevölkerungs- und Rassenpolitik". Sie sollte die Öffentlichkeit auf das Gesetz zur Sterilisation von Erbkranken einstimmen, das manche schon seit der Jahrhundertwende, mehr seit Mitte der zwanziger Jahre und viele zur Zeit der Weltwirtschaftskrise forderten. „Das düstere Bild, das ich vor Ihnen entrollen muß", verkündete Frick, zeige den „kulturellen und völkischen Niedergang", abzulesen an einer halben Million „schwerer" Fälle von „körperlichen und geistigen Erbleiden" und über einer halben Million von „leichten Fällen", von denen „Nachwuchs nicht mehr erwünscht" sei; möglicherweise 20 Prozent der deutschen Bevölkerung seien als Väter und Mütter unerwünscht. Gerade „schwachsinnige und minderwertige Personen" wiesen „eine überdurchschnittliche Fortpflanzung auf', die um der Erhaltung der „deutschen Kultur" willen gestoppt werden müsse. Neben dieser inneren Gefahr drohe die „doppelte Gebärkraft" der „Nachbarn im Osten". Fricks Resultat: „Zur Erhöhung der Zahl erbgesunder Nachkommen haben wir zunächst die Pflicht, die Ausgaben für Asoziale, Minderwertige und hoffnungslos Erbkranke herabzusetzen und die Fortpflanzung der schwer erblich belasteten Personen zu verhindern."1 Dieses Programm der Geburtenverhinderung, des Antinatalismus, wurde am 14. Juli 1933 zum Gesetz; dafür zuständig waren in erster Linie das Reichsministerium des Innern und das Reichsjustizministerium. Die amtliche Gesetzesbegründung erläuterte die Sterilisation als Mittel, „biologisch minderwertiges Erbgut auszuschalten", nämlich bei den „unzähligen Minderwertigen und erblich Belasteten", die sich „hemmungslos fortpflanzen". Das Gesetz solle „eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers" bewirken und bedeute somit den „Primat und die Autorität des Staates, die er sich auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie endgültig gesichert hat". Mittelfristig sollten fast eineinhalb Millionen Menschen sterilisiert werden.2 Die kurzfristigen Pläne sahen 400.000 Sterilisationen vor, und dieses Ziel

1

Frick, Wilhelm, Bevölkerungs- und Rassenpolitik. Ansprache auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik am 28. Juni 1933, Berlin 1933 (Schriften des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst im Reichsministerium des Innern, Heft 1). Vgl. Neliba, Günter, Wilhelm Frick: Der Legalist des Unrechtsstaates. Eine politische Biographie, Paderborn u.a. 1992, bes. Kap. III. Der vorliegende Beitrag ist eine erweiterte Fassung meines Aufsatzes zum selben Thema in: Sibylle Quack (Hg.), Dimensionen der Verfolgung. Opfer und Opfergruppen im Nationalsozialismus, München 2003, S. 279-301.

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wurde in den elfJahren nach Inkrafttreten des Gesetzes (Januar 1934) trotz mancher Hindernisse erreicht: mit rund 360.000 gesetzlichen Sterilisationen in den Grenzen von 1937 - ein Prozent der Bevölkerung im gebär- und zeugungsfähigen Alter davon 300.000 in den Jahren von 1934 bis 1939, und vermutlich 40.000 außerhalb jener Grenzen. Außerdem wurde eine beträchtliche, aber unbekannte Anzahl außerhalb des Gesetzes sterilisiert.3 Noch nie zuvor in der Geschichte hatte ein Staat eine solche Politik der massenweisen Geburtenverhinderung propagiert und praktiziert, noch nie zuvor waren derart umfassende, gewaltsame und wirksame Maßnahmen zu antinatalistischen Zwecken ergriffen worden.

1. Sterilisationszwang und Diktatur Alle Sterilisationen nach dem Gesetz von 1933 waren Zwangssterilisationen, keine kam aufgrund des freien Willens der Betroffenen zustande. (Freiwillige eugenische Sterilisation war schon im Frühjahr 1933 durch den neuen § 226a des Strafrechts zugelassen worden.) Die Formen von Zwang waren im Gesetz selbst festgelegt. Paragraph 2 räumte zwar den Betroffenen ein Antragsrecht ein, aber keinen eigenen Willen: „Antragsberechtigt ist deijenige, der unfruchtbar gemacht werden soll" - nicht etwa „will". Der Paragraph war aber bedeutungslos, denn zum einen wurde fast immer aufgrund von Anträgen anderer sterilisiert (Paragraph 2 und 3), und zum anderen konnte ein „freiwilliger" Antrag nicht mehr zurückgenommen werden, wenn das Sterilisationsverfahren in Gang gesetzt worden war. Antragsteller waren zuvörderst die staatlichen Amtsärzte an den staatlichen Gesundheitsämtern, die 1934 eingesetzt wurden und die Aufgabe hatten, in der Bevölkerung nach Sterilisationskandidaten zu fahnden; an zweiter Stelle die Leiter oder Ärzte verschiedenster, vor allem psychiatrischer und Fürsorge-Anstalten. Ein Vorstadium der Antragstellung war die Anzeige: Alle Ärzte und andere Heilberufe hatten die Pflicht und so gut wie jedermann das Recht, mögliche Kandidaten anzuzeigen, und im Jahr 1934 (nur für dieses Jahr wurden die Anzeigen statistisch erfasst) waren unter den Anzeigenden 21 Prozent beamtete Ärzte, 24 Prozent nicht beamtete Ärzte und 35 Prozent Anstaltsleiter; in späteren Jahren stieg der Anteil der Amtsärzte deutlich an. Bei all diesen Fremdanträgen wurden verschiedene Formen von direktem und indirektem Zwang eingesetzt. Eine davon lag in der medizinischen und psychiatrischen Definitions- und Administrationsmacht, niedergelegt in Paragraph 1 des

2

3

Vgl. Gütt, Arthur/ Rüdin, Ernst/ Ruttke, Falk, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 mit Auszug aus dem Gesetz gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßnahmen der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, München 1934, S. 60, vgl. S. 91, 97, 102, 106, 115; 2., erweiterte Auflage, 1936, S. 77; Ristow, Erich, Erbgesundheitsrecht, Stuttgart, Berlin 1935, S. 124. Vgl. Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Opladen 1986, S. 233-240; vgl. Neugebauer, Wolfgang, Zwangssterilisierung und „Euthanasie" in Osterreich 1940-1945, in: Zeitgeschichte 19 (1992), S. 17-28 (ca. 6.000 Sterilisationen).

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Gesetzes. Hier wurde diejenige Art von „Minderwertigkeit" benannt, die zum Zweck der „Aufartung" von „Volk", „Volkskörper" oder „Rasse" durch Sterilisation „ausgemerzt" werden sollte. In rund 95 Prozent der Fälle wurde sterilisiert (in der Reihenfolge der Häufigkeit) aufgrund von wirklichem oder angeblichem Schwachsinn, Schizophrenie, Epilepsie und manisch-depressivem Irresein (keine dieser Diagnosen bezeichnete ein präzises Krankheitsbild, was auch die damaligen Psychiater sehr wohl wussten); die übrigen fünf Prozent waren Menschen mit wirklicher oder angeblicher Blindheit, Taubheit, „körperlicher Mißbildung", Veitstanz und schwerem Alkoholismus. Die quantitativ und strategisch wichtigste Gruppe waren diejenigen, die als schwachsinnig diagnostiziert wurden: Sie stellten rund zwei Drittel aller Sterilisierten, und unter ihnen waren fast zwei Drittel Frauen. Seit 1933 wurden Anstaltsbewohner nur noch dann entlassen, wenn zuvor sterilisiert bzw. die „Dringlichkeit" einer Sterilisation geprüft worden war. Dies entsprach einem Grundprinzip der Sterilisationspolitik. Denn sie zielte nicht - wie später die Euthanasie-Aktion - auf Schwerkranke, da diese nur selten Kinder bekamen (in der rassenhygienischen Sprache: „sich selbst ausmerzen"), sondern explizit auf solche, die als „leichte Fälle" definiert wurden. Die Grundregel „leichte Grade besonders gefahrlich" galt somit für Menschen, die gesund oder geheilt waren, frei lebten und arbeiteten, aus einer Anstalt beurlaubt oder entlassen wurden oder schon Vorjahren entlassen worden waren. Denn gemäß der Doktrin der „menschlichen Erblehre", „Rassenhygiene" oder „Erb- und Rassenpflege" betraf ihre Gesundheit oder Heilung nur ihr Außeres, nicht ihr Inneres, nur das „Erscheinungsbild" (den Phänotyp), nicht das „Erbbild" (den Genotyp).4 Eine von zahlreichen amtlichen Broschüren, die seit 1933 die Sterilisation propagierten, hielt diesen Krankheitsbegriff fest: „Alle mehr oder weniger kranken Menschen sollten dem Kampf ums Dasein verfallen, wobei krank im biologischen Sinne anzuwenden ist. Krank heißt alles, was dem Leben, wie immer es auch gestaltet sei, natürlich oder zivilisiert, nicht mehr angepaßt ist, die Lebensbürde nicht mehr tragen kann. Ich bitte wohl darauf zu achten, daß der Begriff .biologisch krank', ,erbkrank' weit davon entfernt ist, sich mit dem allgemeinen Begriff .krank' zu decken."5 Der Paragraph 12 des Gesetzes verordnete direkten Zwang, nämlich durch Polizeigewalt. Sie konnte an vier Stellen des Verfahrens eingesetzt werden: zu Beginn die zwangsweise Vorführung beim Amtsarzt, der einen Antrag stellen wollte, dann die polizeiliche Fahndung nach geflohenen Sterilisationskandidaten, des weiteren die polizeiliche Einweisung in eine psychiatrische Anstalt, wenn eine vermutete Erbkrankheit genauer diagnostiziert und vor allem Flucht und Geschlechtsverkehr verhindert werden sollten, wofür man Hitlers Kampf-Buch zitierte: „Das Recht der persönlichen Freiheit tritt zurück gegenüber der Pflicht

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Gütt/ Rüdin/ Ruttke, 1936, wie Anm. 2, S. 117; vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 308-313, 331-333. Barsewisch, Elisabeth von, Die Aufgaben der Frau für die Aufartung, Berlin 1933 (Schriften des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst, Heft 5), S. 11.

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zur Erhaltung der Rasse."6 Schließlich wurde Polizei eingesetzt, um die Sterilisanden auf den Operationstisch zu schaffen, wenn sie nicht „freiwillig" kamen; dies betraf zwischen drei und dreißig Prozent der Betroffenen, je nach Region und Jahr. 7 Vervollständigt wurden diese Formen von Zwang durch den Paragraph 14, der freiwillige Sterilisation verbot; als „mißbräuchliche" oder „Gefalligkeits"-Sterilisation gebrandmarkt, war ihr Verbot in den Debatten, die dem Sterilisationsgesetz vorausgegangen waren, immer wieder gefordert worden. Dieses Verbot war vielfach motiviert, unter anderem durch eine Politik der Geburtenförderung bzw. des Pronatalismus gegenüber Menschen, deren Kinder erwünscht waren und dem säkularen Geburtenrückgang ein Ende setzen sollten. Zum Zweck des Sterilisierens wurden eigens neue staatliche Institutionen geschaffen. An 205 Sterilisations- und 18 Sterilisationsobergerichten („Erbgesundheits"-Gerichte), die den Amts- und Oberlandesgerichten zugeordnet wurden, wurde über die „Fortpflanzungs(un)würdigkeit" der Angeklagten gerichtet; Richter und die Justiz insgesamt (rund 10.000 Juristen waren mit Sterilisationssachen befasst) erhielten in diesem Kontext zahlreiche neue Aufgaben. Aber nicht nur Juristen sprachen hier „Recht", sondern auch Mediziner, Psychiater und Anthropologen wurden nun zu Richtern in juristischem Sinn ernannt.8 Das staatliche Gesundheitswesen wurde auf die Sterilisationspolitik umgestellt, und die rund tausend Gesundheitsämter mit ihren Amtsärzten und angeschlossenen „Amtern für Erb- und Rassenpflege" betrieben, neben ihrer Fahndungs- und Diagnosetätigkeit, unter dem Titel „erbbiologische Bestandsaufnahme des deutschen Volkes" eine systematische Erfassung des „Erbwertes" der Bevölkerung. Im Jahr 1936 waren 108 Krankenhäuser mit 144 Operateuren zum Sterilisieren ermächtigt.9 Unzählige weitere Staats- und Partei-Institutionen wirkten mit. Die Politik der Zwangssterilisation und der Fahndung nach Sterilisationskandidaten richtete sich auf die „Minderwertigen" in der Bevölkerung insgesamt und in ihren ersten Jahren insbesondere auf die ehemaligen und gegenwärtigen Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten; diese machten etwa ein Drittel aller Sterilisierten aus. Regionale Unterschiede - eine Zeitlang lagen Hamburg und Baden an der Spitze der Sterilisationsziffern -, zum Beispiel in bezug auf städtisches oder ländliches, protestantisches oder katholisches Milieu traten zurück gegenüber einer relativ homogenen Durchfuhrung (der Protestantismus kooperierte, und der Katholizismus distanzierte sich zwar offiziell, arrangierte sich aber in der Praxis weitgehend).

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Gütt/ Rüdin/ Ruttke, 1936, wie Anm. 2, S. 230. Vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 256-278. Zur Rolle der Justiz vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 195-230; der „ärztlichen Richter": S. 182-195, 209230. Vgl. Gütt/ Rüdin/ Ruttke, 1936, wie Anm. 2, S. 361-379; Labisch, Alfons/ Tennstedt, Florian, Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom 3. Juli 1934, 2 Bde., Düsseldorf 1985; Vossen, Johannes, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900-1950, Essen 2001.

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Zahlreiche lokalgeschichtliche Studien haben die Sterilisationspraxis in verschiedenen Regionen, Städten, Sterilisationsgerichten, Krankenhäusern und Anstalten erforscht.10 Überall wirkten mehr oder weniger renommierte Theoretiker und Praktiker der Rassenhygiene mit: etwa Ernst Rüdin in München; Eugen Fischer, Fritz Lenz und Maximinian de Crinis in Berlin; Otmar von Verschuer in Berlin und Frankfurt am Main, Hans F. K. Günther („Rassengünther") in Jena; in Hessen und Hessen-Nassau - mit sechs zuständigen Gerichten, den „Amtern für Erb- und Rassenpflege" und den „Rassenpolitischen Amtern" der NSDAP - waren es unter anderem Wilhelm Stemmler, Heinrich Wilhelm Kranz und Siegfried Koller. In Anstalten wie Hadamar, in denen später die Euthanasie-Aktion praktiziert wurde, und anderen Anstalten, die dabei zuarbeiteten, ging dem Töten das Sterilisieren voraus.11 Seit 1939 ging die Zahl der Sterilisationen zurück, und es begann das planmäßige Töten von wirklich oder angeblich Unheilbaren. Rassenhygienische Forderungen zur Sterilisation „Minderwertiger", hatte es auch schon vor 1933 gegeben und auch seitens von Nicht-Nationalsozialisten. Aber stärker als jede andere politische Gruppierung war es der Nationalsozialismus, der jene Forderungen vertrat und vor allem realisierte, indem er sie zur staatlich-gesetz-

10 Vgl. etwa Fuchs, Gerhard, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus in Bremen, Hamburg 1988; Daum, Monika/ Deppe, Hans-Ulrich, Zwangssterilisation in Frankfurt am Main 1933-1945, Frankfurt am Main 1991; Rothmaler, Christiane, Sterilisationen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933. Eine Untersuchung zur Tätigkeit des Erbgesundheitsgerichtes und zur Durchführung des Gesetzes in Hamburg in der Zeit zwischen 1934 und 1944, Husum 1991; Faulstich, Heinz, Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie". Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg i.Br. 1993; Koch, Thomas, Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsklinik Göttingen, Frankfurt am Main 1994; Kaminsky, Uwe, Zwangssterilisation und „Euthanasie" im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933-1945, Köln 1995; Walter, Bernd, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfursorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996; Kramer, Sabine, „Ein ehrenhafter Verzicht auf Nachkommenschaft". Theoretische Grundlagen und Praxis der Zwangssterilisation im Dritten Reich am Beispiel der Rechtsprechung des Erbgesundheitsobergerichts Celle, Baden-Baden 1999; Link, Gunther, Eugenische Zwangssterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche im Nationalsozialismus, dargestellt am Beispiel der Universitätsfrauenklinik Freiburg, Frankfurt am Main 1999; Angerstorfer, Andreas/ Dengg, Annemarie, Sterilisationspolitik unterm Hakenkreuz. Zwangssterilisationen in Regensburg und in Oberpfalz/Niederbayern, Regensburg 1999; Marau, Björn, Steril und rasserein. Zwangssterilisation als Teil der nationalsozialistischen Rassenpolitik 1934 bis 1945. Der Kreis Steinburg als Beispiel, Frankfurt am Main u.a. 2003; Sandner, Peter, Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, Gießen 2003. 11 Vgl. Weber, Matthias M., Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Berlin u.a. 1993;Jasper, Hinrich, Maximinian de Crinis (1889-1945). Eine Studie zur Psychiatrie im Nationalsozialismus, Husum 1991; Rissom, Renate, Fritz Lenz und die Rassenhygiene, Husum 1983; Dickel, Horst, „Die sind ja doch alle unheilbar". Zwangssterilisation und Tötung der „Minderwertigen" im Rheingau, 1934-1945, Wiesbaden 1988, S.7 ff; Jakobi, Helga/ Chroust, Peter/ Hamann, Matthias, Aeskulap und Hakenkreuz. Zur Geschichte der medizinischen Fakultät in Gießen 1933-1945, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989, bes. S. 24-49; Hoser, Cornelia/ Weber-Diekmann, Birgit, Zwangssterilisation an Hadamarer Anstaltsinsassen, in: Roer, Dorothee/ Henkel, Dieter (Hg.), Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 19331945, Bonn 1986, S. 121-172; Richarz, Bernhard, Heilen, Pflegen, Töten. Zur Alltagsgeschichte einer Heil- und Pflegeanstalt [Eglfing-Haar] bis zum Ende des Nationalsozialismus, Göttingen 1987.

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liehen Politik machte. Das Sterilisationsgesetz war deshalb ein spezifisch nationalsozialistisches Gesetz und - wie Nationalsozialisten immer wieder betonten - Ausdruck der „nationalsozialistischen Grundauffassung", der „nationalsozialistischen Weltanschauung".12 Forderungen und Gesetze zur Sterilisation von „Minderwertigen" gab es zu jener Zeit auch in anderen Ländern, auch in demokratischen wie den USA und den skandinavischen Staaten (in England gab es zwar eine eugenische Bewegung, aber sie vermochte nicht, ein Sterilisationsgesetz zu bewirken); auch hier waren sie eine der mannigfachen Formen von Rassismus. Es gab sie aber nicht in den gleichzeitigen Diktaturen Europas, im faschistischen Italien und unter dem Franco- oder Salazar-Regime. Unterschied sich die nationalsozialistische Diktatur in dieser Hinsicht deutlich von den übrigen Diktaturen, so auch nicht weniger von der eugenischen Praxis in den demokratischen Ländern. Denn nur Deutschland kannte derart hohe Sterilisationsziffern (hier wurden 1933-45 vierzehnmal so viele Menschen sterilisiert wie in den USA mit ihrer doppelt so hohen Zahl von Einwohnern), nur hier wurde die Gesamtbevölkerung ins Visier genommen (und nicht etwa nur die Anstalten), nur hier wurde Zwang so konsequent angewandt, nirgendwo anders gab es eine derart umfassende und effiziente rassenhygienische Bürokratie, und nur hier wurde die Eugenik in die Theorie und Praxis einer zentralisierten und institutionalisierten Rassenpolitik integriert. Vor allem wurde nur in Deutschland der Sterilisationsrassismus zu einer Vorstufe von Mordpolitik und Genozid.13

2. Sterilisationspolitik als Rassenpolitik Die Sterilisationspolitik galt ihren Vertretern als eine „wahrhaft revolutionäre Maßnahme" (Hitler), als „Herzstück des Nationalsozialismus, des Rassegedankens", als das erste der „Gesetze über Blut und Boden"; seit 1933 - so jubelte man damals erhob der Nationalsozialismus „diese rassenhygienische Politik geradewegs zum Regierungsgrundsatz".14 Einer der Gesetzeskommentare betonte: „Die Tätigkeit

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Ruttke, Falk, Erb- und Rassenpflege in Gesetzgebung und Rechtsprechung des 3. Reiches, in: Juristische Wochenschrift 64 (1935), S. 1374; Frank, Hans, Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, München 1935, S. 815. 13 Vgl. Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, Kap. 1 und 2; Broberg, Gunnar/ Roll-Hansen, Nils (Hg.), Eugenics and the Welfare State: Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996; Runcis, Maija, Steriliseringar i folkhemmet, Stockholm 1998; Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung fur Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfürt am Main 1997; Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 112-116, 241-244. 14 Die Rede des Führers Adolf Hitler am 30. Januar 1934 im Deutschen Reichstag, Leipzig o.J., S. 35; Grunau, Martin, Ein Jahr Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Juristische Wochenschrift 64 (1935), S. 3; Siemens, Hermann Werner, Vererbungslehre, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik, Berlin 1934, S. 3.

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der ErbGesGer. in Deutschland bedeutet Verwirklichung der nationalsozialistischen Weltanschauung, denn der Nationalsozialismus ist angewandte Rassenkunde."15 „Wert", „Unwert" und „Minderwertigkeit" waren die wichtigsten Kategorien des nationalsozialistischen (wie auch jedes anderen) Rassismus, und die diskriminierende Behandlung von Menschen nach diesen Kategorien war der gemeinsame Nenner all seiner verschiedenen Formen. Das Sterilisationsgesetz realisierte, ähnlich wie die antijüdischen Gesetze seit 1933, die klassische rassistische Forderung, die in Deutschland speziell in der Propaganda flir die Sterilisation formuliert wurde: „Ungleicher Wert, ungleiche Rechte".16 Es schuf doppeltes Recht, Sonderrecht. Die Sterilisationspolitik war die erste der nationalsozialistischen Maßnahmen, die soziale Fragen mit „biologischen" Mitteln zu lösen suchte, und indem es solche „Lösungen" für Recht erklärte, legte es auch eine der Grundlagen für spätere und außerrechtliche Eingriffe in Leib und Leben, die mit dem Interesse von „Volk und Rasse" begründet wurden. Das Sterilisationsgesetz sah nicht vor, Juden, Roma, Schwarze und Angehörige anderer „fremder" Rassen zu sterilisieren. Dennoch war die Sterilisationspolitik und die Rassenhygiene insgesamt - eine Form und ein integraler Bestandteil des nationalsozialistischen Rassismus. Denn Rassismus bedeutet nicht nur Diskriminierung „fremder" Völker, sondern auch die „Aufartung" des eigenen Volks, wenn sie durch Diskriminierung von „Minderwertigen" in der eigenen ethnischen Gruppe angestrebt wird. Denn die gelobte „Rasse", das „Herrenvolk", war nicht gegeben, sondern sollte produziert werden. So schrieb ein maßgeblicher Jurist im Reichsinnenministerium: „Die deutsche Rassenfrage ist in erster Linie durch die Judenfrage umschrieben. In weitem Abstand hiervon, aber nicht minder wichtig, steht die Zigeunerfrage. (...) Zersetzende Einwirkungen auf den deutschen Volkskörper können nicht nur von außen her durch Fremdrassige erfolgen, sondern auch von innen her durch hemmungslose Vermehrung der minderwertigen Erbmasse".17 Ahnlich hatte es Hitler schon in den zwanziger Jahren formuliert: Zu der „Feststellung, daß Volk nicht gleich Volk" sei, gehöre auch die andere, dass „die einzelnen Menschen innerhalb einer Volksgemeinschaft" nach ihren „blutsmäßigen Bestandteilen" unterschiedlich zu „bewerten" seien, und zwar insbesondere hinsichtlich des Kinderhabens; Hitler empfahl die Sterilisation von „Millionen". Und Himmler pries 1936 das Sterilisationsgesetz: „Die deutschen Menschen (...) haben wieder gelernt, (...) Körper zu sehen und nun nach dem Wert oder Unwert diesen uns vom Herrgott gegebenen Leib und das uns vom Herrgott gegebene Blut und unsere Rasse heranzuziehen."18

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Ristow, 1935, wie Anm. 2, S. 111. Burkhardt, Hans, Der rassenhygienische Gedanke und seine Grundlagen, München 1930, S. 93. Feldscher, Werner, Rassen- und Erbpflege im deutschen Recht, Berlin u.a. 1943, S. 26, 118. Hitler, Adolf Mein Kampf, Bd. II, München 1927, S. 80 f.; Bd. I, 3. Aufl., München 1928, S. 270; Himmler, Heinrich, Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen, hg. v. Bradley F. Smith u. Agnes F. Peterson, Frankfurt am Main u.a. 1974, S. 54 f

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Die Rassenhygiene bzw. Eugenik war gleichsam der intra-rassische Teil des nationalsozialistischen Rassismus, als komplementäres Gegenstück zu seinem inter-rassischen Teil, der sich gegen Juden, Slawen, Roma und Schwarze richtete. Der eugenische Rassismus, ebenso wie der ethnische Rassismus, begründete den Wert von Menschen in menschlichen Beziehungen, die zu „Biologie" umdefiniert wurden: in „Erbe", „Abstammung" und „Fortpflanzung", in Herkommen und Nachkommen. Dementsprechend spielte die Geburtenpolitik eine zentrale Rolle für den Rassismus; in den Worten eines Historikers: „Die Zeugung gesunder Nachkommen wurde zu einer fixen Idee des Rassismus."19 Die fixe Idee verdeutlichte der Psychiater Ernst Rüdin, einer der wichtigsten Sterilisationsaktivisten von 1903 bis 1945, als er im Jahr 1935 anlässlich der Gründung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater einen neuen „kategorischen Imperativ" verkündete: „Zeuge für dein Volk solche Nachkommen, daß sie der ganzen Menschheit zum Vorbilde dienen können."20 Der Sterilisationspolitik lag die Annahme zugrunde, dass sich „Minderwertigkeit" genetisch vererbe (und weithin galt auch die Lehre, dass sich „Minderwertigkeit" stärker vererbe bzw. „durchschlage" als „Hochwertigkeit"). Deshalb wurde in den Sterilisationsprozessen die Erblichkeit eines Defekts nicht bewiesen, sondern schlicht vorausgesetzt, insbesondere bei den beiden wichtigsten Diagnosen „Schwachsinn" und „Schizophrenie", und es genügte die richterliche Konstatierung einschlägiger Defekte und Abweichungen von kulturellen Normen, um auch deren Erblichkeit für erwiesen zu halten. Entsprechend dem Ziel einer „allmählichen Reinigung des Volkskörpers" stammten die Menschen, die sterilisiert wurden, aus allen Schichten, proportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung; wie auch in der Gesamtbevölkerung stellten die ärmeren Schichten einen höheren Anteil an der Gesamtzahl der Sterilisierten, und auffällig ist bei ihnen - was den Familienstand betrifft -, dass sie durchschnittlich nicht etwa mehr Kinder hatten, als es in der Gesamtbevölkerung üblich war, sondern dass sie vorwiegend aus kinderreichen Familien stammten. Allerdings gelang es wohlhabenden Familien zuweilen, eine Sterilisation zu verhindern, z.B. dadurch, dass sie oder das zu sterilisierende Familienmitglied der Sterilisation einen kostspieligen und lebenslänglichen Aufenthalt in einer von der Umwelt streng abgeschirmten „geschlossenen Anstalt" vorzogen (eine Verordnung von 1933 machte das möglich). Auch solche Menschen fanden seit 1940 den Tod in der Euthanasie-Aktion.21 Aber es ging nicht nur um das „eigene" Volk. Die Sterilisationspolitik richtete sich gegen die eugenisch „Minderwertigen" jeglicher ethnischer Zugehörigkeit, also auch gegen Angehörige diskriminierter ethnischer Minderheiten. Hitler lehnte

19 Mosse, George L., Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main 1990, S. 95. 20 Rüdin, Ernst, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 37 (1935), S. 445. 21 Vgl. beispielsweise Fuchs, 1988, wie Anm. 10, S. 64 ff.; Daum/ Deppe, 1991, wie Anm. 10, S. 156-162; Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 71-74, 262-264,420-431.

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zwar eine Zeitlang die Sterilisation von Angehörigen nichtdeutscher Gruppen ab, weil sie es nicht verdienten, „aufgeartet" zu werden. Aber diese Einstellung war bald überwunden, und hinsichtlich der Geburtenverhinderung waren die „minderwertigen" Deutschen und die geistig oder seelisch behinderten Angehörigen anderer ethnischer Gruppen gleichgestellt. Überdies machte die ethnische Zugehörigkeit einen Unterschied. Die psychiatrische Theorie und Praxis hatte schon seit längerem postuliert, dass westliche Juden eher zu Schizophrenie neigten als Nichtjuden, Ostjuden mehr zu Schwachsinn, und zahlreiche Roma wurden unter der Diagnose Schwachsinn sterilisiert. Im Jahr 1937 sterilisierte man alle Afrodeutschen („Mischlinge"), deren man habhaft werden konnte. 1941 wurde eine jüdische Berlinerin wegen Schizophrenie sterilisiert, und ihre seelische Störung wurde damit belegt, dass sie Depressionen und Suizidneigung hatte - und das in eben dem Jahr, als die Deportationen nach Osten begannen. Am 19. März 1942, kurz nach der Wannseekonferenz, wurde die Sterilisation von Juden nach dem Gesetz von 1933 untersagt.22 Angesichts der nun angelaufenen Massenmorde an Juden war sie gleichsam überflüssig geworden.

3. Sterilisationspolitik als Geschlechterpolitik Frauen und Männer wurden im Sterilisationsgesetz nicht erwähnt; es schien geschlechterneutral zu sein und damit „minderwertige" Frauen und Männer gleich zu behandeln. Noch 1933 wurde allerdings unter Experten debattiert, ob es nicht ungerecht oder unklug sei, ebenso viele Frauen wie Männer zu sterilisieren. Denn die Operation von Frauen (Salpingektomie), die Vollnarkose und Leibschnitt erforderte, war ungleich dramatischer als die ambulante Vasektomie an Männern, und manche befürchteten, dass die höhere weibliche Komplikations- und Todesrate Widerstand hervorrufen könnte. Das Ergebnis der Debatte war jedoch der Beschluss, Frauen und Männer gleichermaßen zu sterilisieren, und tatsächlich waren die Sterilisationsopfer fast zur Hälfte Frauen. Gleichwohl machte die Geschlechtszugehörigkeit einen Unterschied, und die Sterilisationspolitik war keineswegs geschlechterneutral. Der Nationalsozialismus schaffte die Geburtenkontrolle nicht etwa ab, sondern verstaatlichte sie, und in bezug auf Frauen bedeutete der „Primat des Staates auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie" in mancherlei Hinsicht anderes als in bezug auf Männer. Das betraf insbesondere die entscheidenden Charakteristika der Sterilisation - den körperlichen Eingriff die Kinderlosigkeit und die Trennung zwischen Sexualität und Fortpflanzung -, des weiteren die psychiatrischen Selektionskriterien und Teile der Sterilisationspropaganda. 22

Vgl. Walk, Joseph (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 1996, S. 367; Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 352-360.

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Die zwangsweise Massensterilisation von Frauen bedeutete einen gewaltsamen Eingriff nicht nur in den weiblichen Körper, sondern auch in weibliches Leben. Tausende Menschen, vermutlich 5.000, starben infolge der Sterilisation, und rund 90 Prozent von ihnen waren Frauen. Die meisten von ihnen starben, weil sie sich bis hin auf den Operationstisch gegen die Sterilisation wehrten und sich auch nach der Operation gegen das Geschehene auflehnten. Manche Frauen nahmen sich das Leben. Die Sterilisationstoten erregten damals in der Bevölkerung Aufsehen und Empörung; die Sterilisationspolitiker suchten sie zu beschwichtigen. Zum einen forcierte Hitler selbst die „unblutige" Sterilisation von Frauen durch Röntgenstrahlen (dies wurde 1936 für Frauen im Alter von über 38 Jahren eingeführt); zum anderen reduzierte man die registrierte Anzahl der Toten dadurch, dass man aus der Statistik diejenigen Fälle ausschloss, die durch „eigene Schuld" oder durch zugestandene Schuld von Ärzten gestorben waren, und dass man einen Zusammenhang von Tod und Operation leugnete und die Todesursache beispielsweise in „Herzschwäche" oder „Fieberdelirium" fand. Nicht registriert wurden auch Todesfälle, bei denen nach medizinischer Auskunft „keine Todesursache" vorlag oder angenommen wurde, dass „der Tod auch ohne Operation eingetreten wäre". Auf der Grundlage solcher Argumentation und partiellen Registration wurde damals in der Regierungs- und Fachpresse immerhin ein Todesrisiko von einem halben Prozent für Frauen (also rund 1.000 weibliche Tote) zugegeben.23 Kinderlosigkeit bedeutet anderes für Frauen als für Männer, ebenso wie Mutterschaft und Vaterschaft. Deshalb unterschieden sich auch die Reaktionen und Widerstandsformen von Frauen und Männern gegenüber der Sterilisation in mancherlei Hinsicht. Während sie gleichermaßen gegen den Zwangseingriff protestierten - in Tausenden von erhaltenen Briefen an die Sterilisationsgerichte -, klagten Frauen über die bevorstehende Kinderlosigkeit weitaus häufiger als Männer, und zwar vor allem junge Frauen. Manche versuchten, noch vor der Operation schwanger zu werden, und dieser Widerstand war immerhin so bedeutend, dass der Begriff „Trotzschwangerschaften" kursierte. So betonte ein Mädchen, sie sei schwanger geworden, „um dem Staat zu zeigen, ich mache das nicht mit". Die „Trotzschwangerschaften" waren ein wichtiger Grund dafür, dass im Juni 1935 das Sterilisationsgesetz zu einem Abtreibungsgesetz erweitert wurde: Jetzt konnte aus eugenischen Gründen auch abgetrieben werden (außerdem wurde nun erstmals die medizinische Indikation zur Abtreibung gesetzlich eingeführt, nämlich ins Sterilisationsgesetz). Wurde aus eugenischen Gründen abgetrieben - das waren insgesamt rund 30.000 Fälle -, so wurde außerdem zwangsweise sterilisiert.24 Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung bedeutete Unterschiedliches für Frauen und Männer. Zehntausende von Frauen, die - wie eine von ihnen versicherte - „von Männern nichts wissen" wollten und keinen Geschlechtsverkehr hat23 Vgl. Daum/ Deppe, 1991, wie Anm. 10, S. 127-130; Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 372-380. 24 Vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 96-100, 384-386.

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ten, wurden deswegen sterilisiert, weil man mit Vergewaltigung rechnen müsse das jedenfalls war die Meinung der zeitgenössischen Sterilisationsjuristen und mediziner. Deshalb betonte der Gesetzeskommentar, dass „eine unterschiedliche Beurteilung der Fortpflanzungsgefahr bei Männern und Frauen nötig" sei, dass „weibliche Schwachsinnige besonders fortpflanzungsgefährlich" seien, und regelmäßig hieß es in den Sterilisationsurteilen, bald auch aufgrund eines Erlasses des Reichsjustizministeriums vom 22. August 1936: „Bei weiblichen Erbkranken ist zudem mit Mißbrauch gegen ihren Willen zu rechnen."25 Das Problem der Vergewaltigung „minderwertiger" Frauen wurde somit auf die Gefahr der Schwängerung reduziert, und oft wurde die Zwangssterilisation von Frauen als ein Mittel propagiert, diese Vergewaltigungsfolge zu verhindern. Auch wurden aus demselben Grund viele sterilisierte Frauen, nicht aber Männer, in Anstalten verwahrt (außerdem wegen der Annahme, dass sie der Prostitution nachgehen könnten). Tatsächlich wurden sterilisierte Frauen nicht selten Objekte sexuellen Missbrauchs, sowohl auf dem Land, wo sich eine Sterilisation besonders schnell herumsprach, als auch in der Stadt. Für die psychiatrische Diagnose, vor allem im Fall von „Schwachsinn", wo eine Intelligenzprüfung vorgenommen wurde (das geschah aber oft auch bei „Schizophrenie"), benutzte man unterschiedliche Kriterien für die beiden Geschlechter. Diejenigen für Frauen maßen ihre Abweichung vom „Normalen" an geltenden Normen für das weibliche Geschlecht, diejenigen für Männer legten Normen für das männliche Geschlecht zugrunde. Um weibliche Minderwertigkeit zu bestimmen, wurde regelmäßig das Sexualverhalten erforscht und besonders negativ dann beurteilt, wenn irregulärer Geschlechtsverkehr vorlag oder vermutet wurde; dies geschah besonders bei unverheirateten Müttern und vor allem in den Fällen, wo der Kindsvater unbekannt war. An Männern fanden solche Untersuchungen nur sehr selten statt, und ihr Ergebnis hatte kein Gewicht für das Sterilisationsurteil. Frauen wurden nach ihrer Fähigkeit oder Neigung zu häuslicher Arbeit beurteilt, zu Kindererziehung - auch im Fall kinderloser Frauen - und nach ihrer Fähigkeit zu Erwerbsarbeit; vor allem bei bloß „mechanischer Arbeit" und bei mangelnder „Lebensbewährung" wurde sterilisiert. Männer wurden nur nach ihrem Erwerbsverhalten beurteilt, allerdings mit einem Kriterium, das bei Frauen keine Rolle spielte: neben der „Lebensbewährung" ging es um ihre Fähigkeit zu „sozialem Aufstieg". Bei all diesen Untersuchungen handelte es sich also nicht um genetische Diagnosen, sondern um kulturelle: Denn die Geschlechter sind kulturelle Größen (wie auch „Rassen" oder ethnische Gruppen). Diese kulturell bestimmten Diagnosen zusammen mit der Regel, dass Frauen auch dann sterilisiert werden mussten, wenn sie keinen Geschlechtsverkehr hatten - waren der Grund dafür, dass mehr Frauen als Männer wegen Schwachsinns sterilisiert wurden (bei Schizophrenie war das

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Gütt/ Rüdin/ Ruttke, 1936, wie Anm. 2, S. 121, 129; vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 209-230, 3 8 9 ^ 0 1 .

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Verhältnis ausgeglichen, bei Epilepsie überwogen Männer, und weit mehr noch bei Alkoholismus).26 Das Beispiel von Margarete F., einem polnisch-jüdischen Dienstmädchen in einem Berliner jüdischen Krankenhaus, zeigt die Verschränkung von ethnischer, eugenischer und geschlechtsbestimmter Diagnostizierung von „Minderwertigkeit". Im Jahr 1939 stand sie wegen Schwachsinns vor dem Sterilisationsgericht und wurde von Dr. Ilse „Sara" A., einer deutsch-jüdischen Arztin, energisch verteidigt („Sara" bzw. „Israel" mussten sich alle deutschen Juden seit 1938 nennen). Im Antrag betonte der Amtsarzt, sie arbeite „nur mechanisch" und sei „unfähig zu selbständiger Arbeit". Als sie vor Gericht ausführlich über ihre häusliche Arbeit vernommen wurde, musste sie diese Diagnose bestätigen; laut Protokoll sagte sie: „Ich stehe um 6 Uhr auf, dann hat jeder seinen Dienst, Wäsche legen und auch mal an die Heißmangel, dann legt man sich eine Stunde hin, dann müssen wir wieder arbeiten, wieder Wäsche legen, auch mal Mäntel für die Ärzte bringen, um 6 Uhr ist die Arbeit vorbei." Die Richter fragten, wie sie die Fenster des Gerichtssaals putzen und wie lange sie dafür brauchen würde, und auch hier war das Ergebnis: „mechanische Arbeit". Was sie mit ihrer Freizeit mache? „Ach die Zeit vergeht schon." Ilse „Sara" A. wies daraufhin, dass Margarete ihren Lebensunterhalt mit 30 bis 40 Mark pro Monat selbst verdiene und „daß die meisten Menschen ihr ganzes Leben lang hauptsächlich mechanische Arbeit verrichten." Dies galt offensichtlich auch für die Richter, als sie die Sterilisation beschlossen, und für das Zusatzgutachten des Chefs der Erbpathologischen Abteilung der Berliner Charité, der aufgrund von unbeantwortet gebliebenen Fragen nach dem „biologischen Sinn von Blüten" und den Hauptstädten Westeuropas die Sterilisation für dringlich erklärte. In der Begründung vermerkte das Gericht, was schon der amtsärztliche Antrag festgehalten hatte: Sie verwechsle „mir" und „mich" (was in Berlin bekanntlich öfter vorkommt) und spreche galizischen Dialekt. Als Jüdin war sie an ihrer Sprache zu erkennen, als „Schwachsinnige" hatte sie nur mechanische Arbeit zu bieten, als Frau versagte sie in der Hausarbeit, jedenfalls nach Meinung der Herren des Gerichts.27 Die Sterilisationspolitik wurde keineswegs geheim betrieben, sondern war begleitet von breiter und plakativer Propaganda; auch wurde sie ausführlich in der juristischen, medizinischen, psychiatrischen und erbtheoretischen Fachpresse besprochen. Goebbels" Propagandaministerium wies entschieden die verbreitete Annahme zurück, dass „der Staat Kinder um jeden Preis" wolle: „Die Parole lautet also nicht: .Kinder um jeden Preis', sondern: ,eine möglichst große Kinderschar aus der erbgesunden deutschen Familie'." Ebenso entschieden wies man den biblischen Spruch „Wachset und mehret euch" zurück. Je nach Radikalität des jeweiligen Vertreters der Rassenpropaganda galten zehn bis dreißig Prozent der Deutschen als 26 27

Vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 401-423. Landesarchiv Berlin A Rep. 356, Nr. 43 878; vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 357 f

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„fortpflanzungsunwürdig" und zehn bis dreißig Prozent als „fortpflanzungswürdig"; nicht nur Fritz Lenz, Professor für Erblehre in Berlin, meinte 1934: „So wie die Dinge liegen, ist nur noch eine Minderheit von Volksgenossen so beschaffen, daß ihre unbeschränkte Fortpflanzung wertvoll für die Rasse ist."28 Oft richtete sich die Propaganda speziell an das weibliche Geschlecht, weil dessen Mehrheit offenbar der antinatalistischen Politik wenig Verständnis entgegenbrachte. Broschüren in Millionenauflage erklärten, dass nicht Kinderkriegen, sondern „Aufartung das Ziel des Staates" sei und dass Frauen sich selbst oder ihre Kinder zur Sterilisation melden sollten, wenn etwas mit ihnen nicht in Ordnung sei. „Mütterlichkeit" galt als „Humanitätsduselei" und wurde zum Objekt rassistischer Polemik, ebenso wie christliche Caritas und Marxismus. Agnes Bluhm, eine Rassenhygienikerin der ersten Stunde, schrieb in einer Frauenzeitschrift für die Sterilisation und gegen die „Gefahr, die der Frau gerade aus ihrer Mütterlichkeit erwächst", da sie „wie jeder Egoismus rassefeindlich wirkt"; besonders bedrohlich erschien ihr der weibliche „eingeborene Trieb zur Pflege alles Hilfsbedürftigen". Eine andere Frauenzeitschrift, die fürs Sterilisieren warb, meinte, dass „die Frau durch ihre körperliche und seelische Eigenart allem Lebendigen besonders nahe steht und zu allem Lebendigen eine besondere Hinneigung hat", und betonte, dass es „kaum eine schlimmere Sünde gegen die Natur" gebe. Auf den Einwand, dass mit der Sterilisationspolitik „der nationalsozialistische Staat gegen die Gesetze der Natur" verstoße, wurde geantwortet: „Das deutsche Volk hat bis zur Herrschaft des Nationalsozialismus (...) die Naturgesetze mißachtet (...). Es hatte nicht nur die Gesetze der Vererbung, der Auslese, der Ausmerze mißachtet, sondern es hatte sich direkt gegen sie aufgelehnt, nicht nur alles Lebensuntüchtige auf Kosten des Gesunden wahllos erhalten, sondern auch noch seine Fortpflanzung sichergestellt (...). Jede erbkranke deutsche Frau wird, wenn ihr dieses klar geworden ist, diese Operation auf sich nehmen, um ihr ganzes Volk gesund zu erhalten. .Versündigt sie sich nicht gerade damit gegen das Leben?' (...) Was heißt denn Leben? Gehen Sie doch einmal in eine Irrenanstalt Der Massenmord an den Bewohnern psychiatrischer Anstalten, der 1939 in Gang gesetzt wurde, knüpfte in mancherlei Hinsicht an die Sterilisationspolitik an, obwohl zwischen den beiden keine ungebrochene Kontinuität bestand. Wenngleich bei weitem nicht alle Befürworter der Sterilisationspolitik auch den Mord an 28

29

Fritz Lenz am 25. 8. 1934 im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, in: Bundesarchiv Berlin: R 1501/126229; vgl. ders., Zur Sterilisierungsfrage, in: Klinische Wochenschrift 13 (1934), S. 294 f ; zu ähnlichen öffentlichen wie nichtöffentlichen Stimmen dieser Art: vgl. Bock, 1986, wie Anm. 3, z.B. S. 112, 122-124, 203 f.; vgl. auch Makowski, Christine Charlotte, Eugenik, Sterilisationspolitik, „Euthanasie" und Bevölkerungspolitik in der nationalsozialistischen Parteipresse, Husum 1996. Barsewisch, 1933, wie Anm. 5, S. 14; Bluhm, Agnes, Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Die Frau 41 (1934), S. 529-538; Haarer, Johanna, Die rassenpolitischen Aufgaben des Deutschen Frauenwerks, in: Neues Volk 6 / 4 (1938), S. 17-19; Ebert, Anna, Das Sterilisationsgesetz und seine Auswirkung auf die Frau, in: Völkischer Beobachter, 31.1.1934; Heß, Marta, Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: N.S.-Frauenwarte 4 / 2 (1935), S. 33-36.

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psychisch Kranken billigten, setzten doch gerade sie ihm keinerlei Widerstand entgegen; umgekehrt waren die Mörder auch aktive Befürworter und Praktiker der Geburtenverhinderung gewesen. Der seit 1933 hunderttausendfach geübte zwangsweise Eingriff in den Leib senkte die Hemmschwelle gegenüber den Eingriffen ins Leben, die seit Kriegsbeginn im Zentrum der Rassenpolitik standen. Der Antinatalismus war eine Vorstufe der Mordpolitik vor allem in deren erster Phase, der Tötung kranker Kinder unter drei Jahren: also solcher Kinder, deren Geburt mit den Mitteln der vorausgegangenen Sterilisations- und Abtreibungspolitik nicht hatte verhindert werden können. An demselben Tag, als eine heftig debattierte Änderung des Sterilisationsgesetzes zu den Akten gelegt wurde (sie sollte zur Mäßigung des Sterilisationseifers beitragen), am 18. August 1939, erging vom Reichsinnenministerium auch ein geheimer Erlass, demzufolge - unter Berufung auf die Anzeigepflicht des Sterilisationsgesetzes - Arzte und Hebammen den Amtsärzten alle Kinder zu melden hatten, die bestimmter Leiden „verdächtig" waren. Die Amtsärzte hatten die Meldungen an den „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" weiterzugeben, der die Tötungen besorgte. Rund 5.000 Kinder fielen ihm zum Opfer.30 Auch in den Jahren der Massenmorde an den Juden und anderen ethnisch „Minderwertigen" spielten der Antinatalismus und die Sonderbehandlung von Frauen eine bedeutende Rolle. Seit 1941 suchte Himmler nach neuen Sterilisationsmethoden, die effizienter sein sollten als die alten und außerdem auf weniger Widerstand stoßen sollten; sie wurden an Gefangenen in Konzentrationslagern erprobt. Der erste Versuch, auf der Basis von Medikamenten, brachte keine brauchbaren Ergebnisse. Der zweite basierte auf Röntgenstrahlen; sie wurden an Hunderten von Männern und Frauen erprobt, die dabei unsäglich litten, und schließlich 1944 aufgegeben, weil das Mittel sich als unpraktikabel für den geplanten Zweck erwies. Die realistischsten Experimente waren solche, die ausschließlich an Frauen durchgeführt wurden, und zwar bis April 1945. Das Verfahren, das auf vaginaler Injektion in den Uterus beruhte, wurde von dem Rassenhygieniker und Arzt Carl Clauberg entwickelt, der seit 1934 und innerhalb des Gesetzes speziell Frauen sterilisiert hatte und schon länger nach einer Methode suchte, Frauen „unblutig" zu sterilisieren, also ohne Operationen, Komplikationen, Tod. Im Auftrag Himmlers experimentierte er an Hunderten von Frauen in Auschwitz und Ravensbrück; es waren die „minderwertigsten" von allen: Jüdinnen und Roma-Frauen. Viele Dokumente berichten von ihrem Leiden. Im Jahr 1943 war Claubergs Methode schließlich so weit, dass er meinte, mit einem Team von zehn Männern bis zu 1.000 Frauen pro Tag sterilisieren zu können. Seine Methode sollte einerseits die Sterilisation von

30

Vgl. Topp, Sascha, Der „Reichsauschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter Leiden": Zur Organisation der Ermordung mindeijähriger Kranker im Nationalsozialismus 1939-1945, in: Beddies, Thomas/ Hübener, Kristina (Hg.), Kinder in der NS-Psychiatrie, Berlin 2004, S. 17-54; Friedlander, 1997, wie Anm. 13, Kap. 3.

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Frauen unter denjenigen Judenmischlingen", die vom Morden ausgenommen waren, ermöglichen, andererseits die Massensterilisation von eugenisch „minderwertigen" Frauen. Man hoffte, Frauen „bei der üblichen, jedem Arzt bekannten gynäkologischen Untersuchung" sterilisieren zu können.31 In dieser Hinsicht wurden die Frauen-Konzentrationslager gleichsam zu Zeugungsstätten einer erneuerten Politik der Geburtenverhinderung. Eine Minderheit von Frauen unerwünschter ethnischer Minderheiten wurde zum Modell für das Schicksal, das nach einem „Endsieg" Hunderttausenden von jüdischen, zigeunerischen, slawischen und von nichtjüdischen, nichtzigeunerischen, nichtslawischen Frauen zugedacht war.

31

Mitscherlich, Alexander/ Mielke, Fred, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankflirt am Main 1978, S. 246; vgl. Hilberg, Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin 1982, S. 636-640; Bock, 1986, wie Anm. 3, S. 452^156.

Hans-Walter Schmuhl

Die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus und der „Reichsgesundheitsfuhrer" Leonardo Conti

„Der Staat im nationalsozialistischen Sinne ist nicht Selbstzweck". So beginnt ein Typoskript aus dem Nachlass von Dr. Leonardo Conti (1900-1945), der seit 1939 als „Reichsgesundheitsfuhrer" an der Spitze der staatlichen wie auch der parteiamtlichen Gesundheitsführung stand. Der Staat habe flir den Nationalsozialismus, so Conti weiter, „nur Sinn als die Organisationsform des deutschen Volkes. Sinn und Zweck gibt ihm erst der lebendige Volkskörper, den zu schirmen er berufen ist. Von innen betrachtet, kann er als das Knochengerüst des lebendigen Volkes bezeichnet werden, von außen als seine Wehr." Der Nationalsozialismus habe den Begriff des Volkes „vertieft". „Das Volk ist nicht die Summe der Staatsbürger des Landes, (...) sondern (...) die rassische und damit im Zusammenhang stehende kulturelle, geistige und seelische Gemeinschaft, deren äußerer Ausdruck erst die staatliche Verbundenheit ist." Doch auch diese Begriffsbestimmung, so schränkte Conti ein, sei noch zu eng gefasst, „da sie nur die heutige, gegenwärtige Generation" bezeichne. Der Begriff „Volk" umfasse aber auch die dahingegangenen und vor allem die kommenden Generationen. Daraus leitete Conti als Aufgabe des Staates ab, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sich das Volk „von Generation zu Generation kraftvoller und schöner erneuern" könne. Diese Staatsaufgabe zerfalle in zwei Gebiete, die „Erbgesundheitspflege" und die „Anlageförderung". Die eine forme das „Erbbild", die andere das „Erscheinungsbild des Volksgenossen".1 Die Konzeption nationalsozialistischer Gesundheitspolitik, die Leonardo Conti hier entwarf war alles andere als originell. Leicht erkennt man die Versatzstücke: einen bioorganischen VolksbegrifF, die Unterscheidung von Genotypus und Phänotypus und den genetischen Determinismus, wie er mit August Weismanns (18341914) Keimplasmatheorie in die menschliche Vererbungslehre Eingang gefunden hatte, vor allem aber das Gedankengerüst der Eugenik, jener „neuen Lehre von allen Einflüssen, denen es möglich sei, die angeborenen Eigenschaften einer Rasse zu verbessern und zu höchster Vollkommenheit zu entwickeln"2 - so die klassische 1 2

Conti, Leonardo, Körperliche Erziehung als biologische Aufgabe des Staates, Nachlass (= NL) Conti, Privatbesitz, demnächst im Bundesarchiv. Zit. n. Mann, Gunther, Neue Wissenschaft im Rezeptionsbereich des Darwinismus: Eugenik - Rassenhygiene, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 1 (1978), S. 101-111, hier S. 105.

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Definition der national eugenics durch ihren Schöpfer Francis Galton (1822-1911). Die Eugenik und ihr deutsches Gegenstück, die Rassenhygiene, die sich seit den 1890er Jahren herausgeformt hatte, verstanden sich von Anfang an als angewandte Wissenschaft, genauer: als eine angewandte Sozialwissenschaft auf naturwissenschaftlicher Basis, als social engineering. Von ihrem Selbstverständnis her überschritt die Eugenik von Anfang an die Grenze der Grundlagenforschung und strebte danach, auf dem Wege wissenschaftlicher Politikberatung Einfluss auf die Bevölkerungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik zu nehmen. Eugenik wollte Erbgesundheitslehre und Erbgesundheitspflege in einem sein. Erbgesundheitspflege ist ein Quellenbegriff, Erbgesundheitspolitik hingegen ein analytischer Begriff, der die neue Qualität eugenisch motivierten Herrschaftshandelns im Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen soll. Elemente der eugenischen Programmatik - vor allem Gesetze zur Sterilisierung aus eugenischer Indikation - waren schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in vielen Staaten der Welt in die politische Praxis umgesetzt worden - von Mexiko bis Japan, von Kanada bis Brasilien, von Dänemark bis in die Schweiz. Die Vereinigten Staaten hatten bis 1933 die Schrittmacherrolle inne, in Deutschland stand die Eugenik gegen Ende der Weimarer Republik vor dem politischen Durchbruch. In keinem politischen System jedoch war eugenischen Postulaten und Programmen jemals eine derart hohe Priorität eingeräumt worden wie ab 1933 im nationalsozialistischen Deutschland.

1. Der Nationalsozialismus als biopolitische Entwicklungsdiktatur Man kann den Nationalsozialismus mit guten Gründen als eine biopolitische Entwicklungsdiktatur auffassen, die darauf abzielte, die Kontrolle über Geburt und Tod, Sexualität und Fortpflanzung, Körper und Keimbahn, Variabilität und Evolution an sich zu bringen, den Genpool der Bevölkerung von allen unerwünschten „Beimischungen" zu „reinigen" und auf diese Weise einen homogenen „Volkskörper" zu schaffen. Diese biopolitische Entwicklungsdiktatur ruhte auf zwei Säulen: der Erbgesundheitspolitik und der Rassenpolitik - tatsächlich waren diese beiden Politikstränge, die hier zu analytischen Zwecken unterschieden werden, eng miteinander verflochten. Erbgesundheits- und Rassenpolitik waren nicht nur eigenständige Politikfelder - das waren sie auch -, sondern stellten darüber hinaus ein leitendes Prinzip dar, das auf allen anderen Politikfeldern, in der Gesundheits-, Bevölkerungs-, Sozial-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Finanz- und Kulturpolitik zum Tragen kommen sollte. Zwar gelang die Durchdringung aller Politikfelder letztlich nur in Ansätzen - aber dennoch: So konsequent war darin noch kein politisches System zu Werke gegangen. Singulär war die privilegierte Position der Biowissenschaften in der nationalsozialistischen Erbgesundheits- und Rassenpolitik. Den eugenisch orientierten For-

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Schern aus dem Bereich der Biowissenschaften schwebte - nicht erst seit 1933 - ein technokratisches Modell der Politikberatung vor, bei dem „wissenschaftlicher Sachverstand" Politik in lauter „Sachzwänge" auflöst, das politische Entscheidungsprozesse zur „rationalen" Lösung von „Sachfragen" gerinnen lässt und in letzter Konsequenz Wissenschaft und Technik an die Stelle der Politik setzt.3 Der Wirklichkeit der Weimarer Republik entsprach dieses Modell nicht. Obwohl die Bedeutung der wissenschaftlichen Politikberatung gerade im Bereich der Biowissenschaften im Weimarer Wohlfahrtsstaat tendenziell zunahm, blieb die Wirklichkeit doch weit hinter dem Ideal einer „Szientokratie" zurück, das die Eugeniker kultivierten. 1933 stellten Eugeniker, Genetiker, Mediziner, Hirnforscher, Psychiater, Psychologen, Kriminalbiologen und Anthropologen ihr Expertenwissen bereitwillig in den Dienst des neuen Regimes, das umgekehrt - in höherem Maße als die Regierungen der Weimarer Republik - bereit war, politische Entscheidungsprozesse auf wissenschaftliche Expertise zu gründen. Was hier geschah, kann man als wechselseitige Instrumentalisierung von Wissenschaft und Politik am treffendsten beschreiben.4 Eine „Szientokratie" war auch das „Dritte Reich" nicht - dennoch sei die These gewagt: In keinem anderen politischen System war der Weg zur Macht für die Biowissenschaften so kurz wie im Nationalsozialismus. Eine besondere Bedeutung kam in diesem Geflecht aus Wissenschaft und Politik der massenwirksamen Vermittlung von Wissensbeständen der Biowissenschaften zu - durch Ausstellungen, Museen, Lehrmittel, Publikationen, Filme. Die Durchsetzung biopolitischer Maßnahmen durfte sich - das war der nationalsozialistischen Führung von vornherein klar - nicht allein auf die Machtmittel des Staates und der Bewegung stützen. Es galt auch, die Bevölkerung von der Notwendigkeit der Erbgesundheits- und Rassenpolitik zu überzeugen. Aber auch die klassischen Themenfelder der „Hygienischen Volksbelehrung" aus der Zeit der Weimarer Republik von der Vorbeugung und Bekämpfung von „Volkskrankheiten" bis zur Arbeits- und Gewerbehygiene - blieben, unter dem Dach der Biopolitik, auf der politischen Agenda. Erbgesundheits- und Rassenpolitik wurden als Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen, nach dem Erbwert geschichteten Gesellschaft gesehen, an deren Spitze eine sozial tendenziell egalitäre, biologisch homogene „Volksgemeinschaft" stehen sollte, in der die überkommenen Klassen-, Schichten- und Milieugrenzen überwunden werden sollten. Auch wenn viele Initiativen sich in Propagandagetöse erschöpften, die überkommenen Formen sozialer Ungleichheit sich als äußerst zählebig erwiesen: Es gab im „Dritten Reich" durchaus Ansätze zu einer fortschrittlichen und zukunftsweisenden Gesundheits- und Sozialpolitik - von der gesetzlichen 3 4

Vgl. Lompe, Klaus, Wissenschaftliche Beratung der Politik. Ein Beitrag zur Theorie anwendender Sozialwissenschaften, Göttingen 1966. Vgl. Ash, Mitchell G., Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Bruch, Rüdiger v o m / Kaderas, Brigitte (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32-49.

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Urlaubsregelung über den Mutterschutz bis zu den innerbetrieblichen Sozialeinrichtungen. Auch in der Gesundheitspolitik wurden energische Anstrengungen unternommen: von der Ausweitung des Betriebsärztesystems über die gesetzliche Regelung der Krankenpflegeausbildung bis zu den Röntgenreihenuntersuchungen zur Tuberkulosebekämpfung oder den Aufklärungskampagnen gegen Nikotin und Alkohol. Die Teilhabe an den Errungenschaften nationalsozialistischer Sozial- und Gesundheitspolitik stand jedoch a priori unter einem „Rassenvorbehalt". Von der gesellschaftlichen Entwicklung waren von vornherein alle Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen, die im Sinne der Erbgesundheits- und Rassenpolitik zum biologischen Bodensatz gehörten. Fortschritt war daher mit Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung eng verschränkt. Die Exklusionsmechanismen der Erbgesundheitsund Rassenpolitik griffen mit mörderischer Präzision: Tausende, Hunderttausende, schließlich gar Millionen von Menschen wurden als Juden, Sinti und Roma, psychisch Kranke und geistig Behinderte, „Gemeinschaftsfremde" und „Fremdvölkische" aus der „Volksgemeinschaft" und dem „halbierten Rechtsstaat" des „Dritten Reiches" ausgeschlossen. Bezugspunkt der Erbgesundheits- und Rassenpolitik war das Kollektivsubjekt „Volk", das man bioorganisch auffasste - anders ausgedrückt: Man stellte sich den „Volkskörper" im Wortsinn als lebendiges Wesen höherer Ordnung vor - ein Wesen, das „erkranken", „entarten", „altern", „vergreisen", schließlich „sterben" konnte, das aber auch „gesunden" und sich „veijüngen", das man „heilen", „reinigen", „aufarten" konnte. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass alle diese Formulierungen in den Quellen zur NS-Erbgesundheitspolitik nicht als Metaphern gemeint sind. Tatsächlich stellte man sich das „Volk" oder die „Rasse" im Sinne dieser organischen Betrachtungsweise als das eigentlich Reale vor, während man den einzelnen Menschen als Abstraktion auffasste. Der Verabsolutierung des Kollektivsubjekts entsprach eine Relativierung der Existenz des Individuums. Hier deutet sich bereits an: Die nationalsozialistische Erbgesundheits- und Rassenpolitik war in einen Begründungszusammenhang eingeordnet, der rigorose Eingriffe in grundlegende Menschen- und Bürgerrechte, in das Recht auf Freizügigkeit und Selbstbestimmung, ja sogar in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gerechtfertigt erscheinen ließ. Der Spannungsbogen zwischen apokalyptischen und eschatologischen Elementen in der biopolitischen Gesellschaftsdiagnose und -prognose, also zwischen dem Schreckbild einer rasend schnell voranschreitenden Degeneration des Genpools, die binnen weniger Generationen zum „Volkstod" fuhren müsste, und dem Traum von der Züchtung eines „Neuen Menschen" durch die wissenschaftliche Steuerung von Selektion und Evolution, erwies sich als extrem radikalisierendes Moment. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch, dass „Erbgesundheit" ein dynamischer Begriff war, der immer weiter gefasst werden konnte und gefasst wurde.

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2. Leonardo Conti - Lebensweg eines „Gesundheitsfiihrers" Kaum eine andere politische Biographie ist in so hohem Maße geeignet, die Abgründigkeit moderner Biopolitik zu veranschaulichen, wie die des „Reichsgesundheitsflihrers".5 Leonardo Ambrosio Giorgio Giovanni Conti wurde am 24. August 1900 als Sohn des Postdirektors Silvio Conti und seiner Ehefrau Nanna (1881-1949), geb. Pauli, in Lugano/Schweiz geboren. Nach der Trennung von ihrem Mann kehrte Nanna Conti nach Deutschland zurück und ergriff den Beruf der Hebamme. Leonardo Conti kam mit seiner Mutter nach Berlin - 1915 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft - und besuchte das Mommsen-Gymnasium in Berlin-West sowie das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Berlin-Zentrum. Kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde er zum Militärdienst eingezogen, den er in Küstrin ableistete. Während der Novemberrevolution trat er auf einer Soldatenversammlung in Küstrin gegen revolutionäre Agitatoren auf. An der Niederschlagung des Spartakusaufstands in Berlin war er im Überwachungsdienst der Garde-Kavallerie-Schützen-Division beteiligt. Im Auftrag einer nationalen Studentengruppe spionierte Conti inkognito den Spartakusbund, die KPD, die Freie Jugend und den Internationalen Bund der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen aus. Im Dezember 1918 war er Mitbegründer und Schriftführer des antisemitischen „Deutschen Volksbundes". Von 1919 bis 1923 studierte er Medizin in Berlin und Erlangen. Die ärztliche Prüfung legte er im Februar 1921 in Berlin ab, das medizinische Staatsexamen im November 1923 in Erlangen. 1924 wurde Conti in Berlin zum Doktor der Medizin promoviert. Die Approbation erfolgte 1925 in München. Auch während seines Studiums trat er als Exponent der äußersten Rechten hervor. So trat er 1919 öffentlich als Diskussionsredner gegen Karl Liebknecht (1871-1919) in der Hasenheide auf. Während des Kapp-Putsches im März 1920 schloss er sich der Technischen Nothilfe an, die den Generalstreik gegen die Putschisten zu unterlaufen versuchte. Conti war Vorsitzender der „Deutschen Finkenschaft", eines Zusammenschlusses aller nicht inkorporierten völkisch-nationalen Studenten. Im Sommer 1920 gehörte er zu dem studentischen Mob, der die Vertreibung des „jüdischen Deserteurs" Georg Friedrich Nicolai (1874-1964), Professor für Physiologie, von der Berliner Universität erzwang - was ihm ein Verfahren wegen Hausfriedensbruch einbrachte, das mit einem Verweis endete.

5

Der folgende biographische Abriss folgt dem Beschluss der Spruchkammer Berlin vom 22.12.1958 und dem Schreiben Elfriede Contis an die Spruchkammer Berlin vom 12.06.1958, NL Conti, sowie Labisch, Alfons/ Tennstedt, Florian, Der Weg zum „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, Bd. 2, Düsseldorf 1985, S. 393-395. Dazu auch: Kater, Michael H., Doctor Leonardo Conti and his Nemesis: The Failure of Centralized Medicine in the Third Reich, in: Central European History 18 (1985), S. 299-325.

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1919 trat er der neu gegründeten Deutschnationalen Volkspartei bei, die er aber schon 1922 „mit dem völkischen Flügel wegen Nichtanerkennung unserer Forderungen in der Judenfrage"6 wieder verließ, um sich 1923 der Deutschvölkischen Freiheitspartei anzuschließen.7 Von Sommer bis Herbst 1923 schloss sich Conti in Erlangen vorübergehend der SA an. Von 1924 bis 1926 war er Ortsgruppenfiihrer der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung bzw. der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung. 1925 war Conti Volontärarzt an mehreren Berliner Kinderkrankenhäusern. Eine Anstellung als Assistenzarzt an einem städtischen Krankenhaus wurde ihm vom Berliner Magistrat wegen seiner völkischen Gesinnung verweigert. So ließ er sich im April 1925 als praktischer und Kinderarzt in Berlin nieder. Contis biopolitisches Credo geht aus einem Artikel mit dem Titel „Rettung durch bewusste Rassenpflege" hervor, den er 1926 in den „Deutschen Nachrichten" veröffentlichte und der von der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung auch als Flugblatt verteilt wurde: „In der Rechtsprechung sollte (...) auch der Gedanke der Ausmerzung absolut Minderwertiger durch die Strafbemessung und die Art der Strafe (Todesstrafe) maßgebend sein. Auch die zwangsweise Unfruchtbarmachung sollte als rassenhygienische Maßnahme gesetzlich möglich sein. Die Tötung von idiotischen Kindern ist heute nicht gestattet, obgleich namhafte Rechtsgelehrte und Arzte ein Gesetz zur Vernichtung lebensunwerten Lebens ausgearbeitet haben. Hinsichtlich der Gefahren der Rassenmischung mit entfernten Rassen besteht leider nur wenig gesundes Gefühl. Dies gilt es zu wecken, und dann eine gesetzliche Regelung der Judenfrage und Schutz vor Rassenmischung mitfarbigen Rassen durchzusetzen. Judenkataster müssen angelegt, die Fremdrassigen unter Fremdenrecht gestellt, Mischehen verboten und uneheliche Verbindungen mit Fremdrassigen durch Ausstoßung aus der Volksgemeinschaft bestraft werden."8 Um die Voraussetzungen für einen Wechsel in den öffentlichen Gesundheitsdienst zu schaffen, nahm Conti von April bis Juli 1927 an einem Lehrgang der „Sozialhygienischen Akademie in Berlin-Charlottenburg" teil, u. a. bei dem Sozialhygieniker und Gesundheitsexperten der SPD Alfred Grotjahn (1869-1931), mit dem er sich gut verstand. Von Oktober 1927 bis Dezember 1930 war er - neben seiner Praxis - als nebenamtlicher Assistenzarzt in der Säuglings- und Kleinkinderfürsorgestelle Dennewitzstraße im Bezirk Berlin-Tiergarten tätig, wobei er mitunter den Fürsorgearzt vertrat. 1929 absolvierte er zudem einen Sportarztlehrgang. Am 20. Dezember 1927 wurde Conti in die NSDAP aufgenommen. Im selben Jahr trat er auch wieder der SA bei und organisierte den Sanitätsdienst der SA in der Reichshauptstadt. Anfang September 1930 trat Conti jedoch im Zusammenhang

6 7 8

Aus einem Lebenslauf Contis aus dem Jahre 1934, zit. n. Labisch/ Tennstedt, 1985, wie Anm. 5, S. 393 £ Von 1921 bis 1923 gehörte Conti auch dem rechtsradikalen „Wikingerbund" an. Dr. Lfeonardo] C[onti], Rettung durch bewusste Rassenpflege, in: Deutsche Nachrichten 1. Jg., 28.5.1926, Exemplar im NL Conti. Hervorhebungen im Original.

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mit dem „Stennes-Putsch" wieder aus der SA aus, schloss sich im Dezember der SS an und wurde als SS-Oberarzt in den Stab des SS-Führers der Gruppe Ost, Kurt Daluege (1897-1946), berufen. Schon 1929 hatte Conti zu den Mitbegründern des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB) in Nürnberg gehört, im Dezember 1930 gründete er den Gau Berlin des NSDAB. 1931 kandidierte er erfolgreich für einen Sitz in der Berliner Ärztekammer. Im Jahr darauf erhielt er die Kassenarztzulassung - wie er später öffentlich verkünden sollte, habe sich dieser Akt infolge eines „Boykotts" des Judentums" verzögert.9 Mittlerweile richteten sich Contis Ambitionen aber immer mehr auf den öffentlichen Gesundheitsdienst. 1932 wurde er Mitglied des preußischen Landtags und des preußischen Landesgesundheitsrates. Am 2. Juli 1932 beriet dieses Gremium über eine Gesetzesinitiative zur freiwilligen Sterilisierung aus eugenischer Indikation. Dabei äußerte Conti scharfe Kritik an der Freiwilligkeit des Verfahrens „als Überbleibsel einer vergangenen liberalistischen Epoche" und prophezeite, „daß (...) die praktischen Erfolge einer solchen Maßnahme von vornherein auf fast Null herabgeschraubt werden".10 Durch seine Forderung, die „Rassenfrage" in die Debatte mit einzubeziehen, manövrierte sich Conti vollends ins Abseits und musste sich eine Zurechtweisung durch Eugen Fischer (1874-1967), den Nestor der Rassenanthropologie und -hygiene in Deutschland, gefallen lassen. Am 13. Februar 1933 wurde Leonardo Conti von Hermann Göring (1893-1946) zum Staatskommissar zur besonderen Verwendung im Preußischen Ministerium des Innern berufen - zur „Säuberung des Gesundheitswesens". Er nutzte die Gelegenheit, um mit allen Mitteln gegen Ärzte jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft vorzugehen. Am 1. April 1933 wurde Conti ordentlicher Ministerialrat in der Medizinalabteilung des Preußischen Ministeriums des Innern, zuständig fiir Säuglings- und Kleinkinderfürsorge, Hebammenwesen, ärztliches Standeswesen und Approbationen. Etwa zur gleichen Zeit übernahm Conti den Vorsitz des Volksheilstättenvereins vom Roten Kreuz für die Heilanstalten in Hohenlychen/Mark, das sich unter seiner Protektion zu einem SS-Sportsanatorium entwickelte, ferner den Vorsitz des Krüppel-, Heil- und Pflegevereins für das Oskar-Helene-Heim in BerlinZehlendorf. Mit der Überführung des preußischen Innenministeriums im Jahre 1934 kam Conti in das Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern, wo er 1935 das Referat für Sport- und Jugendfragen übernahm. Bereits im Februar 1934 war er zum Gauamtsleiter für Volksgesundheit und Gauobmann des NSDÄB in Berlin avanciert. Zu dieser Zeit war Conti in heftige Konflikte innerhalb der ärztlichen Standesführung Berlins verstrickt, wobei er sich mit der Clique um „Reichsärzteführer" Gerhard Wagner (1888-1939) anlegte. Seine Position war auch da9

Redetyposkript „Der Arzt im Dritten Reich", gehalten am 22. August 1933 in der Berliner Philharmonie, NL Conti. 10 Die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt. Bericht über die Verhandlungen eines zusammengesetzten Ausschusses des preußischen Landesgesundheitsrates vom 2. Juli 1932 (= Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Medizinalverwaltung; 38, H. 5), Berlin 1932, S. 1-112, hier S. 59.

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durch geschwächt, dass er im April 1933 aus der SS ausgeschlossen worden war, weil er flir seine Ernennung zum Beamten nicht die Genehmigung der SS-Führung eingeholt hatte, doch wurde er im Juli 1935 als SS-Oberfiihrer zur besonderen Verwendung in den Stab des Reichsführers-SS geholt. Bis 1944 brachte es Conti bis zum SS-Obergruppenführer. Große Umsicht bewies Conti als Organisator des Gesundheits- und Sanitätsdienstes der XI. Olympischen Spiele im Jahre 1936 in Berlin und Kiel. Für seine Verdienste bei der Olympiade wurde er übrigens 1937 auf dem Internationalen Sportärztekongress in Paris zum Präsidenten des Internationalen Sportärzteverbandes ernannt und 1939 in Brüssel in diesem Amt bestätigt. Am 1. November 1936 wurde Conti Stadtmedizinalrat von Berlin. In dieser Funktion war ihm die Leitung des Gesundheitswesens der Reichshauptstadt übertragen und er wurde Beigeordneter in der Hauptverwaltung von Berlin. In dieser Funktion wurde Conti in die Kuratorien der Kaiser-Wilhelm-Institute für Hirnforschung sowie für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik berufen. Zusammen mit seiner Mutter - Nanna Conti war Leiterin der „Reichsfachschaft Deutscher Hebammen" - arbeitete Conti am Hebammengesetz von 1938 mit.11 Am 20. April 1939 wurde Leonardo Conti - als Nachfolger des „Reichsärzteführers" Gerhard Wagner - zum Leiter des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP mit dem Titel eines „Reichsgesundheitsführers" berufen. Zugleich trat er damit an die Spitze der Reichsärztekammer, der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands und des NSDAB. Kaum im Amt, gelang es Conti, den höchsten Medizinalbeamten des Deutschen Reiches, Ministerialdirektor Arthur Gütt (1891-1949), zu entmachten. Mit Schreiben vom 27. August 1939 übertrug Adolf Hitler (1889-1945) dem ehrgeizigen jungen Funktionär die Leitung des öffentlichen Gesundheitsdienstes und ernannte ihn zum Staatssekretär im Reichsinnenministerium. Obwohl Conti nunmehr in Personalunion an der Spitze sowohl der staatlichen als auch der parteiamtlichen „Gesundheitsfuhrung" stand, verlor er bald an Einfluss. Das lag nicht nur an seiner Führungsschwäche, sondern hatte seinen Grund auch darin, dass die Reichsärzteführung, die wohl zu Recht befürchtete, er strebe die Bildung eines Reichsgesundheitsministeriums an, Obstruktion übte und die Ambitionen Contis durchkreuzte. In der Auseinandersetzung mit Robert Ley (1890-1945) und der Deutschen Arbeitsfront um das „Gesundheitswerk des Deutschen Volkes" konnte er sich nur mit Mühe behaupten. Im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges verlor Conti dann gegenüber Hitlers Begleitarzt Karl Brandt (1904-1948), der 1942 zu Hitlers Bevollmächtigtem für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, 1944 zum Reichskommissar für das

11 Vgl. Peters, Anja, Der Geist von Alt-Rehse. Die Hebammenkurse an der Reichsärzteschule 1935-1941, Frankfurt 2005.

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Sanitäts- und Gesundheitswesen mit dem Status einer Obersten Reichsbehörde aufstieg, immer weiter an Boden.12 Dass er mittlerweile, seit dem 27. August 1941, dem Deutschen Reichstag angehörte, hatte allenfalls symbolischen Wert. Nach langjähriger Lehrtätigkeit an der Staatsakademie des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Berlin-Charlottenburg wurde Conti noch am 3. März 1945 zum Honorarprofessor ernannt. Nach Kriegsende wurde er von den Alliierten verhaftet und in das Militärgefängnis in Nürnberg eingeliefert, wo er sich am 6. Oktober 1945 das Leben nahm.

3. Conti, das nationalsozialistische Sterilisierungsprogramm und die „Euthanasie" Conti entsprach in keiner Weise dem Klischee eines fanatischen „Alten Kämpfers". Jung, blendend aussehend, im Umgang sehr gewandt, eloquent, vermochte er sein Programm zur Steigerung der Volksgesundheit vor öffentlichem Publikum überzeugend darzulegen. Erbgesundheits- und rassenpolitische Maßnahmen waren in Contis Verständnis stets einzubetten in ein breites gesundheitspolitisches Programm, das die Förderung des Sports ebenso einschloss wie eine groß angelegte Kampagne gegen Nikotin und Alkohol. Zugleich betonte er jedoch in immer neuen Wendungen den Vorrang des „Erbbildes" vor dem „Erscheinungsbild": „Die Entwicklungsmöglichkeit jedes einzelnen Menschen ist nach oben und unten beschränkt durch seine Erbanlagen. Sie begrenzen den Spielraum der Leistungssteigerungen und Verringerungen, sie begrenzen die Entwicklungsmöglichkeiten."13 Mit dieser Argumentationsfigur warb Conti für das nationalsozialistische Sterilisierungsprogramm: „Das Abschneiden der schlimmsten Minus-Varianten versuchen wir durch das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses." Zugleich machte sich Conti, der nominell auch als Beisitzer am Berliner Erbgesundheitsobergericht fungierte, dafür stark, nur mit den „harmlosesten und einfachsten Mitteln" zu operieren, unnötige „Härten und Fehlgriffe"14 zu vermeiden. So begrüßte er die Möglichkeit freiwilliger Isolierung, um der zwangsweisen Sterilisierung zu entgehen. Bemerkenswerterweise distanzierte sich Conti wiederholt „von den Forderungen des bekannten Schriftstellers Ernst Mann (...), der in kritikloser Weise, selbst unter

12

Vgl. Süß, Winfried, Der beinahe unaufhaltsame Aufstieg des Karl Brandt. Zur Stellung des „Reichskommissars fiir das Sanitäts- und Gesundheitswesen" im gesundheitspolitischen Machtgefiige des „Dritten Reiches", in: Woelk, Wolfgang/ Vögele, Jörg (Hg.), Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland. Von der Weimarer Republik bis in die Frühgeschichte der „doppelten Staatsgründung", Berlin 2002, S. 197-224; ders., Der „Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, medizinische Versorgung und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, München 2003. 13 Conti, Leonardo, Typokript ohne Titel, datiert auf den 15.9.1933, NL Conti. 14 Conti, Leonardo, Die Bevölkerungsmaßnahmen im neuen Deutschland, undatiertes Typokript, NL Conti.

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Einbeziehung der hochwertigen Kriegsbeschädigten, die Ausmerzung aller nicht mehr Hochleistungsfähigen fordert. Seine Gedankengänge haben mit den unseren nichts zu tun. Wir lehnen ihn ab. Selbstverständlich ist, dass er niemals Nationalsozialist, weder der Gesinnung noch der Parteizugehörigkeit nach, gewesen ist. Ich verweise hierzu auf die parteiamtliche Erklärung im .Völkischen Beobachter'."15 Gleichwohl war Leonardo Conti in die NS-„Euthanasie" verstrickt. Im Juli 1939 nahm er an einer Besprechung mit Hitler, dem Stabsleiter der Parteikanzlei Martin Bormann (1900-1945) und dem Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers (1879-1962) teil, bei der es um die Ausweitung des Massenmordes an kranken und behinderten Menschen, der kurz zuvor mit der Kinder-„Euthanasie" begonnen hatte, auf die Patienten der Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches ging. Nach übereinstimmenden Zeugenaussagen wurde zunächst Conti mit der Durchführung dieses neuen Mordprogramms beauftragt, doch wurde ihm dieser Auftrag bald darauf entzogen und den beiden „Führerbevollmächtigten" für die Kinder„Euthanasie", Karl Brandt und Reichsleiter Philipp Bouhler (1899-1945), übertragen. Ob Conti den Auftrag zu zögerlich in Angriff nahm (oder gar zurückgab), weil er - wie er selber und seine Familie nach dem Zweiten Weltkrieg zu Protokoll gaben - innerliche Vorbehalte gegen die „Vernichtung lebensunwerten Lebens" hatte, oder ob er - was sehr viel wahrscheinlicher erscheint - im polykratischen Intrigenspiel gegen Brandt und Bouhler den Kürzeren zog, muss dahingestellt bleiben. Bei der praktischen Umsetzung des Mordprogramms, vor allem bei der bürokratischen Erfassung der Opfer, wirkten Conti und seine Abteilung im Reichsinnenministerium jedenfalls mit. Klar ist, dass Conti, wenn er auch Zwangsmaßnahmen im Falle von uneinsichtigen „Asozialen" durchaus unterstützte, doch eher auf Ehe- und Familienberatung, den freiwilligen Verzicht „Erbkranker" auf Ehe und Familie, die Förderung von „erbgesunden" Familien durch einen gerechten Lastenausgleich und ganz allgemein auf eine Stärkung des „Erbgesundheitsbewusstseins" setzte. Dabei bildete die populärwissenschaftliche Vermittlung biowissenschaftlichen Wissens einen Eckstein. 4. Conti und das Deutsche Hygiene-Museum Dresden Am 4. Juni 1939 wurde Leonardo Conti - soeben zum „Reichsgesundheitsführer" aufgestiegen - auf Anregung der Museumsleitung zum Vorsitzenden des Vorstands 15 Conti, Leonardo, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik, undatiertes Typoskript, N L Conti. Handschriftlicher Vermerk: „Mann gehört dem Tannenbergbund an." Die Erklärung findet sich im Völkischen Beobachter Nr. 102/103 vom 12./13.4.1931, ferner in Ziel und Weg 3 (1933), S. 193. Zu den sprachlichen Gewaltorgien des Schriftstellers Ernst Mann (d. i. Gerhard Hoffmann) vgl. Schmuhl, HansWalter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens", 1890-1945, 2. Aufl., Göttingen 1992, S. 124 f.

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des „Vereins Deutsches Hygiene-Museum" gewählt. Bei dieser Gelegenheit erklärte er, „daß es sein Bestreben sein werde, das Museum voll und ganz im Bereich seines Arbeitsgebietes einzusetzen".16 Conti hatte erkannt, dass dem Deutschen HygieneMuseum Dresden (DHMD) für die Vermittlung des biopolitischen Kurses der „Gesundheitsführung" in dreifacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zufiel. Erstens hatten sich die Ausstellungen des DHMD schon in der Weimarer Republik zum wichtigsten Medium der „Hygienischen Volksbelehrung" entwickelt. Zweitens gehörte das DHMD, dem die „Hygiene-Akademie" und der 1930 neu geschaffene „Internationale Gesundheitsdienst" angeschlossen wurden, schon vor 1933 zu den wichtigsten Multiplikatoren der Individual-, Sozial- und auch Rassenhygiene in Deutschland und wirkte durch Kurse und Tagungen, einem eigenen Nachrichtendienst, einem eigenen Verlag und einer Hauszeitschrift, dem „Hygienefunk" des Mitteldeutschen Rundfunks usw. regional und überregional auf Politik und Öffentlichkeit ein. Drittens schließlich fanden die von den museumseigenen Werkstätten angefertigten Lehrmittel - Präparate, Moulagen, anatomische Modelle, Gussformen, Lehrund Schautafeln, Unterrichtssammlungen, Plakate, Statistiken, Merkblätter, Lichtbildreihen, Filme - reißenden Absatz und entfalteten, etwa über den Schulunterricht, eine enorme Breitenwirkung. Dieses Geflecht aus Ausstellung, Akademie und Werkstätten musste die Begehrlichkeit der nationalsozialistischen Machthaber in der Stadt Dresden, im Freistaat Sachsen und im Deutschen Reich wecken. Tatsächlich verwandelte sich das DHMD in einem kontinuierlichen Prozess der (Selbst-) „Gleichschaltung" in den Jahren von 1933 bis 1935 der nationalsozialistischen Biopolitik an. Bezeichnend war die Umgründung der „Hygiene-Akademie" zur „Staatsakademie für Rassenund Gesundheitspflege" im April 1934. Es kam zu einer gegenseitigen Indienstnahme: Der „gleichgeschaltete" Staat, die Partei und ihre Gliederungen durchdrangen die institutionellen Strukturen des DHMD, gaben ihm politischen Rückhalt, stellten beträchtlich aufgestockte finanzielle Ressourcen bereit, schufen günstige Rahmenbedingungen für die Ausrichtung von Gesundheitsausstellungen und forderten den Absatz der hygienischen Lehrmittel. Im Gegenzug richtete das DHMD in den Jahren von 1933 bis 1945 eine Vielzahl von Ausstellungen im In- und Ausland aus, in denen die Politik der braunen Machthaber - ihre Erbgesundheits- und Rassenpolitik, ihre Gesundheits-, Sozial- und Bevölkerungspolitik, ihre auf Rohstoffautarkie ausgerichtete Wirtschafts- und Ernährungspolitik - wissenschaftlich begründet und gerechtfertigt und publikumswirksam beworben wurde. Das DHMD entwickelte sich zu einem der reichsweit wichtigsten Zentren nationalsozialistischer „Gesundheitsführung", wobei es zu einer einmaligen Verzahnung politischer, wissenschaftlicher, musealer und wirtschaftlicher Institutionen kam. Die Lehrmittelproduktion, zunehmend ausgerichtet auf die nationalsozialistischen

16 Zit. n. Stephan, Ludwig, Das Dresdner Hygiene-Museum in der Zeit des deutschen Faschismus (1933 1945), Med. Diss., Dresden 1986, S. 394.

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Herrschaftsziele (auch auf die Vorbereitung eines möglichen Luft- und Gaskrieges), lief bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein auf Hochtouren. Leonardo Conti war es schließlich, der diesen Komplex in seine Einflusssphäre ziehen konnte. Unter den Bedingungen des Totalen Krieges kam die Arbeit des Museums jedoch nach und nach zum Erliegen, so dass Conti dieses Instrument der „Volksbelehrung" kaum noch nutzen konnte. 5. Conti und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik Conti hatte die Bedeutung der modernen Biowissenschaften als Ressource für seine eigenen Machtansprüche klar erkannt. Sein Augenmerk richtete sich ab 1940 vor allem auf das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A), das, 1927 gegründet, schon in der Weimarer Republik als eine der weltweit fuhrenden Forschungsstätten auf dem Gebiet der Humangenetik galt.17 Nach einer kurzen Umbruchphase der Irritationen und Friktionen stellte sich das Institut 1933/34 rückhaltlos in den Dienst des nationalsozialistischen Staates bis hin zur Beteiligung an der Zwangssterilisierung der sog. „Rheinlandbastarde" ohne gesetzliche Grundlage. Diese Art von Zuarbeit musste indessen gegen Ende der dreißiger Jahre zunehmend problematischer erscheinen, weil die Genetik, zur damaligen Zeit die Referenzwissenschaft der Biowissenschaften, in einem tiefgreifenden und weitreichenden Wandlungsprozess begriffen war. In unserem Zusammenhang ist die Erweiterung der menschlichen Erblehre zur Entwicklungsgenetik von entscheidender Bedeutung: Die bis dahin weithin gültige Vorstellung, dass sich jedes Merkmal des Menschen nach den Mendelschen Regeln einfach dominant oder rezessiv vererbte, hielt den Ergebnissen der Entwicklungsphysiologie, der Mutationsforschung und Populationsgenetik nicht stand und machte einem, wie man damals sagte, „höheren Mendelismus" Platz, der von sehr viel komplizierteren Mechanismen der Vererbung ausging. Diese Entwicklungen wurden vom KWI-A energisch mit vorangetrieben. Der Direktor des KWI-A, der Anthropologe Eugen Fischer, arbeitete seit 1938 auf eine Umgründung seines Instituts unter den Vorzeichen der „Phänogenetik" hin. Diese stellte die Phänogenese in den Mittelpunkt der Betrachtung, die AufFaltung des Organismus nach dem Bauplan des Genoms. Dabei richtete sich das Augenmerk auf die Wechselwirkungen zwischen den Genen, das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt, vor allem auch auf die zwischen dem Genom und dem Phänom liegende Ebene der Proteine, Enzyme und Hormone, durch die sich Erbinformationen in den Körper einschreiben. Menschliche Erblehre unter den Vorzeichen der 17 Zum folgenden ausfuhrlich: Schmuhl, Hans-Walter, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945, Göttingen 2005.

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Phänogenetik öffnete sich der experimentellen Erbpathologie, der Entwicklungsphysiologie, der Embryologie und der Biochemie. Dies waren sehr ehrgeizige Pläne, deren Verwirklichung enorme Summen verschlingen würde. Dazu brauchte das Institut politische Rückendeckung. In dieser Situation traf es sich gut, dass ein neuer Kuratoriumsvorsitzender für das KWI-A gesucht wurde. Man entschied sich dafür, Leonardo Conti, der dem Kuratorium seit 1936 angehörte, zu bitten, diesen Posten zu übernehmen.18 Das war, wie sich bald zeigen sollte, ein überaus geschickter Schachzug. Fischer wollte Conti „zunächst persönlich in der Sache angehen".19 Dieses persönliche Treffen zwischen Fischer und Conti fand am 12. November 1940 statt. Man kann davon ausgehen, dass Fischer bei dieser Gelegenheit dem neuen starken Mann in der Gesundheitsführung seine Pläne zur Umgestaltung des Instituts darlegte und ihn für diese Pläne gewann. Jedenfalls erklärte sich Conti bereit, den Vorsitz im Kuratorium zu übernehmen und sofort eine Kuratoriumssitzung einzuberufen, die am 9. Januar 1941 stattfand. Der neue Kuratoriumsvorsitzende setzte bei der Begrüßung sogleich ein politisches Signal, indem er herausstellte, „daß die Tätigkeit und Forschung gerade des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik heute für den Staat von größter Bedeutung sei und dass es falsch sei, wenn - wie es manchmal scheine - das Interesse an der Bedeutung von Erb- und Rassenfragen unseres Volkes nachlasse. Das neue Großdeutschland brauche solche Kenntnisse dringend; für den Nachwuchs auf diesem Gebiet müsse gesorgt werden." Das KWIA als das „erste und hervorragendste" auf diesem Gebiet müsse „anderen Instituten zum Vorbild dienen und sie beeinflussen".20 Aus diesem Grund habe er, Conti, den Vorsitz im Kuratorium übernommen. Tatsächlich gelang es mit Hilfe Contis, beträchtliche finanzielle Mittel zu mobilisieren und den Umbau des Instituts mitten im Krieg beschleunigt voranzutreiben. Woher rührte das Interesse des „Reichsgesundheitsführers"? Warum betrachtete er die Forschung, die das neu ausgerichtete Institut in Angriff nehmen wollte, als Ressource für seine politischen Ambitionen? Aufjeden Fall war die von Karl Diehl (1896-1969) und Otmar Freiherr von Verschuer (1896-1969) betriebene Tuberkuloseerbforschung für den „Reichsgesundheitsführer" von höchstem Interesse. In einem - nicht für die Öffentlichkeit bestimmten - Vortrag über die „Gesundheitsbilanz im zweiten Kriegsjahr", den Conti am 7. August 1941 im Berliner Humboldtclub vor Schriftleitern deutscher Zeitschriften hielt, bezeichnete er die Tuberkulose ausdrücklich als den „(...) ungünstigste[n] Punkt (...). Die Tuberkulose hat zuge-

18 19 20

Fischer an Ernst Telschow, 18.3.1940, Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft Berlin (= MPG-Archiv), Abt. I, Rep. 1 A, Nr. 2403, Bl. 106. Aktennotiz Telschows, 18.10.1940, MPG-Archiv, Abt. I, Rep. 1 A, Nr. 2403, Bl. 111. Niederschrift über die Sitzung des Kuratoriums des KWI-A am 9.1.1941, MPG-Archiv, Abt. I, Rep. 1 A, Nr. 2400, Bl. 186 und 195, Zitate: Bl. 186.

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nommen, besonders in den luftgefährdeten Gebieten wie Hamburg und Kiel."21 Unter diesen Umständen musste die Tuberkuloseerbforschung für den „Reichsgesundheitsführer" von immensem Interesse sein, zumal man sicher davon ausgehen kann, dass Fischer in dem entscheidenden Gespräch mit Conti diese Karte ausspielte.

6. Leonardo Conti und die „Umvolkungspolitik" im besetzten Polen Contis Interesse an der Tuberkuloseforschung ist ohne weiteres nachzuvollziehen. Hier soll aber die These vertreten werden, dass sich Conti keineswegs nur für die erbpathologische Forschung, sondern auch auf die Rassenforschung unter den Vorzeichen der Phänogenetik interessierte. Diese These stützt sich auf eine Quelle aus dem Nachlass Leonardo Contis, die belegt, dass der „Reichsgesundheitsführer" zu der Zeit, als die Verhandlungen über die Reorganisation des KWI-A liefen, brennend an Fragen der „ethnischen Flurbereinigung" im besetzten Polen, der Eindeutschung von Polen und der Rücksiedlung von Volksdeutschen interessiert war. Conti war wegen der mit der Rücksiedlung der Volksdeutschen verbundenen Seuchengefahr mit diesem Themenkomplex befasst. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS hatte auf Veranlassung des Reichsführers-SS Heinrich Himmler (19001945) im Dezember 1939 den Entwurf einer „Ausleseordnung für die Besiedlung der neuen Reichsgaue" vorgelegt, die auch eine Beteiligung des „Reichsgesundheitsführers" vorsah.22 In diesem Zusammenhang unternahm Conti in Begleitung des Internisten Heinz Kalk (1895-1973) am 13. Januar 1940 eine Flugreise nach Przemysl, um die Ankunft eines Trecks Wolhyniendeutscher aus nächster Nähe mitzuerleben.23 Am 29. Februar 1940 hielt Conti einen Vortrag beim ReichsführerSS, um seine Reiseeindrücke zu schildern und seine Vorschläge zur „ethnischen Flurbereinigung" vorzutragen. Ein sehr aufschlussreicher handschriftlicher Notizzettel, auf dem sich Conti Stichworte für dieses Treffen notiert hatte, gibt Auskunft: über die Neuordnungsvorstellungen des „Reichsgesundheitsführers": „Ostpreußen - Schlesien - Danzig- W[estpreußen] - Warthegau[:] 26 Mio Menschen, die Hälfte deutsch, 7 V2 Mill Polen, V2 Mill Juden. Gouvernement: 14 Millionen [,] davon 2 V2 Millionen Juden. Problem muss aufhören. Verschiedene Typen. Nordischer Typ, der sich zum Polentum bekennt, sich nicht beugt [.] Reine Hunnen, alle Varianten von Mischlingen, zu Völkern durch unser Blut geworden. Füh21

Vortrag des Reichsgesundheitsfiihrers Staatsrat Dr. Conti, „Die Gesundheitsbilanz im zweiten Kriegsjahr", gehalten am 7. August 1941, im Humboldtclub Berlin vor Schriftleitern der Zeitschriftenpresse, Typoskript, S. 15-16. NL Conti. 22 Vgl. Heinemann, Isabel, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 233 f. 23 Dazu existiert im NL Conti ein Photoalbum, das von Heinz Kalk zusammengestellt wurde, der Conti auf diesem Flug begleitete.

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rer sogar erbeten, da sonst keine Ordnung möglich. Erst Trennung, dann Mischung, den Kolonisten nachgeholt. Kraft des Reiches lässt nach, nimmt zu. Ebbe und Flut, zeitweilig wieder Kolonisten nachgeschoben. Sprache wird angenommen. (...) Die Deutschen dem Blute nach wurden dann die besten polnischen Soldaten, immer tapferster Gegner. Gefährdet nur immer unser eigenes Blut. Nichts mehr entfließen lassen, alles zurückholen. Härte im Ziel, anpassungsfähig in der Methode. Vernichtung der führenden Köpfe nötig Rasse und Nationalität durcheinander [?] Kongreßpolen rassisch z. T. besser als Posener und Schlesien-Polen z. Teil besser als Volksdeutsche. Wolhynien und Galizien 135.000 (110.000 Bauernfamilien[,] Rest Handwerker) Nat. Rußland etwa 20.000 [.] Südtirol 230.000. Deutsche anderswo in der Welt ist eine Frage [,] an die nicht gerührt werden darf. Ebenso 40.000 Deutsche in Litauen. Generalgouvernement: Erziehungs[wohn?]gebiet: Polnische Selbstverwaltung nötig. 40.000 Volksdeutsche müssen aus Lublin u. Chelm zurück Polnische Arbeiter gekennzeichnet. Strenge Trennung. Wirtschaften nur an bestimmtem Tag fiir Polen. Polnische Arbeiter bei Rassen [schände?] gehängt. Polnische Frauen für die Polen zur Verfugung. Deutsche Frau ins K. Z. Balten: Gepäck nehmen, wollen alle nach Posen. Wolhynien-Deutsche: fabelhaft. Gläubig an den Führer. Gold u. Lebensmittel abgeliefert. Pferde gekauft u. mitgebracht. Wollten Eheringe abliefern. Es gibt im Osten jetzt keinen Landkauf, keine Bewerbung um Siedlung usw. Die Eingezogenen dürfen nicht das Gefühl der Benachteiligung haben und nicht benachteiligt werden. Klima verbessern im Osten durch Pflanzung. Grenzzone ansiedeln und Brücken ziehen. Siedlungsmäßig zerspalten wie sie militärisch zerspalten wurden. Wolhyniendeutsche, Volksdeutsche und Reichsdeutsche gemischt im Dorfe ansiedeln. Inzucht der Volksdeutschen hört auf. Politische Befruchtung. Führer nach dem Kriege: Auf nach dem Osten. Durch Erbteilung zersplitterte Höfe im Altreich zusammenlegen. Rassisch und politisch gute Leute nach dem Osten."24 Tatsächlich blieb der Einfluss Contis auf die „Eindeutschungspolitik" in den besetzten Gebieten marginal - aber das war im Jahre 1940 noch nicht abzusehen. Man kann sicher davon ausgehen, dass Fischer den „Reichsgesundheitsflihrer" in dem Gespräch am 12. November 1940 darauf aufmerksam machte, dass Fritz Lenz (1887-1976), Leiter der Abteilung Eugenik am KWI-A, sich 1939/40 den „brennenden Fragen der Umsiedelung und der rassenhygienischen Bevölkerungspolitik" 24

Handschriftlicher Notizzettel Contis „Himmler, 29.2.1940", NL Conti (Hervorhebungen im Original).

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zugewandt hatte.25 Ebenso wird Fischer Conti auf die Gutachtertätigkeit der Wissenschaftler vom KWI-A für das Reichssippenamt hingewiesen haben. Vermutlich kam er auch auf die laufenden Untersuchungen zur Rassendermatoglyphik zu sprechen, die auf den von Fischer veranlassten anthropologischen Reihenuntersuchungen im Ghetto od beruhten. Schließlich ist es nicht auszuschließen, dass Fischer in seinem Gespräch mit Conti Überlegungen zu einer serologischen Rassendiagnostik vortrug, wie er sie im Jahre 1935 entwickelt hatte. Aufjeden Fall schien sich dem „Reichsgesundheitsfiihrer", indem er das KWI-A seiner Protektion unterstellte, die Chance zu bieten, sich das politische Monopol auf mögliche bahnbrechende Methoden der Rassendiagnostik zu sichern, die den im besetzten Polen angewandten anthropometrischen Methoden haushoch überlegen sein würden. Otmar von Verschuer sollte sich 1943 mit dem Projekt „Spezifische Eiweißkörper" an diese Aufgabe machen. Dazu verschaffte er sich mit Hilfe seines ehemaligen Schülers Josef Mengele (1911-1979) 200 Blutproben von Häftlingen des KZ Auschwitz.

7. Conti und die Fleckfieberversuche im KZ Buchenwald Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Conti über Einzelheiten des Projekts „Spezifische Eiweißkörper" unterrichtet war. Kein Zweifel kann indessen daran bestehen, dass der „Reichsgesundheitsfiihrer" in einer Besprechung mit fuhrenden Funktionären der „Gesundheitsfiihrung" und Wissenschaftlern am 29. Dezember 1941 energisch darauf drängte, Versuche am Menschen zur Erprobung verschiedener Impfstoffe gegen Fleckfieber vorzunehmen, da der Tierversuch keine zufrieden stellenden Ergebnisse liefere. Da er in dieser Runde nicht die notwendige Unterstützung bekam, trug Conti die Sache an die SS heran. Auf Veranlassung des Reichsarztes-SS, Dr. Ernst Grawitz (1899-1945), wurde im Einverständnis mit Himmler vom Hygiene-Institut der Waffen-SS im KZ Buchenwald eine klinische Station der „Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung" unter Leitung von Dr. Erwin DingSchuler (1912-1945) eröffnet. Dieser ging so vor, dass er drei Gruppen von Versuchspersonen bildete, die alle künstlich mit Fleckfieber infiziert wurden. Eine Gruppe war mit einem der zur Verfugung stehenden Impfstoffe vorbehandelt, eine andere blieb unbehandelt, die dritte Gruppe bildeten die so genannten „Passagepersonen", die dazu verwendet wurden, Fleckfieberstämme zu erhalten, damit man jederzeit Frischblut von Fleckfieberkranken zur Hand hatte. Bis Ende 1944 fanden 24 solcher Versuchsreihen statt, bei denen 450 Häftlinge infiziert wurden, von denen 158 starben. Vom Leiter der Abteilung für Tropenmedizin am Robert-KochInstitut, Prof Gerhard Rose (1896-1992) - der selber mehrere dieser Versuchsreihen anregte - auf den eklatanten Verstoß gegen die gängigen medizinethischen Normen angesprochen, antwortete Conti, er habe sich „nicht ohne erhebliche 25

Eugen Fischer, Tätigkeitsbericht des KWI-A 1939/40, MPG-Archiv, Abt. I, Rep. 3, Nr. 17.

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Bedenken" angesichts der von den östlichen Kriegsschauplätzen sich rasch ausbreitenden Fleckfieberepidemie zu diesem Schritt entschlossen. Es stünden „Hunderttausende von Menschenleben auf dem Spiele und er, der Staatssekretär, und nicht die Herren Wissenschaftler trügen die Verantwortung". Er sei Arzt und „achte den Wert des Menschenlebens (...), aber in Kriegszeiten, wo Millionen der Besten und völlig Unschuldige ihr Leben opfern müssten, müsse man auch vom Gemeinschaftsschädling seinen Beitrag zum allgemeinen Wohl fordern."26 Damit war Contis Projekt zur Steigerung der Volksgesundheit endgültig in die Barbarei abgeglitten.

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Zit. n. Mitscherlich, Alexander/ Mielke, Fred, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Arzteprozesses, Frankfurt 1960, S. 95.

Caris-Petra Heidel

Schauplatz Sachsen: Vom Propagandazentrum fiir Rassenhygiene zur Hochburg der Kranken-„Euthanasie"

Mit der Aufgabe, über „die ungeheure Bedeutung der Vererbung fiir Gedeihen und Verfall der Völker" aufzuklären und die „Notwendigkeit einer vernünftigen Zuchtwahl und der Rassenhygiene, d.h. der Hygiene der lebendigen Vererbungssubstanz (...) den weitesten Kreisen zum Bewusstsein" zu bringen,1 wurde auf der am 6. Mai 1911 eröffneten I. Internationalen Hygieneausstellung Dresden (IHA)2 innerhalb der zwölf Ausstellungsgruppen eine Sondergruppe „Rassenhygiene" zur Schau gestellt. Rassenhygiene war bereits zu einem schillernden Begriff geworden, der zunächst verschiedene Interpretationen offen ließ und insbesondere als gewichtiger Lösungsweg aus der in den 1920er Jahren als „Krise der Medizin"3 bezeichneten Zuspitzung verschiedener, größtenteils jedoch längst bekannter Probleme weltanschaulicher, fachlicher, standespolitischer und sozialpolitischer Art beschrieben wurde. Wesentlich geprägt wurde die Diskussion um die „krisenhafte" Situation der Medizin von der Kritik an der Mitte des 19. Jahrhunderts begründeten naturwissenschaftlich fundierten Medizin, deren angeblich rein rationalistisch-mechanistische Grundeinstellung nun als zu eng empfunden wurde, da sie den Menschen nicht in seiner leib-seelischen Ganzheit erkennen könne; nicht der Kranke, sondern nur noch die Krankheit würde behandelt. Nicht unwesentlich beeinflusst wurde diese Auffassung in der Medizin übrigens von den bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzenden „Erneuerungsbewegungen" - wie der Jugend- und Lebensreformbewegung -, die die Rückkehr zur naturgemäßen Lebensweise propagierten und gegen

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3

Katalog der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden Mai bis Oktober 1911, Berlin-Dresden 1911, S. 258. Vgl. auch Fischer, Alfons, Die sozialpolitische Bedeutung der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden, in: Annalen fiir soziale Politik und Gesetzgebung, Bd. 1, Berlin 1912, S. 583 f. Zur I. IHA und zum Deutschen Hygiene-Museum siehe u.a. Schubert, Ulrich, Vorgeschichte und Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden (1871-1931), Med. Diss., Dresden 1986; Stephan, Ludwig, Das Dresdner Hygiene-Museum in der Zeit des deutschen Faschismus (1933-1945), Med. Diss., Dresden 1986; Heidel, Günter, Die Stadt der Hygiene. Historische Wurzeln und Hauptereignisse einer bedeutenden Dresdner Tradition, Dresdner Hefte 7 (1989), H. 5, S. 21-27; ders., Die Dresdener Internationale Hygiene-Ausstellung 1930/31, Dresdner Hefte 9 (1991), H. 1, S. 35^14. Vgl. dazu insbesondere Klasen, Eva-Maria, Die Diskussion über eine „Krise" der Medizin in Deutschland zwischen 1925 und 1935, Med. Diss., Mainz 1984. Siehe auch Wiesing, Urban, Die Persönlichkeit des Arztes und das geschichtliche Selbstverständnis der Medizin, Medizinhistorisches Journal 31 (1996), S. 181-208, hier S. 185-188.

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Ungesundes, Unnatürliches, kalte Rationalität, moderne Wissenschaft und Zivilisation aufbegehrten. Mit dem Streben nach einer Reform der Individualmedizin zu einer auf die Volksgesundheit im ganzen gerichteten, insbesondere auf Prophylaxe und Anleitung zur gesunden, naturgemäßen Lebensführung konzentrierten, also einer „biologisch denkenden" Medizin, sollten nicht zuletzt sozialhygienische Bestrebungen, eine zunehmende Beschäftigung mit sogenannten Außenseitermethoden (wie Naturheilkunde, Homöopathie) und vor allem die Rassenhygiene als entscheidende Lösungswege angesprochen werden.

1. Rassenhygiene in der gesundheitlichen Volksaufklärung und ärztlichen Weiterbildung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden Der wachsende Einfluss der Rassenhygiene auf das progressive Ideengut der Sozialhygiene zeichnete sich bereits deutlich in der Internationalen Hygieneausstellung (IHA) 1930/31, die gleichzeitig mit dem Museumsneubau am 16. Mai 1930 eröffnet wurde, ab.4 So waren - unter geschickter Einbettung der Rassenhygiene in seriöse wissenschaftliche Darstellungen und damit mit dem Anschein ihrer Wissenschaftlichkeit - etwa die Ausstellungsgruppe „Eugenik"5 sowie die Exposition „Seelische Hygiene"6 und 1931 auf einer Ausstellungsfläche von 270 m 2 die Sonderschau „Gesundheit in Zahlen" geschaffen worden, innerhalb derer unter anderem die Themen „Aus der Geburtenstatistik", „Deutschland, das Volk der Alten" und „Aus der Krankheits- und Sterblichkeitsstatistik" dargestellt wurden. An ihrer Gestaltung waren bereits fuhrende Vertreter der faschistischen Rassenideologie wie Otmar Freiherr von Verschuer (1896-1969), Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin Dahlem, und Ernst Rüdin (1874-1952), Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, beteiligt. Nach dem 30. Januar 1933 bot sich das D H M eifrig, unterwürfig und berechnend zu aktiver Mitarbeit an und entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zur führenden Propaganda-Institution auf dem Gebiet der „Volksgesundheitspflege" im „Dritten Reich". So beginnt auch der Jahresbericht des DHM für 1933 mit dem Bekenntnis: „Die entscheidenden politischen Änderungen, der beginnende Aufbau des neuen deutschen Reiches sind auch auf die Arbeit des DHM nicht ohne Einfluss geblieben. Eine Gleichschaltung der Organisation des Museums, was die Gesamtleitung 4 5 6

Siehe hierzu ausfuhrlich: Stephan, 1986, wie Anm. 2. Innerhalb der Sonderschau „Die Entwicklung des Gesundheitswesens - Kulturhistorische Schau über 100 Jahre". Innerhalb der Sonderausstellung „Gesundes Seelenleben" mit der Hauptgruppe „Anlageveredelung". IHA Dresden 1930, Amtlicher Führer, Dresden 1930, S. 112-123.

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anbelangt, war nicht notwendig, da die Museumsarbeit mit wenig Ausnahmen in bezug auf die wissenschaftliche Bearbeitung von Ausstellungsgruppen durchaus im Bereich der staatlichen Neuordnung lag und liegt. Lediglich personelle Veränderungen in der Zusammensetzung des Vorstandes und der wissenschaftlichen Mitarbeiter (...) waren notwendig und wurden zum Teil bereits vor der nationalen Revolution durchgeführt".7 Was lapidar als „personelle Veränderung" deklariert wurde, beinhaltete die Entfernung fortschrittlich gesinnter Arzte und Sozialhygieniker aus dem DHM, durch deren ideenreiches und engagiertes Schaffen während der Zeit der Weimarer Republik diese Stätte der „hygienischen Volksbildung" zum Bahnbrecher der visuellen Gesundheitserziehung in Europa und Ubersee geworden war.8 So wurde dem der Sozialdemokratie nahe stehenden Rudolf Neubert (18981992) im Oktober 1933 die Kündigung ausgesprochen, nachdem seine sehr erfolgreiche Ausstellung „Heilkräfte der Natur" eröffnet worden war und ihre Wanderung durch Deutschland angetreten hatte. Unter großen Schwierigkeiten gelang es ihm, in seinem Haus in Hellerau eine Landarztpraxis zu eröffnen. Bruno Gebhard (geb. 1901), der die vielbesuchte Wanderausstellung „Kampf dem Krebs" gestaltet hatte, emigrierte 1937 gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern in die USA. Auch die jüdische Sozialhygienikerin Marta Fraenkel (1896-1976) musste Deutschland verlassen und floh 1935 zunächst über Brüssel, 1938 in die USA.9 Ihr jüdischer Kollege Walter Weisbach (1889-1962), der seit 1927 die HygieneAkademie des DHM geleitet hatte, emigrierte bereits 1933 mit seiner Familie in die Niederlande, wurde jedoch nach der deutschen Okkupation 1940 in das Konzentrationslager Westerbork deportiert. Als einer der wenigen Überlebenden dieser Mordstätte kehrte er 1945 - gesundheitlich völlig zerrüttet - nach Den Haag zurück, wo er am 2. September 1962 verstarb.10 Der jüdische Dermatologe Eugen Galewsky (1864-1935), auf dessen Initiative und Engagement die Moulagenwerkstatt des DHM Weltruf erlangte und der die sehr erfolgreiche Ausstellung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten wissenschaftlich vorbereitet hatte, wurde zu Niederlegung aller seiner Amter im Museumsvorstand und im wissenschaftlichen Ausschuss des DHM gezwungen und erhielt die strenge Weisung, das DHM nicht mehr zu betreten.11 Der bereits seit 1919 am Hygiene-Museum tätige und

7 Das DHM im Jahre 1933, Dresden 1934, S. 12. 8 Vgl. Stephan, Ludwig/ Heidel, Günter, Innere und äußere Zerstörung des Deutschen Hygiene-Museums in der Zeit des Faschismus, Maschinenschr. Manuskript, 22 S.; dies., Innere und äußere Zerstörung des Deutschen Hygiene-Museums in der Zeit des Faschismus, in: Neumann, Jochen (Hg.), 75 Jahre Deutsches Hygiene-Museum in der DDR, Dresden 1987, S. 20-27. 9 Vgl. Heidel, Caris-Petra (Hg.), Ärzte und Zahnärzte in Sachsen 1933-1945. Eine Dokumentation von Verfolgung, Vertreibung, Ermordung, Frankfurt am Main 2005, S. 110, 353-357. 10 Vgl. Heidel, 2005, wie Anm. 9, S. 155 f. 11 Vgl. Heidel, 2005, wie Anm. 9, S. 113-115.

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durch bedeutende wissenschaftliche Veröffentlichungen über moderne Erkenntnisse der Ernährungslehre und die „hygienische Volksbildung" auch im Ausland (nicht zuletzt in der Sowjetunion) bekannte Martin Vogel (1887-1945) wurde nach vorausgegangenem langwierigen und zähen Streit mit dem Museumsvorstand über seine fortschrittlichen Ansichten in der Ernährungslehre und -hygiene schließlich aus dem DHM hinausgedrängt.12 An deren Stelle wurden dem nationalsozialistischen Staat treu ergebene Mitarbeiter an das DHM geholt, wie der „mit der Bearbeitung der rassenkundlichen und rassenhygienischen Fragen" beauftragte SS-Arzt Herrmann Vellguth (geb. 1906) oder der „Staatskommissar für das gesamte Gesundheitswesen im Freistaat Sachsen" Ernst Wegner (geb. 1900).13 Am 29. Mai 1933 wurde Wegner in den Vorstand des DHM gewählt und trat am 30. November 1935 den Vorsitz des DHM an. Darüber hinaus vereinigte Wegner auf sich die Amter des „Gauärzteführers" als Leiter des NSD-Ärztebundes (Gau Sachsen), des Gauamtsleiters des Amtes für Volksgesundheit der NSDAP, des Leiters der Ärztekammer für das Land Sachsen und des Leiters der Verwaltungsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands. Alle diese Institutionen bezogen übrigens auch Diensträume des D H M und hielten hier ihre Tagungen und Kurse ab. Die Entfernung von Medizinern in den Jahren 1932 bis 1935 aus politischen und „rassischen" Gründen aus dem DHM verkörperte zugleich das Schicksal der „hygienischen Volksbelehrung" nach 1933. Nur soweit hygienische und sozialmedizinische Errungenschaften den Interessen der Nationalsozialisten dienlich schienen, wurden der pseudowissenschaftlichen und inhumanen Rassenhygiene und der Politik von „Blut und Boden" dienstbar gemacht. Wohl am deutlichsten wurde diese Zielrichtung, die sich in der Folge in den Ausstellungskonzeptionen sowie Publikationen und Veranstaltungen des D H M widerspiegeln sollten, von Wegner in seinem Einfuhrungsvortrag auf dem vom 10. bis 12. Oktober 1933 am DHM durchgeführten „1. Einführungskursus über Rassenkunde und Rassenpflege" für die sächsischen Lehrer ausgesprochen. „Besonders der deutsche Osten" - so Wegner „ist außerordentlich dünn besiedelt, und auch ohne einen Krieg würde schließlich eine Verdrängung nordischen Blutes aus dem Osten und damit der Untergang des Abendlandes bevorstehen, wenn nicht endlich eine Umkehr erfolgte. Das erste, was der Bevölkerungspolitiker von heute erreichen muß, ist eine Umstimmung der Weltanschauungen auf biologische und rassische Grundlagen. Erst dann, wenn sich jeder seiner Verpflichtungen gegenüber den kommenden Generationen bewusst wird, wenn er sieht, dass nur eine zahlreiche junge Generation Deutschland vor

12 Ausführliche biographische Angaben zu den erwähnten Personen siehe: Stephan, 1986, wie Anm. 2, S. 391-459. 13 Biographische Angaben zu Wegner siehe: Töpolt, Birgit, Vorgeschichte und Praxis der Zwangssterilisierung im Dresdner Raum 1933-1945, Med. Diss., Dresden 2000, S. 157-159.

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dem Untergang retten kann, und wenn er seine gesamte Lebensführung danach einstellt, ist eine Aussicht auf eine Wiedergeburt des deutschen Volkes vorhanden. Aber nicht nur auf das zahlenmäßige Wachstum der Geburtenziffern kommt es an, sondern auch auf die Verhinderung erbkranken Nachwuchses. Das Sterilisierungsgesetz ist der erste Schritt auf diesem Wege (.. .)."14 Neben Lehrern, Juristen, Verwaltungsbeamten sollten selbstverständlich vor allem auch die Ärzte und Zahnärzte auf die rassenhygienische Bevölkerungspolitik eingeschworen werden. Da von der nationalsozialistischen Medizin die hierfür größtenteils sehr geeigneten Ideen und Konzepte, die bereits im Zusammenhang mit der „Krise der Medizin" vorgetragen worden waren, aufgenommen werden konnten, war letztlich die Mehrheit der - zudem der Weimarer Republik ablehnend gegenüberstehenden - Ärzte durchaus überzeugt, dass sich die NS-Regierung als erste deutsche Administration mit ihrer rassenhygienischen Gesetzgebung völlig auf der Höhe modernster wissenschaftlicher Ergebnisse bewege. Das Dresdener Hygiene-Museum nahm sich sehr eifrig und mit großem Erfolg der ärztlichen Fortbildung auf dem Gebiet der Vererbungslehre, der Rassenkunde und der Rassenhygiene an. Am 14. April 1934 wurde am DHM die „Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege" - die erste im nationalsozialistischen Deutschland - feierlich eröffnet, mit deren Aufbau bereits 1933 Wegner vom Reichsstatthalter in Sachsen Martin Mutschmann (1879-1948)15 beauftragt worden war. Als vorrangige Aufgabe dieser Akademie bezeichnete Wegner „die Vermittlung unserer Rassen- und gesundheitspfleglichen wissenschaftlichen Erkenntnisse an alle Träger des nationalsozialistischen Staates, vorerst an sämtliche Leiter und Führer der PO. und der SA., der SS., Hitleijugend und der Reichswehr, der Polizei wie der Deutschen Arbeitsfront sowie sämtliche gleichschließenden Organisationen und Verbände, darüber hinaus sollen aber in Kursen an der Akademie noch die Beamten des Staates erfasst werden: Richter, Staatsanwälte, Ärzte, Lehrer (...). Es wird der 14. April 1934 einen weiteren Markstein in der Entwicklung zum nationalsozialistischen Staate hin in biologischer Beziehung bedeuten, einen Markstein, von dem die erkenntnismäßige Aufklärung, vorerst der Führerschaft, über die Bedeutung von Rassenvererbungs- und Gesundheitswerten ausgehen wird (...). Unsere Landeshauptstadt (...) wird um ein Institut von höchstem kulturellem Werte bereichert sein, das in ihren Mauern bergen zu dürfen, sie stolz sein soll."16

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DA 203 (1933), Nr. 283, S. 7 (12.10.1933). Biographische Angaben siehe: Weiß, Hermann (Hg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2002, S. 330 f. 16 DA 204 (1934), Nr. 100, S. 5 (12.04.1934). Mit der Gründung der Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege wurde zugleich eine der fortschrittlichsten sozialhygienischen Errungenschaften der Weimarer Republik - die 1926 vom DHM geschaffene Hygiene-Akademie - geschlossen (315 Lehrgänge und Kurse sowie 244 Sondervorträge auf dem Gebiet der Gesundheitspflege und Gesundheitsvorsorge für Schwestern, Oberinnen u. sonstige auf dem Gebiet der Fürsorge Tätige sowie auch für Wohlfahrtsbeamte, Juristen, Verwaltungsbeamte und Lehrkräfte; Herausgabe einer eigenen Zeitschrift

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Im Anschluss an die Gründungsfeierlichkeiten fand der erste „Einfuhrungskursus" fiir Staats- und Kommunalbeamte und „Führer der verschiedenen Gliederungen und Kreise" statt. Der Kurs begann mit Vorträgen über die „Geschichte als Lehrmeister völkischen Geschehens", „Europas Rassen im Laufe der Jahrtausende", die „Vererbungslehre als Grundlage der Rassenpflege", „Erhaltung des deutschen Erbgutes", „Rasse und Kultur" sowie „Gedenke, dass du ein deutscher Ahnherr bist!". Zur „praktischen Demonstration" der verfehlten Schulmedizin und Bevölkerungspolitik der Weimarer Republik, die die erblich Schwachsinnigen und die im „Kampf ums Dasein" Versagenden ge- und verschont habe, fuhren die Kursteilnehmer zur Besichtigung der Landesanstalten Arnsdorf und Sonnenstein sowie des Stadtkrankenhauses Löbtauer Straße.17 Der rassenhygienischen Schulung speziell der Arzte hatte sich bereits seit 1933 die Akademie für Arztliche Fortbildung in Dresden (gegr. 1924) angenommen.18 Mit Einführung der Pflichtfortbildung der Arzte und Zahnärzte seit 1935 kam die Fortbildungs- und Vortragstätigkeit der Akademie allerdings Anfang 1937 ganz zum Erliegen. Am 12. Februar 1938 wurde die „Dresdener Akademie für Ärztliche Fortbildung" neu gegründet, der gleichzeitig die ärztliche Fortbildungsschule am Rudolf-HeßKrankenhaus (gegr. 1935) angegliedert wurde, und zu deren Rektor Ernst Wegner, bereits Rektor der Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege, berufen wurde. Zum Stellvertreter Wegners war der Chefarzt des Rudolf-Heß-Krankenhauses und Leiter der Chirurgischen Klinik, Hermann Jensen (geb. 1895), ernannt worden. Waren die ersten freiwilligen Kurse noch medizinisch-fachlichen Themen gewidmet, 19 behandelten die im Rahmen der Pflichtfortbildung stattfindenden

„Hygienischer Wegweiser" von 1926 bis 1931). Am 1. April 1931 hatte die Hygiene-Akademie die Geschäftsführung für den „Landesausschuss Sachsen für hygienische Volksbelehrung" übernommen und wurde damit ausführendes Organ für diesen sowie für die Landesausschüsse in Thüringen, Braunschweig, Sachsen-Anhalt und die Provinzialausschüsse für hygienische Volksbelehrung in Niederschlesien und Oberschlesien. Die Hygiene-Akademie verlor - wie es im Jahresbericht für 1933 hieß - „aus organisatorischen Gründen ihre Selbständigkeit (...) und ging in die neugeschaffene Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege auf (.. .) so daß die bewährten Einrichtungen dem erweiterten Aufgabenkreis nutzbar gemacht werden können". Das DHM im Jahre 1933, Dresden 1934, S. 21. 17 Vgl. DA 204 (1934), Nr. 105, S. 6 (17.04.1934). Diesbezügliche Veranstaltungen/Demonstrationen wurden noch 1933 auch von der Akademie für Ärztliche Fortbildung in Dresden durchgeführt; seit 1934 übernahm aber die neu gegründete Staatsakademie die rassenhygienische Schulung der Arzte und Zahnärzte, womit die Akademie für Ärztliche Fortbildung von dieser speziellen Aufgabe entbunden war. 18 1924 hatte sich die Akademie unter der Voraussetzung und Zielstellung der wissenschaftlichen Förderung der praktischen und sozialen Medizin und sozialen Hygiene gegründet. Vgl. Korrespondenzblatt der ärztlichen Kreis- u. Bezirksvereine in Sachsen 97 (1926), H. 3, S. 17. 19 Themen der freiwilligen Kurse waren unter anderem „Frühdiagnose bei Tuberkulose", „Röntgendiagnostik für den praktischen Arzt", „Bäder- und Klimaheilkunde", „Unfallchirurgie für den praktischen Arzt".

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Kurse die „Neue Deutsche Heilkunde". Solche Pflichtkurse wurden nicht nur in Dresden, sondern in ganz Deutschland von der Dresdener Akademie organisiert.20

2. Dresden als Zentrum der Propagierung der,.Neuen Deutschen Heilkunde" im Deutschen Reich Mit der „Neuen Deutschen Heilkunde"21 - ein Begriff, der bereits seit 1929 als Beschreibung einer angestrebten Synthese von Schulmedizin und Außenseitermethoden in Gebrauch war - wurde nach 1933 in letzter Konsequenz die Aufgabe der Medizin formuliert, ein starkes gesundes Geschlecht durch Förderung und Stählung der Eigenkräfte des Organismus zu schaffen. Das bedeutete die Ausmerzung Erbkranker, die Pflege des Starken und Gesunden durch Hinführung zu naturgemäßer Lebensweise, eine starke prophylaktisch ausgerichtete Medizin, die nicht Schonung, sondern Übung und Aktivität sowie den Gesundheitswillen fördern sollte. Dementsprechend erging an die Arzte die Aufforderung, sich mit Naturheilverfahren, Homöopathie und anderen alternativen Heilmethoden zu beschäftigen und entsprechenden Vereinen beizutreten. Damit würden zugleich Heilpraktiker und andere „Konkurrenten" des Arztes überflüssig (womit zugleich auch ein standespolitisches Problem gelöst werden sollte). Lediglich der Arzt bliebe „Gesundheitsfiihrer" seiner Patienten und könne so auch rassenhygienisches und biologistisches Gedankengut an seine Patienten weitergeben sowie deren Gesundheitsverhalten beeinflussen. Dresden sollte - mit dem Hygiene-Museum, der Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege und einem geplanten „Biologischen Zentralkrankenhaus" - zum Zentrum der Propagierung der „Neuen Deutschen Heilkunde" in Deutschland avancieren. Das Stadtkrankenhaus Dresden-Johannstadt wurde dazu ausersehen, als Stätte für eine „Synthese von Schulmedizin und Naturheilkunde" und konstitutionsbiologische bzw. rassenhygienische Forschungen zu dienen. Reichsärztefuhrer Gerhard Wagner (1888-1939) 22 reiste im Mai 1934 persönlich nach Dresden, um sich die Bedingungen vor Ort anzusehen und die notwendigen Absprachen vorzunehmen. Begleitet wurde er von Fritz Bartels (1892-1968) 23 seinem Vertrauensmann im Reichsinnenministerium und späteren Stellvertreter, und Hermann Jensen (18951946), Wagners Favorit für die Stellung eines Leitenden Arztes des Krankenhauses,

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Vgl. D A 208 (1938), Nr. 40, S. 4 (10.02.1938). Zur Neuen Deutschen Heilkunde vgl. Bothe, Detlef, Neue Deutsche Heilkunde 1933-1945, dargestellt anhand der Zeitschrift „Hippokrates" und der Entwicklung der volksheilkundlichen Laienbewegung, H u s u m 1991; T h o m , A c h i m / Caregorodcev, Genadij Ivanovic, Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin 1989, S. 251-280; Rothschuh, Karl-Eduard, Das Verhältnis von „Schulmedizin" und „Naturheilkunde" in historischer Sicht, in: Deutsches Ärzteblatt 81 (1984), S. 122-125. Siehe Weiß, 2002, wie Anm. 15, S. 472 f. Siehe Reeg, Karl-Peter, Friedrich G e o r g Christian Bartels (1892-1968), H u s u m 1968.

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um Wagners Intentionen schnellstmöglich umzusetzen. Jensen, seit 1928 Mitglied der NSDAP, hatte sich bereits in Hannover als Oberarzt der Chirurgischen Abteilung „bei der Machtübernahme durch die NSDAP (...) an die Spitze der Ärzteschaft" gestellt, das „Mutterhaus der Braunen Schwestern"24 mitbegründet und bereits zuvor seine Mitarbeiter unter Druck gesetzt, in die NSDAP einzutreten.25 Bei der „Machtübernahme durch den Nationalsozialismus" - so Wagner - wäre deutlich zutage getreten, „daß nicht überall das Vertrauen zu den Ärzten und den Schulmedizinern vorhanden war und die Naturheilmethoden immer mehr Anhänger gewannen. Wenn der deutsche Arzt aber auf dem Gebiete der Volksgesundheit und der Rassenhygiene führend sein wolle, so müsse er das Vertrauen des Volkes haben. Neben seiner fachwissenschaftlichen Ausbildung müsse die notwendige weltanschauliche und biologische Ausbildung treten. Vor allem müsse die Ehrfurcht vor den Heilkräften der Natur wieder aufkommen." 26 Es wurde vereinbart, das Stadtkrankenhaus in Rudolf-Heß-Krankenhaus umzubenennen, was der Rat der Stadt Dresden dann auch zum 16. November des Jahres beschloss. Das Krankenhaus blieb wirtschaftlich eine städtische Einrichtung, wurde aber „der Partei bzw. der Bewegung" zur Verfugung gestellt. Der NSD-Ärztebund übernahm die entstehenden Mehrkosten, insbesondere Personalkosten.27 Bereits am 5. Juli 1934 wurde Hermann Jensen als neuer Chefarzt feierlich eingewiesen und war ausdrücklich allen Mitarbeitern des Klinikums, auch dem Verwaltungsdirektor und den

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Da Jensen bereits in Hannover die Gründung der „Braunen Schwesternschaft" gefördert und die „erste nationalsozialistische Krankenpflegeschule" geleitet hatte, wurde im Mai 1934 festgelegt, dass „ganz nach den Grundsätzen des bereits in Hannover bestehenden Mutterhauses" auch am Johannstädter Krankenhaus (unter Nutzung der bisherigen Schwesternschule) ein Mutterhaus für die Braune Schwesternschaft eingerichtet werden sollte. Die Leitung der Schule oblag wiederum Jensen. NS-Schwestern aus Hannover zogen nach Dresden und nahmen die Schwesternschule als „Reichsmutterhaus der NSSchwesternschaft" in ihren Besitz. Entsprechend der Aufnahmebestimmungen vom Juni 1934 sollten in die NS-Schwestemschaft nur „staatlich geprüfte Schwestern, die entweder selbst Parteigenossinnen sind oder die durch eine Bestätigung ihres zuständigen Ortsgruppenleiters nachweisen, dass ihre Familie vor dem 30. Januar 1933 nationalsozialistisch war (z.B. Vater oder Bruder in der SA)", eintreten dürfen. Anmeldungen als Schülerinnen bzw. Anwärterinnen für die NS-Schwesternschaft waren an das Mutterhaus zu richten. Mit der naturheilkundlichen Orientierung des Klinikums ging auch eine Erweiterung der Ausbildungsinhalte einher, etwa der Vermittlung von Kenntnissen zur diätetischen Beratung von Patienten, Wasseranwendungen und gymnastischen Übungen. Darüber hinaus wurden auch „Rassenhygiene" und „Erbbiologie" als Unterrichtsfacher eingeführt; generell erhielt die weltanschauliche Schulung eine zentrale Bedeutung. Vgl. dazu: Lienert, Marina/ Langhans, Sabine, Die Geschichte der Medizinischen Berufsfachschule in Dresden-Johannstadt, in: Albrecht, Detlev Michael (Hg.), Dresdener Medizin zwischen Krankenhaus und Fakultät, Schriften der Medizinischen Fakultät T U Dresden, N.F. Bd. 4, Dresden 2000, S. 57-74, zit. n. S. 62-64; Lienert, Marina, Schwesternausbildung und Mutterhaus der „Braunen Schwesternschaft", in: Scholz, Albrecht/ Heidel, Caris-Petra/ Lienert, Marina (Hg.), Vom Stadtkrankenhaus zum Universitätsklinikum, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 125-127. 25 Niedersächsisches Staatsarchiv Hannover, 171, Nr. 21616. Zit. n. Breiding, Birgit, Die Braunen Schwestern, Stuttgart 1998, S. 103. 26 Zit. n. Stephan, 1986, wie Anm. 2, S. 99. 27 Stadtarchiv Dresden, Stadtgesundheitsamt. Personalakte Dr. Häufte, H 78, n.p. Protokoll vom 09.05.1934, Bl. 1.

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anderen Leitenden Oberärzten, vorgesetzt.28 Damit fand - wie generell an öffentlichen Institutionen und Organisationen - auch am Rudolf-Heß-Krankenhaus das „Führerprinzip" seine volle Verwirklichung. Die Umgestaltung zum „Biologischen Zentralkrankenhaus für das ganze Reich" ging zugleich mit personellen und strukturellen Veränderungen einher.29 Neben der Inneren Abteilung waren 1934 auch eine Ernährungs-, eine Hydrotherapeutische und eine Abteilung für Naturheilkunde begründet worden. Diese wurden 1936 zu einer gemeinsamen Abteilung bzw. Klinik für Naturheilkunde zusammengeführt und Alfred Karl Brauchle (1898-1964) unterstellt. Brauchle war von 1928 bis zu seiner Berufung nach Dresden 1934 Leitender Arzt des Naturheilkunde-Krankenhauses in Berlin-Mahlow. Gemeinsam mit dem als ärztlicher Leiter der Inneren Abteilung 1934 berufenen ehemaligen Chefarzt in Dr. Lahmanns Sanatorium Louis Radcliffe Grote (1886-1960) wurden beide zu den eigentlichen Repräsentanten des Versuchs, die Wirksamkeit naturheilkundlicher Verfahren in der Klinik zu erproben und damit die erstrebte Verbindung zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde zu erreichen. Allerdings sollte sich das Rudolf-Heß-Krankenhaus nicht nur durch die angestrebte Synthese von Schulmedizin und Naturheilkunde auszeichnen, sondern auch durch erbbiologische Forschung. Dementsprechend wurde die Leitung der pathologischen Abteilung 1934 Hermann Alois Böhm (1884-1962) 30 übertragen, seit 1923 Mitglied der NSDAP und „Blutordensträger", von 1931 bis 1933 Rassenhygienischer Referent des NSDÄB und 1933/34 Wissenschaftlicher Leiter für Vererbungslehre und Rassenhygiene im Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst. Im November 1934 wurde er zudem auf ausdrücklichen Wunsch des Reichsärzteführers ordentlicher Honorarprofessor für Rassenpflege an der Leipziger Universität.31 Seine Aktivitäten in Dresden verdeutlichen seine Haltung und politische Auffassung, denn Boehm hielt nicht nur Vorlesungen über „Allgemeine und menschliche Vererbungslehre" im Rahmen der

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Stadtarchiv Dresden, Stadtgesundheitsamt. Personalakte Dr. Hauffe, H 78, n.p. Protokoll vom 09.05.1934, Bl. 4. Zur geplanten und tatsächlichen Umgestaltung des Krankenhauses zum „Biologischen Zentralkrankenhaus" siehe ausfuhrlich: Lienert, Marina, D a s Stadtkrankenhaus in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Scholz, Albrecht/ Heidel, Caris-Petra/ Lienert, Marina (Hg.), V o m Stadtkrankenhaus zum Universitätsklinikum, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 104-142. D e m „Großen Experiment" entsprechend wurde 1935 an der Inneren Abteilung eine von Grote und Brauchle gemeinsam betreute Gemeinschaftsstation eingerichtet, womit die Möglichkeit geschaffen wurde, nach internistischer („schulmedizinischer") Diagnosestellung die Anwendung von Naturheilverfahren bei inneren Erkrankungen klinisch zu erproben und deren Wirksamkeit (bis zur Entlassung des Patienten) zu dokumentieren. Siehe Lienert, Marina, Kurzbiographien der leitenden Oberärzte bzw. Direktoren der Kliniken, in: Scholz, Albrecht/ Heidel, Caris-Petra/ Lienert, Marina (Hg.), V o m Stadtkrankenhaus zum Universitätsklinikum. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 253-272, zit. S. 255. Vgl. Schwager, Matthias, Die Versuche zur Etablierung der Rassenhygiene an der Leipziger Universität während des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung des Lebens und Wirkens von Hermann Alois Boehm, Med. Diss., Leipzig 1992, S. 31-33.

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Kurse über Rassenkunde und Rassenpflege des Deutschen Hygiene-Museums, er war auch Vorsitzender des Disziplinargerichtes des NSDÄB (Gau Sachsen) und Mitglied des Erbgesundheitsgerichtes. Geplant war zudem die Besetzung der Kinderklinikleitung mit einem „Kinderfacharzt von Ruf', der „besonders bewährt ist als Konstitutionsforscher".32 Zwar kam dies nicht zum Tragen und von dem verbleibenden (seit 1930) ärztlichen Leiter Hans Bardt (1877-1953) sind keine öffentlichen Äußerungen zu erbbiologischen oder rassenhygienischen Fragen bekannt, doch wurden Anfang der vierziger Jahre von der Klinik die vorgeschriebenen Meldungen 33 an die Gesundheitsämter erstattet, wenn ein Kind mit einem „schweren angeborenen Leiden" an der Klinik aufgenommen worden war.34

3. Die wissenschaftliche Institutionalisierung der Rassenhygiene in Sachsen Der Gedanke, den gesunden, leistungsstarken Menschen zu fördern und zugleich Kranke und Schwache an der Fortpflanzung zu hindern, war durchaus nicht neu. Solche Ideen finden sich bereits seit der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein, wo die Kastration und Anwendung geheimnisvoller Säfte und Kräuter zur dauernden oder vorübergehenden Unfruchtbarmachung aus eugenischer Indikation empfohlen wurden. Allerdings fanden diese Auffassungen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre geistes- und naturwissenschaftliche Begründung, weshalb sie nicht zuletzt bei Wissenschaftlern, einschließlich Ärzten, in zunehmendem Maße auf Resonanz stießen. Eine wissenschaftliche Begründung fand sich insbesondere mit dem Sozialdarwinismus, der Rassenlehre und den ersten Erkenntnissen der Vererbungsbiologie. Aus deren Synthese resultierten unter dem Begriff der „Rassenhygiene" bereits um die Jahrhundertwende Bestrebungen, die gesundheits- und bevölkerungspolitischen Probleme durch eine sowohl qualitative „Verbesserung" der Erbanlagen des Volkes („Züchtung") als auch Verhinderung der Weitergabe schlechten Erbgutes zu lösen. Den gesunden, starken und Ich-bewussten Menschen und Mitmenschen wünschten sich sowohl Medizin und Gesundheitswesen als auch Philosophie,35 der

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Stadtarchiv Dresden, Stadtgesundheitsamt, Personalakte Dr. Häufle, H 78, n.p., Protokoll vom 09.05.1934, Bl. 2. Laut vertraulichem Runderlass des Reichsministeriums des Innern an die Landesregierungen vom 18. August 1939, wonach Arzte und Hebammen zur Meldung von „schweren angeborenen Leiden" bei Kindern bis zum 3. Lebensjahr an das zuständige Gesundheitsamt verpflichtet wurden. Dem Institut flir Geschichte der Medizin der T U Dresden liegen Krankenakten von 18 Kindern vor, die im Zeitraum von Juni 1943 bis Dezember 1944 in der Abteilung für Kinderheilkunde des Gerhard-Wagner-Krankenhauses (Umbenennung des Rudolf-Heß-Krankenhauses 1941) behandelt, dort verstorben oder entlassen worden sind. In einem Fall ist die auf amtsärztliche Weisung und Beschluss des „Reichsausschusses" erfolgte Verlegung in die „Kinderfachabteilung" Leipzig-Dösen angegeben. Vgl. Nietzsche: „Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf. Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Berlin [oj.], S. 85.

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Wehrdienst oder der Naturalismus in der Kunst. Die ersten wissenschaftlichen Grundlagen waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg festgelegt und standen für eine breite Rezeption des rassenhygienischen Denkens im In- und Ausland.36 Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt der eugenische Gedanke gerade bei deutschen Rassenhygienikern eine neue Tönung: man sprach von „Rassenselbstmord" und vom „Volkstod" und bekräftigte die rassenhygienische Forderung, dass es gerade in dieser prekären Lage des deutschen Volkes nicht jedem gestattet sein sollte, sich fortzupflanzen. Hierzu gehörte bekanntlich auch die Forderung, auf die Existenz „nutzloser Lebensträger" zu verzichten - nicht nur, um die Erbsubstanz des Volkes zu verbessern, sondern auch um den Staat und die Allgemeinheit von den Kosten zu entlasten. Mit durchaus auch staatlicher Förderung hatten sich nicht nur Gesellschaften für Rassenhygiene gegründet und eine eigene Zeitschriftenliteratur herausgebildet; Rassenhygiene wurde noch vor 1933 auch an den Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen institutionalisiert und sollte nicht zuletzt zu einer der zentralen medizinischen Disziplinen avancieren. In diese Entwicklung war Sachsen nicht nur involviert, sondern wurde sogar zu einem wichtigen Schauplatz. So hatte etwa Philaletes Ernst Kuhn (1870-1937)37 1920 gemeinsam mit Alfred Heiduschka (1875-1957) die Nachfolge des zum selben Zeitpunkt zurückgetretenen Direktors der Sächsischen Landesstelle für öffentliche Gesundheitspflege, Friedrich Georg Renk (1850-1928), angetreten. Nach wiederholten Einsätzen in Afrika und zahlreichen Anstellungen in Deutschland wurde Kuhn 1915 zum planmäßigen a.o. Professor und stellvertretenden Leiter des Hygieneinstitutes in Straßburg (Elsaß) ernannt, musste sich jedoch nach Ende des Ersten Weltkrieges zunächst an der Universität Tübingen als Privatdozent für Sozialund Rassenhygiene ein neues akademisches Wirkungsfeld suchen. 1920 als chemischer Direktor an die Landesstelle nach Dresden berufen, wurde Kuhn gleichzeitig zum ordentlichen Professor für Hygiene an der Technischen Hochschule Dresden und zum Direktor des Hygieneinstitutes ernannt, erhielt eine Berufung in das Kuratorium des Deutschen Hygiene-Museums, zum wissenschaftlichen Leiter der Lingner-Stiftung sowie zum Mitglied des Sächsischen Landesgesundheitsamtes. Im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit am Hygieneinstitut standen insbesondere rassenhygienische Arbeitsthemen. Bezeichnend für seine ideologische und politische Position dürften nicht zuletzt seine Antrittsrede 1920 mit dem Thema „Gedenke, dass Du ein deutscher Ahnherr bist", seine 1924 erfolgte Ernennung zum Führer des völkisch-sozialen Blocks von Ostsachsen sowie die in mehreren

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Vgl. insbesondere die Beiträge von Michael Schwarte und Heinrich Zankl in diesem Band. Zu biographischen Angaben siehe: Petschel, Dorit (Bearb.), Die Professoren der TU Dresden 18282003, Bd. 3, 175 Jahre T U Dresden, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 510 f.; vgl. auch Heidel, Caris-Petra/ Hippe, Jaqueline, Der Hygieniker und Bakteriologe Heinrich Wilhelm Conradi (1876-1943). Sein Schicksal in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Zeitschrift fiir ärztliche Fortbildung und Qualitätssicherung 91 (1997), S. 569-576, hier S. 574.

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Auflagen erschienene Schrift „Von deutschen Ahnen für deutsche Enkel: Allgemeinverständliche Darstellung der Erblichkeitslehre, der Rassenkunde und der Rassenhygiene"38 sein. Zum 1. April 1926 nahm Kuhn, nachdem er sich noch erfolglos um das Amt des Rektors der Technischen Hochschule beworben hatte, einen Ruf als ordentlicher Professor für Hygiene an die Universität Gießen an. 1927 war der aus Wien stammende Rassenphysiologe Otto Reche (1879-1966) nach Sachsen berufen worden, um an der Universität Leipzig das Institut für Rassen- und Völkerkunde zu leiten. Die Leitung des Pathologisch-Hygienischen Institutes in Chemnitz wurde 1927 dem aus der Provinz Posen stammenden Pathologen Martin Staemmler (18901974)39 übertragen. 1931 der NSDAP beigetreten und kurz darauf zum Gaufachberater für Rassenfragen ernannt, war er Mitglied der Nationalsozialistischen Fraktion der Chemnitzer Stadtverordnetenversammlung und übernahm 1933 zunächst die Leitung des Krankenpflegeamtes Chemnitz. Seit Oktober 1933 nahm er einen vom Sächsischen Ministerium der Volksbildung angetragenen Lehrauftrag für Rassenhygiene an der Universität Leipzig wahr und folgte 1934 einem Ruf als ordentlicher Professor für Pathologie an die Universität Kiel. Noch 1931 hatte Staemmler auf der Reichstagung des NSD-Arztebundes einen Vortrag über „Rassenkunde im völkischen Sinne" gehalten und sich insbesondere in seiner 1932 im Manuskript vorliegenden und 1933 veröffentlichten Monographie „Rassenpflege im völkischen Staat"40 ausführlich und eindeutig zu Fragen der Rassenhygiene geäußert. Unter dem Mahnruf „Volk in Not!" forderte er nachdrücklich die „Verhütung erbkranken Nachwuchses" zur „Gesunderhaltung der [arischen] Rasse". In diesem Zusammenhang trat er für die Schaffung von „Rassenämtern" ein, zu deren Hauptaufgabe die Erbgesundheitsüberprüfung und Festlegung des „Erbwertes" der heranwachsenden Kinder gehören sollte. Als „minderwertig" eingestufte Personen sollten als Träger ungesunder Erbanlagen - wozu er neben Geisteskrankheiten und schweren körperlichen Missbildungen auch Gewohnheitsverbrechertum, Trieberkrankungen, Prostitution, schweren Alkoholismus sowie andere Suchterkrankungen rechnete unfruchtbar gemacht werden.41 Forderungen und Gesetzesvorlagen zur eugenischen Zwangssterilisierung sind in Sachsen bereits um 1900 erstellt worden, 1899 etwa von dem Nerven- und Anstaltsarzt in Colditz Paul Adolf Naecke (1851-1913), der gewisse Klassen von „Entarteten" unfruchtbar machen wollte. Dies deckte sich mit den Forderungen des Psychiaters und unter anderem an der gesundheitlichen Volksaufklärung des DHM

38 Erstausgabe 1933, 3. Aufl. 1936. 39 Zur Biographie siehe: Künzel, Wolf, Das Pathologisch-Hygienische Institut Chemnitz und seine Leiter 1898 bis 1998, in: Stadtarchiv Chemnitz (Hg.), Beiträge zur Stadtgeschichte von Chemnitz, Bd. 3, Radebeul 1999, S. 135-156, hier S. 135 ff 40 Staemmler, Martin, Rassenpflege im völkischen Staat, München 1933; Rezension in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 35 (1933), S. 598; die „Rassenpflege" erhielt mehrere Nachauflagen. 41 Vgl. Staemmler, 1933, wie Anm. 40, S. 129.

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beteiligten Rassenhygienikers Ernst Rüdin (1874-1952), der 1903 die Sterilisierung unheilbarer Trinker forderte. Der nicht weniger prominente erste Ordinarius für Rassenhygiene an der Universität München, Fritz Lenz (1897-1976), befürwortete den künstlichen Abort aus rassenhygienischer Indikation. 1923 unterbreitete der ehemalige sächsische Amtsarzt Gustav Boeters (1869-1942) der sächsischen Regierung und dem Reichsgesundheitsamt einen Gesetzentwurf „Die Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen (Lex Zwickau)". Auf Veranlassung Boeters hatte der Arztliche Direktor und Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Staatlichen Krankenstiftes Zwickau, Heinrich Braun (1862-1934), ein Mädchen und drei Jungen aus eugenischen Gründen sterilisiert, wozu er sich 1924 auch öffentlich bekannte. Boeters selbst verwies auf in den zwanziger Jahren bekannte Sterilisierungen sog. „Entarteter", die von der zuständigen Staatsanwaltschaft wissentlich ohne Einschränkung geduldet wurden, obgleich nach geltendem Recht sich ein Arzt in Deutschland bis Ende 1933 strafbar machte, wenn er Sterilisierungen aus eugenischen, sozialen oder privatwirtschaftlichen Indikationen durchführte. Obwohl die Debatte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre abflaute, gewannen die propagierten Begriffe und ihre Inhalte eine unübersehbare wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung, was letztlich die Identifizierung gerade der Arzte mit dem Ideengut und den Maßnahmen des Nationalsozialismus beträchtlich beförderte. Bis 1933 konnte allerdings in Deutschland unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie weder ein Sterilisierungsgesetz - wenngleich durchaus Sterilisierungen aus eugenischen Gründen durchgeführt worden sind42 - noch gar ein sog. „Euthanasie"-Gesetz verabschiedet werden.

4. Praktische Konsequenzen rassenhygienischer Forderungen die Legalisierung der eugenischen Zwangssterilisierung und deren Durchfuhrung in Sachsen Mit Erhebung der Rassenhygiene zur Staatsdoktrin und mit der Zielstellung der „Aufartung" des eigenen Volkes sowie der Diskriminierung von „Minderwertigen" verabschiedete die Reichsregierung am 14. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses",43 das offiziell am 1. Januar 1934 in Kraft trat.44 Dieses Gesetz - auch als „Sterilisierungsgesetz" oder „Erbgesundheitsgesetz" bezeichnet war von Anfang an auf eine sowohl zwangsweise als auch breitflächige Anwendung 42

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Sterilisierungsgesetze gab es vor 1930 bereits im Ausland, etwa in Dänemark (1929) und in 24 Bundesstaaten der USA. Auch in Schweden lag 1922 ein Gesetzentwurf zur Sterilisation geistig Behinderter vor; verbindliche Gesetze wurden jedoch erst 1934 und 1941 verabschiedet. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, Reichsgesetzblatt I, S. 529. Zwangssterilisationen wurden nachweislich bereits mit Verabschiedung des Gesetzes, also noch vor dessen Inkrafttreten, durchgeführt.

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in der deutschen Bevölkerung gerichtet;45 und stieß bei den meisten Ärzten auf Zustimmung.46 Anzeigepflichtig war jeder behandelnde Arzt, der bei einem Patienten den Verdacht einer Erbkrankheit hegte bzw. diese bereits diagnostiziert hatte. Allerdings konnten auch alle anderen Personen aus der Umgebung eines sog. „Erbkranken" eine Anzeige beim Amtsarzt erstatten.47 Als „erbkrank" galt laut Gesetz: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht (Epilepsie), erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung. Auch bei „schwerem Alkoholismus" war die Möglichkeit der Unfruchtbarmachung per Gesetz gegeben.48 Den Antrag auf ein Sterilisierungsverfahren konnte ein Amtsarzt, der Leiter einer Kranken-, Heil- und Pflegeanstalt oder Strafanstalt oder auch der „Erbkranke" selbst mit Vorliegen eines ärztlichen Gutachtens an das zuständige Erbgesundheitsgericht stellen, das über die Durchfuhrung einer eugenischen Unfruchtbarmachung entschied und eine Zwangssterilisierung anordnete. Für das Land Sachsen war am 29. Dezember 1933 vom Gesamtministerium unter dem sächsischen Ministerpräsidenten Manfred Freiherr von Killinger (18861944)49 eine eigene Durchfuhrungsverordnung zur Ausfuhrung des Erbgesundheitsgesetzes erlassen worden. Geregelt wurden hierin die Einrichtung von Erbgesundheitsgerichten und eines Erbgesundheitsobergerichtes, die Antrags- und Beschwerdeverfahren sowie die Verfahren bei den Gerichten, die Durchfuhrung der Sterilisierung und die Kostenfragen. Die Erbgesundheitsgerichte Sachsens befanden sich für die Bezirke der Landgerichte Bautzen, Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig, Plauen und Zwickau bei den jeweiligen Amtsgerichten. Neben den Erbgesundheitsgerichten wurden auch für den Bezirk der Oberlandesgerichte ein Erbgesundheitsobergericht50 gebildet, das 45

Deutlich wird dies auch im Vergleich mit den Sterilisierungsmaßnahmen im Ausland: in den USA wurden im Zeitraum 1907 bis 1934 ca. 10.000 Menschen sterilisiert, in Deutschland innerhalb von elfjahren (1934-1945) etwa 300.000 bis 400.000 Frauen und Männer. Vgl. Bach, Christiane, Die Zwangssterilisierung auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Bereich der Gesundheitsämter Leipzig und Grimma, die Tötung Geisteskranker und die Rolle der erbbiologischen Erfassungs- und Begutachtungspraxis der Psychiatrie zwischen 1933 und 1945, Med. Diss., Leipzig 1990, S. 17. Siehe auch Koch, Thomas, Zwangssterilisierung im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsfrauenklinik Göttingen, Med. Diss., Frankfurt am Main 1994, S. 7; Daum, Monika/ Deppe, Hans-Ulrich, Zwangssterilisierung in Frankfurt am Main 1933-1945, Frankfurt am Main, New York 1991, S. 10 £ 46 Vgl. Ehlers, Paul Nikolai, Die Praxis der Sterilisierungsprozesse in den Jahren 1934-1945 im Regierungsbezirk Düsseldorf unter besonderer Berücksichtigung der Erbgesundheitsgerichte Duisburg und Wuppertal, Diss. Rechtswiss., München 1994, S. 31 ff! Zur Kritik am „Sterilisierungsgesetz" seitens der Arzte (einschl. Rassenhygieniker) sowie zur Haltung der Kirche siehe: Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 20-25. 47 Vgl. Bach, 1990, wie Anm. 45, S. 21. 48 Über den Instanzenweg des Sterilisierungsverfahrens siehe ausfuhrlich: Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 43-90. 49 Zu Killinger siehe: Wawrzinek, Bert, Manfred von Killinger (1886-1944). Ein politischer Soldat zwischen Freikorps und Auswärtigem Amt, Oldendorf2003; Weiß, 2002, wie Anm. 15, S. 263 f. 50 Das sächsische Erbgesundheitsobergericht befand sich in Dresden auf der Pillnitzer Straße.

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fiir Beschwerdeverfahren, das heißt, wenn der Betroffene selbst oder dessen gesetzlicher Vertreter gegen das Urteil des Erbgesundheitsgerichtes Beschwerde einlegte, zuständig war. Das beschlussfähige Gremium der Erbgesundheits(ober)gerichte setzte sich aus drei Mitgliedern zusammen: dem Vorsitzenden des Gerichts - ein Jurist (z.B. Amtsrichter des Landesgerichtes, Amtsgerichtsrat, Landesgerichtsdirektor) -, einem beamteten Arzt (Amtsarzt) und einem approbierten, mit der „Erbgesundheitslehre besonders vertrauten" Arzt. Die Mitglieder wurden vom Sächsischen Justizministerium für die Dauer eines Kalendeijahres bestellt. Mitglieder des Erbgesundheitsobergerichtes Sachsen waren neben dem Vorsitzenden, dem Juristen und Senatspräsidenten Paul Zachmann, als ärztliche Vertreter der bereits genannte Staatskommissar für das gesamte Gesundheitswesen Sachsen Ernst Wegner, der Psychiater Hermann Paul Nitsche (1876-1948), seit 1928 Direktor der Landesanstalt Pirna-Sonnenstein, Hermann Alois Böhm,51 der Rassenhygieniker Hermann Vellguth52 (geb. 1906), seit 1933 wissenschaftlicher Leiter der „Abteilung fiir Erb- und Rassenkunde" am Deutschen Hygiene-Museum, und der Chemnitzer Pathologe Martin Staemmler. Ebenfalls am Erbgesundheitsobergericht an Sterilisierungsverfahren beteiligt war der schon erwähnte Leitende Arzt der Medizinischen Klinik am Rudolf-Heß-Krankenhaus Dresden, Louis Radcliffe Grote. Grote war nachweislich in mindestens sieben Fällen in die Verurteilung von Frauen in Sterilisierungsprozessen am Erbgesundheitsobergericht involviert. Darüber hinaus nahm er auch an einer Reihe von Verhandlungen über die Unfruchtbarmachung von Insassen der Landesgefangenenanstalt Hoheneck im Medizinalbezirk Chemnitz teil. Bereits 1934, während seiner kurzen Tätigkeit am Krankenhaus Zwickau, war er zum Beisitzer im Erbgesundheitsgericht Zwickau bestellt worden.53 Wegen offensichtlich bestehender Unklarheiten zum Verfahren und der Anwendung des Erbgesundheitsgesetzes in den Medizinalbezirken Sachsens wurde auf Landesebene beschlossen, noch zur Jahresmitte eine Zusammenkunft der Bezirksärzte und Mitglieder der Erbgesundheitsgerichte einzuberufen. An der am 7. Juli 1934 in Dresden, im Großen Saal des Deutschen Hygiene-Museums, stattfindenden

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Böhm ging 1938 ging nach Rostock und übernahm 1943 den Lehrstuhl für Rassenhygiene der Universität Gießen. Zudem leitete er das „Erbbiologische Forschungsinstitut" an der Führerschule der deutschen Ärzteschaft in Alt-Rehse/Mecklenburg und war 1939 Herausgeber der Schrift „Erbgesundheit Volksgesundheit". Laut Personalakte des DHM wurde Vellguth Ende Januar 1936 nach Berlin berufen, war aber noch 1936 fiir das EOG in Dresden tätig; ab Januar 1937 im Staatlichen Gesundheitsamt in Ostpreußen, seit Oktober 1937 im Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern Berlin, seit November 1939 im Hauptgesundheitsamt der Stadt Wien; trat Februar 1943 in die Waffen-SS ein; wurde am 28.08.1944 als vermisst gemeldet. Vgl. Stephan, 1986, wie Anm. 2, S. 439; Bundesarchiv Berlin, BDC, Karteikarte der Reichsärztekammer, Vellguth, H. Grote blieb bis 1945 Direktor der Medizinischen Klinik des Rudolf-Heß- bzw. Gerhard-Wagner-Krankenhauses Dresden, danach war er als Chefarzt in Wetzlar und in Glotterbad an der „Schwarzwaldklinik" tätig.

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Beratung nahmen etwa 120 Ärzte, Richter und Ministerialbeamte teil, die mit den „Standpunkten" der „Erbgesundheitsgerichte", „der mit der verwaltungsmäßigen Durchfuhrung betrauten Bezirksärzte" sowie „der Heil- und Pflegeanstalten" vertraut gemacht wurden. Die Verhandlungen vor den Erbgesundheitsgerichten, die in der Regel nur 15 Minuten dauerten, waren nicht öffentlich. Weder die von einer Zwangssterilisierung Betroffenen noch deren Rechtsanwälte erhielten Akteneinsicht.54 Oftmals wurde den Personen erst während der Verhandlung der wahre Grund des Verfahrens mitgeteilt. Die Kommission stützte sich vor allem auf das amtsärztliche Gutachten. War die Diagnose nicht eindeutig, wurden die gemeldeten „Erbkranken" zur Beobachtung in städtische Nervenkliniken eingewiesen, wobei zur Erstellung der Gutachten häufig auch Assistenzärzte in Facharztausbildung herangezogen wurden. Die Begutachtung von Kranken in Heil- und Pflegeanstalten ist - neben Ober- und Assistenzärzten - sogar auch Hilfsärzten übertragen worden. Immerhin sind gerade in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes Anzeigen mit nicht eindeutigen bzw. medizinisch nicht gesicherten Diagnosen von den Erbgesundheitsgerichten auch zurückgewiesen worden. Nach einem Erfahrungsbericht habe das Spektrum angezeigter Erbkrankheiten von Migräne, Psychopathie bis zu Encephalitis epidemica gereicht.55 Bei der Diagnose „angeborener Schwachsinn" wurde zusätzlich anhand eines Intelligenz-Prüfungs-Bogens die Merk- und Konzentrationsfähigkeit, das allgemeine und schulische Wissen sowie bestimmte Verhaltensweisen des „Erbkranken" überprüft.56 Große Bedeutung kam zudem der Familienanamnese zu, die gerade bei der medizinisch nicht eindeutig definierten Diagnose „angeborener Schwachsinn" auch die Berücksichtigung sogenannten „asozialen" Verhaltens zuließ. Aussagen wie „Patientin hat 5 uneheliche Kinder", „ihre Mutter war immer widerspenstig und gehässig, deren Vater war Trinker" oder „Der Vater wird als Spieler, Trinker, Streitkopf und Rohling geschildert, der seine Familie verlassen hat. (...) Bruder Fritz (...) zeigt auch ausgesprochene asoziale Veranlagung (...) Bruder Willi (...) ebenfalls (...) und wird als faul, frech und unehrlich geschildert (...)" wurden nicht nur zur Bestimmung einer „Erbkrankheit" hinzugezogen, sondern zur Begründung der notwendigen „Ausmerzung" unliebsamer Familien genutzt.57

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Seit 1935 waren Rechtsanwälte als Verteidiger zugelassen, deren Beteiligung an der Verhandlung aber jederzeit vom Gericht versagt werden konnte. Die Gerichtsakten verblieben zunächst beim Erbgesundheitsgericht; nach Bildung von staatlichen und kommunalen Gesundheitsämtern mit Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege am 1. April 1935 wurden auf Anordnung der Reichsregierung die Akten dem zuständigen Gesundheitsamt übersandt. Die Akten des Dresdener Erbgesundheitsgerichtes, seit 1935 im Dresdener Gesundheitsamt archiviert, sind nicht mehr nachweisbar. 55 Vgl. Lange, Wilhelm, Ergebnisse, Lehren und Wünsche, die sich aus der Jahrsarbeit (1934) eines Erbgesundheitsgerichtes (Chemnitz) ergeben, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 37 (1935), S. 76. 56 Vgl. Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 66 f. 57 Zit. n. Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 65.

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Waren die Untersuchungen in einer „Erbgesundheitssache" abgeschlossen, entschied die Kommission des Erbgesundheitsgerichtes über den Antrag mit dem rechtsgültigen Beschluss „Sterilisierung angeordnet" oder „Sterilisierung abgelehnt". In den ersten Jahren nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" hatten die Erbgesundheitsgerichte eine Flut von Anträgen zu bearbeiten. Bis zum 1. August 1935 meldete der Präsident des Reichsgesundheitsamtes den Eingang von 2.865 Akten von 172 Erbgesundheitsgerichten in Deutschland dabei waren einzelne sächsische Erbgesundheitsgerichte (unter anderem auch Dresden) zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erfasst. Zwischen 1934 und 1936 wurden jährlich ca. 84.600 bis 88.200 Sterilisierungsanträge gestellt, die zu 77 Prozent58 auch als Urteile ergangen sind.59 Ausgehend von den überlieferten Akten kann angenommen werden, dass an den sächsischen Erbgesundheitsgerichten bis 1939 jeweils bis zu 1.400 Fälle jährlich verhandelt wurden. Waren von der Anzeige zunächst besonders häufig Insassen der Heil- und Pflegeanstalten betroffen, so gerieten in den Folgejahren, als zunehmend „soziale Auffälligkeiten" als erblich deklariert und anerkannt wurden, neben Zöglingen in Fürsorgeeinrichtungen und Erziehungsheimen auch Straffällige - vor allem der Landesgefangenenanstalt Hoheneck und der Landesstrafanstalt Waldheim -, Prostituierte, vereinzelt auch KZHäftlinge unter diese Regelung. Gegen das Urteil konnte der „Erbkranke" oder sein gesetzlicher Vertreter innerhalb einer Frist von einem Monat (ab Juni 1935 nur innerhalb von 14 Tagen) Beschwerde beim Erbgesundheitsgericht einlegen. Unter Prüfung der Einwände musste der Sterilisierungsantrag vom Erbgesundheitsobergericht erneut entschieden werden. Der Weg der Beschwerde war für die Betroffenen beschwerlich und demütigend. Sie mussten sich zahlreichen Untersuchungen und Befragungen durch das Gericht, das Gesundheitsamt und die behandelnden Ärzte unterziehen. Mitunter hatte der Beschwerdeführer Erfolg, wie das Ergebnis eines anhand noch vorhandener Akten nachweisbaren Verfahrens in Chemnitz belegt.60 Nach Anzeige der Städtischen Nervenklinik Chemnitz im April 1939 und dem nur zwei Monate später erteilten Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes sollte eine damals 27jährige Frau aus Glauchau wegen „Zirkulärem Irresein" zwangssterilisiert werden. Der Ehemann hatte daraufhin über einen Rechtsanwalt Widerspruch eingelegt. Infolge des Kriegsausbruchs und personeller Veränderungen hatte sich das Verfahren am

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Vgl. Heesch, Eckard, Nationalsozialistische Zwangssterilisierungen psychiatrischer Patienten in Schleswig-Holstein, in: Demokratische Geschichte 9 (1995), S. 55-102. Genaue Zahlen sind nur aus den ersten drei Jahren des Inkrafttretens des Sterilisierungsgesetzes bekannt. Im Mai 1936 hatte Reichspropagandaminister Josef Goebbels eine weitere Veröffentlichung von Zahlen verboten - offensichtlich aufgrund der teilweise kritischen Stellungnahmen zum Sterilisierungsgesetz im In- und Ausland so dass für die nachfolgenden Jahre nur Schätzungen existieren. Vgl. Nitsche, Jürgen, Die Auswirkungen der Erb- und Rassenhygiene in der Zeit des Nationalsozialismus auf den Umgang mit Geistes- und Nervenkranken in der Stadt Chemnitz. Eine erste Bestandsaufnahme, in: Beiträge zur Stadtgeschichte, Aus dem Stadtarchiv Chemnitz, i.Dr.

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Erbgesundheitsobergericht in Dresden verzögert, so dass die Patientin erst im Herbst 1942 zur Begutachtung in die Landesanstalt Arnsdorf eingewiesen wurde. In dem Gutachten wurden die „Voraussetzungen für Unfruchtbarmachung" als „nicht erfüllt" begründet. Dementsprechend erteilte das Erbgesundheitsobergericht im November 1942 den Beschluss zur Ablehnung der Zwangssterilisierung. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass zu dieser Zeit - mitten im Krieg und angesichts der bereits eingeleiteten Massentötung psychisch Kranker - Zwangssterilisierungen nur noch vergleichsweise selten angewiesen wurden. Tatsächlich bestand für die Aussetzung der Sterilisierung generell und insbesondere bis 1939/40 nur eine sehr geringe Chance. In den meisten Fällen wurde die Beschwerde vom Erbgesundheitsobergericht zurückgewiesen.61 Nach vom Erbgesundheitsgericht angeordneter Unfruchtbarmachung hatte sich der „Erbkranke" innerhalb von 14 Tagen an einer der von den Landesregierungen zur Durchführung der Sterilisation ermächtigten öffentlichen Krankenanstalten zu melden. Für Patienten psychiatrischer Anstalten, Kliniken oder anderer Fürsorgeeinrichtungen war die Krankenanstalt festgelegt. Der Eingriff konnte auch gegen den Willen des Patienten unter Zwangseinweisung in die Klinik (auch mit Polizeigewalt) vorgenommen werden. In jedem Medizinalbezirk Sachsens wurden zunächst die Stadt- bzw. Bezirkskrankenhäuser größerer Städte als Sterilisierungskliniken ausgewählt. Allein in den Großstädten Chemnitz, Dresden und Leipzig standen ab 1. Januar 1934 jeweils mindestens drei Einrichtungen zur Verfügung. Im Sächsischen Gesetzblatt vom 30. Dezember 1933 waren 31 Sterilisierungskliniken für Männer und 15 Kliniken für Frauen angezeigt.62 Zum Eingriff berechtigt waren die jeweiligen Leiter der chirurgischen bzw. gynäkologischen Abteilung der benannten Krankenhäuser sowie „besonders geeignete" Oberärzte und berufserfahrene Assistenzärzte. Uber die öffentlichen Krankenanstalten hinaus wurden noch zusätzlich Privatanstalten und privat praktizierende Ärzte benannt, die die Eingriffe in besonders ausgewiesenen Krankeneinrichtungen (z.B. direkt in der Heil- und Pflegeanstalt oder im Krankenhaus der Gefangenenanstalt) durchführten. Damit existierten zum Juli 1935 in Sachsen 39 Sterilisierungseinrichtungen für Männer und 34 für Frauen (ohne Medizinalbezirk Zwickau).63 Art und Umfang der Zwangssterilisierungsmaßnahmen seien kurz am Beispiel der Frauenklinik Dresden-Friedrichstadt erläutert, die repräsentativ für die Sterilisierungspraxis auch in den anderen Regionen Sachsens bzw. Deutschlands gelten können:64 61

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Vgl. Fischer, Cornelia/ Fischer, Thomas, Die Entwicklung der psychiatrischen Betreuungspraxis in Plauen unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1933-1945, Med. Diss., Leipzig 1992, S. 74; Koch, 1994, wie Anm. 45, S. 51; Daum/ Deppe, 1991, wie Anm. 45, S. 121. Vgl. Sächsisches Gesetzblatt Nr. 45 vom 30. Dezember 1933, S. 200 f. Vgl. Sächsisches Verwaltungsblatt vom 5. Juli 1935, Teü I, Nr. 53, S. 338 f. Alle folgenden Daten sind entnommen aus: Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 96 ff

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In der Klinik wurden zwischen 1933 und 1939 nachweislich 708 Frauen zwangssterilisiert, vorrangig durch einen chirurgischen Eingriff Bei neun Frauen wurde trotz gültigem Gerichtsbeschluss keine Unfruchtbarmachung durchgeführt, und zwar aus medizinischen Gründen (bereits fortgeschrittene Schwangerschaft, erhöhtes Operationsrisiko, bestehende Sterilität aufgrund vorheriger Operationen). - Die meisten Unfruchtbarmachungen fanden in den Jahren 1934 bis 1936 statt, wenngleich auch bereits 1933 (vor offiziellem Inkrafttreten des Gesetzes) und auch nach 1940 bis 1944 Sterilisierungen aus eugenischen Gründen vorgenommen wurden. - Das durchschnittliche Alter der Frauen zum Zeitpunkt der Sterilisierung betrug ca. 28 Jahre, das heißt, dass vor allem Frauen zwischen dem 26. und 30. Lebensjahr sterilisiert wurden, auffallend häufig aber auch Mindeijährige und damit vor dem Gesetz „Unmündige" (allein 40 Mädchen in der Altersgruppe 11-15 Jahre). Die jüngste Patientin, die zur Sterilisierung in das Krankenhaus eingewiesen wurde, war am Tag ihrer Unfruchtbarmachung im August 1934 elfjahre alt; die älteste Patientin war 47 Jahre, sie wurde im Juli 1934 aufgrund der Diagnose „Schizophrenie" zwangssterilisiert. - Schizophrenie gehörte neben dem sog. „angeborenen Schwachsinn" und der Epilepsie zu den drei mit Abstand häufigsten der im Gesetz festgelegten neun Diagnosegruppen, was auch der hohe Anteil von 94 Prozent der am Friedrichstädter Krankenhaus zwischen 1933 und 1939 mit dieser Indikation sterilisierten Frauen belegt. Die Erkrankung „Schizophrenie" war häufiger bei Frauen über dem 25. Lebensjahr diagnostiziert worden, unter anderem bei Patientinnen, die bereits mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen (wie der Städtischen Heil- und Pflegeanstalt Löbtauer Straße) hinter sich hatten oder direkt aus einer psychiatrischen Anstalt (etwa Arnsdorf) zur Sterilisierung eingewiesen wurden. Mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn" sind hingegen auffallend häufig gerade jüngere Mädchen zur Sterilisierung gezwungen worden. Dies lässt sich wohl vor allem auch darauf zurückfuhren, dass in der Altersgruppe der 11-20 Jährigen ein hoher Anteil von Mädchen ausgewiesen wurde, die aus Erziehungsheimen wie etwa Moritzburg oder Kötschenbroda bei Dresden, aus dem städtischen Kinderheim sowie von Hilfsschulen kamen, und die oft aus zerrütteten oder sog. „asozialen" Familien stammten. Dass unter „angeborenem Schwachsinn" keineswegs eine einheitlich definierte und medizinisch begründete „Erb"krankheit festgestellt worden ist, beweist zweifelsfrei, dass unter dieser Diagnose alle Auffälligkeiten wie geistige Minderwertigkeit, Interessenlosigkeit, Lernschwäche, Mangel an Aktivität und Aufmerksamkeit, oder „geschlechtliche Ausschweifungen" zusammengefasst wurden. Waren derartige Alterationen seit dem frühen Kindesalter nachweisbar, wurden sie von den Gutachtern als „endogen" oder „angeboren" deklariert. Einer weiteren

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Abklärung bedurfte es nicht. So heißt es in einem Gutachten zu einem erst 14-jährigen Mädchen aus dem Erziehungsheim Berthelsdorf: „Soweit sie hier entlassen wird, wird sie bestimmt in einen liederlichen Lebenswandel verfallen. Da sie erblich belastet ist und in der Schule mehr oder weniger ein Versager gewesen ist, im freien Erwerbsleben aber sicher scheitern wird, und Kinder von ihr das schlechte Erbmaterial weitertragen würden, so halte ich die Unfruchtbarmachung für unbedingt notwendig". Als weitere Verhaltensaufialligkeit mit „Krankheitswert" wird im gleichen Gutachten festgestellt: „Sie ist noch ein richtiges Kind, spielt gern mit Puppen (...) und lässt sich im Guten wie im Bösen leicht beeinflussen (...) und zeigt ein starkes Liebes- und Anlehnungsbedürfnis."65 Die Mädchen wurden möglichst vor Erreichen der Volljährigkeit und damit vor der möglichen Entlassung aus dem Heim sterilisiert, da befurchtet wurde, dass die sog. „weniger schwer Erkrankten" im späteren Alltagsleben aufgrund ihrer „relativen UnaufFälligkeit" und damit nicht indizierten weiteren Anstaltsbetreuung der Sterilisierung entgehen könnten. Nicht Hilfe für diese Mädchen und Frauen sollte es geben, sondern Verhinderung der Existenz weiterer Pflege- und Fürsorgebedürftiger, die nicht dem wirtschaftlichen Interesse des nationalsozialistischen Staates entsprachen. Am 26. Juni 1935 wurde das Sterilisierungsgesetz zu einem „Abtreibungsgesetz" mit der Möglichkeit der Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischem Grund erweitert. Allein an der Friedrichstädter Frauenklinik wurden 37 Schwangerschaftsunterbrechungen mit gleichzeitiger Sterilisierung durchgeführt, nachweislich 14 bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes. Die Bestimmungen ließen Unterbrechungen vor Ablauf des 6. Schwangerschaftsmonats zu, doch wird sogar von zwei Fällen berichtet, wo die Schwangerschaft noch im 7. Monat unterbrochen wurde. Die Angaben zum Schwangerschaftsmonat im Krankenblatt erscheinen jedoch insgesamt als sehr flüchtig, häufig beruhten sie nur auf einer groben Schätzung. Gründlichere Untersuchungen waren offensichtlich unerwünscht, um Nachforschungen zu erschweren.66 Als häufigste Diagnose wurde auch bei der zwangsweise - oft ohne Wissen und gegen den Willen der Mutter - durchgeführten Abtreibung „angeborener Schwachsinn" angegeben.67 Neben der seit 1934 gesetzlich durchgeführten Sterilisierung „erbkranker und behinderter" Menschen existierten seit 1941 auch konkrete Pläne zur Unfruchtbarmachung ganzer Volksgruppen. Expansionspolitik und Kriegsverlauf sowie die damit einhergehende geplante Neuordnung im Osten nach nationalsozialistischen Vorstellungen förderte den Gedanken, die Menschen in den besetzten Gebieten zwar als brauchbare Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft zu nutzen, doch war 65 Zit. n. Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 104 f. 66 Vgl. Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 118-121. 67 Von den erwähnten 37 schwangeren Frauen (zwischen 18 und 40 Jahre) fielen 26 Frauen wegen der Diagnose „angeborener Schwachsinn" und acht Frauen wegen „Epilepsie" der Zwangsabtreibung anheim. Bei je einer Patientin wurde Blindheit, Taubheit bzw. körperliche Missbildung diagnostiziert.

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man nicht an deren Fortpflanzung interessiert. Ziel war vielmehr die Ausrottung aller „nichtarischen" und „kranken Elemente" - das heißt Juden, Polen, Sinti, Roma, psychisch Kranke, körperlich Behinderte, politische Gegner - mit Hilfe einer großangelegten Sterilisierungsaktion. Bei der Suche nach geeigneten Methoden einer Massensterilisierung wurden nicht zuletzt an Häftlingen der Konzentrationslager (insbesondere Auschwitz und Ravensbrück) zahlreiche grausame Versuche durchgeführt, die von der Röntgenbestrahlung,68 der Entwicklung von Medikamenten69 bis zur Einspritzung einer Reizflüssigkeit in die Gebärmutter, um eine Verklebung der Eileiter herbeizuführen,70 reichten.71

5. Vorbereitung und Durchfuhrung der NS-„Euthanasie" Geisteskranker in Sachsen Nicht wenige der Frauen und Männer, die als Patienten in psychiatrischen Anstalten bereits das Martyrium der Zwangssterilisation über sich hatten ergehen lassen müssen, sollten im Zuge der „Aktion T4" der Tötung anheim fallen. Die 1940/41 eingerichteten sechs „Euthanasie'-Anstalten waren, mit Ausnahme von Brandenburg, psychiatrische Einrichtungen. Im Frühjahr 1940 war die Entscheidung gefallen, einen Teil der aufgelösten Landesanstalt Sonnenstein in Pirna/Sa. als Tötungsanstalt zu nutzen.72 Die 1811 als erste sächsische Heilanstalt und zugleich erste bedeutende staatliche psychiatrische Einrichtung Deutschlands gegründete Einrichtung stand seit 1928 unter der Leitung des bereits erwähnten Hermann Paul Nitsche, einem Befürworter der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, was sich nicht zuletzt in der besonders raschen und umfassenden Umsetzung des Sterilisationsgesetzes an dieser wie

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Die Röntgensterilisation bzw. -kastration wurde vor allem von Viktor Brack (1904-1948), Volkswirtschaftler und Oberdienstleiter in der Kanzlei des Führers, favorisiert, der diese Methode an KZ-Häftlingen in Auschwitz und Ravensbrück testen ließ. Versuche zur Massensterilisierung durch Röntgenstrahlen wurden von Horst Schumann (1906-1983), seit 1940 Leiter der Landesanstalt Pirna-Sonnenstein, im Herbst 1942 an jüdischen Männern und Frauen im KZ Auschwitz durchgeführt. Diese Methode blieb im Versuchsstadium, da zur Unfruchtbarmachung eine zu hohe Strahlendosis notwendig gewesen wäre, die zu erheblichen Nebenwirkungen („Röntgenkatarrh") geführt hätte. Ausfuhrlich hierzu der Beitrag von Angelika Ebbinghaus in diesem Band. Eine medikamentöse Sterilisation wurde mit Schweigrohrextrakt - u.a. der seit 1929 in Radebeul ansässigen und auf Heilpflanzenherstellung spezialisierten Firma Madaus - erprobt, jedoch nicht weiterentwickelt, da sich die Pflanze nur mit überhöhtem Kostenaufwand züchten ließ. Die von Carl Clauberg (1898-1957), ehem. Chefarzt der Universitätsfrauenklinik Kiel und seit 1933 Professor für Gynäkologie an der Universität Königsberg, entwickelte Methode hatte er selbst von August 1942 bis 1944 an Frauen im KZ Auschwitz, im Januar 1945 an mindestens 35 Sinti-Frauen im KZ Ravensbrück durchgeführt. Zu den Versuchen und Methoden der Massensterilisierung siehe ausführlich: Töpolt, 2000, wie Anm. 13, S. 26-29. Im Einzelnen hierzu der Aufsatz von Boris Böhm in diesem Band.

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auch an allen anderen sächsischen Heilanstalten widerspiegelte.73 Darüber hinaus waren die Patienten, die als „unheilbar" galten, keinen wirtschaftlichen Nutzen erbrachten und als „nutzlose Esser" diffamiert wurden, nach 1933 einer massiven Einschränkung von Fürsorge und Therapie ausgesetzt. In diesem Zusammenhang hatte Nitsche aus eigener Initiative 1936 eine fettarme und weitgehend fleischlose „Sonderkost" für chronische und arbeitsunfähige Patienten, denen „die Wertung des Essens voll und ganz oder zum großen Teil abgeht", erstmals an seiner Einrichtung eingeführt.74 1938 wurden alle sächsischen Anstalten zur Einfuhrung dieser Sonderkost verpflichtet, womit in Sachsen noch vor der „Aktion T4" sowohl eine Selektion psychisch Kranker hinsichtlich ihrer „Verwertbarkeit" vorgenommen als auch gezielt die „Euthanasie" durch Verhungern vorbereitet worden ist. Und noch im Sommer 1939 berief Nitsche die Leiter der sächsischen Anstalten zu einer Beratung zusammen, um ihnen Behandlungsempfehlungen für den Kriegsfall zu geben. In „Ermangelung geeigneten und ausreichenden Anstaltspersonals" sollte zur „stärkeren Anwendung von Narkotika gegriffen" werden, „um die Umgebung von den Ausschreitungen von Kranken zu schützen."75 Mit Ausbruch des Krieges kumulierten diese gefährlichen Tendenzen und führten zum ersten großen regionalen Hungersterben während des Zweiten Weltkrieges. Ab Ende September 1939 wurde in Sachsen der Tageskostsatz für alle Anstaltspatienten innerhalb kürzester Zeit um fast die Hälfte, von 60 auf 35 Pfennige pro Patient, reduziert. Nach Angaben des Innenministeriums erhielten bereits im Dezember 1939 etwa 44 Prozent der sächsischen Anstaltspatienten eine „Brei- oder Suppenkost", die vorrangig aus Wasser und Gemüse bestand.76 Die sog. „Vollkost" wurde nur an Kranke verteilt, die noch produktive Arbeit leisteten. Die Empfehlung Nitsches zur „stärkeren Anwendung von Narkotika" wurde frühzeitig auch zur „Ruhigstellung" der Hungernden eingesetzt.77 73

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Vgl. Böhm, Boris, Pirna-Sonnenstein. Von einer Heilanstalt zu einem Ort nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Dresden, Pirna 2001, S. 50. Zur Geschichte der Heilanstalt Pirna-Sonnenstein siehe: Brdiczka, Peter Karl, Ernst Gottlob Pienitz (1777-1853) und seine Verdienste für die Gründung und Ausformung der Heilanstalt Pirna-Sonnenstein, Med. Diss., Dresden 2002; Wiegleb, Matthias, Zur Entwicklung der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Wirkens der Direktoren Friedrich Hermann Lessing (1811-1887) und Guido Weber (1837-1914), Med. Diss., Dresden 1995; Schilter, Thomas, Die „Euthanasie"-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Med. Diss., Berlin 1997. Zit. n. Faulstich, Heinz, Der sächsische Sonderweg bei der NS-„Euthanasie", in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Der sächsische Sonderweg bei der NS-„Euthanasie", Ulm 2001, S. 55-62, hier S. 55. Zit. n. Faulstich, 2001, wie Anm. 74, S. 56. Siehe auch: Schilter, 1997, wie Anm. 73, S. 53, 61 f Von insgesamt achttausend Patienten erhielten ca. dreieinhalbtausend Patienten diese Hungerkost. Seit 1938 wurde die Cardiazolkrampftherapie (Auslösung epilepsieähnlicher Krampfanfalle) bei Schizophrenie angewandt, die aber primär zur Ruhigstellung erregter Patienten genutzt wurde. Als weiteres Verfahren fand die Insulinschocktherapie (ursprünglich 1933 als Insulinioffzatherapie unter Vermeidung von Krampfanfallen) bei endogenen Psychosen seit 1937 an einigen Landesanstalten (z.B. LeipzigDösen, Großschweidnitz), bevorzugt aber an Universitätskliniken, Anwendung; die Methode durfte ab

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Im August 1939 wurde ein Teil der Anstalt im Zusammenhang mit der Einrichtung eines geplanten großen Reservelazaretts geräumt. Bis Anfang Oktober waren über 200 Patienten verlegt oder entlassen. Mit Erlass vom 9. Oktober 1939 ordnete der sächsische Innenminister die Auflösung der Landesanstalt an.78 Anfang April 1940 setzte sich dann die „T 4"-Zentrale mit dem Dresdener Innenministerium in Verbindung. Nachdem die Tötungsanstalten in Grafeneck und Brandenburg ihre Tätigkeit im Januar bzw. Februar 1940 aufgenommen hatten, wurde nach einem geeigneten Ort für eine weitere Anstalt in Mitteldeutschland gesucht. Dafür bot sich schließlich Sonnenstein an.79 Jede der sechs Tötungsanstalten der Aktion „T 4" hatte innerhalb des Deutschen Reiches einen festgelegten regionalen Zuständigkeitsbereich. Die Opfer der Tötungsanstalt Sonnenstein stammten aus staatlichen, konfessionellen und kommunalen Anstalten in Sachsen, Thüringen, Franken, Schlesien, dem Sudetenland und vermutlich Ostpreußen.80 Die zur Tötung vorgesehenen Patienten wurden meist nicht direkt, sondern über so genannte „Zwischenanstalten" in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein transportiert. In diesen auf Weisung des Sächsischen Innenministeriums eingerichteten Zwischenanstalten blieben die Kranken in der Regel nicht länger als acht Wochen. Neben der Verschleierung der Mordaktion dienten diese Zwischenanstalten vor allem einer kontinuierlichen und flexiblen Zuverlegung von Patienten in die Tötungsanstalt. Zwischenanstalten für die Tötungsanstalt Sonnenstein waren die lediglich 20 bis 80 km von Pirna entfernt lie-

1942 aufgrund der angespannten Versorgungslage deutschlandweit nicht mehr angewendet werden. 1937 hatten Bini und Cerletti die Elektroschocktherapie entwickelt, die ebenfalls in einigen sächsischen Anstalten (z.B. Großschweidnitz) Anwendung fand. Darüber hinaus wurde - in den 1920er und 30er Jahren - bei progressiver Paralyse eine Fieberbehandlung mit Malariaimpfung durchgeführt, da ein plötzlich gebesserter Zustand vieler Geisteskranken nach febrilem Infekt beobachtet wurde. Für die medikamentöse Therapie vor allem zur Ruhigstellung hatte sich insbes. Lumina! durchgesetzt. Siehe dazu: Roick, Christiane, Heilen, Verwahren, Vernichten. Die Geschichte der sächsischen Landesanstalt Leipzig-Dösen im Dritten Reich, Med. Diss., Leipzig 1997, S. 41-51. 78

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Von Januar bis April 1940 war in Pirna-Sonnenstein ein Lager für sog. Volksdeutsche aus Galizien, Wolhynien und Bessarabien eingerichtet worden. Auf der Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes sollten sie in die besetzten Ostgebiete umgesiedelt werden. Danach wurde die Einrichtung als Durchgangslager genutzt - auch während der Zeit des Betriebs der Tötungsanstalt. Ursprünglich war die Landesanstalt Hubertusburg (bei Döbeln/Sa.), die im April 1940 geschlossen wurde, vorgesehen, was aber einige Umbauten erfordert hätte, so dass das Projekt sehr schnell aufgegeben wurde. Die Bauarbeiten zur Einrichtung der Tötungsanstalt Sonnenstein begann im April 1940. Zunächst wurde im hinteren Männergartenbereich der ehem. Heilanstalt ein Komplex von vier Gebäuden von einer hohen Mauer bzw. Bretterzaun eingegrenzt; im Haus C16 wurden die Gaskammer, ein Leichenraum und der Krematoriumsraum eingebaut. Vgl. Schilter, 1997, wie Anm. 73, S. 88.

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genden Landesanstalten Arnsdorf,81 Großschweidnitz82, Waldheim83 und Zschadraß.84 Bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bestand in Sachsen ein gut ausgebautes Netz staatlicher Anstalten für psychisch Kranke und geistig Behinderte, in denen der weitaus größte Teil der sächsischen Psychiatriepatienten betreut wurde.85 Dementsprechend stammten die meisten der sächsischen „T 4"-Opfer auch aus diesen großen Landesanstalten, zu denen - neben den genannten „Zwischenanstalten" - Hochweitzschen86, Untergöltzsch87, Hubertusburg88, ChemnitzAltendorf89 und Leipzig-Dösen90 gehörten. Infolge der Verschleierungstaktik, der ständigen Verlegung der Patienten in Heilanstalten innerhalb und auch außerhalb Sachsens, der nach 1933 häufig wechselnden Aufgabenbestimmungen der Landesanstalten sowie der fehlenden oder nicht mehr nachweisbaren Dokumentation sind genaue Angaben zur Gesamtzahl der in den sächsischen psychiatrischen Einrichtungen ermordeten Patienten nicht möglich. Weit über achttausend Kranke sind

81 Siehe Oeser, Steffen, Die sächsische Landesanstalt Arnsdorf von 1912 bis 1945 von der Irrenpflege zur nationalsozialistischen Musteranstalt, Med. Diss., Dresden 2006. Von Arnsdorf wurden während der „T 4"Aktion ca. 2.000 Patienten nach Pirna deportiert. 82 Über die Zwischenanstalt Großschweidnitz wurden 2.445 Patienten in die Tötungsanstalt Pirna verbracht. Ab 1942 wurden in Großschweidnitz auch selbst zahlreiche Kranke mit Medikamenten getötet. 83 Uber die Zwischenanstalt Waldheim sind 770 Patienten nach Pirna verbracht worden. 84 Siehe Hölzer, Ariane, Die Behandlung psychisch Kranker und geistig Behinderter in der Landesheilund Pflegeanstalt Zschadraß während der nationalsozialistischen Diktatur, Med. Diss., Leipzig 2000. Uber Zschadraß wurden ca. 3.000 Patienten in die Tötungsanstalt Pirna verlegt. 85 Zu den Einrichtungen in Sachsen zu Beginn der 1930er Jahre siehe: Steinbach, Susanne, Die Betreuung Geisteskranker und Schwachsinniger im Land Sachsen in den Jahren 1933-1945, Med. Diss., Leipzig 1998. 86 Siehe Lehle, Rudolf Wilhelm, Die Geschichte des sächsischen Krankenhauses Hochweitzschen. Von der Irrensiechanstalt zur Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische, vom psychiatrischen Großkrankenhaus zum kleineren Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie 1874 bis 2001, Großweitzschen 2001. Auch hier wurde der Tageskostsatz seit 1937 drastisch reduziert: zum 1.1.1938 auf 60 Reichspfennig, zum 01.11.1938 auf 21 Pf, ab 1.11.1939 auf 18 Pf, was Auswirkungen auf eine stark ansteigende Sterblichkeit ab September 1939 hatte. Seit Frühjahr 1940 wurden mit der teilweisen bzw. vollständigen Räumung der Landesanstalten Arnsdorf und Hubertusburg ca. 380 Patienten per Sammeltransport nach Hochweitzschen verlegt. Mit der „T 4"-Aktion wurden 1940/41 aus Hochweitzschen 377 Patienten in die Tötungsanstalt Sonnenstein, 292 Patienten nach Großschweidnitz, 100 Patienten nach Waldheim und 227 Patienten nach Arnsdorf deportiert. 87 Siehe Wagner, Christine, Psychiatrie und Nationalsozialismus in der Sächsischen Landesheil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch, Med. Diss., Dresden 2002. 88 Siehe Schmiedel, Kerstin/ Schmiedel, Volker, Die psychiatrische Behandlungspraxis in der Heil- und Pflegeanstalt Hubertusburg/Sachsen im Zeitraum 1933 bis 1945, Med. Diss., Leipzig 1993. 89 Siehe Möckel, Susanne, Die Geschichte der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf und deren Beitrag zur Betreuung psychisch Kranker und geistig Behinderter, Med. Diss., Leipzig 1997. Im Mai 1940 wurden die Pfleglinge der Landesanstalt verlegt (382 Patienten nach Hubertusburg, 282 Patienten nach Arnsdorf) und die Pflegeabteilung aufgelöst, womit die Einrichtung ihren ursprünglichen Charakter einer Krankenanstalt verlor und sich nun in drei selbständige pädagogisch geleitete Anstalten - die Blindenanstalt, die Landesfürsorgeerziehungsanstalt (bis Januar 1943), die Schwachsinnigenanstalt (bis Februar 1942) - gliederte. 90 Siehe Roick, 1997, wie Anm. 77.

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während der „T4"-Aktion 1940/41 von den sächsischen „Zwischenanstalten" in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein deportiert und dort umgebracht worden. Die Zahl der außerhalb dieser Tötungsaktion in den Anstalten durch Verhungernlassen oder Medikamente Ermordeten dürfte sogar noch höher gewesen sein.91 Im Vergleich der deutschen Länder und Provinzen hatte Sachsen eine der höchsten Opferzahlen an Psychiatriepatienten zu verzeichnen, die zudem aus den eigenen Anstalten stammten und fast ausschließlich im eigenen Land umgebracht worden sind.92

6. „Kinder-Euthanasie" in Sachsen Die Heilanstalt Dösen verfugte seit ihrer Gründung (1901) auch über eine Kinderabteilung.93 Diese Abteilung wurde jedoch im Zuge eines schon 1927 vom sächsischen Ministerium des Innern geplanten Vorhabens, die Behandlung psychisch und geistig kranker Kinder in der „Landeserziehungsanstalt für Blinde und Schwachsinnige" Chemnitz-Altendorf (gegr. 1905) zu zentralisieren, 1933 nach Chemnitz verlegt. Erst im Oktober 1940 ist eine kinderpsychiatrische Abteilung in LeipzigDösen wiedereröffnet worden - nun aber im Rahmen der „Kindereuthanasie".94 Mit der Planung der Kinder- und Jugendlichen-„Euthanasie" wurden Teile der Kanzlei des Führers beauftragt, wo sehr rasch eine Planungsgruppe zusammengestellt wurde, die schon am 18. August 1939 den (geheimen) Meldepflichterlass formuliert hatte. Danach waren Ärzte und Hebammen verpflichtet, Kinder mit Missbildungen, Spaltbildungen an Kopf und Wirbelsäule, Lähmungen, Idiotie, Mongolismus sowie Mikro- und Hydrocephalus anzuzeigen. Erklärt wurde die Bestimmung mit der Absicht, „in entsprechenden Fällen mit allen Mitteln der ärztlichen Wissenschaft eine Behandlung der Kinder durchzufuhren, um sie davor zu bewahren, dauerndem Siechtum zu verfallen", was entweder

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Nach Faulstich, 2001, wie Anm. 74, waren es 9.600 NS-Opfer, die in Sachsen außerhalb der „Aktion T4" getötet wurden. Vgl. auch die Angaben in den Untersuchungen über die sächsischen Heilanstalten, wie Anm. 81, 84-90. Die absoluten Zahlen der NS-Opfer der großen Mordanstalten in Pommern (Meseritz-Obrawalde), Hessen (Nassau) und Bayern waren zwar noch höher, aber Sachsen war im Gegensatz zu den vorgenannten Regionen an den Evakuierungen praktisch nicht beteiligt, die zur zusätzlichen Aufnahme von mindestens 6.000 Patienten in Pommern, über 4.000 in Hessen-Nassau und 3.000 in Bayern gefuhrt hatten. Vgl. Faulstich, 2001, wie Anm. 74, S. 60. Die Abteilung für vorrangig geistig behinderte Kinder verfugte zunächst über 44 Betten, was - angesichts einer langjährigen Therapie und Pflege - bald zu Problemen der Aufnahme von Kindern mit anderen Krankheitsbildern führte. 1919 gründete die Anstalt Dösen gemeinsam mit dem Heilerziehungsheim Klein-Meusdorf eine Außenabteilung für psychopathische und geisteskranke Jugendliche, die aber 1928 wieder aufgelöst werden musste. Ende 1933 beherbergte die Dösener Kinderabteilung 78 Patienten. Zur Planung und Organisation der Kinder- und Jugendlichen-„Euthanasie" siehe ausführlich: Benzenhöfer, Udo, Bemerkungen zur Planung der NS-„Euthanasie", in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Der sächsische Sonderweg bei der NS„Euthanasie", Ulm 2001, S. 29-37.

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die Therapie oder die Tötung der Betroffenen implizierte. Vor allem sollten missgebildete und behinderte Kinder bis zu drei Jahren, später auch Jugendliche bis zu 17 Jahren, erfasst werden, die sich noch im Familiengefüge befanden und daher dem Zugriff der „T 4"-Aktion entzogen waren.95 Die Meldebögen gingen über die Gesundheitsämter an den Berliner „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", der vom beratenden Gremium der Kanzlei des Führers gegründet worden war, um die eigentliche Planungszentrale nach außen hin zu verbergen. Dem dreiköpfigen Reichsausschuss zur ärztlichen „Begutachtung" gehörte auch der Leipziger Pädiater Werner Catel (1894-1981)96 an. Bei „positiver" Begutachtung wurden die Kinder in sog. „Kinderfachabteilungen" eingewiesen. Der Aufbau der Dösener Reichsausschuss-Abteilung war formal mit einem unverfänglichen Schreiben Catels vom 5. Oktober 1940 an den kommissarischen Dösener Chefarzt Eichler initiiert worden: „Da die Universitäts-Kinderklinik (...) dauernd unter einem Bettenmangel zu leiden hat, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn wir einige Patienten mit zentralnervösen Erkrankungen in ihre Anstalt verlegen könnten. Es wäre uns schon sehr viel geholfen, wenn Sie in Ihrer Anstalt eine kleine, etwa 10 Betten umfassende Station für Kinder einrichten würden."97 Die Angelegenheit war natürlich bereits vorab mit dem Ministerium und dem Reichsausschuss besprochen worden, so dass auf Anordnung des Sächsischen Innenministeriums Eichler bereits zwei Tage vor Eingang des Catel-Briefes 15 Kinderbetten bestellt hatte. Obwohl Dösen erst wenige Monate zuvor wegen der Räumung für zivile und militärische Kliniken zahlreiche Patienten verlegen musste, war der Chefarzt sofort bereit, eine Kinderstation einzurichten, in der 90 Kinder Aufnahme finden könnten. Am 19. Oktober 1940 wurde die Reichsausschuss-Abteilung in Dösen mit zunächst 35 Betten eröffnet, in die vom Reichsausschuss eingewiesene Kinder bis zum dritten Lebensjahr aufgenommen wurden.98 Der therapeutische Anspruch der

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Vgl. dazu auch: Scholz, Susanne/ Singer, Reinhard, Die Kinder in Hadamar, in: Roer, Dorothee (Hg.), Psychiatrie im Faschismus, Bonn 1986, S. 214-236. Catel war von 1933 bis 1946 Ordinarius und Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig, seit 1954 bis 1960 in Kiel. Die beiden weiteren Gutachter waren der Jugendpsychiater Hans Heinze und der Kinderarzt Ernst Wentzler. Vgl. Aly, Götz, „Reichsausschusskinder", in: ders. (Hg.), Aktion T4 1939-1945. Die „Euthanasie'-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, 2., erw. Aufl., Berlin 1989, S. 121-135. Zit. n. Roick, 1997, wie Anm. 77, S. 130. Leiter der Dösener Reichsausschuss-Kinderabteilung war Arthur Mittag (1906-1946), der im November 1934 von der Landesanstalt Arnsdorf nach Dösen gewechselt war. Im Juli 1935 wurde ihm die Leitung der erbbiologischen Abteilung in Dösen übertragen; zudem war er im rassenpolitischen Amt der NSDAP sowie als Beisitzer am Erbgesundheitsgericht tätig und engagierte sich in der städtischen Eheberatung. Allerdings war er nach Aussage von Bach, 1990, wie Anm. 45 und Roick, 1997, wie Anm. 77 einer der wenigen Sterilisations-Gutachter, die Sterilisationen häufiger ablehnten als befürworteten. Mit der Auslagerung der Dösener Kinderstation wurde auch Mittag nach Großschweidnitz versetzt. Im Zuge der Entnazifizierung wurde Mittag im Oktober 1945 aus dem Anstaltsdienst entlassen und übernahm eine Allgemeinpraxis in Bad Gottleuba, bis er wegen seiner Beteiligung an den ReichsausschussMorden in Untersuchungshaft genommen wurde, wo er sich am 21.08.1946 das Leben nahm.

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Dösener Abteilung beschränkte sich darauf zunächst die Kinder diagnostisch einzuordnen - wobei neben der Schwere der Behinderung auch die spätere „Brauchbarkeit", also Arbeitsfähigkeit, ausschlaggebend war - und sie dann entweder einer Spezialbehandlung zuzuführen oder zu töten." Zur Tötung wurde vorzugsweise Luminal verwendet,100 bei dem mit steter Gabe von kleineren Überdosen erst nach einigen Tagen die tödliche Wirkung mit Lungenstau (Lungenentzündung), oft begleitet mit Kreislaufversagen, eintrat. Damit konnte die zielgerichtete Vergiftung - nicht zuletzt vor den Eltern - verschleiert werden. Die Kinderabteilung Dösen erfuhr seit Ende 1940 eine von der Dösener Direktion erwünschte und vom Sächsischen Innenministerium angeordnete Erweiterung um einen speziellen Einzugsbereich für bildungsunfahige Kinder aus den Regierungsbezirken Chemnitz, Leipzig und Zwikkau.101 Zudem wurde mit der Absicht, Dösen als sächsische Reichsausschuss-Zentrale zu etablieren, vom Reichsausschuss im Juni 1941 der Landesregierung eine namentliche Aufstellung der Kinder übergeben, die aus den Anstalten Arnsdorf Großschweidnitz, Chemnitz, Klein-Wachau, dem Kreisstift Zschopau und dem Siechenhaus Bethesda nach Dösen verlegt werden sollten.102 Und schließlich wurden auch Reichsausschuss-Kinder „nach abgeschlossener Behandlung" aus der Fachabteilung der Leipziger Universitätskinderklinik nach Dösen verlegt, was wohl damit zu begründen ist, dass Catel eine Häufung von Todesfällen in seiner Klinik vermeiden wollte und daher „hoffnungslose Fälle" in Dösen töten ließ.103 Die Dösener Kinderabteilung war der einzige psychiatrische Anstaltsbereich, der in den Kriegsjahren expandierte und Mitte 1943 über bereits 192 Betten verfügte. Genaue Angaben liegen nicht vor, doch kann davon ausgegangen werden, dass in den Jahren des Bestehens der Dösener Reichsausschussabteilung (bis Ende 1943) dort mindestens 500 Kinder ermordet wurden.104 Da der Reichsausschuss zu Forschungszwecken auf eine gründliche pathologische Untersuchung der Opfer Wert legte, wurden auch in Dösen die Kinder für Forschungszwecke genutzt. Die sog. Reichsausschuss-Kinder sowohl der Anstalt Dösen als auch der Universitätskinderklinik Leipzig wurden nach ihrer Tötung obduziert und insbesondere hirnpatholo-

99 Nach Roick sei eine wirkliche Therapie von dem leitenden Arzt der Kinderabteilung Dr. Mittag nie erwähnt worden, doch habe er sich bemüht, für Kinder, deren Fähigkeiten dem Kriterium der späteren Brauchbarkeit genügten, Spiele, Bänke und Schiefertafeln zu organisieren. Auch wurde das Haus, in das die Kinderabteilung 1941 einzog, zuvor für 8.000 RM renoviert. Der Reichsausschuss habe damit etwas erreicht, was der Dösener Erwachsenenpsychiatrie trotz der zahllosen Menschenopfer verwehrt blieb: finanzielle Zuschüsse für die heilbaren Patienten. Vgl. Roick, 1997, wie Anm. 77, S. 133 f. 100 In anderen „Kinderfachabteilungen" waren auch die Gabe von Morphium und das Aushungern der Kinder gebräuchlich. 101 Wie in den meisten „Kinderfachabteilungen" wurden nun auch in Dösen nicht ausschließlich „Reichsausschuss-Kinder" behandelt. 102 Vgl. Roick, 1997, wie Anm. 77, S. 136. 103 Roick, 1997, wie Anm. 77, S. 137. 104 Ende 1943 wurde die Dösener Kinderfachabteilung nach Großschweidnitz verlegt.

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gisch untersucht.105 Die Auswertung der Ergebnisse wurde in Zusammenarbeit mit dem Leiter des Hirnforschungsinstitutes Berlin-Buch, Julius Hallervorden, und Werner Catel vorgenommen. Auch nach dem offiziellen „Euthanasie"-Stop am 24. August 1941 ging das Töten an den Anstalten weiter. Ein Teil der „T 4" blieb in seiner ursprünglichen Funktion erhalten, um Krankenmorde - nun dezentral organisiert - fortzuführen. 106 Da das zentrale Begutachtungsverfahren nun entfiel, lag die Entscheidung über die „Selektion" der Patienten allein bei dem Personal der entsprechenden Einrichtungen. Zum entscheidenden Selektionskriterium wurde die Arbeitsfähigkeit der Kranken. Hinzu kam aber, dass auf Weisung Karl Brandts, der Ende Juli 1942 zum Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen ernannt worden war, „zur Beschaffung von Krankenhausbetten im Katastrophenfallen in steigendem Maße auf Heil- und Pflegeanstalten zurückgegriffen werden" müsse.107 Die psychiatrischen Patienten sollten also nicht mehr vorab getötet werden, sondern erst dann, wenn ihr Platz zur Evakuierung somatisch Kranker tatsächlich benötigt wurde. Die Anstaltspatienten fungierten sozusagen als „Platzhalter" für den Bedarfsfall. Mitte 1943, als sich der Luftkrieg über Deutschland verschärfte, wurde die „Euthanasie"-Aktion unter dem Decknamen „Aktion Brandt" reinstitutionalisiert. Die Räumung von Heil- und Pflegeanstalten, die als Ausweich-Krankenhäuser für Bombengeschädigte genutzt werden sollten, dienten dabei als Vorwand für die Wiederaufnahme der Sammeltransporte in Euthanasiezentren, zu denen Großschweidnitz und Waldheim zählten. 1943 betrug die Sterberate in Großschweidnitz 36 Prozent. Mehr als ein Drittel der Großschweidnitzer Stammpatienten und der dorthin Verlegten war infolge der katastrophalen Nahrungsmittelversorgung oder durch Überdosen von Medikamenten gestorben und gezielt ermordet worden. 105 Seit September 1936 hatte der Neuropathologe Georg Friedrich (geb. 1900) - in Nachfolge Hugo Kufs (1873-1955) - die Dösener Prosektur übernommen. Unter seiner Leitung wurde das histopathologische Labor der Prosektur zur zentralen Untersuchungsstelle für die Anstalten Westsachsens etabliert. Zudem übernahm Friedrich auch die neuropathologischen Untersuchungen von Pima-Sonnenstein. Darüber hinaus hatte Friedrich - entsprechend der Dienstvorschriften - selbst auch eine Dösener Krankenabteilung zu betreuen. Dennoch versuchte er, einen weiteren Ausbau der Prosektur „entsprechend der besonders auch erbbiologischen Wichtigkeit histologischer Befünderstellungen" zu erreichen, weshalb er Anfang 1939 auch vom Stationsdienst befreit wurde. Nach Einberufung Friedrichs im August 1939 an die militärische Sonderstelle des Hirnforschungsinstitutes Berlin-Buch erwirkte Direktor Nitsche im Frühjahr 1940 zumindest die Freistellung Friedrichs alle 14 Tage für Arbeiten in Dösen. Auf Forderung des Reichsausschusses wurde Friedrich schließlich Ende 1942 nach Dösen abgeordnet. Nachdem Ende 1943 die Dösener Kinderabteilung nach Großschweidnitz verlegt worden war, wurde der Prosektur kaum noch Bedeutung beigemessen. Zahlreiche noch nicht sezierte Gehirne von „Reichsausschuss-Kindern" wurden 1944 offensichtlich an das Hirnforschungsinstitut Berlin-Buch (Julius Hallervorden) weitergeleitet. 106 Vgl. u.a. Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens", 1890-1945, 2. Aufl., Göttingen 1992. 107 SächsHStA Mdl Nr. 16850, Schreiben von Herbert Linden (Reichsbeauftragter für die Heil- und Pflegeanstalten) an sächsische Landesregierung, Bl. 1.

Schauplatz Sachsen

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Mit dem sog. „Euthanasie"-Stopp Ende August 1941 wurde auch in der „T 4"Tötungsanstalt auf dem Sonnenstein die Vergasung eingestellt, doch erfolgte die endgültige Räumung des Geländes und der Versuch, alle Spuren dieser Mordstätte zu verwischen, erst Mitte 1942.108 Mindestens 39 ständige oder zeitweilige Mitarbeiter der „Euthanasie"-Anstalt wurden 1942/43 in die in der ersten Hälfte des Jahres 1942 im Zuge der sog. „Endlösung der Judenfrage" errichteten Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka kommandiert. Diese Vernichtungslager haben also zeitlich, technisch und personell an die „Euthanasie"-Anstalten anschließen können und waren, so der Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein Boris Böhm, eine monströs gesteigerte Kopie der Tötungsanstalten kranker und behinderter Menschen. Statt einer gab es mehrere, große Gaskammern, statt Kohlenmonoxid wurden Auspuffgase von Dieselmotoren zur Ermordung eingesetzt. Der Vernichtungsaktion („Aktion Reinhard") fielen bis August 1943 etwa 1.750.000 Juden zum Opfer.109 Die aktive Beteiligung, Unterstützung und Tolerierung der sog. „Euthanasieaktion" und der sich später daran anschließenden Aktionen des Tötens durch Hungernlassen oder auch Verlagerung in KZ-Tötungsanstalten - diese Mittäterschaft einer überwiegenden Mehrzahl deutscher medizinischer Wissenschaftler ist ursächlich nicht zuletzt zurückzufuhren auf die (in diesem Band umrissene) Ideengeschichte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auf die Intentionen einer Psychiatriereform, die eine Verbesserung der Behandlung, eine „echte" Therapie psychisch Kranker zum Ziel hatte. Darüber hinaus bestand ein intensives wissenschaftliches Interesse an der Erforschung noch nicht ausreichend bekannter und behandelbarer Krankheiten, das sich anscheinend nur befriedigen ließ, wenn neben naturwissenschaftlich begründeten diagnostischen Untersuchungen - die Experimente am Menschen einschlössen - auch eine exakte pathologisch-anatomische Forschung durchgeführt wurde. Das Untersuchungsmaterial stammte in jener Zeit allerdings nicht aus normalen Klinikobduktionen mit einer Einwilligung der Angehörigen, sondern war zweifelsfrei im Rahmen der nationalsozialistischen Tötungsmaßnahmen verfugbar geworden. Dieses Material musste nicht nur „zugewiesen" werden, sondern die Gehirne wurden dringlich angefordert. Und es muss angenommen werden, dass besonders „forschungsrelevante" Kranke nach gründlicher Untersuchung gezielt getötet und danach den Neuropathologen übergeben wurden. Im vermeintlichen Dienste an der Wissenschaft überschritten Arzte die Grenzen eines ihnen auferlegten, der Erhaltung des Lebens der Patienten verpflichtenden ärztlichen Ethos zur Inhumanität. Die Hinterfragung und Befestigung ethischer

108 Die Gebäude der Tötungsanstalt wurden im Oktober 1942 vom Sächsischen Innenministerium der Wehrmacht als Lazarett zur Verfügung gestellt, das bis zum Kriegsende im Mai 1945 bestand. 109 Vgl. Böhm, Boris, Pirna-Sonnenstein. Von einer Heilanstalt zu einem Ort nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Der sächsische Sonderweg bei der NS-„Euthanasie", Ulm 2001, S. 91-126, hier S. 126.

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Normen ärztlichen Handelns bleibt gerade angesichts der tödlichen Medizin im Nationalsozialismus eine dauerhafte Aufgabe.

Boris Böhm

Die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41*

1. Die Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein im Nationalsozialismus In der traditionsreichen Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein waren die Auswirkungen des Machtantritts der Nationalsozialisten besonders deutlich zu spüren. Seit 1928 war Prof. Hermann Paul Nitsche (1876-1948) Direktor der Landesanstalt Pirna-Sonnenstein.1 In dieser Position trat er zum einen für eine Öffnung der Anstalt fiir reformpsychiatrische Ansätze ein, zum anderen forcierte er die Umsetzung rassenhygienischer Forderungen. So verlagerte sich die Zielsetzung der Beschäftigungstherapie in Pirna seit 1933 von einer therapeutischen hin zu einer ökonomisch bestimmten Behandlungsform. Noch deutlicher zeigte sich Nitsches Bereitschaft rassenhygienische Prämissen umzusetzen bei der Sterilisationspraxis. Bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses am 1. Januar 1934, ließ er bei 30 Patienten eine Unfruchtbarmachung durchfuhren.2 Neben Nitsche beteiligten sich auch andere Arzte der Landesanstalt, zum Beispiel Friedhelm Liebold (1906-1995) und Konrad Zukker (1906-1964) als Beisitzer an Erbgesundheitsgerichten an der Realisierung des Sterilisationsgesetzes.3 Hinzu kam, dass der Einsatz therapeutischer Maßnahmen zunehmend von der Heilungsprognose abhängig gemacht wurde. Um eine Gesundung der Patienten herbeizufuhren, kamen auch aggressive Behandlungsmethoden, etwa die Cardiazolkrampfbehandlung, zum Einsatz.4 Gleichzeitig erfuhren Anstaltsinsassen, die als unheilbar galten, eine verstärkte Ausgrenzung. So vermerkte der Jahresbericht der Landesanstalt Pirna-Sonnenstein von 1936, die Ausgabe einer „Sonderkost" an 160 so genannte „niedergefuhrte" Patienten. Hinter dieser Bezeichnung verbarg sich

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Für die Unterstützung bei der Erarbeitung dieses Beitrages danke ich Maria Fiebrandt, M.A., Agnes Muche und Hagen Markwardt. Zur Biografie Nitsches vgl. Mäckel, Katrin, Prof! Dr. med. Hermann Paul Nitsche - sein W e g vom Reformpsychiater zum Mittäter an der Ermordung chronisch psychisch Kranker zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, Med. Diss., Leipzig 1992, sowie Böhm, B o r i s / Markwardt, Hagen, Hermann Paul Nitsche (1876-1948). Zur Biografie eines Reformpsychiaters und Hauptakteurs der NS„Euthanasie", in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, S. 71-104. Vgl. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 36 (1934), S. 104. Vgl. Schilter, T h o m a s , Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie"-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41, Leipzig 1999, S. 57, 63 f. Bericht der Anstaltsdirektion Sonnenstein über das Jahr 1938, Stadtarchiv Leipzig, Bezirkskrankenhaus Dösen (künftig B K H Dösen), Nr. 63, Bl. 34 f.

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eine fettlose und kalorienarme Breikost.5 Die damit verbundenen Kostenersparnisse veranlassten das Sächsische Innenministerium 1938 die Vergabe dieser Breikost auf alle sächsischen Landesanstalten auszudehnen. Betroffen waren „(...) Verpflegte unterer Klasse (...), denen die Wertung des Essens voll und ganz oder zum großen Teil abgeht."6 Mit dem Kriegsbeginn 1939 wurden die Kostensätze fiir alle Patienten sächsischer Landesanstalten drastisch gesenkt.7 Schon im Sommer 1939 war es zu einem Treffen aller Anstaltsdirektoren im Sächsischen Innenministerium gekommen, in dessen Rahmen Paul Nitsche Verhaltensmaßregeln fiir den Kriegsfall bekannt gab, vor allem die verstärkte Verabreichung von Beruhigungsmitteln. Damit sollte der absehbare Personalmangel in den Psychiatrien kompensiert werden.8 Die sukzessive und rassenhygienisch motivierte Radikalisierung innerhalb der Psychiatrie seit 1933 wurde in Pirna-Sonnenstein in besonderem Maße vorangetrieben. Die Ökonomisierung des Anstaltslebens, die Unterscheidung zwischen heilbar und unheilbar Kranken sowie die Entwertung der Anstaltspatienten auf Grund eugenischer und ideologischer Prämissen, waren wichtige Schritte auf dem Weg zur radikalsten Form der Rassenhygiene: der Ermordung chronisch psychisch kranker und geistig behinderter Menschen. 9

2. Der Beginn der „Aktion T4" Der Beginn der Planungsphase fiir die „Erwachsenen-Euthanasie" lässt sich nach derzeitigem Forschungsstand nicht mehr exakt bestimmen.10 Nach Kompetenzstreitigkeiten im Sommer 1939 zwischen Reichsgesundheitsfiihrer Leonardo Conti (1900-1945) und dem Leiter der Kanzlei des Führers der NSDAP (KdF) Philipp Bouhler (1899-1945), bestimmte Adolf Hitler die Kanzlei des Führers zur Umsetzung der „Euthanasie"-Aktion. n Eine gesetzliche Regelung lehnte Hitler ab. Er unterzeichnete im Oktober 1939 ein, auf den T a g des Kriegsbeginns gegen Polen den 1. September 1939 - datiertes Schreiben, das Bouhler und Hitlers Begleitarzt 5 6 7 8

Bericht der Anstaltsdirektion Sonnenstein über das Jahr 1936, Bl. 6a. Erlass vom 13.4.1938, SHStA, Ministerium des Inneren (künftig Mdl), 16830, o. Bl. Schreiben des Sächsischen Innenministers vom 22.9.1939, ebenda, o. Bl. Protokoll der Vernehmung von Hermann Paul Nitsche vom 25.3.1946, SHStA, Ministerium der Justiz (künftig MdJ), 2526, Bl. 41-44, hier Bl. 42a. 9 Siehe weiter: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Der sächsische Sonderweg bei der NS-„Euthanasie", Ulm 2001. 10 Zur Diskussion zur Planung der „Euthanasie" vgl. Benzenhöfer, Udo, Bemerkungen zur Planung bei der NS-„Euthanasie", in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Der sächsische Sonderweg bei der NS-„Euthanasie", Ulm 2001, S. 21-54. 11 Weiterführend zur Kanzlei des Führers siehe: Noakes, Jeremy, Philipp Bouhler und die Kanzlei des Führers der NSDAP. Beispiel einer Sonderverwaltung im Dritten Reich, in: Rebenstich, Dieter/ Teppe, Karl (Hg.), Verwaltung contra Menschenfiihrung im Staat Hitlers. Studien zum politischen-administrativen System, Göttingen 1988, S. 208-236.

Die Tötungsanstalt

Pirna-Sonnenstein

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Karl Brandt (1904-1948) mit der Organisation der „Euthanasie" beauftragte.12 Der Erlass sollte den beteiligten Personen Straffreiheit zusichern und gleichzeitig eine möglichst unbürokratische Durchfuhrung der Tötungsaktion gewährleisten. Spätere Bemühungen den Erlass in ein Gesetz zu verwandeln scheiterten. Somit blieb die „Euthanasie" auch nach der Rechtsprechung des „Dritten Reiches" illegal.13 Zunächst bemühte man sich, Arzte für die Mitarbeit bei der „Euthanasie" zu gewinnen. Als medizinischer Leiter der Aktion füngierte der Würzburger Psychiater Prof. Werner Heyde (1902-1964). Sein Stellvertreter wurde einige Zeit später Paul Nitsche. Die Arzte erhielten eine Einladung nach Berlin in die Kanzlei des Führers. Dort wurde ihnen die „Euthanasie"-Ermächtigung Hitlers vorgestellt und erläutert, dass ihnen dieses Schreiben Straffreiheit garantieren würde. Anschließend sollte sich der Arzt freiwillig entscheiden, ob er sich zur Mitarbeit an der Aktion bereit erklärte. Andere Mitarbeiter wurden durch Notdienstverpflichtungen, Dienstabordnungen und Abkommandierungen gewonnen.14 Der Geheimhaltung der Mordaktion dienten verschiedene eigens gebildete Tarnorganisationen, die als bürokratischer Apparat die Umsetzung der „Euthanasie"-Ermächtigung ermöglichten und zugleich als Schnittstelle zwischen staatlichen und parteiamtlichen Stellen fungierten. Die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten" (RAG) übernahm als zentrale Dienststelle die reichsweite Erfassung der Patienten. Zu diesem Zweck wurden Meldebögen entwikkelt, die das Reichsinnenministerium (RMdl) seit Oktober 1939 an Einrichtungen für psychisch Kranke, geistig Behinderte und Pflegebedürftige versandte. Auf Grund des nichtstaatlichen Charakters der Kanzlei des Führers, war eine Mitarbeit staatlicher Stellen bei der „Euthanasie" nicht zu umgehen. Die Verbindungsstelle bildete dabei die Abteilung IVb des RMdl, Abteilung für Heil- und Pflegeanstalten, unter der Leitung von Herbert Linden (1899-1945). 15 Die an das RMdl zurückgesandten Meldebögen leitete dieses an die Zentraldienststelle der „Euthanasieaktion" weiter. Sie befand sich seit dem April 1940 in der Tiergartenstraße 4 in Berlin und wurde zum Namensgeber der „Aktion T4", den zentralen Krankenmorden in Gastötungsanstalten.

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Vgl. Schmuhl, Hans-Walther, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens" 1890-1945, 2., Aufl, Göttingen 1992, S. 190. Zur Diskussion über den „Euthanasie"-Erlass vgl. Große-Vehne, Vera, T ö t u n g auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie" und Sterbehilfe, Berlin 2005, S. 126-138. Vgl. Große-Vehne, 2005, wie Anm. 12, S. 161. Vgl. Schmuhl, 1992, wie Anm. 12, S. 192 f. Vgl. Schmuhl, 1992, wie Anm. 12, S. 191. Zur Rolle regionaler Verwaltungen bei der „Aktion T 4 " vgl. Sandner, Peter, Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, Gießen 2003, bes. S. 332-510, sowie Böhm, Boris, Funktion und Verantwortung des Sächsischen Innenministeriums während der „Aktion T 4 " in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Der sächsische Sonderweg bei der NS-„Euthanasie", Ulm 2001, S. 63-90.

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Gutachter, die der RAG unterstellt waren, werteten die Meldebögen aus. In letzter Instanz entschieden die beiden Obergutachter Werner Heyde und Paul Nitsche, die zugleich die medizinische Leitung innehatten.16 Die Informationen, welche den Gutachtern für die Entscheidung über Leben und Tod zu Verfügung standen, beschränkten sich auf knappe biografische Angaben, die Diagnose und den damit verbundenen Pflegeaufwand und Heilungsaussichten sowie die bisherige Dauer des Anstaltsaufenthaltes. Neben diesen Merkmalen beeinflusste das Kriterium der Arbeitsfähigkeit die Entscheidung wesentlich. Das zeigt die teilweise ökonomische Implikation der Krankenmorde, die neben der rassenhygienischen Motivation stand.17 Anschließend wurden auf Grund der Gutachterentscheidungen Transportlisten der zu ermordenden Anstaltspatienten von der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (Gekrat) erstellt, die Reinhold Vorberg (1904-1983) leitete. An Hand dieser Listen wurden die Patienten aus den einzelnen Einrichtungen zunächst in so genannte Zwischenanstalten gebracht, von wo aus die Gekrat sie anschließend in Sammeltransporten in die zentralen Tötungseinrichtungen verlegte.18 Die Zuständigkeit für die Einrichtung, den laufenden Betrieb und die Verwaltung der Tötungsanstalten oblag der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege (Stiftung). Ihr gliederte sich die Hauptwirtschaftsabteilung an, der die Verantwortung für die gesamte Finanzierung der zentralen Krankenmordaktion oblag. Nominell war jeder Mitarbeiter der „Aktion T4" bei der Stiftung angestellt. Ebenso fiel die Beschaffung von Sachmitteln, beispielsweise des zur Tötung verwendeten Kohlenmonoxids, in ihr Aufgabenfeld.19 Erst im April 1941 entstand eine weitere Tarnorganisation - die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten (ZVSt). Uber den Zeitpunkt der Ermordung hinaus wurden von dieser Dienststelle Pflegegelder von den Kostenträgern eingestrichen. Dabei konnten erhebliche Gewinne erzielt werden. Auch die Verwertung und der Verkauf von Zahngold ermordeter Patienten oblagen seitdem der Zentralverrechnungsstelle.20 Dieser bürokratische Apparat, der einen halbstaatlichen Charakter hatte, diente nicht ausschließlich der Verwaltung der Krankenmorde, sondern ebenso deren Verschleierung. Das Ziel der Geheimhaltung der Morde determinierte unter anderem 16 Vgl. Lilienthal, Georg, Wie die T4-Aktion organisiert wurde. Zur Bürokratie eines Massenmordes, in: Hamm, Margret (Hg.), Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie", Frankfurt am Main 2005, S. 143-158, hier S. 144-147. 17 Meldebogen 1, Archiv Gedenkstätte Pirna Sonnenstein (künftig AGPS). Eine Kopie des Merkblatts zur Ausfüllung der Meldebögen befindet sich in der Anklageschrift Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke, Kurt Borm, Klaus Endruweit vom 15.1.1965, Hessisches Hauptstaatsarchiv (künftig HHStA), Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfürt am Main, Abt. 631a,Jsl5/61, S. 78. 18 Vgl. Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, S. 134 f. 19 Vgl. Schmuhl, 1992, wie Anm. 12, S. 194 f. 20 Vgl. Lilienthal, Georg, 2005, wie Anm. 16, S. 154-156.

Die Tötungsanstalt Pima-Sonnenstein 1940/41

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auch die Auswahl geeigneter Räumlichkeiten für die Ermordung der Patienten.21 Der gesamte Ablauf der „Aktion T 4 " galt als Geheime Reichssache. 22

3. Die „T4"- Tötungsanstalten Die Entscheidung Hitlers, einen großen Teil der Psychiatriepatienten ermorden zu lassen, warfauch die Frage nach der Tötungstechnologie auf. Bei aller Brutalität des Nationalsozialismus stellte der Massenmord an 60 - 70.000 avisierten Opfern eine neue Dimension dar. Die Suche nach einer geeigneten Tötungsmethode führte zum Kriminaltechnischen Institut (KTI), welches dem Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) unter der Leitung von Arthur Nebe (1894-1945) unterstand.23 Erste Vergasungsexperimente wurden Ende 1939 in Anwesenheit hochrangiger Vertreter von Parteiund Staatsdienstellen sowie Ärzten, darunter auch Nitsche und der spätere Leiter zweier Tötungsanstalten Horst Schumann (1904-1983), im ehemaligen Zuchthaus Brandenburg an der Havel durchgeführt.24 Zu diesem Zweck hatten zuvor Arbeiter des Hauptbauamtes der SS die Tötungsanlage installiert.25 Der Tötungsarzt Aquilin Ullrich (1914-2001) beschrieb den Aufbau der Gaskammer wie folgt: „Der Vergasungsraum war ähnlich einem Duschraum ausgestattet. In der Größe 3 x 5 m und einer Höhe von 3 m, war er mit Platten ausgelegt. Ringsherum waren Bänke für die Patienten aufgestellt. An der Wand entlang verlief in einer Höhe von etwa 10 cm über dem Boden ein Leitungsrohr von der Stärke von 1 Zoll; in diesem befanden sich kleine Löcher, durch die das Gas in den Raum strömen konnte."26 Diesem Aufbau folgten im Wesentlichen auch die anderen Tötungsanstalten. Nach der Erprobung der Tötungstechnologie begannen im Januar 1940 erste systematische Verlegungen von Patienten aus dem norddeutschen Raum in die Tötungsanstalt Brandenburg, welche im „T4"-internen Schriftverkehr unter dem Buchstaben „B" firmierte.27 Nach außen trat die Tötungsanstalt als „Landespflegeanstalt Brandenburg a. H." in Erscheinung.28 21

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Vgl. beispielsweise zur Wahl Grafenecks: Stöckle, Thomas, Die nationalsozialistische „Aktion T4" in Württemberg, in: Pretsch, Hermann J. (Hg.), Euthanasie. Krankenmorde in Südwestdeutschland, Zwiefalten 1996, S. 15-26, hier S. 18-20. Urteil des Dresdner „Euthanasie"prozesses vom 7.7.1947, SHStA, MdJ, 11120, 2533, Bl. 207. Vgl. Schmuhl, 1992, wie Anm. 12, S. 195. Vgl. Friedlander, 1997, wie Anm. 18, S. 154. Anklageschrift Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke, Kurt Borm, Klaus Endruweit vom 15.1.1965, HHStA, Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankiiirt a.M., Abt. 6 3 1 a , J s l 5 / 6 1 , S. 177. Anklageschrift Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke, Kurt Borm, Klaus Endruweit vom 15.1.1965, HHStA, Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt a.M., Abt. 6 3 1 a , J s l 5 / 6 1 , S. 176. Hartheim-Statistics, National Archive Records Administration (künftig: NARA), RG 338, Microfilm Publication T-1021, Rolle 18, Aufnahme 98. Vgl. Falk, Beatrice/ Hauer, Friedrich, Die Gasmordanstalt Brandenburg an der Havel. Stand und Aufgaben der Forschung, in: Morsch, Günter/ de Pasquale, Sylvia (Hg.), Perspektiven für die Dokumentationsstelle Brandenburg. Beiträge der Tagung in der Justizschule der Justizvollzuganstalt Brandenburg am 29./30.10.2002, Münster 2004, S. 107-121.

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Ebenfalls mit dem Titel einer psychiatrischen Anstalt versehen, wurde zeitgleich im Januar 1940 eine zweite Tötungsanstalt mit Gaskammer im ehemaligen Samariterstift Grafeneck (Württemberg) eingerichtet. Im Schriftverkehr wurde sie unter Anstalt „A" geführt. Bereits im Oktober 1939 hatte eine Besichtigung des Anstaltsgeländes in Anwesenheit von Viktor Brack (1904-1948) und Herbert Linden stattgefunden. Der eigentliche Vorschlag, Grafeneck als Tötungsort zu nutzen, ging dabei auf einen Mitarbeiter des württembergischen Innenministeriums zurück.29 In Folge dieser Inspektion beschlagnahmte das Württembergische Innenministerium die Gebäude und stellte die Räumlichkeiten der „T4" zur Verfügung. Dieses Vorgehen war charakteristisch für die Standortwahl. Die Vorschläge kamen zumeist von regionalen Stellen, die letzte Entscheidung über die Einrichtung der Tötungsanstalten aber traf der Leiter der Inspektionsabteilung, Adolf Gustav Kaufmann (1902-1974). Direkt Brack unterstellt, koordinierte er die Zusammenarbeit zwischen der KdF und örtlichen Partei- und Regierungsstellen und veranlasste die notwendigen Umbaumaßnahmen vor Ort.30 Am 18. Januar 1940 waren die Vorbereitungen der Mordaktion in Grafeneck abgeschlossen, so dass ein erster Transport von 25 Patienten aus der bayrischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar die „T4"-Anstalt Grafeneck erreichte.31 Waren die ersten Opfer aus verschiedensten psychiatrischen Einrichtungen Badens, Württembergs und Bayerns in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht worden, so änderte sich etwa im Sommer 1940 die Verlegungspraxis. Die Patienten gelangten nun zunächst in „Zwischenanstalten", von wo aus sie meist nach wenigen Wochen in die in der näheren Umgebung befindliche Tötungsanstalt gebracht wurden.32 Diese „Sammelanstalten" befanden sich maximal 200 km von der Tötungsanstalt entfernt und dienten zum einen der Verschleierung des tatsächlichen Transportziels, und damit der Ermordung der Patienten, und zum anderen der Verbesserung der Logistik der Krankenmorde. Die Opfer konnten so je nach Kapazität der Tötungsanstalt von der Gekrat geholt werden.33 Dieses System der Zwischenanstalten übernahm auch die seit Mai 1940 in die Krankenmorde involvierte dritte Tötungsanstalt im Schloss Hartheim bei Linz, die eine beschlagnahmte Behinderteneinrichtung nutzte. In dieser unter dem Buchstaben „C" geführten Anstalt wur-

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Vgl. Stöckle, 1996, wie Anm. 21, S. 18. Vgl. zum Beispiel auch die Auswahl Bernburgs, sowie die Einrichtung der Tötungsanstalt in Brandenburg durch Kaufmann bzw. die Inspektionsabteilung, Anklageschrift Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke, Kurt Borm, Klaus Endruweit vom 15.1.1965, HHStA, Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Abt. 631a, Jsl5/61, S. 186, 179. Vgl. zu Kaufmann: Friedlander, 1997, wie Anm. 18, S. 132 f. Vgl. Stockdreher, Petra, Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, in: Cranach, Michael v o n / Siemen, HansLudwig (Hg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayrischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933-1945, München 1999, S. 327-363, hier S. 347. Vgl. Stöckle, 1996, wie Anm. 21, S. 23 sowie Schulze, Dietmar, Die Landesanstalt Neuruppin in der NSZeit, Berlin, Brandenburg 2004, S. 98-117. Vgl. Sandner, 2003, wie Anm. 15, S. 442 f

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den Psychiatriepatienten aus der so genannten „Ostmark" und Teilen Bayerns ermordet.34 Ende Juni 1940 begannen die Krankenmorde in der als Anstalt „D" bezeichneten Tötungsanstalt Sonnenstein.35 Im Herbst 1940 ließ die „T4" zwei weitere „Euthanasie"-Zentren errichten, welche die zum Teil aufgrund logistischer Probleme und Proteste geschlossenen Tötungsanstalten Grafeneck und Brandenburg ersetzten.36 So übernahm Bernburg (Anstalt „Be") im November 1940 das Einzugsgebiet Brandenburgs, Hadamar (Anstalt „E") ersetzte ab Dezember 1940 Grafeneck.37 Der Einzugskreis hatte sich im Fall Hadamar noch auf den hessischen Raum erweitert. Sowohl in Hadamar als auch in Bernburg bestanden die Tötungseinrichtungen in Teilbereichen weiter genutzter psychiatrischer Anstalten. In diesen später nachfolgenden „Euthanasie"anstalten wurden ebenso Gaskammern installiert, und zum Teil wurde auf „bewährtes" Personal zurückgegriffen, beispielsweise wechselten die Tötungsärzte Ernst Baumhardt (1911-1943) und Günter Hennecke (1912-1943) aus Grafeneck nach Hadamar.38 Horst Schumann, der erste ärztliche Leiter der Tötungsanstalt Grafeneck, war ab dem Frühjahr 1940 mit der Einrichtung der Tötungsanstalt in Pirna-Sonnenstein betraut, in der er dann die Position des leitenden Arztes bekleidete.39

4. Die Einrichtung der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein Der Entscheidung zur Einrichtung einer Tötungsanstalt in Pirna-Sonnenstein war im Frühjahr 1940 ein Besichtigungstermin Viktor Bracks in der sächsischen Landesanstalt Hubertusburg vorausgegangen. In Begleitung des zukünftigen Leiters der geplanten Tötungseinrichtung, Horst Schumann, prüfte Brack die baulichen Gegebenheiten, und kam zu dem Ergebnis, dass Hubertusburg nicht geeignet sei.40 Vermutlich auf einen Hinweis Nitsches hin, der zum Zeitpunkt der Standortentschei-

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Als Zwischenanstalt fungierte dort Niedernhart, zuvor wurden die Patienten in Sammelanstalten in Ybbs, Graz-Feldhok Wien-Steinhof verlegt. Vgl. Kepplinger, Brigitte, Die Tötungsanstalt Hartheim 1940-1945, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Beiträge zur NS-„Euthanasie"-Forschung 2002, Ulm 2003, S. 53-109. Transportkalendarium, erstellt von der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, AGPS. Vgl. Stöckle, Thomas, Grafeneck. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 2002, bes. S. 159-172. Vgl. weiter Schulze, Dietmar, „Euthanasie" in Bernburg. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/ Anhaltische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 63. Vgl. Schulze, 2004, wie Anm. 32, S. 72. Vgl. weiter Lilienthal, Georg, Gaskammer und Uberdosis. Die Landesheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941-1945), in: George, Uta (Hg.), Hadamar. Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 156-175. Vgl. Lilienthal, Georg, Personal der Tötungsanstalt. Acht biographische Skizzen, in: George, Uta (Hg.), Hadamar. Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 267-292, hier S. 269. Vgl. Schilter, Thomas, Horst Schumann - Karriere eines Arztes im Nationalsozialismus, in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Von den Krankenmorden auf dem Sonnenstein zur „Endlösung der Judenfrage" im Osten, Pirna 2001, S. 95-108, hier S. 98 f. Aussage Horst Schumann vom 17.5.1968, HHStA, Abt. 631a, Bd. 524, Ib, Bl. 23.

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dung bereits für die „T4" in Berlin arbeitete, fiel die Wahl schließlich auf das Terrain der ehemaligen Landesanstalt Pirna-Sonnenstein.41 Ein Ortstermin, den auch der Leiter der Inspektionsabteilung der „T4", Adolf Gustav Kaufmann wahrnahm, besiegelte die Standortwahl.42 Bereits vor der offiziellen Schließung der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein am 9. Oktober 1939 durch den Sächsischen Innenminister, waren Teile des ehemaligen Anstaltskomplexes durch die Deutsche Wehrmacht requiriert worden. Diese hatte am 26. August 1939 einen Anstaltsbereich zum Reservelazarett gemacht, um die erwarteten Verwundeten des Feldzuges gegen Polen aufnehmen zu können. Im Januar 1940 wurden einige Gebäude aufgrund mangelnden Bedarfs wieder abgegeben. Zum gleichen Zeitpunkt trafen die ersten Volksdeutschen Umsiedler aus Wolhynien und Galizien in dem neu eingerichteten „Beobachtungslager" auf dem Sonnenstein ein. Ein Großteil der Gebäude war demzufolge schon während der Entscheidungsphase und der damit einhergehenden Besichtigung durch die „T4" in fremder Nutzung. Unter Aufsicht von Horst Schumann wurde seit dem Frühjahr 1940 der sogenannte Männergartenbereich der ehemaligen Anstalt Sonnenstein zum Vernichtungszentrum umfunktioniert.43 Vier ehemalige Männerkrankengebäude bildeten den Kernbereich der Tötungsanstalt. Im Keller des Gebäudes C 16, dem früheren Paralytikerhaus, installierten Handwerker unter der Leitung von Erwin Lambert (1909-1976) eine Gaskammer und zwei Krematoriumsöfen.44 Zwei der Handwerker, Gustav Münzberger (1903-1977) und Karl SchifFner (1901-?), wählten Horst Schumann und Adolf Gustav Kaufmann persönlich aus. Dafür reisten sie im Frühjahr 1940 eigens nach Teplitz-Schönau (Gau Sudetenland) in die dortige Sturmbannkanzlei. Dort waren mehrere SS-Angehörige verpflichtet worden, einen Lebenslauf zu verfassen, auf dessen Grundlage die Auswahl dann erfolgte.45 Neben den „T4"-Handwerkern „wurden die speziellen Montagearbeiten, u.a. das Errichten der Verbrennungsöfen (...) von einem Monteur der Fa. Kori, Berlin, ausgeführt."46 Die Firma Kori entwickelte ebenso wie die Erfurter Firma Topf & Söhne spezielle Krematoriumsöfen zur Massenverbrennung, die sowohl in den „T4"-Anstalten als auch in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der SS zum Einsatz kamen.47

41 42 43 44

45 46 47

Aussage Horst Schumann vom 17.5.1968, HHStA, Abt. 631a, Bd. 524, Ib, Bl. 23E Anklageschrift Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke, Kurt Borm, Klaus Endruweit vom 15.1.1965, HHStA, Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Abt. 631a, Jsl5/61, S. 210. Anklageschrift Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke, Kurt Borm, Klaus Endruweit vom 15.1.1965, HHStA, Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Abt. 631a, Jsl5/61, S. 210. Aussage Horst Schumann vom 9.4.1968, HHStA, Abt. 631a, Bd. 524, Ib, Bl. 23£ Vgl. weiter Aussage Erwin Lambert vom 12.12.1963, Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg (künftig ZStL), „Sammlung Euthanasie", Ordner La-Le, S. 3. Aussage Gustav Münzberger vom 10.11.1962, ZStL, „Sammlung Euthanasie", Ordner Mi-Mz, S. 2. Aussage Erwin Lambert vom 2.10.1962, ZStL, 208, AR-Z 251/59 (Sobibör-Ermittlungsverfahren), Bd.8, Bl. 1540. Vgl. Pressac, Jean-Claude, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, Augsburg 1995, bes. S. 10-18.

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Ein Brand des Schornsteins auf dem Sonnenstein während der „Euthanasie"-Zeit deutet allerdings darauf hin, dass die verwandte Technik nicht voll den Anforderungen entsprach. Eine Untersuchung durch den Leiter des Referats Chemie beim KTI, Albert Widmann (1912-?), ergab, „daß die hohen Flammen daher rührten, daß zu viele Leichen auf einmal verbrannt worden sein müßten. Im übrigem habe ich festgestellt und zum Ausdruck gebracht, der Schornstein wäre in ungeeigneter Form errichtet, nämlich viereckig statt rund."48 In den vorderen Kellerbereich wurde die als Duschraum getarnte Gaskammer eingebaut. Die in Pirna eingesetzten Handwerker waren über den Zweck der Einrichtung informiert worden.49 Anders als in den übrigen Gaskammern der „T4" wurden die Wände nicht mit Fliesen, sondern vermutlich mit einem wasserabweisenden Ölanstrich versehen. Das Fenster sicherte ein Scherengitter.50 In der Nähe des Fensters installierte ein Elektriker die Belüftungsanlage. Im benachbarten Raum befand sich ein Holzverschlag, in welchem die Gasflaschen standen.51 Von diesem führten Rohre durch die Wand in die Gaskammer. Wie der Schreiner Gustav Münzberger 1967 aussagte, mussten die Handwerker auch „Bänke für den sogenannten Duschraum herstellen",52 die vor den Gasrohren platziert wurden. Den Raum verschlossen zwei gasdichte Luftschutztüren. Die mit dem Vorraum verbundene Tür verfugte über ein kleines Sichtfenster, welches die Beobachtung des Tötungsprozesses ermöglichte. Im Erdgeschoss des Gebäudes C 16 wurde der Untersuchungsraum eingerichtet. Die darüber liegenden Etagen dienten als Dienstwohnungen für das Personal.53 Zur Tötungsanstalt gehörte auch ein Sonderstandesamt, welches im Gebäude C 17 gemeinsam mit der Registratur, der Nachlassverwaltung und dem Polizeiamt untergebracht war. Die Leitung der Verwaltung oblag dem Kriminalsekretär Ernst Schemmel (1883-1943).54 Die dem Sonderstandesamt gegenüberliegenden Gebäude C 14 und C15 dienten der kurzzeitigen Unterbringung von Kranken bei größeren Transporten. Für die Busse der Gekrat wurde eine angrenzende Scheune zur Garage umgebaut. Das Gebäude einer ehemaligen Kegelbahn diente dem 15-köpfigen Polizeikommando, fast ausschließlich Hilfspolizisten, als Wache. Dieses sicherte das Gelände der Tötungsanstalt und verhinderte den Zutritt unbefugter Personen. Die Leitung des Transport- und Polizeikommandos oblag dem Dresdner Polizeibeamten Paul Rost (1904-1984).55 48 49 50

51 52 53 54 55

Klee, Ernst, Dokumente zur „Euthanasie", Frankfurt am Main 1986, S. 270 f Aussage Herbert Kaiisch vom 25.6.1962, ZStL, „Sammlung Euthanasie", Ordner Kaa-Ki. Vgl. Cramer, Johannes, Bauliche Zeugnisse der „Euthanasie"-Morde in der Anstalt Pirna-Sonnenstein, in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung, Dresden, Pirna 1996, S. 143-160, hier S. 146. Aussage Emil Hackel vom 3.3.1966, ZStL, „Sammlung" Euthanasie, Ordner Haa-Hd, S. 3. Aussage Gustav Münzbergers vom 31.1.1967, ZStL, „Sammlung Euthanasie", Ordner Mi-Mz. Aussage Horst Schumann vom 9.4.1968, HHStA, Abt. 631a, Bd. 524, Bl. 24. Aussage Elisabeth Fischer vom 10.4.1946, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 75 ff. Aussage Paul Rost vom 4.5.1946, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 103-105, hier Bl. 103b.

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Insgesamt waren während der Tötungsaktion auf dem Sonnenstein etwa 100 Personen mit der Durchfuhrung und bürokratischen Abwicklung der Krankenmorde beschäftigt. Zur Gewährleistung des Tötungsbetriebs und seiner bürokratischen Verwaltung war die laufende Anwesenheit von ungefähr 60 Personen notwendig. Allein in der Büro- und Wirtschaftsabteilung wurden 31 Mitarbeiter beschäftigt, circa 30 weitere Angestellte kamen als „Pflegepersonal" zum Einsatz.56 Die große Anzahl von Mitarbeitern, die sich mit der Verwaltung des Krankenmordes beschäftigten, verdeutlicht den hohen Bürokratisierungsgrad der Tötungsaktion, der maßgeblich der Geheimhaltung diente. Das nichtmedizinische Personal wurde in den meisten Fällen über eine Notdienstverpflichtung zur Mitarbeit gewonnen. Einige erhielten, nach eigenen Angaben, eine Aufforderung, sich bei der Stiftung in Berlin zu melden. Die Bürokraft Elisabeth Fischer (1918—?) berichtete über ihre Notdienstverpflichtung folgendes: „Als im Herbst 1940 für die Führerkanzlei Kräfte gesucht wurden, habe ich mich zur Verfügung gestellt und bin daraufhin im Oktober 1940 nach Berlin notdienstverpflichtet worden. (...) In Berlin kamen wir zur Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege, Tiergartenstraße 4. Eine Sekretärin des Personalchefs Oels eröffnete uns, daß wir nach Pirna-Sonnenstein kämen, und daß es sich dort um die Tötung von Geisteskranken durch Vergasung handele. Als wir erklärten, daß uns daran nichts liege, sagte uns die Sekretärin, daß wir nur ins Büro kämen und mit den Kranken nichts zu tun hätten. Wir wurden unterschriftlich bei Todesdrohung zur strengster Geheimhaltung verpflichtet."57 Die im Krematorium eingesetzten „Brenner", euphemistisch Desinfektoren genannt, gehörten alle der SS an.58 Da ihnen gegenüber die Mordaktion kaum beschönigt werden konnte, schließlich sollten sie täglich das Leid der Opfer sehen, kam einer festen politischen Überzeugung große Bedeutung zu, die eine aktive Umsetzung der Ziele des Nationalsozialismus einschloss. Nachweislich zwei der insgesamt zwölf Brenner, die nach Pirna abkommandiert wurden, waren Mitglieder von SS Totenkopf-Standarten. 59 Im Gegensatz zu dem notdienstverpflichteten Verwaltungspersonal ordnete das Sächsische Innenministerium die Pfleger und Schwestern direkt nach Pirna ab. Am 1. Juli 1940 trafen ungefähr zehn Pfleger aus sächsischen Landesanstalten in Pirna ein. Erst dort klärte sie der Leiter der Tötungsanstalt Horst Schumann über ihre zukünftige Tätigkeit in fast schon zynischer Art auf. „Sie [Schumann und Oberpfleger Gley, d. Verf] haben daraufhingewiesen, daß unsere Arbeit von der bisherigen abweichen wird, wonach uns 3 Schriftexemplare zur Unterschrift vorgelegt wur56 57 58 59

Eine Aufstellung des in Pirna eingesetzten Personals befindet sich in: Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 206208. Aussage Elisabeth Fischer vom 10.4.1946, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 75. Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 199. Aussage des ehemaligen Leichenverbrenners Kurt Bolender vom 8.7.1965, ZStL, „Sammlung Euthanasie", Ordner Bi-Bq, S. 2 f.

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den, aus denen ersichtlich war, daß wir uns zum Schweigen über alles im Krankenhaus Gesehene verpflichten und wir für Verbreiten der Geheimnisse mit unserem Kopf verantwortlich sind."60 Diese Abordnung bedeutete zugleich ein verändertes Unterstellungsverhältnis, weisungsgebend war die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege. Inwieweit die Pflegekräfte darüber in Kenntnis gesetzt wurden, muss unter Berücksichtigung späterer Aussagen offen bleiben. Daran wird jedoch die bewusste Nutzung staatlicher Autorität, in diesem Falle des Sächsischen Innenministeriums, durch halbstaatliche Institutionen deutlich. Anders als bei dem mittleren medizinischen Personal war der äußere Druck bei den Tötungsärzten wesentlich geringer. Ihre Tatbeteiligung beruhte auf einer freiwilligen Zustimmung zur Tötungsaktion. Sie hatten von Beginn an Kenntnis über den geplanten Umfang und die praktische Durchführung. Horst Schumann sagte 1966 aus: „Im September oder Oktober 1939 wurde ich telefonisch von der Kanzlei des Führers für einen Sonderauftrag angefordert. (...) Dort hat mir Brack (...) das Prinzip der vorgesehenen Euthanasie-Aktion vorgetragen. Er wies darauf hin, daß die beabsichtigte Aktion auf einen Befehl des Führers zurückginge und hat mir bei dieser oder einer späteren Gelegenheit das Schreiben vom 1. September 1939 an Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt gezeigt. Brack hat mich zur Verschwiegenheit verpflichtet und mich darauf hingewiesen, daß es sich um eine Geheime Reichssache handele."61 Eine Woche später erklärte sich Schumann zur Mitwirkung an der Aktion bereit. Das Verfahren mit dem er zur Mitarbeit gewonnen wurde, ist auch noch bei den übrigen Sonnensteiner Tötungsärzten angewandt worden. Nachdem eine allgemeine Zustimmung zur „Euthanasie" erklärt worden war, fuhren die Arzte nach Pirna-Sonnenstein. „Dort traf ich [Ewald Worthmann, d. Verf ] Dr. Schumann, den Leiter der Anstalt. Dr. Schumann hat mir die Aufgabe dieser Anstalt erklärt und mir den Tötungsvorgang an Hand eines Transports praktisch vorgeführt."62 Die ärztliche Qualifizierung spielte bei der Auswahl der Tötungsärzte nur eine marginale Rolle. Bei der Betrachtung ihrer Biografien fallt auf, dass eine psychiatrische Fachausbildung keine Voraussetzung war, ebenso wenig wie eine längere praktische ärztliche Tätigkeit. Vor allem eine rassenhygienischpolitische Aktivität scheint für die Auswahl ausschlaggebend gewesen zu sein. So hatte Kurt Borm (1909-2001) im September 1938 seine Approbation erhalten und sich zunächst als Assistenzarzt betätigt. 1933 war er über eine Hochschulgruppe in die SS eingetreten, zu diesem Zeitpunkt gehörte er bereits drei Jahre der NSDAP an.63 Der jüngste in Pirna eingesetzte Arzt, Klaus Endruweit (1913-1994), hatte das Studium erst 1939 mit einer Notapprobation abgeschlossen. Er hatte an einer zweimonatigen Studienreise nach Bessarabien teilgenommen, welche den Zweck

60 61 62 63

Auszug und Übersetzung aus dem russischen Protokoll Paul Räpke, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 11. Vgl. auch Aussage Elisabeth Fischer vom 10.4.1946, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 75. Aussage Horst Schumann vom 17.11.1966, HHStA, 631a, Bd. 524, B1.2. Aussage Ewald Worthmann vom 21.3.1963, ZStL, „Sammlung Euthanasie", Ordner Wi-ZZ, S. 4. Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 187-192.

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verfolgte, die dort lebende deutsche Minderheit rassisch und erbbiologisch zu erfassen. Während seiner Tätigkeit als Tötungsarzt in Pirna setzte er seine Forschungen fort und verfasste darüber eine Dissertation.64 Ewald Worthmann (1911-1991) nahm ebenfalls an der Studienreise nach Bessarabien 1938 teil. Im selben Jahr promovierte er am Institut für Vererbungswissenschaften und Rassenforschung. Im September 1940 trat er seinen Dienst in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein an. Nach nur einem Monat erbat er bei Prof. Heyde seine Versetzung, da er sich nicht weiter an den Tötungen beteiligen wollte. Sein Wunsch führte zum Ausscheiden aus der „T4", ohne weitere Konsequenzen.65 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass zu mindestens flir die Arzte die Möglichkeit bestand, aus dem Tötungsprogramm ohne Sanktionen auszuscheiden. Während Worthmann sich gegen eine weitere Beteiligung an den Krankenmorden aussprach, wurde Curt Schmalenbach (1910— 1944) nach mehreren Monaten Einsatz als Tötungsarzt in Pirna Ende 1940 in die „T4"-Zentrale abberufen. Dem „T4"-Gutachter Friedrich Mennecke (1904-1947) zufolge avancierte er dort Ende 1941 sogar zum ärztlichen Adjutanten von Victor Brack.66 Diesen jungen Ärzten oblag es, die Patiententötungen durchzuführen.

5. Der Ablauf der Krankenmorde auf dem Sonnenstein Der erste Transport mit zehn Patienten aus der Landesanstalt Waldheim erreichte am 28. Juni 1940 den Sonnenstein. Vermutlich handelte es sich dabei um einen „Probelauf', der die Funktionsfähigkeit der Tötungsanstalt unter Beweis stellen sollte.67 Ein Indiz dafür ist die zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständige personelle Besetzung, die erst zum 1. Juli 1940 gegeben war. Wie in den anderen Anstalten der „T4" entwickelte sich auch für Pirna ein Netz von Zwischenanstalten, über die die Opfer nach dem Sonnenstein gelangten. Vier sächsische Landesanstalten dienten als Aufnahmeort für Patienten verschiedenster Pflegeeinrichtungen. Die Anordnung zum Abtransport erfolgte formal durch das Sächsische Innenministerium, welches im Auftrag des sächsischen Reichsverteidigungskommissars Martin Mutschmann agierte. Nicht näher ausgeführte kriegswichtige Gründe dienten dabei als Begründung. Tatsächlich basierten die Verlegungsanforderungen auf den Transportlisten, welche die Gekrat auf Grundlage der Meldebögen erstellt hatte. Hier trat das Sächsische Innenministerium ebenfalls als Legitimierungsinstanz in Erscheinung. Die Patienten wurden zunächst aus den einzelnen Einrichtungen aus Sachsen, Thüringen, Franken, Schlesien, Sudetenland, Ostpreußen und Westpreußen mit 64 Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 192-195. 65 Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 195-198. 66 Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 185-187. 67 Vgl. Schröter, Sonja, Psychiatrie in W a l d h e i m / Sachsen (1716-1946). Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt am Main 1994, S. 146.

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Hilfe von einheimischen Transportunternehmen oder der Reichsbahn in die Zwischenanstalten gebracht.68 Dadurch verstärkte sich der Aufnahmedruck in den betroffenen Einrichtungen, die seit Kriegsbeginn zusätzlich Patienten aus „fremdgenutzten" Anstalten aufnehmen und gleichzeitig Kapazitäten beispielsweise für die Wehrmacht schaffen mussten.69 So hatte beispielsweise die seit 1912 existierende größte sächsische Landesanstalt in Arnsdorf bereits 1939 Patienten aus den aufgelösten Landesanstalten Colditz und Sonnenstein aufzunehmen. Im April 1940 wurde ein Reservelazarett eingerichtet, für das über 1.200 Betten vorgesehen waren. Dies entsprach etwa zwei Drittel der Anstaltsbetten.70 Gleichzeitig erfolgte aus „kriegswichtigen Gründen" im Jahr 1940 die Verlegung von 1.173 Patienten nach Arnsdorf, mit dem Ziel der späteren Weiterverlegung nach dem Sonnenstein.71 Die meist mehrwöchige Unterbringung der zur Tötung vorgesehenen Menschen führte zu einer zusätzlichen Beanspruchung des ohnehin dezimierten Personals und Raumbestandes. Selbst der Direktor der Landesanstalt Wilhelm Sagel (1880-1954) befand sich seit November 1939 im Wehrdienst. Die Leitung übernahm Dr. Ernst Leonhardt (1885-1947), der auch nach Sageis Rückkehr im September 1941 mit der Durchführung der „Sonderaktion" betraut war.72 Unter Leonhardts Verantwortung wurden insgesamt 2.681 Menschen über Arnsdorf nach Pirna in den Tod geschickt.73 Ähnliche Fluktuationen lassen sich auch bei den anderen sächsischen Zwischenanstalten nachweisen. So wurden in den Jahren 1940/41 aus der Landesanstalt Großschweidnitz 2.386 Patienten mit dem Ziel Sonnenstein abtransportiert.74 Dieser Anstalt sollte auch in Verbindung mit der nach Abbruch der „T4"-Krankenmorde einsetzenden dezentralen „Euthanasie" eine besondere Rolle zukommen. Durch die von Direktor Dr. Alfred Schulz (1890-1947) angeordnete Verabreichung überdosierter Medikamente bei gleichzeitiger systematischer Unterernährung starben in der Kriegszeit etwa 5.500 Menschen. 75 Aus der dritten Zwischenanstalt, Waldheim, kamen die ersten Opfer nach Pirna. Bereits unmittelbar nach Beginn der zentralen „Euthanasie" starb der Großteil der 68

69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Böhm, Boris, „Im Sammeltransport verlegt". Die Einbeziehung der sächsischen Kranken- und Behinderteneinrichtungen in die „Aktion T4", in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), „Im Sammeltransport verlegt." Die Einbeziehung der sächsischen Kranken- und Behinderteneinrichtungen in die „Aktion T4", Pirna 2002, S. 23-80, hier S. 62. Aufstellung über die Nutzung der Landesanstalten, undatiert, SHStA, Mdl, 16849, Bl. 2 7 / 1 . Vgl. Oeser, Steffen, Die sächsische Landesanstalt Arnsdorf von 1912 bis 1945. Von der Irrenpflegeanstalt zur nationalsozialistischen Musteranstalt, Med. Diss., Dresden 2005, S. 152. Jahresbericht der Landesanstalt Arnsdorf über das Jahr 1940, Archiv des Sächsischen Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, ohne Signatur, S. 6 f Vgl. Oeser, 2005, wie Anm. 70, S. 170. Transportkalendarium für die Tötungsanstalt Sonnenstein, A G P S . Transportkalendarium für die Tötungsanstalt Sonnenstein, A G P S . Vgl. Krumpolt, Holm, Die Landesanstalt Großschweidnitz als „T4"-Zwischenanstalt und Tötungsanstalt (1939-1945), in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, S. 137-147, hier S. 146.

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Patienten der Landesanstalt in der Tötungsanstalt Brandenburg, so dass am 2. März 1940 nur noch sechs Stammpatienten in Waldheim untergebracht waren.76 Anschließend wurde die Anstalt fiir Zwecke der „Aktion T4" umgewidmet und diente ab März 1940 fiir Brandenburg als Zwischenanstalt. Nachweislich 757 Opfer erreichten ab Juni 1940 von Waldheim aus den Sonnenstein.77 Die meisten nach Pirna verbrachten Opfer kamen aus der Zwischenanstalt Zschadraß. Insgesamt 3.910 Menschen wurden dort 1940/41 zeitweise untergebracht, 3.322 von ihnen kamen in Pirna-Sonnenstein ums Leben.78 Auch wenn nicht alle Personen zur gleichen Zeit in Zschadraß waren, herrschten in der Anstalt, durch die drastische Überbelegung ausgelöste, katastrophale Zustände. In einem Brief einer Mitarbeiterin der Inneren Mission in Grimma an den fiir die kirchlichen Heil- und Pflegeanstalten in Sachsen verantwortlichen Pfarrer Walter Schadeberg (1903-1949) von 1940 heißt es: „Diejenigen aber, die nicht arbeiten können, bekommen nur eine halbe Scheibe Brot, ein viertel Napf Essen, einen halben Becher Suppe - wird jemand bettlägerig, so gibt es noch weniger, in der Zelle gar nichts. Wenn die Arbeitenden Mitleid haben und ihnen von ihrem Wenigen etwas abgeben, wird ihnen zur Strafe die nächste Mahlzeit gekürzt, weil sie offenbar noch zuviel bekämen. Dabei bekommen die Kranken ,viel Medizin'. (...) Durch diese Medizin werden die Kranken matt und apathisch. (...) Die Unterbringung der Kranken ist katastrophal. Sie liegen auf dünnen Matratzen auf dem Fußboden, 51 in einem Saal. (...) Zunächst war die Anstalt in jedem Raum mit Strohlagern belegt worden, da viele von anderen Anstalten hinzugekommen waren. Weil aber täglich so viele sterben sind die Neuzugekommenen inzwischen schon auf die Stationen verteilt worden - allerdings ohne Betten."79 Neben den „Sammeltransporten" aus den sächsischen Zwischenanstalten erreichten eine Reihe von Direkttransporten, zum Beispiel aus Bunzlau (Schlesien), Troppau (Sudetenland), Meseritz-Obrawalde (Pommern) und Konradstein (Danzig-Westpreußen) mit insgesamt mindestens 1.392 Menschen, die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein.80 Der größte Teil der Verlegungen erfolgte in beschlagnahmten Bussen einer kommunalen Verkehrsgesellschaft, vergleichsweise wenige durch die Reichsbahn. Nachdem die Busse den Wachtposten des Polizeikommandos passiert hatten, empfing das Pflegepersonal die ankommenden Opfer. Die Erscheinung der Schwestern

76 Vgl. Schröter, 1994, wie Anm. 67, S. 129 £ 77 Vgl. Schröter, 1994, wie Anm. 67, S. 131, sowie Transportkalendarium für die Tötungsanstalt Sonnenstein, AGPS. 78 Mindestens zwei Transporte gingen im Juni 1940 in die Tötungsanstalt Brandenburg, vgl. Hölzer, Ariane, Die Behandlung psychisch Kranker und geistig Behinderter in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß während der nationalsozialistischen Diktatur, Med. Diss., Leipzig 1999, S. 79-87. Vgl. weiter Transportkalendarium für die Tötungsanstalt Sonnenstein, AGPS. 79 Zit. n. Böhm, 2002, wie Anm. 68, S. 47. 80 Transportkalendarium für die Tötungsanstalt Sonnenstein, AGPS.

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und Pfleger entsprach dem gewohnten Umfeld der Patienten. Bis zuletzt bemühte man sich diese „klinische" Atmosphäre aufrecht zu erhalten. Bei den Kranken und Behinderten sollte der Eindruck entstehen, dass sie lediglich in eine andere Anstalt verlegt worden seien. Viele waren seit Kriegsbeginn in mehreren Anstalten untergebracht gewesen, so dass ihnen die erneute Verlegung durchaus plausibel erscheinen konnte. Dennoch mussten immer wieder Unruhige sediert werden. Mit dem Fortschreiten der „Aktion T4" verbreiterte sich auch das Wissen der Patienten über ihr mögliches Schicksal, teilweise wehrten sie sich gegen den Abtransport.81 Der genaue Ablauf bis zu der Vergasung der Opfer lässt sich nicht in allen Details zweifelsfrei klären, da sich die im nach hinein getroffenen Aussagen von Beteiligten teilweise widersprechen. Als gesichert gilt, dass ein Aufnahmeraum zur kurzzeitigen Unterbringung der Kranken zur Verfugung stand, wo Einzelne vermutlich sogar noch eine Mahlzeit erhielten.82 Anschließend wurden sie in den so genannten Untersuchungsraum gefuhrt. Der Pfleger Paul Räpke sagte darüber aus: „Sie [die Opfer, d. Verf.] wurden einzeln in das Empfangszimmer vor eine Kommission, die aus Dr. Schumann, Dr. Schmalenbach, Hauptmann der Polizei Schemmel, Oberleutnant der Polizei Tauscher, Obersanitäter ,SS'-Mann Gley und Oberschwester Frieda Kutschke - gestellt."83 Diese Kommission prüfte zunächst die Identität der Person anhand einer Nummer, die auf dem Rücken des Opfers auf einem Pflaster vermerkt worden war.84 „Uns Ärzten", so sagte Horts Schumann vor Gericht aus, „lagen bei der Vorstellung die Fragebögen vor sowie die Fotokopien mit den Entscheidungen der Gutachter. Ferner lagen uns die Krankengeschichten vor. (...) Die Aufgabe von uns Ärzten war, die sachliche und personelle Richtigkeit der vorgestellten Kranken zu überprüfen. (. . .) Eine eigene Diagnose zu stellen, war bei der kurzen Vorstellung praktisch nicht möglich. Dazu kam, daß sowohl die Ärzte Dr. Borm und Dr. Endruweit als auch ich [Schumann, d. Verf.] kein Psychiater waren. Unsere Tätigkeit musste sich deshalb zwangsläufig darauf erstrecken, daß wir an die Kranken kurz Fragen stellten, um festzustellen, ob diese örtlich und zeitlich orientiert und ansprechbar waren. Dies war teilweise umso schwerer, als vereinzelt Kranke vor dem Transport ruhiggestellt waren."85 Schumann schätzte, dass höchstens „ein Dutzend" Patienten während der gesamten Tötungsaktion in Pirna von der Vergasung ausgenommen wurden.85 Die hauptsächliche Funktion der Untersuchung war es aber, eine fingierte, möglichst plausible Todesursache zu bestimmen, die in den Krankenpapieren vermerkt

81 Vgl. Schmuhl, 1992, wie Anm. 12, S. 205. 82 Aussage Kurt Borm vom 11.3.1963, HHStA, Abt. 631a, Bd. 512, S. 12. 83 Auszug und Übersetzung aus dem russischen Protokoll Paul Räpke, undatiert, SHStA, MdJ, 2526, Bl. IIa. 84 Anklageschrift gegen Horst Schumann vom 12.12.1969, HHStA, Abt. 631a, Bd. 575, S. 71. 85 Aussage Horst Schumann vom 30.11.1966, HHStA, Abt. 631a, Bd. 524, Bl. 6 f. 86 Aussage Horst Schumann vom 30.11.1966, HHStA, Abt. 631a, Bd. 524, Bl. 6 f

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wurde.87 Opfer die Zahnersatz aus Gold hatten, bekamen ein Kennzeichen auf die Brust. Anschließend wurden sie fotografiert, gemessen und gewogen.88 Auch bei der Untersuchung der Opfer tritt der inszenierte Charakter der Mordaktion zu Tage. Die Präsenz und Autorität der Arzte sollte ebenfalls den Eindruck erwecken, dass die vermeintlichen „Patienten" nichts zu befurchten hätten. „Nach dieser Untersuchung wurden sie [die Opfer, d. Verf ] in das nächste Zimmer - .Entkleidungszimmer' - gefuhrt. Entkleidet wurden sie durch 2 oder 3 Sanitäter, durch einen Treppenflur in den Keller gefuhrt - in ein Zimmer, das .Vorkammer' genannt wurde."89 In diesem Warteraum mussten die Opfer abwarten, bis die restlichen zur Vergasung bestimmten Menschen von der Ärztekommission „untersucht" waren. Etwa 30 Personen wurden unter dem Vorwand es würde zum Duschen gehen, in die Gaskammer geschickt und diese verschlossen. Selbst hier offenbarte sich die Wirkung des makaberen Schauspiels. „Einige der Kranken, (...), nahmen Waschlappen und Seife mit in den Gasraum, weil sie tatsächlich glaubten, sie kämen nun unter eine Brause."90 Tatsächlich waren in der Gaskammer Brauseköpfe angebracht.91 Einer der Ärzte, in der Regel Dr. Schumann, leitete die Vergasung ein. Er öffnete die im Leichenraum untergebrachten Gasflaschen, und überwachte den Tötungsvorgang. Auch fuhrende Mitarbeiter der „T4", beispielsweise Prof. Nitsche und Dr. Otto Hebold (1896-1975), waren sporadisch bei Vergasungen zugegen.92 Nach mehreren Minuten lagen die Opfer leblos am Boden und die Gaszufuhr wurde eingestellt. Nach etwa 20 weiteren Minuten begann das Absaugen des Gases. Anschließend brachten die so genannten Brenner die Leichen in den benachbarten Leichenraum, wo man den gekennzeichneten Opfern die Goldzähne heraus brach. Das gesammelte Zahngold brachte ein Kurier in die „T4"-Zentrale nach Berlin.93 Außerdem wurden an ausgewählten ermordeten Patienten von einem der Pfleger unter Aufsicht eines Arztes Gehirnsektionen durchgeführt. Die Präparate übersandte man in Glasbehältem an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch.94 Als nächster Schritt erfolgte die Verbrennung von jeweils drei bis

87 88

89 90 91 92 93 94

Aussage Elisabeth Fischer vom 10.4.1946, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 75b. Die Ärzte verfugten über eine Liste mit möglichen, unverfänglichen Todesursachen. Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 74. Die Fotos wurden schließlich in der „T4"-Zentrale in Berlin katalogisiert und sollten für die spätere wissenschaftliche Forschung genutzt werden. Vgl. Friedlander, 1997, wie Anm. 18, S. 166. Auszug und Ubersetzung aus dem russischen Protokoll Paul Räpke, undatiert, SHStA, MdJ, 2526, Bl. IIb. Aussage Emil Hackel vom 3.3.1966, ZStL, Sammlung Euthanasie, Ordner Haa-Hd, S. 3. Aussage Kurt Borm vom 19.6.1962, HHStA, Abt. 631a, Bd. 512, Bl. 15 f. Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 73. Auch einzelne Pfleger konnten den Vergasungsvorgang beobachten. Aussage Heinrich Gley vom 21.5.1962, ZStL, „Sammlung" Euthanasie, Ordner Ga-Go, S. 4. Aussage Emil Hackel vom 3.3.1966, ZStL, Sammlung Euthanasie, Ordner Haa-Hd, S. 3-6. Aussage des Pflegers Erhard Gabler vom 8.8.1946, SHStA, MdJ, 2528, Bl. 414. Vgl. weiter Schmuhl, Hans-Walter, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 19371945, Berlin 2000.

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vier Leichen in den beiden Krematoriumsöfen, welche sich im angrenzenden Raum befanden. Wie der ehemalige „Brenner" Emil Hackel (1910—?) berichtete, wurde die Asche „nicht getrennt aufbewahrt sondern gesammelt. Hinter der Verbrennungsanlage befand sich eine Knochenmühle, dort wurden die Knochen, die beim Verbrennungsprozess nicht zerfallen waren, bis auf die Grösse von Haferflocken zerkleinert. (...) Wenn eine Urne angefordert wurde, gab dieser Mann [ein Brenner, d. Verf] eine Aschemenge hinein die ungefähr dem Gewicht der getöteten Person entsprach (. . .)."95 Allein anhand der technisierten Sprache der Vernichtung, wird die Entpersonalisierung der Opfer deutlich, die in der wahllosen Ablagerung der verbliebenen Asche auf dem nahe gelegenen Elbhang und der statistischen Erfassung ihren Abschluss fand. In dem eigens fiir die bürokratische Abwicklung der Morde eingerichteten Sonderstandesamt wurden unter der Leitung von Friedrich Tauscher (1903-1965) und zeitweilig von Gottlieb Hering (1887-1945) Sterbeurkunden ausgestellt und immer mit dem Decknamen Greif unterzeichnet sowie so genannte Trostbriefe verfasst. Diese folgten einem einheitlichen Schema und erreichten die Angehörigen erst circa zwei Wochen nach der Ermordung des Patienten. Die Hinterbliebenen erführen auf diese Weise von dem angeblich plötzlichen Tod des Familienmitgliedes sowie der sofortigen Einäscherung. Es folgte der Hinweis, dass der Nachlass, soweit nicht von den Verwandten angefordert, der NSV übergeben werde.96 Einer der anwesenden Arzte unterschrieb die Mitteilungen. Im Schriftverkehr mit den Familien der Opfer kamen stets Decknamen zur Anwendung: Horst Schumann nannte sich Dr. Klein oder Dr. Blume; Kurt Borm Dr. Storm oder Dr. Engel; Klaus Endruweit Dr. Bader; Curt Schmalenbach Dr. Palm und Ewald Worthmann Dr. Friede. Die Verwendung von Pseudonymen spricht dafür, dass den Tötungsärzten der illegale Charakter ihrer Handlungen durchaus bewusst war, obwohl sie in späteren Aussagen die Führerermächtigung als ausreichende Legitimation darstellten. Außerdem waren der Todestag sowie die Todesursache auf der beigelegten Urkunde fingiert. Zwischen den einzelnen Tötungsanstalten bestand ein Aktenaustausch. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass die Todesnachricht aus einer Anstalt in der unmittelbaren Nähe des Wohnortes der Angehörigen versandt wurde und diese persönlich vorstellig wurden.97 Gleichzeitig vermied eine so genannte Absteckabteilung, dass Todesnachrichten temporär und lokal gehäuft auftraten. Dabei handelte es sich um einen Raum, in dem auf einer Landkarte mit Hilfe von bunten Nadeln die Herkunftsorte der Opfer abgesteckt wurden.98 Die Asche der Opfer erreichte die Familienangehörigen in Urnen, wenn diese sie angefordert hatten. Auf Grund der gefälschten Todesdaten und der wahllosen 95 96 97 98

Aussage Emil Hackel vom 3.3.1966, ZStL, Sammlung Euthanasie, Ordner Haa-Hd, S. 2f Vgl. zum Beispiel Trostbrief adressiert an Otti S., die Schwester eines Opfers der Tötungsanstalt Sonnenstein, vom 7.12.1940, AGPS. Aussage Elisabeth Fischer vom 10.4.1946, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 75b. Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 77.

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Abfüllung erhielten die Hinterbliebenen jedoch nie die Asche ihres Familienmitgliedes. Ein Großteil aber verzichtete, auch aus konfessionellen Gründen, auf die Zusendung. Deshalb wurde ein erheblicher Teil der Asche auf dem ehemaligen Anstaltsgelände abgelagert."

6. Die Opfer der „Aktion T4" in Pirna Bis zum Abbruch der „Aktion T4" am 24. August 1941 waren in den sechs „T4"Tötungsanstalten insgesamt 70.273 Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten sowie Alters- und Pflegeheimen ermordet worden, davon allein in Pirna 13.720 Menschen.100 Die von der „T4" erstellte Bilanz des Mordens, nach ihrem Fundort als Hartheim-Statistik bezeichnet, erfasste für jede Tötungsanstalt die Zahl der Opfer: 101 Tötungsanstalt

Grafeneck

Bezeichnung

A

B

C

Opfer

9.839

9.772

18.269

Branden-

Hartheim

burg

Sonnen-

Bernburg

Hadamar

D

Be

E

13.720

8.601

10.072

stein

Die meisten der heute namentlich bekannten 10.630 Sonnensteiner „T4"-Opfer, wurden über die vier sächsischen Zwischenanstalten nach Pirna verlegt. Von einer größeren Zahl dieser Menschen ist im Bundesarchiv Berlin die Krankenakte, in der die Diagnose und die Krankengeschichte vermerkt sind, erhalten. Ausgehend von den Patientenkarteikarten aus Arnsdorf Großschweidnitz, Hochweitzschen, Waldheim und Zschadraß, konnte für 1.010 in Pirna ermordete Patienten die Diagnose ermittelt werden. In rund 60 Prozent der Fälle lag eine Form der schizophrenen Erkrankung vor, welche auch in den sächsischen Landesanstalten mit Abstand die häufigste Krankheitsform darstellte. Bei 16 Prozent wurden auf der Karteikarte angeborene Schwachsinnszustände vermerkt. Der Anteil dieser Patienten variierte in den Anstalten zwischen zehn und 33 Prozent. Weitere zehn Prozent litten an Epilepsie. Damit waren sie verglichen mit dem Anteil in den Landesanstalten häufiger von der Tötungsaktion betroffen. Im Gegensatz dazu waren nur wenige der Opfer den Diagnosegruppen manisch-depressives Irresein, Alkoholismus, progressive Paralyse und psychische Störungen des höheren Lebensalters zugeordnet. 99 Aussage Emil Hackel vom 3.3.1966, ZStL, Sammlung Euthanasie, Ordner Haa-Hd, S. 3. 100 Hartheim-Statistics, NARA, RG 338, Microfilm Publication T-1021, Rolle 18, Aufnahme 98. 101 Forschungen der Gedenkstätte Grafeneck haben ergeben, dass die Opferzahl fur Grafeneck deutlich nach oben korrigiert werden muss.

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Diese Verteilung entsprach in etwa der Zusammensetzung der Erkrankungen in den sächsischen Psychiatrien.102 Bezogen auf alle bekannten Opfer lassen sich darüber hinaus einige generelle Aussagen treffen. Im Verhältnis zwischen den Geschlechtern sind wesentliche Unterschiede zu verzeichnen. 5.703 Frauen sowie 4.927 Männer befinden sich unter den derzeit namentlich bekannten Opfern.103 Bei der Altersstruktur fällt auf, dass die Opfer in den drei Altersgruppen bis zum 34. Lebensjahr (Kinder, Jugendliche bis 20 Jahre und 21-34jährige) überwiegend männlichen Geschlechts sind (58 Prozent). In den Altersgruppen von 50-64 und ab 65 Jahren kehrt sich dieses Verhältnis um: der Anteil der weiblichen Opfer beträgt rund 63 Prozent. Im mittleren Alter zwischen 35 und 49 Jahren sind beide Geschlechter nahezu gleichermaßen betroffen. Diese Patienten, oftmals ledig, sind mit rund 40 Prozent zugleich die größte Opfergruppe. Auch die 50-64jährigen waren mit etwa 26 Prozent in hohem Maße in die Tötungsaktion einbezogen. 734 Opfer sind zum Zeitpunkt ihrer Ermordung zwischen zwei und 20 Jahren alt gewesen.104 In welchem Umfang die Opfer bereits vor 1940 von der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, zum Beispiel durch eine Zwangssterilisierung, betroffen waren, ist gegenwärtig nur unzureichend bekannt. Auch inwieweit der Selektionsprozess der Gutachter von der Dauer des Anstaltsaufenthaltes und der Arbeitsfähigkeit der Patienten beeinflusst war, ist noch weitgehend unklar.

7. Die Ausweitung der Mordaktion Bei den Opfern der „Aktion T4" handelte es sich um Patienten aus psychiatrischen Anstalten, Alters- und Pflegeheimen sowie Behinderteneinrichtungen. Im Zusammenhang mit drei „Euthanasie"-Anstalten ist aber auch die Ermordung von mehreren tausend KZ-Häftlingen im Zuge der „Sonderbehandlung 14fl3" zu erwähnen, bedeutet sie doch eine Ausweitung der Krankenmorde.105 Ursächlich für diese Aktion war der Wunsch Heinrich Himmlers (1900-1945), arbeitsunfähige Häftlinge der Konzentrationslager „auszumerzen". Dafür wurde die bereits vorhandene Infrastruktur der „T4" zur industriellen Vernichtung von Menschen genutzt. Diese Ausdehnung des Erfassungsradius auf die Konzentrationslager zeigt zugleich eine Verbindungslinie zum Holocaust auf. Selektiert wurden die Häftlinge, welche ab

102 Auswertung der Opferdatenbank AGPS. Zu den Landesanstalten vgl. Jahresberichte der Landesanstalten Arnsdorf Waldheim, Zschadraß für das Jahr 1939, Stadtarchiv Leipzig, BKH Dösen, Nr. 60, Nr. 61, Nr. 62. 103 Die Patienten in den sächsischen Landesanstalten waren etwa zu 55 Prozent Frauen und 45 Prozent Männer, vgl. Aufstellung über Patienten und Personal in sächsischen Anstalten August 1939, SHStA, Mdl, 16800, Bl. 98. 104 Opferdatenbank, AGPS. 105 Diese Verbindung zwischen „Euthanasie" und Holocaust ist eingehend untersucht worden von Friedlander, 1997, wie Anm. 18.

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Juni 1941 nach Pirna-Sonnenstein und später auch nach Hartheim und Bernburg verlegt wurden, mit Hilfe des „T4"-Meldebogens von Ärzten wie Horst Schumann.106 Zumeist vermerkten sie in diesen Meldebögen jedoch nur die Gründe für die Inhaftierung, beispielsweise „Politischer Jude". Die Inszenierung einer ärztlichen Untersuchung wurde auch in diesem Fall beibehalten, nicht selten gingen die selektierten Häftlinge davon aus, sie würden in ein „Sanatorium" verlegt.107 Viele der im Juni und Juli 1941 aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald nach Pirna deportierten Häftlinge waren Juden. So erreichten in zwei Transporten am 14. und 15. Juli 1941 aus Buchenwald 187 Häftlinge den Sonnenstein, von denen 85 Juden waren.108 Bereits am 4., 6. und 7. Juni 1941 waren 269 Häftlinge aus Sachsenhausen nach Pirna gebracht und ermordet worden. Der größte Teil war im Krankenrevier des KZ Sachsenhausen eine Zeit lang behandelt worden. Zu diesem Zeitpunkt scheint die Selektion demzufolge noch hauptsächlich von medizinischen Indikatoren und der Arbeitsfähigkeit bestimmt gewesen zu sein.109 Dies gilt auch für den Transport von 575 kranken und körperlich erschöpften polnischen Häftlingen aus dem KZ Auschwitz in die Tötungsanstalt Sonnenstein am 28.Z29. Juli 1941.110 Die „Aktion 14fl3" wurde über die Einstellung der Morde in Pirna-Sonnenstein hinaus bis 1942 in Bernburg und bis 1944 in Hartheim weitergeführt.111

8. Die Einstellung der Morde in Pirna-Sonnenstein In Folge des von Hitler persönlich angeordneten Abbruchs der „Aktion T4" am 24. August 1941 wurden die Krankenmorde auch in Pirna-Sonnenstein beendet. Was in der Zeit bis zur endgültigen Demontage der Tötungsanstalt 1942 geschah, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Ein Teil der Belegschaft des Sonnensteins diente im Winter 1941/1942 an der Ostfront bei einem Sanitätseinsatz der Organisation Todt. Das verbliebene Personal war vor allem mit der Ordnung der Krankenkartei,

106 Vgl. Stein, Harry, Die Vernichtungstransporte aus Buchenwald in die „T4"-Anstalt Sonnenstein 1941, in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Von den Krankenmorden auf dem Sonnenstein zur „Endlösung der Judenfrage" im Osten, Pirna 2001, S. 29-50, hier S. 39. 107 Vgl. August, Jochen, Das Konzentrationslager Auschwitz und die „Euthanasie"-Anstalt Pirna-Sonnenstein, in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Von den Krankenmorden auf dem Sonnenstein zur „Endlösung der Judenfrage" im Osten, Pirna 2001, S. 51-94, hier S. 73. 108 Transportlisten des KZ Buchenwald vom 14.7.1941 und 15.7.1941, Kopie im AGPS. 109 Vgl. Diezmann, Andreas, Euthanasie im „Dritten Reich" unter besonderer Berücksichtigung der Aktion 14fl3 in den Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen, Staatsexamensarbeit, Berlin 2005, S. 59-67. 110 Vgl. August, 2001, wie Anm. 107, S. 51-94. 111 Vgl. Hoffmann, Ute, Von der „Euthanasie" zum Holocaust. Die „Sonderbehandlung 14fl3" am Beispiel der „Euthanasie"-Anstalt Bernburg, in: Hamm, Margret (Hg.), Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie", Frankfurt am Main 2005, S. 158-167. Vgl. weiter Kepplinger, 2003, wie Anm. 34, S. 79 f

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Korrespondenz mit Angehörigen der Opfer und diversen Aufräumarbeiten betraut.112 Im Sommer 1942 folgten die endgültige Auflösung der Tötungseinrichtung und die systematische Beseitigung der Spuren des Massenmordes. Daran beteiligt war auch der bereits für den Aufbau der Tötungsanlage im Frühjahr 1940 zuständige Erwin Lambert.113 Die Ubergabe an das Sächsische Innenministerium war für den 15. September 1942 vorgesehen. Anschließend wurden die Gebäude dem Reservelazarett Pirna II zur Verfugung gestellt. Die Krematoriumsöfen wurden vermutlich nach Hartheim transportiert.114 Der Konnex zwischen „Euthanasie" und dem Holocaust lässt sich im Fall der Pirnaer Tötungsanstalt insbesondere auf der personellen Ebene nachweisen. Zwischen 30 und 40 auf dem Sonnenstein Angestellte kamen seit dem Frühjahr 1942 in die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt". Die Namen dieser Lager, Treblinka, Belzec und Sobibor, stehen für eine noch größere Dimension des industriellen Massenmordes. Das ehemalige „T4"-Personal bekleidete dort hochrangige Positionen. Der Standesbeamte Gottlieb Hering wurde beispielsweise Kommandant des Vernichtungslagers Belzec, der Leichenverbrenner Kurt Bolender (1912-1966) leitete in Sobibor die Abteilung des Lagers, die der Judenvergasung diente, der Handwerker und Koch Gustav Münzberger beteiligte sich in Treblinka direkt an der Ermordung der Menschen.115 Unmittelbar nach dem Kriegsende begannen die alliierten Besatzungsbehörden mit der Verfolgung der NS-Verbrechen. Auch durch die neu geschaffenen sächsischen Justiz- und Polizeidienststellen erfolgten erste Ermittlungen. Bereits im Sommer 1945 führte das Kreispolizeiamt Pirna eine Ortsbegehung des ehemaligen Tötungskomplexes mit dem Pfleger Erhard Gabler (1888-1948) durch.116 Erste Verhaftungen ehemaliger Mitarbeiter der Sonnensteiner Tötungsanstalt erfolgten im Herbst 1945 durch die sowjetische Geheimpolizei. Am 17. Januar 1947 wurde am Landgericht Dresden Anklage gegen Beteiligte der „Aktion T4" und der „Medikamenteneuthanasie" in Sachsen erhoben. Mit Paul Nitsche befand sich einer der Hauptverantwortlichen der NS-„Euthanasie" unter den Angeklagten. Ein Schwur-

112 113 114 115

Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 168. Aussage Helmut Fischer vom 24.1.1966, ZStL, Sammlung Euthanasie Ordner F, S. 9. Vgl. Schilter, 1999, wie Anm. 3, S. 168. Vgl. Böhm, Boris, „Karrieren" - Von der „Euthanasie"-Anstalt Sonnenstein in die Vernichtungslager im besetzten Polen, in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Von den Krankenmorden auf dem Sonnenstein zur „Endlösung der Judenfrage" im Osten, Pirna 2001, S. 109-144. 116 Schreiben des Kreispolizeiamtes Pirna an den Ermittlungsrichter vom 16.4.1946, SHStA, MdJ, 2526, Bl. 84. Zur Biografie Gäblers vgl. Böhm, Boris/ Fiebrandt, Maria, „...hat die ihm aufgetragenen Arbeiten auf das gewissenhafteste und sorgfaltigste durchgeführt." Zur Biografie eines in der Tötungsanstalt Sonnenstein eingesetzten Krankenpflegers, in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, S. 105— 123.

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gericht sprach nach einem dreiwöchigen Prozess in Dresden in seinem Urteil vom 7. Juli 1947 vier Todesstrafen und acht Zuchthausstrafen aus, drei Angeklagte erhielten einen Freispruch. Bei den zum Tode Verurteilten handelte es sich ausschließlich um Tatbeteiligte der „Aktion T4": Paul Nitsche, Ernst Leonhardt und zwei Pfleger der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein.117 Eine zunehmende Urteilsmilde kennzeichnete die späteren „Euthanasie"-Prozesse gegen Pirnaer Tötungsärzte. Sowohl Kurt Borm als auch Klaus Endruweit wurden von bundesrepublikanischen Gerichten freigesprochen, obwohl ihnen eine Beteiligung an den Tötungen in Pirna nachgewiesen werden konnte.118 Das Verfahren gegen Horst Schumann wurde vor der Urteilsverkündung auf Grund seiner Verhandlungsunfahigkeit 1972 eingestellt.119 In der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein kulminierte die rassenhygienische Utopie eines gesunden und überlegenen Volkskörpers in der tausendfachen Vernichtung von Leben, das von den Nationalsozialisten als „unwert" empfunden wurde, und pervertierte damit jene humanistischen Traditionen des Umganges mit kranken und behinderten Menschen die am selben Ort begründet worden waren. Zwischen 1940 und 1941 war sie ein zentraler Teil der „Euthanasie"-Morde, besonders im mitteldeutschen Raum. Zusammen mit den anderen Tötungsanstalten der „T4" legte sie die technischen, personellen und nicht zuletzt psychologischen Grundlagen für das im Verlauf des Krieges immer größere Dimensionen annehmende Mordprogramm des NS-Regimes.

117 Vgl. Böhm, Boris, „Eine Schande für die gesamte medizinische Wissenschaft." Der Dresdner „Euthanasie"-Prozess im Jahre 1947, in: Haase, Norbert/ Sack,Birgit (Hg.), Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001, S. 136-152. 118 Vgl. Dressen, Willi, Die unterschiedliche rechtliche Beurteilung in den NS „Euthanasie"-Prozessen in der Bundesrepublik Deutschland im Wandel der Zeit, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Arbeitspapiere, Schleswig, Hamburg 1996, S. 91100, S. 96 f, 98 £ 119 Vgl. Schilter, 2001, wie Anm. 39, S. 106-108.

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Widerspruch und Widerstand gegen die Krankenmorde

I. Die Krankenmordaktionen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gehören neben dem Massenmord an den europäischen Juden und an anderen ethnischen wie weltanschaulichen Minderheiten zu den schrecklichsten Untaten des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. 1 Sie gingen der Shoah voran und flankierten sie bis Kriegsende trotz des offiziösen Stopps der Tötungen im Rahmen der T4-Aktion im August 1941, die freilich in modifizierter Gestalt (Aktion Brandt, „wilde Euthanasie") hinter Anstaltsmauern weitergingen. Es gibt zahlreiche Verbindungslinien zwischen beiden Formen der physischen Vernichtung bis hin zur Teilidentität der Täter, die zunächst an behinderten Menschen das „erprobten", was sie später an Juden und Anderen exekutieren sollten. Gleichwohl bestehen im Hinblick auf die „Euthanasie" eine Reihe von Unterschieden zum Genozid. Dazu gehört der Vorlauf einer schon Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Debatte über Sterbehilfe für unheilbar kranke Patienten im Kontext einer Tötung auf eigenes Verlangen. An eine Tötung ohne Einwilligung der Betroffenen war dabei zunächst nicht gedacht, zumal der dem Griechischen entlehnte, in sich widersprüchliche Begriff „Euthanasie" als „gutes, gnädiges Sterben" das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen im Hinblick auf den eigenen Tod betonte. Andere, später zentral werdende Aspekte der physischen Liquidation kranker Menschen, wie das vermeintlich übergeordnete, „berechtigte" Interesse an Erhaltung und Steigerung der Volksgesundheit sowie ökonomische Einsparungsmaßnahmen zählten vor dem Ersten Weltkrieg hingegen nicht oder selten zum Argumentationsarsenal der „Euthanasie"-Befurworter. Erst mit der Kriegswende Ende 1916 und den wachsenden Versorgungsproblemen für die Zivilbevölkerung erhielten die wirtschaftlichen Aspekte innerhalb der (geschlossenen) Anstaltsfursorge einen größeren Stellenwert, der in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 auch von der Politik immer stärker akzentuiert wurde. Der Diskurs um „Euthanasie" bzw. die „Tötung auf Verlangen" vermischte sich in der öffentlichen Wahrnehmung seit den 1920er Jahren allmählich mit der parallelen Diskussion über Eugenik bzw. Erbpflege, die im Kontext sozialmedizinischer Vorstellungen als Teil der Gesundheitsvorsorge erbkranken Nachwuchs verhin1

Zum Forschungsstand siehe Süß, Winfried, Krankenmord. Forschungsstand und Forschungsfragen zur nationalsozialistischen „Euthanasie", in: Bauer, Theresia/ ders. (Hg.), NS-Diktatur, DDR, Bundesrepublik. Drei Zeitgeschichten des vereinigten Deutschland, Neuried 2000, S. 47-86.

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dem und so der Volksgesundheit dienen sollte. Aber zwischen Konzepten einer Verhütung erbkranken Nachwuchses und der Tötung dieser Klientel bestand eine logische Differenz, da die negative Eugenik mit der Unterbindung der Fortpflanzungsfahigkeit auf Dauer jeden zwangsweisen Eingriff in das Lebensrecht der Betroffenen erübrigen sollte. Auf der anderen Seite wird man an diesem Punkt die wichtige Einschränkung zwischen eher intern bleibenden, differenzierten Fachdiskussionen in Medizin und „Humangenetik" und ihrer populärwissenschaftlichen Rezeption in der Öffentlichkeit machen müssen: Bestand unter den Experten auch keine allgemein akzeptierte Verbindung zwischen Sterilisation und „Euthanasie", so verhielt es sich mit dem öffentlichen Bewusstsein hinsichtlich eines solchen Zusammenhangs anders. Die Aufhebung des Schutzes der individuell-körperlichen Integrität und in der Folge der auch unter Anwendung von polizeilichem Zwang und Gewalt mögliche Eingriff in vitalste Interessen des Einzelnen durch das „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses" vom Frühsommer 1933 und seine sich ständig verschärfenden Novellierungen bzw. Ausfuhrungsbestimmungen in den folgenden Jahren riefen nicht nur unmittelbare Ängste bei den Betroffenen selbst hervor, sondern schürten auch Befürchtungen, dies sei am Ende nur ein erster Schritt auf dem Weg zur physischen Tötung der als erbbiologisch und sozial „minderwertig" geltenden Gruppen der Gesellschaft. Die Einbeziehung der eugenischen Indikation beim § 218, die ab 1935 bei Vorliegen einer Erbkrankheit eine Tötung der Leibesfrucht bis zum sechsten Monat vorsah, wurde vielfach als Abgleiten auf einer rechtspolitischen und ethischen Ebene verstanden, die in der staatlich sanktionierten Tötung chronisch geistig kranker Patienten enden könnte. Diese Sorge erfasste nicht nur diejenigen, die unter das Erbgesundheitsgesetz fielen, sondern gleichermaßen auch die Gesunden, die das Schicksal angeblich erbkranker Minderheiten als ständige Bedrohung ihrer eigenen Existenz empfinden mussten, sollten sie den rassehygienischen Anforderungen des NS-Systems eines Tages nicht mehr genügen. Insofern wirkte die Erbgesundheitspolitik auf die gesamte Bevölkerung ein. Ahnlich der terroristischen Ausgrenzung der „Gemeinschaftsfremden", die den rassistischen Standards des Dritten Reiches nicht standhielten, besaß auch das Erbgesundheitsgesetz eine Disziplinierungsfunktion für die Mehrheit der Anderen.

n. Vergleichbar mit der negativen Eugenik einschließlich der Zwangssterilisation konnte der „Euthanasie"~Gedanke in jenem herkömmlichen Sinne der Tötung auf Verlangen „geschäftsfähiger" schwerstkranker Patienten auf eine gewisse Tradition seit Aufkommen des Sozialdarwinismus zurückblicken. Der sich seit dem Weltkrieg allmählich erweiternde Kreis von Anstaltsmedizinern aber auch Publizisten, der solche Überlegungen ventilierte, war mit dieser „Lösung" also vertraut und musste, wenn er ihr öffentlich zustimmte, auch keine strafrechtlichen Konsequenzen oder

Widerspruch und Widerstand gegen die Krankenmorde

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gesellschaftliche Ächtung furchten. Das zeigt das Beispiel der den Rahmen der „alten Euthanasie" sprengenden Schrift von Binding/Hoche von 1920, die neben den unheilbar Kranken bei vollem Bewusstsein auch jene „geistig Toten" und „Ballastexistenzen" einbezog, deren „Beseitigung (...) kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt (darstelle)".2 In diesem Sinne ist zu Recht gefragt worden, ob sich die Verantwortlichen für die Durchfuhrung der „Euthanasie"-Aktion nicht auf eine verbreitete latente Zustimmung mindestens zur „Tötung auf Verlangen" berufen konnten, als die Aktion bei Kriegsbeginn anlief So habe Hitler mit seiner Ermächtigung, jetzt den Krankenmord in Angriff zu nehmen, vielleicht „lediglich eine Sperre gelöst (...), die bis dahin noch zwischen theoretisch vorgedachten Konzepten und ihrer praktischen Umsetzung gelegen hatte"3 - Das könnte man annehmen, andererseits hat es gegen kaum einen anderen humanitären Tabubruch des Dritten Reiches so viel unzweideutig artikulierten Widerspruch und „Widerstand" gegeben, wie gegen die „Euthanasie". Abgesehen von definitorischen Problemen der Begriffe „Widerstand", „Resistenz" oder „Dissens" im Nationalsozialismus4 gab es Einzel- und Gruppenproteste gegen die Aktion bis in den Staatsapparat und Kreise der Partei hinein. Sie richteten sich allerdings kaum in fundamentaler Weise gegen das Regime selbst, sondern zielten als gleichsam isoliertes Widerspruchssegment allein auf die Krankenmorde, denen gegenüber juristische, moralische oder Bedenken aus religiöser Motivation heraus geltend gemacht wurden. Bevor diese Protestformen im Folgenden konkretisiert werden, sind einige der Bedingungsfaktoren zu nennen, unter denen sich dieser Widerspruch äußern konnte. Zunächst gilt es daraufhinzuweisen, dass vielfältige Formen der Krankenmorde kaum in das Bewusstsein weiterer Bevölkerungskreise, der Kirchen als wohl wichtigsten Trägern der „Euthanasie"Kritik, aber auch mancher Verwaltungs- oder untergeordneter Parteidienststellen gelangten. Dazu gehörten mindestens fünf Varianten der Krankenmorde, die sich bis Kriegsende weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielten und deshalb nur in seltenen Fällen wahrgenommen wurden:5 Die erste betrifft den Beginn der Tötungsaktionen in den sog. Kinderfachabteilungen allgemeiner bzw. psychiatrischer Krankenhäuser. Sie fanden gleichsam in 2

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Binding, Karl/ Hoche, Alfred E., Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920, 2 1922. Auszüge bei Kaiser, Jochen-Christoph/ Nowak, Kurt/ Schwanz, Michael, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1895-1945, Berlin 1992, Dok. 69, S. 79-81. Nowak, Kurt, Widerstand, Zustimmung, Hinnahme. Das Verhältnis der Bevölkerung zur „Euthanasie", in: ders., Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984-2001, Stuttgart 2002, S. 260-276, hier S. 261. Vgl. Kershaw, Ian, „Widerstand ohne Volk?" Dissens und Widerstand im Dritten Reich, in: Schmädeke, Jürgen/ Steinbach, Peter (Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München, Zürich 1985, S. 779-798. Folgende Reihung nach Nowak, 2002, wie Anm. 3, S. 263 E

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klinischem Umfeld statt und konnten noch einigermaßen den Eindruck erwecken, hier werde das medizinisch Notwendige von Fachleuten getan, die freilich immer wieder an ihre ärztlichen Grenzen stießen. Davon unabhängig war das Lebensrecht missgebildeter oder „idiotischer" Kinder, erst recht jenes sogenannter Monstren, seit jeher umstritten, so dass sich hier häufende Todesfalle hingenommen wurden. Zum Zweiten drangen Informationen über die Ermordung von Psychiatriepatienten durch Sonderkommandos in den Ostprovinzen und dann im Wartheland bzw. im Generalgouvernement zu Kriegsbeginn höchstens als Gerüchte ins Altreich.6 Die Untaten der Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst wurden zwar der Wehrmacht bekannt, die reichsdeutsche Bevölkerung erfuhr davon aber höchstens durch Fronturlauber. Da diese Exekutionen zudem im Zusammenhang mit jenen an Juden, Roma und Sinti, Partisanen und Anderen standen und nicht exklusiv auf behinderte Menschen zielten, blieb die Wahrnehmung ebenfalls begrenzt, was überhaupt für jene Aktionen insgesamt zutrifft, die sich außerhalb des Zivillebens abspielten und deshalb im Bewusstsein der Bevölkerung kaum nachzuweisen sind. Das gilt etwa viertens für die „Aktion 14 f 13" - in der kranke und arbeitsunfähige Häftlinge der Konzentrationslager - meistens jüdischen Menschen - in den „Euthanasie"-Anstalten vergast wurden, oder für „Euthanasie" an zwangsverpflichteten ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Schließlich und fünftens waren es die Tötungen der „wilden Euthanasie" nach dem Stopp der offiziellen Aktion, die sich nun hinter Anstaltsmauern abspielten und von der Bevölkerung nur peripher wahrgenommen wurden. - Was sich, bedingt durch gravierende Fehler und den Dilettantismus der Organisatoren, von denen die Geheimhaltungspflicht häufig mehr unfreiwillig als bewusst verletzt wurde, als Krankenmordgeschehen semi-öffentlich darstellte und was die Bevölkerung damit auch kritisch rezipierte, waren die Tötungen der „Aktion T4", benannt nach der Tiergartenstraße in Berlin, wo der Planungsstab saß, unter dessen Federführung der Krankenmord im Reichsgebiet vorbereitet und praktisch durchgeführt wurde.

III. Mit dem von Hitler Ende Oktober 1939 auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns rückdatierten Ermächtigungsschreiben an seinen Leibarzt Karl Brandt und den Chef der Führerkanzlei, Philipp Bouhler, konnte die T4-Aktion ihren maßnahmestaatlichen, nicht legislativ abgesicherten Anfang nehmen.7 Trotz der wiederholten Hinweise der Initiatoren in der Führerkanzlei, dass die nun anlaufenden Tötungen den Charakter einer Geheimen Reichssache trügen mit den erheblichen strafrechtlichen Konsequenzen für den Fall eines Bruchs der angeordneten höchs6 7

Paul-Gerhard Braune hat als Erster darüber in seiner „Denkschrift" berichtet; dazu s.w.u. und Anm. 37. Text bei Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2 , Dok. 209, S. 253.

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ten Geheimhaltungsstufe, sprach sich in der Bevölkerung rasch herum, was in Tötungsanstalten wie Hadamar, Grafeneck oder Bernburg vor sich ging.8 Die grauen Busse, mit denen die Patienten aus ihren Heimateinrichtungen fortgebracht wurden, erregten Aufsehen; immer wieder kam es dabei zu Zwischenfällen, etwa wenn sich eine Menschenmenge vor der betreffenden Einrichtung versammelte und mit einer Mischung aus Wut, Angst und Sorge um das Schicksal der abtransportierten Menschen die Geschehnisse verfolgte.9 Die erhaltenen Berichte örtlicher Parteidienststellen, Verwaltungschefs und der Sicherheitspolizei zeichnen ein plastisches Bild der negativen Volksstimmung, die durch grassierende Gerüchte über weitere schlimme Maßnahmen, etwa die Einbeziehung hirnverletzter Soldaten und Frontkämpfer, noch verschärft wurde. Häufig stellte sich dann heraus, dass es sich keineswegs um Übertreibungen, sondern um Fakten handelte. Hinzu kamen die sich häufenden plötzlichen Todesnachrichten an die bis dahin völlig ahnungslosen Angehörigen mit gefälschten Diagnosen und dem Angebot, die Asche der Verstorbenen den Familien zur Beerdigung zur Verfugung zu stellen. - Die Mischung aus Tatsachen, Gerüchten und Erzählungen aus zweiter und dritter Hand führte umgekehrt dazu, auch normale Todesfälle in psychiatrischen Einrichtungen unter „Euthanasie"-Verdacht zu stellen, wie ein Vorgang aus einer Einrichtung der v. Bodelschwinghschen Anstalten außerhalb Bethels zeigt: Dort war im Januar 1941 ein eingelieferter Soldat gestorben, der an Schizophrenie litt. Als die Angehörigen, die den Leichnam vor der Beerdigung noch einmal hatten sehen können - ein Hinweis auf einen natürlichen Tod - zur Beerdigung kamen, teilten sie dem Leiter des Heims mit, sie seien davon überzeugt, dass der Tote eine Giftspritze erhalten habe. Ob man in Bethel inzwischen schon so weit gehe wie in anderen Einrichtungen?10 - Ein anonym bleiben wollender angeblicher Oberregierungsrat mit einem geistig behinderten Sohn in einer württembergischen Einrichtung schrieb Anfang juli 1940 an den Reichsjustizminister, dass er von der „Euthanasie" Kenntnis habe und drohte für den Fall der Ermordung seines Sohnes an, dass er dafür sorgen werde, dass das gesamte Ausland von diesen Verbrechen erfahre.11 - Natürlich sind derartige Anfragen, Eingaben und Proteste nur bruchstückhaft überliefert. Es lässt sich denken, dass auch jene Familien, die sich nicht brieflich artikulierten, Verwandten und Freunden, Pfarrern, Lehrern und Vorgesetzten vom Schicksal ihrer behinderten und nun getöteten Angehörigen berichteten. Damit war die angestrebte Vertraulichkeit der Tötungsmaßnahmen durchbrochen; angesichts der bis in die Hunderttausende gehende Zahl der Opfer ist nachvollziehbar, dass sich die Nachricht von diesen Mordaktionen im Altreich wie ein Lauffeuer verbreitete und damit politischen Druck bewirkte, der schließlich zu Einstellung der Aktion T4 fuhren sollte.

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Vgl. die Dokumente S. 282 ff 9 Vgl. Kaiser/ Nowak/ 10 Vgl. Kaiser/ Nowak/ 11 Vgl. Kaiser/ Nowak/

zum „Bevölkerungsverhalten" in Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 266, S. 282 £ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 267, S. 283. Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 265, S. 282.

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Die Reaktionen der Bevölkerung lassen sich nach dem jeweiligen Einstellungsverhalten differenzieren: Einmal entstand allgemeiner Unmut über diese Vorgänge, die ja im Kontext der T4-Aktion primär „die eigenen Leute" betrafen. Diese waren zwar chronisch krank bzw. geistig behindert, blieben aber dennoch „deutsche Volksgenossen" und zählten damit nicht zu denen, die nach dem In- und Exklusionsprinzip in der NS-Terminologie als „Gemeinschaftsfremde" galten, also Juden, Farbige, Zigeuner, Asoziale („Wanderer") oder diskreditierte Sondergruppen von ihrer Weltanschauung oder sexuellen Orientierung her (Zeugen Jehovas, Homosexuelle). Ferner gab es berechtigte Unruhe in den betroffenen Familien, die nach Eintreffen der überraschenden Todesnachrichten häufig an Deutlichkeit nichts zu wünschende Rückfragen an die Anstalten stellten, in denen ihre getöteten Angehörigen zuletzt gemeldet waren. Daneben kursierten anonyme Flugblätter mit teils heftiger Kritik an den Krankenmorden, die mit den Untaten der russischen Geheimpolizei GPU in der Sowjetunion verglichen wurden.12 Schließlich gab es Proteste aus staatlichen und kommunalen Verwaltungen, die meist die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Durchfuhrung der „Euthanasie" anmahnten, sich aber auch aus ihrem Rechtsempfinden heraus strikt gegen die inzwischen auf Hochtouren laufende Mordkampagne aussprachen. Vereinzelt machte sich die Unruhe auch in höheren Führungskreisen der Partei bemerkbar, so als die württembergische NS-Frauenschaftsführerin Else von Löwis gegenüber der Frau des obersten Parteirichters Major Buch im November 1940 ihr Entsetzen über die Tötungen ausdrückte und beklagte, auch überzeugten Nationalsozialisten werde durch diese Taten „der Boden unter den Füßen weggezogen".13 - Der heftigste Widerspruch gegen die Tötungen kam jedoch aus kirchlichen Kreisen beider Konfessionen: Hier ging es nicht allein um Rechtsbedenken, sondern mehr noch um die Wahrung des christlichen Menschenbildes, das angesichts dieser Frontalattacke gegen das Schutz-, Bewahrungs- und Fürsorgebedürfnis gerade behinderter, hilfloser Personen nun von führenden Repräsentanten des Staates zur Disposition gestellt wurde. Dieser Bereich ist auch von der Uberlieferung wesentlich besser zu fassen, da die Quellenlage zu Reaktionen und Protest gegenüber den Krankentötungen in der staatlichen Überlieferung große Lücken aufweist und wesentlich mit Hilfe der Akten aus den großen „Euthanasie'-Prozessen in den 1960er Jahren rekonstruiert werden musste.14 Im Folgenden soll daher auf das Einstellungsverhalten und den Protest beider Konfessionen gegen den Krankenmord näher eingegangen werden. a) Die katholische Kirche und die „Euthanasie" In der Weimarer Republik standen manche Kreise der katholischen Kirche einer staatlichen Sterilisationsgesetzgebung noch aufgeschlossen gegenüber - zu denken

12 Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 271, S. 285 f. 13 Zit. n. Nowak, 2002, wie Anm. 3, S. 262. 14 Vgl. Süß, 2000, wie Anm. 1, S. 51 £

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ist an die Dissertation des späteren Paderborner Moraltheologen Joseph Mayer von 192715 und die Aktivitäten des Jesuitenpaters und Biologen Hermann Muckermann, von 1927 bis 1933 Abteilungsleiter am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik.16 Hatten sich diese noch Mitte und Ende der zwanziger Jahre flir eine gesetzlich geregelte Unfruchtbarmachung sog. Erbkranker eingesetzt,17 so wurde die eugenische Debatte flir Katholiken durch ein „Machtwort" von Pius XI. in Form der Eheenzyklika „Casti connubii" vom 31. Dezember 1930 faktisch beendet.18 Darin verwarf der Vatikan alle Bestrebungen, von Seiten des Staates jene von der Fortpflanzung auszuschließen, von denen vermeintlich eine „minderwertige Nachkommenschaft" zu erwarten sei. Dabei vergäßen die Befürworter eines solchen Eingriffes in die personale Integrität von Menschen, dass keine Obrigkeit das Recht habe, die körperliche Unverletzlichkeit ihrer Bürger zu tangieren, sofern nicht strafrechtliche Gründe gegen diese vorlägen. Allerdings gestand der Papst später zu, es seien nicht in erster Linie genuin theologische Motive gewesen, die ihn zu dieser Enzyklika veranlasst hätten, sondern vor allem „praktisch-humanitäre Erwägungen", als er 1935 erklärte, das Sterilisationsverbot sei „mehr im Namen der Menschlichkeit als dem der Religion erfolgt".19 Tatsächlich enthielten sich seitdem ihrer Kirche verbundene katholische Biologen und Ärzte, vor allem aber Theologen öffentlicher Stellungnahmen zugunsten der NS-Sterilisationsgesetzgebung. Das galt auch und erst recht für jede Form der „Euthanasie". Aufgrund der zweifelhaften Aussagen des ehemaligen Priesters, späteren Sicherheitsdienst-Angehörigen und Leiters der Kirchenabteilung des SD, Albert Härtel, glaubte die Forschung zeitweise, der einstige theologische Eugenikexperte Joseph Mayer, inzwischen Professor für Moraltheologie in Paderborn, habe im Auftrag der SD-Kirchenabteilung kurz vor Kriegsbeginn ein Gutachten zur „Euthanasie" verfasst, in dem er sich positiv dazu geäußert und außerdem prognostiziert habe, die katholischen Bischöfe und das Kirchenvolk würden der Durchführung keinen Widerstand entgegensetzen.20 Das angebliche Gutachten Mayers konnte indes nie aufgefunden werden; sein „Vorhandensein" beruht allein auf der Zeugenaussage Hartls in einem „Euthanasie"-Prozess Mitte der sechziger Jahre.21 Auch wird der Sachverhalt selbst durch einen kritisch-abweisenden Artikel Mayers

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Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker, Freiburg/Br. 1927. Siehe auch Richter, Ingrid, Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn 2001. 16 Zu Muckermann: Schmuhl, Hans-Walter, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945, Göttingen 2005. 17 Vgl. die Dok. 95-97 in Kaiser/ Nowak/ Schwanz, 1992, wie Anm. 2, S. 115 f 18 Auszug in Dok. 98, Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, S. 117. 19 Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, S. XXIII. 20 So bei Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhgyiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens", 1890-1945, Göttingen 1987, S. 311. 21 Hinweise bei Dierker, Wolfgang, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933-1941, Paderborn 2002, S. 114 ff

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aus dem Jahre 1938 konterkariert, in dem er sich gegen jede Form der „Euthanasie" aussprach.22 - Tatsächlich war das auch die Haltung des gesamten Episkopats seit Beginn der praktischen Umsetzung der Sterilisationsgesetzgebung; denn frühzeitig sahen einzelne Bischöfe hier eine „schiefe Ebene", die vom Zwang zur Unfruchtbarmachung sog. Erbkranker in der rassenhygienischen Praxis schließlich auch zur zwangsweisen Tötung der Betroffenen fuhren könne. In diesem Sinne schrieb der Münchener Kardinal Faulhaber in seinem Fastenhirtenbrief vom Februar 1934 in Anknüpfung an das Motto des Nationalsozialismus „Gut ist, was dem deutschen Volke dient": „Könnte nicht ein Fanatiker auf den Wahn kommen, Mord und Meineid dienten dem Wohl des Volkes und seien daher ,gut'? Könnte nicht ein Arzt auf den Gedanken kommen, die Tötung von Geisteskranken, die sogenannte Euthanasie erspare dem Staat große Fürsorgelasten, sie diene dem ,Wohl des Volkes' und sei daher ,gut'?"23 Als die ersten internen kirchlichen Berichte über die Durchfuhrung der Krankentötungen die Episkopate erreichten, intervenierten die Bischöfe, darunter vor allem Conrad Gröber, Erzbischof von Freiburg und Protektor des Deutschen Caritasverbandes, bei den zuständigen Landesbehörden. Als das erfolglos blieb, wandte sich Gröber auch an den Chef der Reichskanzlei, Minister Lammers, und drang darauf die gegen Naturrecht und christliches Sittengesetz verstoßende Aktion einzustellen.24 Er erklärte sich namens der katholischen Kirche bereit, für die weiteren Pflegekosten für die von der Regierung zur Tötung bestimmten Patienten aufzukommen, worauf das Regime freilich nicht einging, einmal, weil dies den strategischen Zielsetzungen der NS-Rassenhygiene zuwidergelaufen wäre und dann, weil man eine Solidarisierungswelle zugunsten der Betroffenen fürchtete, wenn die Kirche zu Spendenaktionen für diesen Zweck aufrufen sollte. Nach einigem Zögern reagierte auch der bereits hochbetagte Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram aus Breslau, und schrieb im August 1940 ebenfalls an Lammers, sprach allerdings in für ihn typischen vorsichtigen Wendungen von „Gerüchten" die über die angelaufene „Euthanasie" in der Bevölkerung im Umlauf seien, wenngleich ihm die Fakten schon bekannt sein mussten.25 Erst die Plenarkonferenz des deutschen Episkopats fand am 22. August des Jahres deutliche Worte, verurteilte die Krankenmorde und verbot katholischen Einrichtungen, bei dem Abtransport ihrer Pfleglinge mitzuwirken.26 Seit Anfang November hatte es überdies geheime Verhandlungen zwischen dem Leiter des Bischöflichen Kommissariates der Fuldaer Bischofskonferenz in Berlin, Bischof Heinrich Wienken, und Beauftragten des „Euthanasie"-Planungsstabes über die Ermöglichung seelsorgerlichen Beistands für die Todeskandidaten auf dem Weg in die Gaskammern gegeben, - eine problema22 23 24 25 26

Textauszug bei Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 175, S. 225. Zit. n. Schmuhl, 1987, wie Anm. 20, S. 311. Auszug bei Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 297, S. 316. Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 298, S. 316 f. Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 299, S. 317.

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tische Initiative, die auf Intervention des Münchener Kardinals Faulhaber aber ebenso abgebrochen wurde, wie Gespräche zwischen katholischer Kirche und der „Euthanasie'-Zentrale über ein entsprechendes Gesetz und Ausnahmeregeln fiir von den Tötungen betroffene kranke katholische Priester. Die Mordexperten aus der Tiergartenstraße hofften anscheinend auf ein Entgegenkommen der katholischen Kirche, was zur Beruhigung der katholischen Bevölkerung hätte dienen können. Kontakte dieser Art wurden vollends hinfallig, als das Heilige Offizium am 1. Dezember 1940 in einer Verlautbarung im Namen des Papstes Pius XII. die Vernichtung lebensunwerten Lebens noch einmal strikt untersagte.27 Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass alle Eingaben, Gespräche und diplomatisch gehaltene Proteste an die zuständigen Reichsstellen wenig ausrichteten. Dieses Schicksal teilten auch die weiteren Denkschriften der Bischofskonferenz sowie eine Denkschrift an Reichskirchenminister Kerrl vom 24. Juni 1941. In dieser Situation entschloss sich der Bischof von Münster, Graf von Galen, der schon lange mit dem vorsichtigen Taktieren seiner Amtsbrüder und vor allem des Vorsitzenden der Bischofskonferenz Bertram nicht mehr einverstanden war, zu einem Aufsehen erregenden Schritt. Nachdem er schon Ende Juni Anzeige wegen Mordes bei der Staatsanwaltschaft der Stadt Münster erstattet und Anfang Juli 1941 in einem von der politischen Polizei kaum beachteten Hirtenbrief erklärt hatte, im Reich werde eine „Euthanasie'-Aktion durchgeführt, ging er am 3. August 1941 in einer „Brandpredigt" in der Münsterschen Stadtkirche St. Lamberti mit drastischen Worten auf die Geschehnisse ein:28 Er geißelte die Aktion und sprach davon, dass jene kranken Menschen, die im Sinne des Regimes zu nichts mehr nützlich seien, „wie eine alte Maschine" behandelt würden: „Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet." Ahnlich wie alt gewordene Pferde und Kühe, die nicht mehr arbeiten und Milch geben könnten, verfahre man mit den Kranken. Das aber seien Menschen, Mitmenschen, die man doch nicht einfach töten dürfe. Das sei eindeutig Mord und werde eines Tages gesühnt werden. - Besonders erregte es die Gemeinde wie die politische Polizei, dass der Bischof auch die kriegsversehrten Soldaten erwähnte, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat ebenso zu den „Unproduktiven" zählten und damit unverblümt andeutete, selbst sie könnten eines Tages Opfer der „Euthanasie" werden. - Galens mutige Predigt zeigte bald weit über das katholische Milieu hinaus Wirkung.29 Obwohl seitens der NS-Führung heftig darüber gestritten wurde, ob der Bischof nicht verhaftet und ihm der Prozess gemacht werden solle, verzichtete man schließlich darauf, um in Anbetracht der Kriegslage und des kurz zuvor begonnenen Kriegs gegen die Sowjetunion die Bevölkerung an der „Heimatfront" nicht zusätzlich zu beunruhigen, indem man Galen zum „Märtyrer" machte. Wohl auf Geheiß Hitlers selbst wurde kurz nach diesem Vorfall die Aktion

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Vorstehendes nach Schmuhl, 1987, wie Anm. 20, S. 348 f. Auszug in Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 302, S. 320. Belege in Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 270, 272, 274 f., S. 284 ff.

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T4 offiziell gestoppt,30 - die Krankenmorde gingen jedoch im Schutz der Anstaltsmauern bis Kriegsende weiter. b) Die Haltung der evangelischen Kirche(n) und ihrer Inneren Mission Anders als bei den Katholiken kann man von einer einheitlichen Haltung der 27 protestantischen Landeskirchen zu den Komplexen Eugenik und „Euthanasie" nicht sprechen. Stellungnahmen vor und nach 1933 dazu wurden in erster Linie durch wenige Einzelpersonen, meist Theologen im akademischen Lehramt, und vor allem von den unter dem Dachverband „Innere Mission" zusammengeschlossenen Einrichtungen verbreitet, in denen behinderte Menschen lebten, die nach den NS-Kriterien als erbkrank galten und später zu dem Kreis jener zählten, die durch die Krankenmordaktionen erfasst werden sollten. Dazu richtete die Innere Mission Anfang 1931 einen „Ausschuss für eugenetische Fragen" ein, später in „Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege" umbenannt, der von 1931 bis 1938 bestand.31 Generell lässt sich sagen, dass die Probleme der freiwilligen oder zwangsweisen Sterilisation von geistlichen Anstaltsleitern, Medizinern und Verwaltungsmitarbeitern hier weitgehend aufgeschlossen bis zustimmend diskutiert wurden, während man alle Formen der „Euthanasie", sei es jene auf Verlagen oder gar die aktive Tötung grundsätzlich verwarf. So erklärte das oberste Gremium der Diakonie, der Central-Ausschuss für Innere Mission, am 20. Mai 1931 in einer Resolution, es sei „ein deutlicher Unterschied zwischen der Verhütung der Entstehung erbkranken Lebens und der Vernichtung entstandenen Lebens", - letztere verstoße gegen das fünfte Gebot und sei „sowohl vom religiösen wie vom volkserzieherischen Standpunkt" grundsätzlich abzulehnen, fügte allerdings hinzu, auch „die künstliche Fortschleppung erlöschenden Lebens" könne „ebenso ein Eingriff in den göttlichen Schöpferwillen sein wie die Euthanasie".32 In einer Erklärung zur eugenischen Indikation beim § 218 vom 18. Dezember 1934 erneuerte der Central-Ausschuss diese Auffassung und verwarf auch noch einmal den Schwangerschaftsabbruch bei sog. Erbkranken. Sollte dieser künftig geltendes Recht werden, sei es nur ein kleiner Schritt bis zur Rechtfertigung auch der „Tötung des bereits geborenen, ja auch des erwachsenen (...) Erbkranken".33

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So 1961 die Zeugenaussage von Lammers in einem „Euthanasie'-Prozess; vgl. Süß, Wilfried, Kein guter Hirte? Probleme einer Galen-Biographie, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 123 (2003), S. 511-526, hier S. 525, Anm. 57. Zum Gesamtkomplex siehe auch ders., „Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher." Bischof von Galen, der katholische Protest gegen die „Euthanasie" und der Stopp der „Aktion T4", in: Sabrow, Martin (Hg.), Skandal und Öffentlichkeit in der Diktatur, Göttingen 2004, S. 102-129. Eine Edition der erhaltenen Wortprotokolle wird von Uwe Kaminsky und dem V£ vorbereitet und soll 2007/08 erscheinen. Zum Verlauf der in der Anstalt Hephata im nordhessischen Treysa stattfindenden Tagung, auf der die Resolution verabschiedet wurde, siehe Kaiser, Jochen-Christoph, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission, München 1989, S. 324 ff. - Text der Resolution bei Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 91, S. 106-110. Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 131, S. 175-177.

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Diese grundsätzliche Ablehnung der „Euthanasie" hielt sich bei den Protestanten bis Kriegsende durch,34 was die Einbeziehung ihrer Einrichtungen in die Krankenmord-Aktion aber nicht verhinderte, in einigen Fällen (Bethel) lediglich zahlenmäßig begrenzte. Wenige Monate nach Anlaufen der systematischen Tötungen kam es zu Eingaben seitens einzelner protestantischer Persönlichkeiten wie des Brandenburgischen Amts- bzw. Vormundschaftsrichters Lothar Kreyssig, einem engagierten Mitglied der Bekennenden Kirche, der sich gegenüber Reichsjustizminister Gürtner aus religiös-moralischen, vor allem jedoch rechtlichen Gründen - freilich erfolglos - für einen sofortigen Stopp der Aktion verwandte.35 Inzwischen hatten die Gutachterkommissionen auch die Anstalten der Inneren Mission erreicht. Es war Paul-Gerhard Braune, Leiter der Betheler Zweiganstalt Lobetal bei Bernau und Vizepräsident des Centrai-Ausschusses für Innere Mission, der frühzeitig unter Kontaktaufnahme mit militärischen Dienststellen wie mit der Aktion skeptisch bis ablehnend gegenüberstehenden Medizinern36 Material über die Krankenmorde nicht allein der Aktion T4 sammelte, sondern auch über die Tötungen im Schatten des Krieges in Polen. In enger Absprache mit Fritz von Bodelschwingh, dem Leiter der gleichnamigen Anstalten in Bethel, erarbeitete Braune eine Denkschrift mit ausfuhrlichen Statistiken und Einzelbelegen über die staatlichen Gewaltmaßnahmen gegenüber behinderten Anstaltspatienten und legte sie im Juni 1940 Minister Lammers von der Reichskanzlei vor. In seinem Resümee konstatierte er „ein bewusstes planmäßiges Vorgehen zur Ausmerzung aller derer, die geisteskrank oder sonst gemeinschaftsunfähig sind". Sein diplomatisch gehaltener Protest richtete sich in erster Linie gegen das Procedere der Tötungen im rechtsfreien Raum und gegen die wahrscheinliche Ausweitung des „Programms" auf immer neue Patientengruppen, die darin einbezogen würden. Bewusst verzichtete Braune auf einen Fundamentalwiderspruch aus christlicher Gesinnung, um jeden Verdacht einer politisch-oppositionellen Haltung zum Regime abzuwehren, und versuchte, den Krankenmorden mit Argumenten zu begegnen, denen sich seine Ansprech-„Partner" aus seiner Sicht nicht entziehen konnten.37 - Braune war bereits 1938 nach der „Reichskristallnacht" gegenüber der Reichskanzlei mit einer Ausarbeitung zur Behandlung evan-

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Die einzige Ausnahme einer befürwortenden positiven Stellungnahme zur „Euthanasie", eingegrenzt auf Kinder, sowie zum Schwangerschaftsabbruch aus eugenischer Indikation findet sich in der der Dissertation des evangelischen Theologen Wolfgang Stroothenke, der freilich die Erwachsenen-„Euthanasie" ebenso als „Mord" qualifizierte wie die Tötung von Kindern ohne Einwilligung der Eltern und den zwangsweisen Abort. Textauszug Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2 , Dok. 177, S. 227 f. Die Arbeit wurde unter dem Titel „Erbpflege und Christentum. Fragen der Sterilisation, Aufnordung, Euthanasie" 1940 in Leipzig publiziert. Text bei Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 278, S. 292 f Darunter Karl Bonhoeffer, der Vater des Theologen Dietrich Bonhoeffer, Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Charité. Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, Dok. 289, S. 306-309. Zum Verhalten Braunes in dieser Frage siehe auch Kaminsky, Uwe, „Wer ist gemeinschaftsfahig?" Paul Gerhard Braune, die Rassenhygiene und die NS-Euthanasie, in: Cantow,Jan/ Kaiser,Jochen-Christoph (Hg.), Paul Gerhardt Braune (1887-1954). Ein Mann der Kirche und Diakonie in schwieriger Zeit, Stuttgart 2005, S. 114-139. Zu

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gelischer „Nichtarier" hervorgetreten, für deren soziale Sicherung er sich darin nachdrücklich einsetzte.38 Hatten Regierungsstellen auf seine damalige Eingabe noch reagiert und mit ihm darüber gesprochen, geschah dies jetzt nicht mehr, im Gegenteil: Braune wurde am 12. August 1940 verhaftet, jedoch Ende Oktober überraschend wieder aus dem Gestapo-Gefangnis in der Prinz-Albrecht-Straße frei gelassen. Einen Zusammenhang zwischen Verhaftung und „Euthanasie"-Denkschrift leugneten die Vernehmer, obschon dies neben anderem der Hauptgrund für die Maßnahme gewesen sein dürfte.39

IV. Auch andere evangelische Institutionen und bekannte Persönlichkeiten wie namens der württembergischen Landeskirche ihr Bischof Theophil Wurm oder der Anstaltsleiter von Stetten im Remstal, Pfarrer Ludwig Schiaich, richteten Protestschreiben an die Reichsregierung, gingen damit aber genauso wenig an die Öffentlichkeit wie Fritz von Bodelschwingh, der nach dem Ende der T4-Aktion die nun dezentralisiert weiter durchgeführte „Euthanasie" in zahlreichen vertraulich bleibenden Gesprächen mit den Verantwortlichen, vor allem Prof. Karl Brandt, zu bekämpfen suchte. Was Bethel betraf, konnte er damit erhebliche Teil-„Erfolge" verbuchen, während andere ev. Einrichtungen wesentlich stärker betroffen wurden. Dies war ein wichtiger Punkt in der Durchsetzung der Krankenmorde seitens der Akteure: Stellten sich ihnen Widerspruch und administrativer Teilwiderstand entgegen, die ein Maß erreichten, das die Stimmungslage in der Bevölkerung verschlechterten, gab es partielle Zugeständnisse, die auch vom Grad der „Prominenz" der beteiligten Personen abhingen. Das galt nicht nur für die Schlüsselfiguren Galen und Bodelschwingh, sondern auch für höhere Beamte wie den rheinischen Landesrat und Medizinaldezernenten der Rheinprovinz Walter Creutz, dessen hinhaltendes Taktieren in der „Vernichtung lebensunwerten Lebens" dazu führte, dass im Rheinland „nur" 7,5 Prozent der „Euthanasie"-Kandidatinnen und -kandidaten

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Braune vgl. auch Nowak, Kurt, Sozialarbeit und Menschenwürde. P.G. Braune im „Dritten Reich", in: ders., Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984-2001, Stuttgart 2002, S. 245-259. Dazu Cantow, Jan, Loyale Distanz und konservative Nonkonformismus. Paul Braune im Gefüge der evangelischen „Nichtarierhilfe", in: ders./ Kaiser, Jochen-Christoph (Hg.), Paul Gerhardt Braune (18871954). Ein Mann der Kirche und Diakonie in schwieriger Zeit, Stuttgart 2005, S. 140-169. Ein anderer lag vermutlich darin, dass man den in der Diakonie einflussreichen Braune „aus dem Verkehr" ziehen wollte, um die - dann scheiternden - Pläne des Leiters der NS-Volkswohlfahrt zu unterstützen, sich als Staatskommissar zum Herrn der noch verbliebenen Verbände der freien Wohlfahrtspflege zu machen. Dazu Kaiser, Jochen-Christoph, Protestantismus, Diakonie und Judenfrage" 19331941. Zur sozialen Dimension eines Konflikts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 673714, hier S. 712 f.

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Opfer der Krankenmorde wurden, während die Quote reichsweit bei 35 Prozent lag.40 Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Strategie durchweg aller gegen die Tötungsmaßnahmen protestierenden Institutionen und Personen daraufhinauslief in diplomatischen Formen und unter instrumenteller Nutzung des NS-Vokabulars sowie der mörderischen „Logik" der „Euthanasie"-Verfechter diesen die strikte Ablehnung des Geschehens zu verdeutlichen. Insgesamt gesehen hatten jedoch weder „heiße Drähte" zu den Verantwortlichen in führender Position, wie sie zwischen v. Bodelschwingh und Brandt bestanden, noch direkte Eingaben an einflussreiche Regierungsstellen wie die Reichskanzlei Erfolg. Einzig das Ausbrechen des Münsterschen Bischofs von Galen aus dem Konsens der nichtöffentlichen Proteste zeigte in Verbindung mit der erregten Stimmung der katholischen Bevölkerung in seiner Diözese und darüber hinaus Wirkung. Auch wenn dieser Schritt zur offiziösen Einstellung der T4-Aktion im August 1941 beigetragen haben dürfte, vermochte auch er die sich anschließende „Anstaltseuthanasie" mit den weniger spektakulären Mitteln unzureichender Lebensmittelrationen und der Giftspritze bis Kriegsende nicht aufzuhalten. Gleichwohl bildeten Widerspruch und passiver Widerstand gegen die „Euthanasie" einen der wenigen Ansatzpunkte, an dem die proklamierte Einheit von „Führer- und Volkswillen" tendenziell in Frage stand und darüber hinaus zur inneren Distanz bestimmter Milieus und Bevölkerungsgruppen gegenüber der vom Regime definierten Volksgemeinschaft beitrug. Die Funktionsfahigkeit des Regimes wurde dadurch nur am Rande tangiert, allerdings mussten die Funktionäre einsehen, dass sie hier einen Punkt getroffen hatten, der mehr als alle anderen menschenverachtenden Aktivitäten des Systems kritische Mobilisierungspotenziale in sich barg, die man nicht einfach ignorieren konnte.

40 Vgl. Kaiser/ Nowak/ Schwartz, 1992, wie Anm. 2, S. XXXI. Zur Ausrichtung des rheinischen Provinzialverbands gegenüber den Krankentötungen siehe auch Kaminsky, Uwe, Zwangssterilisation und „Euthanasie" im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 19331945, Köln 1995, S. 336 ff

Henry Friedlander

Von der „Euthanasie" zur „Endlösung"

Die nationalsozialistische Ideologie setzte sich zum Ziel, die deutsche Volksgemeinschaft zu erneuern und rassisch zu säubern. Dazu sollten alle, die nicht zur so genannten Nordischen Rasse gehörten, und alle, die als minderwertig oder „entartet" betrachtet wurden, aus ihr ausgeschlossen werden. Ziel und Opfer dieser Bemühungen wurden drei biologisch definierte Bevölkerungsgruppen - Juden, „Zigeuner" und Behinderte. Die nationalsozialistischen Machthaber waren bestrebt, sowohl jene Menschen zu eliminieren, die sie für „fremdrassisch" hielten, als auch solche, die in ihren Augen die Reinheit und Gesundheit des nationalen Erbguts durch erbliche körperliche und geistige Behinderung zu verunreinigen drohten.1 Die Nationalsozialisten haben diese Menschen nicht nur genau definiert und ausgegrenzt, schließlich gingen sie sogar so weit, sie zu ermorden. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 folgte schon bald die Verabschiedung der auf den Ausschluss der drei genannten Bevölkerungsgruppen zielenden Gesetze. Gegen die Behinderten war ein Gesetz gerichtet, das auf einem von Rassenhygienikern schon längere Zeit geforderten Programm beruhte und zur Kontrolle eines als entartet und minderwertig erachteten Bevölkerungsteils diente. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (oder „Erbgesundheitsgesetz"), das am 14. Juli 1933 verabschiedet wurde, legte dabei den Grundstein für die weitere eugenische und rassistische Gesetzgebung. Auf das „Erbgesundheitsgesetz" folgte 1935 das „Ehegesundheitsgesetz", das eine Uberprüfung der gesamten Bevölkerung vorschrieb, um Eheschließungen von Personen zu verhindern, die als Träger von Erbkrankheiten klassifiziert wurden.2 Da in der Rassenhygiene Behinderungen seit jeher mit kriminellem und anderem „asozialen" Verhalten in Verbindung gebracht wurden, waren die Beamten, die diese Gesetze entwarfen, zudem der Ansicht, dass auch „vererbbare Verbrecheranlagen"3

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Eine ausführliche Darstellung der in diesem Essay behandelten Thematik bietet Friedlander, Henry, The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill 1995 (dt. Erstausgabe: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997). Die englische Fassung dieses Beitrags: Friedlander, Henry, From „Euthanasia" to the „Final Solution", in: United States Holocaust Memorial Museum, Bloomfield, Sara/ Kuntz, Dieter/ Bachrach, Susan (Hg.), Deadly Medicine. Creating the Master Race, Washington 2004, S. 155-183. Vgl. Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 103. Gütt, Arthur/ Rüdin, Ernst/ Ruttke, Falk, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausfuhrungsverordnungen, 1. Aufl., München 1934, S. 6.

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in der eugenischen Gesetzgebung zu berücksichtigen wären. Zu diesem Zweck verabschiedete das Regime im November 1935 das „Gesetz gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher". Die neuen Bestimmungen des Strafgesetzbuches gaben den Gerichten erheblich erweiterte Möglichkeiten an die Hand, als Gewohnheitsverbrecher klassifizierte Personen zu verurteilen und zu bestrafen. Die Gerichte wurden ermächtigt, „Asoziale" in staatliche Kliniken einzuweisen, Gewohnheitsverbrecher in „Schutzhaft" nehmen zu lassen oder längere Gefängnisstrafen gegen sie zu verhängen, Sexualstraftäter kastrieren zu lassen und Beschuldigten die Ausübung ihres Berufs oder eine Beschäftigung zu verbieten. Zur Ausgrenzung von Juden erließ das Regime eine Vielzahl von Gesetzen und ergänzte diese um unzählige Verordnungen. Eine Aufstellung aller diesbezüglichen Gesetze und Erlasse einschließlich kurzer Zusammenfassungen erstreckt sich über ein Buch von mehr als 400 Seiten.4 Das erste gravierende, zumindest teilweise antijüdische Gesetz war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", das bereits im April 1933 erlassen wurde und eigentlich einen Bruch des geltenden Beamtenrechts darstellte. Es sollte die Entlassung politischer Gegner aus der Beamtenschaft legitimieren und enthielt auch Regelungen, die eine Entfernung so genannter nichtarischer, meist jüdischer Beamter aus dem öffentlichen Dienst ermöglichte. Es folgte eine Flut von Erlassen und Verordnungen sowohl auf nationaler als auch lokaler Ebene, die Juden aus sämtlichen Stellen in der Verwaltung, im Erziehungswesen, in den Medien und Künsten und später auch aus anderen freien Berufen wie Recht und Medizin verdrängen sollten. Nach 1937 wurden weitere legislative Maßnahmen initiiert, um alle wirtschaftlichen Aktivitäten von Juden zu unterbinden, sie von der Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben auszuschließen und ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken. Das Kernstück der antijüdischen Gesetzgebung wurde im September 1935 als „Reichsbürgergesetz" und als „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom Reichstag beschlossen; sie wurden in der Folge unter der Bezeichnung Nürnberger Rassengesetze bekannt. Deren Verfasser griffen nicht auf die Begriffe arisch und nichtarisch zurück, vermutlich weil sie ihnen zu ungenau waren, obwohl die Begriffe in vielen anderen Verordnungen durchaus noch verwendet wurden. Stattdessen wurden die so genannten Arier in diesen Gesetzen als Personen „deutschen oder artverwandten Blutes" definiert.5 Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", das nicht rückwirkend galt, schloss Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft aus, indem es die Eheschließung und den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Personen 4 5

Walk, Joseph (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien - Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1981. Gütt, Arthur/ Linden, Herbert/ Maßfeiler, Franz, Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz. Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes nebst Durchführungsverordnungen sowie einschlägigen Bestimmungen, 1. Aufl., München 1936, S. 21, 259 ff

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„deutschen oder artverwandten Blutes" verbot. Zwar veränderte das „Reichsbürgergesetz" den rechtlichen Status von Juden als deutschen Staatsangehörigen nicht, aber sie wurden dadurch als Bürger zweiter Klasse stigmatisiert, weil darin der höhere Status eines „Reichsbürgers" eingeführt wurde, den nur Menschen „deutschen oder artverwandten Blutes" erhielten. Die erforderlichen Reichsbürgerbriefe wurden allerdings nie ausgestellt.6 Obwohl sich die Nürnberger Rassengesetze vor allem gegen die jüdische Minderheit richteten, die als größte Bedrohung der deutschen Volksgemeinschaft und des deutschen Erbguts galt, wurden ihre Bestimmungen auch auf andere Minderheiten angewendet. Reichsinnenminister Wilhelm Frick, der für die Ausführung der Gesetze zuständig war, definierte „artfremd" folgendermaßen: „Da die Deutschblütigkeit eine Voraussetzung des Reichsbürgergesetzes bildet, kann kein Jude Reichsbürger sein. Dasselbe gilt auch für die Angehörigen anderer Rassen, deren Blut dem deutschen nicht artverwandt ist, z.B. für Zigeuner und Neger."7 Im „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" wurden explizit nur Juden erwähnt, aber offizielle Kommentare verbaten auch solche ehelichen Verbindungen, deren Nachwuchs die Reinheit des deutschen Blutes gefährdete; Kommentatoren forderten, dass „weiteres rassefremdes Blut", vor allem das der „Neger und Zigeuner" ausgeschlossen werde.8 Eine genaue Definition der auszuschließenden Personen war zur Anwendung der eugenischen und Rassengesetze unabdingbar. Daher wurde in der Ersten Verordnung zum „Reichsbürgergesetz" die Bedeutung des Begriffs Jude und die unterschiedlichen Grade von „Mischlingen" definiert. Diese Definitionen wurden von Wissenschaftlern geliefert. Die Beamten, welche die Gesetze verfassten und die dazugehörigen Kommentare zusammenstellten, stützten sich bei ihren Ausfuhrungen auf die Schriften von Rassentheoretikern und anderen Forschern; sie zitierten die Anthropologen Eugen Fischer und Hans F. K. Günther und gehörten denselben Komitees an wie Fischer, der Psychiater Ernst Rüdin und die Genetiker Fritz Lenz und Otmar von Verschuer. Zunächst wurde die ausgegrenzte und verarmte jüdische Minderheit in Deutschland und - nach dem „Anschluss" - Osterreich von den nationalsozialistischen Machthabern nicht inhaftiert; auch die Konzentrationslager wurden nicht aus diesem Grund errichtet. Vielmehr zwang das Regime die Juden in die Emigration, und bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verließen ungefähr die Hälfte der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland und Osterreich ihre Heimat. 1938 wurde die Verfolgung von Juden weiter verschärft. Im Oktober wurden alle Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit, auch solche die in Deutschland geboren waren, über die Grenze 6

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Vgl. Adam, Uwe Dietrich, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972, S. 125-131; Schleunes, Karl A., The Twisted Road to Auschwitz. Nazi policy toward German Jews 1933-1939, Urbana 1970, S. 121125. Zit. n. Giitt/ Linden/ Maßfeller, 1936, wie Anm. 5, S. 21. Zit. n. Gütt/ Linden/ Maßfeller, 1936, wie Anm. 5, S. 16.

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nach Polen verbracht. Anfang November inszenierten die Nationalsozialisten das als „Kristallnacht" bekannte Pogrom. Danach wuchs der Wunsch nach Emigration bei vielen Juden, aber zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten Länder schon ihre Grenzen für Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland geschlossen. Gegenüber den Zigeunern verschärften die Behörden ihre Repressalien durch herkömmliche polizeiliche Maßnahmen. 1936 erließ der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, detaillierte Vorschriften für die Art und Weise, wie die Polizei die Reiseund Handelsfreiheit der Zigeuner einzuschränken hatte, und 1937 ermächtigte das Reichsinnenministerium die Polizei dazu, Zigeuner in Vorbeugehaft zu nehmen. In ganz Deutschland wurden von den örtlichen Behörden Zigeunerlager errichtet, welche die Bewegungsfreiheit zahlreicher Familien beschneiden sollten.9 Obwohl sie laut dieser Vorschriften, die in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren mehr wurden, als asoziale Elemente anzusehen waren, die von der Polizei kontrolliert werden mussten, verfolgte man die Zigeuner aus rassischen Gründen. Sie wurden als Gruppe als kriminell und asozial eingestuft, was offensichtlich aufgrund ihrer Rasse oder Ethnizität geschah; einzelne Zigeuner wurden also deswegen als asoziale Kriminelle betrachtet, weil sie einer rassisch definierten Gruppe zugeordnet wurden.10 Für sie galten die Bestimmungen der Nürnberger Rassengesetze ebenso wie für Juden. In diesem Sinne dekretierte auch das Reichsinnenministerium, das für die Durchsetzung der Rassengesetze verantwortlich war, dass zu den in Europa „fremden Rassen" nur die Juden und die Zigeuner gehörten.11 Mit Näherrücken des Kriegs griff das Regime zu immer radikaleren Methoden der Ausgrenzung und zielte dabei nicht nur auf „fremdrassige", sondern auch auf behinderte Menschen. Bereits 1935 hatte Adolf Hitler dem damaligen Reichsärztefuhrer Gerhard Wagner erklärt, dass er bei Kriegsausbruch ein „Euthanasie"-Programm veranlassen würde. Obwohl Hitlers Rolle dabei nicht öffentlich gemacht werden sollte, war seine Privatkanzlei, die Kanzlei des Führers (KdF), bei Planung und Durchführung der „Euthanasie"-Morde federführend. So ernannte Hitler seinen Begleitarzt Karl Brandt und den Reichsgeschäftsführer der KdF, Philipp Bouhler, zu den Beauftragten für dieses „streng geheim" klassifizierte Programm. Bouhler ordnete die Aufgabe, die „Euthanasie"-Morde zu organisieren, dem Hauptamt II der KdF zu und machte dessen Oberdienstleiter Viktor Brack für die praktischen Belange verantwortlich. Der nationalsozialistischen Kinder-„Euthanasie", mit der die „Euthanasie'-Maßnahmen begannen, fielen insgesamt 5.000 behinderte Kinder zum Opfer. Hitler weitete das Programm dann auf die Tötung erwachsener Behinderter aus und ließ so mehr als 200.000 Menschen ermorden. Ebenso wie die Kinder-„Euthanasie" wurde das 9 10 11

Vgl. Milton, Sybil, Vorstufe zur Vernichtung. Die Zigeunerlager nach 1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), S. 115-130. Vgl. Calvelli-Adorno, Franz, Die rassische Verfolgung der Zigeuner vor dem 1. März 1943, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 12 (Dezember 1961), S. 529-537. Vgl. Walk, 1981, wie Anm. 4, Nr. 81, S. 146.

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Erwachsenenprogramm von der KdF geleitet. Es war ebenfalls geheim. Die „Euthanasie" der Erwachsenen wurde später als Aktion T4 bekannt, benannt nach der Adresse einer konfiszierten jüdischen Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, in der die T4Verwaltung untergebracht war. Um besorgte Arzte und Beamte zur Kooperation zu bewegen, unterzeichnete Hitler schließlich ein geheimes Ermächtigungsschreiben in Form eines Briefes an Bouhler und Brandt zur Gewährung des „Gnadentods". Zur Tötung behinderter Kinder verabreichten die Ärzte Medikamente, jedoch mussten sie für die bei weitem größere Gruppe erwachsener Behinderter eine geeignetere Methode finden. Für sie richteten die T4-Techniker Mordzentren ein, die zum Symbol für das nationalsozialistische Deutschland und das frühe zwanzigste Jahrhundert werden sollten. Mordzentrum ist eine passende Bezeichnung für einen Ort, an dem Menschen auf fabrikmäßige Weise und wie am Fließband ermordet wurden.12 Nach Experimenten mit einer Reihe von Tötungsverfahren entschieden sich die T4-Organisatoren für Gas als Tötungsmittel. Karl Brandt besprach verschiedene Verfahren mit dem „Führer", und als Hitler ihm angeblich die Frage nach der „menschlichsten" Methode stellte, soll Brandt die Verwendung von Gas empfohlen haben. Nachdem Brandt dies vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal ausgesagt hatte, erklärte er dem ihn vernehmenden Amerikaner: „Hier handelt es sich um einen der Fälle in der Geschichte der Medizin, wo ein großer Sprung nach vorn erfolgt."13 Daraufhin hätten sie beschlossen, dieses Mittel zu Massentötungen zu verwenden. Diese befremdliche Bemerkung war kein Einzelfall, sondern nur ein extremes Beispiel für die Faszination für Technik, die bei verschiedenen Organisatoren des Massenmordes zu beobachten war. Sechs Mordzentren wurden eingerichtet - Brandenburg, Grafeneck, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar. Die behinderten Patienten wurden in der Regel mit einem speziellen T4-Bus in die Mordzentren verbracht, bisweilen aber auch mit der Reichsbahn. Im Aufnahmebereich in den Anstalten, der meist so gestaltet war, dass er an ein Krankenhaus erinnerte, wurden die Patienten entkleidet und einzeln in ein Behandlungszimmer geführt. Es folgte jedoch keine gewöhnliche ärztliche Untersuchung. Der Arzt stellte nur anhand der medizinischen Unterlagen die Identität des Patienten fest und gewann dabei rasch „einen allgemeinen Eindruck von den Leuten".14 Zugleich wur-

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Vgl. Alexander, Leo, Medical Science under Dictatorship, in: New England Journal of Medicine 241 (1949), S. 39-47, hier S. 40. 13 National Archives and Records Administration (NARA), RG 238: Vernehmung Karl Brandt, 1. Oktober 1945 nachmittags, Bl. 7-8. 14 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Akte E18370/3: Kriminalpolizei Linz, Vernehmung Vinzenz Nohel, 4. September 1945; DÖW, Akte E18370/1: Staatsanwaltschaft StA Frankfurt, Js 18/61, Generalstaatsanwalt (GStA), Verhör Georg Renno, 1. Februar 1965, Bl. 3^4, 7, 17, und Landgericht (LG) Frankfurt, Untersuchungsrichter, Verfahren Js 18/61 (GSta), Vernehmung Fritz Tauscher, Hamburg, 2. Juni 1964; Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden, (HHStA), 461/32061/7: LG Frankfurt, Verfahren Adolf Wahlmann, Hans-Bodo Gorgass, Irmgard Huber, 4a KLs 7/47 (4a Js 3 / 46), Protokoll der öffentlichen Sitzung der 4. Strafkammer, 24. Februar 1947, Bl. 16-18 (Zeugenaussage Hans-Bodo Gorgass).

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den die nackten Patienten mit einer Kennzeichnung versehen; Patienten mit Goldzähnen oder Goldbrücken wurde ein Kreuz auf den Rücken oder die Schulter gemalt. Diese Kennzeichnung diente später dazu, Leichen mit wertvollem Zahnersatz zu identifizieren. Nach der Untersuchung erhielt der Patient eine Nummer, die aufgestempelt oder mit Klebeband am Körper befestigt wurde. Anschließend kam er in den nächsten Raum, wo er photographiert wurde - „sitzend, von vorn, von der Seite und stehend". Diese letzten Bilder, die sich anhand der aufgestempelten oder aufgeklebten Nummer den Patienten zuordnen ließen, sollten die Dokumentation abschließen und die Minderwertigkeit der Ermordeten „für wissenschaftliche Zwecke " belegen; sie wurden schließlich in der T4-Zentrale in Berlin gesammelt und katalogisiert. Nach Abschluss der Untersuchungen und aller Formalitäten wurden die immer noch nackten Patienten versammelt, um sie gemeinsam in die Gaskammer zu bringen.15 Waren die Patienten in die Gaskammer gebracht, verriegelte das Personal die Stahltür und überprüfte, ob diese und die Entlüftungsrohre luftdicht verschlossen waren. Daraufhin öffnete der Arzt im Nebenzimmer den Hahn des Druckluftbehälters mit dem Kohlenmonoxid, das die Mordzentren von dem zur I.G. Farben gehörenden BASF-Werk in Ludwigshafen erhielten, und ließ das tödliche Gas in die Kammer strömen. Normalerweise blieb der Hahn ungefähr zehn Minuten geöffnet. Nach knapp fünf Minuten waren die Patienten bewusstlos; nach etwa zehn Minuten waren alle tot. Das Personal wartete dann noch ein bis zwei Stunden, bis die Gaskammer gelüftet wurde.16 Wenn die Gaskammer durch die Ventilatoren vollständig entlüftet war, erklärten die Arzte die Menschen darin für tot und ihre Leichen wurden entfernt. Dabei wurden sie von den Mitgliedern des Personals, denen die Verbrennung oblag, aus der Kammer geschleift, nicht getragen; in der Sprache der Mordzentren hießen diese Beschäftigten Heizer oder Brenner. Sie mussten zunächst die ineinander verkrallten Leichen voneinander trennen und dann aus der Gaskammer in einen Raum schleifen, der häufig Totenkammer genannt wurde, wo sie vor der Verbrennung aufgestapelt wurden. Nun begann das Personal, die Toten auszuplündern und zu verstümmeln, um sie im Rahmen des Mordprogramms zu verwerten. An einigen Toten, die meist schon vor der Vergasung von Ärzten ausgewählt worden waren, wurde auch eine Autopsie vorgenommen. Diese diente zwei Zwecken: Sie verschaffte jungen, in den Mordzentren tätigen Ärzten eine Gelegenheit zur Aus- und fachärztlichen Fortbildung für ihre akademische Qualifikation und sie lieferte Organe, vor allem Gehirne, für wissenschaftliche Forschungen an medizinischen Instituten. Ferner waren, wie erwähnt, alle Patienten mit Gold im Zahnersatz zuvor mit einem Kreuz auf dem Rücken gekennzeichnet worden. Die so Markierten wurden nach dem

15 Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 86-110. 16 Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 86-110.

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Tod gesammelt und die Brenner brachen ihnen die Goldzähne aus dem Gebiss, die dann in das Büro der Todesanstalt gebracht wurden.17 Zuletzt brachten die Brenner die Leichen zum Krematorium. Obwohl üblicherweise zwei bis acht Leichen auf einmal verbrannt wurden, dauerte es wesentlich länger, die Toten zu verbrennen als die Patienten zu töten. Die Entsorgung der Leichen war technisch eine viel größere Herausforderung als die Ermordung von Menschen. Die Brenner arbeiteten in Schichten und oft auch nachts, um die ermordeten Patienten eines Transports zu verbrennen.18 Das Mordzentrum vermochte, lebende Menschen in weniger als 24 Stunden zu Asche zu „verarbeiten"; in der Sprache der Aktion T4 hieß das „Desinfektion". Nach der Verbrennung benutzten die Brenner eine Knochenmühle, um die noch nicht vollständig eingeäscherten menschlichen Knochen zu Pulver zu mahlen. Die Asche kam dann zur Bestattung in Urnen, wobei für jeden Menschen eine Menge von ungefähr sieben Pfund kalkuliert wurde. Die Verwandten der Ermordeten erhielten, wenn sie das wollten, eine Urne, aber ihnen wurde nicht mitgeteilt, dass die darin enthaltene Asche nicht die der Person war, deren Name auf der Urne stand. Vielmehr nahmen die Brenner nur die Asche von einen „großen Haufen", um die Urnen zu befüllen.19 Die Arbeit der Mordzentren fand im Verborgenen statt. Um die Geheimhaltung zu wahren und die Morde zu verschleiern, mussten die Büros der Anstalten eine Fülle von Papieren und Dokumenten in Umlauf bringen. Die Arzte stellten gefälschte Sterbeurkunden aus, die Verwaltung sandte Kondolenzschreiben an die Verwandten. Sogar Todesdatum und andere Einzelheiten wurden geändert. Dennoch sickerte die Wahrheit durch. Es passierten zu viele Fehler, zu viele Patienten starben ganz unvermittelt. Dies ließ Unruhe entstehen, die vom Regime mitten im Krieg nicht zu tolerieren war. Daher befahl Hitler im August 1941 die Einstellung der Vergasungen, weil sie in der Öffentlichkeit zu bekannt geworden waren. Das bedeutete jedoch nicht, dass das Töten aufhörte. Die Behinderten wurden anschließend nur in verschiedenen Anstalten und Krankenhäusern im ganzen Land mit Medikamenten vergiftet oder man ließ sie verhungern. Dies fiel weniger auf, war aber genauso effektiv. Ein an der Aktion T4 beteiligter Statistiker erstellte einen Bericht über die Anzahl der getöteten Patienten. Dieser Bericht, der nach dem Krieg in Hartheim gefunden wurde, enthielt die monatlichen Zahlen aus jedem Mordzentrum; als Gesamtsumme aller „desinfizierten" Personen gab er 70.273 an. Davon wurden 35.224 im Jahr 1940 und 35.049 im Jahr 1941 ermordet.20

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Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 86-110. Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 86-110. Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 86-110. NARA, RG 338, Mikrofilm-Veröffentlichung T-1021, Rolle 18, „Hartheim-Statistik", Bl. 1. Das Original war eine Zeitlang verschollen, nur der Mikrofilm ständig einsehbar. Der Verfasser entdeckte es zusammen mit dem Archivar Richard Boylan im Suitland-Depot der NARA wieder. Es befindet sich heute im Archiv II und war vorübergehend im United States Holocaust Memorial Museum ausgestellt.

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Die bizarre T4-Statistik aus Hartheim enthielt zudem eine exakte Berechnung der Einsparungen, die durch die Ermordung der Behinderten erzielt wurden. So errechnete der T4-Statistiker, dass, über einen Zeitraum von zehn Jahren gesehen, die 70.273 „Desinfektionen" dem Deutschen Reich Kosten in Höhe von 885.439.980 Reichsmark ersparten. Bei der Berechung der zukünftigen Ausgaben für Ernährung gab er an, dass jene 70.273 Ermordeten für Deutschland eine Ersparnis von - beispielsweise - 13.492.440 Kilogramm Fleisch und Wurst bedeuteten ein makaberes Wirtschaftlichkeitsdenken, das darauf abzielte, der nationalsozialistischen „Eugenik" und dem Rassismus, auf deren Grundlage die Mordzentren eingerichtet wurden, den Anschein von Rationalität zu geben. Hitlers Befehl, das Töten einzustellen, bezog sich nur auf die Vergasung Behinderter; die T4-Mordzentren konnten immer noch anderweitig genutzt werden. 1940 nahmen die deutschen Konzentrationslager an Zahl und Größe zu, aber sie verfügten noch nicht über die Einrichtungen, um eine größere Menge von Internierten auf einmal zu töten. Die in den Vorkriegsjahren praktizierten Methoden zur Ermordung einzelner Häftlinge - Zwangsarbeit, unmenschliche Lebensbedingungen, Schläge und Hinrichtungen - benötigten zu viel Zeit, um die steigende Zahl von Lagerinsassen zu reduzieren.21 Daher wandte sich die SS an die Kanzlei des Führers, um herauszufinden, wie sich die T4-Erfahrungen nutzen ließen. Also sprachen der Reichsführer-SS und Philipp Bouhler Anfang 1941 darüber, ob und wie sich Personal und Einrichtungen der Aktion T4 in den Konzentrationslagern einsetzen ließen.22 Kurz darauf, im Frühjahr 1941, begann eine neue Tötungsaktion, die sich gegen die Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern richtete. Die Ermordung ausgewählter Konzentrationslagerhäftlinge in den Gaskammern der Mordzentren wurde als „Sonderbehandlung 14fl3" bezeichnet. Ausgewählt wurden die Opfer gemeinsam von SS-Lagerärzten und T4-Ärzten. Dazu besuchten Abordnungen von T4-Arzten die Lager, wo sie aus von der SS vorbereiteten Listen möglicher Opfer die tatsächlichen Todeskandidaten auswählten. Dadurch blieben die Mordzentren Bernburg und Sonnenstein bis 1943 in Betrieb, als der steigende Bedarf an Zwangsarbeitern aus Konzentrationslagern die „Sonderbehandlung 14fl3" beendete. Einzig in der Gaskammer in Hartheim bei Linz (Osterreich) wurde auch dann noch weitergemordet. In der Nähe des Konzentrationslagers Mauthausen gelegen und mit ihm eng verbunden, wurde die Gaskammer in Hartheim noch bis 1944 genutzt, um Häftlinge aus Mauthausen zu vergasen. Auch In-

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Vgl. Breitman, Richard, The Architect of Genocide. Himmler and the Final Solution, New York 1991, S. 87 £ GStA Frankfurt, Anklage Georg Renno, Hans-Joachim Becker und Friedrich Robert Lorent, Js 18/61 (GStA),Js 7/63 (GStA), Js 5 / 6 5 (GStA), 7. November 1967, Bl. 48; LG Frankfort, Urteil Hans-Joachim Becker und Friedrich Robert Lorent, Ks 1/69 (GStA), 27. Mai 1970, Bl. 49.

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ternierte aus dem Konzentrationslager Dachau wurden nach Hartheim verbracht und dort vergast.23 In Nürnberg versicherte Brack unter Eid, dass in den „Euthanasie"-Mordzentren kein Behinderter jüdischer Herkunft starb. Das war eine Lüge. Auch Brandt log in Nürnberg, als er behauptete, nichts über das Schicksal behinderter Juden zu wissen. Und die am Mord behinderter Juden beteiligten Ärzte logen ebenfalls, als sie zu ihren Patienten befragt wurden. All diese Lügen waren Teil eines groß angelegten Planes, um von den vorhandenen Aufzeichnungen abzulenken und die Spuren der Morde zu verwischen. Die Lügner hatten damit Erfolg, denn es gelang ihnen sowohl in Nürnberg als auch danach, die Staatsanwälte, Richter und Historiker zu täuschen.24 Das von den an T4 beteiligten Verbrechern vorgebrachte Argument lief darauf hinaus, dass die „Euthanasie" eine Art Erlösung für die Betroffenen war und dass Juden diese nicht gewährt wurde. Es stimmte natürlich, dass in einem positiven Sinne eugenische Maßnahmen nie aufJuden angewendet wurden. Aber die nationalsozialistische „Euthanasie" war tatsächlich eine negative eugenische Maßnahme, von der die Juden stets betroffen waren. So gibt es auch Beweise, dass Juden nicht vom „Erbgesundheitsgesetz" ausgenommen wurden. Dasselbe gilt für die T4Morde. Juden tauchten schon auf den Listen der frühesten Transporte zu den Mordzentren auf: Der erste Name auf der Transportliste von Eglfing-Haar nach Grafeneck am 18. Januar 1940 lautet Ludwig „Israel" Alexander.25 Nur dauerte den T4-Organisatoren der inzwischen schon etablierte Tötungsprozess mit medizinischer Auswertung zu lange und war nicht zuverlässig genug, wenn man ihn auf Juden anwendete. Also beschlossen sie stattdessen, die Juden insgesamt als Gruppe zu verschleppen und zu ermorden - nicht auf der Grundlage der Auswertung von Fragebögen, sondern einzig aufgrund der Tatsache, dass sie jüdisch waren.26 Die Entscheidung, noch in deutschen Krankenhäusern und Anstalten befindliche behinderte Juden systematisch zu ermorden, fiel offenbar im Frühjahr 1940. Zu der Zeit begann man sowohl bei der Gestapo als auch in der Tiergartenstraße 4, Statistiken über stationär behandelte jüdische Patienten anzufertigen. Ende März oder Anfang April forderten erstmals örtliche Gestapo-Dienststellen die jüdischen Gemeinden auf, monatlich über die Zahl jüdischer Patienten zu berichten; kurz darauf wurden für jeden Monat auch Informationen über diesbezügliche Änderungen

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24 25 26

Vgl. Friedlander, Henry, The Nazi Concentration Camps, in: Ryan, Michael (Hg.), Human Responses to the Holocaust, New York 1981, S. 47 f; Grode, Walter, Die „Sonderbehandlung 14fl3" in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Ein Beitrag zur Dynamik faschistischer Vernichtungspolitik, Frankfurt am Main 1987, S. 82. Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 187-245. Seit Januar 1939 zwangen die Nationalsozialisten Deutsche jüdischer Herkunft, den Mittelnamen „Israel" zu fuhren. Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 263-283; Schmidt, Gerhard, Selektion in der Heilanstalt, 19391945, Frankfurt am Main 1983, S. 73.

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verlangt. Am 15. April 1940 wies Herbert Linden aus dem Reichsinnenministerium alle örtlichen Behörden an, die Anzahl von behinderten Patienten jüdischer Herkunft zu melden. Sein Brief an die zuständigen Behörden und Verwaltungen von staatlichen und örtlichen Kliniken und Pflegeanstalten forderte dazu auf, binnen drei Wochen eine Liste mit den jüdischen Patienten bereitzustellen, die „an Schwachsinn oder einer Geisteskrankheit litten".27 Der Zweck von Lindens Rundschreiben wurde schnell klar. Die jüdischen Patienten aus verschiedenen Anstalten und Heimen wurde an einige wenige Einrichtungen überstellt, die als Sammellager dienten. Von dort wurden sie von T4-Bussen abgeholt und zu den Mordzentren gebracht. Die behinderten jüdischen Patienten wurden den jüdischen Transporten nicht auf der Grundlage individueller Fragebögen zugeteilt, sondern nur weil sie auf den Listen erschienen, die auf das Rundschreiben des Reichsinnenministeriums hin von den medizinischen Einrichtungen erstellt worden waren. Entgegen der Gepflogenheiten bei den anderen ermordeten Patienten stellten die Mordzentren auch keine Sterbeurkunden aus oder versandten Kondolenzschreiben. Die behinderten Juden sollten einfach verschwinden. Das änderte sich jedoch, als immer mehr Verwaltungsarbeiten anfielen. So erkundigten sich Verwandte, Fürsorgestellen, Versicherungen und Gerichte bald nach dem Verbleib der verschwundenen Patienten. Die Behörden wiegelten zunächst ab und antworteten nur, dass der betreffende Patient auf Befehl des Reichsinnenministeriums mit einem jüdischen Transport in eine andere Einrichtung überstellt worden war. Und sie fugten dann noch hinzu, dass der Name der Institution nicht bekannt sei. Aber dann wurde das Täuschungsmanöver mit der Anstalt in Chelm oder Cholm ersonnen.28 Wie die Verwandten der anderen ermordeten Patienten wurden schließlich auch Verwandte jüdischer Opfer und öffentliche Einrichtungen über die Todesfalle informiert. Verschickt wurden diese Benachrichtigungen jedoch nicht von Mordzentren in Deutschland, sondern sie kamen aus dem unter deutscher Verwaltung stehenden Generalgouvernement im besetzten Polen und wurden auf einem mit dem Briefkopf „Irrenanstalt Chelm, Post Lublin" versehenen Vordruck ausgefertigt. Diese Chelmer Benachrichtigungen wurden nicht nur an Verwandte, sondern auch an offizielle Stellen versandt, insbesondere an solche, die mit den Patienten in finanzieller Beziehung standen. Die Standesämter trugen sogar mit echter deutscher Gründlichkeit die Sterbeurkunden auf den Geburtsscheinen der ermordeten jüdischen Patienten ein.29

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Kopien des Rundschreibens befinden sich im Hauptstaatsarchiv (HStA) Stuttgart, Bestand J355; Reichsinnenministerium (unterz. Linden) an Württembergisches Innenministerium, 15. April 1940, und Staatsanwaltschalt (StA) Hamburg, Verfahren Lensch und Struve, 147, Js 58/67, Gesundheitsbehörde, Bd. 1: Reichsinnenministerium (unterz. Linden) an Reichsstatthalter in Hamburg, 15. April 1940. Nürnberger Dok. NO-1143 enthält zahlreiche dieser Briefe aus Eglfing-Haar an Wohlfahrtsbüros, Versicherungsgesellschaften und Staatsanwaltschaften; Kopien in der Boston University Library, Leo Alexander Collection, box 57. Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 263-283.

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Das gesamte Chelm-Manöver, das vor allem die T4-Kassen füllen sollte, ging völlig amateurhaft vonstatten. So war der Briefkopf primitiv und sah anderes aus als die üblichen Briefköpfe von deutschen Behörden. Es war auch vollkommen unverständlich, warum eine polnische Behörde in der Nähe von Lublin überhaupt einen deutschen Briefkopf verwenden sollte. Zudem zeigte die uneinheitliche Schreibweise des Namens, der manchmal mit „Chelm", manchmal mit „Cholm" angegeben wurde, dass die T4-Leute - zumindest was Fälschungen betraf - Dilettanten waren. Dennoch schien niemand, nicht einmal deutsche Regierungsbehörden, diese Ungereimtheiten zu bemerken. Das galt für die Art, wie die Gebühren erhoben wurden. Die Anstalt in Chelm forderte die Uberweisung des fälligen Betrags auf das „Postscheckkonto Berlin Nummer 17050", ohne zu erklären, warum eine polnische Anstalt ein Konto in Berlin unterhalten sollte.30 Geschrieben wurden die gefälschten Briefe in Wirklichkeit von T4-Mitarbeitern in Berlin. Von dort wurde die Korrespondenz per Kurier zum Versand nach Lublin gebracht, damit die Briefe den dortigen Poststempel trügen.31 Ein Briefwechsel mag hier als Beispiel dienen. Am 7. November 1940 erhielt Flora Tauber in Wien aus Chelm die Nachricht, dass ihr Sohn am Vortag verstorben war: „Wir teilen Ihnen mit, dass Ihr Sohn Alfred Israel Tauber, der sich seit einiger Zeit hier befand, hier verstorben ist. Zur etwaigen Benutzung fügen wir 2 Sterbeurkunden bei." Am 2. Dezember schrieb die Mutter wegen der Beerdigung einen Brief an das auf dem Chelmer Briefpapier angegebene Postfach. Die Antwort der Ortspolizeibehörde Chelm II vom 7. April 1941 teilte ihr mit, dass die Urne mit der Asche ihres Sohnes „auf Anordnung höherer Stellen" auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt worden sei. Flora Tauber blieb hartnäckig und schrieb erneut am 16. April, nun weil sie am Grab ihres Sohnes eine Gedenktafel anbringen wollte. Die Ortspolizeibehörde Chelm II antwortete darauf dass ihrem Gesuch nicht stattgegeben werden könnte. Da die Anstalt kostenlos für sie die Grabpflege besorgen würde, wurde ihr geraten, bis nach Kriegsende zu warten, weil dann vielleicht wieder die Möglichkeit bestünde, eine solche Tafel anzubringen.32 Dieser Vorgang macht deutlich, wie Geheimaktionen einer Regierung außer Kontrolle geraten können. T4 hatte zwar den Befehl erhalten, jüdische Patienten zu töten, aber Schreiben aus Chelm zu fingieren und daraus finanzielle Vorteile zu ziehen, geschah vermutlich nicht auf Anordnung einer höheren Stelle. Wenn man den Zwang zur Geheimhaltung und die Furcht vor der Bloßstellung von Hitlers Kanzlei bedenkt, dann war das dilettantische Vorgehen der Fälscher eine ernsthafte Bedrohung für ein solches Geheimprojekt. Die Entscheidung, damit weiterzumachen, offenbart jedoch nicht nur Geldgier, sondern auch, dass sich die T4 von normalen bürokratischen Gepflogenheiten ausgenommen wähnte.

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Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 280-283; Schmidt, 1983, wie Anm. 26, S. 75. Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 263-283. DÖW, Akte 4608.

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Henry Friedlander

Noch bis lange Zeit nach Kriegsende trug die Chelm/Cholm-Täuschung dazu bei, dass das Schicksal behinderter Juden nicht aufgeklärt wurde. Doch es lässt sich eindeutig und unwiderlegbar beweisen, dass alle behinderten Juden in T4-Mordzentren in Deutschland ermordet wurden. Die Ermordung jüdischer Behinderter, die aus dem Sammellager in Berlin-Buch in das T4-Mordzentrum in Brandenburg verbracht wurden, kann hier als Beispiel dienen. Ein Augenzeugenbericht stammt von Herbert Kaiisch, der als Elektriker an der Aktion T4 mitgearbeitet hatte und 1960 und 1961 von der deutschen Staatsanwaltschaft vernommen wurde. Einmal begleitete er einen Patiententransport, von dem er angab, dass er „meines Wissens noch im Juni 1940" stattfand: „Mit 6 großen Reichsbahnomnibussen fuhren wir zu der Irrenanstalt Buch bei Berlin und holten dort etwa 100 Frauen mit Kindern und ungefähr 100 Männer ab, alles Angehörige der jüdischen Rasse (...) Der Transport ging nach Brandenburg an der Havel, zu dem in der Stadtmitte gelegenen alten Zuchthaus, das man zu einem Krematorium umgebaut hatte, da es leer stand. In diesem Zuchthaus angekommen, wurden die Personen nach Geschlecht getrennt und in Zellen untergebracht. Noch am selben Tag, sofort nach Ankunft, wurden jeweils immer etwa 20 Personen aus den Zellen geholt. Diese Personen mussten sich vollkommen nackt ausziehen, da man ihnen sagte, dass sie vor Verlegung zu einem anderen Bau baden und ungezieferfrei gemacht werden müssten. Zuerst hat man Frauen und Kinder für die bevorstehende Vergasung herangezogen. Um die kranken Menschen nicht zu beunruhigen, wurden sie von Ärzten oberflächlich untersucht und mussten anschließend in einen Raum treten, in welchem Holzpritschen standen und im Großen und Ganzen aussah wie ein Baderaum. Bevor jedoch die untersuchten Personen in diesen Raum gingen, bekamen sie einen Nummernstempel mit fortlaufender Nummer aufgedrückt. Wenn nun die vorgesehene Anzahl Personen in dem ,Baderaum' war, wurde die Türe verschlossen. An der Decke des Raumes waren in der Form von Brausen Installationen angebracht, durch welche man das Gas in den Raum ließ. Nach etwa 15 bis 20 Minuten wurde das Gas aus dem Raum abgelassen, da man durch den Spion festgestellt hatte, dass sämtliche Personen nicht mehr am Leben waren. Nun hat man aufgrund der aufgedrückten Nummern die Personen festgestellt, bei denen zuvor bei der Untersuchung festgestellt wurde, dass sie Goldzähne hatten. Den Toten wurden die Goldzähne herausgebrochen. Die Toten wurden anschließend von den in dem Zuchthaus stationierten SS-Leuten aus dem ,Baderaum' getragen und zum Verbrennungsofen gebracht. Noch am selben Tag wurde der ganze Transport auf diese Art und Weise beseitigt."33 Bei einer späteren Vernehmung ergänzte Kaiisch seine Aussage: „Bei dem Transport, der etwa im Juni in der Gaskammer des ehemaligen Zuchthauses in Branden-

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StA Stuttgart, Verfahren Albert Widmann, Ks 19/62 (19 Js 328/60), Vernehmung Herbert Kaiisch, Mannheim, 25. Januar 1960.

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bürg an der Havel vergast wurde, handelte es sich durchwegs um Juden und zwar meiner Schätzung nach im Alter von 18 bis 55 Jahren beiderlei Geschlechts."34 Kalischs Augenzeugenbericht ist nicht der einzige Beleg, dass jüdische Patienten in Brandenburg vergast wurden. Aufschluss gibt auch der Taschenkalender von Irmfried Eberl aus dem Jahr 1940, der den Krieg überstand. Als leitender Arzt in Brandenburg hielt Eberl die Ankunft zur Vergasung bestimmter Transporte fest und gab häufig die Zahl der Opfer an. Dabei machte er meist auch Angaben zur Zusammensetzung der Gruppe, indem er für Männer ein großes M, für Frauen ein F u n d für Juden ein J notierte. In diesem Kalender gibt es zahlreiche Eintragungen mit J, und einige davon decken sich genau mit den Fahrtlisten der uns bekannten Transporte. 35 Die Ermordung behinderter jüdischer Patienten, die ungefähr ein Jahr vor dem Beginn des Massenmords an den Juden in der besetzten Sowjetunion einsetzte, bildete ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der „Euthanasie" und der „Endlösung". Der 1940 auf höchster Ebene gefasste Beschluss zur Ermordung aller behinderten Juden, ungeachtet ihrer Konstitution im Einzelnen, wies schon auf die Entscheidung von 1941 voraus, alle Juden zu ermorden. Am 22. Juni 1941 überfiel die Deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Zugleich begann das nationalsozialistische Regime sein zweites, noch ehrgeizigeres Tötungsprogramm. Mobile SS- und Polizeieinheiten, die so genannten Einsatzgruppen, folgten den regulären Einheiten unmittelbar über die sowjetische Grenze und erschossen in den besetzten Gebieten bei Massenexekutionen unzählige Zivilisten.36 Ihre primäre Aufgabe war die Ermordung aller Juden auf sowjetischem Boden.37 Die Deutschen nannten die Ermordung der sowjetischen und später die aller Juden in ihrem Machtbereich „Endlösung der europäischen Judenfrage". Mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder wurden unter freiem Himmel erschossen.38 Aber die Einsatzgruppen ermordeten auch die „Zigeuner".39 Und sie ermor-

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StA Stuttgart, Verfahren Albert Widmann, Ks 19/62 (19 Js 328/60), Vernehmung Herbert Kaiisch, Mannheim, 4. März 1960. GStA Frankflirt, Irmfried Eberl Taschenkalender 1940. Auf den Titel gestempelt steht: „Dr. med. Irmfried Eberl, Berlin-Schöneberg, Innsbrucker Str. 34/1. Aufg./II, Fernruf 716279." Vgl. Krausnick, Helmut/ Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, 1938-1942, Stuttgart 1981, S. 173-205; Krausnick, Helmut, Judenverfolgung, in: Broszat, Martin/ Jacobsen, Hans-Adolf u.a., Anatomie des SS-Staates, Bd. 2: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, München 1967, S. 235-366. Vgl. Streim, Alfred, The Tasks of the SS Einsatzgruppen, in: Simon Wiesenthal Center Annual 4 (1987), S. 309-328; Krausnick, Helmut/ Streim, Alfred, Correspondence, in: Simon Wiesenthal Center Annual 6 (1989), S. 311-347. Vgl. Hilberg, Raul, The Destruction of the European Jews, New York 1985, S. 1219. Zu den „Zigeunern" vgl. Headland, Ronald, Messages of Murder. A Study of the Reports of the Einsatzgruppen of the Security Police an the Security Service 1941-1943, Rutherford 1992, S. 53 f, 63 f, 71, 114, 142, 157, 169; Rüter-Ehlermann, Adelheid L./ Rüter, Christiaan F. (Bearb.), Justiz und NS-Verbrechen (JuNSV), Amsterdam 1968-1989, Bd. 20, Nr. 588: LG Essen, 29 Ks 1/64, 29. März 1965; ZStL, Sammlung UdSSR, Bd. 245Ac, Bl. 318 (aus einem sowjetischem Bericht 1945).

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deten behinderte Menschen, was die Verbindung zum „Euthanasie'-Programm deutlich werden lässt.40 Der Generalquartiermeister der Wehrmacht, General Eduard Wagner, notierte im September 1941: „Russen sehen Geistesschwache als heilig an. Trotzdem Tötung notwendig."41 Es spricht sehr viel dafür, dass die Entscheidung zum Mord an den Juden demselben Muster folgte wie jene, Behinderte zu töten. Genauso wie bei den Maßnahmen gegen die Behinderten bemühten sich die für die Judenpolitik" verantwortlichen Stellen ständig um neue Herangehens- und Verfahrensweisen und konkurrierten untereinander, wer die radikalste Lösung fand. Manche argumentieren, dass diese Konkurrenzsituation zu Entscheidungen gefuhrt habe, die auch ohne Hitler gefallt worden wären.42 Aber die Belege für ein derartiges Szenario sind nicht besonders schlüssig. Stattdessen sind, wie im Fall der Aktion T4, die Argumente überzeugender, dass Hitler auch hier die treibende Kraft war und seine Mitarbeiter die Vorbereitungen treffen ließ, sich aber selbst die endgültige Entscheidung vorbehielt. Das Datum dieser Entscheidung, über das so viel diskutiert wurde, scheint dabei weniger wichtig. Aller Wahrscheinlichkeit nach gab Hitler einen mündlichen Befehl oder eine Ermächtigung zum Mord an den Juden und ernannte dann Heinrich Himmler zu seinem Beauftragten.43 Anders als bei der Aktion T4 verfasste er jedoch keine schriftliche Anweisung. Über die Gründe dafür muss man nicht lange spekulieren. Da schon zu viele Personen von Hitlers Anweisung zur „Euthanasie" erfahren hatten, wäre er aufgrund dieses weit verbreiteten Wissens zwangsläufig auch mit den neuen Morden in Verbindung gebracht worden; daher hat er sich offenbar geweigert, ein weiteres derartiges Dokument zu unterzeichen. Zudem konnte sein treuer Paladin Himmler kaum darauf bestehen, dass sein „Führer" mündliche Befehle noch einmal schriftlich niederlegte. Dennoch benötigte Reinhard Heydrich, dessen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Hitlers Befehl an Himmler auszufuhren hatte, eine schriftliche Anweisung, um andere Regierungsbehörden zur Kooperation zu bewegen. Deswegen bestätigte Hermann Göring mit einem Brief vom 31. Juli 1941 die Richtigkeit rückwirkend.44 Ebenso wie Hitler den Brief an Brandt und Bouhler mit der Ermächtigung zur „Euthanasie" nicht selbst verfasst, sondern lediglich unterschrieben hatte, hat Göring den von Heydrich vorbereiteten und beantragten Erlass nicht selbst initiiert, sondern nur unterzeichnet.45 40

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Zu den Behinderten vgl. U.S. Military Tribunal, Transcript of the Proceedings in Case 1, Bl. 2545-2547; Nürnberger Dok. H 8 0 : Einsatzgruppe A Gesamtbericht bis zum 15. Oktober 1941 (StahleckerBericht), Bl. 37. Nürnberger Dok. NO-1758. Vgl. Mommsen, Hans, Die Realisierung des Utopischen. Die .Endlösung der Judenfrage' im Dritten Reich, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 381-420; Aly, Götz, „Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995. Vgl. Fleming, Gerald, Hitler and the Final Solution, Berkeley 1984. Nürnberger Dok. PS-710, NG-2586: Hermann Göring an Reinhard Heydrich, 31. Juli 1941. Vgl. Hilberg, 1985, wie Anm. 38, S. 401.

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Die Ermordung der Behinderten ging dem Mord an Juden und Zigeunern voraus, was den Schluss nahe legt, dass die T4-Mordaktion als Modell fiir die „Endlösung" diente. Der Erfolg der „Euthanasie"-Maßnahmen überzeugte die Führungsriege der Nationalsozialisten, dass der Massenmord technisch möglich war, dass ganz normale Männer und Frauen dazu bereit waren, unzählige unschuldige Menschen zu töten und dass auch die Beamtenschaft bei einem solchen beispiellosen Unternehmen mitwirken würde. Allerdings hatte das Regime auch gelernt, dass ein Massenmord auf deutschem Boden problematisch sein würde, weil die öffentliche Meinung gegenüber einer derartig radikalen Verletzung des Rechts unruhig würde. Daher wurde der Massenmord an Juden und Zigeunern nach Osten verlagert, nach Polen und in die besetzten Teile der Sowjetunion. Massenmord durch Hinrichtung, wie er zunächst im Osten praktiziert wurde, erwies sich als viel zu auffällig. Die Täter mussten also besser geeignete Methoden finden. Schließlich erkannten auch Himmlers Leute, genau wie vor ihnen die T4Organisatoren, dass es viel effizienter und weniger auffallig war, die Opfer an einer zentralen Mordstätte zu versammeln. Danach war es nur konsequent, dass diese Stätten nach dem Model der T4-Zentren organisiert würden. In welchem Ausmaß sich die Verantwortlichen der „Endlösung" am T4-System orientierten, wird durch die Verwendung des Begriffs Brachche Hilfsmittel deutlich, wenn man unter Bezug auf den maßgeblichen Organisator der Aktion T4 den Einsatz von Gaskammern besprach.46 Erbaut in Chelmo (deutsch Kulmhof) im ehemals polnischen, jetzt annektierten und Wartheland genannten Gebiet, war das erste Mordzentrum der „Endlösung" seit Dezember 1941 funktionstüchtig. Obwohl es kein mobiles Mordzentrum war, kamen dort zur Vergasung Lkws zum Einsatz, bei denen Auspuffabgase in das Wageninnere geleitet und so die Opfer getötet wurden. Um seine im T4-Einsatz erworbene Erfahrung zu nutzen, wurde Herbert Lange, der zum Mord an Behinderten aus dem Wartheland und aus Ostpreußen bereits Lastwagen verwendet hatte, zum Leiter des Mordzentrums Chelmo ernannt. Dort wurden etwa 150.000 Juden vergast.47 Zur selben Zeit beauftragte Himmler Odilo Globocnik, den SS- und Polizeifuhrer im Distrikt Lublin, mit dem Mord an den polnischen Juden; ein Unternehmen, das später zu Ehren des bei einem Attentat getöteten Reinhard Heydrich „Aktion Reinhard" genannt wurde. Um diesen Auftrag zu erfüllen, ließ Globocnik drei Mordzentren im Generalgouvernement errichten - Belzec, Sobibor und Treblinka. Sie wurden nacheinander im Frühjahr und Sommer 1942 fertig gestellt. Anders als in

46

Nürnberger Dok. NO-365: Alfred Wetzel an Heinrich Lohse, 25. Oktober 1941; auch Nürnberger Dok. NO-997: Reichsminister fiir die besetzten Ostgebiete an Lohse, Entwurf, Oktober 1941. 47 JuNSV, Band 21, Nr. 594: LG Bonn, 8 Ks 3/62, 30. März 1962 (Strafsache Chelmo); Rückerl, Adalbert, NS-Verbrechen vor Gericht, Heidelberg 1982, S. 243-294; Hilberg, 1985, wie Anm. 38. S. 1219.

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Chelmo verfugten die Lager der Aktion Reinhard über fest installierte Gaskammern, in denen das Gas von einem Dieselmotor in die Kammern befördert wurde.48 Um seine Aufgabe zu bewältigen, wandte sich Globocnik an die Kanzlei des Führers und ersuchte um T4-Unterstützung. Im September 1941 reisten Bouhler und Brack zu Globocnik nach Lublin, wo sie vermutlich die zukünftige Zusammenarbeit besprachen.49 Im Winter 1941/42 besuchte dann eine ganze Reihe von T4Leuten Lublin, und ihre Aufenthalte standen ohne Zweifel mit dem Bau der Mordzentren in Verbindung. Der T4-Chemiker Helmut Kallmayer kam im Januar oder Februar 1942 nach Lublin. Christian Wirth, ein Polizist aus Stuttgart, der als Mann fürs Grobe in T4-Mordzentren eingesetzt wurde, hielt sich im Spätherbst oder zu Winteranfang 1941 ebenfalls in Lublin auf 50 Erwin Lambert, der als Maurermeister bereits den Bau der T4-Gaskammern in Deutschland geleitet hatte, kam drei Mal in das Generalgouvernement, um die Gaskammern in Treblinka und Sobibor zu bauen; daneben beaufsichtigte er die Bauarbeiten in mehreren in der Nähe gelegenen Zwangsarbeitslagern.51 Die Kanzlei des Führers unterstützte Globocnik nicht nur mit fachmännischem Rat bei Planung und Bau von Mordzentren. Weil Globocnik Personal benötigte, übertrug er T4-Mitarbeitern auch den Betrieb der Mordzentren der Aktion Reinhard. In der zweiten Aprilhälfte beriet sich Globocnik mit Bouhler und Brack in Berlin, und wahrscheinlich klärten sie dabei die noch offenen Fragen hinsichtlich der Rolle der Kanzlei des Führers. Zuletzt bestand beinahe die gesamte deutsche Besetzung in den Vernichtungslagern der Aktion Reinhard aus T4-Personal. Die erste Gruppe wurde im April, weitere T4-Mitarbeiter im Juni 1942 nach Osten entsandt; insgesamt waren mindestens 90 T4-Leute in Belzec, Sobibor und Treblinka eingesetzt. Irmfried Eberl, leitender Arzt in Brandenburg und später in Bernburg, war kurzzeitig erster Kommandant in Treblinka und Christian Wirth war Aufseher in allen drei Mordzentren der Aktion Reinhard.52 Die Mordzentren, die von den T4-Mitarbeitern in der Region Lublin geleitet wurden, orientierten sich an ihren deutschen Vorbildern. Aber die in jeder Hinsicht gewaltigeren Dimensionen führten zu Umständen, die wesentlich schlimmer waren als die in Deutschland. Obwohl auch die „Euthanasie"-Morde innerhalb Deutschlands zur Verrohung und Korruption des Personals gefuhrt hatten, hatte es in der Heimat doch noch mäßigende Einflüsse auf die Mörder gegeben. Im Osten jedoch fielen sämtliche Hemmungen, was auch daran lag, dass die schiere Zahl der Opfer die Vernichtungsmaschinerie überforderte. Schätzungen zufolge wurden in Treb-

48 49 50 51 52

Vgl. Rückerl, Adalbert, NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse, München 1977, S. 87242. U.S. Military Tribunal, Transcript of the Proceedings in Case 1, 7514 (Aussage Viktor Brack). LG Hagen, Urteil Werner Dubois, 11 Ks 1/64, 20. Dezember 1966, Bl. 35-36; vgl. auch Browning, Christopher, Fateful Months. Essays on the Emergence of the Final Solution, New York 1985, S. 30 f. LG Hagen, Urteil Dubois, 11 Ks 1/64, 20. Dezember 1966, Bl. 268-273. Vgl. Rückerl, 1977, wie Anm. 48, S. 117 £; Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 284-302.

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linka 900.000 Juden vergast, in Belzec 600.000 und in Sobibor 250.000.53 Der Sadismus, die Quälerei und die Korruption nahmen bis dahin unvorstellbare Ausmaße an. Jahre später bezeichnete ein amerikanischer Richter eines dieser Lager als „Menschenschlachthof'. 54 Selbst Bouhler zeigte sich beunruhigt, dass durch „die völlige Entwürdigung und Verrohung der beteiligten Personen" das nach Lublin abgestellte T4-Personal für die weitere „Euthanasie" innerhalb der Reichsgrenzen nicht mehr verwendungsfähig wäre.55 Weil das Morden solch ungeheure Ausmaße annahm, beschloss Himmler, einige seiner Konzentrationslager zu Mordzentren machen. Dazu wählte er das neu errichtete Lager in Auschwitz (Oberschlesien) und das so genannte Kriegsgefangenenlager in Majdanek, einem Vorort von Lublin, aus. Die Lager Auschwitz und Majdanek blieben jedoch weiterhin bei der Inspektion der Konzentrationslager, nur übernahmen sie zusätzlich zu ihren anderen Funktionen als Konzentrationslager auch den Betrieb eines Mordzentrums. In Auschwitz lag dieses in Birkenau, das auch als Auschwitz II bezeichnet wurde. Das dort zur Tötung der Häftlinge eingesetzte Mittel unterschied sich von dem anderer Mordzentren, da die SS in Auschwitz Kohlenmonoxid durch Cyanwasserstoff ersetzte. Dieser war unter seinem Handelsnamen Zyklon B als Schädlingsbekämpfungsmittel bekannt und wurde bereits in allen Konzentrationslagern eingesetzt, um die Lagerunterkünfte zu entlausen. In Birkenau gestaltete die SS die flir die „Euthanasie" entwickelte Methode des Mordens noch effizienter. Sie führte das schneller wirksame Zyklon B ein und baute eine Todesfabrik, in der Gaskammern und Verbrennungsöfen in einem Gebäude zusammengefasst waren. Die SS untersuchte und selektierte die Häftlinge nach deren Arbeitsfähigkeit, so dass vor der Ermordung noch die Arbeitskraft ausgebeutet werden konnte. In Auschwitz-Birkenau und auch in Majdanek war die SS nicht auf Unterstützung durch T4-Spezialisten angewiesen. Das T4-Verfahren war eine im Grunde sehr einfache deutsche Erfindung, das auch von jeder anderen Organisation erlernt und angewendet werden konnte. In den Konzentrationslagern gab es für das mörderische Tun sowohl die geeignete Organisation als auch das Personal mit der Bereitschaft zu rücksichtsloser Grausamkeit. Ungefähr 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz vergast, darunter vermutlich mindestens eine Million Juden. 56 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Auschwitz zum Symbol für den Völkermord im 20. Jahrhundert geworden. Aber Auschwitz war nur das letzte, am weitesten perfektionierte Mordzentrum der Nationalsozialisten. Das gesamte mörderische Unter53 54 55 56

Vgl. Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 287. Fedorenko v. United States, 449 U.S. 490, 493 (1981). U.S. Military Tribunal, Transcript of the Proceedings in Case 1, 7516 (Aussage Viktor Brack). Vgl. Piper, Franciszek, Die Zahl der Opfer von Auschwitz, aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990, Oswiecim 1993; Hilberg, Raul, The destruction of the European Jews, 3. Aufl., New Haven 2003, S. 1320.

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nehmen hatte bereits im Januar 1940 mit der Tötung der hilflosesten aller Menschen begonnen, den in Heimen lebenden Behinderten. 1941 wurde es dann auf die Ermordung von Juden und Zigeuner ausgedehnt. Bis 1945 kostete es die Leben von mindestens sechs Millionen Männern, Frauen und Kindern.

Angelika Ebbinghaus

Mediziner vor Gericht

1. Zur politischen und juristischen Vorgeschichte Die Forderung, diejenigen zu bestrafen, die während des Zweiten Weltkriegs so viel Unheil über Europa gebracht hatten, kam nicht erst 1945 auf. Bereits nach der Besetzung der Tschechoslowakei und Polens wurde die Ahndung der von den Deutschen begangenen Kriegsverbrechen gefordert. Im Januar 1942 wurde auf einer Konferenz in London ein erstes Programm zur Verfolgung von Kriegsverbrechern formuliert. Diese Erklärung von St. James bezeichnete die Bestrafung der für die Verbrechen Verantwortlichen als ein wichtiges Kriegsziel. Im Oktober des gleichen Jahrs gründeten 17 Nationen die United Nations War Crimes Commission (UNWCC). Im November 1943 gaben Großbritannien, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in einer gemeinsamen „Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa" bekannt, dass nach dem Abschluss eines Waffenstillstandes alle diejenigen zur Verantwortung gezogen werden sollten, die sich Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit 1 schuldig gemacht hatten. Mit dieser Erklärung war der Weg zur Bestrafung der NS-Täter geebnet. Rechtliche Grundlage für die Einsetzung alliierter Militärgerichte war das von den vier Besatzungsmächten am 20. Dezember 1945 verabschiedete Kontrollratsgesetz Nr. 10, das auf der Basis der Moskauer Deklaration von 1943 und des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen regelte. Der Artikel II dieses Kontrollratsgesetzes besagte, dass jeder angeklagt werde, der als Täter oder Beihelfer - sei es auch nur durch Zustimmung - Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit als Planungsteilnehmer oder unmittelbar begangen oder einer Organisation angehört hat, die mit den Verbrechen in Zusammenhang stand. Verfolgt werden sollten: Verbrechen gegen den Frieden, die Vorbereitung sowie Durchfuhrung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und die Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation.2

1 2

Auch wenn humanity meist mit Menschlichkeit übersetzt wird, scheint mir der Begriff Menschheit zutreffender. Vgl. Mikrofiche Edition zum Ärzteprozess, Abtl. 1 (1.1.-1.19.) Juristische Grundlagen, in: Dörner, Klaus/ Ebbinghaus, Angelika/ Linne, Karsten (Hg.), Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld, Erschließungsband zur MikroficheEdition, München 2000, S. 186.

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Angelika Ebbinghaus

Bevor man jedoch diese Prozesse fuhren konnte, mussten die Voraussetzungen für sie geschaffen werden. Die Verbrechen mussten weitgehend aufgedeckt, die Täter ermittelt, gegebenenfalls gesucht, verhaftet und schließlich verhört werden. Zeugen mussten benannt, gefunden und befragt, Beweismaterial sichergestellt und gesichtet werden. Dann erst konnte entschieden werden, ob das Beweismaterial für eine Anklage ausreichend war. Die Alliierten waren schon während des Kriegs über viele Kriegs- und Menschheitsverbrechen informiert. Sie hatten Kenntnisse über den Mord an psychisch kranken und behinderten Menschen und den europaweit organisierten Mord an den Juden. Auch über die Menschenversuche in den Konzentrationslagern wussten sie Bescheid, denn Häftlinge hatten ihr Wissen über diese Versuche an Widerstandsorganisationen weiter gegeben. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg sollten die Deutschen dieses Mal für das, was sie angerichtet hatten, büßen. Die Alliierten wollten sich aber auch einen Ausgleich für die eigenen Kriegskosten sichern, indem sie sich neben den vielfältigen Reparationsregelungen umfassende Informationen über sämtliche modernen Technologien und Entwicklungen aus allen Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft beschafften. In erster Linie war man an den Ergebnissen der deutschen Kriegsforschung interessiert. Für diesen Zweck stellten die Alliierten spezielle Untersuchungsteams mit Experten zusammen, die über gründliche wissenschaftliche und technische Kenntnisse verfügten.3 Diese Experten, die mit den Truppen der Alliierten nach Deutschland kamen, verhörten unzählige deutsche Wissenschaftler und Techniker, die in wissenschaftlichen Einrichtungen oder in Wirtschaftsunternehmen gearbeitet hatten. An Hand der zahlreichen BIOS-, CIOS- und FIAT-Berichte, die 1945 und 1946 verfasst wurden, lässt sich verfolgen - und deshalb werden sie hier erwähnt - , wie sich in einer Art Nebeneffekt auch das Bild der Alliierten über die medizinischen Verbrechen schrittweise verdichtet hat.4 Auch die Opfer haben dazu beigetragen, dass die medizinischen Verbrechen verfolgt werden konnten. In den befreiten Vernichtungs- und Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück, Dachau und Buchenwald bildeten sich Häftlingsgruppen, die die Bestrafung der Mediziner und ihrer Helfer sowie eine Entschädigung der Opfer forderten. Am 4. März 1945 verlangten überlebende Häftlinge von Auschwitz, nicht selten selbst Ärzte oder medizinisch ausgebildet, in einem internationalen Aufruf, dass die Verantwortlichen für die Menschenversuche zur Rechenschaft

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Die BIOS (British Intelligence Operations Servives) und die FIAT (Field Information Agencies / T e c h nical), die dann in die amerikanischen und britischen CIOS (Combined Intelligence Operations Services) aufgegangen sind. Vgl. Dokumente und Materialien zur Vorgeschichte, zum Hintergrund und zu den Auswirkungen des Nürnberger Ärzteprozesses, zusammengestellt von Karl Heinz Roth unter Mitarbeit von Ulf Schmidt und Paul Weindling, in: Dörner, Klaus/ Ebbinghaus, Angelika/ Linne, Karsten (Hg.), Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld, Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition, München 2000, S. 277-307.

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gezogen werden sollten. Im Juni 1945 organisierten überlebende Dachauer Gefangene das International Investigation-Office for Medical SS-Crimes in the German Concentration Camps, Dachau: Auch sie forderten die Bestrafung der Täter und die Entschädigung der Opfer. Überlebende des KZ Buchenwald informierten die Alliierten und die Öffentlichkeit ebenfalls über Menschenversuche, insbesondere die dort durchgeführten Fleckfieberversuche. Besonders aktiv waren die Frauen, die die kriegschirurgischen Experimente im KZ Ravensbrück überlebt hatten. Sie berichteten dem Schwedischen und Polnischen Roten Kreuz über die Torturen, die sie hatten erleiden müssen. Der britische Pathologe Keith Mant befragte die überlebenden Frauen des KZ Ravensbrück ausführlich und dokumentierte ebenso wie die Polnische Hauptkommission zur Untersuchung der Hitlerverbrechen die Aussagen der Opfer.5 Als die Alliierten aufgrund der Aussagen der Opfer und eigener Ermittlungen das ganze Ausmaß der medizinischen Verbrechen erkannten, setzten sich insbesondere ihre medizinischen Experten dafür ein, diese „medizinischen Verbrechen" zu untersuchen und die Täter zu bestrafen. Der Nürnberger Ärzteprozess war eine Konsequenz dieser Bemühungen. Auch für viele Gruppen des deutschen Widerstands war ein gesellschaftlicher Neuanfang in Deutschland ohne die Ahndung der NS-Verbrechen, die Bestrafung der NS-Täter und die Entschädigung der Opfer nicht vorstellbar. Insbesondere der Kreisauer Kreis hat sich früh mit der rechtlichen Problematik der Bestrafung der NS-Täter auseinandergesetzt. Für ihn galt das strafrechtliche Rückwirkungsverbot ebenso wie die Verantwortlichkeit der Täter, und sie waren sich auch der juristischen Problematik einer Unterscheidung zwischen Täterschaft und Beihilfe bewusst. Die öffentliche Achtung der Täter und ihrer Taten sahen sie als Voraussetzung eines gesellschaftlichen Neuanfangs: „Wer wesentliche Grundsätze des göttlichen und natürlichen Rechts, des Völkerrechts oder des in der Gemeinschaft der Völker überwiegend übereinstimmenden positiven Rechts in einer Art bricht, die erkennen lässt, daß er die bindende Kraft dieser Rechtssätze freventlich missachtet", sei als Rechtsschänder zu bestrafen.6

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Vgl. Weindling, Paul, Was wussten die Alliierten während des Krieges und unmittelbar danach über die Menschenversuche in deutschen Konzentrationslagern?, in: Ley, Astrid (Hg.), Gewissenlos, gewissenhaft. Menschenversuche im Konzentrationslager, Erlangen 2001, S. 52-66; Weindling, Paul, Zur Vorgeschichte des Arzteprozesses, in: Ebbinghaus, Angelika/ Dömer, Klaus (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Arzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 26-47; Dokumente und Materialien, 2000, wie Anm. 4, S. 278-281. Zit. n. Steinbach, Peter, NS-Prozesse nach 1945. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - Konfrontation mit der Wirklichkeit, in: Benz, Wolfgang (Hg.), Gericht und Gerechtigkeit, Dachau 1997, S. 3-26, hier S. 5; Ebbinghaus, Angelika, Neue Initiativen. Der Kreisauer Kreis, in: Roth, Karl H e i n z / Ebbinghaus, Angelika (Hg.), Rote Kapellen - Kreisauer Kreise - Schwarze Kapellen. Neue Sichtwiesen auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur 1938-1945, Hamburg 2004, S. 69-90.

206

Angelika Ebbinghaus

2. Prozesse gegen KZ-Ärzte Von den Alliierten wurden - abgesehen vom Nürnberger Ärzteprozess - in erster Linie Mediziner und Medizinerinnen angeklagt, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern tätig gewesen waren; nach den Forschungen von Ernst Klee waren insgesamt 266 Arzte in KZs tätig.7 Nach der Befreiung der Lager wurden einige von ihnen zusammen mit dem restlichen Lagerpersonal festgenommen und mussten sich vor amerikanischen, britischen oder französischen Militärgerichten sowie vor polnischen und sowjetischen Gerichten für ihre Taten verantworten. Viele waren jedoch geflohen oder untergetaucht, einige hatten sich das Leben genommen. Die Mediziner, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern tätig waren, waren Teil des KZ-Systems. Das Amt D III der Dienststelle „Inspekteur der KL" im SS-Führungshauptamt war für das Sanitätswesen und die Lagerhygiene zuständig. Amtschef war SS-Standartenführer Dr. Enno Lolling. Ihm waren in den KZ-Verwaltungen jeweils die Abteilung IV (Sanitätswesen und Lagerhygiene) zugeordnet. An der Spitze des Ärztlichen Dienstes der Konzentrationslager stand jeweils der SSStandortarzt. Ihm waren Truppenärzte für das SS-Personal und Lagerärzte für die Häftlinge unterstellt. Die Leitung des Häftlingskrankenbaus hatte ein SS-Arzt inne. Ihm unterstand ein SS-Angehöriger als Sanitätsdienstgrad. Jeder Häftlingskrankenbau hatte einen eigenen Lagerältesten, der aus den Reihen der Häftlinge kam, und jede Baracke des KZ-Reviers einen Blockältesten, ebenfalls ein Häftling. An den Häftlingskrankenbau war ein so genanntes Ambulatorium angegliedert, das meist von kriminellen Häftlingen kontrolliert wurde. Die Aufgaben der an Verbrechen beteiligten Mediziner in den Konzentrationsund Vernichtungslagern waren vielfaltig, die Ärzte des KZ-Systems buchstäblich Herr über Leben und Tod: - Die Mediziner selektierten die Häftlinge nach dem Kriterium ihrer Arbeitsfähigkeit. Sie entschieden darüber, welcher Arbeit oder welchem Außenkommando sie zugeteilt wurden; die Mediziner entschieden, ob ein Häftling in den Häftlingskrankenbau eingeliefert wurde, nicht weil er etwa behandlungsbedürftig, sondern weil er nicht mehr arbeitsfähig war. Diese Entscheidung kam für die Betroffenen, eben weil es für sie keine medizinische Behandlung gab, meist einem Todesurteil gleich. In den Krankenrevieren herrschten katastrophale Zustände: Seuchen, Schmutz und Hunger. Adäquate medizinische Behandlung gab es nicht. - In den Vernichtungslagern standen Mediziner an der Rampe und selektierten die ankommenden Menschen nach Arbeitsfähigkeit und Nicht-Arbeitsfähigkeit.

7

Vgl. Klee, Ernst, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main 1997, S. 49-59; siehe auch Dirks, Christian, „Die Verbrechen der anderen". Auschwitz und der Auschwitzprozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer, Paderborn 2006, S. 84-148.

Mediziner vor Gericht

-

-

207

Nicht-Arbeitsfähigkeit hieß hier, dass die Menschen direkt in den Tod, in die Gaskammer, geschickt wurden. Mediziner überwachten Folter und Misshandlungen. Sie waren auch bei den Hinrichtungen anwesend. KZ-Ärzte töteten auch selbst. Beispielsweise „spritzten" sie, so der Lagerjargon, Häftlinge, die als krank und arbeitsunfähig galten, „ab". „Abspritzen" bedeutete, dass die Menschen mit einer Phenol-, Luft- oder einer Giftinjektion getötet wurden. KZ-Zahnärzte sorgten dafür, dass den toten Häftlingen die Goldzähne heraus gebrochen wurden. KZ-Mediziner misshandelten oder töteten Häftlinge oftmals selbst. KZ-Mediziner missbrauchten Häftlinge als menschliche Versuchskaninchen für medizinische Experimente und für Versuche, die unter diesem Label firmierten.

Die nachfolgenden Aufstellungen geben einen rein quantitativen Uberblick über jene Prozesse, in denen vor allem ehemalige KZ-Arzte für ihre Untaten von amerikanischen8 und britischen9 Gerichten zur Rechenschaft gezogen wurden. Mediziner mussten sich auch vor französischen Militärgerichten10, polnischen11 und sowjetischen12 Gerichten verantworten, wenn auch in wesentlich geringerer Anzahl.

8

Siehe Tab. 1; Sigel, Robert, Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945-1948, Frankfurt am Main 1992; die Ergebnisse der Tagung „Die Dachauer Prozesse 1945-1948" werden 2007 im Wallstein Verlag veröffentlicht; Buscher, Frank M., Bestrafen und Erziehen. „Nürnberg" und das Kriegsverbrecherprogramm der USA, in: Frei, Norbert (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen, 2006, S. 94-139. 9 Siehe Tab. 2; KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Die frühen Nachkriegsprozesse, Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 3, Bremen 1997; Bloxham, Donald, Pragmatismus als Programm. Die Ahnung deutscher Kriegsverbrechen durch Großbritannien, in: Frei, Norbert (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 140-179. 10 Die Professoren Eugen Haagen und Otto Bickenbach, die im KZ Natzweiler Häftlinge zu besonders grausamen Versuchen für die Giftgasforschung missbraucht hatten, mussten sich vor einem französischen Militärgericht verantworten. Die erste Verhandlung fand 1952 in Metz und die Revisionsverhandlung 1954 in Lyon statt. In der Revisionsverhandlung wurde die gegen beide ausgesprochene lebenslange Haftstrafe auf 20 Jahre herabgesetzt. Beide wurden jedoch 1955 begnadigt. Siehe auch: Moisel, Claudia, Resistance und Repressalien. Die Kriegsverbrecherprozesse in der französischen Zone und in Frankreich, in: Frei, Norbert (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 247-282. 11 Die im Vernichtungslager Auschwitz tätigen Ärzte Prof. Paul Kremer und Erwin Helmersen wurden von polnischen Gerichten verurteilt. Helmersen, von August bis Dezember 1943 Lagerarzt in Auschwitz, wurde am 12.4.1949 hingerichtet. Die Todesstrafe gegen Paul Kremer, der vom 29.8 bis zum 18.11.1942 in Auschwitz die Ankommenden für die Gaskammern selektiert und Häftlinge zu Hungerversuchen missbraucht hatte, wurde nicht vollstreckt. 1958 wurde er aus der Haft in die BRD entlassen und erneut vor Gericht gestellt (siehe Tab. 4); Borodziej, W?odzimiers, „Hitlerische Verbrechen". Die Ahndung deutscher Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Polen, in: Frei, Norbert (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 399-437. 12 Von einem sowjetischen Militärtribunal in Berlin-Pankow wurde Heinz Baumkötter, Lagerarzt im KZ Sachsenhausen, am 31.10.1947 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. 1956 wurde er in die Bundes-

208

Angelika Ebbinghaus

Tabelle 1: Mediziner vor US-amerikanischen Militärgerichten 13

US-amerikan. Militärgerichte

Tatkomplex

Wiesbaden

Anstalt Hadamar 15.10.1945 Wahlmann, Adolf

Urteil

Name, Vorname

Strafmaß

Vollstreckung

Lebenslang

Siehe Tab. 3

Dachau Dachauer KZ Dachau Hauptprozess

13.12.1945 Eisele, Todesurteil Hans Kurt (s. BuchenwaldProzess)

Begnadigung; Entlassung 19.02.1952

Dachau Dachauer KZ Dachau Hauptprozess

13.12.1945 Hintermayer, Fritz

Todesurteil

Hinrichtung 29.05.1946

Dachau Dachauer KZ Dachau Hauptprozess

13.12.1945 Puhr, Fridolin

Todesurteil

Begnadigung; Entlassung 20.04.1950

Dachau Dachauer KZ Dachau Hauptprozess

13.12.1945 Schilling, Claus Prof!

Todesurteil

Hinrichtung 28.05.1946

Dachau Dachauer KZ Dachau Hauptprozess

13.12.1945 Witteler, Wilhelm

Todesurteil

Begnadigung; Entlassung 13.03.1954

Dachau Mauthausen Prozess

KZ Mauthausen

13.05.1946 Krebsbach, Eduard

Todesurteil

Hinrichtung 28.05.1947

Dachau Mauthausen Prozess

KZ Dachau

13.05.1946 Wolter, Waldemar

Todesurteil

Hinrichtung 28.05.1947

Dachau Mauthausen Prozess

KZ Mauthausen

13.05.1946 Entress, Friedrich

Todesurteil

Hinrichtung 28.05.1947

Dachau Mauthausen Prozess

KZ Mauthausen

13.05.1946 Jobst, Willi

Todesurteil

Hinrichtung 28.05.1947

republik abgeschoben und musste sich vor dem LG Münster erneut verantworten (siehe Tab. 4). Prof Carl Clauberg, der in Auschwitz an Frauen Sterilisierungsversuche durchgeführt hatte, wurde 1948 von einem Moskauer Gericht zu 25 Jahren Haft verurteilt. 1955 wurde er in die Bundesrepublik frei gelassen, aber noch im gleichen Jahr erneut verhaftet. Er starb in Untersuchungshaft; Hilger, Andreas, „Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf"? Die Bestrafung deutscher Kriegs- und Gewaltverbrecher in der Sowjetunion und der SBZ/DDR, in: Frei, Norbert (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 180-246. 13 Die Tabellen 1 und 2 sind u.a. zusammengestellt aus: Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2005; Ebbinghaus, Angelika/ Roth, Karl Heinz, Kurzbiographien, in: Dörner, Klaus/ Ebbinghaus, Angelika/ Linne, Karsten (Hg.), Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld, Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition, München 2000, S. 71-158; Oppitz, Ulrich-Dieter, Medizinverbrechen vor Gericht. Das Urteil im Nürnberger Ärzteprozess gegen Karl Brandt und andere sowie aus dem Prozess gegen Generalfeldmarschall Milch, Erlangen, Jena 1999, S. 64-71.

Mediziner vor Gericht

209

US-amerikan. Militärgerichte

Tatkomplex

Urteil

Strafmaß

Vollstreckung

Dachau Mauthausen Prozess

KZ Mauthausen

13.05.1946 Höhler, Walter (Zahnarzt)

Todesurteil

Begnadigung; Entlassung 05.04.1950

US-Militärgericht

KZ Mauthausen

12.08.1947 Vetter, Hellmuth

Todesurteil

Hinrichtung 02.02.1949

Dachau Mühldorf Prozess

KZ Mauthausen AL Mühldorf

13.05.1947 Flocken, Erika

Todesurteil

Begnadigung; Entlassung 29.4.1957

Dachau Buchenwald Prozess

KZ Buchenwald

14.08.1947 Eisele, Hans (s. DachauProzess)

Todesurteil

Begnadigung; Entlassung 19.02.1952

Dachau Buchenwald Prozess

KZ Buchenwald

14.08.1947 Greunuß, Werner

Lebenslang

Reduziert auf 20 Jahre Haft

Dachau Buchenwald Prozess

KZ Buchenwald

14.08.1947 Katzenellenbogen, Edwin

Lebenslang

Reduziert auf 12 Jahre Haft

Nürnberg WVHA-Prozess

Waffen SS Chefzahnarzt

03.11.1947 Pook, Hermann

lOJahre

Entlassung 01.02. 1951

Nürnberger Arzteprozess

„Euthanasie"; 20.08.1947; 23 Angeklagte; Urteil: 7 x Todesurteil; 5 x Menschenversu- lebenslang; 1 x 20Jahre; 1 x 15Jahre; 1 x lOJahre Haft u. 8 che, Verbrech. Freisprüche. Org.

Name, Vorname

210

Angelika Ebbinghaus

Tabelle 2: Mediziner vor britischen Militärgerichten

Brit Militärgerichte

Tatkomplex

Urteil

Name, Vorname

Strafmass

Vollstreckung

Hamburg

K Z Auschwitz

03.05.1946

Rohde, Werner

Todesurteil

Hinrichtung 11.10.1946

Hamburg

K Z Neuengamme

03.05.1946

Kitt, Bruno

Todesurteil

Hinrichtung 08.10.1946

Hamburg

K Z Neuengamme

03.05.1946

Trzebinski, Alfred

Todesurteil

Hinrichtung 08.10. 1946

Hamburg

KZ BergenBelsen

17.11.1946

Klein, Fritz

Todesurteil

Hinrichtung 13.12.1945

Hamburg

K Z Ravensbrück

02.01.1947

Hellinger, Martin (Zahnarzt)

15 Jahre Haft Entlassung 14.05.1955

Hamburg

KZ Ravensbrück

03.02.1947

Rosenthal, Rudolf

Todesurteil

Hinrichtung 03.05.1947

Hamburg

KZ Ravensbrück

03.02.1947

Schiedlausky, Gerhard

Todesurteil

Hinrichtung 03.05.1947

Hamburg

KZ Ravensbrück

03.02.1947

Treite, Percival Todesurteil

Suizid 09.04.1947

Loibl Pass Prozess

KZ Mauthausen

10.10.1947

Ramsauer, Sigbert

Lebenslang

Entlassung 01.04.1954

Hamburg

KZRavensbrück

04.06.1948

Sonntag, Walter

Todesurteil

Hinrichtung 17.09.1948

Hamburg

KZRavensbrück

04.06.1948

Orendi, Benno

Todesurteil

Hinrichtung 17.09.1948

Mediziner vor Gericht

211

3. Die „Euthanasie"-Prozesse: ein quantitativer Überblick Da die Alliierten sich auf die Verfolgung von Straftaten beschränkten, die Deutsche gegen Staatsangehörige ihrer Länder verübt hatten und die von Deutschen an Deutschen verübten Verbrechen ausklammerten, wurde die Ahndung der Patien tenmorde sehr früh deutschen14 und österreichischen15 Gerichten überlassen. Die meisten „Euthanasie'-Prozesse fanden in den Jahren 1946 bis 1951 vor deutschen Gerichten in den Westzonen statt. In diesen Jahren wurden 15 Arzte und Arztinnen wegen der Ermordung von Patientinnen und Patienten in den Anstalten MeseritzObrawalde, Eichberg, Kalmenhof, Hadamar, Waldniel, Grafeneck, Vilbiburg, Kaufbeuren, Irrsee, Eglfing-Haar und Anstalten in Baden angeklagt und verurteilt. Fünfmal wurde die Todesstrafe verhängt und gegen die Arztin Hilde Wernicke auch vollstreckt. In den anderen Fällen mussten die Verurteilten ihre Strafen nicht vollständig verbüßen und wurden begnadigt. In den 1960er Jahren gab es noch zwei „Euthanasie"-Verfahren16 und 1988 fand der letzte langjährige Prozess wegen der Ermordung von Patienten in der Anstalt Bernburg mit einem Urteil des Bundesgerichtshofs seinen Abschluss. 17

14

Siehe Tab. 3 und 4; Weinke, Annette, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002; Wieland, Günther, Naziverbrechen und deutsche Strafjustiz, Berlin 2004; Hohmann, Joachim S., Der „Euthanasie"-Prozeß Dresden 1947. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation, Frankfurt am Main 1993; Dirks, Christian, Die Verbrechen der anderen. Auschwitz und der Auschwitz-Prozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer, Paderborn 2006; Hohmann, Joachim S./ Wieland, Günther, MfS-Operatiworgang „Teufel". „Euthanasie"-Arzt Otto Hebold vor Gericht, Berlin 1996; Weinke, Annette, „Alliierter Angriff auf die nationale Souveränität"? Die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, der DDR und Osterreich, in: Frei, Norbert (Hg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 37-93. 15 Vor österreichischen Volksgerichten in Klagenfurt und Wien sowie vor dem Landgericht in Innsbruck fanden in den Jahren 1946 bis 1949 insgesamt vier Verfahren wegen der Ermordung von Patienten in den Anstalten Klagenfürt, Steinhof und Hartheim statt. Siehe Weinke, 2002, wie Anm. 14; Garscha, Winfried R., Gerichtsakten als Quelle zur Geschichte der NS-Euthanasie und zum Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit Tätern und Opfem. Referat (Wiener Gespräche „Medizin im Nationalsozialismus - Wege der Aufarbeitung", 5.-7. November 1998); Fürstler, Gerhard/ Malina, Peter, „Ich tat nur meinen Dienst". Zur Geschichte der Krankenpflege in Österreich in der Zeit der NS-Zeit, Wien 2004. 16 Der Prozess wegen der Patientenmorde in der Anstalt Ottmachau, in dem der Arzt Gottfried Matthes verurteilt wurde, und der Prozess gegen 14 ehemalige Pflegerinnen der Anstalt Meseritz-Obrawalde (LG München Az 112 Ks 2/64), den ich nicht in Tab. 5 aufgenommen habe, da ausschließlich Pflegerinnen vor Gericht standen. 17 Vgl. Grewe, Michael, Die organisierte Vernichtung „lebensunwerten Lebens" im Rahmen der „Aktion T4". Dargestellt am Beispiel des Wirkens und der strafrechtlichen Verfolgung ausgewählter Tötungsärzte, Pfaffenweiler 1998, S. 83-128.

212

Angelika Ebbinghaus

Tabelle 3: Mediziner vor deutschen Gerichten in den Westzonen 1946 bis 1948 18 BRD

Tatkomplex

Urteil

Name, Vorname

Strafmass

Vollstreckung

L G Berlin

Anstalt Meseritz-Obrawalde

25.03.1946

Wernicke, Hilde

Todesurteil

Hinrichtung 14.01.1947

21.12.1946

Schmidt, Walter

Lebenslang

Entlassungjuni 1953

L G Frankfurt/ Anstalt Kalmen- 30.01.1947 hof OLG-Urteil M 09.02.1949

Weber, Mathilde geb. Wolters

Todesurteil OLG-Urteil 3 J. 6 M.

Entlassen nach Revisionsurteil 09.02.1949

L G Frankfurt/ Anstalt Kalmen- 30.01.1947 hof M

Wesse, Hermann

Todesurteil

Begnadigung, 1966 haftunfähig entlassen

L G Frankfurt/ Anstalt Hadamar M

26.03.1947

Gorgass, Hans Bodo

Todesurteil

Begnadigung, Entlassungjan. 1958

L G Frankfürt/ Anstalt Hadamar M.

26.03.1947

Wahlmann, Adolf (s. Tab.l)

Todesurteil

Begnadigung, Entlassung 16.12.1952

Gerichte

L G Frankfürt/ Anstalt EichM. berg

L G Freiburg

Anstalten in Baden

02.05.1950

Schreck, Josef Arthur

12 J . H a f t

1954 Entlassung

L G Freiburg

Anstalten in Baden

02.05.1950

Sprauer, Ludwig

11 J . H a f t

1954 Entlassung

18 Vgl. Rüter, Christiaan F./ Mildt, Dick W. (Bearb.), Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1997. Eine systematische Verfahrensbeschreibung, München 1998; siehe vor allem die Reihe: Bauer, Fritz/ Bracher, Karl Dietrich (Red.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafarteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966, Amsterdam 1968 ff.; siehe auch Anm. 13.

Mediziner

vor Gericht

213

Tabelle 4: Mediziner vor Gerichten der Bundesrepublik 1949 bis 1988

19

BRD-Gerichte

Tatkomplex

Urteil

Name, Vorname

Strafmaß

LG Tübingen

Anstalt Grafeneck

05.07.1949

Fauser, Martha

1J. 6 M . Haft

LG Tübingen

Anstalt Grafeneck

05.07.1949

Mauthe, Otto

5J. Haft (Strafe nicht angetreten)

LG Tübingen

Anstalt Grafeneck

05.07.1949

Stegmann, Alfons

2J. Haft

LG Landshut

Vilsbiburg

19.11.1949

Braeucker, Wilhelm

1J. Haft

LG Augsburg

Anstalt Kaufbeuren u. Irsee

30.07.1949

Faltlhauser, Valentin 3 J. Haft

LG München I

Anstalt EglfingHaar

15.03.1951

Pfannmüller, Hermann

5J. Haft

LG Weiden

KZ Flossenbürg/ Bergen-Belsen

29.05.1956

Fischer, Hermann

3 J. Haft

LG Weiden

KZ Flossenbürg

03.07.1957

Weck, Franz Christian

5 J . 6 M . Haft

LG Berlin

Anstalt Ottmachau 28.01.1960 (1945)

Matthes, Gottfried

Lebenslange Haft

LG Münster

KZ Auschwitz

29.11.1960

Kremer, Johann Paul Prof.20

10J. Haft

LG Münster

KZ Sachsenhausen

19.02.1962

Baumkötter, Heinz21

8J. Haft

L G Münster

KZ Sachenhausen

19.02.1962

Gaberle, Alois

3 J. 3 M. Haft

LG Aurich

Heydekrug/ Memel

26.06.1964

Scheu, Werner

Lebenslange Haft

LG Frankfurt/ M.

KZ Auschwitz

20.08.1965

Frank, Willi (Zahnarzt)

7J. Haft

LG Frankfurt/ M.

KZ Auschwitz

20.08.1965

Lucas, Franz

3 J . 3 M . Haft; BHG Freispruch

LG München I

Einsatzkommando

14.07.1972

Görz, Heinrich

4J. Haft

19 20 21

Siehe Anm. 18. Zum Todesurteil vom 22.12.47 in Polen siehe Anm. 11. Zur Verurteilung am 31.10.47 vor einem sowjetischen Kriegstribunal siehe Anm. 12.

214

Angelika

BRD-Gerichte

Tatkomplex

Urteil

Name, Vorname

Strafmaß

LG Frankfurt/

Anstalt B e r n b u r g

14.12.1988

Bunke, Heinrich 2 2

3J. Haft

Anstalt B e r n b u r g

14.12.1988

Ullrich, Aquillin

3 J. H a f t

Ebbinghaus

M. L G Frankfurt/ M.

Die Gerichte standen vor der Frage, wie die Taten von Personen zu beurteilen waren, die mit staatlicher Billigung und Anleitung Tausende Menschen getötet hatten. Auffallend ist, dass sich die bundesdeutsche Rechtsprechung in den Jahren 1946 bis 1947/48 erheblich von derjenigen der darauf folgenden Jahre unterschied.23 Die Verteidigung brachte in den frühen wie späteren Prozessen als Entlastungsargument immer wieder ein, dass die Angeklagten Hitlers „Euthanasie"-Erlass vom 1. September 1939 als geltendes Recht angesehen und sich deshalb im Befehlsnotstand befunden hätten. Die Gerichte mussten also klären, wie dieser Erlass zu werten war. Das Landgericht Frankfurt am Main ging in seiner Urteilsbegründung vom 21. Dezember 1946 über die Staatsanwaltschaft hinaus, die dem „Euthanasie"Erlass zwar ebenfalls „jede formelle Gesetzeskraft" absprach, da er weder veröffentlicht noch vom zuständigen Fachminister gegengezeichnet worden sei. Das Gericht argumentierte jedoch grundsätzlicher, indem es auf naturrechtliche Rechtsnormen zurückgriff: „Wenn aus Gründen der Rechtssicherheit auch grundsätzlich zugestanden werden muss, dass im allgemeinen das Gesetz ohne Rücksicht auf seinen Inhalt als rechtsverbindlich angesehen werden muss, so findet dieser Satz doch unter allen Umständen seine äußerste Begrenzung darin, dass die Staatsfuhrung nicht willkürlich bestimmen kann, was Recht oder Unrecht ist. Der Staat ist niemals die Quelle des alleinigen Rechtes. Auch er selbst ist dem Recht unterworfen, auch er ist an die ewigen Normen des natürlichen Sittengesetzes gebunden, und verletzt er sie, so entbehrt sein Gesetz der verpflichtenden Kraft (...) Die sittlich und rechtlich verpflichtende Kraft der Naturrechtsnorm ,Du sollst nicht töten' ist so stark, dass sie niemals von der formellen Rechtskraft eines Gesetzes verdrängt werden kann."24 Die Frankfurter Richter zogen deshalb den Schluss, dass der „Euthanasie"-Erlass rechtsunwirksam sei und die Handlungen der Angeklagten damit rechtswidrig

22 23

24

Die langwierigen Prozesse gegen Bunke und Ullrich siehe Grewe, 1998, wie Anm. 17. Zur Rechtssprechung und ihren Veränderungen: Freudiger, Kerstin, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002; Benzler, Susanne, Justiz und Anstaltsmord nach 1945, in: Blanke, Thomas (Hg.), Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998, S. 383-412; Loewy, Hanno/ Winter, Bettina (Hg.), NS-„Euthanasie" vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung, Frankfurt am Main, New York 1996. Zit. n. Benzler, 1998, wie Anm. 23, S. 386.

Mediziner

vor Gericht

215

gewesen waren. Aufgrund dieser Rechtsauffassung wurden in den frühen Verfahren keine Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe anerkannt, die die Verteidiger und Angeklagten in so gut wie allen Prozessen vorbrachten. Das Landgericht Frankfurt stellte klar, - dass jeder, der einen rechtswidrigen Befehl ausfuhrt, nicht von seiner Verant wortung befreit ist; - dass die Taten de jure strafbar waren, auch wenn sie im „Dritten Reich" straffrei gewesen waren. Die Zusicherung von Straflosigkeit ist kein Schuldausschließungsgrund. - Wenn die Angeklagten drittens mit Unterstützung ihrer Verteidiger vorbrachten, sie hätten erhebliche Nachteile zu befürchten gehabt, wenn sie die Befehle nicht ausgeführt hätten, so konnte in allen Einzelfällen nachgewiesen werden, dass „die Teilnahme an den „Euthanasie"-Verbrechen freiwillig geschehen war. Es habe also kein Notstand bestanden. - Darüber hinaus argumentierten die Verteidiger mit der angeblichen Ersetzbarkeit des Täters: Sie wandten ein, dass die Angeklagten jederzeit durch eine andere Person hätten ersetzt werden können, die die Tat dann ausgeführt hätte. Auch dieses Argument war für die Gerichte in dieser frühen Phase kein hinreichender Grund, die Angeklagten von ihrer Schuld frei zu sprechen. - Schließlich sah das Gericht in den Angeklagten Überzeugungstäter, da sie die Patientenmorde mit Sterbehilfe gleichsetzten und sich mit dem Hinweis auf entsprechende historische Traditionen zu legitimieren versuchten. Die Gerichte wiesen in diesen frühen Verfahren den Angeklagten im Einzelfall nach, „daß sie trotz ihres Vorbringens des fehlenden Bewusstseins der Rechtswidrigkeit - tatsächlich ein Unrechtsbewusstsein gehabt hatten". Es genüge „das Gefühl Unrecht zu tun."25 Damit waren auch das Unrechtsbewusstsein und der Verbotsirrtum als Entschuldigungsgründe ausgeschlossen. Die Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe, die vom Frankfurter Landgericht aus prinzipiellen Überlegungen abgelehnt wurden, wurden auch in allen anderen Verfahren, in denen es um die Ermordung von Patienten ging, immer wieder vorgebracht. Allerdings wurde diese Entlastungsstrategie nur in den frühen Verfahren von den Gerichten abgewiesen. In den Jahren danach begann sich die Rechtssprechung erheblich zugunsten der Täter zu ändern. Vor allem änderte sich die rechtliche Würdigung des Tatbestandes: Die Patientenmorde wurden nicht mehr als Mord, sondern als Totschlag qualifiziert und die Tat nur noch als Beihilfe gewertet. J e mehr Zeit verging, desto mehr wurde die Verantwortlichkeit der Täter für die Patientenmorde verneint und in die oberen Entscheidungshierarchien abgeschoben, bis schließlich als Täter nur noch Adolf Hitler, Philipp Bouhler, Karl Brandt, Victor Brack, Werner Heyde oder Paul Nitsche übrig blieben. Während im 25

Benzier, 1998, wie Anm. 23, S. 391.

216

Angelika Ebbinghaus

ersten Berliner „Euthanasie"-Verfahren laut Urteil vom 25. März 1946 sowohl die Krankenschwestern als auch die Arztin wegen Mordes verurteilt wurden, wurde in einem bald darauf folgendem Prozess nur noch der anordnende Arzt wegen Mordes verurteilt und die Schwester als Gehilfin qualifiziert. Vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main wurden wenig später, 1948, bereits Klinikärzte als Gehilfen der „Euthanasie'-Zentrale eingestuft. Dieser nun eingeschlagene Weg der Rechtssprechung führte schließlich dazu, dass das Landgericht Frankfurt am Main 1967 in seinem Urteil gegen Heinrich Bunke, der in Brandenburg und Bernburg die Ermordung der Patienten in den Gaskammern durchgeführt hatte, zur Auffassung kam, die Haupttäter seien die Verantwortlichen der T4-Zentrale und Hitler, die Ärzte in den Vergasungsanstalten jedoch nur Vollstrecker. Diese Begründung lag 20 Jahre später auch dem Urteil des Frankfurter Landgerichts gegen Aquilin Ullrich zugrunde, der ebenfalls Patienten in Brandenburg vergast und zeitweilig in der Zentrale der „Aktion T4" tätig gewesen war.26 Wie kam es zu diesen Verschiebungen in der Rechtssprechung? Die Entwicklung des Strafrechts vor 1933 kannte die eingeschränkte und die extrem subjektive Teilnahmelehre. Im Gegensatz zur gesetzlichen Teilnahmekonzeption, die Täter, Mittäter, Anstifter und Beihelfer nach dem Kriterium der „realen Tatnähe" qualifiziert, also nach objektiven Kriterien unterscheidet, stellte die Lehre von der eingeschränkt subjektiven und extrem subjektiven Teilnahme subjektive Kriterien und Motive in den Mittelpunkt der juristischen Abwägungen bei der Urteilsfindung: Es wurde nach dem inneren Willen des Angeklagten bei der Tat und nicht so sehr nach dem äußeren Hergang gewertet. In der Konsequenz bedeutete dies, dass nur deijenige Täter war, der die Tat als eigene wollte, und deijenige Gehilfe war, wer sie als fremde wollte. Es war diese extrem subjektive Teilnahmelehre, die die Rechtssprechung veränderte. Bereits gegen Ende der 1940er Jahre griffen die Gerichte wieder vermehrt auf sie zurück. Dies führte dazu, dass die Richter die inneren Motive der Angeklagten bei der Bewertung des Tatgeschehens in den Mittelpunkt stellten und vor allem der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe viel Gewicht beimaßen. Die Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe, die in den frühen Prozessen nicht akzeptiert wurden, kamen nun voll zum Tragen. Darüber hinaus gab die starke Bewertung der inneren Motive der Angeklagten den Richtern einen relativ großen Interpretationsspielraum. Hinzu kam, dass bei der Bewertung der Motive der Täter die Tür für außeijuristische Faktoren geöffnet wurde und diese unreflektiert in das Urteil einfließen konnten. Ein Beispiel: In den frühen „Euthanasie'-Verfahren wurde die Behauptung von Angeklagten, es sei ihnen nicht bewusst gewesen, dass es Unrecht war, Patienten zu töten, von den Gerichten nicht als Entschuldigungsgrund akzeptiert. Diese Rechtsblindheit - aus ideologischen oder welchen Gründen auch immer - wurde rechtlich für unbeachtlich erklärt. Dagegen akzeptierte bereits

26 Die Prozesse gegen Ullrich und Bunke widerspiegeln sehr gut die verschiedenen Phasen der Rechtssprechung: Grewe, 1998, wie Anm. 17.

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1953 das Landgericht Göttingen mit Hinweis auf die Tradition der „Erlösung aus Mitleid" die Anerkennung eines Naturrechts auf Leben nicht mehr vorbehaltlos: „Ob die Vernichtung lebensunwerten Lebens absolut und a priori als unsittlich und gegen eine höhere Rechtsordnung verstoßend anzusehen ist, kann schon zweifelhaft sein."27 Das Gericht führte dann Beispiele aus der Geschichte an, um diese ungute Tradition zu belegen, und kam schließlich zu dem Schluss, dass die Angeklagten sich deshalb in einem Verbotsirrtum bezüglich der Rechtmäßigkeit von „Euthanasiemaßnahmen" befunden hätten. So gingen das vom Zeitgeist geprägte Denken und die Einstellung der Juristen genau so wie die Tatsache, dass diese Akademikergruppe keine wirklich durchgreifende Entnazifizierung durchlief als außeijuristische Faktoren in die Rechtsprechung ein und hatten auf diese nachweislich erheblichen Einfluss.

4. Der Nürnberger Árzteprozess Ein schneidend kalter Wind strich durch die Ruinenstadt Nürnberg, als dort am 9. Dezember 1946 der Prozess des Amerikanischen Militärgerichtshofs I gegen 23 deutsche Medizinwissenschaftler, Arzte und NS-Funktionäre - darunter gegen die beiden führenden T-4 Organisatoren Viktor Brack und Karl Brandt -, mit der Anklagerede Telford Taylors eröffnet wurde. Die Kälte draußen war nichts im Vergleich zu der unfasslichen „Erkaltung der Beziehung der Menschen untereinander", schrieben Mitscherlich und Mielke. „Erschütternd, daß sie auch den Arzt ergreift (...) Der Arzt konnte aber erst in der Kreuzung zweier Entwicklungen zum konzessionierten Mörder und zum öffentlich bestellten Folterknecht werden: dort wo sich die Aggressivität seiner Wahrheitssuche mit der Ideologie der Diktatur traf'.28 Kein anderer der zwölf Nürnberger Folgeprozesse des Internationalen Hauptkriegsverbrecherprozesses hat die Zeitzeugen zu derart verzweifelten Äußerungen wie auch hellsichtigen Reflexionen gebracht.29 Denn was hier verhandelt wurde, stellte am Beispiel geschändeter Arzt-Patient-Beziehungen die zivilisatorischen Grundregeln in Frage, bei den „Euthanasie"-Morden genauso wie bei den anderen Verbrechen. Es lässt sich ein ganzes Bündel von Faktoren anführen, die helfen dieses Geschehen halbwegs zu begreifen. Die Arzte identifizierten sich in starkem Maße mit der NS-Diktatur, wofür mehrere Ursachen angeführt werden können.30 Die „hygienische Revolution" des medizinischen Denkens hatte die Mediziner für gesellschafts-

27 28 29 30

Zit. n. Benzler, 1998, wie Anm. 23, S. 403. Mitscherlich, Alexander/ Mielke, Fred, Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation, Heidelberg 1947, S. 11 £ Vgl. die Tätigkeit der Prozessbeobachter, in: Dokumente und Materialien, 2000, wie Anm. 4, S. 282-284. Zur sozialen Lage und den Mentalitäten der deutschen Ärzteschaft, siehe die Beiträge von Michael H. Kater und Alfons Labisch, in: Ebbinghaus, Angelika/ Dörner, Klaus (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 51-89.

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sanitäre Utopien anfällig gemacht, während sich ihre eigene soziale Sicherheit stark verschlechterte. Sozialdarwinistisches Gedankengut war den Ärzten seit der Jahrhundertwende vertraut und verhalf dem effizienzorientierten Paradigma des Heilens und Vernichtens sicherlich zu einer größeren Akzeptanz. Auch die Debatten über die Sterilisierung bestimmter Personengruppen und das Thema „Euthanasie" (wie der Mord an „lebensunwertem Leben" von Anfang an euphemistisch umschrieben wurde) hatten lange vor 1933 begonnen.31 Als weiterer wichtiger Faktor kam hinzu, dass ein Teil der Ärzte antisemitisch eingestellt war, und dies nicht erst seit der Weltwirtschaftskrise oder seit 1933. Hinzu kamen die „Sachzwänge" des Kriegsverlaufs, denen sich die derart disponierten Mediziner recht bereitwillig unterordneten. Von den Medizinwissenschaftlern und Ärzten forderten die Technokraten des Heers, der Luftwaffe, der Kriegsmarine und der SS rasch gewonnene Ergebnisse hinsichtlich der sich verstärkt auftürmenden Probleme der Luftfahrtmedizin, der Seuchenbekämpfung, der Kriegschirurgie und der Kampfstoff-Forschung. Parallel zu den „Euthanasie'-Morden in den Anstalten und Asylen begannen medizinische Versuchsserien an KZ-Häftlingen und Anstaltsinsassen, bei denen auf die Gesundheit, die Schmerzempfindung, die Identität, den Willen und das Leben der Versuchspersonen keine Rücksicht genommen werden musste. In dieser Erniedrigung der Opfer spiegelt sich die inhumane Regression der Täter im Dienst eines beschleunigten wissenschaftlichen Fortschritts in besonderem Maße. Die Medizinwissenschaftler und Ärzte selbst verlegten ihre Versuche in die Archipele des KZTerrors und des Genozids, weil ihren Objekten dort keine Existenzberechtigung als individuelle Menschen zuerkannt wurde. Wie berechtigt die zeitgenössische und die spätere Kritik an den Entstehungsbedingungen und Defiziten dieses Prozesses auch sein mag, so steht doch fest: Die Einzigartigkeit des Nürnberger Tribunals gegen die deutschen Medizinwissenschaftler und Ärzte war durch die Einzigartigkeit der dort verhandelten medizinischen Menschheitsverbrechen bedingt. Die Anklageschrift des Ärzteprozesses hatte vier große Punkte. Unter dem ersten Anklagepunkt, „dem gemeinsamen Vorhaben oder der Verschwörung", wurde den Angeklagten vorgehalten, dass sie sich in der Zeit von September 1939 bis April 1945 „in Verfolgung eines gemeinsamen Vorhabens auf ungesetzliche Weise, vorsätzlich und wissentlich (...) zu einer Verschwörung und Übereinkunft miteinander und mit verschiedenen anderen Personen" zusammengefunden hätten, „um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, wie sie im Kontrollratsgesetz Nr. 10, Artikel II definiert sind". Hingegen bezogen sich der zweite und dritte Anklagepunkt, „Kriegsverbrechen" und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit", konkret auf die den 23 Beschuldigten zur Last gelegten Taten. Gegenstand der Anklage waren vor allem medizinische Experimente, die an KZ-Häftlingen ohne Rücksicht auf deren Gesundheit und Leben vorgenommen worden waren, aber auch Verbrechen, die Teil der nationalsozialistischen Genozidpolitik 31

Siehe hierzu vor allem den Beitrag von Michael Schwartz in diesem Band.

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waren: der Mord an psychisch kranken und behinderten Menschen sowie die Sterilisationsversuche an Häftlingen. Im vierten und letzten Anklagepunkt ging es um die Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation. Relativ knapp wurden in der Anklageschrift die Tatvorwürfe in der Reihenfolge aufgeführt, wie sie im Prozess dann Gegenstand der Verhandlung wurden:32 Höhenversuche: Von März 1942 bis etwa August 1942 wurden im KZ Dachau Höhenversuche an Häftlingen durchgeführt, weil die Luftwaffe Erkenntnisse über die Grenzen menschlicher Widerstands- und Lebensfähigkeit in extremen Höhen erhalten wollte. Unterkühlungsversuche: Ebenfalls im KZ Dachau - in der Zeit von August 1942 bis ungefähr Mai 1943 - wurden rund 300 Häftlinge zu Unterkühlungsversuchen missbraucht, weil die Luftwaffe herausfinden wollte, mit welcher Methode man Personen mit starker Unterkühlung und Erfrierungen am schnellsten wieder erwärmen könne. Malaria-Experimente: Im KZ Dachau wurden zwischen Februar 1942 und April 1945 Malaria-Experimente an Häftlingen vorgenommen. Die Versuche erstreckten sich auf rund 1.000 unfreiwillige Versuchspersonen. Lost (Senfgas)-Experimente: Während der gesamten Kriegszeit waren Häftlinge im KZ Sachsenhausen und im KZ Natzweiler Opfer von Lost-Versuchen, weil das Sanitätswesen der Wehrmacht, das einen Gaskrieg nicht ausschloss, nach wirksamen Behandlungsmethoden der Haut bei Lost-Verletzungen suchte. Sulfonamid-Experimente: Im KZ Ravensbrück wurden in der Zeit von Juli 1942 bis September 1943 polnischen Frauen vorsätzlich Wunden zugefugt, um so die damals in der Kriegschirurgie umstrittene Sulfonamidbehandlung zu erproben. Versuche zu Knochen-, Muskel- und Nervenregenerationen sowie Knochentransplantationen: Im KZ Ravensbrück wurden Frauen zu Versuchen missbraucht, um die Regeneration von Knochen, Muskeln und Nerven, aber auch direkte Knochentransplantationen „am lebenden Objekt" studieren zu können. Experimente mit Meerwasser: Luftwaffe und Marine suchten nach Wegen, um die Uberlebenschancen von Menschen in Seenot zu erhöhen. Deshalb wurden die Meerwasserversuche durchgeführt. Ziel der Versuche war es, verschiedene Methoden des Trinkbarmachens von Meerwasser zu prüfen. Experimente mit epidemischer Gelbsucht: Häftlinge der Konzentrationslager Sachsenhausen und Natzweiler wurden in der Zeit von Juni 1943 bis ungefähr Januar 1945 mit epidemischer Gelbsucht infiziert, um verschiedene Therapiemethoden zu testen. An den Forschungsergebnissen war vor allem das Sanitätswesen der Wehrmacht interessiert, um die infektiöse Gelbsucht-Epidemie an der Front besser beherrschen zu können.

32 Zu den Menschenversuchen siehe die Beiträge von Rolf Winau, Karl Heinz Roth, Thomas Weither und Angelika Ebbinghaus, in: Ebbinghaus, Angelika/ Dörner, Klaus (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Arzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 93-272, wobei der Versuch gemacht wurde, die Sicht der Opfer darzustellen, aber auch den wissenschaftlichen Kontext der Versuche zu rekonstruieren.

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Sterilisationsexperimente: Da die Nazis im Kontext ihrer Genozidpolitik eine möglichst große Zahl von Menschen in möglichst kurzer Zeit und mit geringem Aufwand unfruchtbar machen wollten, wurden von März 1941 bis Januar 1945 vor allem im Vernichtungslager Auschwitz und im KZ Ravensbrück verschiedene Methoden der Sterilisation ausprobiert. Tausende von Menschen wurden mit Röntgenstrahlen und Medikamenten sowie durch Operationen unfruchtbar gemacht. Fleckfieber-Experimente: Im KZ Buchenwald und im KZ Natzweiler wurden von Dezember 1941 bis Februar 1945 Häftlinge Opfer seuchenmedizinischer Versuche, weil man die Wirksamkeit von Impfstoffen gegen Fleckfieber, aber auch gegen Pocken, Typhus, Parathypus A und B, Cholera und Diphtherie herausfinden wollte. Experimente mit Giften: In der Zeit von Dezember 1943 bis Oktober 1944 wurden im KZ Buchenwald Versuche gemacht, um die Wirkung von Giften am lebenden Menschen zu studieren. Brandbomben-Experimente: Im KZ Buchenwald wurden zwischen November 1943 und Januar 1944 in verschiedenen Versuchsreihen Häftlingen Verbrennungen mit Phosphor zugefugt. Anschließend testete man die Heilwirkung verschiedener Präparate bei Phosphorbrandwunden. Seit den alliierten Luftangriffen war die Behandlung von Phosphorbrandwunden zu einem drängenden Problem geworden, weshalb man sich auch in diesem Fall für Versuche an Häftlingen entschied. Die Skelettsammlung: 112 jüdische Häftlinge wurden aus dem Vernichtungslager Auschwitz ausgewählt, um eine Skelettsammlung an der Reichsuniversität Straßburg zu vervollständigen. Nachdem man diese Häftlinge anthropologisch vermessen und photographiert hatte, wurden sie umgebracht und für die Skelettsammlung präpariert. Die Ermordung tuberkulöser Polen: Zehntausende angeblich tuberkulosekranke Polen wurden in der Zeit von Mai 1942 bis Januar 1943 mit der Begründung umgebracht, sie hätten Deutsche in Polen anstecken können. Das „Euthanasie"-Programm: Opfer dieses staatlich organisierten Mordprogramms, das im September 1939 begann und bis zum April 1945 andauerte, waren Hunderttausende von Menschen. Am ersten Prozesstag wurden die 23 Angeklagten, die von 19 Verteidigern vertreten wurden,33 vom Vorsitzenden Richter Beals gefragt, ob sie sich im Sinne der Anklage als schuldig fühlten. Alle verneinten dies. Beals gab dann den Rahmen des Prozesses und das Prozedere des Prozessablaufs vor. Insgesamt traten 32 Zeugen der Anklage und 53 Zeugen einschließlich der 23 Angeklagten für die Verteidigung auf 570 eidesstattliche Erklärungen, Berichte und Dokumente wurden von der Anklage, 901 von der Verteidigung als Beweisstücke eingeführt. Nach 139 Ver33

Prof. Dr. med. Karl Brandt, Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen; Prof Dr. med. Siegfried Handloser, Chef des Wehrmachtssanitätswesens; Prof. Dr. med. Paul Rostock, Amtschef der Dienststelle Medizinische Wissenschaft und Forschung und Chefarzt der Chirurgischen Klinik Berlin; Dr. med. Oskar Schröder, Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe; Dr. med. Karl Genzken, Chef des Sanitätsamts der Waffen-SS; Prof. Dr. med. Karl Gebhardt, Beratender Chirurg der Waffen-SS und Oberster

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handlungstagen endete der Ärzteprozess am 19. August 1947 mit einer ausführlichen Urteilsbegründung für jeden einzelnen Angeklagten. Am 20. August verkündete Richter Beals das Urteil. Zum Tode durch den Strang wurden verurteilt: Karl Brandt, Karl Gebhardt, Rudolf Brandt, Joachim Mrugowsky, Wolfram Sievers, Viktor Brack und Waldemar Hoven. Lebenslange Haft erhielten: Siegfried Handloser, Oskar Schröder, Karl Genzken, Gerhard Rose, und Fritz Fischer. Zu zehn Jahren Haft wurde Helmut Poppendick verurteilt, zu 15 Jahren Wilhelm Beiglböck und zu 20 Jahren Hermann Becker Freyseng und Herta Oberheuser. Die Angeklagten Paul Rostock, Kurt Blome, Siegfried Rufi Hans Wolfgang Romberg, Georg August Weltz, Adolf Pokorny und Konrad Schäfer waren freigesprochen und aus der Haft entlassen worden. Die Todesurteile wurden am 2. Juni 1948 vollstreckt. In unserem Zusammenhang sei hier etwas näher auf die Menschenversuche eingegangen, da sie die völlig gegensätzlichen Perspektiven der Opfer und der Wissenschaftler besonders gut demonstrieren, die für den Prozessverlauf so charakteristisch waren. Am Beispiel des Anklagepunktes „Euthanasie" sei kurz eine typische strategische Variante der Verteidigung illustriert und abschließend auf den Nürnberger Kodex eingegangen, der zweifellos das wichtigste Ergebnis des Arzteprozesses gewesen ist und dessen Wirkungsgeschichte bis heute bestimmt.

5. Die kriegschirurgischen Experimente im KZ-Ravensbriick Drei Monate nach dem Uberfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion begann sich im Herbst 1941 das Scheitern der deutschen Blitzkriegskonzeption abzuzeichnen. Die Verletzten, die lebend geborgen wurden, zeigten neue Verwundungsbilder, die die Kriegschirurgie vor bisher unbekannte Probleme stellten: den so genannten Gasbrand. Kliniker im Stab Reichsarzt SS und Polizei sowie Chefarzt der Heilanstalten Hohenlychen; Prof! Dr. med. Kurt Blome, Stellvertreter des Reichsgesundheitsfuhrers; Prof! Dr. med. Joachim Mrugowsky, Chef des Hygiene-Instituts der Waffen-SS und Oberster Hygieniker beim Reichsarzt SS und Polizei; Rudolf Brandt, Persönlicher Referent Himmlers im Persönlichen Stab des Reichsführers SS; Dr. med. Helmut Poppendick, Chef des Persönlichen Stabes des Reichsarztes SS und Polizei; Wolfram Sievers, Geschäftsführer der SSForschungs- und Lehrgemeinschaft „Ahnenerbe" und Direktor des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung des „Ahnenerbes"; Prof Dr. med. Gerhard Rose, Beratender Hygieniker und Tropenmediziner des Chefs des Luftwaffensanitäts wesens sowie Chef der Abteilung für Tropenmedizin am RobertKoch-Institut; Dr. med. habil. Siegfried Ruff Leiter des Instituts für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt e.V.; Viktor Brack, Stellvertretender Leiter in der Kanzlei des Führers; Dr. med. Hans Wolfgang Romberg, Arzt am Institut für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt e.V.; Dr. med. Hermann Becker-Freyseng, Referent für Luftfahrtmedizinische Forschung beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe; Prof. Dr. med. habil. Georg August Weltz, Chef des Instituts für Luftfahrtmedizin an der Universität München; Dr. med. Konrad Schäfer, Arzt am Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstitut des Reichsluftfahrtministeriums; Dr. med. Waldemar Hoven, Chefarzt des Konzentrationslagers Buchenwald; Prof Dr. med. Wilhelm Beiglböck, Stabsarzt der Luftwaffe; Dr. med. Adolf Pokomy, Dermatologe; Dr. med. Herta Oberheuser, Lagerärztin im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und Assistentin in den Heilanstalten Hohenlychen und Dr. med. Fritz Fischer, Assistenzarzt von Gebhardt.

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Vor diesem Hintergrund müssen die Kontroversen gesehen werden, die seit 1940/41 innerhalb des Wehrmachtssanitätswesens und des Sanitätsdienstes der Waffen-SS um die adäquate Behandlung dieser Wundinfektionen geführt wurden: Es standen sich die Anhänger der alten Kriegschirurgie und die Befürworter der neuen Sulfonamidtherapie gegenüber. Bei der Frage, wie infizierte Wunden am besten zu behandeln seien, wollte Karl Gebhardt - Chefarzt der SS-Heilanstalten Hohenlychen, Beratender Chirurg der Waffen-SS und Oberster Kliniker im Stab des Reichsarztes-SS und Polizei - den Anhängern der Sulfonamidtherapie nicht das Terrain überlassen und verlangte, möglichst rasch klärende Versuche durchzufuhren. Die von Gebhardt als „klinische Versuchsreihe" bezeichneten Experimente sollten zum einen den uneinheitlichen Krankheitsverlauf des Gasbrands analysieren und dabei „die bisher bekannten therapeutischen Mittel auf ihre Wirksamkeit" prüfen, und zweitens Aufschluss darüber bringen, ob die in der Kriegschirurgie auftretenden Wundinfektionen durch die zusätzlich zu den üblichen chirurgischen Maßnahmen verabreichten chemotherapeutischen Mittel geheilt werden konnten. Da man möglichst rasch zu Ergebnissen kommen wollte, entschied man sich sofort zu Menschenversuchen, die im KZ Ravensbrück durchgeführt wurden. Am 1. August 1942 operierte Fritz Fischer, ein Assistent von Gebhardt, erstmals sechs junge polnische Häftlingsfrauen. Er infizierte die künstlich herbeigeführten Wunden der Opfer mit Bakterienkulturen von erhöhter Keimzahl und zusätzlich mit Coli-Bakterien. Bei den Opfern der ersten Versuchsgruppe bildeten sich örtliche Abszesse, die chirurgisch noch beherrscht werden konnten. Am schwersten waren die Opfer der dritten Versuchsgruppe wegen der Beimengung von Erde in den Wunden betroffen. Da eine Allgemeininfektion in dieser Versuchsgruppe unterblieb, starb keines der Versuchsopfer. Fischer hatte bei ihnen zwar künstlich Gasbrand erzeugt, aber in seinen Augen entsprach er dem „in der Kriegschirurgie bekannten" dramatischen Verlauf noch nicht. Deshalb wurden die weiteren Versuchsserien immer weiter verschärft, um sie den realen Kriegsbedingungen möglichst anzunähern: Den Opfern wurden Holzspäne, Stoff-Fetzen und Ahnliches absichtlich in die zuvor künstlich infizierten Wunden eingebracht, um den an der Front so gefürchteten Gasbrand in allen Phasen studieren zu können. Zahlreiche Frauen starben bei diesen Versuchen. Liest man einerseits die wissenschaftlichen Berichte über diese Menschenversuche oder die Erklärungen der Arzte vor Gericht und andererseits die Aussagen der überlebenden Opfer über ein und dieselbe Versuchssituation, so vermag man kaum erkennen, dass beide Darstellungen denselben Ausgangspunkt haben. Die Opfer der kriegschirurgischen Versuche wussten nicht, weshalb ihnen diese Eingriffe angetan wurden. Weder waren sie um Einwilligung gefragt, noch über den Versuch aufgeklärt worden. Sie hatten keine Chance, den Versuch abzubrechen, wenn er ihnen zu große Schmerzen bereitete. Sie wussten nicht, was mit ihnen und um sie herum geschah. Wenn sie aus der Narkose erwachten, litten sie oft schon an hohem Fieber,

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das manchmal wochenlang anhielt. Die operativ infizierten Gliedmaßen schmerzten so stark, dass viele der Verletzten stöhnten und schrieen und erst nach der Verabreichung starker Schmerzmittel, wenn sie diese überhaupt erhielten, allmählich ihre Orientierung wieder gewannen. Dann erfuhren sie von den Leidensgefährten des Versuchsblocks und den Häftlingspflegern nach und nach, was geschehen war, und was auf sie noch zukam. Bei den schmerzhaften Verbandswechseln wurden ihre Gesichter meist mit Bettlaken zugedeckt, so dass sie zunächst nicht zu erkennen vermochten, welche Wunden ihnen zugefügt worden waren, wie es um diese stand, und von wem sie versorgt wurden. So vegetierten die Versuchsopfer nach den experimentellen Eingriffen als Schwerkranke in besonderen Häftlingsblocks und -abteilungen des KZ dahin bis sie starben oder sich langsam wieder erholten.

6. Strategien der Verteidigung beim Anklagepunkt „Euthanasie" In der Verteidigungsstrategie von Viktor Brack und Karl Brandt lassen sich zwei Argumentationsmuster ausmachen: Erstens stelle der Patientenmord kein Verbrechen dar, sondern die „Erlösung" schwerkranker, siecher oder behinderter Menschen aus ethischen Gründen oder aus Mitleid. Zweitens habe das „Euthanasie"Programm eine rechtliche Basis gehabt, nämlich das auf den 1. September 1939 zurückdatierte Ermächtigungsschreiben Hitlers. Brack stellte seine Beteiligung an der „Euthanasie" auch gar nicht Abrede. Deshalb hielt sein Verteidiger Georg Fröschmann ein Eingehen auf die faktische Ebene der Anklage nicht für nötig. Er rückte stattdessen die Frage in den Vordergrund, was Brack zu seinem Tun bewegt habe, und kam zu dem Schluss, sein Beweggrund sei „tiefstes Mitleid mit diesen ärmsten Geschöpfen der Menschheit [gewesen], deren Erlösung vom Leid, menschlich gesehen, im Bereich des Wünschenswerten liegt." Brack habe nicht leichten Herzens an dieser Aktion teilgenommen, sondern erst nach gründlichem Studium der einschlägigen Literatur. Sein Denken sei nicht von Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmt gewesen, sondern sein Mandant sei von rein ethischen Gesichtspunkten geleitet worden. Mit seinen Ausfuhrungen bezweckte der Verteidiger nichts anderes als das Gericht davon zu überzeugen, dass es den Gedanken der „Euthanasie" schon immer und überall auf der Welt gegeben habe. Des Weiteren bemühte sich Bracks Anwalt nachzuweisen, dass das Tun seines Mandanten eine rechtliche Grundlage gehabt hätte. Brack habe sich auf den Erlass Hitlers vom 1. September 1939 berufen, über den er von Bouhler mündlich informiert worden sei. In diesem Erlass habe Hitler Karl Brandt und Philipp Bouhler mit der „Erlösung" unheilbarer Kranker beauftragt. Sein Mandant habe deshalb den Erlass Hitlers als eine vollgültige gesetzliche Grundlage für die Durchführung der „Euthanasie" angesehen und Hitler auch für berechtigt gehalten, „einen solchen Gesetzes-Erlass mit rechtsverbindlicher Kraft herauszugeben". Auch wenn man dem Erlass diese staatsrechtliche Deutung versage, habe sich Brack in einem Rechtsirr-

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tum befunden, weshalb bei ihm Vorsätzlichkeit nicht bestanden habe. Natürlich seien der Führergewalt durch die Rechtsetzung auch dort Grenzen gesetzt, wo das Handeln nicht mehr dem allgemein menschlichen Empfinden entspreche. Doch diese Grenzen seien bei der „Euthanasie" nun einmal nicht klar zu ziehen.

7. Der Nürnberger Kodex Der vom Tribunal des Ärzteprozesses verabschiedete Nürnberger Kodex stellt das Wohl des einzelnen Menschen und seinen menschenrechtlichen Schutz in den Mittelpunkt der Medizin, nicht die Wissenschaft, nicht den Fortschritt, und auch nicht das Wohl der Gesellschaft. Der Nürnberger Kodex bindet das medizinische Experiment eindeutig an den „informed consent" der Versuchsperson: also an die freiwillige, informierte und persönliche Einwilligung nach bestmöglicher Aufklärung (wie die treffendste Ubersetzung lautet). Der Kodex schreibt vor, dass den Versuchspersonen vor ihrer Entscheidung das Wesen, die Dauer und der Zweck des Versuchs sowie die Methode, die Mittel, die Unannehmlichkeiten und die Gefahren klargemacht werden müssen, und dass sie dies alles verstehen müssen. Menschen, die auf Grund von Bewusstlosigkeit, geistiger Behinderung oder infolge ihres Krankheitszustandes, beispielsweise einer Demenz, dieses Verständnis nicht aufbringen und deshalb keine informierte Einwilligung geben können, sind somit eindeutig vor medizinischen Versuchen geschützt. Aktuelle Diskussionen über Humanversuche in der Medizin, über Biomedizin und Bioethik beziehen sich immer wieder auf den Nürnberger Kodex. Es ist unübersehbar, dass der „informed consent", das Herzstück des Nürnberger Kodex, eine menschenrechtliche und damit grundrechtliche juristische Aussage ist. Die von Sachverständigen der Anklage, Andrew Ivy, dem Gericht im Dezember 1946 vorgelegten „Principles of Ethics Concerning Experimentation with Human Beings" basierten auf der Hippokratischen Ethik eines verantwortlichen ärztlichen Verhaltens. Die Richter von Nürnberg ergänzten diese Prinzipien vor dem Hintergrund der Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus bewusst um die unumstößlichen Menschenrechte der Versuchsperson. Das Vermächtnis von Nürnberg ist die dringend gebotene individualethische Bindung der Medizin. Eine humane medizinische Forschung und die Medizin der Zukunft sind immer dem Wohl konkreter Menschen verpflichtet. „Ubergeordnete Interessen", der Fortschritt der Medizin, das „Wohl kommender Generationen" oder der „Spezies Mensch" rechtfertigen in keiner Weise die Unterlaufung des menschenrechtlichen Schutzes des Einzelnen und des Prinzips des „informed consent". Im Nürnberger Kodex hat das Grauen vor der Kälte und den Abgründen der NSMedizin eine Antwort gegeben, die immer wieder neu bestätigt werden muss, um die conditio humana zu bewahren.

Frank Hirschinger

Die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen in der SBZ/DDR

Obwohl die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen in der D D R zu Beginn der fünfziger Jahre eingestellt und 1965 nur noch in einem einzigen Verfahren fortgesetzt wurde, attestierte sich die D D R eine konsequente juristische Ahndung von NS-Verbrechen und verwies zugleich auf die unzureichende NS-Strafverfolgung in der Bundesrepublik. U m die Bundesrepublik moralisch zu diskreditieren und die D D R als das „bessere Deutschland" darstellen zu können, bediente sich die S E D groß angelegter Propagandakampagnen, in denen der Weltöffentlichkeit Namenslisten nationalsozialistisch belasteter Amtsträger in der Bundesrepublik sowie teils echte, teils verfälschte NS-Archivalien präsentiert wurden. 1 Da die D D R gemäß Artikel 6 ihrer Verfassung und ihrem antifaschistischen Selbstverständnis entsprechend „den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet" hatte,2 blieben die Karrieren früherer NSDAP-Mitglieder in der D D R tabuisiert.3 Ebenso wenig fand eine tiefere Analyse der rassistischen Inhalte der NS-Ideologie statt, denn als Hauptziel der NS-Diktatur galt die Vernichtung der Kommunisten, deren Widerstandskampf in geschichtspolitisch verzerrten Darstellungen und äußerlich ritualisierten Formen heroisiert wurde. 4 Andere Opfergruppen, wie z.B. ermordete Psychiatriepatienten, rangierten am Ende der Opferhierarchie. 1

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Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland (Hg.), Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Berlin (West), 3. Aufl., Berlin (Ost) 1968; Generalstaatsanwalt der D D R (Hg.), Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu den Nazi- und Kriegsverbrechen. Eine Dokumentation, Berlin (Ost) 1965; Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland (Hg.), Weißbuch über die amerikanisch-englische Interventionspolitik in Westdeutschland und das Wiedererstehen des deutschen Imperialismus, Berlin (Ost) 1951, S. 20 f., 68 f., 98 f, 107-114, 155-158; Kappelt, Olaf, Die Entnazifizierung in der S B Z sowie die Rolle und der Einfluß ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR als ein soziologisches Phänomen, Hamburg 1997, S. 454^171, 546-558; Knabe, Hubertus, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, München 2001, S. 121-152; Werkentin, Falco, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 168-173. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl. I Nr. 47, S. 432). Vgl. Kappelt, Olaf, Braunbuch DDR. Nazis in der DDR, Berlin (West) 1981. Vgl. Hirschinger, Frank, Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biographien. Das Beispiel Halle/Saale 1945-2005, Göttingen 2007; Agethen, Manfred/ Jesse, Eckhard/ Neubert, Ehrhart (Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i Br. 2002; Sabrow, Martin (Hg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln, Weimar, Wien 2000; Leo, Annette/ Reif-Spirek, Peter (Hg.), Helden,

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Frank Hirschinger

An der Propagierung der kommunistischen Faschismustheorie, die Faschismus als „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" definierte,5 beteiligten sich auch namhafte DDR-Medizinhistoriker wie Prof. Dr. Achim Thom, 6 der noch 1989 behauptete, „daß der Faschismus trotz der Unterschiedlichkeit seiner verschiedenen Erscheinungsformen (...) letzten Endes nichts anderes darstellt als die im Interesse des Monopol- und Finanzkapitals ausgeübte politische Diktatur, mit deren Hilfe die revolutionäre Arbeiterbewegung endgültig zerschlagen (...) werden sollte".7 Westdeutschen Arzteverbänden, die „konservativ, antikommunistisch und feindselig-abwehrend gegenüber allen demokratischen Bewegungen in der Ärzteschaft" eingestellt seien, bescheinigte Thom bezüglich der Erörterung von NS-Medizinverbrechen abwehrendes Verhalten, ohne die NS-Verstrickung von DDR-Medizinern zu erwähnen.8 Medizinhistorischen Diplomarbeiten, die in den achtziger Jahren an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der KarlMarx-Universität Leipzig angefertigt wurden, war zu entnehmen, dass „nur in der DDR mit den Urhebern dieser Verbrechen konsequent abgerechnet" worden sei, während man in der Bundesrepublik „die Abrechnung mit den Verantwortlichen (...) schleppend und ungenügend" vorgenommen habe.9 Ebenfalls im Rahmen der offiziellen Darstellung bewegten sich die Leipziger Psychiater Klaus Weise und Matthias Uhle, als sie 1990 die Behauptung aufstellten, dass in der DDR „alle an den Euthanasieverbrechen Beteiligten" bestraft worden seien.10 Bereits 1965 hatte der Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999; Niethammer, Lutz (Hg.), Der „gesäuberte" Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994; Overesch, Manfred, Buchenwald und die DDR oder Die Suche nach Selbstlegitimation, Göttingen 1995; Schmid, Harald, Antifaschismus und Judenverfolgung. Die „Reichskristallnacht" als politischer Gedenktag in der DDR, Göttingen 2004. 5 Dimitroff, Georgi, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: Pieck, Wilhelm, u.a. (Hg.), Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Referate auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale (1935), Berlin (Ost) 1957, S. 85-178, hier S. 87. 6 Vgl. Thom, Achim/ Spaar, Horst, Bedeutsame neue Trends und Ergebnisse der Forschungsarbeit zur Stellung der Medizin im faschistischen Herrschaftssystem in Deutschland von 1933-1945 und ihre Folgewirkungen, in: Thom, Achim/ Spaar, Horst (Hg.), Medizin im Faschismus. Symposium über das Schicksal der Medizin in der Zeit des Faschismus in Deutschland 1933-1945, Berlin (Ost) 1985, S. 11-31, hier S. 12. 7 Thom, Achim, Die Wesensmerkmale des Faschismus - der Faschismus in Deutschland und sein Verhältnis zur Wissenschaft, in: ders./ Caregorodcev, Genadij Ivanovi (Hg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin (Ost) 1989, S. 17-33, hier S. 19 f 8 Thom, Achim, Zur Einführung, in: ders./ Caregorodcev, Genadij Ivanovi (Hg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin (Ost) 1989, S. 7-13, hier S. 10. 9 Brocke, Marion, Die Entwicklung des Bezirksfachkrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Bernburg von den Anfängen bis zur Gegenwart, Halle 1986, S. 82; Peipmann, Simone, Die Ergebnisse bisheriger Untersuchungen der in der Zeit der faschistischen Herrschaft in Deutschland stattgefundenen „Euthanasie"-Verbrechen, Leipzig 1981, S. 48. 10 Weise, Klaus/ Uhle, Matthias, Entwicklungsformen und derzeitige Wirkungsbedingungen der Psychiatrie in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Thom, Achim/ Wulff! Erich (Hg.), Psychiatrie im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West, Bonn 1990, S. 440-461, hier S. 441.

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Generalstaatsanwalt der DDR in einer Broschüre erklärt, dass „bis zum Jahre 1950 (...) auf dem Territorium der heutigen DDR die Amtsentfernung und Bestrafung aller Nazi- und Kriegsverbrecher im wesentlichen abgeschlossen worden" sei.11 „Die Justizbehörden der Deutschen Demokratischen Republik haben sich dabei stets von den hohen Prinzipien des Völkerrechts und der Gerechtigkeit leiten lassen. Tendenzen der Begünstigung von Nazi- und Kriegsverbrechern, wie sie von der Öffentlichkeit mit Recht der westdeutschen Justiz vorgeworfen werden, sowie unverständlich milde Urteile, sind zu keinem Zeitpunkt aufgetreten."12 Wie in der folgenden Darstellung gezeigt werden soll, verlief die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der SBZ/DDR allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz in juristisch oft fragwürdiger bzw. nicht rechtsstaatlicher Form. Darüber hinaus verhinderten die gesellschaftliche Integration früherer Nationalsozialisten, mangelndes Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung von Euthanasieverbrechen und politisch motivierter Täterschutz durch das MfS nicht nur die historische und juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen in zahlreichen psychiatrischen Einrichtungen, sondern führten nicht zuletzt auch den selbst gesetzten antifaschistischen Anspruch der DDR ad absurdum.

1. NS-Euthanasieverbrechen auf dem Gebiet der späteren SBZ/DDR Für Ermittlungen zu NS-Euthanasieverbrechen boten sich in der SBZ/DDR zahlreiche Ansatzpunkte, da das Gebiet der SBZ aufgrund seiner zentralen Lage und verkehrstechnisch günstigen Erschließung eine bedeutende Rolle innerhalb des nationalsozialistischen „Euthanasieprogramms" gespielt hatte. Drei von insgesamt sechs Vergasungsanstalten, die im Rahmen der „Aktion T 4" als Mordzentren dienten, befanden sich in Brandenburg, Bernburg (Anhalt) und Sonnenstein/Pirna. Den in diesen Mordzentren durchgeführten Vergasungen fielen 1940/41 etwa 32.000 Psychiatriepatienten, d.h. fast die Hälfte aller im Deutschen Reich vergasten Anstaltsinsassen zum Opfer. Darüber hinaus wurden 1941/42 in Bernburg und Sonnenstein im Rahmen der „Sonderbehandlung 14 f 13" ungefähr 6.000 KZ-Häftlinge ermordet.13 Auch einige besonders schwer belastete Täter stammten aus dem Gebiet der späteren SBZ oder kamen hier zum Einsatz: Direktor des Mordzentrums Sonnenstein war Dr. Horst Schumann aus Halle/Saale, der Anfang 1940 die

11 Generalstaatsanwalt der DDR (Hg.), 1965, wie Anm. 1, S. 28. 12 Generalstaatsanwalt der DDR (Hg.), 1965, wie Anm. 1, S. 28. 13 Vgl. Hoffmann, Ute, Todesursache: „Angina". Zwangssterilisation und „Euthanasie" in der Landes-Heilund Pflegeanstalt Bernburg, Magdeburg 1996, S. 43 f, 87-95; Böhm, Boris/ Schilter, Thomas, Pima-Sonnenstein. Von der Reformpsychiatrie zur Tötung chronisch Kranker, in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V./ Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasie-Verbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung, 2., stark veränderte Aufl., Dresden, Pirna 1996, S. 11-53, hier S. 37-39.

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Vergasungsanstalt Grafeneck in Württemberg geleitet hatte. Schumanns Nachfolger in Grafeneck wurden die beiden Hallenser Dr. Ernst Baumhard und Dr. Günther Hennecke. 1941 übernahmen beide die Direktion des neu eröffneten Mordzentrums Hadamar in Hessen. 14 Die T 4-Selektionsärzte Prof. Dr. Paul Nitsche, Prof. Dr. Hans Heinze, Dr. Gerhard Wischer, Dr. Otto Hebold, Dr. Ernst Hefter, Dr. Theodor Steinmeyer, Dr. Alfred Schulz und Dr. Günther Munkwitz waren zum überwiegenden Teil auf dem Gebiet der späteren SBZ tätig und verblieben dort nach Kriegsende.15 Neben diesen an führender Stelle tätigen Ärzten machten sich 1940/41 zahlreiche weitere Arzte und Hunderte von Pflegern staatlicher Anstalten der Beihilfe zum Mord schuldig, indem sie die Kranken auf Meldebögen zur Selektion erfassten und für den Abtransport vorbereiteten. Im Umkreis der Mordzentren fungierten mehrere psychiatrische Anstalten als so genannte „Zwischenanstalten", in denen die zur Ermordung vorgesehenen Patienten für den Abtransport ins Gas bereitgehalten wurden. Im Fall der Mordzentren Brandenburg und Bernburg handelte es sich um die brandenburgischen und provinzialsächsischen Anstalten Neuruppin, Wittstock, Teupitz, Brandenburg-Görden, Jerichow, Uchtspringe und Altscherbitz. Zschadraß, Waldheim, Arnsdorf und Großschweidnitz dienten als Zwischenanstalten für Sonnenstein.16 Nach dem Ende der Krankenvergasungen (24. August 1941) gingen zahlreiche Anstalten dazu über, ihre Patienten durch Nahrungsentzug, Mangelernährung und überdosierte Medikamente zu beseitigen. Ohne Hinzurechnung der vergasten Patienten fanden während des Krieges in thüringischen, sächsischen, provinzialsächsischen, brandenburgischen und mecklenburgischen Anstalten nachweislich etwa 17.000 und darüber hinaus schätzungsweise 8.000 weitere Patienten den Tod. In mehreren Anstalten auf dem Gebiet der späteren SBZ befanden sich „Kinderfach-

14 Vgl. Hirschinger, Frank, Die Mitwirkung hallescher Mediziner an der Vernichtung „lebensunwerten Lebens" 1939-1945, in: Rupieper, Hermann-Josef (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg 1502-2002, Halle 2002, S. 487-497. 15 Vgl. Gutachterliste in Klee, Ernst, „Euthanasie" im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main 1985, S. 228 £; Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 234-237, 240, 425, 437, 568, 601, 682. 16 Vgl. HofFmann, Ute/ Schulze, Dietmar, „.. .wird heute in eine andere Anstalt verlegt". Nationalsozialistische Zwangssterilisation und „Euthanasie" in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg - eine Dokumentation, Dessau 1997, S. 34-42; HofFmann, 1996, wie Anm. 13, S. 60; Böhm/ Schilter, 1996, wie Anm. 13, S. 31; Hirschinger, Frank, „Zur Ausmerzung freigegeben". Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz 1933-1945, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 97 f, 112-115; Schröter, Sonja, Psychiatrie in Waldheim/Sachsen (1716-1946). Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt am Main 1994, S. 139-151; Krumpolt, Holm, Die Landesheilanstalt Großschweidnitz als „T4"-Zwischenanstalt und Tötungsanstalt (1939-1945), in: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V./ Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasie-Verbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung, 2., stark veränderte Aufl., Dresden, Pirna 1996, S. 101-113, hier S. 105-110; Schnierer, Sabine, Verwahrt, verlegt, vergessen. Die Einbeziehung der Landes-Siechanstalt Hoym in das „Euthanasie"-Programm des Nationalsozialismus, Aachen 1997, S. 116-155.

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abteilungen" zur Ermordung behinderter Kinder, so in Schwerin-Sachsenberg, Ueckermünde (Pommern), Brandenburg-Görden, Leipzig-Dösen, Uchtspringe (Altmark) und Stadtroda (Thüringen). Die Landesheilanstalt Pfafferode bei Mühlhausen/Thüringen diente als Tötungsanstalt für erkrankte Ostarbeiter aus Thüringen, Anhalt und der Provinz Sachsen.17

2. Entnazifizierung und Strafverfolgung in der SBZ Bereits auf der Moskauer Drei-Mächte-Konferenz vom Oktober 1943 einigten sich Repräsentanten der USA, der UdSSR und Großbritanniens auf die Verfolgung von NS-Verbrechen. Den entsprechenden Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz folgte am 8. August 1945 das Londoner Abkommen „betreffend Verfolgung und Bestrafung von Hauptkriegsverbrechern der europäischen Achsenländer". Die Zuständigkeit für die Verfolgung von Verbrechen, die Deutsche an Deutschen begangen hatten, konnte aufgrund des am 20. Dezember 1945 erlassenen Kontrollratsgesetzes Nr. 10 deutschen Gerichten übertragen werden. Die am 12. Januar 1946 erlassene Kontrollratsdirektive Nr. 24 über die „Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen", definierte aktive Nationalsozialisten u.a. als „Personen, die nationalsozialistische Verbrechen, Rasseverfolgungen (...) gutgeheißen oder an solchen Taten willig teilgenommen" hatten sowie „offen erklärte Anhänger des Nationalsozialismus oder militaristischer oder Rassenlehren waren". Diese Definition traf auf einen Großteil der in psychiatrischen Anstalten tätigen Ärzte und Pfleger zu. Die Entnazifizierung verliefjedoch uneinheitlich und inkonsequent, da die Kontrollratsdirektive Nr. 24 Ausnahmeregelungen im Fall von Personen zuließ, „die auf Grund ihrer Spezialkenntnisse beibehalten" werden sollten.18 Nach der Bildung von Landes- und Provinzialverwaltungen wurde die Entnazifizierung in der SBZ 1945/46 auf der Grundlage unterschiedlicher Landesgesetze und Verordnungen von deutschen Stellen vorgenommen.19 So ordnete die brandenburgische Provinzialverwaltung am 22. August 1945 die Entlassung früherer

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Vgl. Rüter-Ehlermann, Adelheid, Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafürteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966, Amsterdam 1974, 11. Bd., S. 735-769, 12. Bd., S. 3-60; Faulstich, Heinz, Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NSPsychiatrie, Freiburg i. Br. 1998, S. 468-533, 569-586; Barthel, Rolf Zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens" während der Zeit des Faschismus auf dem Eichsfeld und in Mühlhausen, in: Eichsfelder Heimathefte, Heft 1, 1990, S. 53-73, hier S. 65-67. 18 Fricke, Karl Wilhelm, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 19451968. Bericht und Dokumentation, 2. Aufl., Köln 1990, S. 104 f ; Zentralverordnungsblatt Berlin, 9. Oktober 1947, S. 194-203, 216; Rößler, Ruth-Kristin (Hg.), Die Entnazifizierungspolitik der KPD/SED 19451948. Dokumente und Materialien, Goldbach 1994, S. 21. 19 Vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991, S. 43-55.

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Parteigenossen an, soweit sie als „nicht fachlich unentbehrlich" galten. In Anstalten der Provinz Sachsen wurde die Entnazifizierung unter Berufung auf die am 6. September 1945 erlassenen Richtlinien über die Säuberung der Verwaltung nach dem Prinzip der Einzelfallprüfung durchgeführt. Wie aus Personalakten der provinzialsächsischen Anstalt Altscherbitz hervorgeht, erfolgten Entlassungen u.a. aufgrund des Vorwurfs, dass sich die betreffenden Mitarbeiter „als Vertreter nazistischer Anschauungen betätigt" und auf die ihnen „unterstellten Personen im gleichen Sinne eingewirkt" hätten. In Sachsen nahm man Entlassungen gemäß der Verordnung der Landesverwaltung über den Neuaufbau der öffentlichen Verwaltungen vom 17. August 1945 und einer weiteren Verordnung vom 3. November 1945 vor. Um die Wahlchancen der SED bei den bevorstehenden Kommunal- und Landtagswahlen zu verbessern, ebbte die Säuberungswelle jedoch bereits im Sommer 1946 wieder ab. Nationalsozialistisch belastete Pfleger und Ärzte traten verstärkt der SED bei, sodass beispielsweise die Altscherbitzer SED-Betriebsgruppe im Oktober 1946 100 Mitglieder verzeichnen konnte. Mitarbeiter, deren Entlassung 1945/46 vorgesehen oder verfügt worden war, verblieben weiterhin im Dienst oder kehrten Ende der vierziger Jahre wieder auf ihre früheren Arbeitsplätze zurück.20 Als erste Besatzungsmacht zogen die Sowjets mit dem am 26. Februar 1948 erlassenen SMAD-Befehl Nr. 35 einen Schlussstrich unter die Entnazifizierung und gaben die Auflösung der Entnazifizierungskommissionen bekannt. Der kommunistischen Faschismusdefinition entsprechend wurde dies damit begründet, dass dem Faschismus durch die Enteignung der „Inspiratoren des deutschen Faschismus" (Großindustrielle, Bankiers, Großgrundbesitzer etc.) seine Grundlage entzogen worden sei. Dadurch sei „eine umfassendere und unbedenklichere Heranziehung der ehemaligen Mitglieder der Nazipartei (...) zum demokratischen und wirtschaftlichen Aufbau in der Sowjetischen Besatzungszone möglich", sofern sie sich keines Verbrechens schuldig gemacht hätten.21 Für die Insassen psychiatrischer Anstalten hatte diese Entscheidung fatale Folgen, da es sich bei einem beträchtlichen Teil des Pflegepersonals noch immer oder bereits wieder um nationalsozialistisch geprägte Mitarbeiter handelte. Die bis 1948/49 anhaltende überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit in Anstalten der SBZ war vor diesem Hintergrund nicht allein allgemeinen Versorgungsschwierigkeiten, sondern wohl auch schlechter Behandlung und der Tatsache zuzuschreiben, dass Pfleger ihre Lebensmittelversorgung auf Kosten der 20 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Sächsisches Krankenhaus Altscherbitz Nr. 1, 3, 34, 35, 36, 38, 40, 45, 48, unpaginiert, sowie die zum Zeitpunkt der Akteneinsicht (1999) noch nicht mit Signaturen versehenen Personalakten von Hermann Ihme, Dr. Hildegard Jähler und Dr. Harald Krüger; LHA Magdeburg, Rep K 9 MGw Nr. 3457, unpaginiert. Schreiben der Oberschwester Gertrud Fundinger vom 18. September 1945 und Vorgang Maschinenmeister Otto Forster; LHA Magdeburg, Rep K 9 MGw Nr. 3458, unpaginiert. Schreiben vom 13. Februar 1946 über die Entlassung politisch belasteter Mitarbeiter; LA Merseburg, Rep C 48 I i Nr. 558, Bl. 346; Vollnhals, 1991, wie Anm. 19, S. 175-186, 191-193; Schröter, 1994, wie Anm. 16, S. 176 £; Klee, Ernst, Irrsinn Ost - Irrsinn West. Psychiatrie in Deutschland, Frankfart am Main 1993, S. 103 i. 21 Rößler, 1994, wie Anm. 18, S. 257 f.

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Kranken verbesserten. Bestattungen verstorbener Patienten wurden noch immer in der während des Krieges üblichen pietätlosen Form vorgenommen: In Haldensleben wickelte man die Toten in Papier, in Altscherbitz schnürte man sie mit Draht in Dachpappe ein und beförderte sie mit Hilfe eines Klappsarges ins Grab.22 Die Ahndung von NS-Euthanasieverbrechen, denen auf dem Gebiet des Deutschen Reiches fast ausschließlich deutsche Patienten zum Opfer gefallen waren, erfolgte dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 entsprechend zum überwiegenden Teil durch deutsche Gerichte. In der Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom 12. Oktober 1946 über die „Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen" wurde der Begriff „Hauptschuldiger" u.a. als Person definiert, die „aus politischen Beweggründen Verbrechen gegen Opfer oder Gegner des Nationalsozialismus begangen" oder „sich in einem Konzentrations-, Arbeits-, Internierungslager, in einer Heil- und Pflegeanstalt an Tötungen, Folterungen oder sonstigen Grausamkeiten in irgendeiner Form beteiligt" hatte.23 Der früheste „Euthanasie"-Prozess in der SBZ fand im August 1946 vor dem Landgericht Schwerin statt und richtete sich gegen Mitarbeiter der Anstalt Schwerin-Sachsenberg. Am 16. August 1946 verurteilte das Gericht drei Pfleger und eine Krankenschwester wegen der medikamentösen Tötung von Patienten zum Tode. Sechs weitere Angeklagte wurden freigesprochen. Keiner der zum Tode Verurteilten wurde jedoch hingerichtet: Einer verstarb in Haft, zwei wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, ein weiterer 1948 in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.24 Größeres öffentliches Aufsehen erregte das Schwurgerichtsverfahren vor dem Landgericht Dresden im Sommer 1947: Angeklagt waren 15 Ärzte und Pfleger, die sich zwischen 1939 und 1945 an Patientenmorden in den sächsischen Anstalten Sonnenstein/Pirna, Arnsdorf Leipzig-Dösen und Großschweidnitz beteiligt hatten. Hauptangeklagter des Dresdner „Euthanasie"-Prozesses war der frühere medizinische Leiter der T 4 und Schöpfer des so genannten „LuminalSchemas" zur medikamentösen Tötung von Patienten Prof Dr. Paul Nitsche. Nitsche sowie Dr. Ernst Leonhardt (stellvertretender Direktor der Anstalt Arnsdorf) und die beiden in Sonnenstein tätig gewesenen Arnsdorfer Pfleger Hermann Felfe und Erhardt Gabler wurden am 7. Juli 1947 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach Kontrollratsgesetz Nr. 10 zum Tode verurteilt. Ein weiterer Pfleger erhielt eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, sieben Angeklagte Strafen zwischen

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Vgl. Faulstich, 1998, wie Anm. 17, S. 671-686, 712-717; Gespräch des Verfassers mit dem früheren Altscherbitzer Friedhofspfleger Kurt Gast am 18. Juni 2001. Zentralverordnungsblatt Berlin, 9. Oktober 1947, S. 203-215. Vgl. Wieland, Günther, Der Beitrag der DDR zur Ahndung nationalsozialistischer Medizinverbrechen, in: Hohmann, Joachim S./ Wieland, Günther (Hg.), MfS-Operatiworgang „Teufel". „Euthanasie"-Arzt Otto Hebold vor Gericht, Berlin 1996, S. 73-106, hier S. 75, 86; Raul, Friedrich Karl, Nazimordaktion T 4. Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes, Berlin (Ost) 1973, S. 182-185; Klee, Ernst, Was sie taten - was sie wurden. Arzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt am Main 1986, S. 189. Anders als Wieland nennt Klee nicht den 18. Juni 1946, sondern den 16. August 1946 als Tag der Urteilsverkündung.

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drei und zwanzig Jahren, drei Angeklagte wurden freigesprochen. Leonhardt und Felfe verübten im Gefängnis Selbstmord, Nitsche und Gabler wurden später hingerichtet.25 In Bernburg hatten die Amerikaner bereits im April 1945 Dr. Willi Enke verhaftet, der als Direktor des therapeutischen Teils der Anstalt Bernburg zwar Mitwisser der Krankenmorde gewesen war, sich an Vergasungen im Mordzentrum Bernburg aber nicht beteiligt hatte. Beim Einzug der sowjetischen Besatzungstruppen im Juli 1945 wurde Enke in der amerikanischen Zone interniert. Ende Oktober 1945 führte die Kriminalpolizei in der Anstalt Bernburg eine Besichtigung durch. Ermittlungen fanden auch in Altscherbitz statt, da man annahm, dass „gerade die Landesheilanstalten in Bernburg und Altscherbitz (...) an der Beseitigung von Geisteskranken in größerem Umfange beteiligt" gewesen seien. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gerieten jedoch bald ins Stocken, da die Sowjets kein Interesse an einem für November 1945 geplanten Prozess zeigten.26 In einem Bericht der Staatsanwaltschaft Bernburg hieß es dazu am 20. Mai 1946: „Da der Herr Kommandant der russischen Militärbehörde in Bernburg seinerzeit nicht wünschte, daß dieses Verfahren in krimineller Hinsicht weiterhin bearbeitet wird, und ferner die Einsichtnahme in das bei der Kriminalpolizei in Bernburg befindliche Material sowie auch die Veröffentlichung von Plakaten zur beschleunigten Aufklärung dieses Falles verboten hat, so ist die Anzahl der durch die Vergasung getöteten Menschen nicht in vollem Umfang feststellbar."27 Es bleibt unklar, ob die Sowjets die Ermittlungen stoppten, weil durch die Ermordung ausländischer KZ-Häftlinge im Rahmen der „Sonderbehandlung 14 f 13" alliierte Kompetenzen berührt wurden, oder ob die justizielle Verfolgung aus Sorge um die Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens zurückgestellt wurde. Letzteres erscheint angesichts der Vorgänge um den kommissarischen Leiter des Gesundheitsamtes Halle Dr. Richard Neuendorffim Sommer 1946 zumindest möglich: Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Halle gegen Neuendorff der während des Krieges Prostituierte bei der Polizei angezeigt und als „Asoziale" in Konzentrationslager hatte einweisen lassen, wurden auf Anweisung der sowjetischen Besatzungsmacht eingestellt. Neuendorff sollte „als erfahrener Venerologe ungestört weiterarbeiten" dürfen, da es sich bei den Frauen lediglich um „Asoziale", nicht aber um politisch Verfolgte gehandelt habe.28 Die Ermittlungen gegen Täter der Vergasungsanstalt Bernburg wurden später wieder aufgenommen. Auf Ersuchen der Oberstaatsanwaltschaft Dessau (Zweigstelle Bernburg) kam der nach Württemberg geflohene Bernburger Tötungsarzt Dr. 25 Vgl. Hohmann, Joachim S., Der „Euthanasie"-Prozess Dresden 1947. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation, Frankfurt am Main 1993, S. 110, 134-136, 314-339, 383-429; Klee, 1986, wie Anm. 24, S. 328. 26 BStU, MfS HA IX/11 ZUV 45, 1. Bd., Bl. 341; LHA Magdeburg, Rep K 9 MGw Nr. 975, Bl. 159; Hirschinger, 2001, wie Anm. 16, S. 220-222; Hoffmann/ Schulze, 1997, wie Anm. 16, S. 85 f. 27 Zit. n. Klee, 1986, wie Anm. 24, S. 190. 28 Stadtarchiv Halle, Personalakte Dr. Richard Neuendorff; Mikrofilm Nr. 47 K 6, Bl. 175-179.

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Irmfried Eberl am 8. Januar 1948 in Haft, verübte jedoch fünf Wochen später in Ulm Selbstmord.29 Abgesehen von dem 1965 verurteilten T 4-Gutachter Dr. Otto Hebold, der während des Krieges zeitweilig auch in der Tötungsanstalt Bernburg tätig gewesen war, wurden in der SBZ/DDR lediglich untergeordnete Beteiligte der in Bernburg verübten Verbrechen strafrechtlich verfolgt. So verurteilte das Landgericht Magdeburg in drei Verfahren, die 1948 nach Befehl 201 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) durchgeführt wurden, vier Mitglieder des Bernburger Tötungspersonals zu Haftstrafen. Aufgrund des am 16. August 1947 ergangenen Befehls 201 wurden zur Ahndung von NS-Verbrechen bei den Landgerichten große und kleine Strafkammern geschaffen. Bei den gemäß Befehl 201 durchgeführten Verfahren erstellte die Kriminalpolizei nach sowjetischem Vorbild Anklageschriften, die vom Staatsanwalt lediglich bestätigt wurden. Die Untersuchungen sollten in „möglichst kurz zu bemessender Frist" abgeschlossen werden.30 In einem nach Befehl 201 durchgeführten Verfahren erging am 11. März 1948 das Urteil des Landgerichts Magdeburg gegen Erich Sporleder, der in den Mordzentren Brandenburg und Bernburg als Wachmann, Maurer und Hausmeister tätig gewesen war, und gegen die Krankenschwester Erna Schwarz. Sporleder und Schwarz wurden wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und als Hauptverbrecher nach der Kontrollratsdirektive 38 zu fünf bzw. drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 23. April 1948 verurteilte das Landgericht Magdeburg die Krankenschwester Käthe Hackbarth wegen ihrer Mitwirkung an den Krankenmorden in Grafeneck und Hadamar zu 15 Jahren Zuchthaus. Am 24. September 1948 folgte das Urteil gegen den in Grafeneck, Brandenburg und Bernburg eingesetzten SSMann Josef Oberhauser, der zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Von den Ermittlern unentdeckt blieb Oberhausers Teilnahme an Massenmorden im Vernichtungslager Belzec und im norditalienischen KZ San Saba. Bereits am 14. Februar 1948 hatte das Landgericht Magdeburg sein Urteil gegen die Pfleger Otto Ahrens, Paula Tiedchen und Elfriede Dümecke wegen Beihilfe zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen. Die Pfleger, die nach Erkenntnis des Gerichts in der Anstalt Uchtspringe Kinder und Erwachsene durch die Eingabe von Luminal-Tabletten vergiftet hatten, wurden zu Gefängnisstrafen von sechs bzw. vier Jahren verurteilt. Drei weitere Angeklagte - darunter der frühere Merseburger Landesamtmann Hermann Münzel, der die aus Berlin eingetroffenen Vergasungslisten an die Anstalten weitergeleitet hatte - wurden freigesprochen.31 Mehrere Direktoren psychiatrischer Anstalten befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in sowjetischer Haft. Sie waren im Herbst 1945 verhaftet und in sowjetischen Speziallagern interniert worden, so Dr. Harald Krüger (Direktor der Lan-

29 Vgl. Hirschinger, 2001, wie Anm. 16, S. 222-226; Hoffmann/ Schulze, 1997, wie Anm. 16, S. 86 f. 30 Zentralverordnungsblatt Berlin, 9. Oktober 1947, S. 185 f.; Wieland, 1996, wie Anm. 24, S. 83 f. 31 LHA Magdeburg, Rep K 4 MJ Nr. 399, Bl. 1-6; LHA Magdeburg, Rep K 4 MJ Nr. 401, Bl. 60-63, 74,9395, 109 f.; Hoffmann/ Schulze, 1997, wie Anm. 16, S. 87-90; Wieland, 1996, wie Anm. 24, S. 84 f.

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desheilanstalt Altscherbitz), Dr. Gerhard Wischer (Waldheim) und Prof Dr. Hans Heinze (Brandenburg-Görden). Dr. Ernst Heiter (T 4-Gutachter und Leiter der Kinderfachabteilung in Berlin-Reinickendorf) war im August 1946 von einem Sowjetischen Militärtribunal (SMT) wegen des Todes von 30 Kindern und der Erstellung von Sterilisationsgutachten zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, wurde u.a. in Torgau Fort Zinna interniert und verstarb am 11. April 1947 in Bautzen. Hans Heinze hatten die Sowjets im Oktober 1945 als „Propagandist" verhaftet. Am 14. März 1946 wurde er von einem SMT zu sieben Jahren Haft verurteilt und ab Oktober 1946 im Speziallager Sachsenhausen interniert.32 Heinzes Verurteilung erfolgte aufgrund von Artikel 58-2 des Strafgesetzbuches der RSFSR („bewaffneter Aufstand oder Eindringen von bewaffneten Banden in das Sowjetgebiet in gegenrevolutionärer Absicht"). Es ist anzunehmen, dass die Sowjets das ganze Ausmaß von Heinzes Verbrechen als Schlüsselfigur der „Kindereuthanasie", T 4-Gutachter und Direktor der Anstalt Brandenburg-Görden nicht erfasst hatten. Auf einer Liste, die 1949 im Speziallager angefertigt wurde, fand lediglich Heinzes Beteiligung an Zwangssterilisationen sowie seine „Beihilfe zur Tötung von 200 Geisteskranken" Erwähnung. In einem Urteilsauszug aus dem Jahre 1950 wurde Heinzes Verurteilung mit „grausamer Behandlung ausländischer Arbeiter im Krankenhaus" begründet.33 Im Gegensatz zu Heinze standen Dr. Harald Krüger und Dr. Gerhard Wischer vor keinem SMT, sondern wurden bei Auflösung der sowjetischen Speziallager der Volkspolizei übergeben und im Rahmen der „Waldheimer Prozesse" (26. April 1950-14. Juli 1950) verurteilt.

3. Abschluss der Strafverfolgung und Amnestie in der DDR Nach der Entlassung von ca. 15.000 Speziallager-Häftlingen wurden Anfang 1950 3.442 Personen an das Ministerium des Innern der DDR übergeben und zur Aburteilung in das Zuchthaus Waldheim überstellt. Ziel der folgenden „Waldheimer Prozesse" war es, den antifaschistischen Anspruch der DDR zu dokumentieren und die strafrechtliche Ahndung von NS-Verbrechen abzuschließen 34 Im Fall von Dr. Harald Krüger und Dr. Gerhard Wischer standen zweifellos Schuldige vor Gericht, doch es kamen Urteile zustande, die rechtsstaatlichen Ansprüchen in keiner Weise 32

BArch, SMT/Waldheim-Karteikarte Dr. Harald Krüger; Schröter, 1994, wie Anm. 16, S. 193, 217-219; Klee, 2003, wie Anm. 15, S. 236 f, 240; Mitteilung von Herrn Dr. Klaus-Dieter Müller, 23.3.2007. 33 Jeske, Natalja/ Schmidt, Ute, Zur Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen durch sowjetische Militärtribunale in der SBZ, in: Hilger, Andreas/ Schmeitzner, Mike/ Schmidt, Ute (Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945-1955, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 155192, hier S. 173-175; Mitteilung von Herrn Dr. Klaus-Dieter Müller, 26.3.2007. 34 Vgl. Werkentin, 1995, wie Anm. 1, S. 176,196 f; Otto, Wilfriede, Die „Waldheimer Prozesse" 1950. Historische, politische und juristische Aspekte im Spannungsfeld zwischen Antifaschismus und Stalinismus, Berlin 1993, S. 5-27, hier S. 6; Klonovsky, Michael/ Flocken, Jan von, Stalins Lager in Deutschland, Frankfurt am Main 1993, S. 168.

Die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen in der SBZ/DDR

235

genügten. Im Vorfeld der „Waldheimer Prozesse" hatten sich Vertreter des SEDParteivorstandes, des SED-Zentralsekretariates und Hilde Benjamin (Vizepräsidentin des Obersten Gerichts) darauf geeinigt, möglichst schnelle und am Strafmaß sowjetischer Tribunale orientierte Urteile fallen zu lassen. Es wurden 18 Staatsanwälte und 37 Richter, die alle der SED angehörten, ausgewählt und politisch instruiert. Als Termin zur Erfüllung ihres Auftrages galt der III. Parteitag der SED (2024. Juli 1950). Mit den Ermittlungen betraute man 198 ausgewählte Volkspolizisten und Angehörige der Volkspolizeischule für Kriminalistik in Arnsdorf, die täglich etwa 140 Untersuchungsverfahren durchführten. Fast alle Verhandlungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne Zeugenvernehmungen und ohne Verteidiger statt, dauerten (abgesehen von wenigen Ausnahmen) lediglich 20 bis 40 Minuten und entsprachen damit der SMT-Urteilspraxis.35 Dr. Gerhard Wischer wurde am 23. Juni 1950 wegen der Beteiligung an Tötungen in der Anstalt Waldheim gemäß Direktive 38 und Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Hauptverbrecher eingestuft und zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte in der Nacht des 3./4. November 1950 im Keller des Zuchthauses Waldheim. Das Urteil zeigt, dass nicht alle Aspekte von Wischers Beteiligung an Euthanasieverbrechen zur Anklage kamen. Unerwähnt blieb etwa Wischers Funktion als T 4-Gutachter und reisender Selektionsarzt, der auch an der Aussonderung von KZ-Häftlingen im Rahmen der „Sonderbehandlung 14 f 13" mitgewirkt hatte.36 Auch im Verfahren gegen den Altscherbitzer Anstaltsdirektor Dr. Harald Krüger wurde die Chance zur umfassenden juristischen und historischen Bewertung seiner Beteiligung an NS-Euthanasieverbrechen vertan. Die Ermittler beschränkten sich auf den von den Sowjets ermittelten Tatvorwurf, der Krüger den Tod von 2.540 aus Altscherbitz deportierten Patienten zur Last legte. Die Anklageschrift wurde bereits am 16. Mai 1950 - eine Woche nach Krügers Verhör - aufgesetzt und am 8. Juni 1950 in der Verhandlung verlesen. Das Gericht verurteilte Krüger wegen eines Verbrechens nach Direktive 38 und Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu lebenslanger Haft.37 Im Verhör hatte Krüger bestritten, dass in Altscherbitz „jemals einer der Kranken durch Injektionen oder auf andere Art getötet worden" sei. An einer weiteren Erörterung dieses Aspekts der Altscherbitzer NS-Vergangenheit konnte Krüger nicht gelegen sein, denn beim Nachweis aktiver Tötungsmaßnahmen unter den 2.862 Patienten, die während des Krieges in Altscherbitz verstorben waren, hätte ihm die Todesstrafe gedroht. Die Ermittler begnügten sich mit Krügers knappen Aussagen und verzichteten auf weitere Fragen. Heute muss man deshalb trotz zahlreicher Indizien davon ausgehen, dass die Verabreichung tödlicher Injektionen in Altscher-

35 36 37

Vgl. Werkentin, 1995, wie Anm. 1, S. 181-186; Fricke, 1990, wie Anm. 18, S. 205-215; Otto, 1993, wie Anm. 34, S. 8 f., 13 f., 23; Schröter, 1994, wie Anm. 16, S. 220. Vgl. Schröter, 1994, wie Anm. 16, S. 204-209, 217-221. BArch, DO 1/1413, Bl. 2-10.

236

Frank Hirsch inger

bitz zwar wahrscheinlich, letztlich aber nicht durch polizeiliche Ermittlungen zu beweisen ist.38 Abgesehen von dem 1965 durchgeführten Prozess gegen Dr. Otto Hebold wurde die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen in der DDR 1952 abgeschlossen. Außer den bereits erwähnten Prozessen ergingen zwischen 1949 und 1952 lediglich vier weitere Urteile gegen insgesamt fünf Personen, die sich in unterschiedlicher Art und Weise an der „Aktion T 4" beteiligt hatten: Neben untergeordnetem Personal wie dem für die Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg tätig gewesenen Kraftfahrer Walter Stephan sowie drei Personen, die sich in den Anstalten Hadamar und Uchtspringe an Krankenmorden beteiligt hatten, wurde auch der T 4Funktionär Richard von Hegener verurteilt. Hegener - er beschaffte Gas und Gift zur Ermordung der Patienten und war einer der für die „Kindereuthanasie" Verantwortlichen - wurde am 20. Februar 1952 vom Landgericht Magdeburg zu lebenslanger Haft verurteilt.39 Doch schon 1956 wurde er amnestiert und setzte sich in die Bundesrepublik ab. Auch der zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilte Kraftfahrer Walter Stephan gelangte im selben Jahr wieder in Freiheit. Von den weiter oben genannten Tätern kamen ebenfalls mehrere nachweislich frei, so Prof. Dr. Hans Heinze bereits 1952, Josef Oberhauser, Dr. Robert Herzer und Dr. Harald Krüger 1956. Krüger war der einzige Altscherbitzer Arzt, der überhaupt verurteilt wurde. Dr. Karl Schröter und Dr. Lothar Ziegelroth, die 1946 als „Mithelfer der an den Kranken verübten Verbrechen im Sinne des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrates" eingestuft worden waren, hatten die Ermittlungen straflos überstanden und befanden sich schon bald wieder im Dienst der Anstalt Altscherbitz - Ziegelroth von 1945 bis 1949 als Ärztlicher Direktor und Chefarzt, Schröter ab Januar 1950 als Arzt.40

38 39 40

Vgl. Hirschinger, 2001, wie Anm. 16, S. 154-163, 219; Faulstich, 1998, wie Anm. 17, S. 512-518, 579. BStU, MfS RHE-West 178/1, Bl. 11; Wieland, 1996, wie Anm. 24, S. 87-91; Generalstaatsanwalt der DDR (Hg.), 1965, wie Anm. 1, S. 47, 65, 71; Klee, 2003, wie Anm. 15, S. 237. BArch, SMT/Waldheim-Karteikarte Dr. Harald Krüger; LHA Magdeburg, Rep K 9 MGw Nr. 975, Bl. 176 E; Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Sächsisches Krankenhaus Altscherbitz Nr. 3, unpaginiert (Lebenslauf Dr. Karl Schröter vom 31. Juli 1950); Personalakte Lothar Ziegelroth, unpaginiert; Hoffmann/ Schulze, 1997, wie Anm. 16, S. 90; Klee, 2003, wie Anm. 15, S. 237, 240, 440; Mitteilung von Herrn Dr. Klaus-Dieter Müller, 23.3.2007.

Die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen

in der SBZ/DDR

237

Tabelle 1: Prozesse gegen „Euthanasie"-Täter in der S B Z / D D R 4 1

Gericht

Tatkomplex

Urteil am

Name des Verurteilten

Strafmaß42

SMT

Sterilisationen, „Euthanasie"

14.3.1946

Heinze, Hans

7 Jahre Haft, 14.10.1952 entlassen

SMT

Kinderfachabteilung Berlin-Reinickendorf

August 1946

Hefter, Ernst

10 Jahre Haft, 11.4.1947 in Haft verstorben

LG Schwerin

Anstalt Sachsenberg

16.8.1946

Gräfenitz, Karl

Todesstrafe, 1946 in Haft verstorben

LG Schwerin

Anstalt Sachsenberg

16.8.1946

Bergholz, Wilhelm

Todesstrafe, in lebenslänglich umgewandelt

LG Schwerin

Anstalt Sachsenberg

16.8.1946

Kamphausen, Elisabeth

Todesstrafe, in lebenslänglich umgewandelt

LG Schwerin

Anstalt Sachsenberg

16.8.1946

Meyer, Otto

Todesstrafe, 1948 im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen

L G Dresden

Reichsarbeitsgemeinschaft Heilund Pflegeanstalten, Sonnenstein, Anstalt Leipzig-Dösen

7.7.1947

Nitsche, Paul

Todesstrafe, 25.3.1948 Hinrichtung

L G Dresden

Anstalt Arnsdorf

7.7.1947

Leonhardt, Emst

Todesstrafe, 8.7.1947 Selbstmord in Haft

L G Dresden

Sonnenstein

7.7.1947

Gabler, Erhardt

Todesstrafe, 25.3.1948 Hinrichtung

L G Dresden

Sonnenstein

7.7.1947

Felfe, Hermann

Todesstrafe, Oktober 1947 Selbstmord in Haft

L G Dresden

Sonnenstein

7.7.1947

Räpke, Paul

lebenslänglich

L G Dresden

Anstalt Großschweidnitz

7.7.1947

Herzer, Robert

20 Jahre Zuchthaus, März 1956 entlassen

L G Dresden

Anstalt Großschweidnitz

7.7.1947

Langer, Günther

15 Jahre Zuchthaus

L G Dresden

Anstalt Großschweidnitz

7.7.1947

Sachse, Elsa

15 Jahre Zuchthaus

L G Dresden

Anstalt Großschweidnitz

7.7.1947

Wedel, Marie

8 Jahre Zuchthaus, 8.4.1954 Strafaussetzung

L G Dresden

Anstalt Großschweidnitz

7.7.1947

Ackermann, Hildegard

8 Jahre Zuchthaus, 8.4.1954 Strafaussetzung

L G Dresden

Anstalt LeipzigDösen, Anstalt Großschweidnitz

7.7.1947

Puschmann, Marie-Luise

3 Jahre Zuchthaus

L G Dresden

Anstalt Großschweidnitz

7.7.1947

Friedrich, Klara

3 Jahre Zuchthaus

L G Magdeburg

Anstalt Uchtspringe

14.2.1948

Ahrens, Otto

6 Jahre Gefängnis

L G Magdeburg

Anstalt Uchtspringe

14.2.1948

Tiedchen, Paula

6 Jahre Gefängnis

238

Frank Hirschinger

L G Magdeburg

Anstalt Uchtspringe

14.2.1948

Dümecke, Elfriede

4 Jahre Gefängnis

L G Magdeburg

Brandenburg, Bernburg

11.3.1948

Sporleder, Erich

5 Jahre Zuchthaus

L G Magdeburg

Bernburg

11.3.1948

Schwarz, Erna

3 Jahre Zuchthaus

L G Magdeburg

Grafeneck, Hadamar

23.4.1948

Hackbarth, Käthe

15 Jahre Zuchthaus

L G Weimar

Grafeneck, Hadamar

29.6.1948

M., Hedwig 43

2 Jahre 6 Monate Gefängnis

LG Magdeburg

Grafeneck, Brandenburg, Bernburg

24.9.1948

Oberhauser, Josef

15 Jahre Zuchthaus, 28.5.1956 amnestiert

LG Berlin

Hadamar

2.12.1949

Beilin, Emma

7 Jahre Zuchthaus

L G Magdeburg

Anstalt Uchtspringe

17.4.1950

König, Alfred

5 Jahre Gefängnis

L G Chemnitz

Anstalt Altscherbitz

8.6.1950

Krüger, Harald

lebenslänglich, 28.4.1956 amnestiert

LG Chemnitz

Anstalt Waldheim

23.6.1950

Wischer, Gerhard

Todesstrafe, 4.11.1950 Hinrichtung

L G Berlin

Hadamar

4.1.1952

Bünger, Walter

10 Jahre Zuchthaus

L G Magdeburg

Brandenburg, „Kindereuthanasie"

20.2.1952

Hegener, Richard von

lebenslänglich, 1956 amnestiert

L G Magdeburg

Brandenburg, Bernburg

20.2.1952

Stephan, Walter

10 Jahre Zuchthaus, 1956 amnestiert

BG Cottbus

Sterilisationen, Selektionen, Bernburg, Sonnenstein, „Sonderbehandlung 14 f 13"

12.7.1965

Hebold, Otto

lebenslänglich, 4.1.1975 in Haft verstorben

41

BStU, HA IX/11, ZUV 45, 2. Bd., Bl. 142-171; LHA Magdeburg, Rep K 4 MJ Nr. 399, Bl. 1-6; LHA Magdeburg, Rep K 4 MJ Nr. 401, Bl. 60-63, 74, 93-95,109 f; Generalstaatsanwalt der DDR (Hg.), 1965, wie Anm. 1, S. 34,46 f., 53, 65, 71; Hohmann, 1993, wie Anm. 25, S. 110, 125 f., 134-138,314-339,412429; Hohmann, Joachim S., Die nationalsozialistische „Euthanasie" in sächsischen Anstalten und ihre strafrechtliche Ahndung, in: ders./ Wieland, Günther (Hg.), MfS-Operatiworgang „Teufel". „Euthanasie"-Arzt Otto Hebold vor Gericht, Berlin 1996, S. 107-141, hier S. 135-137; Wieland, 1996, wie Anm. 24, S. 78-97; Jeske/ Schmidt, 2003, wie Anm. 33, S. 174 f.; HofFmann/ Schulze, 1997, wie Anm. 16, S. 87-90; Kaul, 1973, wie Anm. 24, S. 182-185; Klee, 1986, wie Anm. 24, S. 189; Klee, 2003, wie Anm. 15, S. 234-237, 437, 440; Schröter, 1994, wie Anm. 16, S. 220 f; Mitteilungen von Herrn Dr. Klaus-Dieter Müller (23.3.2007 und 26.3.2007). 42 Anhand der verwendeten Quellen ließ sich leider nicht bei allen Verurteilten feststellen, ob die ausgesprochenen Strafen durch Wiederaufnahmeverfahren oder Amnestie verringert wurden. Sofern entsprechende Vermerke in der Tabelle fehlen, bedeutet dies nicht, dass die Strafen in jedem Fall vollständig verbüßt wurden. 43 Leider ließ sich der vollständige Name der Verurteilten anhand der verwendeten Literatur nicht feststellen, da der Name nur in anonymisierter Form wiedergegeben ist. Vgl. Generalstaatsanwalt der DDR (Hg.), 1965, wie Anm. 1, S. 53.

Die Strafietfolgung von NS-Euthanasieverbrechen in derSBZ/DDR

239

Zahlreiche in der DDR lebende Ärzte, die sich an NS-Euthanasieverbrechen beteiligt hatten ohne je verurteilt worden zu sein, machten in den fünfziger Jahren Karriere: Dr. Johannes Suckow (Hirnforschung an ermordeten Patienten) wurde 1954 zum Professor an der Universität Leipzig ernannt und wirkte ab 1957 als Vorsitzender der Psychiatrisch-Neurologischen Gesellschaft der DDR. Dr. Friederike Pusch (Kinderfachabteilung Brandenburg-Görden) war nach 1945 an der Universitätsnervenklinik Halle tätig und baute 1959 die Neuropsychiatrische Abteilung des Krankenhauses Blankenburg/Harz auf Dr. Rosemarie Albrecht (Stadtroda) stieg 1956 zur Professorin an der Universität Jena auf. Dr. Jussuf Ibrahim (Direktor der Universitätskinderklinikjena) wurde 1947 zum Ehrenbürger von Jena ernannt und erhielt neben zahlreichen weiteren Ehrungen den Titel „Verdienter Arzt des Volkes" und den „Nationalpreis der DDR". Weitere Beispiele ließen sich anfuhren.44

4. Täterschutz durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Die DDR-Karrieren von Euthanasieärzten widersprachen dem offiziell gepflegten Selbstbild der DDR als antifaschistischem Staat, in dem NS-Verbrechen konsequent aufgeklärt und abgeurteilt worden seien, und durften deshalb öffentlich nicht bekannt werden. Das MfS leitete zwar Untersuchungen gegen mehrere belastete Arzte ein, ging den dabei erarbeiteten Hinweisen jedoch kaum nach, sondern legte sie im Archiv ab. So wurde dem MfS 1954 über Prof. Dr. Karl Pönitz (vor 1945 Mitwisser der Krankenmorde und Gutachter zur Beurteilung des „rassischen Wertes" von Ostarbeiterinnen, seit 1950 Direktor der Universitätsnervenklinik Halle) nicht nur bekannt, dass er Leiter der erbbiologischen Abteilung im Gesundheitsamt Halle gewesen war, sondern auch als Obergutachter eines Erbgesundheitsgerichts fungiert hatte. Das MfS zeigte sich jedoch ausschließlich an der Klärung der Frage interessiert, ob Pönitz während seiner gelegentlichen Aufenthalte in Westberlin Verbindung zum „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen" (UfJ) aufgenommen hatte. Als die Ermittlungen keine Hinweise auf „Agententätigkeit" erbrachten, wurden sie 1955 wieder eingestellt, ohne Pönitz' Tätigkeit vor 1945 aufzuklären.45 Im Fall der in der DDR lebenden T 4-Gutachter Dr. Otto Hebold, Dr. Günther Munkwitz und von Dr. Herbert Becker (Planungsabteilung der T 4) geriet das MfS unter Zugzwang, als die Namen der Arzte 1962 in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Frankflirt am Main gegen Prof Dr. Werner Heyde genannt wurden. Am 6. März 1964 leitete die MfS-Bezirksverwaltung Leipzig unter dem Decknamen „Vergangenheit" einen Operatiworlauf zu Becker ein, wegen des Verdachts, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Becker betrieb in Leip-

44 45

Vgl. Klee, 1993, wie Anm. 20, S. 103-107; Klee, 2003, wie Anm. 15, S. 12, 277, 474, 615. BStU, MfS BV Halle AOP 255/55, Bl. 7-12, 22-28, 48-52, 69.

240

Frank Hirschinger

zig eine eigene Praxis und war seit 1948 als Betriebsarzt im VEB Elektrostahlguß Leipzig-West tätig. Ermittlungen des M S ergaben eindeutige Hinweise für Beckers Verstrickung in die „Aktion T 4":46 „Am 5.3.1965 wurde durch die Abteilung XX der BV Leipzig eine operative Maßnahme durchgeführt. Diese hatte folgendes Ergebnis: Nur auf den Hinweis, daß über seine Tätigkeit vor 1945 Dokumente vorhanden sind, äußerte Becker aufbrausend, daß er an keinen Kriegsverbrechen beteiligt war, an der Euthanasie nicht mitwirkte und eine vollkommen reine Weste habe. (...) Er wußte genau, was sich hinter der Bezeichnung T 4 verbirgt. Im weiteren Verlauf des durch einen IM geführten Gespräches sagte Becker, er sei (...) lediglich damit beauftragt gewesen, Lazarette, Räume und Personal für eine weitere notwendige Verwendung bereitzustellen. Becker zeigte an den Dokumenten großes Interesse. Die Übergabe an ihn wäre eine humane Tat. Er erkundigte sich mehrfach nach dem Preis, den er zahlen müsse, um die Dokumente zu bekommen. Er brachte mehrfach zum Ausdruck, daß ihn der Besitz der Dokumente vor persönlichen Unannehmlichkeiten bewahren würde. Zusammenfassend kann eingeschätzt werden, daß die durchgeführten Maßnahmen und das aufgefundene Material darauf hindeuten, daß der im Vorgang bearbeitete Dr. Becker mit dem in der Anklageschrift genannten identisch ist und in der ,Planungskommission' der RAG [Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, F. H.] gearbeitet hat."47 Der am Landgericht Frankfurt am Main tätige Untersuchungsrichter Dr. Düx fragte am 26. Juli 1965 bei den DDR-Staatsanwälten Foth und Ender an, ob er an der Vernehmung der oben genannten Ärzte teilnehmen dürfe. Trotz bereits vorliegender Erkenntnisse wurde die Beantwortung der Anfrage monatelang verschleppt. Fast ein Jahr später - am 28. Juni 1966 - teilte DDR-Staatsanwalt Günther Wieland dem eigens angereisten Düx mit, Dr. Herbert Becker sei befragt worden und bestreite, von den Krankenmorden gewusst zu haben. Düx akzeptierte Wielands Darstellung, derzufolge das „bisher vorliegende Material gegen Dr. Herbert Becker (...) strafprozessuale Maßnahmen nicht" rechtfertige.48 Im Hinblick auf Dr. Becker und Dr. Munkwitz war die Hauptabteilung XX des MfS am 22. Dezember 1965 zu folgender wenig überzeugender Einschätzung gekommen: „Nach dem vorliegenden Material stehen beide Personen im Verdacht, im Rahmen des faschistischen Euthanasieprogrammes mitgewirkt zu haben. Die bisherige operative Bearbeitung erbrachte keine konkrete Klärung ihrer Rolle in diesem faschistischen Vernichtungsprogramm. Die Verwendung als Zeugen für westdeutsche Gerichte muß aus diesem Grunde abgelehnt werden."49

46 47 48 49

BStU, BStU, BStU, BStU,

MfS MfS MfS MfS

BV Leipzig RHE-West RHE-West RHE-West

AOP 746/66, Bl. 10 f., 16-30, 133, 169-171, 227-229, 258, 270-272. 178/2, Bl. 9 f; vgl. auch BStU, MfS BV Leipzig AOP 746/66, Bl. 273-282. 178/1, Bl. 10-13, 20-22, 58-61. 178/2, Bl. 5.

Die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen

in der

SBZ/DDR

241

Dies war eine Schutzbehauptung, um die Entsendung der Ärzte vor ein westdeutsches Gericht zu verhindern. Der Operatiworlauf zu Becker wurde im Februar 1966 eingestellt und gesperrt abgelegt. Zur Begründung führte die MfS-Bezirksverwaltung Leipzig an, es sei „nicht anzunehmen, daß der Verdächtige als Mitarbeiter der Planungsabteilung der Reichsarbeitsgemeinschaft direkt an Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen des faschistischen Euthanasieprogramms beteiligt gewesen" sei. Belastendes Material, das eine Weiterflihrung des Vorlaufs rechtfertigen würde, sei in nächster Zeit nicht zu erwarten.50 Ermittlungen des MfS zu dem T 4-Gutachter Dr. Günther Munkwitz waren im Januar 1963 angelaufen. Im Hinblick auf den westdeutschen Heyde-Prozess sollte festgestellt werden, ob Munkwitz und Dr. Otto Hebold noch in der DDR wohnten, „um, falls westdeutscherseits im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Prozeß gegen die DDR geschossen werden sollte, vorbereitende Maßnahmen treffen zu können". Die Ermittlungen führten u.a. zu der Feststellung, dass Munkwitz mittlerweile am Kreiskrankenhaus Eilenburg als stellvertretender ärztlicher Direktor und Leitender Arzt der Inneren Abteilung tätig war. Er gehörte seit 1946 der SED an, genoss „das Vertrauen der Bevölkerung" und stand „beim Aufbau des sozialistischen Gesundheitswesens (...) an führender Stelle".51 Am 21. Dezember 1965 bezeichnete die Hauptabteilung XX des MfS „die operative Aufklärung der Vergangenheit des Munkwitz sowie die gründliche Klärung seiner heutigen politischen Haltung und seiner gesellschaftlichen Stellung" als „unbedingt erforderlich". Das zu Munkwitz überlieferte Material des MfS bricht 1966 mit der Feststellung ab, es hätten noch keine Zeugen gefunden werden können, um Munkwitz individuelle Verbrechen nachzuweisen.52 Manches deutet daraufhin, dass Munkwitz - möglicherweise als Folge der Untersuchungen des MfS - von seiner Vergangenheit als T 4Gutachter eingeholt wurde: Ende der sechziger Jahre litt er unter Depressionen und machte seinem Leben 1970 durch Morphium ein Ende. Zuvor hatte er bereits einen Selbstmordversuch durch Vergasung in seiner Garage unternommen. Private, gesundheitliche und berufliche Sorgen scheiden als Motiv für seinen Freitod nachweislich aus.53 Zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit wurde 1965 lediglich der bereits erwähnte T 4-Gutachter Dr. Otto Hebold (seit 1954 Leiter des Landambulatoriums Falkenberg im Bezirk Cottbus) verurteilt. Während im Fall von Becker und Munkwitz politische Erwägungen zur Einstellung der Untersuchungen führten, folgte umgekehrt auch Hebolds Verhaftung und Verurteilung politischen Vorgaben. Die Hauptabteilung V des MfS stellte dazu am 2. Oktober 1963 fest:

50 51 52 53

BStU, MfS BV Leipzig AOP 746/66, Bl. 306-311. BStU, MfS HA XX Nr. 3828, Bl. 29-46. BStU, MfS HA XX Nr. 3828, Bl. 65 f.; BStU, MfS RHE-West 178/2, Bl. 117. Gespräch des Verfassers mit der Tochter von Dr. Munkwitz am 7. Dezember 1999.

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Frank Hirsch inger

„(Es) ist zu prüfen, ob die Staatsanwälte der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main während ihrer Ermittlungen in der DDR betreffs Heyde in irgendeiner Form über Hebold Informationen übergeben haben. Wenn dies nicht der Fall war, könnten wir, wenn im Heyde-Prozeß Verleumdungen gegen die DDR unter Bezug auf Dr. Hebold laut werden sollten, darauf verweisen, daß bisher bei uns nichts bekannt war und daß seitens der westdeutschen Justiz unsere Organe bewußt getäuscht wurden. Anderenfalls sollte tatsächlich geprüft werden, inwieweit nicht wir offensiv werden, Dr. Hebold jetzt strafrechtlich zur Verantwortung ziehen und so die westdeutsche Justiz zwingen, endlich den Prozeß gegen Heyde und andere durchzufuhren, ehe es diesen gelungen ist, ins Ausland zu verschwinden."54 Andere Euthanasie-Täter konnten dagegen weiterhin mit Nachsicht rechnen: 1965 eingeleitete Ermittlungen des MfS gegen die in der thüringischen Anstalt Stadtroda tätig gewesenen Arzte Dr. Johannes Schenk, Dr. Margarethe Hielscher und Dr. Rosemarie Albrecht („OV Ausmerzer") wurden 1966 eingestellt und als „zeitweilig gesperrt" abgelegt. Obwohl umfangreiches Archivmaterial zur Verfugung stand, um Krankenmorde in Stadtroda dokumentarisch belegen zu können, lautete die offizielle Begründung für die Einstellung der Ermittlungen, dass die Arzte „nicht der individuellen Verbrechen der Euthanasie überfuhrt werden" konnten. Zudem könnte mit Rücksicht auf die DDR-Karrieren der beteiligten Arzte „bei Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden". Nach 1945 war Dr. Schenk in Stadtroda zum stellvertretenden ärztlichen Direktor aufgestiegen, Dr. Hielscher zur Oberärztin. Prof. Dr. Rosemarie Albrecht stand 1965 als Direktorin der HNO-Universitätsklinik Jena vor der Wahl zur Dekanin der Medizinischen Fakultät. Dr. Albrecht blieb unbehelligt, wurde 1967 in die „Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina" aufgenommen und erhielt 1972 den „Vaterländischen Verdienstorden in Gold".55 Dies hinderte die DDR-Propaganda jedoch nicht, in ihrem 1965 präsentierten „Braunbuch" über „Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik" auf die im Westen untergekommenen Euthanasieärzte Dr. Werner Heyde und Prof. Dr. Werner Catel (Universität Kiel) sowie auf den bis 1964 an der Universität Münster lehrenden Rassenhygieniker Prof. Dr. Otmar Freiherr von Verschuer hinzuweisen.56 1973 legte Friedrich-Karl Kaul in seinem vielbeachteten Buch über die „Aktion T 4" nach und behauptete, Heydes Untertauchen in der Bundesrepublik zeige, „mit welchem Geist und von welchen Menschen die Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurde". Auch der Fall Catel sei „symptomatisch für die Lebensverhältnisse Westdeutschlands".57 Anders in der DDR: Als die Akademie 54 55 56 57

BStU, MfS HA IX/11 ZUV 45,3. Bd., Bl. 31. Vgl. Leide, Henry, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005, S. 344-347. Vgl. Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland (Hg.), 1968, wie Anm. 1, S. 320, 356. Kaul, 1973, wie Anm. 24, S. 193, 233.

Die Strafierfölgung von NS-Euthanasieverbrechen in der SBZ/DDR

243

der Wissenschaften der DDR am 28. März 1985 aus Anlass von Rosemarie Albrechts siebzigstem Geburtstag ein Kolloquium veranstaltete, wurde die Jubilarin in einer Laudatio als „außergewöhnliche, absolut integre Persönlichkeit" gewürdigt. Die Darstellung von Albrechts ärztlichem Werdegang enthielt bezeichnenderweise keinen Hinweis auf ihre frühere Tätigkeit in Stadtroda.58 Auch in einem Aufsatz, den eine Mitarbeiterin des Instituts für Geschichte der Medizin an der FriedrichSchiller-Universität Jena 1989 über die Kinderfachabteilung Stadtroda und den Anstaltsleiter Dr. Gerhard Kloos veröffentlichte - nicht ohne auf dessen Nachkriegskarriere an der Universität Göttingen hinzuweisen - blieb Dr. Rosemarie Albrecht unerwähnt.59 Die Eröffnung eines Verfahrens gegen Dr. Albrecht, das erst im Jahr 2000 durch eine Anzeige des Thüringer Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Gang kam, wurde vom Landgericht Gera 2005 wegen Verhandlungsunfähigkeit der mittlerweile 90-jährigen Ärztin abgelehnt. Zuvor hatten sich Arzte und ärztliche Standesorganisationen mit ihr solidarisiert und das „unwürdige Verfahren" abgelehnt.60 Mangelndes Interesse an der Strafverfolgung von Euthanasieärzten zeigte das MfS auch im Fall des aus Halle/Saale stammenden Vergasungs- und KZ-Arztes Dr. Horst Schumann. Schumann war 1951 aus der Bundesrepublik geflohen und über Ägypten, den Sudan und Nigeria nach Ghana gelangt, wo er Anfang der sechziger Jahre ein Krankenhaus leitete.61 Hinweise auf Schumanns Aufenthaltsort gingen dem MfS im August 1963 vom tschechoslowakischen Geheimdienst zu. Aus Prag erhielt Staatssicherheitsminister Erich Mielke im November 1963 die Information, „daß die Tschechoslowakische Republik beabsichtigt, den Fall des Dr. med. Schumann zur Unterdrückung des Einflusses der DBR [BRD, F. H.] in Ghana zugunsten des sozialistischen Lagers auszunutzen". Zwar hatte die DDR dem ghanesischen Präsidenten Kwame Nkrumah bereits im Mai 1963 eine Dokumentation über Schumanns Verbrechen übergeben, doch es bestand trotz der von Schumann in Sonnenstein/Pirna verübten Massenmorde an Psychiatriepatienten und KZ-Häftlingen kein Interesse an Schumanns Auslieferung und Aburteilung in der DDR. Anfang 58

Vgl. Baumann, Rudolf, Laudationes, in: Fortschritte in der Immunprophylaxe. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Mathematik - Naturwissenschaften - Technik, Jg. 1986, Nr. 7, Berlin (Ost) 1986, S. 5-8, hier S. 5 f. 59 Vgl. Zimmermann, Susanne/ Wieland, G., Die Kinderfachabteilung Stadtroda/Thüringen unter der Leitung des Psychiaters Gerhard Kloos - ein Beispiel der faschistischen Vernichtungspolitik „lebensunwerten Lebens", in: Rapoport, Samuel Mitja/ Thom, Achim (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden. Internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektionen der IPPNW 17.-20. November 1988 Erfurt/ Weimar - DDR, Berlin (Ost) 1989, S. 213-216. 60 „Ärzteblatt Thüringen" 15 (2004), H. 9, S. 424 f („Vorverurteilung widerspricht der Menschenwürde" von Eggert Beleites); „Ostthüringer Zeitung" vom 29.3.2000 (Leserbrief Prof. Dr. Uhlig aus Jena) und 19.7.2003 (Jenaer Professoren gegen Vorverurteilung. Aufruf 22 emeritierter Mediziner. Prof Klumbies: Frau Albrecht stand nicht in Verantwortung"); http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/95083 [9.2.2007], 61 Vgl. Hirschinger, 2001, wie Anm. 16, S. 243-245; Klee, 1986, wie Anm. 24, S. 98-107.

244

Frank Hirschinger

1964 teilte Erich Mielke dem tschechoslowakischen Innenminister Lubomir Strougal mit, „daß er keine Einwände gegen Maßnahmen hat, die evtl. von tschechoslowakischen Organen hinsichtlich Dr. Schumann eingeleitet werden". Den Tschechoslowaken wiederum waren juristisch die Hände gebunden, da Schumann seine Verbrechen nicht in der Tschechoslowakei, sondern in Deutschland (Grafeneck, Sonnenstein) und Polen (Auschwitz) verübt hatte.62 Trotz eigener Untätigkeit warf die DDR der Bundesrepublik 1965 vor, sie habe „nicht das zur Sicherung der Strafverfolgung Erforderliche getan, wie die erfolgreiche Flucht beispielsweise des prominenten .Euthanasie'-Verbrechers Dr. Horst Schumann aus Westdeutschland in das Ausland beweist".63 Schumann wurde 1966 an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert, konnte sich durch die Simulation schwerwiegender Erkrankungen nach sechsjähriger Untersuchungshaft jedoch einer Verurteilung entziehen und starb am 5. Mai 1983 als freier Mann in Frankfurt am Main.64 Am Tatort Sonnenstein/Pirna unternahmen die DDR-Behörden währenddessen nichts, um an die Ermordung von fast 15.000 Psychiatriepatienten und KZ-Häftlingen durch Schumann und andere in den Jahren 1940/41 zu erinnern. Zwischen 1948 und 1953 befand sich dort eine Polizeischule, später ein Großbetrieb, der in den fünfziger und sechziger Jahren Triebwerke und militärische Güter herstellte. Aus Gründen der Geheimhaltung war der gesamte Bereich der früheren Tötungsanstalt für die Öffentlichkeit gesperrt. Erst 1973 wurde im Eingangsbereich eine inhaltlich sehr allgemein gehaltene Gedenktafel angebracht.65 Das Gedenken in Bernburg galt weniger den annähernd 10.000 Psychiatriepatienten, die dort als „lebensunwert" vergast worden waren, sondern den in Bernburg ermordeten KZHäftlingen, unter denen sich „auch solche wertvollen Menschen wie [die Kommunistinnen] Olga Benario-Prestes [und] Tilde Klose" befanden.66 Die Hervorhebung besonders „wertvoller" Menschen im Gegensatz zu den übrigen Ermordeten und die darin zum Ausdruck kommende Nähe zur NS-Terminologie schien niemandem aufzufallen.

62 63 64 65 66

BStU, MfS AP 5673/79, Bl. 2-24. Generalstaatsanwalt der DDR (Hg.), 1965, wie Anm. 1, S. 27. Vgl. Klee, 1986, wie Anm. 24, S. 106 f. Vgl. B ö h m / Schilter, 1996, wie Anm. 13, S. 45. Hoffmann, 1996, wie Anm. 13, S. 100 E

Die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechen in der SBZ/DDR

245

Tabelle 2: In der S B Z / D D R praktizierende nicht verurteilte Euthanasietäter 67 (Auswahl)

Name Albrecht, Rosemarie

Tätigkeit vor 1945

Asmussen, Arnold

Oberarzt in der „Kinderfachabteilung" der Anstalt Brandenburg-Görden Planungsabteilung der T 4

Becker, Herbert

1940-1942 Anstalt Stadtroda

Brockhausen, Karl Fischer, Hans

Oberarzt in der Anstalt Brandenburg Görden Anstalt Brandenburg-Görden, promovierte über ein 1941 ermordetes geistig behindertes Zwillingspaar Häßler, Erich Schulungsredner des Rassenpolitischen Amtes Leipzig, Oberarzt und stellvertretender Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig, 1942 apl. Professor

Tätigkeit nach 1945 Dozentin an der Universität Jena, 1956-1975 Professorin, Dekanin, „Verdienter Arzt des Volkes", „Nationalpreis III. Klasse", 1972 „Vaterländischer Verdienstorden in Gold" Universitätsnervenklinik Greifswald

ab 1948 Betriebsarzt im VEB Elektrostahlguß Leipzig-West Anstalt Brandenburg-Görden 1945-1947 Direktor der Anstalt BrandenburgGörden, dann Leiter der Poliklinischen Abteilung für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Brandenburg, „Verdienter Arzt des Volkes" 1949 Chefarzt der Städtischen Kinderklinik Zeisigwald Dresden, 1953 Ordinarius an der Universitätskinderklinikjena, Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft fiir Kinderheilkunde und der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR

Hempel, HansChristoph

Universitätskinderklinik Leip- 1960 Habilitation an der Karl-Marx-Universität zig Leipzig, Chefarzt der Bezirkskinderklinik Chemnitz, „Verdienter Arzt des Volkes"

Hielscher, Margarethe Ibrahim, Jussuf

Anstalt Stadtroda

Oberärztin der Anstalt Stadtroda

Direktor der Universitätskinderklinikjena

1947 Ehrenbürger von Jena, Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Ehrendoktor der Sozialpädagogischen Fakultät, 1950 „Verdienter Arzt des Volkes", „Nationalpreis I. Klasse"

Munkwitz, Günther

T 4-Gutachter

stellvertretender ärztlicher Direktor am Kreiskrankenhaus Eilenburg

67 Vgl. Anm. 44 bis 60; Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Sächsisches Krankenhaus Altscherbitz (Personalakten Dr. Karl Schröter und Dr. Lothar Ziegelroth, unpaginiert); Archiv des Sächsischen Krankenhauses Altscherbitz, Verzeichnis Zu- und Abgang 27.5.1940-4.10.1942 (Eintragung unter dem 13.3.1941); Klee, 1993, wie Anm. 20, S. 89, 93, 103-109; Klee 2003, wie Anm. 15, S. 12, 153, 217, 244, 277, 425, 474, 615.

246 Pönitz, Karl

Pospiech, Karl-Heinz Pusch, Friedenke

Schenk, Johannes Schröter, Karl Schuhmaeher, Wilheim Suckow, Johannes

Ziegelroth, Lothar

Frank Hirsch inger Leiter der erbbiologischen Abteilung im Stadtgesundheitsamt Halle, Gutachter für Rassenhygiene (Ostarbeiterinnen) Promotion anhand ermordeter Patienten der Anstalt Brandenburg-Görden 1939 Oberärztin der Anstalt Brandenburg-Görden, 1942 Leiterin der Kinderfachabteilung Anstalt Stadtroda

1950-1958 Direktor der Universitätsnervenklinik Halle

Kreisarzt in Burg (bei Magdeburg)

Universitätsnervenklinik Halle, 1959 Neuropsychiatrische Abteilung am Krankenhaus Blankenburg/Harz stellvertretender ärztlicher Direktor der Anstalt Stadtroda 1946-1949 Krankenhaus „Bergmannswohl" in Schkeuditz, ab 1950 Anstalt Altscherbitz

Oberarzt in der Anstalt Altscherbitz, Selektion von Patienten Jugendpsychiatrische Abteilung der Universitäts„Euthanasie"-Forschung in nervenklinik Rostock Brandenburg-Görden 1936 Regierungsmedizinalrat in der Anstalt Leipzig-Dösen, ab 1942 Hirnforschung an ermordeten Patienten (Universitätspsychiatrie Heidelberg) Anstalten Altscherbitz und Haldensleben, Selektion von Patienten

1947 Lehrauftrag an der Universität Leipzig, 1950 Dozent, 1954 Professor, 1957 Lehrstuhl in Dresden, Vorsitzender der Psychiatrisch-Neurologischen Gesellschaft der DDR, 1963 „Verdienter Arzt des Volkes" 1945-1949 Arztlicher Direktor in Altscherbitz

Paul Weindling

Entschädigung der Sterilisierungs- und „Euthanasie"-Opfer nach 1945?

Die in der Medizin begangenen Gräueltaten sind eines der eklatantesten Beispiele für den Machtmissbrauch im nationalsozialistischen Deutschland. Deutsche Mediziner und Juristen haben in offenem oder verstecktem Einverständnis mit dem nationalsozialistischen Staat kooperiert, um Leben zu vernichten, die Zeugungs- und Fortpflanzungsfähigkeit zu zerstören und Kranke und Behinderte flir medizinische Forschungen zu missbrauchen - alles im Namen der „Erbgesundheit". Nach der Befreiung 1945 wurden die Verbrechen deutscher Gesundheitsexperten, Psychiater und KZ-Arzte offenkundig. Doch trotz energischer Bemühungen der Alliierten, die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen, erführen die Opfer von offizieller Seite nach dem Krieg kaum Beachtung; ebenso wenig bestand eine Bereitschaft, irgendeine Form von Entschädigung zu leisten, geschweige denn, dass Versuche zu einer Wiedergutmachung unternommen worden wären. Berufsständische und universitäre Hierarchien und verpflichtende Wertstrukturen blieben weitgehend unangetastet, was es den Opfern ungemein erschwerte, auch nur eine Anerkennung ihres Missbrauchs zu erreichen. Wurden doch einmal Entschädigung geleistet, kamen sie spät und blieben unzureichend. Im Konzentrationslager Auschwitz internierte Arzte gaben nach ihrer Befreiung am 4. März 1945 eine internationale Erklärung zum Missbrauch von Menschen in den dortigen medizinischen Versuchen ab und drängten die Alliierten und neutrale Staaten dazu, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.1 Sie hegten die Hoffnung, dass durch die gerichtliche Verfolgung der Täter derartige, unter Zwang durchgeführte, Menschenversuche und medizinische Verbrechen in Zukunft verhindert werden könnten. Uberlebende und Zeugen von Sterilisierungsmaßnahmen und Menschenversuchen forderten eine Dokumentation der medizinischen Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland, deren gerichtliche Verfolgung und Entschädigung. Diese Forderungen stießen bei den für die Untersuchung von Kriegsverbrechen zuständigen alliierten Stellen auf Verständnis und führten zu kritischen Untersuchungen von „Euthanasie"-Programmen und Sterilisierungsmaßnahmen. 1944/45 verwiesen alliierte Kommentatoren darauf wie das nationalsozialistische Deutschland und Mediziner die Medizin für den Völkermord instrumentali1

The National Archives, London WO 39/470, Die Häftlingsärzte von Auschwitz an die internationale Öffentlichkeit, 4. März 1945.

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Paul Weindling

sierten, und sprachen von „medical war crimes", medizinischen Kriegsverbrechen. Zu diesen Verbrechen zählten Sterilisierungen von „rassisch" und sozial „Unerwünschten" und die Tötung von geisteskranken und körperbehinderten Menschen. Raphael Lemkin, ein nach dem deutschen Uberfall auf Polen emigrierter Jurist, der den Begriff des Völkermords geprägt hat, richtete sein Augenmerk vor allem auf die medizinischen Gräueltaten, die auf die Zerstörung der Zeugungs- und Fortpflanzungsfahigkeit zielten, während die „deutsche Rasse" „erbgesunde" und „kinderreiche" Familien hervorbringen sollte. Deswegen waren für ihn die deutschen Sterilisierungsgesetze in der Anlage rassistisch und genozidal im Effekt. Der Missbrauch der Medizin wurde unter dem neuen Rechtsbegriff des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit" justiziabel und führte - in Verbindung mit der Dokumentation von John Thompson, einem für Medizinsachen zuständigen Offizier des Militärnachrichtendienstes, welche die von führenden Medizinern im Namen der Wissenschaft begangenen Gräueltaten belegte - zum Nürnberger Arzteprozess sowie zur Verbreitung des Grundsatzes, dass für jedes medizinische Experiment die Einwilligung des darüber aufgeklärten, mündigen Patienten erforderlich sei („Informed Consent").2 Die Alliierten dokumentierten die medizinischen Gräuel und das nationalsozialistische „Gesundheitssystem" schnell und gründlich. Egon Schwelb, juristischer Mitarbeiter bei der UN-Kriegsverbrecherkommission, legte im Juli 1946 einen Bericht über die von deutschen Medizinern begangenen Verbrechen vor. Die Alliierten reagierten auf die rassistischen Gräuel unter nationalsozialistischer Herrschaft mit präventiven Prinzipien zum Schutz des Einzelnen und gefährdeter Gruppen. Diese Menschenrechtsdefinitionen zeigen, dass ein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung stand, um die medizinischen Maßnahmen während des Nationalsozialismus als unmenschlich und verbrecherisch abzuurteilen. Nach der Befreiung Deutschlands wurde eine klare Aburteilung von Zwangssterilisierungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch schwieriger. So vertraten manche die Ansicht, dass alliierte Kriegsverbrechertribunale nicht über Verbrechen von Deutschen gegen andere deutsche Staatsbürger oder über vor Beginn des Zweiten Weltkriegs begangene Verbrechen urteilen könnten. Andere wandten ein, dass die Täter aus den Reihen der Mediziner guten Gewissens gehandelt hätten.3 Während die „Euthanasie"-Aktion auf einen Erlass Hitlers zu Kriegsbeginn hin anlief und damit eindeutig eine nationalsozialistische Maßnahme war, ließ sich dies bei den Zwangssterilisierungen nicht so klar sagen. Auch war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" („Erbgesundheitsgesetz") vom 14. Juli 1933 maßgeblich von Vorstellungen der Psychiatrischen Genetik beeinflusst. In ihm wurde bei neun angenommenen Krankheiten Zwangssterilisierungen verfügt: bei angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem)

2 3

Siehe Weindling, Paul, Nazi Medicine and the Nuremberg Trials. From Medical War Crimes to Informed Consent, Basingstoke 2004. Siehe Bryant, Michael, Confronting the Good Death. Nazi Euthanasia on Trial, Boulder 2005.

Entschädigung der Sterilisierungs- und „Euthanasie"-Opfer nach 1945?

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Irresein, erblicher Fallsucht (Epilepsie), Chorea Huntington, erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer erblicher Missbildung und schwerem Alkoholismus. Obwohl dem Wortlaut des Gesetzes nach die „Rasse" einer Person kein Grund für eine Sterilisierung war, gingen in der Praxis einige „Erbgesundheitsgerichte" sehr hart gegen jüdische Deutsche und deutsche Roma vor. Vor diesem Hintergrund unterschieden deutsche Arzte und Juristen weiterhin zwischen der Gesetzgebung zur Sterilisierung und der nationalsozialistischen „Rassenhygiene". Nach 1945 ergab sich also die Situation, dass juristisch zwei Kategorien sterilisierter Personen unterschieden wurden: erstens die „legalen" Sterilisierungen entsprechend des „Erbgesundheitsgesetzes" vom Juli 1933 und zweitens die „illegalen" Sterilisierungen - zum Beispiel wegen Rassenvermischung (dies betraf insbesondere Kinder von schwarzen Soldaten der französischen Besatzungsmacht nach dem Ersten Weltkrieg) oder die vor allem in Konzentrationslagern vorgenommenen Sterilisierungen mit Röntgenstrahlen. 1937 agitierten etwa die Führer des Nationalsozialistischen Deutschen Arztebundes verdeckt und nachweislich illegal für die als Strafmaßnahme gedachte Zwangssterilisierung der sog. Rheinlandbastarde.4 1945 mussten daher die Behörden aller Besatzungszonen darüber entscheiden, ob das „Erbgesundheitsgesetz" spezifisch nationalsozialistisch gewesen sei oder als juristische Norm die medizinische Praxis legitimiert habe. Auch wenn die Verwaltungen aller Besatzungszonen weitere Sterilisierungen unterbanden, war der juristische Status des Gesetzes in jeder Zone und jeder Provinz anders. In der Sowjetischen Besatzungszone wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" am 8. Januar 1946 als antidemokratisch und in seiner Tendenz faschistisch aufgehoben. In einer Diskussion der Organisation der Opfer des Faschismus wurde am 9. September 1946 der Status jener Opfer diskutiert, doch später in der DDR wurden sie nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.5 Professor Karl Bonhoeffer, Berliner Neurologe und Vater des wegen seiner Beteiligung am Widerstand hingerichteten Dietrich Bonhoeffer, legte am 2. Oktober 1946 in einem Memorandum dar, warum das „Erbgesundheitsgesetz" nicht rassistisch sei; andere vertraten die gegenteilige Auffassung. Kriegsverbrechen wurden in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem völkerrechtlichen Prinzip des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit" verfolgt. Vom 12. bis 14. November 1946 wurde in Schwerin (dem Verwaltungssitz der Sowjetischen Militäradministration in Mecklenburg) unter anderem dem stellvertretenden Vorsitzenden des örtlichen „Erbgesundheitsgerichts", dem Direktor des Gesundheitsamts, einem Medizinalbeamten, einem weiteren Mitglied eines „Erbgesundheitsgerichts" und dem Medizinischen Direktor eines Krankenhauses wegen Sterilisie-

4 5

Siehe Pommerin, Reiner, Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918-1937, Köln 1979. Vgl. Hinz-Wessels, Annette, NS-Erbgesundheitsgerichte und Zwangssterilisation in der Provinz Brandenburg, Berlin 2004, S. 219.

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Paul Weindling

rungen der Prozess gemacht. Insgesamt wurden sieben Ärzte wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit" belangt.6 Nach der Verurteilung in erster Instanz wurden die Strafen von einem höheren Gericht herabgesetzt oder ganz aufgehoben, und der Fall zog sich hin. In der Britischen Besatzungszone wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" ausgesetzt und die dafür zuständigen „Erbgesundheitsgerichte" abgeschafft (Erlass vom 20. Dezember 1946: „Ermächtigung zur Aburteilung von Fällen der Sterilisierung aus rassischen oder politischen Gründen sowie aller sonstigen Verfolgungen aus rassischen Gründen mit Ausnahme von Judenverfolgungen"). 7 Gegen diesen Erlass hatte sich eine deutsche Medizinlobby gewandt, die in den Sterilisierungen eine gesetzlich sanktionierte medizinische und keine rassistische Maßnahme sah. Hierbei trat vor allem der protestantische Gesundheitsexperte Hans Harmsen mit seinen Rechtfertigungen des „Erbgesundheitsgesetzes" hervor.8 Was den Opfern allerdings nie angeboten wurde, war eine wiederherstellende Operation, die in einigen Fällen durchaus noch möglich gewesen wäre. Die Menschenversuche wurden im Nürnberger Arzteprozess verhandelt. Grundlegend hierfür wurde der Nürnberger Kodex, der die Einwilligung des (mündigen) Patienten nach erfolgter Aufklärung vor jedem Versuch an Menschen voraussetzt. Dennoch hinterließ der Prozess offene Fragen in Bezug auf den „dauernden körperlichen Schaden" und die „Verstümmelung" sowie die bleibenden Schmerzen der Opfer von Menschenversuchen während des Kriegs.9 Bei den Uberlebendenorganisationen entstand der Eindruck, dass den Tätern zwar der Prozess gemacht worden war, den Opfern aber nicht geholfen wurde. Die Bemühungen der Bundesregierung, die Kriegsverbrecher bei ihrer Rehabilitierung zu unterstützen, standen, wie deren Pensionen, in klarem Gegensatz zu ihrer Weigerung, irgendeine Art von Verantwortung gegenüber den Opfern von Menschenversuchen zu übernehmen. Die Entscheidung, Sterilisierungen mit Röntgenstrahlen strafrechtlich zu verfolgen, schuf eine Verbindung zwischen den eugenischen Maßnahmen und den im Zweiten Weltkrieg begangenen Gräueln, zu deren Opfern auch zahlreiche Bürger anderer Staaten gehörten. Die Nürnberger Ankläger fühlten sich hier juristisch auf sicherem Terrain, und sie konnten die Schwierigkeiten wegen der Sterilisierungsprogramme in den USA und wegen der „Rechtmäßigkeit" der nach dem „Erbgesundheitsgesetz" erfolgten Sterilisierungen, die von den deutschen Verteidigern erwartet wurden, vermeiden. Als Verantwortliche für die experimentelle Forschung

6 7 8 9

BLHA, ZASt, K 153 70/47 Bd 1, 3 Schwerin. BA Berlin, Z 21 Zentral-Justizamt für die Britische Zone / 784. Siehe Harmsen, Hans, The German Sterilization Act of 1933, in: Eugenics Review 46 (1954), S. 227-232. The Nuremberg medical trial 1946/47. Transcripts, material of the prosecution and defense, related documents. On behalf of the Stiftung fur Sozialgeschichte des 20. Jahrhundert, ed. by Klaus Dörner, Angelika Ebbinghaus, Karsten Linne in cooperation with Karl Heinz Roth and Paul Weindling, München u.a. 2001, 5/27 [Fiche 262]. (Deutsche Ausgabe: Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld. München 2001, 5/27 [Fiche 322].)

Entschädigung der Sterilisierungs- und „Euthanasie"-Opfer

nach

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zu den Möglichkeiten einer Massensterilisierung wurden drei Ärzte angeklagt: der Deutsch-Tscheche Adolf Pokorny, der von Hitler mit vielen medizinischen Aufgaben betraute Karl Brandt und Helmut Poppendick, ein am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie ausgebildeter SS-Arzt. In ihrer Anklage verknüpften die amerikanischen Staatsanwälte die Fragen von Sterilisierung und Euthanasie mit dem Völkermord. Dabei dokumentierten sie viele Fälle von Sterilisierungen in Konzentrationslagern und zeigten, dass manche Operationen experimentellen Zwecken dienten, manche der Bestrafung, und manchmal auch „rassisch unerwünschte" Personen sterilisiert werden sollten. Damit behandelten die Ankläger als Erste die Sterilisierung in unmittelbarer Verbindung zum Völkermord, da die Opfer der „experimentellen" - aber weit verbreiteten - Sterilisierungen in Konzentrationslagern über-wiegend Juden und Roma waren. Dies unterstrich den Völkermord als zugrunde liegendes Motiv und stellte die von der Verteidigung vertretene Ansicht in Frage, die Sterilisierungen seien lediglich eine Maßnahme der Volksgesundheit gewesen. Uber Radio und Zeitungen sowohl in Deutschland als auch in den zuvor besetzten Ländern suchten die Nürnberger Ankläger nach aussagebereiten Opfern und Zeugen. Daraufhin legten Opfer von Röntgensterilisierungen erschütternde Zeugnisse ihrer Leidensgeschichten ab. Uber die experimentellen Operationen berichtete der Arzt Robert Levy. Als französischer Staatsbürger hatte er als gebürtiger Elsässer10 im Ersten Weltkrieg zwei Jahre in der deutschen Armee gekämpft, 193941 dann auf französischer Seite, und wurde am 12. Mai 1943 von der Gestapo in Limoges wegen antideutscher politischer Propaganda festgenommen. Er arbeitete in der zentralen Krankenstation in Auschwitz, dann in Mauthausen. Als Chefchirurg des „Reviers", der Krankenstation in Auschwitz, fand er heraus, dass Patienten für Sterilisierungsversuche missbraucht und ihre Hoden entfernt oder Röntgenstrahlung ausgesetzt worden waren. Diese Patienten hatten Tumore, waren geistig verwirrt und wiesen verstärkt weibliche Züge auf: „Dr. Levy ist davon überzeugt, dass nur wenige der so behandelten Patienten noch am Leben sind (...) die meisten waren zutiefst unglücklich und durch die Sterilisierung seelisch gebrochen (...) in schweren Fällen brach, von den Röntgenstrahlen verursacht, Krebs aus."11 Die „Erbgesundheitsgerichte" und der damit verbundene Apparat waren in der Sowjetischen und in der Amerikanischen Besatzungszone abgeschafft worden. Die zwischen 1933 und 1945 gefällten Urteile blieben aber weiter rechtskräftig. Auch viele Psychiater und Sterilisierungsbefurworter, die selbst keine aktiven Nationalsozialisten waren und auch nicht an „Euthanasie"-Entscheidungen mitgewirkt hatten, konnten nach 1945 im Amt bleiben. Für Kontinuität sorgte ferner eine konservative Familienpolitik in der Bundesrepublik, wo Homosexualität bis 1969 strafbar blieb und bis in die sechziger Jahre hinein Eugenikanhänger unter den Ärzten bei der 10 Geboren am 20. Mai 1894 Dettweiler (heute Dettwiller, Bas-Rhin). 11 N M T [Nuremberg Medical Trial] 2/605-8, 4/5957-8.

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Überwachung von Schwangerschaftsabbrüchen und -Verhütungen mitwirkten.12 Erst 1974 setzte die Bundesrepublik das „Erbgesundheitsgesetz" außer Kraft, ohne es jedoch ganz abzuschaffen. Einzelpersonen konnten Sterilisierungsurteile zwar anfechten, aber die meisten Urteile wurden bestätigt13 - aufgehoben wurden sie erst 1998. 1950 wurde der „Zentralverband der Sterilisierten und Gegner der Sterilisierung im Bundesgebiet" gegründet. Er gab die Zeitung „Der Notschrei" heraus, die den Opfern und ihren Anliegen eine Stimme verlieh. Die meisten Mitglieder erfüllten jedoch nicht die Aufnahmekriterien für die großen Verfolgtenverbände, so dass der Zentralverband letztendlich seine Auflösung beschloss. Der Druck, Entschädigung zu leisten, kam für beide deutsche Staaten vor allem von außen. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen verabschiedete am 4. Juli 1950 eine Resolution zum Leid der Opfer der so genannten wissenschaftlichen Forschungen, und verschiedene UN-Organisationen drängten die Bundesrepublik zu einer Entschädigung. Im März 1951 diskutierte der UN-Sozialrat darüber, ob die Frage der Schadensersatzforderungen am besten von internationalen Einrichtungen behandelt werden sollte. Die Tschechoslowakei, Polen und die UdSSR erwogen eine Lösung, bei der Unterstützung und Hilfe für die Opfer von den Staaten zu leisten wären, in denen die Opfer lebten. Die Delegierten aus Belgien, Frankreich, Großbritannien und der USA sprachen sich für eine Lösung unter UN-Beteiligung aus. Diese unterschiedlichen Haltungen sind deutlicher Ausdruck für den Ost-West-Konflikt und dafür, wie gespannt die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Staaten der sowjetischen Einflusssphäre waren. Im Endeffekt setzten sich die Befürworter einer UN-Lösung durch, und so kam es schließlich zu dem Vorschlag, dass die Internationale Flüchtlingsorganisation (IRO) einen Entschädigungsfonds verwalten und dabei in medizinischen Fragen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beraten werden sollte.14 Während also die Gerichtsverfahren den alliierten Militärbehörden und den jeweiligen staatlichen Stellen unterstanden, wurde die Entschädigungsfrage der internationalen Gemeinschaft überantwortet. Die Bundesrepublik Deutschland betrieb die Verfolgung der Täter nur halbherzig und die Opfer gerieten - trotz des Drängens der USA auf Entschädigung - in einen langwierigen Beurteilungsprozess. Medizinopfer erhielten meist keine Entschädigung oder Pensionszahlungen, ebenso wenig wie Roma oder Homosexuel-

12 Vgl. Weindling, Paul, Health, Race and German Politics, Cambridge 1989, S. 572 £ 13 Vgl. Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 244 f. 14 United Nations, Economic and Social Questions, in: Yearbook of the United Nations 1951, S. 505; The Plight of Survivors of Nazi Concentration Camps (Fifth TNA: PRO Progress Report by the SecretaryGeneral), United Nations Economic and Social Council, 12 Februar 1958.

Entschädigung der Sterílisierungs- und„Euthanasie"-Opfer nach 1945?

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le.15 „Rassenhygieniker" wie Hans Nachtsheim oder Mediziner wie Ernst Schenk, die selbst an Menschenversuchen beteiligt waren, plädierten gegen eine Entschädigung von Sterilisierungsopfern.16 Die Opfer erhielten keine spezifischen Entschädigungsleistungen, sondern hatten nur Anspruch auf eine kleine Ausgleichszahlung dafiir, dass sie mindestens ein Jahr in einem Lager interniert worden waren und dadurch eine dauerhafte Schädigung davongetragen hatten, die sie in ihrer Erwerbsföhigkeit einschränkte. Dabei ließen die deutschen Behörden offenkundigjegliche Anteilnahme bei Fällen von psychischer Störung vermissen.17 Ebenso unwillig wurden Forderungen von Roma behandelt. Der ethnische Hintergrund der Opfer blieb also von Bedeutung.18 Untersuchungen der IRO ergaben, dass der Gesundheitszustand der meisten Opfer dauerhaft beeinträchtigt war und sie wegen ihrer Verletzungen auch keine Einreisegenehmigungen erhielten. Unter internationalem Druck erklärte sich die Bundesrepublik schließlich dazu bereit, bei berechtigten Forderungen humanitäre Hilfe zu leisten. Diesefieljedoch nicht gerade üppig aus. Die Regierung verweigerte das Recht auf eine Pension und beschränkte Entschädigungszahlungen auf geringe Summen. 1951 wurde den Opfern medizinischer Experimente (zu denen auch Röntgensterilisierung zählte) eine freiwillige Entschädigung als Kulanzleistung geboten, falls die Betreffenden aufgrund ihrer Rasse, Religion, Einstellung oder politischen Uberzeugung verfolgt worden waren. Die gezahlte Summe belief sich auf durchschnittlich 5.860 DM, obwohl das Maximum bei 25.000 DM lag. Von 1.537 eingereichten Anträgen (bis 1958) wurden 423 positiv beschieden und 403 abgelehnt; über 707 Anträge waren noch nicht entschieden.19 Belgier und Briten wiesen darauf hin, dass jemand auch Opfer von Menschenversuchen sein könne, ohne in eine der von der deutschen Regierung aufgestellten Kategorien zu fallen.20 Die Familien von „Euthanasie"-Opfern wurden überhaupt nicht in Betracht gezogen, und es wurde auch kein Versuch unternommen, die Identität der Opfer festzustellen.

15 Pross, Christian, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Hamburg 1988, S. 103; Scheulen, Andreas, Zur Rechtslage und Rechtsentwicklung des Erbgesundheitsgesetzes 1934, in: Hamm, Margret (Hg.), Lebensunwert - zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie", Frankfurt am Main 2005, S. 212-219; Surmann, Rolf, Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung fur Zwangsterilisierte und „Euthanasie"-Geschädigte, in: Hamm, Margret (Hg.), Lebensunwert - zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie", Frankfurt am Main 2005, S. 198-219. 16 Pross, 1988, wie Anm. 15, S. 104 f 17 Pross, 1988, wie Anm. 15, S. 122 f., 150 f. 18 Siehe Crewe, David M., Germany and Its Gypsies: A Post-Auschwitz Ordeal, in: Holocaust and Genocide Studies 18 (2004), S. 296-300. 19 „Plight of Survivors of So-Called Scientific Experiments in Nazi Concentration Camps", Economic and Social Questions, in: Yearbook of the United Nations 1954, S. 417; USHMM [United States Holocaust Memorial Museum], Ferriday Papers, Box 2 M.H.; Davison, Armstrong, „Medical War Crimes", in: British Medical Journal, 10. Mai 1958, S. 1121; Townsend, Eric, „Medical War Crimes", in: The Times, 8. August 1958. 20 Yearbook of the United Nations 1951, S. 506.

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Auf Grundlage der Regelungen von 1953 und 1956 verweigerte die Bundesregierung jegliche Entschädigungszahlung, wenn es infolge der Versuche zu keinen bleibenden Schädigungen gekommen war oder die Personen nicht bedürftig waren. Die Opfer von Sterilisierungen waren zunächst automatisch von jeder Leistung ausgeschlossen, erhielten dann aber den niedrigsten Entschädigungssatz. 87 Sterilisierungsopfer erhielten 2.000 DM.21 Egon Schwelb, stellvertretender Direktor der UNMenschenrechtskommission, gab die Akten der Opfer an die Bundesrepublik weiter.22 In Frankreich war es die 1950 als Organisation von ehemaligen Häftlingen in Konzentrationslagern gegründete ADIR (Association nationale des déportées et internées de la Résistance) unter Leitung von Anise Postel-Vinay und Germaine Tillion, der Respekt einflößenden Uberlebenden des Konzentrationslagers Ravensbrück, die René Cassin auf die Notwendigkeit einer Entschädigung aufmerksam machten. 1952 begann die ADIR mit der Beschaffung ausfuhrlicher Informationen über alle Deportierten in Frankreich und anderen Ländern, die zu Menschenversuchen herangezogen worden waren. In Großbritannien drängten einzelne Ärzte auf angemessene Unterstützung und Entschädigung der Opfer. In den frühen sechziger Jahren war die westdeutsche Regierung bestrebt, die Nachkriegsära fur beendet zu erklären und den Entschädigungsprozess zum Abschluss zu bringen, obwohl die medizinischen Verbrechen nicht angemessen berücksichtigt worden waren.23 Arzte, die selbst Nationalsozialisten gewesen waren, begutachteten Entschädigungsanträge, und auch ihre diagnostischen Kategorien stammten noch aus jener Zeit.24 Emigrierte deutsche Psychiater wiesen darauf hin, dass die Deutschen durch die Kategorisierung eines Antragstellers als erblich schizophren ihre Verantwortung für die traumatischen Nachwirkungen der Menschenversuche leugneten. Der Psychiater John Thompson, der als einer der ersten das "Survivor Syndrome" untersuchte, und die New Yorker Psychiater Martin Wangh, Kurt Eissler und William Nederland gründeten 1964 gemeinsam ein „Provisionai Committee for the Medicai Rehabilitation of Victims of Human Disasters". Dieses Komitee protestierte bei Bundeskanzler Erhard dagegen, dass die Bundesregierung 43 Prozent aller Anträge auf Entschädigung ablehnte, weil in Folge von veraltetem medizinischem Wissen eindeutige Belege für gesundheitliche Schädigungen ignoriert würden.25 Noch schwieriger war es, den Apparat, der die medizinischen Gräuel verursacht hatte, zu demontieren und das ganze Ausmaß der Verbrechen herauszufinden. Seit 1976 widmete sich Günther Schwarberg der Aufgabe, die zwanzig bislang namen-

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USHMM, FC Box 3 File 3 1952-1957, Friends of ADIR and U N Victims, memo on ADIR, 20. Dezember 1957; Yearbook of the United Nations 1952, S. 437. USHMM, Ferriday Papers Box 2 FC Schwelb to Ferriday 3 May 1957,31 Dezember 1957. Pross, 1988, wie Anm. 15, S. 110. Pross, 1988, wie Anm. 15, S. 142. NYPL [New York Public Library], Lifton Papers A 20, Provisional Committee to Chancellor Ludwig Erhard, 3. März 1965.

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losen Kinder zu identifizieren, die im Konzentrationslager Neuengamme zu Menschenversuchen missbraucht und dann in der Schule Bullenhuser Damm ermordet worden waren. Seine Bemühungen stehen am Anfang einer neuen Phase kritischer historischer Studien zur Medizin im Nationalsozialismus.26 Sozialhistoriker beschäftigten sich mit Themen wie dem Ausschluss von Juden aus dem nazifizierten Medizinwesen. Einige wenige Medizinhistoriker begannen, sich mit diesen Gräueln auseinanderzusetzen. Eine neue kritische Betrachtungsweise von medizinischer Forschung und Gesundheitspolitik entwickelte sich und bezichtigte die Nachkriegsmedizin der Kontinuitäten zwischen dem Dritten Reich und der medizinischen Versorgung und Gesundheitspflege in Westdeutschland. Doch Täter genossen noch immer weitaus mehr Aufmerksamkeit als die Opfer. Als sich die Deutschen um die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen bemühten, war es wichtig, auch das Thema der Entschädigung zur Sprache zu bringen. Also organisierte John Wangh eine öffentliche Versammlung in New York, bei der sowohl Uberlebende als auch Wissenschaftler, insbesondere Robert Lifton, teilnahmen, und Wangh selbst sprach auch im NBC Radio. Der deutsche Botschafter bat Wangh darum, die Veranstaltung abzusagen. Am 3. März 1965 schrieb das Komitee den erwähnten Brief an Bundeskanzler Erhard. Es sandte den Brief in Kopie an den westdeutschen Finanzminister, an Rainer Barzel, Erich Mende und an Freiherr Knud von Kühlmann-Stumm und gab ihn zur Veröffentlichung frei.27 Am 7. März 1965 veranstaltete das Komitee ein „Forum on Late Consequences of Massive Traumatization with Particular Emphasis on Problems of the Nazi Victims". Die Veranstaltung sollte für die Gründung einer internationalen Organisation für Opfer von menschengemachten Katastrophen werben, um deren Uberlebenden zu helfen und sie soweit wie möglich zu rehabilitieren; aber auch um dem „Persecution and Survivor Syndrome" zur Anerkennung zu verhelfen. In den späten sechziger Jahren machte eine neue kritische Haltung gegenüber gesellschaftlicher Autorität und der Medizin von sich reden. Das äußerte sich deutlich in vermehrtem sozialen Protest und in der Rezeption von Zeitschriften wie etwa „Das Argument", in der Eröffnung von so genannten Gesundheitsläden und in Forschungsinitiativen zu den Krankenhausakten von „Euthanasie"-Opfern. Die jüngere Generation zeigte sich solidarisch mit den Opfern des Nationalsozialismus und nahm die beschwerliche - und bis heute unabgeschlossene - Arbeit auf sich, das damalige medizinische System zu analysieren und wissenschaftlich zu rekonstruieren. 1984 erschien dann ein Buch, in dem - etwas tendenziös - die Meinung vertre-

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Schwarberg, Günther, Der SS-Arzt und die Kinder. Bericht über den Mord vom Bullenhuser Damm, Hamburg 1979 (The Murders at Bullenhuser Damm. The SS Doctor and the Children, Bloomington 1984); Schwarberg, Günther, Meine zwanzig Kinder, Göttingen 1996. NYPL, Lifton papers A 20, Provisional Committee to Chancellor of the Federal Republic of Germany, 3. März 1965, unterzeichnet von Martin Wangh, John Thompson, Arthur Zitrin, Jack Sheps, Albert Haas. Siehe hierzu demnächst: Weindling, Paul.John Thompson: A Psychiatrist On Call to the Human Disasters of the Twentieth Century, Rochester 2008.

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ten wurde, dass in der Sozialhygiene Kontinuitäten zwischen der Eugenik, dem Faschismus und der Bundesrepublik bestünden. Das Buch begann mit biographischen Notizen von Paul Wulf, der im März 1938 zwangssterilisiert worden war und seit 1949 versucht hatte, dafür eine Entschädigung zu erhalten - ohne Erfolg. Er dachte darüber nach, warum der so genannte Rechtsstaat sich in dieser Weise den gesetzlichen Rechten seiner Bürger verweigere. Sein Fall machte das Fehlen jeglicher gesetzlicher Grundlagen för einen Entschädigungsanspruch deutlich und zeigte zugleich die Kontinuitäten des Personals, die seit den Zeiten der „Erbgesundheitsgerichte" ungebrochen waren.28 Zunächst konnten die Opfer durch ein Berufungsverfahren die Aufhebung der Urteile beantragen. Eine Begründung dabei war medizinischer Art, nämlich dass die Diagnosen aus jener Zeit keine Gültigkeit mehr hätten. Eine zweite lag in dem Nachweis, dass die Verfahren nicht korrekt waren. Zwischen 1947 und 1965 strebten ungefähr 4.000 zwangssterilisierte Personen eine Revision der Urteile gegen sie an; 26 Prozent von ihnen wurde sie auf der Grundlage gewährt, dass die seinerzeitigen Entscheidungen nicht in Ubereinstimmung mit den gesetzlichen Regelungen oder aufgrund falscher Diagnosen gefallt worden waren.29 Die Bundesrepublik (ebenso wie die Republik Österreich) weigerte sich zunächst, den nach dem „Erbgesundheitsgesetz" Sterilisierten Entschädigung zu zahlen. Erst 1980 wurden 5.000 DM als einmalige Ausgleichszahlung gewährt. Diese Summe (2.556,46 Euro) wurde nicht an die Inflation angepasst. Zwischen 1980 und 2000 erhielten 13.739 Opfer (andere Quellen sprechen von ungefähr 16.000 Opfern) eine Entschädigung. Nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz wurde seit 1988 zusätzlich eine monatliche Zahlung von 120 DM angeboten. Am 25. August 1998 kam es im Bundestag dann endlich zur Anerkennung der Zwangssterilisierung als Akt nationalsozialistischen Unrechts und zur Widerrufung der Rechtmäßigkeit aller Urteile der „Erbgesundheitsgerichte". Verurteilt wurden allerdings nur die Maßnahmen aufgrund des „Erbgesundheitsgesetzes", nicht das Gesetz selbst. Bis zur vollständigen Gleichstellung der Sterilisierung mit anderen Gräueln aus der Zeit des Nationalsozialismus hatte es 60 Jahre gedauert; in der ganzen Zeit wurde den Opfern keinerlei öffentliche Unterstützung und Beratung oder die Anerkennung von Pensionsansprüchen zuteil. Ferner ist festzustellen, dass die Zahl der Entschädigten im Verhältnis zu der Gesamtzahl der Sterilisierten sehr klein ist und dass die einmalige Ausgleichszahlung niedrig ist und nie an die Inflation angepasst wurde.

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Siehe Wulf Paul, Zwangssterilisiert. Biographische Notizen, in: Roth, Karl Heinz (Hg), Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe", Berlin 1984, S. 7-9; Krieg, Robert, Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W. - Wiedergutmachung eines Zwangssterilisierten im Nachkriegsdeutschland, in: Roth, Karl Heinz (Hg), Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe", Berlin 1984, S. 10-29; Neu abgedruckt in: Freundeskreis Paul Wulf (Hg.), Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune - NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand, Nettersheim 2007. Vgl. Hinz-Wessels, 2004, wie Anm. 5, S. 217.

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Regelungen für nicht-deutsche Opfer spielten eine untergeordnete Rolle, und monatliche Zahlungen an andere als deutsche Staatsbürger wurden nicht gewährt. In Osterreich konnte den Sterilisierungsopfern je nach Ermessen eine einmalige Entschädigung von 70.000 Schilling (5.087,10 Euro) durch den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus ausgezahlt werden; die Urteile wurden nicht aufgehoben.30 In den achtziger Jahren kam es zu Protesten gegen deutsche und österreichische wissenschaftliche und medizinische Einrichtungen, die über Präparate von „Euthanasie"-Opfern oder aus Konzentrationslagern verfugten. Das führte 1989 zu einer Konferenz der Kultusminister und Rektoren, und im Dezember 1990 wurden Gewebeproben und die Gehirne von 33 Kindern und Jugendlichen bestattet, die 1940 im Zuchthaus Brandenburg-Görden ermordet und im Max-Planck-Institut für Gehirnforschung in Frankfurt am Main aufbewahrt worden waren. Dabei waren Vertreter deutscher akademischer Einrichtungen anwesend, nicht aber Verwandte oder andere Opfer nationalsozialistischer Verbrechen.31 Mit Unterstützung des Psychiaters und „Euthanasie"-Historikers Klaus Dörner wurde 1987 in Detmold der „Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V." gegründet. Diese Organisation verlieh den Belangen der Opfer eine kollektive Stimme und öffentliche Präsenz. Auch hat der Bund die Aufzeichnung von Lebens- und Leidensgeschichten erleichtert, seien sie anonym oder namentlich. Die Definition „Euthanasie-geschädigt" umfasst auch Ehepartner und Kinder. Auch wenn sie für die Betroffenen spät kam, 2002 wurden lebenslange Zahlungen auf monatlicher Basis eingerichtet. Das Bundesfinanzministerium hat Zahlungen an etwa 16.000 Zwangssterilisierte und etwa 150 „Euthanasie"-Geschädigte geleistet. Dies sind im Vergleich zur Gesamtzahl der Opfer nur sehr wenige Personen. Bis zur Abschaffung 1998 gehörte zum Antragsprozess auch eine fachärztliche Bescheinigung, die von Ärzten, welche die nationalsozialistische Gesetzgebung befürwortete hatten, abgelehnt wurde. 1988/90 bewilligte der Deutsche Bundestag auch diesen Opfern eine einmalige Härteausgleichszahlung von 5.000 DM.32 In der DDR wurden Entschädigungen unabhängig von Einkommen oder medizinischen Nachweisen gezahlt. Seit 2002 erfordern die Regeln für monatliche Zahlungen keinen Nachweis der Bedürftigkeit mehr. Es sollten jedoch das Alter der Zuwendungsempfanger (jenseits der Pensionsgrenze) und ihre abnehmende Zahl stets bedacht werden. Offensichtlich haben die meisten Opfer nie eine finanzielle Entschädigung erhalten. Beantragen konnten diese auch Personen, die vom nationalsozialistischen Staat als 30

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Vgl. Spring, Claudia, Verdrängte Überlebende. NS-Zwangssterilisationen und die legistische, medizinische und gesellschaftliche Ausgrenzung von zwangssterilisierten Menschen in der Zweiten Republik, Wien 1999. (Diplomarbeit) „Trauerfeier für Präparate von NS-Opfern", in: FAZ, 19. Dezember 1990. Bund der „Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten, Februar 1992 an den Deutschen Bundestag.

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„Arbeitsscheue", „Arbeitsverweigerer", „Asoziale", „Homosexuelle", „Wehrkraftzersetzer", „Wehrdienstverweigerer", „Kriminelle" und „Landstreicher" eingestuft wurden und deswegen Zwangsmaßnahmen unterworfen waren, etwa in Form einer Internierung in Konzentrationslagern oder ähnlichen Einrichtungen. Die heutige Situation lässt freilich immer noch zu wünschen übrig. Schätzungen zufolge leben in der Bundesrepublik noch 55.000 Menschen, die von den Sterilisierungsmaßnahmen zur Zeit des Nationalsozialismus betroffen sind. Erst als die Opfer bereits im fortgeschrittenen Alter waren, hat die Bundesrepublik von der Praxis der Einmalzahlungen Abstand genommen. Die Opfer von Röntgensterilisierung und anderen Experimenten an Geschlechtsorganen wurden durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" entschädigt. Da die Zahl der Anträge von Opfern die Erwartungen überstieg, musste die Höhe der Einmalzahlungen reduziert werden, obwohl 2003 entschieden wurde, dass auch die aufgelaufenen Zinsgewinne den Opfern zugute kommen sollten. Die ausgezahlte Summe der einmaligen Zahlung belief sich auf 8.300 DM, nachdem beinahe sechzig Jahre seit der Verstümmelung vergangen waren. Die Themen Sterilisierung und „Euthanasie" wurden bislang überwiegend als deutsches Problem gesehen, die Folgen der deutschen Sterilisierungsmaßnahmen in besetzten Gebieten (Osterreich, besetze Teile der Tschechoslowakei, das Elsass und Polen) blieben meist ausgeblendet. Dies bedeutete eine privilegierte Position der deutschen Opfer gegenüber staatenlosen oder ausländischen Opfern, selbst wenn diese in Deutschland leben. Zweitens konzentriert man sich auf das „Erbgesundheitsgesetz". Bislang gibt es keine Studie zu Sterilisierungen durch Röntgenstrahlung. Während der Opfer des Holocaust namentlich gedacht wird, bleiben die Opfer der „Euthanasie'-Maßnahmen weitgehend anonym. Diese Anonymisierung schützt das Netzwerk der verantwortlichen medizinischen Spezialisten und verdeckt das Leiden der Opfer. Wegen der besonderen Art der Operation ist das Thema Sterilisierung ein besonders sensitives. Namentlich veröffentlichte Berichte wie der von Paul Wulf bleiben hier die Ausnahme. Dennoch steht die Erfahrung einer Zwangssterilisierung auf derselben Stufe wie alle anderen nationalsozialistischen Gräuel: Und auf dem Weg der Rehabilitierung mussten die Opfer einen langen Marsch durch bürokratische und gerichtliche Institutionen auf sich nehmen. Zudem begegneten sie der offiziellen Leugnung, dass sie Opfer rassistischer Gräueltaten waren, und dem Unwillen, ihrer individuell als Menschen zu gedenken.

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1933/1945: Zäsuren zum Bösen - Zäsuren zum Guten

Wenn wir die Historiographie wegen des zu großen Aufkommens von Märchen nicht mit Herodot, sondern mit Thukydides beginnen lassen, können wir sagen, dass die Geschichtsschreibung - wenigstens die Geschichtsschreibung des Abendlandes - mit der Quantifizierung einer Katastrophe - des Peloponnesischen Krieges - beginnt: „Es war bei weitem die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen unter den Menschen überhaupt."1 Thukydides' Argument ist tatsächlich zunächst quantitativ: er vergleicht den Peloponnesischen mit dem, was man bei Homer über den Trojanischen Krieg findet, weitet das Argument zu einer kleinen Geschichte der griechischen Poleis aus und resümiert dann, indem er deutlich macht, dass er sehr wohl weiß, dass er nur einen Topos zu bedienen scheint: „Obgleich die Menschen den Krieg, den sie gegenwärtig gerade fuhren, immer für den größten halten (...), so wird doch dieser Krieg sich dem, der auf das wirklich Geschehene merkt, als das größte aller bisherigen Ereignisse erweisen."2 Im Laufe des Buches erfahren wir, dass dieser Krieg für Thukydides nicht nur qua militärischem Geschehen - Anzahl der Kämpfenden, Modernität des Kriegsgeräts und der Strategie, speziell auf die Marine bezogen, Dauer des Konflikts - als Ereignis ohne Präzedenz angesehen wird, sondern auch wegen der zivilisatorischen Verheerungen, die er mit sich gebracht hat. Eindringlich schildert Thukydides wie sich das Verhalten der Menschen unter den Bedingungen jahrelang ausgeübter und erlittener Gewalt verändert. Dieses war es, wovor sein Zeitgenosse Eurípides warnte, als er am Vorabend des Versuchs, das Kriegsglück durch einen Uberfall auf Sizilien zu wenden, die „Troerinnen" schrieb und aufführen ließ, in denen der für einen Griechen alarmierende Satz fällt, sie, die Griechen, seien die eigentlichen Barbaren: Das Stück zeigt, dass am Ende eines so erbarmungslos geführten Krieges nicht nur eine zerstörte Stadt und tote und versklavte Menschen stehen, sondern Sieger, die Opfer ihrer Selbstbarbarisierung werden. Als Schiller die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" schrieb, lag der Abschluss des Westfälischen Friedens etwa 140 Jahre zurück. Und doch schreibt Schiller über ein Ereignis, das bis in seine eigene Zeit von prägender Bedeutung ist: „Ein dreißigjähriger verheerender Krieg, der von dem Innern des Böhmerlandes bis an die Mündung der Scheide, von den Ufern des Po bis an die Küsten der Ostsee 1 2

Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, übers, von Georg Peter Landmann, München 1993, S. 6 f. (I, 1). Thukydides, 1993, wie Anm. 1, S. 31 (I, 21).

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Länder entvölkerte, Ernten zertrat, Städte und Dörfer in Asche legte; ein Krieg in welchem mehr als dreimal hundert tausend Streiter ihren Untergang fanden, der den aufglimmenden Funken der Kultur in Deutschland auf ein halbes Jahrhundert verlöschte, und die kaum auflebenden bessern Sitten der alten barbarischen Wildheit zurück gab."3 Dasselbe Motiv: Zerstörung und Selbstzerstörung, und es wiederholt sich im 20. Jahrhundert: Man muss vielleicht nicht so weit gehen wie Stephen Toulmin und sagen, dass um 1910 „Kultur und Gesellschaft im Begriff [waren], zu der Welt der politischen Mäßigung und menschlichen Toleranz zurückzukehren, die der Traum Heinrich von Navarras und Michel de Montaignes war" - jedenfalls wird man nicht umkommen diesem lapidaren Satz zuzustimmen: „Statt daß Europa zu den Werten der Renaissance zurückkehrte, stürzte das Dach ein."4 Die Empfindung, dass das Dach eingestürzt sei, ist bekanntlich keine der Retrospektive; wir kennen die zeitgenössischen Reaktionen der Literatur und Kunst, und ich meine wieder nicht nur diejenigen, die das Kriegsgeschehen direkt thematisieren, sondern diejenigen, die einer erschütterten zivilisatorischen Selbstgewissheit Ausdruck verleihen, etwa das schreckliche Ende von Thomas Manns „Zauberberg", wo wir den Helden auf irgendeinem Schlachtfeld wenige Momente nachdem er die Hand eines toten Soldaten mit seinem schweren Stiefel „tief in den schlammigen, mit Splitterzweigen bedeckten Grund hinein" tritt, aus den Augen verlieren. Und es heißt auf diese Momentaufnahme hin lakonisch: „Er ist es trotzdem."5 Rund zwei Jahre nachdem diese Worte geschrieben waren schreibt Karl Kraus den kurzen Artikel „Die allerletzten Tage der Menschheit" - Anlass: die Schilderung eines Eisenbahnunglücks, bei dem die Verwundeten nicht nur bestohlen, sondern mit Füßen in den Dreck getreten werden.6 Und in seinem Kommentar über die zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen des Versailler Friedens schrieb John Maynard Keynes: „Durch krankhafte Täuschung und rücksichtsloses Selbstbewußtsein getrieben, stürzte das deutsche Volk die Fundamente, auf denen wir alle lebten und bauten. Aber die Wortführer des französischen und des britischen Volkes haben das Wagnis unternommen, den Umsturz zu vollenden, den Deutschland begann, durch einen Frieden, dessen Verwirklichung das empfindliche, verwickelte, durch den Krieg bereits erschütterte und zerrissene System, auf Grund dessen allein die europäischen Völker arbeiten und leben können, noch weiter zu zerstören, statt es wiederherzustellen. (...) Paris war wie ein böser Traum, und jeder Mensch dort wie ein Kranker."7

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Schiller, Friedrich, Geschichte des dreißigjährigen Krieges, in: ders., Werke und Briefe in 12 Bänden, hrsg. v. Otto Dann, Bd. 7, Frankfurt am Main 2002, S. 12. Toulmin, Stephen, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1991, S. 244. Mann, Thomas, Der Zauberberg, hrsg. v. Michael Neumann, Frankfurt am Main 2002, S. 1084. Vgl. Kraus, Karl, Die allerletzten Tage der Menschheit, in: ders., Brot und Lüge. Aufsätze 1919-1924, hrsg. v. Christian Wagenknecht, Frankfurt am Main 1991, S. 103-107. Keynes, John Maynard, Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles, hrsg. v. Dorothea Hauser, Berlin 2006, S. 39, 41.

Zäsuren zum Bösen - Zäsuren zum Guten

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Für Keynes war der Versailler Friedenvertrag eine aus der Kriegsverrohung geborene politische und ökonomische Dummheit ersten Ranges, die den Keim zu Kriegen und Umstürzen legen würde, und die er, im Bewusstsein der Vergeblichkeit seines Tuns, als Theoretiker zu verhindern suchte; Karl Kraus hatte in den „Letzten Tagen der Menschheit" prophezeit, dass auf den Weltkrieg kein Frieden folgen werde: „Die Front ist ins Hinterland hineingewachsen. Sie wird dort bleiben. (...) Die Welt geht unter und man wird es nicht wissen." 8 Als sie dann unterging, und er - 1934 - begründete, warum er den Umsturz des Jahres 1933 nur mit dem Gedicht „Man frage nicht", das mit der Zeile endet „Das Wort entschlief, als diese Welt erwachte", kommentiert hatte: „Warum die Fackel nicht erscheint" - ein Text von über 300 Seiten, der dann später zur „Dritten Walpurgisnacht" umgearbeitet wurde - schrieb er, dass „zum großen T h e m a des Aufbruchs der Hölle" derjenige versage, „dessen Werk vergebens getan war: den Teufel an die Wand zu malen." 9 Wie sehen wir auf die Zäsur von 1933 zurück? Zunächst können wir zweierlei mit einigermaßen Sicherheit konstatieren: Wir sind sowohl weniger entsetzt als viele deijenigen, die zeitgenössisch diese Zäsur auch tatsächlich als Zäsur erlebten, wir sind aber gleichzeitig geneigt, sie weit mehr zu verrätsein als jene. Zwar konnte jemand wie Klaus Mann am 30. Januar 1933 in seinem Tagebuch notieren „Schreck. Es nie für möglich gehalten", aber das war ein politischer Schock eines Menschen, der gehofft hatte, es werde noch irgendwie gut gehen, nicht etwas wie ein anthropologischer Schock. Nun war 1933 für kaum jemanden abzusehen, was die folgenden zwölfJahre bringen würden, und insofern blicken wir von deren Ende auf das Datum zurück. Gleichwohl - was wir retrospektiv mit Entsetzen wahrnehmen, müssen wir doch nicht darum mit Erstaunen wahrnehmen. Gerade die Lektionen des 20. Jahrhunderts sind es doch, die uns jene anthropologische Naivität genommen haben müssten, die wir dennoch angesichts ihrer so ausdauernd pflegen. Sich über die Zäsur zum Bösen zu wundern, als wäre sie nun nicht eben Grund genug, das diesbezügliche Wundern einzustellen, ist nicht statthaft. Gewiss, vor Zeiten las sich das anders. A m 22. Juli 1766 schreibt der 43jährige Christoph Martin Wieland aus Weimar an den 14 Jahre jüngeren Johann Karl Wezel in Berlin: „Ich weiß nicht wie es zugeht, aber ich kann und will mich nicht erwehren, Sie immer lieber zu kriegen, wiewohl Sie als Autor alles thun, um sich haßen zu machen. Was Zum Henker ist Sie nun wieder angekommen, diesen neuen Frevel an der armen Menschheit zu begehen, diesen verwünschten Belphegor, an den Sie ein so hübsches Theil Ihrer geistigen Habe verschwendet haben, und der gleichwohl wie er ist (...) Sie Ihrem Jahrhundert mehr verhaßt als lieb macht, und Ihnen nicht einmal den Trost giebt, Wahrheit verkündiget zu haben. Denn mit Ihrer Erlaubnis, es ist beynahe kein wahres Wort

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Kraus, Karl, Die letzten Tage der Menschheit, hrsg. v. Christian Wagenknecht, Frankfurt am Main 1986, S.659. Kraus, Karl, Die Fackel Nr. 890-905, Wien 1934, S. 33.

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an Ihrer ganzen Menschenfeindlichen Theorie; und Sie haben aus der Menschl. Natur und der Geschichte der Menschheit ein so verzogenes, verschobenes affentheuerliches und Raupengheurliches Unding gemacht, daß unser Herr Gott gewiß seine Arbeit in Ihren Gemälden nicht erkennen wird."10 Jener „Belphegor" Wezeis, untertitelt „die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne", ist etwas wie ein Seiten- oder Gegenstück zu Voltaires „Candide". Vier Menschen werden durch die Welt geprügelt, entfuhrt, gefangen, gequält, sind am Ende lebende Prothesenansammlungen. Viel mehr passiert nicht, außer dass sie ihr Verhängnis je nach Charakterlage mal so mal so kommentieren. Wezel garniert das Ganze mit einigen Sottisen wie den Gedanken Alexanders des Großen, die er am Beginn seiner Laufbahn gehabt habe: „Kommt! Wir wollen die Perser, Asien und Europa, so lange herumprügeln, bis mich jeder kleine Junge für einen großen Mann erkennt." In diesem durchaus bizarren Roman ist das Bemühen des Autors zu erkennen, der Menschheit das Übelste nachzusagen, was sich nur denken lässt, und so kommt es in der Mitte des Buches zur Beschreibung einer Szenerie, wo unsere Helden „an einen gräßlichen Wahlplatz" gelangen, „wo Schaaren über einander gestürzter Leichname in gräßlichen Haufen" lagen, so können wir uns der Assoziation des Anblicks, das Bergen-Belsen den einrückenden britischen Truppen bot, nicht entziehen. Für Wezel ist das eine Klimax des Entsetzlichen, wo er die Realität phantasierend überbieten will: Sie „setzten ihre Wanderschaft fort und fanden hin und wieder halblebende Tote aber nirgends einen völlig Lebendigen. - Was soll das? rief Belphegor. Sind das Anstalten, die menschliche Gattung in diesen Gegenden auszurotten? Eine so ausgesuchte Begierde hat doch keiner der berühmtesten Tollköpfe noch gehabt."11 Der von Wieland als ärgerlicher Misanthrop gescholtene Autor des 18. Jahrhunderts hielt es selbst nicht für möglich, was das 20. Jahrhundert diesbezüglich auffuhren würde. Wir wissen mehr über das dem Menschen Mögliche als das 18. Jahrhundert. Woher dann aber die Sucht, das Geschehen zu verrätsein? Warum die Meinung, hier müssten Historiker antreten und uns irgendetwas erklären? Wie sollte denn eine solche Erklärung aussehen? Ich habe an anderem Ort einmal ausgeführt, dass der Wunsch nach Erklärung solcher Ereignisse den Versuch darstellt, uns einen Bruch verstehbar zu machen, weil aber das Verstehen zur Einsicht fuhren müsste, dass kein tatsächlicher (wenn auch ein normativer) Bruch vorliegt, weisen wir Erklärungen immer wieder zurück mit der Behauptung, hier werde etwas verharmlost. Tatsächlich gibt es in solchen Fällen keine historischen Erklärungen, sondern mal mehr, mal weniger ausführliche Beschreibungen der Abläufe: An die Stelle des „Wie konnte es geschehen?" tritt die deiktische Geste: „So ist es geschehen."

10 Seiffert, Hans Werner (Bearb.), Wielands Briefwechsel, Bd. 5: Briefe der Weimarer Zeit (21. September 1772 - 31. Dezember 1777), Berlin 1983, S. 529. 11 Wezel, Johann Karl, Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, Nördlingen 1986, S. 155.

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Wenn Walter Kempowskis lange unterschätzter Roman „Tadelloser & Wolff' mit der sowjetischen Besetzung Rostocks und den beim Blumengießen auf dem Balkon gesprochenen berühmten Worten endet: „'Wie isses nun bloß möglich', sagte meine Mutter. ,Ich glaub', wir gehen rein.'"12, so ist der Roman, der diesen Schlusssätzen vorausging, nichts als die Antwort auf diese Frage: So. Saul Friedländer hat im zweiten Teil seiner großen Studie „Das Dritte Reich und die Juden" gesagt, man habe „viele Male ohne großen Erfolg versucht", den Ursprung von Hitlers „mörderischen Wahnvorstellungen" zu finden, aber das sei keine sonderlich interessante Frage. Interessant sei vielmehr das, was Martin Broszat die „Führerbindung" genannt hat, „warum Millionen und Abermillionen von Deutschen ihm bis zum Ende blind nachfolgten" - es sei schwierig „in einer modernen Gesellschaft, die nach den Regeln instrumenteller Rationalität und bürokratischen Verfahrensweisen funktioniert", eine solche „charismatische Anziehungskraft" zu verstehen, und er sagt, die „einzige plausible Interpretation" sei, dass „die moderne Gesellschaft (...) im Rahmen eines Systems bleibe, das im übrigen von einer ganz anderen Dynamik beherrscht ist, durchaus offen für die ständige Gegenwart religiöser oder pseudoreligiöser Anreize".13 Diese Sätze, gegen Ende seiner Studie formuliert, besagen nichts anderes, als dass die Fakten, die er in die Form einer großen Geschichtserzählung gebracht hat, einfach nicht zu dem Bild einer primär instrumenteller und bürokratischer Logik folgenden Gesellschaft passen. Dass das Bild, das moderne Gesellschaften gerne von sich (und ein Teil moderner Gesellschaftstheorie von ihnen) entwerfen, illusionär ist, ist dabei kein gelüftetes Geheimnis, sondern das, was sich dabei zeigt. „So ist es geschehen - und nicht so." Die berühmte Anschlussfrage an das „Wie konnte es geschehen", wie immer diese auch beantwortet wird: „Wie ist es zu erklären, dass ganz normale Menschen..." (besonders gern „normale Familienväter"), ist ja ihrerseits auch nicht anders zu beantworten als mit dem Hinweis aufs Tatsächliche: „Na, wer denn sonst?" Als man Alexander Mitscherlich vorhielt, er würde einem ganzen Berufsstand die Verbrechen einiger weniger Perverser in die Schuhe schieben wollen, konnte er nur auf die Quantität von Menschenversuchen und medizinalisiertem Töten verweisen: Mit einer Handvoll klinischer Sadisten wäre das nicht zu bewerkstelligen gewesen. Das Insistieren auf der Möglichkeitsfrage kann auch nur biographisch beantwortet werden- und wiederum nicht in der Hoffung, es werde sich irgendwo ein Rätsel lösen. Dennoch sind Fragen, die ausdauernd und immer wieder gestellt werden, auch wenn sie nicht sinnvoll beantwortet werden können, nicht einfach nur dumm oder komplett sinnlos. In der Regel haben sie einen kommunikativen Sinn, wenn auch nicht den, den die, die sie stellen, meinen. Einmal ist die Suche nach dem Rätsel, der

12 Kempowski, Walter, Tadelloser & Wolff Ein bürgerlicher Roman, München 1996, S. 479. 13 Friedländer, Saul, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2: Die Jahre der Vernichtung, München 2006, S. 686 f.

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Versuch, sich mit dem Bösen nicht abzufinden. Wenn es schon da ist, bestehen wir darauf dass es nicht selbstverständlich ist. Adorno hat in den „Minima Moralia" unter dem bezeichnenden Titel „Kind mit dem Bade" vor allzu großer Desillusionierungsbereitschaft gewarnt: „Daß die Kultur bis heute mißlang, ist keine Rechtfertigung dafür, ihr Mißlingen zu befördern, indem man wie Katherließchen noch den Vorrat an schönem Weizenmehl über das ausgelaufene Bier streut."14 Aber es geht noch um etwas anderes, und darum habe ich eingangs die Autoren von Thukydides bis Keynes zitiert. Wir sind durch die Jahrhunderte hindurch der Ansicht, dass Zivilisationskatastrophen nicht ohne Folgen bleiben. Ich meine nicht die trivialen, dass die Erschlagenen eben erschlagen bleiben, sondern dass von einer Katastrophe letztlich alle - wenn auch selbstredend in sehr unterschiedlicher Form - betroffen sind: darum des Euripides Mahnung gekleidet in eine Geschichte aus alter Zeit. Wenn Männer wie Kraus und Keynes der Ansicht waren, dass die europäische Kultur durch den Weltkrieg deformiert worden sei, wenn wir ihnen Recht geben, weil wir den Zusammenhang von Weltkrieg, Revolutionen von links und rechts, militärischen wie zivilen Massentötungen sehen: Was hätte dann in der ersten Hälfte der Vierziger des vorigen Jahrhunderts die Prognose sein müssen? Sie waren danach. Wir finden bei Adorno wie bei Thomas Mann denselben Gedanken: dass die deutschen Untaten, wollte man sie denn angemessen ahnden, Maßnahmen erforderten, die dazu fuhren würden, dass die Alliierten zu Nazi-Methoden greifen müssten. Andererseits würde, solche Maßnahmen zu unterlassen, aller Welt demonstrieren, dass man mit Vernichtungskrieg und Genozid einfach durchkommt. Adorno war der Meinung, dieses würde in Europa faschistische Bewegungen nur so aus dem Boden schießen lassen. Hannah Arendts düsteres Wort „Dies hätte nicht geschehen dürfen", denn eigentlich könne in der Politik alles wieder in Ordnung gebracht werden - dies nicht, geht in eine ähnliche Richtung. Und wenn ich ein eigenes Erlebnis hinzufügen darf: Als ich das erste Mal die Gedenkstätte Auschwitz im polnischen Oswiecim betrat, durch jenes Tor, dessen Bild Sie alle kennen, hatte ich plötzlich ein Derealisierungserlebnis, und zwar in zwei Schüben: Zunächst schien mir der ganze Ort wie eine bloße Bühne mit Kulissen, dann, als ich mich gleichsam zur inneren Wahrnehmungsordnung rief („Das ist alles wirklich und hier"), hatte ich, so sonderbar es klingt, für einen Moment das Gefühl, mich gebe es nicht mehr. Irgendetwas hatte sich einen Moment vehement in mir gewehrt zuzulassen, dass DAS und WIR (in diesem Falle ich) in derselben Welt sein könnten. Es ist, meine ich, die Zäsur von 1945 - nicht die von 1933 - die uns vor die entscheidenden kognitiven Probleme stellt, und zwar solche, die uns überfordern, und also vollziehen wir etwas, was im Vokabular der Psychoanalyse Verschiebung

14 Adorno, Theodor W., Minima Moralia, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 4, S. 49.

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heißt. Man könnte auch sagen: Wir verrätsein die Zäsur von 1933, um uns mit den beunruhigenden Aspekten der Zäsur von 1945 nicht befassen zu müssen. Ein anderer Weg, das nicht tun zu müssen, war sie zu leugnen. Ich meine nicht in dem trivialen Sinne, in dem die Rede von der Stunde Null rechtens Lügen gestraft wurde, die vielen Mängel in der historiographischen Behandlung des Nationalsozialismus in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sowie die moralischen Defizite bei Entschädigungszahlungen, den Verschleppungen der Rückgabe von Geraubtem und so weiter. Das versteht sich. Gleichwohl war die Zäsur von 1945 in beiden deutschen Teilstaaten, wenn auch auf je unterschiedliche Weise - eine wirkliche Zäsur und nicht eine bloße Camouflage. Ganz einfach: Ein Regime, das seine Essenz in Völkermord und Vernichtungskrieg hatte, wurde nicht fortgesetzt. Man konnte das konstatieren und doch weiterhin misstrauisch bleiben. Hannah Arendt sah bei ihrem Deutschlandbesuch kopfschüttelnd Deutsche inmitten der Ruinen Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, die es gar nicht mehr gab, schreiben - gleichzeitig konstatierte sie einen „blinden Zwang (...) dauernd beschäftigt zu sein", ein gieriges „Verlangen, den ganzen Tag pausenlos an etwas zu hantieren"15: der Wiederaufbau als Verleugnungsleistung. Theodor W. Adorno sah dies in der Auswertung des vom Frankfurter Institut fiir Sozialforschung veranstalteten Gruppenexperiments ähnlich - er sah die Bereitschaft zur Zäsur mit der Vergangenheit an die Fortdauer des zu jener Zeit beginnenden Wirtschaftswunders gebunden. Ein solcher Verdacht klingt wie die Kehrseite von der These in Götz Alys „Hitlers Volksstaat", das deutsche Volk sei mit niedrigen Steuern, einem attraktiven Rentensystem und der Lizenz, die Juden und überhaupt das besetzte Europa kollektiv wie individuell auszurauben, zur Loyalität bestochen worden. Dass diese These Einiges, aber nicht das Wesentliche erklärt, hat Friedländer lakonisch vermerkt.16 Ich möchte vorschlagen, auch sie als Verschiebungssymptom zu deuten: Der Gedanke, die Deutschen seien (in West wie Ost, wenn auch sehr unterschiedlich erfolgreich) in eine neue Zivilisiertheit hinein bestochen worden, wird in die Jahre 1933ff. vorverlegt, bzw. gerechtfertigt: Es war schon einmal so. Dass die Faktizitäten der zwölfJahre Nationalsozialismus dadurch die Beunruhigung einer aus unserem kulturellen Selbstbild heraus gesehen unmotivierten Gewaltsamkeit verlieren, ist ein willkommenes Nebenprodukt. Es scheint mir kein Wunder zu sein, dass es in der deutschen Geschichtsschreibung so viele auf einem kruden Motivationsmaterialismus und instrumenteller Rationalität bestehende historische Interpretationen der Jahre 1933 bis 1945 gegeben hat - wie auch umgekehrt, dass die Selbstdeutungen der Jahre nach 1945 so viele interessante sozialpsychologische Studien hervorgebracht haben. Hier steckt die Ahnung, dass die Zäsur von 1945 diejenige ist, die uns nachhaltiger beunruhigt -

15 Arendt, Hannah, Besuch in Deutschland, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. v. Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 51. 16 Vgl. Friedländer, 2006, wie Anm. 13, S. 688.

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und der Versuch, die befürchtete Nötigung, auch hier wäre nichts weiter zu sagen als „Es ist eben so passiert", nicht zu empfinden. Die nachhaltig berühmteste dieser Studien, die „Unfähigkeit zu trauern" der beiden Mitscherlichs, versuchte bekanntlich, die Nachkriegsmentalität der Deutschen (auch hier wohl in West wie Ost, obwohl den Mitscherlichs nur Einblicke in westdeutsche Mentalitäten möglich waren) als einen Akt der Vergangenheitsverleugnung zu deuten. Da die „Führerbindung" auf narzisstischer Grundlage erfolgt sei - in der grandiosen Überhöhung Hitlers feierte die Volksgemeinschaft das Phantasma der eigenen Grandiosität habe man sich aus ihr nicht durch Einsicht und zunehmende Distanzierung lösen können (Trauer), sondern es habe eine gründliche Desorientierung und Unfähigkeit weiterzumachen gedroht (Melancholie); da für den Mechanismus der Verdrängung die Einsicht in die eigene Schuld gefehlt habe - zu diesem Ergebnis kam auch Adorno: Davon sei unter den im Gruppenexperiment zu Worte Gekommenen nichts zu spüren gewesen, sei es auch zu keiner Verdrängung der Vergangenheit gekommen. An die Stelle von Trauer, Melancholie oder Verdrängung sei die Verleugnung bzw. Derealisierung getreten. Die Vergangenheit als kollektives wie individuelles Geschehen wird verundeutlicht, zwar pauschal im West- oder Ost-Vokabular verurteilt, aber im Detail im Gedächtnis nicht aufgerufen. Gespräche, die während der Reise der beiden Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht in West wie Ost geführt worden sind, zeigten, dass in der ehemaligen DDR zwar viele sagten, das wüssten sie alles längst, aber ein Besucher erzählte, ihm sei erst jetzt klar geworden, dass sein Vater nicht in der Roten Armee gewesen sei. Die Derealisierung der Vergangenheit muss man dabei nicht nur unter der Perspektive des moralischen Skandalons betrachten, sondern auch als List der Unvernunft: Man konnte sich als ungebrochen zivilisiert phantasieren, und zwar so lange bis man die neuen Gewohnheiten angenommen hatte. Hatte man kurz nach dem Krieg von „der Judensache" nur am Rande etwas mitbekommen, auch wenn man tatsächlich bemerkt hatte, dass die Nachbarwohnung geräumt wurde, die Deportationszüge durch die Stadt gingen, die Fotos vom Vernichtungskrieg in der Schule gezeigt wurden, es einen florierenden Ghetto-Tourismus gab, und die Bombenangriffe der letzten Kriegsjahre als jüdische Vergeltung für Deportation und Mord gedeutet wurden, so gewöhnte man sich antisemitischen Code mehrheitlich darum ab, weil er öffentlich tabuisiert war und man kaum Gelegenheit hatte, ihn zu gebrauchen, was dazu führte, dass er der Folgegeneration zunehmend unvertraut wurde, bis die Enkel sich schließlich aus „Schindlers Liste" geborgte Bilder in die Familiengeschichten einstellten und die eigene Familie als Judenretter auslobten. Auf der anderen Seite gab es die narzisstische Kränkung durch die Niederlage, die nur teilweise durch die Derealisierung, nur die Nazis und nicht man selbst auch habe den Krieg verloren, aufgefangen werden konnte: Warum dann all das Leid? Micha Brumlik hat kürzlich Alexander Mitscherlichs Überlegungen zur vaterlosen Gesellschaft auf demographische Füße gestellt: Die post-45er-Gesellschaft sei tatsächlich eine gewesen, die sich durch fehlende (gefallene), Versehrte und geschla-

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gene Väter ausgezeichnet habe. Er hat daraufhin die 68er-Rebellion nicht als eine gegen die starken Nazi-Väter, sondern gegen die schwachen, die den Krieg verloren hatten, gedeutet - eine Deutung, die besondere Plausibilität aus einigen Texten des westdeutschen Terrorismus gewinnt, aber auch interessante Parallelen in den italienischen und japanischen Terrorismen findet. Hier steckt ein Moment rebellischer Re-Barbarisierung, und dies wirft auch ein Licht auf die Karriere des sogenannten Marxismus in der Neuen Linken: Er versprach eine neue Lizenz zur Ausübung transzendental gerechtfertigter Gewalt auszustellen. Sie wurde glücklicherweise nur von einer sehr kleinen Minderheit nicht als bloße Erlaubnis diesbezüglichen Phantasierens verstanden. So sehr interessant alle solche Versuche auch sind, die Zäsur von 1945 als Zäsur und Kontinuität in sozialpsychologische Begrifflichkeit zu fassen, so sehr verfuhren solche Modelle dazu, sie essentialistisch zu interpretieren, als wese da etwas hinter den Phänomenen fort, das zuweilen geisterhaft sich bemerkbar mache. Das Beunruhigende der Zäsur von 1945 wird dadurch auf ein gewissermaßen klassisches Gefühl bezogen, das des Unheimlichen. Das Unheimliche ist aber, psychologisch betrachtet, ein Gefühl, das der Kontingenzabwehr dient: Wir suchen einen Aspekt, unter dem das, was geschah, so hat kommen müssen. Aber Kontingenz - als das, was gekommen ist, wie es gekommen ist, aber nicht so hat kommen müssen - kann man auch als das verstehen, was wir mit einem anderen Vokabular „Politik" nennen: Das, was so und nicht anders entschieden worden ist und was hätte auch anders entschieden werden können. Wie sehr man sich zuweilen sträubt, die Zäsuren von 1933 und 1945 als Resultate von politischen Entscheidungen zu verstehen, zeigt das lange Zeit umlaufende Nachkriegswort von der Politik, die per se schmutzig sei, und die sonderbare Rede von der Bundesrepublik als einem „Wunder". Wie viel eine einzige naive und überhebliche politische Entscheidung anrichten kann, lehrt der Blick auf Papens Betreiben der Reichskanzlerschaft Hitlers. Eine in weiten Kreisen antisemitische Bevölkerung, in welchem Grade auch immer, hätte den Holocaust nicht angezettelt - es brauchte eine fanatisch antisemitische Regierung, die sich weiterer radikaler sowie gemäßigter, sozusagen okkasioneller, Antisemiten bedienen konnte: Aber sie musste erst einmal an die Macht kommen. - Wie viel es bewirken kann, dass eine kluge und unkonventionelle Idee gegen Widerstände durchgesetzt wird, lehrt die Einsetzung des Nürnberger Gerichtshofs, der, wenn es auch Jahre, Jahrzehnte (beim „Spiegel" 60 Jahre) bis zur Akzeptanz dieser Einsetzung gedauert hat, eine entscheidende Rolle bei der Delegitimierung des NSRegimes und seiner Führung gespielt hat. - Die politischen Entscheidungen, in denen es direkt oder in der Konsequenz um die Transformation einer Gesellschaft in ein besonderes Gewaltmilieu - oder in die Re-Transformation in ein weithin gewaltabstinentes Milieu - geht, fügen sich dem Bild einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der die Politik ein Funktionssystem unter anderen ist, nicht. Tzvetan Todorov hat die Rettung der bulgarischen Juden auf Grund von Protesten der Bevölkerung, des Parlaments, der Kirche und der Entscheidung des bulgari-

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schen Konigs, die Deportationen zu beenden, so kommentiert: „The people were opposed to the anti-Semitic measures, but a community is powerless without leaders, without those individuals within ist midst who exercise public responsibility in this case, the metropolitans, the deputies, the politicians who were ready to accept the risks that their actions entailed. All this was necessary for good to triumph, in a certain place and at a certain time; any break in the chain and their efforts might well have failed. It seems that, once introduced to public life, evil easily perpetuates itself, whereas good is always difficult, rare, and fragile. And yet possible."17

17 Todorov, Tzvetan, The Fragility of Goodness. Why Bulgaria's Jews Survived the Holocaust, Princeton 2001, S. 40

Uwe Kaminsky

Die NS-„Euthanasie". Ein Forschungsüberblick

Einen Überblick über die Entwicklung der Forschung über die nationalsozialistische „Euthanasie" und ihren aktuellen Stand zu geben, ist ein beinahe unmögliches Unterfangen. Die Differenziertheit des Geschehens selbst und die mittlerweile umfangreiche regionale Forschung lassen einen Uberblick nur mit großen Auslassungen zu.1 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich deshalb erstens auf das Verhältnis der Eugenik und der damit gerechtfertigten Zwangssterilisation zur „Euthanasie" sowie zweitens auf einzelne besonders herausragende Kranken- und Behindertenmordaktionen wie die „Kindereuthanasie", die „Aktion T4" und die dezentrale bzw. „wilde Euthanasie" nach 1941. Drittens soll zum Abschluss ein Resümee im Hinblick auf die Einordnung der NS-Euthanasie erfolgen.

1. Eugenik und „Euthanasie" Kann man von der nationalsozialistischen „Euthanasie,, reden und von der Zwangssterilisation schweigen? Die sich dahinter verbergende Frage zielt auf die Verbindung zwischen Eugenik oder „Rassenhygiene" (dies ist der Begriff, den die Nationalsozialisten favorisierten) und „Euthanasie". Ende des 19. Jahrhunderts waren zwei Entwicklungen zu beobachten.2 Einmal bildete sich das rassenhygienische Paradigma mit einem Programm negativer Eugenik heraus. Auf diese Weise sollte Gesellschaftsgeschehen auf Naturgesetzlichkeiten zurückgeführt werden können, wobei eine Auslese (Selektion) des besten Erb-

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Siehe allgemein die zusammenfassenden Darstellungen von Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens" 1890 bis 1945, Göttingen 1987, bes. S. 182-247; Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997 (The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill/London 1995), bes. S. 84-264; Burleigh, Michael, Death and Deliverance. „Euthanasia" in Germany 1900-1945, Cambridge 1994, S. 93-266; Klee, Ernst, „Euthanasie" im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main 1983. Viele der Zusammenfassungen beruhen in ihrer Rekonstruktion der Ereignisse auf der bereits 1962 zusammengetragenen Frankfurter Anklageschrift gegen Dr. Werner Heyde (siehe diese Anklageschrift publiziert bei Vormbaum, Thomas (Hg.), „Euthanasie" vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfùrt/M. gegen Dr. Werner Heyde u.a. vom 22. Mai 1962, Berlin 2005). Dieser Beitrag erscheint auch in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hrsg.), Tödliches Mitleid. NS-„Euthanasie" und Gegenwart. Fachtagung vom 24. bis 26. November 2006 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden (Berichte des Arbeitskreises, Band 4), Münster 2007.

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gutes gewährleistet werden sollte. Als Methode zur Erreichung dieses Ziels galt neben der Förderung der Menschen mit für „hochwertig" gehaltenem Erbgut die Fortpflanzungshinderung jener Menschen, die für „minderwertig" erachtetes Erbgut besaßen. Zum zweiten setzte in den 1890er Jahren eine Debatte um Tötung auf Verlangen und Sterbehilfe ein, die allerdings eher von Nützlichkeitserwägungen als von rassenhygienischen Gesichtspunkten getragen war. Der Nutzen des Individuums sowohl für sich als auch für die Gesellschaft wurde als Indikation für eine Tötung hervorgehoben. AdolfJost, der in einer Streitschrift 1895 das „Recht auf den Tod" einklagte, ging von Situationen eines Menschen aus, „in welcher das, worin er seinen Mitmenschen noch nützen kann, ein Minimum, das aber, was er unter seinem Leben noch zu leiden hat, ein Maximum" sei. „Der Wert des menschlichen Lebens kann aber nicht bloß Null, sondern auch negativ werden."3 Das Verbindende dieser beiden Entwicklungen kann in der Verkürzung des bis dahin für gültig befundenen Menschenbildes gesehen werden. Der im Hintergrund des rassenhygienischen Paradigmas stehende selektionistische Sozialdarwinismus gab die christliche Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf, indem er nur bestimmte Menschentypen zulassen wollte. Ebenso verkürzten die Nutzenbetrachtungen des Menschen, die von naturrechtlichen Begründungen absahen, das menschliche Dasein auf dessen Beitrag für die Gesellschaft. Dennoch stand weder die „Euthanasie"-Idee im Zentrum der rassenhygienischen Programmatik hier galten Konzepte der Zeugungshinderung durch Eheverbote, Asylierung und später Sterilisierung als vielversprechender - noch spielten in der Debatte um Tötung auf Verlangen oder Sterbehilfe rassenhygienische Überlegungen eine durchschlagende Rolle. Die These Hans-Walter Schmuhls, wonach die „Euthanasie"-Idee der Rassenhygiene von Anfang an „inhärent" gewesen sei,4 ist insbesondere von Michael Schwartz vehement kritisiert worden.5 Schmuhl hat seine These, die allzu stark traditioneller Ideengeschichte verhaftet war, mittlerweile präzisiert und betont stattdessen den diskursgeschichtlichen Zusammenhang der Debatten von „Eugenik" und „Euthanasie", die eben nicht „zwei unterschiedliche Paar Schuhe" gewesen

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Siehe hierzu Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 29-126, und ähnliche Überblicksdarstellungen bei Fichtner, Gerhard, Die Euthanasiediskussion in der Zeit der Weimarer Republik, in: Eser, Albin (Hg.), Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart 1976, S. 24-40, und bei Fischer, Jochen, Von der Utopie bis zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens", in: Hase, Hans Christoph von (Hg.), Evangelische Dokumente zur Ermordung der „unheilbar Kranken" unter der nationalsozialistischen Herrschaft in den Jahren 1939 bis 1945, Stuttgart 1964, S. 35-65. Bei den letzteren fehlt allerdings die bei Schmuhl herausgearbeitete Zweigleisigkeit der Entwicklung von Rassenhygiene und Sterbehilfedebatte. Jost, Adolf, Das Recht auf den Tod, Göttingen 1895, S. 6, 26; zur Nachzeichnung der juristischen Debatte über die Euthanasie neuerdings Merkel, Christian, „Tod den Idioten" - Eugenik und Euthanasie in juristischer Rezeption vom Kaiserreich zur Hitlerzeit, Berlin 2006. Schmuhl, 1987, wie Anm. 1.

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seien. Die Zwangssterilisation war ein Unrecht ganz eigener Art und kann nicht nur als Vorstufe zur „Euthanasie" wahrgenommen werden. Dies hat Gisela Bock in einer großen Studie über die ideologischen Hintergründe, das politische Vorgehen und die sozialen Betroffenheiten der Zwangssterilisation vor mittlerweile zwanzig Jahren herausgearbeitet.6 Nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom Juli 1933 konnte unter Zwang unfruchtbar gemacht werden, wer als „erbkrank" galt (Diagnosen: Angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, erbliche körperliche Missbildung) oder an „schwerem Alkoholismus" litt.7 In der Forschung sind sich die meisten Autoren einig, dass besonders die negativ eugenische Gesetzgebung des NS-Staates den Ubergang von der Verhütung durch Zwangssterilisation zur Vernichtung durch „Euthanasie" erleichterte. Die jedoch auch heute noch vielerorts anzutreffenden Vorstellungen eines programmatischen Voranschreitens von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens" erwiesen und erweisen sich angesichts empirischer Forschungen als zu undifferenziert.8 Eine Erklärung des Ubergangs zur „Euthanasie" kann in drei Punkten systematisiert werden: Verbindungslinien zwischen der Eugenik und „Euthanasie" liegen erstens weniger in der ideologischen Herkunft als vielmehr in der psychiatrischen Praxis. Zweitens war der politische Rahmen des Nationalsozialismus, dabei ist insbesondere auch auf die Arbeit von Winfried Süß über die Gesundheitsverwaltung zu verweisen,9 dafür verantwortlich, dass sich immer radikalere Kräfte durchsetzten. Drittens erleichterte die gesellschaftliche Ausnahmesituation des Krieges den Ubergang von der negativen Eugenik zum Massenmord. Die wichtigste Verbindungslinie zwischen Eugenik und „Euthanasie" war die unter sozialdarwinistischen Prämissen stehende „Biologisierung des Sozialen". Dies führte zur Entwertung des Gleichheitsgrundsatzes und seiner Ersetzung durch utilitaristische Kalküle.10 Die Akzeptanz der These von der Erblichkeit psychischer

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Siehe die Kritik an der allzu engen Verschränkung von Eugenik und „Euthanasie" von Schwartz, Michael, „Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie"? Kritische Anfragen an eine These HansWalter Schmuhls, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 604-622 und die Antwort von Schmuhl, Hans-Walter, Eugenik und „Euthanasie" - Zwei Paar Schuhe? Eine Antwort auf Michael Schwartz, in: Westfälische Forschungen 47 (1997), S. 757-762. Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Untersuchungen zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986. Siehe als eine von vielen Zusammenfassungen: Gansmüller, Christian, Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchfuhrung und Durchsetzung, Köln u.a. 1987, bes. S. 34 ff. Siehe gerade mit Blick auf internationale Entwicklungen der Eugenik: Schwartz, Michael, Medizinische Tyrannei: Eugenisches Denken und Handeln in international vergleichender Perspektive (1900-1945), in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/2006), S. 37-54; Schwartz, Michael, Medizinische Tyrannei und die Kirchen. Christliche Haltungen zu Eugenik und „Euthanasie" in international vergleichender Perspektive (1890-1945), in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 74 (2005), S. 28-53. Süß, Winfried, Der „Volkskörper" im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, München 2003.

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Erkrankungen förderte sicher die Übernahme rassenhygienischer Zwangsmaßnahmen, doch die Ermordung psychisch Kranker beruhte nicht auf der vermeintlichen Erblichkeit ihrer Leiden. Dennoch besaß die Erbgesundheitspolitik des NS-Staates einen „starken Drang zur Uberkompensation", 11 eine „gleichsam überschießende Radikalität",12 was an ihren Rändern die Grenzen zwischen Verhütung und Vernichtung aufweichte. Dies betraf einmal den in der Zwangssterilisation sichtbaren Ubergang von einer traditionellen Form der Diskriminierung in den öffentlichen Feldern von Wirtschaft, Politik und Kultur zu einer modernen Form des Eingriffs in den Privatbereich sowie in Leib und Leben. Kennzeichnend hierfür war die Einfuhrung der eugenischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch 1935, die den Ubergang von der Verhütung „erbkranken" Lebens über die Vernichtung ungeborenen Lebens zur Vernichtung geborenen und erwachsenen Lebens erleichterte.13 Die Akzeptanz der Wissenschaft von der Eugenik und der ausgrenzenden Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus senkte zweifellos die Hemmschwelle zur Tötung, vor allem innerhalb der psychiatrischen Anstalten.14 Hier kam es gerade bei den Versuchen der Verschmelzung von Biowissenschaften mit Biopolitik zu charakteristischen „Grenzüberschreitungen", was Hans-Walter Schmuhl anhand der Geschichte des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik" detailliert nachgewiesen hat.15 Die staatliche Institutionalisierung der Rassenhygiene war nur unter den Bedingungen des Nationalsozialismus möglich. 16 Die polykratische Struktur, also das Vorhandensein verschiedener konkurrierender Herrschaftsträger, förderte Radikalisierungen auf allen Ebenen. Das Neben- und Gegeneinander konkurrierender Machtblöcke auf staatlichem und parteilichem Gebiet kurbelte den Kampf um Sonderbevollmächtigungen und die „Gesundheitsfuhrung" des NS-Staates an.17 So

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Siehe dazu Weingart, Peter/ Kroll, Jürgen / Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, S. 527 ff Nowak, Kurt, „Euthanasie" und Sterilisierung im „Dritten Reich". Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und der „Euthanasie"-Aktion, Göttingen 1980, S. 38. So Schmuhl, 1997, wie Anm. 5, S. 761. Vgl. Bock, 1986, wie Anm. 6, S. 348 f.; Bock, Gisela, Krankenmord, Judenmord und nationalsozialistische Rassenpolitik. Überlegungen zu einigen neueren Forschungshypothesen, in: Bajohr, Frank/Johe, Werner/ Lohalm, Uwe (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, S. 285-306, hier S. 302. Weingart, Peter, Eugenik - Eine angewandte Wissenschaft. Utopien der Menschenzüchtung zwischen Wissenschaftsentwicklung und Politik, in: Lundgreen, Peter (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1985, S. 314-349, bes. S. 331. Schmuhl, Hans-Walter, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945, Göttingen 2005. So Bock, 1991, wie Anm. 13, S. 292. Vgl. Schmuhl, Hans-Walter, Sterilisation, „Euthanasie", „Endlösung". Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft, in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 2 9 5 - 3 0 8 ; zur „Gesundheitsfuhrung" siehe Kater, Michael H., Die „Gesundheitsfuhrung" des Deutschen Volkes, in: Medizinhistorisches Journal 18 (1983), S. 349-375.

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führte der Konflikt zwischen staatlicher und parteilicher Gesundheitsbürokratie 1936/37 zu Beratungen über eine Änderung des Zwangssterilisationsgesetzes, was die Bildung eines „Reichsausschusses für Erbgesundheitsfragen" zur Folge hatte. Dieses Expertengremium zur Entscheidung strittiger Fälle stellte die Vorform einer Organisation für die spätere „Kindereuthanasie" und die „Euthanasie" an Anstaltspatienten dar. Hier sammelten sich radikale Vertreter der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik. Konkrete Pläne zu einer Kindermordaktion lassen sich allerdings bis heute nicht nachweisen, da fehlt jeder empirische Beleg. Außer der Missachtung der Individualrechte und der Institutionalisierung des Rassismus als Gesellschaftspolitik spielte die Ausnahmesituation des Krieges eine wesentliche Rolle bei der Etablierung der nationalsozialistischen Krankenmordaktionen. In der Kriegssituation erhielten ökonomische Begründungsmuster eine wachsende Anerkennung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die „Kriegs-Polykratie" schuf eine regional sehr uneinheitliche Durchfuhrung der Krankenmorde in den einzelnen Landesteilen Deutschlands, auf die später noch eingegangen werden soll.18 Die ökonomisch wie rassenhygienisch begründete Einschränkung der Fürsorgeaufwendungen für die „Minderwertigen" führte bereits in der Vorkriegszeit in manchen Landesteilen wie Hessen und Sachsen zu einer Begrenzung der Lebensmöglichkeiten der Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten. Einsparungen im Heilund Pflegeanstaltswesen erhielten mit Kriegsbeginn eine erhöhte Priorität. Der Rationalisierungsdruck auf allen Gebieten des wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Lebens in der Kriegszeit ermunterte besonders in der zweiten Kriegshälfte die mit der „Euthanasie" sympathisierenden Parteivertreter und Arzte zu handeln, teilweise auch ohne Rückendeckung zentraler Instanzen.

2. Kranken- und Behindertenmordaktionen Bei den Krankenmorden unterscheidet die historische Forschung mehrere Aktionen,19 die sich je nach Opfergruppe, Zeitpunkt der Durchfuhrung und verantwortlicher Entscheidungsinstanz voneinander abgrenzen lassen. Diese Einteilung entspricht jedoch einer nachträglichen Systematisierung. In der Praxis verliefen die Aktionen teilweise parallel, betrafen zum Teil gleiche Opfergruppen und besaßen mehrere beteiligte Entscheidungsträger.

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Siehe Kaiser, Jochen-Christoph/ Nowak, Kurt/ Schwartz, Michael, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, S. XXVI (Einführung). 19 Siehe zum Überblick über die Mordaktionen: Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, bes. S. 182-247; ders., „Euthanasie" im Nationalsozialismus - ein Uberblick, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/ 2006), S. 3-15; Friedlander, 1997, wie Anm. 1, bes. S. 84-264; Klee, 1983, wie Anm. 1; Burleigh, 1994, wie Anm. 1, S. 93-266.

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Erstens fand von 1939 bis 1945, die sogenannte „Kindereuthanasie" statt, welche zunächst kranke oder behinderte Kinder bis zu drei Jahren und seit Mitte 1941 auch Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren umfasste. Der Mord wurde in sogenannten „Kinderfachabteilungen" durchgeführt, deren Anzahl sich seit 1941 sukzessive ausweitete. Zum zweiten gab es mit der „Aktion T4" (so benannt nach der Adresse der verantwortlichen Zentralstelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin) die wohl größte zusammenhängende Krankenmordaktion. Der „Aktion T4", die für die betroffenen Anstaltspatienten Selektion, Verlegung und Tod in der Gaskammer bedeutete, fielen zwischen 1939 und Mitte 1941 in sechs eigens eingerichteten Tötungsanstalten rund 70.000 Geisteskranke und Behinderte zum Opfer. Am 24. August 1941 wurde die Lebensvernichtung der Anstaltspatienten vorläufig gestoppt. Zum dritten wurden jüdische Patienten in Heil- und Pflegeanstalten 1940/41 im Vorgriff auf den späteren Holocaust unabhängig von ihren psychiatrischen Diagnosen ausgesondert und in den Gasmordanstalten der „Aktion T4" getötet.20 Eine ähnliche Aussonderung aus rassistischen Gründen widerfuhr seit 1943 Polen und sogenannten „Ostarbeitern", sowjetischen Staatsangehörigen, die Zwangsarbeit in Deutschland geleistet hatten. Sie wurden, sofern sie sich als geisteskrank bzw. behindert und arbeitsunfähig herausstellten, in speziellen Transporten aus den Heilund Pflegeanstalten verlegt und getötet.21 Zum vierten lief seit dem Frühjahr 1941 die Aktion „14fl3" - so lautete ihr Aktenzeichen - zur Aussonderung und Vernichtung jüdischer und vermeintlich „asozialer" KZ-Häftlinge, die in den Gasmordanstalten der „Aktion T4" getötet wurden.22 Bei allen diesen Aktionen war ein Organisationskern in der „Kanzlei des Führers" federführend. Dieser wird in der Literatur als „Euthanasiezentrale" (Schmuhl) oder „T4" (Aly, Friedlander) bezeichnet. Fünftens fanden besonders seit dem Stopp der „Aktion T4" im August 1941 in manchen Anstalten die später als dezentrale oder „wilde Euthanasie" bezeichneten Tötungen von Patienten durch Medikamente und Hunger statt. Sie erfolgten seit

20

21

22

Vgl. Friedlander, 1997, wie Anm. 1, S. 418-448; ders., Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland, in: Aly, Götz (Hg.), Aktion T4 1939-1945. Die „Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 34-44; Raphael, Lutz, Euthanasie und Judenvernichtung, in: Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, Kassel 1991, S. 79-90; Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 215 f. Vgl. Hamann, Matthias, Die Ermordung psychisch kranker polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiter, in: Aly, Götz (Hg.), Aktion T4 1939-1945. Die „Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 161-167; ders., Die Morde an polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern in deutschen Anstalten, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 1 (1985/ 2 1987), S. 121-187; sowie Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 237-239. Siehe Grode, Walter, Die „Sonderbehandlung 14fl3" in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Ein Beitrag zur Dynamik faschistischer Vernichtungspolitik, Frankfurt am Main u.a. 1987; Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 217-219. Die Anzahl der Opfer wird auf rund 30.000 geschätzt.

Die NS-„Euthanasie". Ein Forschungsüberblick

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1942 im Rahmen der Verlegungen von Patienten der Heil- und Pflegeanstalten zwecks Freimachung von Anstaltsraum fiir Ausweichkrankenhäuser besonders in Nord- und Westdeutschland. Eine noch nicht genau bestimmte Anzahl von Patienten wurde in Tötungsanstalten wie z.B. Meseritz-Obrawalde verlegt. Dort starben sie durch Hunger und Medikamente. Hieran war die „Euthanasie"-Zentrale zumindest durch ihr Transportpersonal ebenso beteiligt, doch entwickelte sich im Verlauf des Krieges eine immer größere Eigendynamik. Diese konnte auch durch Versuche, die Krankenmorde seit 1943 erneut zentral anzuregen und zu bestimmen, nicht kanalisiert werden. Daneben wurden bereits 1939/40 im heutigen Polen (den damaligen Reichsgauen Danzig-Westpreußen und Wartheland), in Ostpreußen und Pommern und zu Beginn des Uberfalls auf die Sowjetunion 1941 deutsche wie polnische bzw. sowjetische Anstaltsbewohner ermordet. Dies geschah durch Erschießungskommandos von SS-Einsatzgruppen und Wehrmacht, fahrbare Gaskammern sowie durch Vergiftungen. Diese Morde hatten keinen organisatorischen Zusammenhang mit der „Euthanasie"-Zentrale in der „Kanzlei des Führers", sondern beruhten auf Absprachen der regional verantwortlichen Gauleiter mit der SS. Hier scheinen schon frühzeitig andere Motive als die Durchsetzung eines sozialsanitären Planungsprogramms durch. Die Anstalten wurden geräumt, um Platz fiir umgesiedelte Baltendeutsche und für SS-Einheiten zu schaffen.23 Mehrere tausend Anstaltsbewohner stellten dabei eine Art Verfiigungsmasse dar, die einfach umgebracht wurde, um ihre Plätze anderweitig zu nutzen. Diese Tatsache wirft ein bezeichnendes Licht auf den Verlust jeglicher Hemmschwellen, der sich zu Kriegsbeginn außer gegenüber Angehörigen von Feindstaaten - hier wäre an Erschießungen von polnischen Geistlichen, Juden und Prostituierten zu erinnern - auch und besonders gegenüber Psychiatriepatienten (polnischer wie deutscher Nationalität) auswirkte.

23

Siehe zu den frühen Morden zu Kriegsbeginn: Rieß, Volker, Die Anfange der Vernichtung „lebensunwerten Lebens" in den Reichsgauen Danzig-Westpreußen und Wartheland 1939/40, Frankfürt am Main 1995. Rieß betont als Motiv „die reine Vernichtung" (so im Wartheland angesichts offenbar fehlender durchdachter Nutzungspläne, S. 359) und die Interessen der SS als Nachnutzer der Anstaltsgebäude, wohingegen die Nutzung der Gebäude zur Unterbringung von Baltendeutschen als Motiv gering bewertet wird. Siehe S. 29-53 (am Beispiel der Anstalt Conradstein), bes. S. 104 (zu Pommern), S. 355362 (zusammenfassend). Dagegen argumentiert Aly eindeutig im Sinne eines Zusammenhangs der Räumung der Anstalten zwecks Unterbringung von Volksdeutschen Umsiedlern, wenngleich die Frage einer vorausgehenden Planung oder aber erst nachträglichen Nutzung der „freigemordeten" Anstalten mangels vorhandener Dokumente nicht eindeutig beantwortbar ist. Vgl. Aly, Götz, Hinweise für die weitere Erforschung der NS-Gesundheitspolitik und der „Euthanasie"-Verbrechen, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 11 (1993), S. 195-204, bes. S. 203 sowie ders., „Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfürt am Main 1995, S. 114-126. Siehe abwägend dazu Bernhardt, Heike, „Euthanasie" und Kriegsbeginn. Die frühen Morde an Patienten aus Pommern, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44 (1996), S. 773-788.

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Behinderten-und Krankenmordaktionen in Deutschland 1939 - 1 9 4 5 Kin dereut ha na sie" reichsweit in sogenannten „Kinderfechabteilungen" (mehr als 30) Tod durch Medikamente und Hunger, z T. Entnahme der Gehirne und Forschung an Euthanasieop fern ca 5000 Opfer

frühe Anstaltsräumnngen zu Knegsbeginn in Pommern, Danzig/Westpreussen, Wartheland und Qstpreussen, Erschiessen der Patienten; ca. 12.000 Opfer M ord a n jüdischen Anstaltsbewohnern (ohne Meldebogenselektion); mind. 1000 Opfer ..Sonderbehandlung 14fl3" Aussonderung und Vernichtungjudischer und vermeintlich "asozialer" KZHäftlinge; Tod in Gastötungsanstalten der „AktionT4" ca 30 000 Opfer

M o r d a n geisteskranken u. TBC-kranken sowjetischen Zwangsarbeitern (in Hadamar)

„Aktion T4' reichsweit von 1939 bis August 1941 Erfassung mit Meldebogen und Abtransport in die Mord anstalte n Grafeneck, Brandenburg Bemburg, Hartheim/Linz, Sonnenstein/Pirna, Hadamar ca. 70.000 Opfer (auch Juden, Kinder, geisteskranke Rechtsbrecher...)

Hunger sterben" Verringerung der Kostsätze seit den 1930er Jahrea Unterversorgung von Anstaltsbewohnern, Verhungernlassen

„Dezentrale Euthanasie", ..wilde Euthanasie" oder ,.2. Phase derEuthanaäe'' Räumung von Anstalten im Bombenkrieg(„Aktion Brandt"), Ausbildung regionaler Tötungszentren (Hadamar, MeseritzObrawalde), seit 1943 zentrale | Medikamentenvergabe; Tod durch Medikamente, Gift, Hunger (bayerischer Hungererlaß vomNov. 1942); mehrere 10.000 Opfer

Nachfolgend soll auf drei der erwähnten „Euthanasieaktionen" eingegangen werden: die „Kindereuthanasie", die „Aktion T4" und die „Euthanasie" nach dem August 1941. 2.1. „Kindereuthanasie" Die sogenannte „Kindereuthanasie", zeitgenössisch auch als „Reichsausschussaktion" bezeichnet, besaß als Gelenkstelle zwischen der Zwangssterilisation und dem massenhaften Gasmord an den Anstaltspatienten in der „Aktion T4" eine wichtige Verbindungsfunktion. Der Gedanke des „Gnadentodes" für schwerbehinderte Kinder erleichterte die Überschreitung der Grenze von der Verhütung zur Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens". Hier war die Tötung im Vergleich zu allen anderen Krankenmordaktionen am stärksten individualisiert und medizinisiert. Die Geschichte des Kindes „Knauer", dessen Vater angeblich bei Hitler um die Tötung des Kindes gebeten habe, scheint weitgehend aufgeklärt. Das Kind hieß wahrscheinlich „Kretzschmar", war im Februar 1939 in Pomßen geboren, und Hitlers Begleitarzt Karl Brandt kam wirklich aus Berlin, um diesen Fall zu begutachten. Allerdings fand er nicht Ende 1938 oder im Frühjahr 1939 statt, - so hatten die angeklagten Beteiligten sich in ihren Aussagen in Nürnberg und bei weiteren Ermittlungen erinnert - sondern nach den Forschungen von Udo Benzenhöfer und Ulf Schmidt erst im Sommer 1939.24 Dies staucht den gesamten Zeithorizont der

24

Vgl. Benzenhöfer, Udo, „Kindereuthanasie" im Dritten Reich. Der Fall „Kind Knauer", in: Deutsches Ärzteblatt 95, Ausgabe 19 vom 08.05.1998; ders., Bemerkungen zur Planung der NS-„Euthanasie", in:

Die NS-„Euthanasie". Ein Forschungsüberblick

277

Planung der Krankenmordaktionen an Kindern und Erwachsenen zusammen, wo bislang doch von einer spätestens 1938 beginnenden Planungsphase ausgegangen wurde. Den neuen Erkenntnissen zu Folge wäre alles relativ schnell und ad hoc entschieden worden. Allerdings ließen sich bereitwillige Arzte und anderes Personal schnell rekrutieren, was nicht nur auf die gesellschaftliche Verbreitung des „Euthanasie"-Gedankens sondern auch eine Netzwerkstruktur der beteiligten Arzte rückschließen lässt. Organisationskerne für solche Netzwerke waren wissenschaftliche Forschungsinstitute wie z.B. das seit 1927 bestehende „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik" oder dasjenige für „Hirnforschung", durch die eine Vielzahl von Ärzten wissenschaftlich sozialisiert wurden.25 Ein solches Netzwerk kam ohne eine zentrale Leitung aus, es genügte Anregungen hinein zu geben, die weitergetragen wurden. Eine lange Planungsphase ist nicht nachweisbar, Akten hierzu fehlen. Nicht zuletzt die hirnpathologischen Forschungen an den getöteten Kindern weisen auf deren Auswahl fxir diese spezielle Form der „Euthanasie" hin. Die „Euthanasie" stellte insofern auch die Grundlage zu Forschungen bereit, was bereits im Nürnberger Ärzteprozess in vieler Hinsicht belegt wurde. Ein zentraler Ort fiir Forschungen im Rahmen der „Euthanasie" war die „Psychiatrisch-Neurologische Klinik" an der Universität Heidelberg unter der Leitung von Prof Carl Schneider26 oder die Histopathologische Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin unter der Leitung von Prof Julius Hallervorden. Besonders hier, aber auch andernorts wie in Görden, Wien, Lubliniec27 etc., wurden Gehirne getöteter behinderter Kinder und Erwachsener zu Forschungszwecken entnommen und konserviert. Umfangreiche Präparatsammlungen als Ergebnis solch „menschenverbrauchender" Forschung fanden und finden sich in österreichischen und deutschen Universitätspsychiatrien bis heute. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen beruht auf

Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie" und Zwangssterilisation (Hg.), Der sächsische Sonderweg bei der NS-„Euthanasie", Ulm 2001, S. 21-54; ders. „Kinderfachabteilungen" und „NS-Kindereuthanasie", Wetzlar 2000; ders., Der gute Tod? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, S. 114-123; ferner Schmidt, Ulf, Reassessing the Beginning of the „Euthanasia" Programme, in: German History 17 (1999), S. 543-550; ders., Kriegsausbruch und Euthanasie. Neue Forschungsergebnisse zum „Knauer Kind" im Jahre 1939, in: Frewer, Andreas (Hg.), „Euthanasie" und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte, Frankfurt am Main u.a. 2000, S. 120-141. In jüngster Zeit sind wieder Zweifel an der eindeutigen Identifikation des Kindes Kretzschmar aufgetaucht. Für diesen Hinweis danke ich Dietmar Schulze. 25 26

27

Vgl. hierzu Schmuhl, 2005, wie Anm. 15. Siehe allgemein Klee, Ernst, Was sie taten - was sie wurden. Arzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- und Judenmord, Frankfurt am Main 1986, bes. S. 174-187; Hohendorf, Gerrit/ Roelcke, Volker/ Rotzoll, Maike, Von der Ethik des wissenschaftlichen Zugriffs auf den Menschen. Die Verknüpfung von psychiatrischer Forschung und „Euthanasie" im Nationalsozialismus und einige Implikationen fur die heutige Diskussion in der medizinischen Ethik, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheitsund Sozialpolitik 13 (1997), S. 81-106. Siehe Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 278-284.

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ihnen.28 Hans-Walter Schmuhl betont am Berliner Beispiel (hier handelt es sich um rund 700 Gehirne) die „enge Symbiose von Hirnforschung und Krankenmord".29 Eine zusammenfassende Arbeit über diesen Bereich der „Euthanasie"-Verbrechen" fehlt, was seine Ursache in dem Verlust zentraler Akten hat. Bezugspunkte der Zusammenschau sind zum Teil immer noch die staatsanwaltschaftlich ermittelten Erkenntnisse der 1960er Jahre.30 Doch die dabei genannten 22 „Kinderfachabteilungen" in Deutschland lassen sich anhand der vorliegenden Regionalforschungen mühelos auf rund 30 ergänzen, wobei nicht alle über die gesamte Kriegszeit ihre Funktion versahen. Ein flächendeckendes Netz von „Kinderfachabteilungen" war für das Gebiet des Deutschen Reiches vorgesehen, doch die Einrichtung und Funktion dieser Abteilungen erfolgte regional sehr unterschiedlich. Das Engagement regionaler Stellen wie der Länder- und Provinzverwaltungen oder der Gauleitungen sowie die Lage vor Ort (Stimmung in der Bevölkerung, Betroffenheit vom Bombenkrieg) waren ausschlaggebend dafür, in welchem Umfang und wie lange eine „Kinderfachabteilung" ihre Funktion versah. Das Fehlen zentraler Akten lässt hierbei nur eine Annäherung an das Ereignisgeschehen über Regionalforschungen zu.31 Die geschätzte Zahl der Opfer beträgt über 5.000, wobei daraufhinzuweisen bleibt, dass Kinder auch im Rahmen der „Aktion T4" deportiert und getötet wur-

28 Siehe Peiffer, Jürgen, Hirnforschung im Zwielicht. Beispiele verfiihrbarer Wissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Julius Hallervorden, J.-J. Scherer, Berthold Ostertag, Husum 1997; ders., Die wissenschaftliche Auswertung der Gehirne von Opfern der Krankentötungen 1940-1944 im Raum BerlinBrandenburg sowie in Bayern, in: Kalusche, Martin (Hg.), Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen Zwangssterilisierungen und „Euthanasie". Frühjahrstagung 1997. Tagungsdokumentation, Ebeleben 1997, S. 85-97. In Kaufbeuren und Stadtroda wurden Tuberkulose-Impfversuche an behinderten Kindern durchgeführt. Vgl. Römer, Gernot, Die grauen Busse in Schwaben, Wie das Dritte Reich mit Geisteskranken und Schwangeren umging. Berichte, Dokumente, Zahlen und Bilder, Augsburg 1986, S. 133-135; Schmidt, Martin/ Kuhlmann, Robert/ Cranach, Michael von, Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, in: Cranach, Michael von/ Siemen, Hans Ludwig (Hg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999, S. 265-325. 29 Vgl. Schmuhl, Hans-Walter, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937-1945, Berlin 2000 (auch in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 559-609). 30 Siehe beispielhaft die Angaben in der Heyde-Anklageschrift: Vormbaum (Hg.), 2005, wie Anm. 1, S. 2392 sowie die entsprechenden Urteile in: Rüter, C. F./ de Mildt, D. W. (Bearb.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1999 (bisher: 1945-1966, 22 Bde. und nachfolgend bis Bd. 35, Stand 2005), Amsterdam 1968 ff. sowie Rüter, Christiaan F. (Bearb.), DDR-Justiz und NS-Verbrechen (bislang 8 Bde., Stand 2007); aktuelle Informationen unter: http://www.jur.uva.nl/junsv [20.1.2007]. 31 Siehe zu einem Überblick Topp, Sascha, Der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erbund anlagebedingter schwerer Leiden". Zur Organisation und Ermordung mindeijähriger Kranker im Nationalsozialismus 1939-1945, in: Beddies, Thomas/ Hübener, Kristina (Hg.), Kinder in der NS-Psychiatrie, Berlin 2004, S. 17-54; ferner Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 300-302; Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 182-189; Matthäus, Winfried, Die industriemäßig betriebene Menschenvernichtung im Nazisystem als nach dem internationalen Strafrecht zu verfolgendes Delikt eigener Art; die Grundlage ihrer Entstehung, ihrer Entwicklung und ihre Absicherung durch die Nazi-Justiz, Berlin (DDR) 1974 (jur. Diss.), S. 85-110; Walter, Bernd, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfursorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996, S. 637-651, 684-704.

Die NS-„Euthanasie". Ein Forschungsüberblick

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den.32 Insbesondere in der zweiten Kriegshälfte starben zudem viele Kinder angesichts der rapide verschlechterten Betreuungs- und Ernährungsbedingungen im Rahmen der „wilden Euthanasie".

2.2. Die,^Aktion T4" Die „Erwachseneneuthanasie" an Anstaltspatienten, auch „Aktion T4" genannt, hatte ein eigentümlich improvisiertes Gepräge. Dies zu betonen, erscheint wichtig angesichts der ansonsten immer wieder herausgestellten ideologisch-programmatischen Vorgeschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie". Konkrete Schritte zur Durchfuhrung der „Erwachseneneuthanasie" lassen sich erst seit dem Sommer 1939 nachweisen.33 Der Aufbau einer Verwaltungszentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin (daher der Name „T4") dauerte bis zum Frühjahr 1940. Innerhalb der Institutionalisierungsphase von knapp einem halben Jahr musste Personal gewonnen und die Mitarbeit verschiedener Gesundheitsdezernenten bzw. Referenten in den preußischen Provinzen und deutschen Ländern sichergestellt werden. Am ehesten gelang dies offenbar in Württemberg, Baden, Berlin, Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Bayern. In diesen Landesteilen wurden seit Oktober 1939 Meldebogen zur Erfassung und Selektion der Anstaltspatienten verteilt. Die Einrichtungen in den nordund westdeutschen Ländern erhielten erst seit Juni 1940 diese Meldebogen zugesandt. Tötungsanstalten mit Gaskammer und angebautem Krematorium existierten seit Januar 1940 in Grafeneck und Brandenburg.34 Im April und Mai 1940 nahmen auch Tötungsanlagen in Pirna-Sonnenstein und in Hartheim den Betrieb auf 35 Im

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Diese bis heute gültige Schätzung umfasst nur die Kinder, die im Rahmen der „Reichsausschuss-Aktion" getötet wurden. Benzenhöfer, 1998, wie Anm. 24, geht unter Einbezug der Kinder, die auch im Rahmen der „Aktion T4" ermordet wurden, von über 10.000 Opfern aus; Roer, Dorothee, „Lebens-unwert". Kinder und Jugendliche in der Psychiatrie, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 13 (1997), S. 107-130; Fuchs, Petra u.a., Mindeijährige als Opfer der Krankenmordaktion „T4", in: Beddies, T h o m a s / Hübener, Kristina (Hg.), Kinder in der NS-Psychiatrie, Berlin 2004, S. 55-70. Siehe den Rekonstruktionsversuch bei Walter, 1996, wie Anm. 31, bes. S. 651-666. Schmuhls These, wonach die Konkurrenz der einzelnen Machtblöcke um Hitler entscheidend für die Vergabe und Art der Durchfuhrung des Mordauftrags war, erscheint plausibel. Vgl. Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 190 f.; Noakes, Jeremy, Philipp Bouhler und die Kanzlei des Führers der NSDAP. Beispiel einer Sonderverwaltung im Dritten Reich, in: Rebentisch, Dieter/ Teppe, Karl (Hg.), Verwaltung contra Menschenfiihrung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986, S. 208-236, bes. S. 227 ff. Siehe im Einzelnen: Hübener, Kristina (Hg.), Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten im Dritten Reich, Berlin 2002; Falk, Beatrice/ Hauer, Friedrich, Brandenburg-Görden. Geschichte eines psychiatrischen Krankenhauses, Berlin 2007; Stoeckle, Thomas, Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 2002. Schilter, Thomas, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie"-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41, Leipzig 1999; Kepplinger, Brigitte, Die Tötungsanstalt Hartheim 19401945, in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung (Hg.), Wert des Lebens. Gedenken - Lernen - Begreifen, Linz 2003, S. 85-115.

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November 1940 löste eine neue Anlage in Bernburg diejenige in Brandenburg ab, und im Januar 1941 übernahm eine Anlage in Hadamar die Funktion von Grafeneck.36 So waren immer vier Tötungseinrichtungen in Betrieb, in denen bis August 1941 rund 70.000 Menschen ermordet worden sind.37 Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Projekt zur Erschließung der lange verschollenen Krankenakten, überliefert in einem ostdeutschen Archiv der Staatssicherheit, hat versucht, das Profil der Opfer kenntlich zu machen. Dabei wurden mit Hilfe einer Stichprobe von 3.000 Akten der überlieferten ca. 30.000 Patientenakten der „Aktion T4" u.a. Variablen zum Geschlecht, zum Alter, zum Sozialstatus, zur Diagnose, zur Gesamthospitalisierungsdauer und zur Bewertung der Arbeitstätigkeit der Patienten erhoben. Demnach waren ein Drittel der getöteten Patienten arbeitsunfähig und pflegeaufwendig, nur fünf Prozent waren produktiv beschäftigt und 74,6 Prozent hatten negative Verhaltensbewertungen in ihren Akten.38 Es handelte sich, worauf Regionalforschungen seit längerer Zeit hinweisen, bei den Opfern der „Euthanasie" gerade nicht um die gleiche Opfergruppe wie bei der Zwangssterilisation. Betrafen Zwangssterilisationen vorwiegend Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung oder Geisteskrankheit ohne oder mit einer geringen erwartbaren Anstaltsaufenthaltsdauer, so wurden durch die Krankenmorde überwiegend Menschen mit schweren Behinderungen oder Erkrankungen betroffen, deren voraussichtliche Anstaltsaufenthaltsdauer sehr groß war.39 Viele weitere Differenzierungen der Opfer sind mittlerweile aufgrund der detaillierten Auswertungen möglich. Besonders hervorzuheben erscheint hierbei der Versuch der Biographisierung der Opfer, die damit einer anonymen Masse entrissen werden

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Schulze, Dietmar, „Euthanasie" in Bernburg. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Anhaltinische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus, Essen 1999; Sandner, Peter, Die Landesheilanstalt Hadamar 1933-1945 als Einrichtung des Bezirksverbands Nassau (Wiesbaden), in: George, Uta/ Lilienthal, Georg/ Roelcke, Volker/ Sandner, Peter/ Vanja, Christina (Hg.), Hadamar. Heilstätte Tötungsanstalt - Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 136-155. Zum Ablauf der „Aktion T4" siehe: Hinz-Wessels, Annette/ Fuchs, Petra/ Hohendorf, Gerrit/ Rotzoll, Maike, Zur bürokratischen Abwicklung eines Massenmords - die nationalsozialistische „Euthanasie"Aktion im Spiegel neuer Dokumente, in: Vierteljahrshefte för Zeitgeschichte 53 (2005), S. 79-107; ferner Kogon, Eugen u.a. (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1983, S. 27-53; Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 190-214; Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 82-134, 166-190; Friedlander, 1997, wie Anm. 1, S. 117-151. Vgl. Hohendorf Gerrit u.a., Die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie-Aktion T4". Erste Ergebnisse eines Projektes zur Erschließung von Krankenakten getöteter Patienten im Bundesarchiv Berlin, in: Der Nervenarzt 11 (2002), S. 1065-1074; hier S. 1072 f; ferner Fuchs, Petra u.a., Die NS-„Euthanasie"Aktion-T4 im Spiegel der Krankenakten. Neue Ergebnisse historischer Forschung und ihre Bedeutung für die heutige Diskussion medizinethischer Fragen, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/2006), S. 16-36. Vgl. Walter, Bernd, Anstaltsleben als Schicksal. Die nationalsozialistische Erb- und Rassenpflege an Psychiatriepatienten, in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 217-233, bes. S. 230-232.

Die NS-„Euthanasie". Ein Forschungsüberblick

281

und ein Gesicht erhalten. Andererseits ergibt sich hierbei auch die Möglichkeit zu einer Kollektivbiographie der „T4"-Opfer.40 Die Opfer wurden nach einer Begutachtung der eingeholten Meldebogen ausgewählt. In den Anstalten wurden sie zu Transporten zusammengestellt. Der Abtransport der Patienten erfolgte seit dem Herbst 1940 über Zwischenanstalten zu den Tötungseinrichtungen. Die Verfahren zur Erfassung, Begutachtung, zum Abtransport und zur Ermordung der Anstaltsbewohner variierten. Die meisten Anstalten füllten die Meldebogen selbst aus. Seit dem Herbst 1940 wurden verschiedene Regionen von Gutachterkommissionen bereist, die zum Teil nachträgliche Begutachtungen (u.a. bei Verdacht auf fehlerhafte Ausfüllung der Meldebogen) oder erstmalige Sichtungen der Patienten vornahmen. Verschiedene evangelische Anstalten wie im Rheinland und in Westfalen hatten in Kenntnis der todbringenden Bedeutung die Rücksendung der Meldebogen verweigert und wurden z.B. im Juli und August 1941 von Gutachterkommissionen bereist.41 Die regional sehr ungleichmäßige Durchfuhrung der „Aktion T4" hat zu mannigfachen Interpretationen gefuhrt. Manche Autoren betonten, dass die Anstalten in den Landesteilen, aus denen Patienten abtransportiert und getötet worden sind, im Rahmen der Feldzugsplanung des Zweiten Weltkriegs freizumachen gewesen seien.42 Doch diese Erklärung betrifft nur bestimmte Landesteile wie Brandenburg, Württemberg und Baden, wohingegen andere „frontnahe" Gebiete (z.B. Rheinland) zwar Räumungsverlegungen zu Kriegsbeginn aufweisen, jedoch nur vereinzelt Anstaltsbewohner in Tötungseinrichtungen verlegt worden sind. Andere Interpretationen begründen die Unterschiede mit persönlichen Bekanntschaften und Beziehungen der in der Kanzlei des Führers mit der Durchfuhrung der „Euthanasie" befassten Funktionäre, also einer Art Netzwerk. In der ersten Sitzung eines Expertengremiums zur Besprechung der Durchfuhrung der „Euthanasie" Ende Juli/Anfang August 1939 in Berlin tauchten neben den Vertretern der „Kindereuthanasie" verschiedene Persönlichkeiten auf, die den zuerst betroffenen Regionen des Deutschen Reiches zugeordnet werden können: Max de Crinis (Berlin), Wilhelm Bender (Berlin-Buch), Werner Hey de (Heidelberg/Württemberg), Carl

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Fuchs, Petra u.a., Die Opfer der „Aktion T4". Versuch einer kollektiven Biographie auf der Grundlage von Krankengeschichten, in: Tögel, Christfried/ Lischka, Volkmar (Hg.), „Euthanasie" und Psychiatrie, Uchtspringe 2005, S. 37-78; siehe auch: Böhm, Boris/ Schulze, Ricarda (Hg.), „...ist uns noch allen lebendig in Erinnerung". Biographische Porträts von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie" Anstalt Pirna-Sonnenstein, Dresden 2003. Vgl. Kaminsky, Uwe, Zwangssterilisation und „Euthanasie" im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933-1945, Köln 1995, S. 344 ff; ders., Die Evangelische Kirche und der Widerstand gegen die „Euthanasie", in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/2006), S. 64-88. Siehe Faulstich, Heinz, Von der Irrenfîirsorge zur „Euthanasie". Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993, S. 210 ff ; Stöckle, Thomas, Die nationalsozialistische „Aktion T4" in Württemberg, in: Pretsch, Herrmann J. (Hg.), „Euthanasie". Krankenmorde in Südwestdeutschland, Zwiefalten 1996, S. 15-26.

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Uwe Kaminsky

Schneider (Heidelberg/Württemberg), Berthold Kihn (Jena/Thüringen), Valentin Faltlhauser (Kaufbeuren/Bayern), Hermann Pfannmüller (Eglfing-Haar/Bayern), Hans Heinze (Görden/Brandenburg), Paul Nitsche (Pirna-Sonnenstein/Sachsen).43 Die Wehrmacht, die SS oder die Volksdeutsche Mittelstelle forcierten zudem die Verlegungen von Anstaltsbewohnern, wobei sie versuchten, ihre Interessen an einer anderen Nutzung der Gebäude zur Geltung zu bringen. Zum Teil hatten diese Sonderinteressen bereits die frühen Krankenmorde in den Provinzen Pommern und Ostpreußen sowie in den besetzten polnischen Gebieten, wo die Anstalten fast ausschließlich für die SS, sei es vorübergehend als Umsiedlerlager oder später als Kaserne, genutzt wurden,44 mitbestimmt und die Morde der „Aktion T4" in bestimmten Regionen wie Bayern, Württemberg, Baden und dem Rheinland forciert.45 Am 24. August 1941 erfolgte das Ende der Tötungen von Anstaltspatienten im Rahmen der „Aktion T4" durch einen Befehl Hitlers.46 Den Hintergrund des Endes dieser Aktion bildeten einmal die sich häufenden Proteste aus der Bevölkerung und der Kirchen, die schließlich in der Predigt des katholischen Bischofs von Münster, Graf von Galen, zu öffentlicher Kritik wurden, und zum anderen Rivalitäten innerhalb der NS-Führungsriege.47 Im Gegensatz zu diesen Ursachen eines erzwungenen „Euthanasiestopps"48 wurde verschiedentlich auf ein planvolles Abstoppen der „Aktion T4" verwiesen. 43 44

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Siehe Friedlander, 1997, wie Anm. 1, bes. S. 122 ff.; Walter, 1996, wie Anm. 31, bes. S. 651 ff Vgl. Rieß, 1995, wie Anm. 23; sowie Bernhardt, Heike, Anstaltspsychiatrie und „Euthanasie in Pommern 1933 bis 1945. Die Krankenmorde an Kindern und Erwachsenen am Beispiel der Landesheilanstalt Ueckermünde, Frankfurt am Main 1994, S. 87-90. In bayerischen Anstalten (z.B. den evangelischen Neuendettelsauer Pflegeanstalten oder auch verschiedenen katholischen Einrichtungen) sowie in württembergischen und badischen Anstalten wurden Patienten zur Freimachung der Gebäude für die Unterbringung von Umsiedlern, die Einrichtung von Wehrmachtslazaretten und eine nationalpolitische Erziehungsanstalt verlegt. Ähnlich verhielt es sich auch bei der Räumung der rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau zugunsten eines Reservelazaretts im März 1940. Die „Euthanasie"-Zentrale schaltete sich in die vorgesehenen Verlegungen mit ihrem Selektions-, Transport- und Tötungsapparat erst nachträglich ein. Vgl. Müller, Christine-Ruth/ Siemen, Hans-Ludwig, Warum sie sterben mussten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im „Dritten Reich", Neustadt a. d. Aisch 1991, bes. S. 96-108, 148157, sowie Dokumente auf S. 204-224; ferner die Angaben in Verband katholischer Einrichtungen für Lern- und Geistigbehinderte (Hg.), Ein Jahrhundert der Sorge um geistig behinderte Menschen, Bd. 2: Wollasch, Hans-Josef Ausbau und Bedrängnis: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, Freiburg 1980, S. 99 (Atti), 105 (Burgkunstadt), 109 (Ecksberg), 115 (St. Josefshaus/Gemünden), 116 f (Gremsdorf), 124 (Lautrach), 128 (Reichenbach), 129 (Schönnbrunn), 130 f (Schweinspoint), 131 (Straubing), 132 (Ursberg); Faulstich, 1993, wie Anm. 42, S. 223 ff, 269 sowie die Hinweise bei Aly, 1995, wie Anm. 23, S. 190 f ; Kaminsky, 1995, wie Anm. 41, S. 337 f. Siehe hierzu den Vermerk des Bernburger Arztes Eberl vom 15.1.1943: „Die Arbeit der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege und damit der gesamten Anstalten ruht seit dem 24. August 1941." (zit. n. Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 339). Hierzu differenziert Süß, 2003, wie Anm. 9, S. 127-150. Siehe die abwägende Darstellung bei Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 210-213 sowie Schleunes, Karl A., Nationalsozialistische Entschlußbildung und die Aktion T4, in: Jäckel, Eberhard/ Rohwer, Jürgen (Hg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1987 (Stuttgart 1985), S. 70-83, bes. S. 75-78. Ebenfalls Nowak, Kurt, Widerstand, Zustimmung, Hinnahme. Das Verhalten der Bevölkerung

Die NS-„Euthanasie". Ritt Forschungsüberblick

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Diese intentionalistischen Deutungen des Stopps der Massenmorde können nur geringe Plausibilität für sich beanspruchen. Die Tatsache, dass bis zu jenem Zeitpunkt nach einer nachträglich intern angefertigten Statistik der „Euthanasie"-Zentrale der „Aktion T4" - gemeint ist die sogenannte „Hartheim-Statistik"49 - fast genau die Anzahl Menschen umgebracht wurde, wie anfänglich für den Krankenmord berechnet worden ist, nämlich 70.000, hatte wohl keinen Bezug zur Beendigung der „Aktion T4".50 Die „T4"-Verantwortlichen und Beteiligten waren selber von der Entscheidung Hitlers zum Stopp überrascht.51 Die ungleichmäßige Betroffenheit der einzelnen Landesteile durch die „Aktion T4" mag als weiteres Argument gegen eine intentionalistische Deutung des Stopps im August 1941 gelten. Aufgrund der späten Erfassung mit Meldebögen und der Widerstände gegen die Aktion in den westlichen Landesteilen wurden die Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten in Landesteilen, wie Rheinland und Westfalen zu weniger als 20 Prozent durch den Gasmord betroffen, wohingegen in Landesteilen wie Sachsen, Württemberg oder Baden mehr als die Hälfte der Heil- und Pflegeanstaltspatienten ihr Leben verloren. 2.3. Dezentrale bzw. „wilde Euthanasie" Die Krankenmorde nach dem August 1941 werden in der Forschung bislang als zweite Phase der „Euthanasie" oder „dezentralisierte .Euthanasie'" gefasst. Damit ist die Tötung von Anstaltsbewohnern durch Hunger und Medikamente gemeint, die in verschiedenen Anstalten wie Meseritz-Obrawalde oder Hadamar stattfand. Altere Interpretationen gingen von einem nur „propagandistischen" Stopp (Klee) der „Euthanasie" im August 1941 aus und setzten die Fortführung der Krankenmorde in eine Kontinuität mit der „Aktion T4". Neuere Forschungen deuten dagegen darauf hin, dass die Planungen für eine erhoffte Wiederaufnahme der „Euthanasie" im großen Stile noch im Verlauf des Jahres 1942 angesichts der Kriegslage Makulatur

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zur „Euthanasie", in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 235-251. Siehe den Abdruck der Zahlen bei Klee, Ernst (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie", 5. Aufl., Frankflirt am Main 2001, S. 232 f sowie Kugler, Andrea, Die „Hartheimer Statistik". „Bis zum 1. September 1941 wurden desinfiziert: Personen: 70.273", in: Amt der Oberösterreichischen Landesregierung (Hg.), Wert des Lebens. Gedenken - Lernen - Begreifen, Linz 2003, S. 124-131. Siehe Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 340 und Aly, Götz, Medizin gegen Unbrauchbare, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 1 (1985), S. 26-74, hier S. 29. Walter Grode hat diese These des planmäßigen Abstoppens von „T4" noch um die Variation bereichert, dass dies die Notwendigkeit zur Ausweitung der „Aktion 14fl3" (Ermordung „asozialer" KZ-Insassen) bedingt habe (Grode, 1987, wie Anm. 22, S. 99-127, bes. S. 106-113.). Ahnlich zufallig scheint die Ubereinstimmung des von der Heeressanitätsinspektion berechneten Bedarfs von 35.000 Betten jährlich flir geisteskranke Soldaten mit der Zahl der 1940/41 ermordeten Psychiatriepatienten und Geistigbehinderten zu sein. Vgl. hierzu Petter, Wolfgang, Zur nationalsozialistischen „Euthanasie". Ansatz und Entgrenzung, in: Michalka, Wolfgang (Hg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München 1989, S. 814-826, bes. S. 819. Siehe die abwägende Beschreibung bei Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 437, Anm. 91.

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Uwe Kaminsky

wurden. Es konkurrierten vielmehr verschiedene Instanzen wie das Reichsinnenministerium und die erstarkende Sonderbehörde des seit 1942 als „Generalkommissar" firmierenden Karl Brandt um die Vorherrschaft im Bereich des Sanitäts- und Gesundheitswesen.52 Erneut wurden die Patienten der Heil- und Pflegeanstalten zu Betroffenen der nunmehr durch regionale Instanzen (Gauleitungen, Medizinalverwaltungen der Provinzen und Länder, Stadtverwaltungen) bestimmten Verlegungen und zu Opfern der dezentralen „Euthanasie". Hintergrund der Verlegungen waren katastrophenpolitische Konzepte, die angesichts von Bombenangriffen auf die deutschen Städte, die Räumung von immer mehr psychiatrischen Krankenhäusern und Heimen für die Unterbringung körperlich Verletzter vorsahen. Hier existierte kein zentrales Mordprogramm mehr wie in der Phase der „Aktion T4" zuvor, wo in eigens zum Gasmord ausgerüsteten Anstalten Patienten zu Tode gebracht wurden. Auch eine Aussonderung der Patienten gemäß den über sie ausgefüllten Meldebögen erfolgte ganz überwiegend nicht, obwohl diese Meldebögen seit dem Herbst 1942 weiter von den Anstalten auszufüllen waren. Dies deutet zwar durchaus auf weitere Planungen zur Lenkung des Krankenmordes hin, doch muss deren Relevanz für das weitere Geschehen bestritten werden. Durch den „Euthanasiestopp" Hitlers vom August 1941 verlagerte sich das krankenmörderische Geschehen in bestimmte Anstalten in bestimmten Regionen, wo tötungsbereite Arzte handelten. Hierin waren auch die jeweiligen Verwaltungen der Provinzen eingeschaltet, wie die detaillierte Studie von Peter Sandner über den Bezirksverband Hessen-Nassau gezeigt hat.53 Der Krankenmord nach dem August 1941 hatte bestimmte regionale Schwerpunkte. Es kristallisierten sich patienten-abgebende und -aufnehmende Regionen heraus. Abgebende Regionen waren die Länder und preußischen Provinzen im Norden (Hamburg54, Bremen55, Schleswig-Holstein56, Niedersachsen57) und Wes52 53 54

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Vgl. Kaminsky, 1995, wie Anm. 41, bes. S. 407-436; Süß, 2003, wie Anm. 9, S. 160-168. Sandner, Peter, Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, Giessen 2003. Vgl. Übersicht bei Böhme, Klaus/ Lohalm, Uwe (Hg.), Wege in den Tod. Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 490-493; und für die beiden konfessionellen Privatanstalten Hamburgs, Anscharhöhe und Alsterdorfer Anstalten siehe Wunder, Michael/ Genkel, Ingrid/ Jenner, Harald, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987, S. 189-236 und Jenner, Harald, 100 Jahre Anscharhöhe 1886-1986. Die Anscharhöhe in Hamburg-Eppendorf im Wandel der Zeit, Neumünster 1986. Siehe Engelbracht, Gerda, Der tödliche Schatten der Psychiatrie. Die Bremer Nervenklinik 1933-1945, Bremen 1997. Vgl. Delius, Peter, Das Ende von Strecknitz. Die Lübecker Heilanstalt und ihre Auflösung 1941, Kiel 1988; Jenner, Harald, „Ein langer Weg..." Kropper Anstalten, Diakonissenanstalt, Diakoniewerk Kropp. 111 Jahre helfen - heilen - trösten, Kropp 1990; Jenner, Harald, Die Geschichte einer psychiatrischen Klinik. Schleswig-Stadtfeld, Schleswig 1995. Siehe Sueße, Thorsten/ Meyer, Heinrich, Abtransport der „Lebensunwerten". Die Konfrontation der niedersächsischen Anstalten mit der NS-„Euthanasie", Hannover 1988, bes. S. 96, 121 f, 131 ff, 142 f, 144 ff,153 ff, 190 ff, 203 ff

Die NS-„Euthanasie".

Ein

Forschungsüberblick

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ten (Saarland, Westfalen, Rheinland 58 ) Deutschlands, aus denen Verlegungen aufgrund der Katastrophenschutzpolitik angesichts von Bombenangriffen immer von neuem forciert wurden. Die Patienten wurden in Anstalten in Mitteldeutschland (Thüringen, Sachsen 59 , Hessen 60 ), Nordostdeutschland (Pommern 61 ), Süddeutschland (Bayern 62 ) oder den angegliederten bzw. besetzten Gebieten im Osten (Warthegau 63 , Generalgouvernement 64 ) oder im Süden (Osterreich 65 ) gebracht, wo sie Medikamententötungen oder der Hungertod erwarteten.

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Siehe zum Saarland: Braß, Christoph, Zwangssterilisation und „Euthanasie" im Saarland 1935-1945, Paderborn 2004, S. 190 ff.; zu Westfalen: Walter, 1996, wie Anm. 31, bes. S. 744-776; mit Blick auf katholische Einrichtungen: Frings, Bernhard, „Zu melden sind sämtliche Patienten..." NS-„Euthanasie" und Heil- und Pflegeanstalten im Bistum Münster, Münster 1994, bes. S. 24-62; zum Rheinland: Kaminsky, 1995, wie Anm. 41, S. 407-518 (mit Hinweisen auf weitere Einzelbearbeitungen). Thom, Achim, Kriegsopfer der Psychiatrie. Das Beispiel der Heil- und Pflegeanstalten Sachsens, in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 201-216 sowie Schröter, Sonja, Psychiatrie in Waldheim/Sachsen (1716-1946). Ein Beitrag zur Geschichte der forensischen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt am Main 1994. Siehe Sandner, 2003, wie Anm. 53; George, U t a / Lilienthal, Georg/ Roelcke, Volker/ Sandner, Peter/ Vanja, Christina (Hg.), Hadamar. Heilstätte - Tötungsanstalt - Therapiezentrum, Marburg 2006; sowie die älteren Darstellungen: Roer, Dorothee/ Henkel, Dieter (Hg.), Psychiatrie im Faschismus - Die Anstalt Hadamar 1933-1945, Bonn 1986; Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, Kassel 1991; Dickel, Horst, „Die sind j a doch alle unheilbar". Zwangssterilisation und Tötung der „Minderwertigen" im Rheingau, 1934-1945, Wiesbaden 1988; Klüppel, Manfred, „Euthanasie" und Lebensvernichtung am Beispiel der Landesheilanstalten Haina und Merxhausen. Eine Chronik der Ereignisse 1933-1945, Kassel 1984. Vgl. Bernhardt, 1994, wie Anm. 44, bes. S. 68-80. Siehe Schmidt, Gerhard, Selektion in der Heilanstalt 1939-1945, Frankfurt am Main 1983; Richarz, Bernhard, Heilen, Pflegen, Töten. Zur Alltagsgeschichte einer Heil- und Pflegeanstalt bis zum Ende des Nationalsozialismus, Göttingen 1987; Mader, Ernst T., Das erzwungene Sterben von Patienten der Heilund Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee zwischen 1940 und 1945 nach Dokumenten und Berichten von Augenzeugen, Blöcktach 1982; Römer, 1986, wie Anm. 23; Cranach, Michael von/ Siemen, Hans Ludwig, Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999. Vgl. auch Polnischen Gesellschaft für Psychiatrie (Hg.), Die Ermordung der Geisteskranken in Polen 1939-1945, Warschau 1993, bes. S. 86-103 (Tiegenhof), 126-134 (Warta). Vgl. Dressen, Willi/ Rieß, Volker, Ausbeutung und Vernichtung. Gesundheitspolitik im Generalgouvernement, in: Frei, Norbert (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 157171, bes. S. 169-171; Polnischen Gesellschaft fur Psychiatrie (Hg.), 1993, wie Anm. 63, S. 138-147 (Tworki), 165-170 (Kobierzyn), 200-205 (Kulparkow). Vgl. die Beiträge von Neugebauer, Wolfgang, Zur Psychiatrie in Osterreich 1938-1945. „Euthanasie" und Sterilisierung, in: Weinzierl, Erika/ Stadler, Karl R. (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte, Wien 1983, S. 197-285; ders., „Euthanasie" und Zwangssterilisierung, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934-1945. Eine Dokumentation, Bd. 3, Wien 1987, S. 632-682 (zu den Anstalten Gugging, Mauer-Öhling und Ybbs a. d. Donau); Köfler, Gretl, „Euthanasie" und Zwangssterilisierung, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Tirol. 1934-1945. Eine Dokumentation, Bd. 1, Wien 1984, S. 483-519; Siehe zur Anstalt in Wien Wunder/ Genkel/Jenner, 1987, wie Anm. 54, S. 218 f.; Böhme/ Lohalm (Hg.), 1993, wie Anm. 54, S. 438-470; Stromberger, Helge, NS-Massenvernichtung am Beispiel Klagenflirt, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 11 (1988), S. 37-51, sowie ders., Die Arzte, die Schwestern, die SS und der Tod, Klagenfurt 1988; Kepplinger, 2003, wie Anm. 35.

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Uzve Kaminsky

Die Lenkung der Transporte aus den abgebenden Regionen erfolgte im allgemeinen über die Stelle des Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten im Reichsinnenministerium, der basierend auf den seit dem Herbst 1942 von den einzelnen Anstalten zu erstattenden Bestandsmeldungen eine Übersicht über freie Plätze in den Anstalten des Deutschen Reiches besaß. In der mörderischen Logik der Patientenverschiebungen waren das vor allem Plätze in den Anstalten, in denen die bisherigen Anstaltsbewohner den Tod gefunden hatten. Insofern ergab sich eine Verschiebung der Patienten in die als Tötungsanstalten zu bezeichnenden Einrichtungen aufgrund von Push- und Pull-EfFekten, ohne dass es dazu eines zentralen, dirigistischen Mordplanes bedurfte. Dies bleibt festzuhalten trotz der in neueren Studien wie in der über die „Verwaltung des Krankenmords" am Beispiel des Bezirksverbandes Hessen-Nassau festgestellten Interessenidentität mit den Plänen der Berliner Zentrale.66 Diese wollte Patienten aus luftgefährdeten Gebieten unterbringen, der Bezirksverband wollte trotz der Ermordung der angelieferten Patienten die Anstalten aus Kostengründen immer wieder voll belegen. Hier trafen sich Zielplanungen, die miteinander harmonierten und zum Tod tausender von Patienten führten. Versuche zur Rezentralisierung des Krankenmords auf der Ebene der „Euthanasie"-Zentrale sind erstmals im Juni 1943 und noch einmal im Juli 1944 quellenmäßig belegbar. Diese Versuche können jedoch eher als Strategien der „Euthanasie"-Zentrale gelesen werden, ihren Bedeutungsschwund zu kompensieren. Die vermeintlichen „Vordenker der Vernichtung" wurden gleichsam zu „Hinterherplanern" einer eigendynamischen Entwicklung. Durch eine zentrale Medikamentenverteilung sollten die längst unorganisiert und unkontrolliert laufenden Aktionen („wilde Euthanasie") wieder in den Griff bekommen werden.67 Der dabei von Paul Nitsche, seit November 1941 Leiter der „Euthanasie"-Zentraldienststelle, und dem Berliner Ordinarius Max de Crinis gegenüber Karl Brandt Ende Juni 1943 gemachte „E.-Vorschlag" erfolgte vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der Raumbeschaffung in den Zielanstalten angesichts der umfangreichen Räumungen in den nordwestdeutschen Regionen. So hatte die sächsische Regierung am 19. Juni 1943 die Aufnahme von 23.000 Patienten aus der Rheinprovinz und aus Westfalen, die ihr von der Reichsarbeitsgemeinschaft angekündigt

66 Sandner, 2003, wie Anm. 53. 67 Dies gegen Schmuhl, der zwischen der „wilden Euthanasie" von Herbst 1941 bis Frühjahr 1943 (zum Teil weitergeführt bis 1945) unterscheidet und der Reinstitutionalisierung der Euthanasieaktion von Frühjahr 1943 bis 1945. Auch die „wilde Euthanasie" sieht Schmuhl als „im großen und ganzen von der Euthanasiezentrale initiiert, koordiniert und kontrolliert" an. Die These Schmuhls geht davon aus, dass die Psychiatrieplanungen der Euthanasiezentrale in der Reinstitutionalisierung der „Euthanasie" gemündet wären, also nicht gescheitert, sondern planmäßig erfolgreich gewesen seien. Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 224; ähnlich mit Blick auf Aussagen Nitsches in seinem Dresdener Prozess 1947: Platen-Hallermund, Alice, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland, Frankfurt 1948, S. 70 f; Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 441; Burleigh, 1994, wie Anm. 1, S. 238-266; Friedlander, 1995, wie Anm. 1, S. 151-163; Vgl. dagegen Kaminsky, 1995, wie Anm. 41, S. 423-430.

Die NS-„Euthanasie". Ein Forschungsüberblick

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worden waren, abgelehnt.68 Auch der zweite Anstoß zur „Aktivierung unserer spezifischen Therapie" im Juli 1944 geschah vor dem Hintergrund von Raumproblemen angesichts zweckentfremdeten Krankenhausraums.69 Die Frage nach dem Umfang der aufgrund dieser Initiativen angeregten Tötungen ist schwer zu beantworten. Im August 1943 traf sich eine ausgewählte Arztegruppe in Berlin, um die Tötungen organisatorisch zu beraten. Aus einer Bemerkung Nitsches in einem Brief an Hebold (Eberswalde) vom 19.4.1944 kann geschlossen werden, dass zunächst „Geisteskranke" - offenbar solche, welche psychiatrischer Anstaltsbehandlung bedurften, im Gegensatz zu reinen Pflegefällen - ausgeschlossen sein sollten.70 Dieser erneute Versuch, die Anstaltstötungen zu zentralisieren, war nur in den Anstalten erfolgreich, deren Arzte zum Teilnehmerkreis zählten. Aus den teilweise überlieferten Unterlagen des mit der Medikamentenlieferung betrauten Kriminaltechnischen Institutes des Reichssicherheitshauptamtes gehen die belieferten Anstalten Eichberg, Kalmenhof (Idstein), Uchtspringe, Görden, Ansbach, Großschweidnitz und Tiegenhof hervor,71 was noch um die Anstalten Waldheim, Kinderkrankenhaus Stuttgart Nord und Meseritz72 sowie Hartheim und Zwiefalten73 ergänzt werden kann, allerdings keineswegs vollständig ist. Und dennoch verdecken diese Hinweise auf zentrale Anstöße zum Patientenmord eher die Eigendynamik des Geschehens, als dass sie dieses aufhellen. Der weitere Mord an Patienten wurde nämlich längst fortgeführt. Die hier angedeuteten personellen Verflechtungen von regionalstaatlichen und parteilichen Gesundheitsverwaltungen und von Ärzten und Pflegepersonal einzelner Anstalten mit der „Euthanasie"-Zentralstelle stellen ein Erklärungsmoment für die „Euthanasie" nach dem August 1941 dar.74 Zum Teil handelte es sich um junge

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Vgl. Thom, 1991, wie Anm. 59, S. 215. Siehe hierzu das Schreiben Runckels an Nitsche vom 24.7.1944 mit der Anlage von Runckels Vermerk über sein Gespräch mit Brandt am 18.7.1944, BA R 961/7, p. 127916-127923. Brandt hatte zudem Runckel in der erwähnten Besprechung am 18.7. um eine vergleichende Aufstellung zwischen den Todesfallen in den deutschen Heilanstalten 1914 bis 1918 und in den ersten vier Kriegsjahren gebeten. Neben dem rein statistischen Zweck hätte der Hinweis auf das Massensterben der Patienten im Ersten Weltkrieg auch zur Rechtfertigung gegenüber anderen anfragenden Stellen dienen können. Hebold hatte zuvor in einem Brief an Nitsche geklagt, dass sich viele nicht in eine Anstalt gehörende „Psychopathen", angesichts der Kriegszeit in seine Einrichtung geflüchtet hätten. Nitsche stimmte ihm zu, dass diese eigentlich in ein KZ gehörten. Hebold solle ihm Meldebögen, mit Kennzeichnung des „psychiatrischen Sachverhalts" übersenden. Es dürfe sich aber nur um „Psychopathen, welche nicht psychiatrischer Anstaltsbehandlung bedürfen" handeln, nicht um „Geisteskranke - bei solchen gilt ja unbedingt das Stopverbot" (Nitsche an Hebold 19.4.1944, BA R96 1/2, p. 127947-127948). B A R 58/1059. Siehe Empfangsbestätigungen von und an Nitsche in BA R 96 1/2; Aly, 1985, wie Anm. 50, S. 62; Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 232. Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 446 f Als Hinweis auf beteiligte Ärzte siehe die Listen von mit der Euthanasiezentralstelle verbundenen Gutachtern, dort arbeitenden Ärzten, in Anstalten oder in der Forschung aktiven Ärzten. BA R 96 1/1, p. 127890-127892 (abgedruckt bei Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 228 f. und ders., Irrsinn Ost - Irrsinn West.

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Ärzte, Pflege- oder Verwaltungspersonal, die sich bereits im Rahmen der „Aktion T4" zur Mitarbeit beim Krankenmord verpflichtet hatten, einen beruflichen Aufstieg in anstaltsleitende Positionen erfuhren und nach dem ausbleibenden Neustart des Krankenmords im großen Maßstab in verschiedenen Anstalten unterkamen, in denen sie selbst im Sinne der „Euthanasie" wirkten. Dies taten sie nach eigenem Antrieb und Bereitwilligkeit, welche durch die von der „Euthanasie"-Zentrale gehegte Hoffnung auf einen Neustart der „Euthanasie" befördert wurde.75 Oftmals korrespondierte die in verschiedenen Anstalten bereits durchgeführte oder meistens erst nach dem August 1941 aufgenommene „Kindereuthanasie" mit der Bereitschaft verantwortlich Tätiger zum Krankenmord mittels Medikamenten. Für diese Expertengruppe kann eine besondere euthanatische Mentalität angenommen werden, die durch die Teilnahme an der „Aktion T4" mit all ihren gruppenstärkenden Geheimhaltungs- und Handlungsritualen gefestigt wurde.76 Das offenbar bewusste Inkaufnehmen des Hungersterbens der Patienten besonders in der zweiten Kriegshälfte deutet auf einen größeren Umfang der nicht zentral gesteuerten, offenbar nicht einmal von der Zentrale gern gesehenen „wilden Euthanasie" hin.77 Dies ist als Beleg dafür anzusehen, dass die umfangreichen Krankenmorde auch nach dem August 1943 nur teilweise zentralisiert waren, sich hingegen im Verlauf des Krieges eine noch in den meisten Anstalten zu erforschende Eigendynamik des Mordens von Anstaltspatienten entfaltete, die in ihren Auswirkungen Psychiatrie in Deutschland, Frankfurt am Main 1993, S. 135 f.) und das „Verzeichnis der zur Begutachtung in Anspruch genommenen Ärzte" (8.2.1944), in: BA R 96/1, p. 127959. Eine Liste des Anfang 1944 beteiligten Pflegepersonals mit 23 Männern und elf Frauen findet sich als Anlage zum Schreiben Allers an Nitsche 15.1.1944, in: ebda. 75 Siehe zur Ermutigung durch die Euthanasiezentralstelle die bei Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 417-421, angeführten Belege. Zu einem gut erforschten Einzelbeispiel siehe Chroust, Peter (Bearb.), Friedrich Mennecke - Innenansichten eines medizinischen Täters im Nationalsozialismus. Eine Edition seiner Briefe 1935-1947,2 Bde., Hamburg 1987; Allgemein zur Teilnahme von Ärzten an Tötungshandlungen: Lifton, Robert Jay, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988; Schmuhl, Hans-Walter, Die Selbstverständlichkeit des Tötens. Psychiater im Nationalsozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 411-439. 76 Vgl. die Beschreibung der Motivationen des Personals der Kanzlei des Führers bei: Friedlander, Henry, The T4 killers. Berlin, Lublin, San Sabba, in: Grabitz, Helge (Hg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag, Berlin 1994, S. 220-240; sowie ders., 1995, wie Anm. 1, S. 187245; ferner siehe die biographischen Forschungen im Rahmen regionaler Studien: Lilienthal, Georg, Personal der Tötungsanstalt. Acht biographische Skizzen, in: George, Uta u.a. (Hg.), Hadamar. Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 267-292. 77 Der Begriff der „wilden Euthanasie" wurde von Brack im Nürnberger Ärzteprozess zur Bezeichnung der Tötungen nach dem offiziellen Euthanasiestopp 1941 eingeführt. Er wollte in apologetischer Absicht die eigene Tatbeteiligung an diesen Morden minimieren, indem die Verantwortung für die konkreten Mordtaten den handelnden Ärzten und dem Pflegepersonal zugeschoben wurde (vgl. Platen-Hallermund, 1948, wie Anm. 67, S. 70 f) In einer etwas abgewandelten Bedeutung, nämlich dass sich die Tatausführenden nicht an die von der „Euthanasie'-Zentrale vorgegebenen Medikamententötungen hielten, sondern Verhungernlassen praktizierten, taucht dieser Begriff der „wilden E-Maßnahmen" bereits in einem zeitgenössischen Schreiben Heinzes an Nitsche vom 20.1.1944 (zitiert bei Klee, 1983, wie Anm. 1, S. 440) auf.

Die NS-„ Euthanasie ". Ein Forschungsüberblick

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dem zentral angestoßenen Krankenmord kaum nachgestanden haben dürfte. Beide Formen mischten sich in der zweiten Kriegshälfte immer mehr. Grundlage für den weiteren Krankenmord waren regionale Anstöße oftmals gekoppelt mit personalen Kontinuitäten von bereits in der ersten Phase mit dem Krankenmord betrauten Ärzten, Pflegepersonal oder Verwaltungsstellen, wie sie in verschiedenen Ländern und Provinzen bereits recht eindeutig identifiziert werden können. Hier ist eine stärkere Regionalisierung der Forschung notwendig, um vertiefte Erkenntnisse zu gewinnen. Selbst in Einrichtungen, in denen in der Nachkriegszeit keine Krankentötungen juristisch nachgewiesen werden konnten und keine personelle Nähe zur „Euthanasie"-Zentrale bestanden hatte, stiegen die Sterbeziffern in der zweiten Kriegshälfte bis auf ein Viertel aller Verpflegten oder noch höher an. Die Gründe hierfür lassen sich in einer vielerorts bereits vor Kriegsbeginn nach Arbeitsleistung differenzierten Ernährung innerhalb der Anstalten, dem Auftreten von Epidemien und Krankheiten sowie in einem Wandel der Patientenzusammensetzung hin zu altersbedingt erkrankten Menschen sehen. Ein bislang nur in Ansätzen bekanntes „Hungersterben" fand in vielen Anstalten statt und dauerte über das militärische Kriegsende hinweg fort.78 Das Massensterben von Heil- und Pflegeanstaltspatienten nach dem Kriegsende nahm aufgrund der bestehenden Aushungerung, weiterhin geringer Rationen und mangelnder Möglichkeiten, auf dem Schwarzmarkt zusätzliche Nahrungsmittel zu besorgen, ein erhebliches Ausmaß an. Es überdeckte in der Erinnerung von Ärzten und Anstaltspersonal vielfach die schlechten Ernährungs- und Betreuungsbedingungen unter der NS-Herrschaft.

3. Resümee Von der Eugenik und der Zwangssterilisation führte kein gerader Weg zur „Euthanasie". In Anlehnung an den verschlungenen Weg zum Holocaust lässt sich diese „twisted road" auch für die „Euthanasie" beschreiben. Es ist in den 20er und 30er Jahren eine schleichende Entwertung der Anstaltspatienten feststellbar, die durch die Krisen der Fürsorge in der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Rassenideologie forciert wurde.79 Die Verachtung des Lebens der Psychiatriepatienten entfaltete seine mörderische Wirkung im großen Maßstab aber erst im Zweiten Weltkrieg, als die nach Brauchbarkeit wertende Kriegsgesellschaft den Tod Zehntausender von Anstaltspatienten abgestumpft hinnahm, darunter besonders den vieler alter Patienten und Behinderter. Damit ordnet sich die NS-„Enthanasie" 78 79

Siehe hierzu Faulstich, 1993, wie Anm. 42, S. 317-322; ders., Hungersterben in der Psychiatrie 19141949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg 1998. Siehe beispielhaft: Lohalm, Uwe, Die Wohlfahrtskrise 1930-1933. Vom ökonomischen Notprogramm zur rassenhygienischen Neubestimmung, in: Bajohr, Frank/Johe, Werner/ Lohalm, Uwe (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, S. 193-225.

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in den Rahmen der enthemmenden Kriegsereignisse und der Radikalisierungen im NS-Herrschaftsapparat ein. Allgemeiner verweist sie jedoch auf die Gefahren in der Moderne, den Wert des Menschen allein ökonomisch zu bestimmen und das Tötungsverbot in gesellschaftlichen Notstandslagen zu lockern. Die Gesamtzahl der Opfer der „Euthanasie" während des Zweiten Weltkrieges wird vorsichtig auf über 100.000 geschätzt,80 manche Schätzung geht von mehr als 200.000 Opfern aus, wobei die Kategorie des „NS-Opfers" der Psychiatrie bei solch inflationärer Schätzung genauer bestimmt werden müsste, um nicht per se jeden während der Kriegsjahre in einer Heil- und Pflegeanstalt Verstorbenen pauschal zum „Euthanasie"-Opfer zu machen.81 Die nationalsozialistische „Euthanasie" als Massenverbrechen begann zeitlich vor dem Judenmord. Es besteht zwischen beiden ein Zusammenhang. Aus der Organisation der „Euthanasie" wurden die Mordtechnologie (Gaskammer) und zum Teil das ausfuhrende Personal um die Jahreswende 1941/42 zur Durchfuhrung des Massenmords an den europäischen Juden übertragen.82 Dennoch stellte die „Euthanasie" nicht nur die Vorstufe zur Shoah dar, sondern war ein Verbrechen eigener Art. Allerdings standen die nach dem August 1941 stattfindenden dezentralen Massentötungen von Anstaltspatienten lange im Schlagschatten des Völkermordes an den europäischen Juden. Zwar gibt es erste zusammenhängende Darstellungen und Einzeluntersuchungen, aber die „Euthanasie" nach dem August 1941 fand erst durch regionale und psychiatriegeschichtliche Forschungen in den letzten zwanzig Jahren größere Aufmerksamkeit.83 Bis zum heutigen Tage bestehen Desiderate der Forschung, die sich insbesondere auf die vom Deutschen Reich besetzten Gebiete oder nach 1945 von Deutschland abgetrennten Gebiete beziehen. Gerade die hier bislang erfolgten Forschungen zu Ostpreußen, Schlesien, dem Sudentengebiet etc. deuten vor dem Hintergrund einer vielfach schlechten Quellenlage auf viele offene Fragen, deren Lösung noch gefunden werden muss.

80 So Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 236. 81 Vgl. Faulstich, 1998, wie Anm. 78, S. 582. 82 Schmuhl, 1987, wie Anm. 1, S. 240-260. Götz Aly betont den Erfahrungshintergrund, der durch die „Euthanasie" fiir die Organisatoren der Judenvernichtung hergestellt wurde (Aly, 1995, wie Anm. 23, S. 371-374); ähnlich in der Hervorhebung der personellen und strukturellen Kontinuitäten Friedlander, 1997, wie Anm. 1, bes. S. 449-476. 83 Besonders haben Untersuchungen über die meist konfessionellen Träger der Anstaltsfursorge weitere Erkenntnisse gebracht. Zu den evangelischen Einrichtungen der „Inneren Mission" siehe Jenner, Harald/ Kaminsky, Uwe, Die Innere Mission und die nationalsozialistischen Krankenmorde, in: Jenner, Harald/ Klieme, Joachim (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen und Einrichtungen der Inneren Mission. Eine Übersicht, Reutlingen 1997, S. 13-31; Zur katholischen „Caritas" siehe Wollasch, Hans-Josef, Caritas und Euthanasie im Dritten Reich. Staatliche Lebensvernichtung in katholischen Heil- und Pflegeanstalten 1936 bis 1945, in: Jahrbuch der Caritaswissenschaft 1973, S. 61-85; und in: ders., Beiträge zur Geschichte der Deutschen Caritas in der Zeit der Weltkrieg, Freiburg 1978; und in: Dörner, Klaus u.a. (Hg.), Der Krieg gegen die psychisch Kranken, Rehburg-Loccum 1980, S. 129-145; Verband katholischer Einrichtungen fur Lern- und Geistigbehinderte (Hg.), Ein Jahrhundert der Sorge um geistig behinderte Menschen, Freiburg 1980, 2 Bde (bes. Bd. 2: Wollasch, 1980, wie Anm. 45).

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Autorenverzeichnis

Gisela Bock, geb. 1942, Dr. phil., Universitätsprofessorin für Neuere Geschichte Westeuropas an der Freien Universität Berlin Studium in Freiburg, Paris, Berlin, Rom. Promotion 1971 an der Freien Universität Berlin, Habilitation 1984 an der Technischen Universität Berlin. 1985-89 Professur fiir Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Europäischen Hochschulinstitut (Florenz), 1989-1997 Professur für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschlechtergeschichte an der Universität Bielefeld; 1974-75 Fellow am Center for European Studies (Harvard University); 1995-96 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 2002-2003 Gastprofessur an der Central European University in Budapest. Publikationen zur politischen Ideengeschichte Italiens; zur Sozialgeschichte Nordamerikas; zur nationalsozialistischen Rassenpolitik; zur nordamerikanischen und europäischen Frauen- und Geschlechtergeschichte von der Frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert und zu Methoden der Geschlechtergeschichte. Boris Böhm, geb. 1960, Dr. phil., Diplomhistoriker, Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein in Sachsen Studium der Geschichte in Leipzig; 1994-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hannah-Arendt- Instituts, Dresden; 1995-1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kuratoriums Gedenkstätte Sonnenstein e.V., Pirna; seit 1999 Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Veröffentlichungen zur sächsischen und sächsisch-böhmischen Geschichte, zur Geschichte der sächsischen Psychiatrie und zu psychiatrisierten Künstlern, Mitherausgeber und Autor von Publikationen über die NS-„Euthanasie"-Verbrechen in Sachsen. Angelika Ebbinghaus, Dr. phil. Dipl. Psych., Historikerin und Psychologische Psychotherapeutin, tätig in beiden Berufsfeldern; Mitherausgeberin der Zeitschrift Sozial.Geschichte seit 1986 und Vorsitzende der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen zur Geschichte der Medizin; NS-Geschichte; Wissenschaftsgeschichte; Frauengeschichte und u.a. Geschichte der Arbeitswissenschaften. Richard J. Evans, geb. 1947, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Cambridge Studium der Geschichte sowie Promotion in Oxford, lehrte an der Universität East Anglia (Norwich) sowie am Birkbeck College, Universität London; Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung 1980, 1986; Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg 1994; seit 1998 Mitglied der Britischen Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte, u.a. Kneipengespräche im Kaiserreich (1988), Tod in Hamburg (1990), Rituale der Vergeltung (2001), Der Geschichtsfälscher (2003). Von seiner dreibändigen Geschichte des

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nationalsozialistischen Deutschlands sind bisher erschienen 'Aufstieg' (2004) und 'Diktatur' (2006).

Henry Friedlander, geb. 1930 in Berlin, Inhaftierter verschiedener Konzentrationslager, u.a. Auschwitz, lebt seit 1947 in den USA. Em. Professor für Jüdische Studien am Brooklyn College der City University in New York. 1968 Dr. phil. an der University of Pennsylvania, 1975-2001 Professor für Jüdische Studien am Brooklyn College der City University in New York Veröffentlichungen zur Geschichte der Entspannungspolitik, der Revolution in Deutschland 1918, der Nachkriegsprozesse und des Holocaust, namentlich: The Origins of Nazi Genocide: From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill 1995; dt.: Der Weg zum NSGenozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. Caris-Petra Heidel, geb. 1954, Dr. med. habil., apl. Professor für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden Studium der Zahnmedizin in Donezk (UdSSR) und Dresden, Fachzahnarzt und Arzt für Sozialmedizin, 1978-1984 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialhygiene der Medizinischen Akademie Dresden, seit 1984 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Medizinischen Akademie/Medizinischen Fakultät Dresden, seit 1988 Stellvertretende Institutsdirektorin, 1989/1990 Lehrbefähigung und Habilitation als Medizinhistorikerin. Veröffentlichungen zur Geschichte der Medizin- und Zahnmedizinhistoriographie; zur Entwicklung theoretischer und klinischer Fachgebiete der Medizin im 19. und 20. Jh.; zur Dresdener Medizingeschichte seit dem 18. Jh.; zu Medizin und Zahnmedizin im Nationalsozialismus; zu Medizin und Judentum; zum Schicksal jüdischer Ärzte und Zahnärzte in Sachsen 1933-1945; zur Geschichte des Gesundheitswesens und der medizinischen Hochschulen/Hochschulpolitik 19. und 20. Jh. sowie der DDR . Klaus-Dietmar Henke, geb. 1947, Dr. phil., Universitätsprofessor für Zeitgeschichte an der Technischen Universität Dresden Studium der Geschichte in München; 1979-1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, München (Stellvertretender Chefredakteur der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte"); 1992-1996 Wissenschaftschef beim Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen, Berlin; 1997-2001 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, Dresden. Veröffentlichungen zur Geschichte der Dresdner Bank in der NS-Zeit; zum Untergang des Dritten Reiches und der amerikanischen Besetzung Deutschlands; über die politische Säuberung in Europa; zur alliierten Politik in Deutschland; zum deutschen Staatssozialismus und seiner Geheimpolizei; zur Sozialpolitik der Honecker-Jahre sowie über den Totalitarismus und zum Umgang mit beiden Diktaturen in Deutschland. Frank Hirschinger, geb. 1966, Dr. phil., Historiker Musikstudium in Stuttgart, seit 1991 Soloklarinettist im Orchester des Opernhauses Halle (heute Staatskapelle Halle), 2001 Promotion am Institut für Geschichte der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg mit einer Arbeit zum Thema „Zwangssterilisation und Vernichtung .lebensunwerten Lebens' in Halle und der Landesheilanstalt Altscherbitz

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1933-1945", Vorsitzender des Zeitgeschichten e.V. in Halle/Saale, Mitglied im Beirat der Gedenkstättenstiftung Sachsen-Anhalt. Veröffentlichungen zur NS-,.Euthanasie", Parteigeschichte der KPD und SED, DDR-Justiz, DDR-Antifaschismus. Jochen-Christoph Kaiser, geb. 1948, Dr. phil., Prof] für Kirchliche Zeitgeschichte am Fachbereich Theologie der Philipps-Universität Marburg. 1967-1974 Studium der Geschichte und Ev. Theologie an der Kirchlichen Hochschule Bethel, in Tübingen und Münster; Wissenschaftlicher Assistent und Hochschuldozent am Historischen Seminar der Universität Münster; seit 1994 in Marburg. Publikationen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur konfessionellen Frauengeschichte, zum ev. Vereinswesen und zum sozialen Protestantismus sowie zu einzelnen Themenfeldern der Kirchlichen Zeitgeschichte des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Uwe Kaminsky, geb. 1962, Dr. phil., Mitglied der DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne" an der Ruhr-Universität Bochum Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Essen, 1995-2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, 2000-2002 Projekt über Zwangsarbeit in der Evangelischen Kirche im Rheinland, 2002-2003 Editionsprojekt der Protokolle des Eugenischen Ausschusses der Diakonie an der Philipps-Universität Marburg, 2004-2006 Projekt über die „Innere Mission im Ausland" am Beispiel der Auslandsstationen der Diakonissenanstalt Kaiserswerth im 20. Jahrhundert bei der Fliedner Kulturstiftung, Düsseldorf Veröffentlichungen zur Geschichte von Eugenik und Euthanasie; zur Oral History mit Verfolgten des NS-Regimes; zur Geschichte der Zwangsarbeit; zur Diakoniegeschichte; zur Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Jan Philipp Reemtsma, geb. 1952, Prof Dr. phil., Studium der Germanistik und Philosophie in Hamburg. 1984 Gründung und seither Tätigkeit als Geschäftsführender Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung; seit 1983 Vorstand der Arno Schmidt Stiftung; seit 1996 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literarischen, historischen, politischen und philosophischen Themen. Hans-Walter Schmuhl, geb. 1957, Dr. phil., apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld. Studium der Geschichte in Bochum und Bielefeld; 1986-1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bielefelder Sonderforschungsbereich „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums: Deutschland im internationalen Vergleich"; 1997-1999 Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Bielefeld und Halle-Wittenberg; 1999 und 2003/2004 Gastwissenschaftler im Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus" der Max-Planck-Gesellschaft; seit 1999 selbständiger Historiker (Agentur ZeitSprung). Veröffentlichungen zu NS-„Euthanasie", zu den Biowissenschaften im Nationalsozialismus, zur deutschen Psychiatrie im 20. Jahrhundert, zur vergleichenden Genozidforschung,

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zum deutschen Bürgertum, zur Stadtgeschichts- und Urbanisierungsforschung und zur Diakonie im 19./20. Jahrhundert. Michael Schwartz, geb. 1963, Dr. phil. habil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (Abt. Berlin) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Veröffentlichungen zur Geschichte der Eugenik und „Euthanasie" zwischen 1890 und 1945, ländlichen Resistenz in der NS-Diktatur,Vertriebenen-Integration in der SBZ/DDR und in der Bundesrepublik Deutschland, DDR-Sozialpolitik, DDR-Frauenpolitik, zur Adelskirche in der Frühen Neuzeit sowie zu Wertewandel und Strafrechtsreformen im geteilten Deutschland 1965-1976. Paul Julian Weindling, geb. 1953, MA PhD, Wellcome Trust Research Professor for the History of Medicine an Oxford Brookes University Studium der Geschichte und Wissenschaftsgeschichte in Oxford und London; 19781998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Wellcome Unit for the History of Medicine, University of Oxford (1992-1998 Redakteur der „Social History of Medicine"); 1999-2004 Mitglied der Präsidentenkommission „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus"; Beiratsmitglied der Council for Assisting Academic Refugees (CARA). Veröffentlichungen zur Geschichte der Sozialdarwinismus, Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland 1860-1945; zu Entlausung und Fleckfieber 1890-1945; zum Nürnberger Arzteprozess und zur Medizin im Nationalsozialismus; über Opfer von Menschenversuchen 1939-45; zur Zwangsemigration von Medizinern und Krankenpflegern 1933-45 sowie über internationalen Gesundheitsorganisationen. Heinrich Zankl, geb. 1941, Dr. med. vet., Dr. rer. nat., Universitätsprofessor für Humanbiologie und Humangenetik an der Technischen Universität Kaiserslautern, em. 2006 Studium von Veterinärmedizin, Anthropologie und Humangenetik in München; 19671970 Wissenschaftlicher Assistent an der Tierärztlichen Fakultät in München; 1970-1974 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. 19741979 Akademischer Rat am Institut für Humangenetik der Universität des Saarlandes in Homburg. 1979-2006 Professor im Fachbereich Biologie der TU Kaiserslautern. Wissenschaftliche Veröffentlichungen in den Bereichen Fortpflanzungsbiologie, Tumorgenetik, Zytogenetik und Mutagenese. Einige populärwissenschaftliche Bücher und Artikel zu verschiedenen Themen der Humanbiologie und Wissenschaftsgeschichte.

Schriften d e s Deutschen HygieneMuseums Dresden Im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museums Dresden hg. von Gisela Staupe.

Bd. 4: Dingwelten. Das M u s e u m als Erkenntnisort. Hg. v. Anke te Heesen, Petra Lutz. 2005. 194 S. 8 s/w- und 43 färb. Abb. auf 30 Taf. Br. ISBN 978-3-41 2-16604-5

Bd. 1: Annette Lepenies: W i s s e n vermitteln im M u s e u m . 2003. 21 2 S. 23 färb. Abb. auf 16 Taf. Br. ISBN 978-3-41 2-1 8102-4 Bd. 2: D e r (im-)perfekte M e n s c h . Metamorphosen von Normalität u n d Abweichung. Hg. v. Petra Lutz, Thomas Macho, Gislea Staupe, Heike Zirden. 2003. 483 S. 38 färb. u. 67 s/wAbb. Br. ISBN 978-3-41 2-08403-5

Bd. 5: Die Z e h n G e b o t e . Ein widersprüchliches Erbe? Hg. von Hans Joas. Bearb. von Christian Holtorf. 2006. 188 S. Br. ISBN 978-3-412-36405-2 Bd. 6: Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. Hg. von Christian Holtorf u. Claus Pias. 2007. 295 S. mit 24 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-41 2-01 706-4

Bd. 3: Tiere. Eine andere Anthropologie. Hg. v. Hartmut Böhme, FranzTheo Gottwald, Christian Holtorf, Thomas Macho, Ludger Schwarte, Christoph Wulff. 2004. 329 S. 37 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-41 2-1 6003-6

Bd. 7: Tödliche Medizin im N a t i o n a l s o z i a l i s m u s . Von der Rassenhygiene z u m Massenmord. Hg. von Klaus-Dietmar Henke. 2008. 342 S. Br. ISBN 978-3-41 2-23206-1

U R S U L A P L A T Z I, D - 5 0 6 6 8 K Ö L N , T E L E F O N (0221) 9 1 3 9 0 0 , FAX 9 1 3 9 0 1 1

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