Systemische Kompetenzen entwickeln: Grundlagen, Lernprozesse und Didaktik [1 ed.] 9783666459115, 9783525459119


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Systemische Kompetenzen entwickeln: Grundlagen, Lernprozesse und Didaktik [1 ed.]
 9783666459115, 9783525459119

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Petra Bauer / Marc Weinhardt (Hg.)

Systemische Kompetenzen entwickeln Grundlagen, Lernprozesse und Didaktik

Petra Bauer/Marc Weinhardt (Hg.)

Systemische Kompetenzen entwickeln Grundlagen, Lernprozesse und Didaktik

Mit 14 Abbildungen und 8 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: MongPro/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45911-5

Inhalt

Petra Bauer und Marc Weinhardt

Zur Einführung: Kompetenzorientierung systemisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Bruce E. Wampold

Wie Forschung das Therapieren noch effektiver machen kann . . . . . . . . . 17 Günter Schiepek

Psychotherapie und Beratung in komplexen Systemen: Welche Kompetenzen brauchen wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Christiane Schiersmann

Kompetenzen zum Umgang mit komplexen Systemen auf der Basis des Heidelberger integrativen Prozessmodells für Beratung . . . . . . . . . . . 52 Cornelia Maier-Gutheil

Kompetenz aus erwachsenenbildnerischer Perspektive und ihre Bedeutung für Lernprozesse im Kontext der Weiterbildung . . . . . . . . . . . 68 Michael B. Buchholz

Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer ­Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Rebecca Hilzinger und Marlene Henrich

Implizite Wissensbildungsprozesse von systemischen Therapeutinnen und Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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Inhalt

Marc Weinhardt

Systemische Professionalisierung als Lern- und Bildungsprozess: Fachliche Entwicklungsaufgaben lösen, Professionalisierungskulturen gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Matthias Ochs

Die erkenntnistheoretischen Säulen und praxeologischen Grund­ orientierungen systemischen Arbeitens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Reinert Hanswille

Vor den Bergen der praktischen Interventionen liegt das Tal der konzeptionellen Ideen. Systemische Interventionen und Werkzeuge lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Haja (Johann Jakob) Molter unter Mitarbeit von Birgit Wolter Systemische Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Petra Bauer

Systemisch denken lernen – systemische Kompetenzentwicklung als Lernen am Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Anke Leuthold-Zürcher

Beratungslernen mit Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Astrid v. Sichart

Systemisch-dokumentarische Paartherapie. Neue Wege zum Verständnis von Paaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

Petra Bauer und Marc Weinhardt

Zur Einführung: Kompetenzorientierung systemisch

Wie kann systemische Beratung und Therapie gelehrt und erlernt werden? Was macht einen guten Berater, eine gute Therapeutin aus? Dies waren zentrale Fragen eines Panels, das im Rahmen der »International Systemic Research Conference« angeboten wurde – eine Konferenz, die 2017 in Heidelberg stattfand. Wir haben als Herausgebende dieses Panel organisiert und dabei festgestellt, dass das Thema auf enorme Resonanz stößt und daher ein Sammelband auf der Basis dieses Panels auch für eine breitere Leserschaft von Interesse sein kann. Schnell wurde in der Vorbereitung deutlich, dass die Beiträge des Panels allein nicht ausreichen, um zentrale Aspekte systemischen Lehren und Lernens aufzunehmen, daher haben wir eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft und systemischen Aus- und Weiterbildungspraxis um weitere Beiträge gebeten. Den Begriff der Kompetenz zum Bezugspunkt eines Sammelbandes zu machen, ist aus unserer Sicht eine Antwort auf mehrere Herausforderungen und Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung systemischer Beratung und Therapie. Ausgehend von einer »naturwüchsigen«, sehr stark von einzelnen Weiterbildungsleitern und -leiterinnen geprägten Vielfalt werden Institute in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend auf übergreifende Standards verpflichtet. Akkreditierungs- und Zertifizierungsprozesse zielen dabei vor allem auf formale Kriterien – so z. B. ausreichende Qualifizierung der Lehrpersonen, angemessene Räumlichkeiten, Transparenz des Lehrkonzepts oder die Durchführung von Evaluationsverfahren. Mit diesem Verständnis von Qualität wird unterstellt, dass angemessene strukturelle Voraussetzungen und eine adäquate Prozesssteuerung allein schon sicherstellen, dass auch die erwarteten Ergebnisse erzielt werden. Sprich: Wenn die Weiterbildung gut konzipiert und strukturiert ist sowie die Lehrenden ausreichend qualifiziert sind, werden aus den Teilnehmenden am Ende (fast) automatisch auch gute systemische Beraterinnen und Therapeuten.

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Kompetenzorientierung geht, wie insbesondere die intensiven Debatten um die PISA-Studien gezeigt haben, einen völlig anderen Weg. Hier wird der konkrete Outcome im Sinne einer als messbar gedachten Kompetenz zum Maßstab des Erfolgs einer Aus- und Weiterbildung gemacht. Auch wenn sich in den letzten Jahren die Wirksamkeitsdebatte und die Analysen zur spezifischen Wirksamkeit systemischer Therapie auch in der systemischen Diskussion im deutschsprachigen Raum nochmals intensiviert haben (z. B. von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007; Wampold, Imel u. Flückiger, 2018; Strauß u. Willutzki, 2018), ist eine vergleichbare Auseinandersetzung um Kompetenzorientierung und -modellierung im Kontext systemischer Aus- und Weiterbildung bisher (fast) kein Thema. Der Blick auf die Entwicklung und Professionalisierung des systemischen Feldes zeigt, dass das systemische Denken in seiner Konkretisierung als Beratungs- und Therapiehandeln erst vor Kurzem und bisher nur partiell Anschluss an die bildungswissenschaftlichen Debatten gefunden hat, die theoretisch und empirisch auf die Beschaffenheit und den Outcome von Lern- und Bildungsprozessen fokussieren. Es wäre unsystemisch, hier nicht die Frage zu stellen, auf welche Probleme diese verhaltene Reaktion eine Antwort darstellen kann. Zu vermuten ist, dass zunächst die allfälligen, aus dem allgemeinen Bildungs- und Weiterbildungsdiskurs zu entnehmenden Argumente auch im systemischen Feld eine große Rolle spielen: Die (durchaus berechtigte) Sorge bezüglich einer unterkomplexen, zu linear gedachten Konzeptualisierung von Professionalisierungsprozessen im Zuge der »Vermessung« von Kompetenz oder die Befürchtung, dass mit der Kompetenzorientierung vor allem eine verdeckte Ökonomisierung von Humankapitalerzeugung einhergeht, wären hier zu nennen. Ein anderer Argumentationsstrang, der zu einer kritischen Betrachtung und Ablehnung von Kompetenzorientierung führt, ergibt sich eher aus der Anwendung bestimmter systemischer Denkfiguren auf Professionalisierungsprozesse: Unterstellt man Beratungs- und Therapieverläufen und der zugehörigen Professionalität, diese kompetent zu begleiten, einen spezifischen Kontingenzüberschuss, so lässt sich daraus auch ableiten, dass letztlich gar keine allgemeingültigen Handlungs­ kompetenzen angebbar sind. So plausibel diese Argumente scheinen, so sehr sind damit aus unserer Sicht doch zwei Probleme verbunden: Ȥ Zum einen laufen diese Argumente Gefahr, einer Beliebigkeit dessen, was als »kompetent« angesehen wird, das Wort zu reden. Kompetent ist dann jeder/jede, der entsprechende Weiterbildungen durchlaufen und im Zweifelsfall mit dem dazugehörenden Zertifikat abgeschlossen hat. Die auf diese Weise gesteigerten Argumente überschreiten dann rasch die Schwelle zur

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Selbstimmunisierung, da dann jedes Prozessgeschehen und Fachkrafthandeln als jeweils einzigartig kompetent oder gegebenenfalls auch nicht kompetent erklärt werden kann. Ȥ Zum anderen droht der systemischen Therapie und Beratung  – trotz Anerkennung als eigenständiges Therapieverfahren –, nicht ausreichend abbilden zu können, worin die spezifische Kompetenz einer systemisch ausgebildeten Therapeutin oder Beraterin besteht. Für eine sinnvolle theoretische und empirische Vergewisserung von systemischer Kompetenzorientierung wird also ein Fundament aus einer vermittelnden Position heraus gelegt werden müssen, nach der systemische Professionalität und Handlungskompetenz darin besteht, trotz der Einzigartigkeit des individuellen Fallgeschehens rational begründbare und überprüfbare Konzepte für die Handhabung dieser Komplexität anzugeben. Dafür gibt es schon seit Längerem grundlegende Arbeiten, so z. B. die Überlegungen von Schiepek (1997) und Kriz (2000), die Vorschläge zu einer inhaltlichen Fassung einer »Systemkompetenz« vorgelegt und durch methodisch-didaktische Vorgehensweisen konkretisiert haben, wie eine solche Systemkompetenz vermittelt und erlernt werden kann. Diese Ansätze wurden unseres Erachtens wenig aufgegriffen oder weitergeführt. Stattdessen gibt es inzwischen eine stattliche Reihe an anschaulichen und sehr gut gestalteten Lehrbüchern, in denen Handwerkszeug und konkrete Methoden einer systemischen Gestaltung von beraterischen und therapeutischen Settings vermittelt werden, die aber weniger an Kompetenzvorstellungen orientiert sind, sondern an dem, was sich in den letzten Jahrzehnten als systemische Grundorientierungen und systemische Methoden etabliert hat. Vor diesem Hintergrund halten wir eine Auseinandersetzung mit Kompetenzorientierung in der systemischen Arbeit für dringend geboten. Dabei scheint es uns auch sinnvoll, zunächst die verwendeten Begrifflichkeiten zu klären: Unter Kompetenzorientierung verstehen wir im Kontext dieses Buches Handlungskompetenz, also die Befähigung, in komplexen beruflichen Situationen auf der Basis wissenschaftlich begründeten Wissens tätig werden zu können. Diese handlungsorientierte, an die Berufspädagogik angelehnte Lesart des Kompetenzbegriffs, die auf Performanz zielt, unterscheidet sich von Kompetenzauffassungen, die unter Kompetenz lediglich kognitive und emotionale Dispositionen verstehen (Zürcher, 2018, S. 32 ff.). Der Kompetenzbegriff ist dabei eng verwandt mit zwei weiteren Zugängen zu erfolgreichem Handeln: Während die Expertiseforschung Auskunft über die kognitive Beschaffenheit und das Zustandekommen der spezifischen Wissensbasis für die Erzielung von Hoch- und Höchstleistung in einem bestimmten Gebiet gibt, widmet sich die

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Petra Bauer und Marc Weinhardt

Professionsforschung schwerpunktmäßig den strukturellen Bedingungen beruflichen Handelns. In den letzten Jahren hat sich bezüglich der Einheit der Differenzen zwischen diesen Begriffen etabliert, sie gemeinsam unter dem Dach von Professionalisierung und professionellem Handeln zu fassen und dabei individuelle (Expertiseforschung), situative (Kompetenzforschung) und strukturelle Komponenten (Professionsforschung) zu integrieren (Henrich u. Weinhardt, 2018). Das Ziel dieses Bandes ist es daher zunächst, Konzepte vorzustellen, die beschreiben, wie systemische Handlungskompetenz überhaupt gefasst werden kann, welche Elemente dazugehören und wie Kompetenz­entwicklung aus lerntheoretischer Sicht beschrieben werden kann. Dadurch sollen einige Grundlagen kompetenzorientierten Lehrens und Lernens in der systemischen Fort- und Weiterbildung vermittelt werden. Dabei spielen für die Konzeptualisierung systemischer Kompetenz auch Modelle der Wirksamkeit systemischer Therapie und Beratung eine große Rolle. Spezifische und unspezifische Wirkmechanismen bilden gewissermaßen die Zielvorstellungen einer systemisch ausgerichteten Kompetenzentwicklung in Beratung und Therapie. Im zweiten Teil finden sich dann Konkretisierungen dieser Überlegungen im Blick auf didaktische und methodische Ansätze. Dass sich unser umfangreicher Band sinnvoll nur in zwei abgrenzbare Bereiche differenzieren lässt, ist gewissermaßen ein Abbild der Beschaffenheit der Diskursformation bezüglich Fragen des Lehrens und Lernens in der systemischen Weiterbildung. Zwar liegen einige Konzepte und beginnend auch empirische Befunde vor, diese sind aber noch kaum in ausdifferenzierte Teildiskurse geordnet. Daher nehmen auch wir hier eine eher grobe Unterteilung vor, die aber selbst auch letztlich nicht völlig trennscharf gedacht werden sollte. Der erste Teil des Bandes startet vor dem Hintergrund der eben an­ gesprochenen Bedeutung von Wirksamkeitsforschung für die Kompetenzmodellierung mit einem Artikel von Bruce Wampold, einem der – international betrachtet – wichtigsten Vertreter der allgemeinen Beratungs- und Psychotherapieforschung. Bruce Wampold hat sich insbesondere auf die sog. Common-­ Factors-Forschung (Wirkfaktorforschung) spezialisiert und bearbeitet die spannende Frage, was über alle unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren hinweg in Beratungs- und Therapieprozessen generell wirkt. In seinem Beitrag entfaltet er ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, dem empirisch erhobenen und mit wissenschaftlichen Methoden gesicherten Wissen um die spezifische Wirksamkeit mehr Raum in Aus- und Weiterbildung zu geben. Nur mit angemessenen Wirksamkeitsmodellen, so seine Leitidee, lassen sich Lernprozesse von (angehenden) Psychotherapeutinnen erfolgreich gestalten, aber auch er-

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kennen, warum manche Psychotherapeuten besser sind als andere. Die provozierende Nachricht ist, dass pure Erfahrung nicht automatisch zu besserer Psychotherapie und Beratung führt. Das kontextuelle Modell, das von Wampold und anderen in der Wirkungsforschung entwickelt wurde, versteht sich als verfahrensübergreifendes Metamodell, das eine gute Grundlage dafür bietet, die Bereiche genau zu benennen, an denen Therapeutinnen und Therapeuten kontinuierlich (weiter)arbeiten müssen, wenn sie sich in der alltäglichen Praxis tatsächlich verbessern wollen. Ein zentraler Vertreter einer sich dezidiert systemisch verstehenden Psychotherapieforschung, der sich seit langer Zeit nicht nur mit der Erforschung von therapeutischen Prozessen, sondern auch mit der Frage von therapeutischer Kompetenzbildung auseinandergesetzt hat, ist Günter Schiepek. In seinem Artikel fragt er nach den Kompetenzen, die Psychotherapie in einer von Komplexität und zunehmender Digitalisierung geprägten Welt des 21. Jahrhunderts benötigt. Therapeutische Kompetenzen – so seine zentrale Annahme – lassen sich nicht aus Therapieschulen heraus ableiten, sondern müssen auf die Gestaltung von komplexen Dynamiken in nichtlinearen Systemen ausgerichtet sein. Dazu stellt er sein bereits vor längerer Zeit entwickeltes Modell einer Systemkompetenz in einer erweiterten Form vor, die insbesondere auch die Fähigkeit einschließt, mithilfe von computerunterstützten Verfahren Therapieprozesse konsequent zu personalisieren. Der Beitrag von Christiane Schiersmann schließt an die von Günter Schiepek entfaltete Perspektive eng an. Im von ihr vorgestellten Heidelberger Prozessmodell spielt die synergetische Prozessauffassung, verbunden mit einem ausbuchstabierten Kompetenzbegriff, für die Gestaltung von Beratungsprozessen die zentrale Rolle. Ausgehend von synergetisch sich entfaltenden Beratungsprozessen fragt Schiersmann nach konkreten Kompetenzen zur Durchführung so konzeptualisierter Beratungen. Sie schlägt die hierzu erforderlichen Kompetenzen in ihrer Heuristik auf drei unterschiedlichen Ebenen vor, nämlich Kompetenzen zur Realisierung der generischen Prinzipien, Kompetenzen zur Unterstützung von Reflexionsprozessen sowie Kompetenzen zur Gestaltung des Beratungssystems. Als besonders herausfordernd benennt sie dabei die Notwendigkeit, die so konzeptualisierten komplexen Kompetenzen auch empirisch zugänglich zu machen. Der Frage, wie Beratungskompetenzen erworben werden können und welche Lehr-/Lernprozesse und didaktischen Arrangements aus Sicht der Erwachsenenbildung insbesondere im Hochschulkontext hierbei indiziert sind, steht im Fokus des Beitrags von Cornelia Maier-Gutheil. Zentral ist dabei die Annahme eines Kompetenzbegriffs, der zum einen die lernenden Subjekte besonders

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fokussiert und dabei davon ausgeht, dass ein Kompetenzaufbau nur in realen Handlungssituationen erfolgen kann. Aus der daraus resultierenden Spannung zwischen dem Abstellen auf Lernsituationen mit Ernstcharakter und der didaktischen Gestaltungsnotwendigkeit des Lernortes Hochschule zieht die Autorin den Schluss, dass für das Lernen die Vor- und Nachbereitung der Änderung von Deutungsmustern auf Praxis zentral sind. Diese Überlegungen differenziert sie für die Lehre an der Hochschule didaktisch aus und entwickelt hierzu eine Bandbreite an konkreten methodischen Herangehensweisen – wobei für sie immer zentral bleibt, dass trotz aller didaktischen Gestaltungsmöglichkeiten der eigenständige Umgang der Lernenden mit den für sie relevanten Fragestellungen möglich sein muss. In seinem bereits vor einigen Jahren veröffentlichten Zeitschriftenbeitrag, den wir hier noch einmal abdrucken, beschreibt Michael B. Buchholz auf sehr spannende und nach wie vor aktuelle Weise Entwicklungsdynamiken in der Ausbildung psychotherapeutischer Kompetenzen. Er stellt dazu zunächst die immense Bedeutung impliziten Wissens dar, das in entsprechenden Debatten aus seiner Sicht oft vorschnell als Intuition »verrätselt« wird. Dabei zeigt er auf, wie implizites Wissen im Rekurs auf verschiedene philosophische Konzepte als ein den Begriffen vorgängiges Wissen gefasst werden kann, das als solches gut zu beschreiben ist. Dieses implizite Wissen liegt dem eigentlichen praktischen Können zugrunde, auch und gerade in der Psychotherapie. Die Entwicklung psychotherapeutischer Kompetenzen lässt sich vor diesem Hintergrund keinesfalls als einfache Wissensanwendung fassen – ein irreführendes Verständnis, das nach wie vor vielen Lernkonzepten unterliegt. Stattdessen stellt der Autor in Anknüpfung an die Expertiseforschung dar, wie sich psychotherapeutische Kompetenz sukzessive als reflektierte, in konkreten Situationen fundierte Erfahrungsbildung ausprägt. Der zweite Teil des Bandes wendet sich dann konkreten einzelnen Aspekten des Prozesses zu, mit dem Therapeuten zu Therapeuten und Beraterinnen zu Beraterinnen werden. Im Nachvollziehen der Lebensgeschichten der bedeutenden Protagonisten systemischer Therapie und Beratung zeigt sich zwar, wie eng lebensgeschichtliche Erfahrungen und therapeutische Ideen und Konzepte zusammenhängen (Rohr, Hummelsheim u. Höcker, 2016). Dennoch hat sich die systemische Therapie und Beratung bisher wenig damit beschäftigt, wie Kompetenzentwicklungsprozesse von Therapeutinnen und Beratern verlaufen oder wie eine spezifische Identität als systemische Therapeutin/Beraterin ausgebildet wird. Es ist nach wie vor eine weitgehend ungeklärte Frage, wie jemand zu einer guten Fachkraft wird, welche Rolle die in der Aus- und Weiterbildung angestoßenen Entwicklungs- und Bildungsprozesse spielen und wie das Feld

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wirksam wird, in dem eine Person als Therapeut oder Beraterin tätig ist. Daher soll mit den Beiträgen exemplarisch vermittelt werden, in welcher Form Lernund Bildungsprozesse beschrieben werden können, die sich insbesondere im Rahmen der Aus- und Weiterbildung in der systemischen Therapie und Beratung entfalten. So wird auch erfahrbar, wie sich systemische Berater und Therapeutinnen im Laufe der Zeit zunehmend professionalisieren und wie sie bestenfalls zu Experten ihres Tuns werden. Als »andere Seite der Medaille« lassen sich damit auch Fragen nach einer systemischen Didaktik und Methodik stellen, die diese Lern- und Bildungsprozesse konkret anleiten und fördern. Dazu gehören sowohl Lerntaxonomien als zentralem Gestaltungsmerkmal einer kompetenzorientierten Didaktik als auch die Darstellung konkreter Methoden, die Lernprozesse anleiten. Der Beitrag von Rebecca Hilzinger und Marlene Henrich eröffnet diesen Fragenkomplex und entfaltet aus Sicht eines theorieintegrativ angelegten Professionalisierungsverständnisses und entlang von empirischem Material aus einer Think-Aloud-Interviewstudie zunächst die Mikro- und Makroprozesse des Kompetenzerwerbs. Dabei wird deutlich, dass zur Frage des Handlungskompetenzaufbaus zahlreiche und mitunter widersprüchliche Theorien kleiner und mittlerer Reichweite vorliegen, wobei vor allem die Konzeptualisierung impliziter Anteile von Wissensbildungsprozessen wenig Bedeutung erfahren hat, aber einen möglicherweise besonders bedeutsamen Faktor darstellt. Entlang der Heuristik der Kompetenzstufen nach Dreyfus und Dreyfus illustrieren die Autorinnen anschließend zentrale Momente von Wissensbildungsprozessen (angehender) systemischer Berater und Therapeutinnen, in denen implizite Anteile eine Rolle spielen. Sodann entwickeln die Autorinnen hieraus konkrete Desiderate für weitere Forschung bezüglich systemischer Wissensbildungsprozesse und fordern über eine so zunehmende empirische Vergewisserung auch die theoretische Schärfung von Wissensbildungsmodellen ein. Der Artikel von Marc Weinhardt konzeptualisiert die Professionalisierung von Fachkräften als komplexen Lern- und Bildungsprozess, der an verschiedenen Lernorten stattfindet, dabei weit über die Phase des Studiums und der Berufsausbildung hinausgeht und formale, nonformale und informelle Bildungsprozesse umfasst. Das vorgestellte Professionalisierungsmodell nimmt Bezug auf eine längere Beschäftigung mit Handlungskompetenzentwicklung unter der Lern- und Bildungsperspektive von Beratungsfachkräften in der Sozialen Arbeit. Die darin eingegangenen Befunde und Konzepte wurden zu einem Modell subjektorientierter Professionalisierung verdichtet, das derzeit in unterschiedlichen Kontexten pädagogischen Handelns zur Anwendung kommt (z. B. in der Lehrerbildung und Sozialpädagogik). Vertieft werden zwei Aspekte: Zum einen das Konzept der Identifikation und Lösung individueller fachlicher

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Entwicklungsaufgaben als Kernbestandteil des Professionalisierungsprozesses angehender Fachkräfte, zum anderen die Berücksichtigung und Gestaltung der hierzu gehörigen Professionalisierungskulturen, die an verschiedenen Lernorten und -situationen als Antworten auf kontingente (Aus-)Bildungsoptionen gelesen werden können. Eine aus einer Praxistheorie der Wissensgenese informierte Perspektive macht dann deutlich, dass individuelle Entwicklungsaufgaben im Kontext der sie mitbestimmenden Strukturen ganz unterschiedlich professionalisierungskulturell gerahmt werden. Aus einer essayistischen Perspektive nähert sich Matthias Ochs der Frage, was systemische Beraterinnen und Therapeuten können müssen. Dabei thematisiert er zunächst zentrale erkenntnistheoretische Grundannahmen systemischen Handelns im Kontext evidenzorientierten Vorgehens und entwickelt im Anschluss zentrale Prämissen kompetenten systemischen Handelns, die er methodenintegrativ in einer eigenen Systematik der praxeologischen Grundorientierung fasst, die an die Wirkfaktorforschung anschlussfähig ist. Wichtige Elemente sind hierbei die Ressourcenorientierung, die Fähigkeit, Muster und Kontexte dechiffrieren zu können sowie Ratsuchende als kundige Abnehmer solcher Dechiffrierung mit der hierzu gehörigen Arbeitsbeziehung zu adressieren sowie die Ausrichtung des Vorgehens an Neugierde und nicht vollständig planbaren kreativen Prozessen. Reinert Hanswille beschäftigt sich mit der für systemische Konzepte so wichtigen Frage, wie eine systemische Haltung als zentraler Bestandteil therapeutischer Kompetenz entwickelt werden kann. Angesichts dessen, dass systemische Therapie und Beratung von vielen angehenden Weiterbildungsteilnehmenden vor allem mit Techniken und Methoden assoziiert werden, ist aus Hanswilles Sicht eine konsequente Vermittlung von Haltungen der zentrale Fokus der Ausund Weiterbildung. In seinem Beitrag werden einige Ideen dazu vorgestellt, wie systemische Haltungen und die daran anschließende Hypothesenbildung angeleitet werden können. In dem von Haja Molter unter der Mitarbeit von Birgit Wolter entwickelten Beitrag werden zentrale Überlegungen zu einer systemischen Didaktik angestellt. Dies ist insofern von besonderem Interesse, da es bisher noch kaum systematische Arbeiten dazu gibt, wie systemisches Denken überhaupt angemessen vermittelt werden kann. Die Grundidee einer systemischen Didaktik, wie sie hier entwickelt wird, basiert auf der konsequenten Anwendung der Grundannahmen systemischen Denkens in der Lehre, Aus- und Weiterbildung. Prinzipien, die in der Therapie, Beratung, Supervision gelten, werden damit auch als Basis einer systemischen Lehre betrachtet. Zentral ist auch hier vor allem eine systemisch ausgerichtete Haltung des/der Lehrenden, die durch die Anwendung systemischer Methoden in der Vermittlung von Lehrinhalten ergänzt wird. Wie das

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konkret aussehen kann, dafür gibt der Beitrag viele anschauliche und praktisch nutzbare Beispiele. Petra Bauer beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle das Lernen am Fall für die systemische Kompetenzentwicklung spielt. Während in der erziehungswissenschaftlichen und sozialpädagogischen Diskussion Konzepte der Fallarbeit seit Langem verankert sind, gibt es dazu im systemischen Feld noch wenig systematische Überlegungen. In einer professionstheoretischen Perspektive wird zunächst die Bedeutung der Bezugnahme auf einen Fall dargelegt. Erst darauf aufbauend lässt sich begründen, warum gerade das »Lernen am Fall« als ein grundlegender Modus beraterischer und therapeutischer Kompetenzentwicklung verstanden werden muss und was für eine sich als systemisch verstehende Fallarbeit wichtig erscheint. Anke Leuthold-Zürcher thematisiert das Lernen in Simulationsumgebungen als Möglichkeit, beraterische und therapeutische Kompetenzen spielerisch zu trainieren. Die erst in den letzten Jahren zunehmend eingesetzte und entwickelte Trainingsform für Gesprächsführung wird hier am Beispiel eines Seminarkonzepts zu systemischer Beratung ausführlich vorgestellt. Im Mittelpunkt des systemischen Beratungstrainings steht die Simulation eines Erstgesprächs mit einem Elternteil zu Schulproblemen seines Kindes. Die Rolle des Elternteils wird von speziell ausgebildeten Schauspielklientinnen auf der Grundlage von standardisierten Fallvignetten gespielt. Der Beitrag erläutert, wie ein solches Simulationsgespräch Schritt für Schritt vorbereitet werden kann: wie Fallvignetten aufgebaut und vermittelt, wie die Laienschauspieler trainiert und wie die Gespräche konkret durchgeführt werden. Auch wenn die Entwicklung einer Simulationsumgebung und die Durchführung entsprechender Trainingsformen aufwendig sind, wird das große Potenzial dieser Lernform für Hochschule, Universität und Weiterbildung veranschaulicht. Auf der Grundlage einer von ihr durchgeführten Studie zur Resilienz bei Paaren zeigt Astrid v. Sichart, welchen Beitrag die Auseinandersetzung mit qualitativ-rekonstruktiven Verfahren bei der Entwicklung systemischer Kompetenzen spielen kann. Wichtig ist für sie insbesondere die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen von Paaren. Gerade der Zugang zum impliziten Wissen ermöglicht ein tiefer gehendes Verständnis dessen, was Paare in ihrem alltäglichen Handeln leitet und was – oft über viele Jahre eingespielt – zu massiven Problemen in der Paarbeziehung führen kann. Eine an systemischen Fragetechniken ausgerichtete Gesprächsführung – so ihre These – verhindert manchmal geradezu den Zugang zu dieser Ebene, daher formuliert sie ein starkes Plädoyer für eine andere, offenere Form des beraterischen Gesprächs. Gleichzeitig zeigt sie an Beispielen aus ihrer Praxis, wie im Rahmen von Forschungen entwickelte

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Interpretationsverfahren – hier die »Dokumentarische Methode« – dazu genutzt werden können, in der Beratung, z. B. durch die gemeinsame Interpretation von Interviewprotokollen, veränderungswirksame Impulse zu entwickeln. Dieser Sammelband richtet sich in besonderer Weise an Personen, die in der systemischen Fort- und Weiterbildung tätig sind, aber auch an interessierte therapeutisch und beraterisch tätige Praktiker und Studierende. Wir hoffen, dass es mit der Zusammenstellung und dem Zuschnitt der Artikel gelungen ist, einige neue Anregungen zu präsentieren und manche vertrauten Erkenntnisse in einer didaktischen Perspektive neu gerahmt zu sehen. Angesichts der zunehmenden Verwissenschaftlichung von Beratung und Therapie, abzulesen u. a. an der Akademisierung des Fort- und Weiterbildungsfeldes sowie der gelungenen sozialrechtlichen Anerkennung systemischer Therapie, wäre es für die weitere Professionalisierung des Feldes sicherlich wünschenswert, wenn sich die hier entfalteten Diskurse zukünftig ausweiten und systematisieren. Wir danken allen beteiligten Autorinnen und Autoren – sie haben sich in besonderer Weise dafür engagiert, gleichermaßen lesbare wie gut fundierte Texte zu formulieren. Unser Dank gilt auch Tabea Traxler, die als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Tübingen die Korrekturarbeit an diesem Band kompetent und zuverlässig unterstützt hat sowie den Verantwortlichen des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, Sandra Englisch, Imke Heuer und ­Günter ­Presting, die uns geduldig und ermutigend bei der Sammlung der Beiträge begleitet und betreut haben.

Literatur Henrich, M., Weinhardt, M. (2018). Wissensbildung in der Systemischen Beratung und Therapie. Kontext, 49 (2), 107–123. Kriz, W. C. (2000). Lernziel: Systemkompetenz. Planspiele als Trainingsmethode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rohr, D., Hummelsheim, A., Höcker, M. (Hrsg.) (2016). Beratung lehren. Erfahrungen, Geschichten, Reflexionen aus der Praxis von 30 Lehrenden. Basel u. Weinheim: Beltz. Schiepek, G. (1997). Ausbildungsziel: Systemkompetenz. In E. J. Brunner, L. Reiter, S. ReiterTheil (Hrsg.), Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive (S. 181–215). Berlin u. New York: Springer. Strauß, B., Willutzki, U. (2018). Was wirkt in der Psychotherapie? Bernhard Strauß und Ulrike Willutzki im Gespräch mit Uwe Britten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sydow, K. von, Beher, S., Retzlaff, R., Schweitzer, J. (2007). Die Wirksamkeit der Systemischen Therapie/Familientherapie. Göttingen: Hogrefe. Wampold, B. E., Imel, Z. E., Flückiger C. (2018). Die Psychotherapie-Debatte. Was Psychotherapie wirksam macht. Göttingen: Hogrefe. Zürcher, A. (2018). Beratungslernen in einer geschützten Lernumgebung mit Simulationsklienten: Entwicklung eines standardisierten Beobachtungsinstruments zur Einschätzung systemisch-orientierten Beratungshandelns in der psychosozialen Beratung. Universität Tübingen: Dissertation.

Bruce E. Wampold

Wie Forschung das Therapieren noch effektiver machen kann1

Therapeutinnen und Therapeuten arbeiten in einem außergewöhnlichen Umfeld. Wir empfangen unsere Klienten in einem geschützten Raum, und unsere Gespräche sind vertraulich. In der täglichen Praxis beobachtet niemand, was wir tun, und keiner bewertet, wie effektiv wir arbeiten. Wir glauben, unsere Sache gut zu machen. Wir besuchen diverse Workshops und Seminare, um uns über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Wir wollen das Beste für die Menschen, die wir behandeln, und wir sind überzeugt, unermüdlich in ihrem besten Interesse zu wirken. Dennoch gibt es auch Beunruhigendes zu beobachten. Unter anderem, dass die meisten Therapeutinnen so von sich eingenommen sind, dass sie es nicht erkennen, wenn der Zustand ihrer Klientinnen sich verschlechtert, und auch im Durchschnitt durch Erfahrung nicht unbedingt besser wird (Goldberg et al., 2016; Tracey, Wampold, Lichtenberg u. Goodyear, 2014; Walfish, McAlister, O’Donnell u. Lambert, 2012). Zur Lösung dieser Probleme hat sich die Psychotherapie mit der Vorstellung angefreundet, den Fortschritt schon im Verlauf der Therapie zu messen (sogenanntes Routine Outcome Monitoring, ROM). Es scheint, als würden die durch ROM gewonnenen und den Therapeutinnen ebenso wie den Klienten zur Verfügung gestellten Informationen die Ergebnisse verbessern – und zwar vor allem mittels einer verstärkten Prävention erneuter Verschlechterungen (Lambert u. Shimokawa, 2011; Shimokawa, Lambert u. Smart, 2010). Gleichwohl scheint ein solches Feedback in der täglichen Praxis auch ohne weitere 1 Anmerkung der Herausgeber: Dieser Text ist die deutsche Ubersetzung des Originalartikels: Wampold, B. E. (2017). How to use research to become more effective therapists. In T. ­Tilden, B. E. Wampold (Eds.), Routine Outcome Monitoring in couple and family therapy. The Empirically Informed Therapist (pp. 245–260). Berlin/New York: Springer International. Übersetzung und Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Übersetzung: ­Joseph A. Smith.

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Bruce E. Wampold

Hilfestellungen zu Verbesserungen bei den Therapeuten zu führen. Goldberg et al. (2016) stellten bei einer Stichprobe von 170 von einer Agentur vermittelten Therapeutinnen und Therapeuten (ihre durchschnittliche Verweildauer bei der Agentur betrug fünf Jahre) bei ihren 6.591 Patientinnen und Patienten keine Verbesserungen bei der therapeutischen Leistung fest – ja, mit der Zeit (und einer steigenden Anzahl von behandelten Fällen) ließen die Ergebnisse dieser Therapeuten sogar nach, wenn auch nur in geringem Maße. Einige von ihnen verbesserten sich jedoch auch, und es gibt Therapieagenturen, die ihre Therapeutinnen und Therapeuten zu Verbesserungen ermutigen und entsprechend unterstützen. Ein verwandtes Problem sind Varianzen bei den Ergebnissen von Therapeuten innerhalb einer therapeutischen Ausrichtung (Baldwin u. Imel, 2013). Das heißt, einige Therapeuten, die eine bestimmte Behandlungsmethode anwenden, erreichen regelmäßig bessere Ergebnisse als andere mit derselben Behandlungsmethode. Dies scheint auf klinische Versuche ebenso zuzutreffen wie auf die Praxis und hat nichts damit zu tun, in welchem Maße sich die Behandelnden an das Behandlungsmanual halten (Wampold u. Imel, 2015). Wenn Therapeutinnen sich verbessern sollen, wird ein Modell gebraucht, das erklärt, wie Psychotherapie funktioniert, denn nur mithilfe eines solchen Modells lässt sich die Frage nach den – auch durch Forschungsergebnisse nachweisbaren – Schlüsselkomponenten einer effektiven Praxis beantworten. In diesem Beitrag stelle ich ein evidenzbasiertes Modell der Psychotherapie vor, das berücksichtigt, was wir darüber wissen, (a) wie Psychotherapie funktioniert und (b) wie effektive Therapeuten arbeiten. Bei diesem Modell, kontextuelles Modell genannt, handelt es sich um ein Meta-Modell, denn es stellt keine Alternative zu spezifischen Behandlungsmodellen wie etwa der kognitiven Verhaltenstherapie oder der emotionsbezogenen Therapie dar, sondern ist vielmehr ein allgemeines Modell, das erklärt, wie jegliche Psychotherapien positive Ergebnisse generieren. Entwickelt wurde es auf der Basis sozialwissenschaftlicher Theorie, Forschungsdaten randomisierter klinischer Versuche aus der Psychotherapie sowie der psychotherapeutischen Verlaufsforschung (Wampold u. Imel, 2015). Das Modell zeigt ein Set spezifischer Fähigkeiten, die es anzuwenden gilt, um die Ergebnisse zu verbessern.

Das kontextuelle Modell Das kontextuelle Modell (Wampold u. Budge, 2012; Wampold u. Imel, 2015) ist ein Meta-Modell und zeigt, wie Psychotherapie grundsätzlich funktioniert. Bei der Psychotherapie handelt es sich um einen komplexen Prozess, der sich erst

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über einen gewissen Zeitraum entfaltet. Was Psychotherapie tatsächlich wirken lässt, ist deshalb schwer zu fassen. Dennoch gibt es theoretische sowie ganz konkrete Hinweise aus der Praxis dafür, dass Psychotherapie ihre Wirkungen auf verschiedenen Pfaden entfaltet. Das kontextuelle Modell beschreibt nicht, wie eine bestimmte Methode wirkt, sondern stellt vielmehr modellhaft dar, nach welchem Muster jegliche Psychotherapie funktioniert. Dem Zweck dieses Bandes2 dient es deshalb recht gut, benennt es doch genau die Fähigkeiten, die Therapeutinnen und Therapeuten beherrschen müssen, um ihre Effektivität zu steigern. Das Modell ist sicherlich nicht das einzige, das sich dafür verwenden ließe (z. B. Frank u. Frank, 1991; Orlinsky u. Howard, 1986). Das kontextuelle Modell wird in Abbildung 1 dargestellt. Das Modell beschreibt drei Pfade, auf denen die Kraft der Psychotherapie zum Fließen kommt. Einige Behandlungsformen betonen den einen Pfad stärker als die anderen, doch muss jede Psychotherapie, um optimal wirksam zu sein, alle drei Pfade nutzen. In diesem Abschnitt werden verschiedene Indikatoren zur Qualität einer Therapie im Hinblick auf die einzelnen Pfade erörtert. Im folgenden Abschnitt geht es vor allem um die therapeutischen Fertigkeiten, die nötig sind, um diese Pfade effektiv nutzen zu können. Ehe dies geschehen kann, muss die Therapeutin jedoch eine therapeutische Bindung herstellen.

Abbildung 1: Das kontextuelle Modell

Die therapeutische Bindung Wenn Patienten zur Therapie kommen, stehen sie unter einem Leidensdruck: Sie haben Schwierigkeiten im Leben und sehen keine Lösungen mehr für ihre Probleme. Um es mit Jerome Frank (Frank u. Frank, 1991) zu sagen: Sie sind demoralisiert. Zudem bringen sie eine bestimmte Persönlichkeit mit, einen eth2 Anmerkung der Herausgeber: Damit ist hier und im Folgenden der Sammelband gemeint, in dem der englische Originaltext erschien.

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nischen Hintergrund mit entsprechender Identität, ein soziales Netzwerk (oder einen Mangel daran), wirtschaftliche Ressourcen (oder einen Mangel daran), einen beruflichen Werdegang mit konkreter Arbeitssituation, eine persönliche Geschichte und aktuelle Lebensereignisse (z. B. einen erst kürzlich zurückliegenden Todesfall). Auch Therapeutinnen bringen zum ersten Treffen eine Persönlichkeit, einen ethnischen Hintergrund mit entsprechender Identität, eine Geschichte und aktuelle Lebensereignisse mit. Es handelt sich also um ein Zusammentreffen von Fremden, eingebettet in einen professionellen Kontext. Die Patientinnen und Patienten suchen unmittelbare Antworten auf bestimmte Fragen: Kann diese Therapeutin mich und meine Probleme verstehen? Kann ich ihr vertrauen? Besitzt sie die Fähigkeit und die nötige Kompetenz, um mir helfen zu können? Bordin (1979) entwickelte das therapeutische Bündnis als pantheoretisches Konzept und hielt dabei fest, dass die therapeutische Bindung vor Beginn der therapeutischen Arbeit nötig sei: »Eine grundlegende Ebene des Vertrauens kennzeichnet sicherlich alle Arten von therapeutischen Beziehungen, doch wenn die Aufmerksamkeit sich auf die geschützteren Nischen der inneren Erfahrung richtet, werden tiefere Vertrauensbindungen erforderlich und diese auch entwickelt« (S. 254). Die Herausbildung der Bindung ist eine Mischung aus Top-down- und Bottom-­up-Prozessen. Zum Top-down-Prozess gehört die Überzeugung, dass die Therapie wirksam sein wird – nach allem, was die zu therapierende Person über die Therapie weiß, aufgrund vergangener Erfahrungen sowie Erzählungen von Freunden und Angehörigen usw. Ja, manche Patientinnen scheinen bereits in der Zeit zwischen der Terminvereinbarung bis zum ersten Treffen signifikant davon zu profitieren (Frank u. Frank, 1991). Allein die Erwartung, dass ihre Teilnahme an der bevorstehenden Psychotherapie hilfreich sein wird, »remoralisiert« sie. Wurde der Therapeut oder die Therapeutin gar von einer befreundeten Person empfohlen, die von der Therapie profitiert hat, beeinflussen sie diese Erwartungen weiter positiv. Bottom-up-Prozesse umfassen die menschliche Neigung, die Vertrauenswürdigkeit fremder Personen sehr rasch einzuschätzen (Willis u. Todorov, 2006). Natürlich werden solche Urteile auch aus dem Kontext heraus getroffen, z. B. aufgrund der Herzlichkeit und Professionalität des Personals, der ansprechenden Gestaltung und Bequemlichkeit des Wartezimmers und des Therapieraums selbst, einschließlich der an den Wänden hängenden Bilder und Diplome usw. Es ist klar, dass die anfängliche Interaktion und das Engagement der zu therapierenden Person schon zu Anfang der Therapie für deren Erfolg wesentlich ist, wenn auch aus keinem anderen Grund als dem, dass die meisten Patienten, die vorzeitig aus der Therapie aussteigen, dies nach der ersten Sitzung tun, die zweitmeisten nach der zweiten Sitzung usw. (Connell, Grant u. Mullin, 2006; Simon u. Ludman, 2010).

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Die reale Beziehung Patienten und Therapeutinnen haben in der Therapie verschiedene Rollen – die einen haben Probleme, Beschwerden oder Störungen, die sie lösen wollen, die anderen sind Profis, die ihnen dafür aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung Hilfe anbieten können. Trotz dieser unterschiedlichen Rollen umfasst die Psychotherapie eine tiefe und vertrauliche Beziehung zwischen zwei Menschen. Diese Beziehung kann aus psychodynamischer Sicht als transferenzfreie, reale Beziehung auf der Basis realistischer Wahrnehmungen bezeichnet werden (Gelso, 2009), wobei das Reale von Gelso und Carter (1994) als »Fähigkeit und Bereitschaft« definiert wird, »in der Beziehung das zu sein, was man wirklich ist – also authentisch, offen und ehrlich zu sein« (S. 297) und realistische Wahrnehmungen als »solche Wahrnehmungen« gelten, »die nicht von Verzerrungen durch Transferenz oder anderen Verteidigungsmechanismen betroffen sind … [Therapeut und Patient] sehen einander auf zutreffende, realistische Weise« (S. 297). In der Praxis bedarf dies herzlicher, fürsorglicher und empathischer Therapeutinnen und Therapeuten sowie der Übereinkunft, dass die Beziehung fortbestehen wird, und zwar unabhängig davon, was in den Sitzungen besprochen wird.3 Die reale Beziehung ist wesentlich für humanistische Ansätze und auch für dynamische Therapien wichtig. Weniger betont, wenn nicht gar ignoriert wird sie von verhaltenstherapeutischen und kognitiven Therapieansätzen. Dennoch lässt sich folgerichtig argumentieren, dass sie für den Erfolg jeglicher Art von Psychotherapie unabdingbar ist. Menschen sind soziale Wesen, für die Bindungen, wie von vielen herausragenden Theoretikern (Baumeister, 2005; Bowlby, 1980; Cacioppo u. Cacioppo, 2012; Lieberman, 2013; Wilson, 2012) dargelegt, überlebenswichtig sind. Ja, es gibt deutliche Hinweise darauf, dass gefühlte Einsamkeit ein größeres Sterblichkeitsrisiko beinhalten kann als Rauchen, Fettleibigkeit, Umweltgifte und mangelnde Bewegung – und zwar bei der Allgemeinbevölkerung ebenso wie bei Personen mit vorbestehendem HerzKreislauf-Risiko (Holt-Lunstad, Smith u. Layton, 2010; Holt-Lunstad, Smith, Baker, Harris u. Stephenson, 2015; Luo, Hawkley, Waite u. Cacioppo, 2012). Die Hand eines geliebten Menschen zu halten oder diesen Menschen auch nur im Zimmer zu wissen, erhöht die Schmerztoleranz und initiiert alle dabei zu erwartenden, begleitenden neuralen Prozesse (Benedetti, 2011). Das legt nahe, dass Individuen in qualitativ hochwertigen Beziehungen von größeren regula3 Die Kontinuität der Therapie hat jedoch Grenzen, z. B. wenn Gefahren für die eigene Person oder für andere drohen.

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torischen Effekten auf das von negativen Emotionen betroffene Nervensystem profitieren, z. B. auf die affektiven Komponenten des Schmerzes (S. 149). Die heilende Kraft einer empathischen Beziehung sollte nicht unterschätzt werden. Es gibt starke Hinweise darauf, dass eine empathische, fürsorgliche und verständnisvolle Beziehung der Heilung förderlich ist und die Effektivität von Behandlungen ebenso wie die psychische und physische Gesundheit steigern kann. Die Auswirkung der Empathie auf die medizinische Heilung ist ausführlich diskutiert worden (z. B. Decety u. Fotopoulou, 2015). Forschungen über die reale Beziehung legen nahe, dass sie für den Erfolg der Psychotherapie prädiktive Bedeutung besitzt (Gelso, 2014). Einige Patienten profitieren von der realen Beziehung mehr als andere. Personen mit Bindungsproblemen, unsicheren Bindungsstilen, schwacher sozialer Unterstützung, dürftigen sozialen Netzwerken, chaotischen zwischenmenschlichen Beziehungen und Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, denen es gelingt, eine relativ stabile Beziehung zu ihrer Therapeutin zu entwickeln, profitieren von dieser Beziehung mehr als Patienten, die von vornherein relativ viel zwischenmenschliche Unterstützung bekamen. Patienten mit schwächer ausgeprägtem Bindungsvermögen brauchen länger, um eine sichere therapeutische Beziehung aufzubauen; der Wert der realen Beziehung wächst nur langsam und der Nutzen dieses Aspekts der Therapie macht sich bei ihnen womöglich eher graduell bemerkbar (Budge u. Wampold, 2015).

Erwartungen schaffen: Erklären und behandeln Patientinnen und Patienten kommen oftmals mit einer fehlangepassten Vorstellung von ihrem Leid zur Therapie. Diese irrigen Vorstellungen, manchmal unter dem Begriff »Volks«-Psychologie zusammengefasst (Boyer u. Barrett, 2005; Thomas, 2001), sind kulturell geprägt und häufig von Angehörigen, Freunden und anderen einflussreichen Bezugspersonen oder gar von der Gesellschaft als Ganzem (z. B. von der Werbung für psychotrope Medikamente) übernommen. Wir nennen sie nicht deshalb »fehlangepasst«, weil sie unwissenschaftlich sind (obgleich dies auf viele sicher zutrifft), sondern weil sie die Patienten nicht dazu motivieren, für die wirklich problematischen Faktoren Lösungen zu finden (Budge u. Wampold, 2015; Wampold, Imel, Bhati u. Johnson Jennings, 2006). Ein wichtiger Aspekt heilender Maßnahmen, darunter auch jener der westlichen Medizin, besteht darin, den Patientinnen für ihre Beschwerden Erklärungen an die Hand zu geben. Ja, Patientinnen, die ärztlichen Rat suchen, wären ziemlich desorientiert, wenn sie keine Erklärung bekämen. (Kommt mein Schmerz im

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Darm von Verdauungsproblemen, einem Geschwür oder gar einem Krebs?) Die Erklärung gibt den Patientinnen Hoffnung, dass es Behandlungsmaßnahmen gibt, die zu einer Besserung führen werden. Auf diese Weise ersetzen Therapeuten maladaptive Vorstellungen durch adaptive Erklärungen. Allerdings bewerten wir damit keineswegs die adaptiven Erklärungen als wissenschaftlicher. Adaptiv werden sie vielmehr vor allem dadurch, dass sie bessernde Maßnahmen zulassen (siehe den nächsten Absatz). Therapeutinnen aus der kognitiven Verhaltenstherapie, der interpersonalen, emotionsbezogenen, dynamischen oder EMDR-Therapie bieten ihren jeweiligen Patienten sehr unterschiedliche Erklärungen für ihre Probleme und Behandlungspläne an. Entscheidend jedoch ist, dass die Betroffenen diese Erklärungen annehmen und glauben, dass der Therapieprozess tatsächlich zu einer Reduktion ihrer Beschwerden führen wird. Das heißt, die Patienten gewinnen die Überzeugung, dass die Teilnahme an der therapeutischen Arbeit und ihr erfolgreicher Abschluss für die Bewältigung ihrer Probleme hilfreich sind, was die Erwartung entstehen lässt, dass sie die »Kontrolle« über ihre Probleme gewinnen können. All diese Erwartungen und Überzeugungen sind wesentlich für alle Theorien darüber, wie Menschen sich verändern und verhalten, darunter auch Theorien zu den Themen Beherrschung (Frank u. Frank, 1991; Liberman, 1978), Selbstwirksamkeit (Bandura, 1999) und Reaktionserwartungen (Kirsch, 1985, 1999). Durch wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso wie aus unserer eigenen Erfahrung wissen wir, dass sich Erwartungen auf unser Erleben erheblich auswirken können. Besonders überzeugende Hinweise auf die Macht von Erwartungen finden sich z. B. in der Literatur zum Thema Placebos. Obgleich es verschiedene Theorien darüber gibt, wie Placebos wirken, sind Erwartungen für das Verständnis dafür, warum sie so mächtig sind, von zentraler Bedeutung (Benedetti, 2009/2014; Kirsch, 1985; Price, Finniss u. Benedetti, 2008). Die Placeboforschung zu referieren, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; einzelne Hinweise sollen genügen, um die Argumentation zu verdeutlichen: Die Wirkung von Placebos auf Schmerz, darunter auch chronischen Schmerz, medizinisch induzierten, akuten Schmerz (z. B. nach chirurgischen und zahnärztlichen Eingriffen) sowie experimentell induzierten Schmerz (z. B. durch Kälte oder Druck) ist ausführlich untersucht worden (Benedetti, 2009/2014 sowie Price et al., 2008, geben eine umfassende Übersicht). Dass die Einnahme von Schmerzmittelplacebos mit der Erwartung, dass sie den Schmerz reduzieren werden, genau zu dieser Wirkung führt, gilt als weithin akzeptierte Beobachtung. Auch dass die Einnahme von Placebos zur Ausschüttung endogener Opioide im Gehirn führt, ist allgemein anerkannt. Das bedeutet, dass der Placeboeffekt nicht bloß eine mentale Reaktion ist, sondern von einem physiologischen Pro-

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zess begleitet wird. Mehr noch, in einem »Open-hidden paradigm«, bei dem ein postoperativer Patient heimlich (z. B. durch eine intravenöse Infusion von einem außerhalb des Gesichtsfelds des Patienten untergebrachtem Gerät) eine bestimmte Dosis Morphium verabreicht bekommt, ist weniger effektiv (die betroffene Person beschrieb größere Schmerzen und erbat mehr zusätzliche Schmerzmittelgaben) als bei der offenen, gegebenenfalls noch durch einen ärztlichen Hinweis verstärkten Verabreichung (offene Medikamentengabe). Bekamen zahnärztliche Patienten nach einer Backenzahnextraktion in offener Anordnung ein Placebo, entsprach dies von der Wirkung her der versteckten Gabe von 6–8 mg des echten Wirkstoffs. Aus diesen Studien – ebenso wie aus Hunderten anderen Studien – wird klar, dass die Erwartung der Patientinnen von Schmerzerleichterung tatsächlich zu einer solchen Erleichterung führen und diese Erwartungen durch das geprägt werden, was man ihnen sagt, also durch eine verbale Interaktion mit den Therapeutinnen. Nachweisbare Placeboeffekte sind nicht auf die Behandlung von Schmerzen beschränkt. Parkinson-Patienten profitieren davon sowohl hinsichtlich ihrer motorischen Symptome als auch hinsichtlich der Dopaminwerte im Gehirn (Benedetti, 2009/2014). Herz- und Diabetespatienten weisen geringere Sterblichkeitsraten auf, wenn sie sich an die Einnahmevorschriften bewährter Medikamente halten (also die Arzneimittel einnehmen, wie angewiesen). Ganz Ähnliches gilt für Patientinnen, die sich in Versuchen an die gegebenen Vorschriften für die Einnahme von Placebos halten: Sie erfahren ebenfalls geringere Sterblichkeitsraten als andere, die dies nicht tun (Simpson et al., 2006). Sich an die Maßgaben zu halten, ist gemeinhin ein Zeichen dafür, dass jemand glaubt, dass die Behandlung wirksam sein wird, und in diesem Fall kann das Befolgen von Vorgaben zur Einnahme von Placebos über Leben und Tod entscheiden. In einer weiteren interessanten Studie wurde weiblichen Putzkräften in einem Hotel gesagt, ihre Arbeit sei eine gute Körperübung. Verglichen mit Hotel­ angestellten, die diese Information nicht bekamen, berichteten sie später, fitter zu sein, und hatten auch tatsächlich günstigere Gesundheitsindikatoren (geringeres Körpergewicht, niedrigeren Blutdruck und weniger Körperfett), obwohl sie nicht mehr trainierten als andere (Crum u. Langer, 2007). Über 90 % des Effekts von Antidepressiva geht auch auf den Placebo-Effekt zurück (Kirsch, 2010). Psychotherapiepatienten, die den Nutzen ihrer Therapie eher ihren eigenen Bemühungen als den eingenommenen Medikamenten (in Wirklichkeit ein Placebo) zuschrieben, hatten mit signifikant geringerer Wahrscheinlichkeit einen Rückfall (Liberman, 1978; Powers, Smits, Whitley, Bystritsky u. Telch, 2008). Einfach bloß Erwartungen zu schaffen, indem man den Betroffenen eine Erklärung für ihr Leid anbietet und die Behandlung beschreibt, reicht jedoch

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nicht aus. Die Patientinnen und Patienten müssen auch die therapeutischen Rituale ausführen. Die Erklärung, dass eine Pille den Schmerz lindert, muss davon begleitet sein, die Pille einzunehmen. Erklärung und Ritual wirken nämlich nur zusammen, und die Patientinnen müssen glauben, dass der therapeutische Fortschritt auch ein Resultat ihrer eigenen Bemühungen ist, was mit einem Gefühl der Kontrolle über den eigenen Zustand verbunden ist. Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen vor allem im sozialen Kontext heilen (Benedetti, 2011; Wampold u. Imel, 2015). Die Bedeutung von Erwartungen in der Psychotherapie ist vielfach nachgewiesen (Constantino, Arnkoff, Glass, Ametrano u. Smith, 2011). Wichtig für die Akzeptanz der Erklärung und die Schaffung von Erwartungen ist eine Übereinstimmung, was die Aufgaben und Ziele der Therapie betrifft – ein zentraler Aspekt des therapeutischen Bündnisses. Dieses Bündnis wird als ein pantheoretisches Konstrukt definiert, das durch zielgerichtete, gemeinschaftliche Arbeit entsteht und drei Komponenten hat: die Bindung sowie Übereinstimmung bei den Zielen und Aufgaben (Bodrin, 1979; Hatcher u. Barends, 2006; Horvath, 2006; Horvath u. Luborsky, 1993). Das Bündnis ist die meisterforschte Komponente im psychotherapeutischen Prozess; fast zweihundert Studien haben die Korrelation zwischen Bündnis und Therapieergebnis untersucht und auf meta-analytische Weise eine starke Korrelation zwischen der früh entwickelten Bindung und dem letztlichen Ergebnis ermittelt – und zwar für alle Formen von Psychotherapie (Flückiger, Del Re, Wampold, Symonds u. Horvath, 2012; Horvath, Del Re, Flückinger u. Symonds, 2011).

Gesundheitsfördernde Maßnahmen umsetzen Die Macht therapeutischer Rituale ist nicht auf die geschaffenen Erwartungen beschränkt. Der dritte Pfad im kontextuellen Modell weist auf einen indirekten Effekt der therapeutischen Beziehung auf das Ergebnis hin. Eine auf Kooperation ausgerichtete Arbeitsbeziehung, die Einverständnis über die Ziele der Therapie und der nötigen Aufgaben zur Erreichung dieser Ziele einschließt, führt dazu, dass die Patienten sich umso mehr für ihre therapeutischen Aufgaben engagieren. Abgesehen von der Beziehungsstiftung können die Aufgaben sehr wohl therapeutischen Nutzen haben. Ein wichtiger Punkt besteht darin, sich bewusst zu machen, dass unterschiedliche Behandlungsformen auch sehr unterschiedliche therapeutische Maßnahmen zum Einsatz bringen. Zum Beispiel bitten kognitive Verhaltenstherapeuten ihre Patientinnen, adaptiver zu denken und maladaptive kognitive Muster zu verändern; Verhaltenstherapeuten lassen ihre Patientinnen zuvor ver-

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miedene Situationen oder Menschen bewusst angehen; interpersonelle Therapeutinnen lassen sie an der Verbesserung der Qualität ihrer Beziehungen arbeiten; dynamische Therapeuten fördern den Ausdruck vermiedener Emotionen. Für viele Störungen hat sich eine ganze Bandbreite von Behandlungen mit sehr unterschiedlichen Maßnahmen als effektiv erwiesen (Wampold u. Imel, 2015). Veränderungen im Lebensstil haben einen großen, aber oft unterschätzten Effekt auf die mentale Gesundheit (Walsh, 2011). Verbesserungen bei Stimmung und Wohlbefinden geben den Patienten das Gefühl, dass die Behandlung funktioniert und die therapeutischen Komponenten effizient sind. Gleichzeitig glauben sie, dass ihr eigener Einsatz (d. h. die aktive Teilnahme an den zur Behandlung gehörenden Maßnahmen) für den Nutzen der Therapie verantwortlich ist. Allen effektiven Behandlungen ist gemeinsam, dass die Patientinnen dazu gebracht werden, etwas zu tun, was ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden förderlich ist.

Die drei Pfade in der Zusammenfassung Das kontextuelle Modell beschreibt drei Pfade, die hier einzeln präsentiert werden, obwohl sie in der therapeutischen Praxis als miteinander agierende Einflüsse wirksam werden. Das Vorliegen einer realen Beziehung z. B. wird eine auf Kooperation beruhende Arbeitsbeziehung (also das therapeutische Bündnis) verbessern, positive Erwartungen schaffen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Patienten gesunde Maßnahmen durchführen. Zum Beispiel wurde festgestellt, dass die für die reale Beziehung so wichtige Empathie die Effekte der durch Placebos geschaffenen Erwartungen verstärkt und für die Wirksamkeit medizinischer Maßnahmen (Decety u. Fotopoulou, 2015; Kaptchuk et al., 2008) wesentlich ist. Jetzt, wo die Pfade – durch die Psychotherapie ihren Einfluss zum Wohl der Patientinnen und Patienten geltend macht – klar geworden sind, wende ich mich der Frage zu, wie Therapeuten diese Pfade so nutzen können, dass sie möglichst effektiv zum Tragen kommen.

Was effektive Therapeutinnen und Therapeuten richtig machen 2004 konstatierten Beutler et al., dass es in den zurückliegenden zwanzig Jahren wenig Forschung darüber gegeben habe, welche Eigenschaften oder Handlungsweisen effektive Therapeutinnen auszeichnen. Erstaunlicherweise war in der Tat nur wenig darüber bekannt, welche effektiv sind und was sie anders machen als

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ihre weniger effektiven Kolleginnen und Kollegen. Zum Glück hat man aber in den letzten Jahren viel darüber hinzugelernt, was effektive Therapeuten richtig machen. Wie therapeutisch tätige Menschen ihre Effektivität verbessern können, soll im Folgenden erörtert werden. Das therapeutische Bündnis Wie bereits beschrieben, ist das Arbeitsbündnis ein zentrales Konstrukt im kontextuellen Modell. Es ist ein Vehikel, das dazu genutzt wird, Erwartungen zu kreieren und Patienten dazu anzuregen, die Rituale der Psychotherapie (und am Ende dann schließlich auch gesundheitsfördernde Maßnahmen) auszuführen. Die mit dem Bündnis geschlossene Bindung ist einer realen Beziehung ähnlich. Das Bündnis scheint für das Erzielen therapeutischer Veränderungen von zentraler Bedeutung – eine Beobachtung, die von der Forschung nachdrücklich gestützt wird. So eindeutig das Urteil der Forschung im Hinblick auf das Bündnis ausfällt, so wenig ist klar, ob das, was Therapeutinnen im Rahmen der Therapie tun, wirklich für das sorgt, was das Bündnis zu einem therapeutischen macht. Einige Patientinnen kommen mit starker sozialer Unterstützung, sicheren Bindungsstilen, zwischenmenschlichen Kompetenzen und großem Willen zur Veränderung in die Therapie. Solche Patientinnen werden mit den meisten Therapeutinnen ein starkes Bündnis bilden und auch relativ gute Ergebnisse erzielen; deshalb kann es auch der Beitrag der Patientinnen zum Bündnis sein, worauf es ankommt. Genau das Gegenteil hat sich allerdings herausgestellt. Baldwin, Wampold und Imel (2007) entwirren die jeweiligen Beiträge von Therapeuten und Patienten zu dem Bündnis und stellten fest, dass sich nur mithilfe des Beitrags der Therapeuten zum Bündnis das Ergebnis prognostizieren lässt – ein Resultat, das durch Meta-Analysen bestätigt wird (Del Re, Flückinger, Horvath, Symonds u. Wampold, 2012). Nur was die Therapeuten ihren Patienten bei der Bildung eines Bündnisses anbieten, führt zu besseren Ergebnissen. Die Schlussfolgerung aus dieser Forschung ist eindeutig: Effektive Therapeutinnen sind in der Lage, mit einer großen Bandbreite von Patientinnen tragfähige Bündnisse zu schließen. Interpersonelle Kompetenzen verbessern Anderson und Kollegen (Anderson, Ogles, Patterson, Lambert u. Vermeersch, 2009; Anderson, McClintock, Himawan, Song u. Patterson, 2016) setzen eine interessante Methode ein, um die Eigenschaften und Handlungsweisen effektiver Therapeuten zu bestimmen. Anstatt Material aus Therapiesitzungen zu verwenden oder die Therapeuten zu bitten, eigene Informationen bereitzustellen,

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präsentieren sie 25 Therapeuten im Beratungszentrum eines Colleges das Video eines schwierigen Patienten (ein allen Therapeuten bekannter Stimulus) und nahmen ihre Reaktionen auf. Später wurden diese Reaktionen dann nach dem kodiert, was die Autoren förderliche interpersonelle Kompetenzen (FIS) nennen, darunter verbale Gewandtheit, emotionale Expressivität, Überzeugungskraft, Zuversicht, Herzlichkeit, Empathie, Bündnisfähigkeit und Problemfokus. Alle diese Komponenten sind im kontextuellen Modell angesiedelt. Empathie ist für die reale Beziehung wesentlich, stärkt aber, wie bereits angesprochen, auch die Auswirkungen von Erwartungen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten eine partnerschaftliche Arbeitsbeziehung bilden und sich aktiv in die Therapie einbringen. Viele glauben, dass Therapeuten per se empathisch sind, aber es gibt Abweichungen zwischen einzelnen Therapeuten ebenso wie zwischen unterschiedlichen Situationen bei ein und demselben Therapeuten, insbesondere in der Reaktion auf tendenziell aggressive und schwierige Patientinnen und Patienten. Sprachgewandtheit ist ebenfalls wichtig. Hier geht es darum, glaubhafte, prägnante und zugleich adaptive Erklärungen geben zu können und therapeutische Maßnahmen glaubwürdig zu begründen. Psychotherapie ist in erster Linie eine »Redetherapie«. Das heißt, sie wird verbal abgewickelt, sodass effektive Therapeutinnen in der Lage sein müssen, klar und unmissverständlich zu kommunizieren. Darüber hinaus betonen einzelne Therapien bestimmte Komponenten, die ebenfalls verbal zum Ausdruck gebracht werden, beispielsweise Interpretationen in der dynamischen Therapie oder Psychoedukation in der kognitiven Verhaltenstherapie. Emotion ist für den Erfolg einer Therapie von zentraler Bedeutung. Wie bereits erwähnt, stellen einige Therapien Emotionen explizit in den Vordergrund (z. B. die emotionsfokussierte Therapie oder die Therapie von Affektphobien). Doch ist Emotion für alle Therapien zentral, auch für kognitive und Verhaltenstherapien (siehe z. B. Thoma u. McKay, 2015). Effektive Therapeutinnen sind in der Lage, Emotionen zu modulieren und adäquat zum Ausdruck zu bringen. Häufig müssen sie verdrängte Emotionen wie Trauer oder Wut »reanimieren« und dafür in der Lage sein, diese für ihre Patientinnen angemessen zu modellieren und in Worte zu fassen. In anderen Fällen helfen sie, Emotionen wie Angst, Schuld und Scham zu reduzieren oder zu hemmen. Wer z. B. mit einem extrem ängstlichen Menschen eine Panikinduktion durchführt, wird Ruhe ausstrahlen müssen, auch wenn er selbst ängstlich ist, was ja durchaus der Fall sein kann. Und natürlich müssen Therapeuten einige ihrer Reaktionen vor ihren Patienten verbergen können, z. B. den Ekel vor extrem ungepflegten Patienten oder die Wut gegenüber Patienten, die sie verhöhnen oder beleidigen.

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Wie bereits erwähnt, besteht eine Schlüsselkomponente des kontextuellen Modells darin, dass die zu therapierende Person die zu Beginn der Therapie gegebene Erklärung akzeptiert und glaubt, dass die Behandlung nützlich sein wird. Es ist daher wenig überraschend, wie Anderson und Kollegen (2009) feststellen, dass effektive Therapeutinnen überzeugend sein müssen. Therapeutinnen, die eine Erklärung verfechten, weil sie glauben, dass ein bestimmter Ansatz anderen überlegen ist, werden oft auf Widerstand treffen, während Therapeutinnen, die partnerschaftlich arbeiten und die Therapie an die konkrete Person anpassen, mehr Engagement erreichen werden (Wampold u. Imel, 2015). Mehr noch: Effektive Therapeutinnen machen klar, dass der Fortschritt des Betroffenen im Hinblick auf das Erreichen der therapeutischen Ziele stets vorrangig ist – der Fokus der therapeutischen Arbeit liegt auf den Problemen der zu therapierenden Person und deren Lösung. Und natürlich vermitteln effektive Therapeutinnen Optimismus und die Zuversicht, dass die Patientin die therapeutischen Ziele erreichen kann, selbst wenn sie – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Therapie – schon viele erfolglose Versuche gemacht hat, z. B., weil sie alkoholsüchtig ist und es wiederholt nicht geschafft hat, über längere Zeiträume »trocken« zu bleiben. Durchführung einer schlüssigen Behandlung Zunehmend wird deutlich, dass Behandlungen ohne Struktur oder Fokus auf die Probleme, die zum Beginn der Therapie führten, besonders im Hinblick auf die zentralen Symptome weniger effektiv sind als solche, die auf das Problem und dessen Lösung fokussiert bleiben (Wampold u. Imel, 2015). Unstrukturierte Behandlungen betonen die reale Beziehung als Agent des Wandels, ignorieren jedoch durch Erklärung und einen Handlungsplan geschaffene Erwartungen sowie das Auslösen gesundheitsfördernder Verhaltensänderungen, also die letzten beiden Pfade des kontextuellen Modells. Effektive Therapeuten führen eine schlüssige Behandlung durch, und zwar in so in enger Zusammenarbeit, dass die Patienten verstehen, was umgesetzt werden muss, um die gewünschten Ziele erreichen zu können. Es gibt viele überzeugende Therapien, die in etwa gleich effektiv zu sein scheinen (Wampold u. Imel, 2015). Effektive Therapeuten wählen deshalb den Ansatz, der vom Patienten akzeptiert wird. Professioneller Selbstzweifel und reflektierte Praxis In einer Reihe von Studien stellten Nissen-Lie und Kollegen (Nissen-Lie, ­Monsen u. Rønnestad, 2010; Nissen-Lie, Monsen, Ulleberg u. Rønnestad, 2013; NissenLie et al., 2015) heraus, dass sich der von Therapeutinnen berichtete professio-

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nelle Selbstzweifel auf das Ergebnis positiv auswirkt: Therapeutinnen, die stärker an ihrer Fähigkeit zweifeln, Patientinnen helfen zu können (denen z. B. »die Zuversicht fehlt, einen positiven Effekt auf eine Patientin oder einen Patienten« zu haben und »unsicher sind, wie sie am besten effektiv mit einer Patientin oder einem Patienten umgehen sollten«), erzielen bessere Ergebnisse, besonders wenn sie gleichzeitig ein positives Selbstwertgefühl haben. Vielleicht sind die Therapeuten mit Selbstzweifeln stärker motiviert, sich zu verbessern. Chow et al. (2015) stellen fest, dass die Menge an Zeit, die Therapeuten ihren eigenen Angaben zufolge damit verbringen, ihre therapeutischen Fähigkeiten zu verbessern, mit ihrem Erfolg korreliert. Diese Praxis erfüllt die Definition der bewussten und effektiven Praxis (Ericsson u. Lehmann, 1996) – dem Fokus dieses Bandes.

Welche Eigenschaften und Handlungsweisen von Therapeuten nicht mit dem Ergebnis korrelieren Es macht aber auch Sinn, sich klarzumachen, welche Eigenschaften und Handlungsweisen nicht mit dem Ergebnis der Therapie in Verbindung stehen. Zusätzliche Zeit und Mühe in diesen Bereichen würden nämlich nicht zu besseren Ergebnissen führen. So wird festgestellt, dass das Alter, das Geschlecht und die berufliche Spezialisierung der Therapeutinnen und Therapeuten (Psychologie, Psychiatrie, Sozialarbeit, Beratung usw.) das Ergebnis nicht beeinflussen (Wampold u. Imel, 2015). Natürlich sind das keine Variablen, die sich durch die therapeutische Praxis verändern lassen, und sie besitzen wenig Relevanz für die in diesem Band erörterten Themen. Wie bereits erwähnt, setzen Anderson et al. (2009) einen Test ein, bei dem die Therapeuten ihre Reaktionen festhalten, während sie ein Video mit einem schwierigen Patienten anschauen, um die interpersonellen Kompetenzen einzuschätzen. Schöttke, Flückiger, Goldberg, Eversmann und Lange (2017) kodieren eine Diskussion unter noch in der Ausbildung befindlichen Fachleuten nach einem provozierenden Video und kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Übereinstimmend scheint es also so zu sein, dass Therapeuten in schwierigen Situationen durchaus wichtige Fähigkeiten zeigen. Interessanterweise allerdings sagen die in diesen Studien von den Therapeuten selbst berichteten sozialen Kompetenzen (Anderson et al., 2009) ebenso wie die Reaktionen in einem strukturierten Interview zur Erfassung klinischer Fähigkeiten (Schöttke et al., 2017) nichts über die später erzielten Ergebnisse voraus. Wenn es darum geht, zu entscheiden, welche Fähigkeiten man üben soll, legen diese Studien nahe, dass die

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Selbsteinschätzung der betreffenden Therapeuten dafür nicht besonders hilfreich ist. Sinnvoller ist es, sie in schwierigen zwischenmenschlichen Situationen zu beobachten. In Übereinstimmung mit der allgemeinen Literatur zu diesem Thema (Wampold u. Imel, 2015) haben Studien über die Eigenschaften und Handlungsweisen effektiver Therapeutinnen ergeben, dass deren theoretische Orientierung nichts über den späteren Erfolg auszusagen vermag (Anderson et al., 2009; Chow et al., 2015; Schöttke et al., 2017). Wichtig ist auch der Hinweis, dass auch das genaue Befolgen von Behandlungsstandards keine Ergebnisse voraussagen lässt (Boswell et al., 2013; Webb, DeRubeis u. Barber, 2010). Anders gesagt: Therapeutinnen, die einen Behandlungsplan genau befolgen, erreichen keine besseren Ergebnisse, als solche, die es nicht so genau tun. Im Gegenteil: Flexibilität scheint dabei wichtiger zu sein (Owen u. Hilsenroth, 2014). Wie eine Behandlung durchgeführt wird, ist bedeutender als die spezifische, dem Patienten angebotene Behandlungsmethode. Auch scheint es so zu sein, dass – nach der Beurteilung von Experten in klinischen Versuchen – die Kompetenz zum Ausführen bestimmter Behandlungen keine Voraussagen über die Ergebnisse der Therapie ermöglicht (Boswell et al., 2013; Webb et al., 2010). Dies ist ein überraschendes Ergebnis, denn man möchte meinen, dass die von Experten eingeschätzte Kompetenz damit verbunden sein müsste, wie gut Therapeuten arbeiten und welche Ergebnisse sie erzielen. Ein Schlüssel zum Verständnis dieses Sachverhalts besteht in der Erkenntnis, dass die genannten Einschätzungen sich um die Kompetenz in einer bestimmten Therapieform drehen und nicht um andere in diesem Artikel diskutierte Kompetenzen und Faktoren (einschließlich Bündnisbildung, Empathie, Zuversicht und Überzeugungskraft). Therapeuten dazu zu raten, in bestimmten Therapieformen noch kompetenter zu werden, scheint deren Therapieergebnisse also nicht zu verbessern (Branson, Shafran u. Myles, 2015).

Schlussfolgerungen In diesem Beitrag präsentiere ich ein Meta-Modell für die Wirkung von Therapien und die Arbeit effektiver Therapeutinnen und Therapeuten. Wie eingangs erwähnt, scheint ein Feedback zum Fortschritt von Patienten die Ergebnisse zu verbessern, nicht aber der Versuch der Therapeuten, eine noch größere Expertise zu entwickeln. Dennoch ist das Routine Outcome Monitoring (ROM) für die Entwicklung von Therapeuten unter den richtigen Bedingungen wesentlich: Es ist die Messlatte, mit deren Hilfe sich erkennen lässt, ob eine Therapeutin oder ein

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Therapeut sich verbessert hat oder nicht. Paul Clement, selbst Therapeut in einer Privatpraxis, stellte sich die wichtige Frage: »Taugst du überhaupt etwas?« (Clement, 1994, S. 173). Um sie zu beantworten, schätzte Clement die Ergebnisse aller seiner Therapien ein, seit er zu praktizieren begann, eine Zeitspanne von über 26 Jahren (Clement, 1994, 1996). Ohne ROM werden wir nie wissen, ob wir bessere Therapeutinnen und Therapeuten werden, stagnieren oder uns gar verschlechtern! Es scheint, als bedürfe es der Übung, um beim Therapieren besser zu werden. Doch einfach mehr zu therapieren, scheint auch nicht ausreichend, selbst wenn es von Feedback begleitet ist. Vielmehr müssen Therapeutinnen an ihren Fertigkeiten in anderen Kontexten als der tatsächlichen Durchführung weiterer Therapien üben, wie es z. B. im Rahmen von Supervision, Gruppenberatung oder anderen professionellen Aktivitäten denkbar ist. Und der Fokus muss darauf liegen, die Kompetenzen zu stärken, die für effektive Therapeutinnen und Therapeuten – wie in diesem Beitrag aufgeführt – tatsächlich wichtig sind. Es scheint, dass Therapeuten in Therapieagenturen, die Fortbildung fördern, indem sie Kompetenzen gezielt prüfen und üben, sich tatsächlich verbessern (Goldberg et al., 2016). Die allgemeinen Ergebnismessungen mithilfe von ROM lassen sich einsetzen, um genauer bestimmen zu können, ob jemand – einzelnen oder vielen – Patienten nützen kann. Zusätzliche Informationen werden jedoch benötigt, um sagen zu können, was eine weniger erfolgreiche – oder eigentlich auch jede – Fachkraft tun muss, um sich zu verbessern. Mehrere Messungen wichtiger therapeutischer Faktoren, wie Bündnisbildung, Empathie oder verbale Ausdruckskraft, können hilfreich sein. Die Kompetenzen, die notwendig sind, um effektiv zu sein, zeigen sich in schwierigen therapeutischen Situationen. In Therapieagenturen, die – wie Goldberg et al. (2016) beschreiben – Verbesserungen erzielen, herrscht ein Klima, in dem Therapeuten andere Fachkräfte um Hilfe bitten können, wenn sie mit einer Patientin oder einem Patienten nicht zurechtkommen. Dazu gehört die Bereitschaft, die eigene Arbeit in solchen schwierigen Situationen zu zeigen, und die Gelegenheit, die notwendigen Fertigkeiten zu üben, um sich – mithilfe des Feedbacks von Expertinnen und Kollegen – weiter zu verbessern.

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Günter Schiepek

Psychotherapie und Beratung in komplexen Systemen: Welche Kompetenzen brauchen wir?

Komplexität – Digitalisierung – Integration: Entwicklungslinien von Psychotherapie und Beratung im 21. Jahrhundert War die Psychotherapie seit ihren Anfängen im frühen 20. Jahrhundert von Schulen und deren Gründern geprägt, haben sich die Orientierungen inzwischen geändert. Konsequenterweise sind auch die Kompetenzen, die Therapeuten und Berater in einer sich ändernden Welt der psychosozialen Versorgung brauchen, an anderen Kriterien auszurichten. Das Problem mit den Schulen besteht u. a. darin, dass sie sich nicht klar definieren lassen. So machten Wampold et al. (2017) am Beispiel der Kognitiv-­ Behavioralen Therapie deutlich, dass Studien und Meta-Analysen, die diese mit anderen Ansätzen verglichen, unterschiedliche Komponenten ein- oder ausschlossen. Was in einer Studie als Merkmal der Therapierichtung galt, war in der anderen ausgeschlossen oder sogar Merkmal der Kontrollbehandlung. Bei genauer Betrachtung kann man auch für die Systemische Therapie keine klaren Definitionsmerkmale ausmachen: Was in einer Teilrichtung als wesentlich gilt (z. B. konsequente Lösungsorientierung ohne Problemanalyse), kommt in der anderen Teilrichtung gar nicht vor (z. B. in der strukturellen Familientherapie). Man findet weder notwendige noch hinreichende Definitionsmerkmale, und viele mögliche Merkmale des Ansatzes (z. B. Ressourcenorientierung, Einbezug des familiären Umfelds eines Klienten) sind keineswegs spezifisch oder originär systemisch (Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013). In einem strengen Sinne gibt es diese Schule (wie auch andere) gar nicht – was für die einen, die sich über ihre Anerkennung als approbationswürdiges Therapieverfahren freuen, irritierend sein mag (Was wurde denn da überhaupt anerkannt? Wie und wozu soll man denn nun ausbilden?), für andere, die nicht anerkannt

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wurden (z. B. die Personenzentrierte Therapie), tröstlich: Die Karten werden neu gemischt. In der Tat scheint ein koordinierter Neustart aus verschiedenen Gründen überlegenswert: Hatte man die Wirksamkeit von Psychotherapie bislang als gesichert betrachtet, beginnt nach dem Vorliegen von Meta-Analysen, welche ein erweitertes Spektrum von Biases (systematische Verzerrungen) und Einflussfaktoren berücksichtigen, die Diskussion um die Wirksamkeit von Psychotherapie vielleicht neu: Hatte Eysenck mit seiner kritischen Beurteilung der Wirksamkeit von Psychotherapie doch recht? – die dann übrigens in den 1950er Jahren den Startschuss für die breit angelegte Wirksamkeitsforschung gab (­Cuijpers, Karyotaki, Reijnders u. Ebert, 2018). Speziell die Absicherung von evidenzbasierten Therapien wie der Kognitiv-Behavioralen Therapien bröckelt: Die Effekte sind in absoluten Größen gering, die Methodik der Studien fragwürdig (z. B. das Design der Kontrollgruppen), und die Effekte möglicherweise nicht auf die Interventionen, sondern auf andere Wirkfaktoren oder Prozessmerkmale zurückzuführen (z. B. Cuijpers et al., 2018; Heinzel, Tominschek u. Schiepek, 2014; Schiepek, Tominschek u. Heinzel, 2014; Shedler, 2018; Wampold u. Imel, 2015; Wampold et al., 2017). Werden die evidenzbasierten Therapien auch von der Replikationskrise (Hengartner, 2018; Ioannidis, 2005; 2012; Open Science Collaboration, 2015) erfasst? Hinzu kommt, dass unterschiedliche Therapien, zumindest diejenigen, zu denen in ausreichendem Maße Studien vorliegen, ähnlich wirksam zu sein scheinen (Dodo-Bird-Effekt: Alle gewinnen) und die erkennbare Wirksamkeit nur zu einem geringen Teil von Behandlungstechniken und gezielten Interventionen bedingt sein dürfte – also den Komponenten, die im engeren Sinne schulenspezifisch sind (Wampold u. Imel, 2015). Wer weiß, wie’s weitergeht? Immerhin reichen die Evidenzen – oder besser gesagt: die Zweifel – dafür aus, therapeutische Kompetenzen nicht über Therapieschulen zu definieren oder von diesen eingrenzen zu lassen. Professionalitätsfelder wie Beratung, Coaching, Teamentwicklung oder »Organizational Change« haben sich die lange Phase der Schulenbindung zumindest weitgehend von vornherein erspart. Sie beginnen ihre Professionalisierung und wissenschaftliche Fundierung in einer Epoche, die von Transdisziplinarität geprägt ist. Ähnlich wie in der Psychotherapie sind es nun Digitalisierung, mathematische Modellierung, Neurowissenschaften und ein Denken in komplexen Strukturen und Prozessen, die das professionelle Selbstverständnis formen. Dies setzt Integration voraus, sowohl auf der Ebene von Schulen, die sich gegenseitig befruchten und mit ihren jeweiligen Stärken als Ressourcen betrachten sollten, als auch auf der Ebene von Versorgungssektoren und Zuständigkeiten (z. B. stationär vs. ambulant, Therapie, Betreuung, Rehabilitation), als auch auf der Ebene von Dis-

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ziplinen und Forschungsansätzen (z. B. quantitative vs. qualitative Forschung, idiografische vs. nomothetische Ansätze, Forschung vs. Praxis). Computerassistiertes Monitoring von Therapie- und Beratungspraxis ist inzwischen Routine geworden, Psychotherapie und nichtinvasive Neuromodulation beginnen sich zu begegnen, und die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz tauchen, z. B. zu Zwecken der Mustererkennung in komplexen Veränderungsprozessen, am Horizont von Therapie und Beratung auf.

Personalisierung von Therapie und Beratung Integration, Digitalisierung und Komplexität machen die Kontexte aus, in denen die Kompetenzkonzepte für die psychosoziale Praxis der Zukunft entwickelt und diskutiert werden. Hinzu kommt eine weitere Entwicklungsschiene, nämlich die Personalisierung von Therapie und Beratung. In vieler Hinsicht wurde deutlich, dass Therapieansätze, welche sich entweder an Schulen oder an Störungsbildern bzw. Diagnosen orientieren, aktuellen Herausforderungen nicht gerecht werden. Psychotherapien mögen vielleicht im Durchschnitt wirken, stoßen aber an Grenzen, wenn es um nachhaltige Effekte geht, wenn es um Klienten mit komplexen Beeinträchtigungen, multiplen Diagnosen, begrenzten Ressourcen und schwierigen Lebenssituationen geht, und wenn es um die Passung zwischen Standardangeboten und individuellen Bedürfnissen geht. Die Optimierung von Psychotherapie kann unter den genannten Bedingungen nicht durch Erfindung immer neuer Therapieschulen erreicht werden, die eine exponentiell wachsende Zahl von Randomisierten Kontrollierten Vergleichsgruppenstudien (RCTs) erforderlich machen würden, vor allem wenn die Anpassung von Verfahren an Versorgungskontexte, Subgruppen oder multiple Diagnosen überprüft werden sollte. »One size fits all« ist nicht nur unzureichend, wenn Therapieprogramme lediglich auf Störungsbilder oder Diagnosen zugeschnitten (störungsspezifische Behandlungsprogramme) und andere Aspekte – wie Persönlichkeit, Kompetenzen oder das soziale Umfeld – nicht berücksichtigt werden, sondern auch, wenn das Vorgehen nicht sensitiv für den Therapieprozess ist (Manualisierung) oder an Standardverläufe (»standard tracks«) angepasst bzw. an diesen orientiert wird. Psychotherapie und Beratung haben sich auf den Weg einer konsequenten Personalisierung gemacht, was bedeutet, das Vorgehen an die Problemstellungen, Ziele, intrapsychischen und sozialen Bedingungskonstellationen sowie an die Veränderungsprozesse eines Klienten anzupassen (Fisher, 2015; Fisher u. Boswell, 2016; Schiepek, Stöger-Schmidinger, Aichhorn, Schöller u. Aas, 2016a). Berück-

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sichtigt man individuelle Therapie- und Beratungsverläufe auf der Grundlage hochfrequenter (täglicher) Messungen, wird deutlich, dass diese individuellen Trajektorien keineswegs mit Standardverläufen übereinstimmen, wie sie aus seltenen, meist in den Therapiesitzungen durchgeführten und über viele Klienten gemittelten Messungen erzeugt werden. Pointiert könnte man sagen, dass es sich dabei um messtechnische und statistische Artefakte handelt, die einen irreführenden Eindruck von Veränderungsprozessen vermitteln (siehe Abbildung 1). In Therapieprozessen, die auf dem Weg zum Erfolg sowohl Musterwechsel (»Ordnungsübergänge«) als auch kritische Instabilitäten durchlaufen, ist nicht zu erwarten, dass Abweichungen von mehr oder weniger linearen »standard tracks« zu Verschlechterungen führen müssen, wie häufig postuliert. Im Gegenteil sind solche Abweichungen in selbstorganisierenden Prozessen wie Psychotherapien notwendig (Schiepek et al., under review). Allerdings hängt sehr viel davon ab, Instabilitäten, Ordnungsübergänge und dynamische Komplexität im Prozess tatsächlich zu erkennen und zu interpretieren – man muss also kompetent damit umgehen können.

Abbildung 1: Therapieprozess eines Klienten (basierend auf täglichen Messungen) vs. »standard track« Erläuterung: Der täglich gemessene individuelle Therapieprozess zeigt einen diskontinuierlichen Ordnungsübergang (Faktor »Symptom- und Problembelastung« des Therapieprozessbogens). Im Gegensatz dazu erscheint der über seltenere Messungen gemittelte Verlauf vieler Klienten (»standard track«) ziemlich linear.

Menschliche Lern- und Entwicklungsprozesse, die auf der Funktionsweise komplexer nichtlinearer Systeme beruhen, sind nur sehr begrenzt vorhersehbar (im Sinne des »Schmetterlingseffekts« der Chaostheorie, siehe Abbildung 2), sie reagieren nicht proportional auf noch so gut gemeinten Input (z. B. therapeutische Interventionen) und sind konsequenterweise linear nicht steuerbar. Eben deswegen ist es sinnvoll, in der Routine mit Verfahren des computerassistierten Prozessmonitorings zu arbeiten, welche über den

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aktuellen Stand der nichtlinearen Prozesse auf der Höhe des Geschehens Auskunft geben, d. h. diese analysieren und visualisieren. Speziell hierfür wurde das Synergetische Navigationssystem (SNS) entwickelt (Schiepek et al., 2013, 2016b; Schiepek, Aichhorn, u. Schöller, 2018). Entscheidungsheuristiken für die Unterstützung selbstorganisierender Prozesse liegen in Form der generischen Prinzipien vor (Haken u. Schiepek, 2006/2010), welche auf Grundlage der Synergetik zunächst für die Psychotherapie ausformuliert wurden, dann aber auch für Beratung (Schiersmann u. Thiel, 2015), Organisationsentwicklung (Haken u. Schiepek, 2006/2010) und generell als Heuristiken für Mikroentscheidungen bei der Gesprächsführung (Rufer, 2012) genutzt wurden. Therapeuten/Berater und Klienten können sich gemeinsam darauf beziehen, was die Kooperation fördert und Selbstwirksamkeit sowie das Erleben von Empowerment möglich macht.

Abbildung 2: »Schmetterlingseffekt«, illustriert durch den Vergleich dreier Therapieverläufe Erläuterung: Drei Therapieverläufe, die nahezu identisch beginnen, d. h. in den ersten Tagen sehr ähnliche Messwerte aufweisen, entwickeln sich nach kurzer Zeit völlig unterschiedlich (Faktor »Symptom- und Problembelastung« des Therapieprozessbogens). Dies bedeutet, dass die Kenntnis der Startbedingungen eines sehr ähnlichen Falls nichts über die weitere Entwicklung des aktuellen Verlaufs aussagt (»Schmetterlingseffekt«).

Für eine konsequente Personalisierung von Therapie und Beratung sind Methoden der Fallkonzeption erforderlich, die der Komplexität und Individualität menschlicher Problemlagen gerecht werden. Speziell die idiografische Systemmodellierung (Schiepek, 1986) wurde dazu entwickelt, die systemischen Zusammenhänge der Bedingungen abzubilden, welche die Problematik oder den Leidenszustand eines Klienten ausmachen. Gemeinsam werden dabei die Kognitionen, Emotionen, Verhaltensweisen und anderen Einflussfaktoren, die dabei eine Rolle spielen, eruiert und dann auf einer Tafel mit ihren wechselseitigen Wirkungen aufeinander visualisiert (siehe Abbildung 3). Daraus entsteht das Modell eines individuellen Problemsystems, das nicht nur die Dynamik und die kreiskausalen, rekursiven Abhängigkeiten der beteiligten Variablen

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verständlich macht, sondern auch Lösungen und unterschiedliche Ansatzpunkte für die Veränderung erkennen lässt.

Abbildung 3: Idiografisches Systemmodell eines Klienten

Darüber hinaus können die Variablen eines Systemmodells mithilfe des Fragebogeneditors des SNS in einen persönlichen Fragebogen übersetzt werden, der dann vom Klienten täglich ausgefüllt wird und ein engmaschiges dynamisches Abbild des Veränderungsprozesses liefert. Die resultierenden multiplen Zeitreihen werden im SNS mit verschiedenen Methoden der nichtlinearen Zeitreihenanalyse ausgewertet und die Ergebnisse in Diagrammen visualisiert (siehe Abbildung 4). Die Schreibtafel oder Flipchart, auf der die Modellierung grafisch entwickelt wird, lässt sich inzwischen durch einen geeigneten, d. h. hinreichend großen und schreib- bzw. malfähigen Computerscreen ersetzen (z. B. Microsoft Surface Studio oder Hub). Mit den Modellen kann man dann arbeiten, d. h. Subsysteme und Teilschleifen herausmodellieren oder die spezifischen Einflussfaktoren auf eine Variable (Zielgröße) erkennbar machen.

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Abbildung 4: Computerunterstützter, visualisierter Therapieprozess im Synergetischen Prozessmonitoring Erläuterung: Der therapeutische Prozess bezieht sich sowohl auf das Systemmodell eines Klienten als auch auf die visualisierbaren und analysierbaren Zeitreihen, welche den Verlauf im Synergetischen Navigationssystem abbilden (»cooperative decision making« oder »continuous cooperative process control«).

Systemkompetenz Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen (Komplexität, Prozessorientierung, Digitalisierung, Transdisziplinarität, Integration, Personalisierung) stellt sich die Frage nach den geeigneten Kompetenzen für Therapeuten und Berater. Bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten wurde hierfür ein Vorschlag entwickelt, der psychosoziale Professionalität als Verstehen von und Handeln in komplexen Systemen auffasst (»Systemkompetenz«: Schiepek, 1997; Manteufel u. Schiepek, 1998; Kriz, 2000). Therapie und Beratung werden dabei definiert als prozessuales Schaffen von Bedingungen für die Selbstorganisationsprozesse bio-­psycho-sozialer Systeme, wobei diese Bedingungen in den generischen Prinzipien ausformuliert wurden. Es handelt sich dabei um Kompetenzen, die weit über therapeutische Settings hinausgehen und in unterschiedlichen Kon-

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texten von Bedeutung sein können, z. B. auch für Führung und Management von Organisationen, Unternehmen oder politischen Strukturen. Ebenso wie das Rollenverständnis von Therapeuten und Beratern in einem transdisziplinären Feld anzusiedeln ist, bewegen sich die in dem Konstrukt der Systemkompetenz aufgelisteten Teilkompetenzen (siehe Tabelle 1) an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis, d. h., sie sind einem Scientist-Practitioner-Modell verpflichtet. Der Begriff der Systemkompetenz ist in bewusster Weise ambigue, d. h., er ist fremdreferenziell im Sinne von Verantwortung für die Entwicklung eines komplexen Systems und dessen Dynamik (z. B. Klienten in Therapie, Organisationen im Wandel), aber auch selbstreferenziell im Sinne von Verantwortung für sich selbst (z. B. Empowerment, Selbstfürsorge und Achtsamkeit unter Bedingungen von Komplexitätsstress). Tabelle 1: Systemkompetenz und ihre Teilkompetenzen (Haken u. Schiepek, 2006/2010, S. 670 ff.) 1

Soziale Kompetenzen

1.1

Verständliche, kontextangemessene Sprache

1.2

Sensibilisierung für die Aufnahmebereitschaft der Interaktionspartner

1.3

Kompetenz-, Rollen-, Aufgaben- und Auftragsklärung, Klärung von Erwartungen

1.4

Erfahrung in der Arbeit mit Teams, Teamfähigkeit

1.5

Fähigkeit zum Delegieren

1.6

Flexible Selbstdarstellung: Gespür für Sprache, Regeln, Umgangsformen, Geschichte, Kulturen (transkulturelle Perspektive)

1.7

Berücksichtigung fremder Operationslogiken (»Verstehen«)

1.8

Berücksichtigung von formellen und informellen Systemstrukturen und -regeln (Erkennen und Einhalten oder gezieltes Thematisieren)

1.9

Fähigkeit zu plankomplementärem Verhalten (im Sinne der Plananalyse) und Verstehen von Beziehungstests (im Sinne der Control Mastery Theory)

1.10 Didaktisch überzeugende Präsentation 1.11 Inhaltlich überzeugende Präsentation 1.12 Konstruktives Feedback 1.13 Konfliktmanagement und Konfrontation 1.14 Interdisziplinäre Kooperationskompetenz 1.15 Unterstützung des Selbstwertgefühls (des eigenen und der Interaktionspartner) 1.16 Reflektierter Umgang mit eigenen emotionalen Schemata (positiven wie negativen) bzw. mit dominanten »States of Mind« in sozialen Situationen (»Übertragung« und »Gegenübertragung«)

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Günter Schiepek

2

Dimension Zeit

2.1

Kenntnis und Nutzen der Eigendynamik von Systemen; Ermöglichen von Resonanz und Synchronisation (Generisches Prinzip 6)

2.2

Verständnis von Chaos und Komplexität von Prozessen

2.3

Nutzung von engmaschigem Prozessfeedback für »continuous cooperative process control«

2.4

Erspüren, Nutzen und Fördern des »Kairos«, also der sensiblen Momente und »Aufnahmebereitschaften« (Generisches Prinzip 6)

2.5

Entwicklung von Perspektiven, Orientierungen, Zielen

2.6

Entwicklung von Prognosen unter Vorbehalt, Kenntnis nichtlinearer Prozesse

2.7

Kenntnis von Familien-, Lebens- und Entwicklungsphasen, ohne sich an diese normativ zu binden

2.8

Entkrampfter Umgang mit Irreversibilität, Unveränderbarkeit, Chronifizierung

2.9

Umgang mit den Grenzen von Planung, Vorhersage, Wachstum und Veränderungsmöglichkeiten

2.10 Wechsel zwischen Aktion und Reflexion 2.11 Systemangemessene Gestaltung der Frequenz von Sitzungen bzw. Interventionen 2.12 Geduld, Fähigkeit, zu warten und sich Zeit zu nehmen, Vermeidung von Zeitdruck 2.13 Langsame Taktung, Verbleiben »hinter dem Klienten« 2.14 Abwarten von Einladungen, Yes-Sets 2.15 Nutzung von Zeitritualen 3

Emotionen, Stressbewältigung und Ressourcenaktivierung

3.1

Selbstverstärkung, Genuss, die »Sorge um sich«, Förderung der eigenen Lebensqualität

3.2

Nutzen vorhandener Kräfte und Energien (Empowerment, Jiu-Jitsu-Prinzip)

3.3

Erkennen, Entwickeln und Aktivieren eigener Ressourcen

3.4

Erkennen, Entwickeln und Aktivieren von Ressourcen des Partners bzw. Klienten

3.5

Fokussierung, Konzentration (vermeiden, sich zu verzetteln)

3.6

Engagement, eigene Motivationsklärung (Leistung nur, wenn man dahintersteht)

3.7

Erzeugen von Beteiligungen, Zugehörigkeiten, Schaffen von »Kulturen« und »Corporate Identities«

3.8

Umgang mit emotionalen Belastungen (z. B. Intransparenz, Zeitdruck, Misserfolg, sozialen Konflikten, Komplexitätsstress), konkrete Coping-Strategien

3.9

Nutzung von Hilfen, Unterstützung, sozialen Netzwerken, Informationen

3.10 Ambiguitätstoleranz (bei widersprüchlichen Wahrnehmungen und Wirklich­ keitskonstruktionen, bei Diskrepanzen zwischen formalen und informellen Strukturen, bei Paradoxien, Unterschieden zwischen hypothetischen und faktischen Realitäten usw.)

Psychotherapie und Beratung in komplexen Systemen

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4

Entwicklung von Selbstorganisationsbedingungen

4.1

Schaffen von Stabilitätsbedingungen, Fehlerfreundlichkeit (Generisches Prinzip 1)

4.2

Herstellung von Sinnbezügen des Veränderungsprozesses (Generisches Prinzip 3)

4.3

Identifizieren von Kontrollparametern, Ermöglichen von Energetisierungen, Nutzung von Ressourcenzuständen und Motivationen (Generisches Prinzip 4)

4.4

Erkennen und Realisieren von Destabilisierung, Fluktuationsverstärkungen, Experimentieren (Generisches Prinzip 5)

4.5

Ermöglichen von gezielten Symmetriebrechungen (Generisches Prinzip 7)

4.6

Re-Stabilisierung (Generisches Prinzip 8)

4.7

Heuristische Kompetenzen entwickeln (Informationssuche, Suchraumerweiterung, Analogiebildung, Kompetenzerweiterung)

5

Wissen

5.1

Kenntnisse zu Theorien, Terminologien, Grundfragen und Formalismen der Theorien komplexer nichtlinearer Systeme

5.2

Kenntnis philosophischer (u. a. erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer) Grundlagen und von Fragen der Psychologie, Neurowissenschaften und Systemwissenschaften

5.3

Kenntnis wesentlicher Befunde der Psychotherapieforschung (z. B. ProzessOutcome-Studien, sogenannte »Wirkfaktorenforschung«, Prozessforschung)

5.4

Kenntnis neurobiologischer und psychophysiologischer Grundlagen und Korrelate psychotherapeutischer Prozesse

5.5

Grundkenntnisse in den Bereichen Psychoneuroimmunologie und Psycho­­neuro­­endokrinologie

5.6

Kenntnis psychologischer Grundlagen (z. B. Wahrnehmung, Bewusstsein, Lernen, Gedächtnis, Emotionen, individuelle und soziale Entwicklung, Selbstwert und Selbstwertregulation, Selbst, Identität)

5.7

Grundkenntnisse der Sozialpsychologie (soziale Wahrnehmung, Mikroanalyse der Kommunikation, Gruppenprozesse, Dyaden, Paare, Familien, Psychologie von Organisationen und Institutionen)

5.8

Grundkenntnisse der Soziologie (Lebensformen, Familien, aktuelle soziale und gesellschaftliche Entwicklungen)

5.9

Kenntnisse der Salutogenese- und Ressourcenforschung

5.10 Kenntnis klinischer Störungsbilder, klinisches und ätiologisches Wissen (Vergleich unterschiedlicher Theorien und Modellvorstellungen) 5.11 Kenntnis und Kritikfähigkeit bezüglich Forschungsstrategien in Psychologie, Psychotherapie und den Systemwissenschaften 5.12 Grundkenntnisse von Methoden der Evaluation und Qualitätssicherung von Therapie und Beratung

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Günter Schiepek

6

Mustererkennung und Modellierung

6.1

Methoden und Techniken des Messens und der Datenerfassung in Psychologie und Psychophysiologie

6.2

Anwendung, Interpretation und Feedback mit dem SNS (Synergetisches Prozessmonitoring)

6.3

Verfahren zur Erstellung klinischer Fallkonzeptionen

6.3.1 Idiografische Systemmodellierung (Entwicklung und therapeutische Arbeit damit, Erstellung persönlicher Fragebögen mit dem SNS) 6.3.2 Plan- und Schemaanalyse 6.3.3 Ressourceninterview 6.3.4 Analyse von Beziehungsmustern, z. B. auf Basis von dynamischen Interaktionsmatrizen im SNS 6.3.5 Rep-Grid (Role Construct Repertory Grid) 6.3.6 Verständnis von States-of-Mind-Analysen 6.4

Kenntnis relevanter Fragebogen- und Testverfahren zur Diagnostik, Evaluation und Qualitätsdokumentation in der Psychotherapie

6.5

Erfahrung mit der Durchführung und Auswertung von Systemspielen (Life-Simulation)

6.6

Verständnis von Computersimulationen auf der Basis von Differenzen- und Differenzialgleichungen, neuronalen Netzen und anderen Formalismen

6.7

Methoden der Analyse von Prozessdaten, z. B.

6.7.1 Dynamische Komplexität 6.7.2 Phasenraumrekonstruktion 6.7.3 Fraktale Dimensionalität (D2, PD2) 6.7.4 Lyapunov-Exponenten (LLE, LLLE [Local] Largest Lyapunov Exponents) 6.7.5 Recurrence Plots 6.7.6 Time Frequency Distributions (TFD) 6.7.7 Analyse von Konnektivitätsmustern 6.7.8 Faktorenanalyse und divisives Clustering

Die erste Dimension von Systemkompetenz richtet sich u. a. auf die Fähigkeit, sich in unterschiedlichen Kulturen, Verständniszusammenhängen und Sozialisationshintergründen bewegen zu können – was erforderlich ist, um in interdisziplinären Feldern erfolgreich zu agieren, um Supervision mit Therapeuten unterschied­ licher Richtungen machen zu können, aber auch, um Klienten unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Lebensstilen empathisch zu begegnen. Die Teilkompetenzen der ersten Dimension beinhalten zudem verschiedene Basis­ fähigkeiten für die professionelle Beziehungsgestaltung in Therapie und Beratung.

Psychotherapie und Beratung in komplexen Systemen

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Die zweite Dimension thematisiert die Zeit und damit die Tatsache, dass komplexe Systeme sich immer im Verlauf und in Entwicklung befinden. Insbesondere kommt es in selbstorganisierenden Prozessen wie Therapien oder Beratungen darauf an, kritische Momente (»Kairos«) zu erkennen und zu nutzen, was mit Unterstützung von Monitoringsystemen möglich ist. Die Prozessdimension beinhaltet auch die Notwendigkeit, sich auf unterschiedliche Veränderungsgeschwindigkeiten einzustellen, von langsam über stagnierend bis zu schnell und sprunghaft. Diskontinuierliche Entwicklungen (»sudden c­ hanges«) und Musterwechsel sind üblich und sollten erfasst werden können. Eine weitere Herausforderung ist die begrenzte Vorhersehbarkeit von chaotischen Dynamiken, die menschliches Verhalten und Erleben prägen (Strunk u. Schiepek, 2014). Mit Extrapolationen aktueller Entwicklungen ist in der Regel nichts gewonnen: Kleinste Veränderungen können große Wirkungen auslösen, und große Interventionen können von stabilen Mustern geschluckt werden. Ebenso sind Konzepte linearer Steuerung in Humansystemen meist zum Scheitern verurteilt, was neue Methoden der unterstützten und feedbackgetriebenen Selbststeuerung von Prozessen erforderlich macht (»continuous cooperative process control«). Die dritte Dimension betrifft die Stress- und Emotionsregulation sowie die Ressourcenaktivierung von Akteuren in komplexen Systemen. Da komplexe Systeme ein Eigenleben haben, d. h., nur begrenzt vorhersehbar sind und Lösungsversuche oft nicht so greifen, wie sie intendiert waren, Interventionen zeitverzögert wirken oder über Umwege Effekte an anderen als den erwarteten Stellen haben (Neben- und Folgewirkungen), machen sie Stress. Dies unterstreicht die transitive und intransitive Bedeutung des Konzepts der Systemkompetenz, denn die kontraintuitiven und paradoxen Dynamiken von Systemen treten in den Systemen auf, für die Therapeuten und Berater Verantwortung übernommen haben (z. B. Klienten, Teams, Organisationen), aber auch in den »change agents« selbst. Die Teilaspekte dieser Dimension dienen dem Zweck, gelassener und stressfreier mit Komplexität umzugehen, sich und anderen Beteiligten fehlerfreundlich und wertschätzend zu begegnen, Ambiguität zu ertragen und eigene wie fremde Ressourcen zu aktivieren. Ein zentrales Anliegen von Systemkompetenz ist die Ermöglichung von selbstorganisierenden Prozessen in Therapie und Beratung (Schiepek, Schöller, Carl, Aichhorn u. Lichtwark-Aschoff, 2019). Hierfür gilt es, die geeigneten Bedingungen herzustellen, wie sie in den generischen Prinzipien ausformuliert sind. Gleichzeitig sind diese Prinzipien auch Heuristiken für die Betrachtung von und Entscheidungen in solchen Prozessen. Mit dem SNS kann die Realisierung einzelner dieser Prinzipien (Stabilitätsbedingungen, Motivation als

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Günter Schiepek

Kontrollparameter, sich aufbauende kritische Instabilität) direkt erfasst und visualisiert werden. Wissen über die Funktionsweise komplexer Systeme ist relevant. Dies betrifft im Kontext von Psychotherapie und Beratung natürlich Themen der Psychologie und der Psychotherapieforschung sowie angrenzender Gebiete wie Neurowissenschaften, Psychoneuroimmunologie oder auch Soziologie. Auch spielen philosophische und wissenschaftstheoretische Fragen eine Rolle, z. B. zu Kausalität, Emergenz, Prognostizierbarkeit, Interventionswirkungen usw. (Haken u. Schiepek, 2006/2010, Kapitel IV). Ebenso wie wir Systemzustände nur sehr bedingt »intuitiv« erkennen und vorhersehen können, können wir auch die Funktionsweise komplexer Systeme nicht ohne Hintergrundwissen und philosophische Reflexion verstehen. Schließlich ist eine ganz entscheidende Dimension von Systemkompetenz in der Erkennung von Mustern zu sehen. Mustererkennung beinhaltet die Modellierung von Systemstrukturen bei Klienten oder Teams (idiografische Systemmodellierung), verschiedene Varianten von Fallkonzeptionen sowie die Analyse von Mustern in den erfassten Prozessen, d. h. in den z. B. mit SNS erfassten psychologischen oder auch physiologischen Zeitreihendaten. Der systemische Zugang hat seine Stärken mehr in der Modellierung und Messung als im Bereich der Intervention. Entscheidend ist eine inhaltlich und zeitlich optimierte ­Platzierung von Interventionen, wie sie auch andere Schulen oder Richtungen zu Verfügung haben, im Prozess oder an spezifischen Varia­blen oder Subsystemen eines Systems. Verschiedene der unter der Dimension »Modellierung« gelisteten Methoden (z. B. Analyseverfahren aus der Chaostheorie) betreffen mathematische Verfahren, und in der Tat gehört zur Systemkompetenz ein mindestens basales Verständnis von Mathematik.

Systemkompetenz lernen Systemkompetenz sollte in allen Aus- und Weiterbildungen für Psychotherapie und Beratung fest verankert sein, ja einen zentralen Orientierungsrahmen liefern. In Zeiten des Internets und der Digitalisierung stehen für das Erlernen systemischer Kompetenzen nicht nur klassische Seminare und Vorträge zur Verfügung – die als Orte der direkten Begegnung weiterhin ihren Stellenwert behalten sollten –, sondern auch Webinare und digitale Plattformen, auf denen Lerngruppen Erfahrungen und Lernmaterial austauschen können. Bücher und Fachartikel, transportiert über verschiedene Medien, werden ihren Stellenwert behalten.

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Sehr interessant sind Systemspiele (zeitlich ausgedehnte Planspiele mit mehreren Teilnehmenden), die eine unmittelbare Anschauung der Funktionsweise komplexer interpersoneller Systeme (Teams, Organisationen und deren Zusammenspiel) liefern (Manteufel u. Schiepek, 1998; Kriz, 2000). Zugleich sind Systemspiele auch ein idealer Ort für Selbsterfahrung (Wie handle und reagiere ich in komplexen interpersonellen Prozessen? Welche Schemata und Handlungsmuster werden bei mir aktiviert?), wenn eine Möglichkeit der Prozess- und Selbstreflexion zu Verfügung steht. Dies gehört unbedingt zum Konzept, kann aber durch ein persönliches Coaching noch optimiert werden. Inzwischen liegen Computersimulationen von Psychotherapien vor, an denen die Wirkung von Interventionen getestet werden kann. Das auf der Grundlage eines fundierten mathematischen Psychotherapiemodells (Schiepek et al., 2016c, 2017; Schöller, Viol, Aichhorn, Hütt u. Schiepek, 2018) entwickelte Computerprogramm (www.psysim.at) erlaubt es, unterschiedliche Schweregrade der Symptombelastung zu Therapiebeginn oder unterschiedliche Kompetenz­levels eines Klienten (z. B. Problemlösungskompetenzen, Emotionsregulation, Bindungslevel) zu berücksichtigen und mit diesen Gegebenheiten eines simulierten Klienten »Therapie zu spielen«, d. h. spezifische und unspezifische Interventionen zu setzen und die Wirkung zu studieren. Die kurz- oder langfristige Wirkung von Interventionen auf die Problembelastung, das Problemverständnis (Einsicht), die Veränderungsmotivation oder andere Aspekte können direkt ausprobiert werden. Schließlich spielt beim Erwerb von Systemkompetenz die Selbstanwendung des SNS eine zentrale Rolle. Im Rahmen der Selbsterfahrung wird mit den Ausbildungskandidaten ein eigenes sogenanntes »persönliches Entwicklungsprojekt« erarbeitet, hierzu ein idiografisches Systemmodell entwickelt und auf Basis der Variablen des Modells ein persönlicher Prozessfragebogen eingesetzt. Damit erhalten die Anwender ein tiefes Verständnis ihres ganz persönlichen Prozesses, supervidiert und gecoacht entweder von einem anderen Kursteilnehmer (Peer) oder vom Gruppenleiter. Supervidierte SNS-gestützte Therapien oder Beratungen gehören ohnehin zum Konzept innovativer, schulenübergreifender Ausbildungen. In Zukunft werden nicht nur die Tools, die in Therapie und Beratung eingesetzt werden, digitalisierter sein als bisher, z. B. als app-basiertes Prozessmonitoring, app-basierte Kommunikation zwischen Therapeut und Klient oder Visualisierung von Systemmodellen auf großen Touch-Screens mit der Möglichkeit der visuellen Weiterbearbeitung. Auch die Theorien werden sich verändern, weg von Text oder Grafiken auf Papier hin zu mathematischen Modellen, z. B. in Form gekoppelter nichtlinearer Differenzengleichungen (Schiepek et al., 2017; Schöl-

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Günter Schiepek

ler et al., 2018). Damit können nichtlineare, selbstorganisierte Prozesse simuliert werden, was notwendig ist, wenn das »Explanandum« (also das zu erklärende Phänomen) der Prozess und nicht nur das Ergebnis sein soll. Die Kombination von mathematischen Theorien therapeutischer Wirkmechanismen und konkreten, im Verlauf jedes Einzelfalls vorliegenden Prozessdaten einschließlich deren Analyse eröffnet nun Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz in Therapie und Beratung, z. B. über Verfahren der Mustererkennung oder der versuchsweisen Anwendung von Interventionen mit kurzfristigen Einschätzungen der Interventionseffekte vor deren realer Anwendung oder der optimierten Erkennung sich aufbauender kritischer Instabilitäten. Derartige Entwicklungen werden es notwendig machen, in immer kürzeren Abständen über geeignete Kompetenzen für Therapie und Beratung einschließlich ihrer Vermittlung nachzudenken.

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Christiane Schiersmann

Kompetenzen zum Umgang mit komplexen Systemen auf der Basis des Heidelberger integrativen Prozessmodells für Beratung

Den folgenden Ausführungen liegt das Heidelberger integrative Prozessmodell für Beratung zugrunde (Schiersmann u. Thiel, 2018a, S. 47 ff.). Es fokussiert arbeitsweltbezogene Beratung von Personen, Teams und Organisationen, lässt sich aber auch auf andere Beratungsfelder übertragen. Das Modell basiert auf zwei Metatheorien: einem systemischen Verständnis der Problemlöseforschung und der Theorie der Selbstorganisation, der Synergetik. Bevor im Zentrum dieses Beitrags die aus diesem Modell resultierenden Kompetenzen dargestellt werden, erfolgt eine knappe Erläuterung des zugrunde gelegten Kompetenzverständnisses.

Kompetenz als Performanz auf der Basis vielfältiger Ressourcen Kompetenzen können als Kern der Professionalität (von Beratenden) beschrieben werden. Dabei wird hier ein performanzorientierter Kompetenzbegriff zugrunde gelegt, der den Zusammenhang von Dispositionen und Handeln fokussiert. Allerdings setzt dies vielfältige Ressourcen (u. a. Wissen, Fertigkeiten, Emotionen und Motivation) voraus, die für eine kompetente Handlung notwendig sind. Dabei ist zu beachten, dass der Zusammenhang zwischen den erforderlichen Ressourcen und der Performanz in der Handlungssituation konzeptionell hergestellt bzw. theoretisch begründet werden muss. Dazu wird auf Weinert (2001, S. 54) rekurriert, der vorschlägt, hierfür bestimmte Metakompetenzen zu berücksichtigen, die es Individuen ermöglichen, in einer konkreten Situation adäquat auf Wissen etc. zurückzugreifen, um die Situation erfolgreich zu bewältigen (Schiersmann, Weber u. Petersen, 2013, S. 196 f.; siehe Abbildung 1).

Kompetenzen zum Umgang mit komplexen Systemen

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Abbildung 1: Kompetenzverständnis (in Anlehnung an Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017, S. 14)

Beratungskompetenz wird demzufolge als erfolgreiche, selbstorganisierte Bewältigung einer konkreten Problemstellung unter Rückgriff auf verschiedene aktivierbare Ressourcen verstanden. Was dabei als erfolgreich zu bewerten ist, muss in einem Kompetenzkonzept definiert werden. Dazu dient in diesem Beitrag das integrative Heidelberger Prozessmodell für Beratung (siehe unten). Wenngleich – aus Umfangsgründen – im Folgenden die Kompetenzen durchgängig aus der Sicht der Beratenden beschrieben werden, so ist doch vorab ­darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine verkürzte Sichtweise handelt. Der Beratungsprozess ist als Co-Konstruktionsprozess zwischen Beratenden und Ratsuchenden zu verstehen. Ohne die aktive Mitarbeit der Letzteren und des Einbezugs ihrer Ressourcen kann kein gutes Ergebnis erzielt werden. ­Darüber hinaus ist es Ziel des Beratungsprozesses, die von den Beratenden realisierten Kompetenzen auch bei den Ratsuchenden zu fördern und somit ihre zukünftige Selbstorganisationskompetenz zu stärken.

Kompetenzanforderungen für Beratende auf der Basis des Heidelberger integrativen Prozessmodells für Beratung Das Heidelberger integrative Prozessmodell für Beratung Die aktuelle Psychotherapieforschung (u. a. Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013) zeigt, dass alle Therapieverfahren, die in experimentellen Vergleichen gegeneinander getestet wurden, zu annähernd gleichen Effekten führten, was in der Literatur auch als Dodo-Bird-Effekt (»Alle gewinnen«) bezeichnet wird. Daher ist

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Christiane Schiersmann

davon auszugehen, dass bestimmte beraterische oder therapeutische »Schulen« und deren spezielle Methoden keinen spezifischen Einfluss auf den Erfolg haben. Dies hat zur Suche nach allgemeineren Wirkprinzipien geführt (Näheres dazu bei Schiersmann u. Thiel, 2018b). Vor diesem Hintergrund wurde das Heidelberger integrative Prozessmodell für Beratung entwickelt (siehe Abbildung 2; Näheres dazu bei Schiersmann u. Thiel, 2018a, S. 47 ff.). Es kombiniert die Ideen des systemisch konzipierten, phasenorientierten, komplexen Problemlösens im Sinne einer (eher) aufgabenbezogenen Anforderung in Anlehnung an Dörner (1994, 2016; Ulrich u. Probst, 1991) mit der Theorie der Selbstorganisation (Syner­getik; Haken u. Schiepek, 2010). Haken und Schiepek (2010, S. 450 ff.) haben vor dem Hintergrund der Theorie der Selbstorganisation und der Common-­Factor-Forschung (eher) sozialbezogene generische Prinzipien identifiziert, die eine erfolgreiche Bewältigung des Veränderungsprozesses unterstützen. Sowohl die Phasen als auch die Orientierung an den generischen Prinzipien werden im Heidelberger Modell als allgemeine Wirkprinzipien verstanden. In diesem Kontext können Methoden aus den verschiedenen Beratungsschulen situationsspezifisch flexibel eingesetzt werden mit dem Ziel, die Realisierung der Wirkprinzipien zu unterstützen (siehe Abbildung 2). Ergänzend wird in dem Heidelberger Modell der Reflexion ein zentraler Stellenwert zugewiesen, die erforderlich erscheint, um mit Komplexität und Unsicherheit angemessen umgehen zu können. Von den Autoren der beiden zugrunde gelegten Metatheorien weist nur Dörner (2016, S. 139 f.)

Abbildung 2: Das Heidelberger integrative Prozessmodell von Beratung (in Anlehnung an Schiersmann u. Thiel, 2018a, S. 66)

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der Selbstreflexion eine zentrale Funktion zu – insbesondere bei der Überprüfung des Planungsfortschritts. Beim Ansatz der Synergetik (Haken u. Schiepek, 2010; Strunk u. Schiepek, 2014) wird dieser Begriff nicht explizit benannt. Allgemein formuliert besteht die Kompetenzanforderung für Beratende im Rahmen dieses Modells darin, den Übergang von einem alten, unerwünschten Muster (dem Problem oder Anliegen) zu einem neuen Muster zu unterstützen (siehe Abbildung 2). Diese Anforderung lässt sich in eine Reihe von Kompetenzgruppen und Einzelkompetenzen aufgliedern. Diese werden im Folgenden näher erläutert. Allgemeine systemische Kompetenzen Bei der arbeitsweltbezogenen Beratung von Personen, Teams und Organisationen, die hier im Zentrum der Betrachtung steht, können Anliegen in Bezug auf Personen sowohl schwierige Berufswahlentscheidungen sein, Klärungsbedarfe im Hinblick auf die Karriereentwicklung oder Schwierigkeiten als Führungskraft im Umgang mit bestimmten Mitarbeitern. In Bezug auf die Beratung von Teams und Organisationen geht es z. B. um die Stärkung der Kommunikationskultur oder der Effektivität in einem Team, um die Optimierung einer Organisationskultur oder neue Geschäftsmodelle und Umstrukturierungsprozesse. Dabei handelt es sich um komplexe Anlässe bzw. Themen. Aber auch der Beratungsprozess selbst ist komplex, es geht um eine sehr anspruchsvolle soziale Dienstleistung. Daher müssen Beratende über allgemeine Kompetenzen zum Umgang mit dieser Komplexität und der damit einhergehenden Unsicherheit verfügen. Das meint im Wesentlichen (Schiersmann u. Thiel, 2019): Es gibt eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf eine Problemsituation bzw. ein soziales System, wobei einige Einflussgrößen/Elemente unbekannt bleiben (Intransparenz). Das hat zur Konsequenz, dass monokausale Erklärungen nicht ausreichen und Einflussvariablen gesammelt werden müssen. Als Kompetenzanforderung lässt sich daraus ableiten, gemeinsam mit den Ratsuchenden die Vielfalt von Einflussfaktoren möglichst umfassend zu identifizieren. Es bestehen Abhängigkeiten zwischen den beteiligten Einflussgrößen bzw. positive oder negative Auswirkungen aufeinander. Die Elemente sind in unterschiedlicher Dichte, Intensität/Stärke und Art (gleichgerichtet/entgegengerichtet) miteinander verknüpft. Beratende müssen in diesem Zusammenhang über die Kompetenz verfügen, das prozessuale Zusammenwirken der Einflussvariablen auf der Mikroebene zu verdeutlichen und dadurch auf einer Makroebene entstandene Muster herauszuarbeiten, u. a. durch geeignete Methoden wie z. B. die Systemmodellierung (Schiersmann u. Thiel, 2016).

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Die Eigendynamik des Systems – seine Verlaufskomplexität in der Zeit – ist im Detail nicht voraussehbar und steuerbar. Die Bearbeitung komplexer Sachverhalte und die Umsetzung von Veränderungsstrategien, bei denen kreative Lösungen erforderlich sind, erfordert von Beratenden, Unsicherheiten und Dilemmata aushalten zu müssen: Das »Alte« ist obsolet, das »Neue« noch nicht greifbar. Es ist geradezu die Aufgabe der Beratenden, in bestimmten Situationen Ungewissheitszonen zu eröffnen bzw. aufrechtzuerhalten – gegenüber Akteuren, Problemen und Ideen (Iding, 2010, S. 205). Dabei ist es erforderlich, eine Balance zu schaffen zwischen Komplexitätserweiterung (ohne Überkomplexität zu erzeugen) und Komplexitätsreduktion (ohne einer Unterkomplexität Vorschub zu leisten). Kompetenzen zur Ausgestaltung des systemischen Phasenmodells Fast alle personen- und organisationsbezogenen Beratungskonzepte arbeiten mit Phasenmodellen. Diese können als basale aufgabenbezogene Anforderungen an eine Problemlösung gelten. Zu den Stationen der Problembearbeitung gehören im Rahmen des Heidelberger Modells die Situationsanalyse, Zielklärung, Identifizierung von Veränderungsschritten/Maßnahmen, Planung, (Kontrolle der) Umsetzung sowie Evaluation und Transfer (Schiersmann u. Thiel, 2018a, S. 47 ff.). Es handelt sich bei diesem Phasenmodell nicht um eine normativ vorgegebene und auch nicht unbedingt um eine sequenziell zu durchlaufende zeitliche Abfolge. Häufig ist ein »vielfältiges Hin- und Herspringen zwischen diesen verschiedenen Stationen« bzw. Phasen erforderlich (Dörner, 2007, S. 73; Ulrich u. Probst, 1991, S. 114 ff. für die Organisationsberatung). So kann statt mit einer ausführlichen Diagnose der Ist-Situation auch mit der Zielklärung begonnen werden oder mit einer Sammlung konkreter Lösungsschritte in Form eines Brainstormings. Das mehrfache Durchlaufen dieser Schritte ist als iterativer Prozess zu betrachten. In der Abbildung 2 sind die Phasen durch ein Netz verknüpft, das die Wechselwirkungen und längeren, zirkulären Rückkoppelungsschleifen zwischen potenziell allen Phasen darstellt. Die letztlich im Detail nicht vorhersehbare und auch nicht steuerbare Komplexität dieser Wechselwirkungen macht das Systemische aus. Auf der Basis der Literatursichtung – insbesondere der Arbeiten von ­Dörner (2012), Meck (2013) – sowie eigener Erfahrungen lassen sich die in der Tabelle 1 ausdifferenzierten Kompetenzen für eine erfolgreiche Bearbeitung der verschiedenen Phasen benennen.

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Tabelle 1: Kompetenzen zur Ausgestaltung des systemischen Phasenmodells Phasen

Kompetenzindikatoren Ich trage dazu bei,

Zielklärung

– die Konkretisierung von Zielen durch die Formulierung von Teil- und Zwischenzielen zu unterstützen, – dass nicht zu viele Ziele gleichzeitig angestrebt werden, – die Abwägung zwischen verschiedenen Zielen durchzuführen, – sich gegenseitig ausschließende Ziele aufzudecken, – darauf hinzuweisen, wenn Ziele eher in der Angabe von nicht ­erwünschten oder zu vermeidenden Zuständen statt als Vor­ stellungen über den erwünschten Zustand formuliert werden, – die Kontextbedingungen der angestrebten Ziele zu berück­sichtigen, – Neben- und Folgewirkungen der formulierten Ziele abzuwägen, – im Laufe des Prozesses zu prüfen, ob die angestrebten Ziele noch passend sind;

Situations­ analyse

– die Wahrnehmungsfähigkeit der Ratsuchenden zu stärken (um z. B. verzerrte Wahrnehmungen aufzudecken), – dass nicht nur solche Informationen eingebracht werden, die dem eigenen Modell der Lage entsprechen, und andere nicht ignoriert werden, – dass nicht ungefiltert Meinungen anderer übernommen werden, sondern ein eigenes Bild entworfen und eine eigene Beurteilung der Lage vorgenommen wird, – die Teilbereiche der Situationsanalyse nicht isoliert gesehen, ­sondern in einen Zusammenhang gebracht werden, – die Situationsanalyse einen angemessenen zeitlichen und energetischen Umfang einnimmt, der zwischen einer zu oberflächlichen Analyse und einem unproduktiven Steckenbleiben in den Problemen eine Balance schafft, – dass nicht vorschnell von einem Problembereich zu einem neuen gewechselt wird, ohne dass ersterer hinreichend analysiert wurde, – dass am Ende dieser Phase ein (in der Organisationsentwicklung: gemeinsames) Problembewusstsein erarbeitet ist;

Veränderungs­ schritte/ Maßnahmen/ Planung der Schritte bzw. der Umsetzung

– eine Balance zu finden zwischen einer zu genauen und einer zu vagen Planung, – Annahmen unter zeitlichen Gesichtspunkten zu betrachten, d. h. sowohl die geschichtliche als auch die potenzielle zukünftige Entwicklung in Betracht zu ziehen, – gegebene Rahmenbedingungen bei der Planung zu berücksichtigen, – Neben- und Spätfolgen der geplanten Schritte zu bedenken, u. a. welche gleichzeitigen oder verzögerten Effekte die geplanten Maßnahmen hervorrufen könnten, – die richtige Dosierung von Maßnahmen/Aktivitäten im angemessenen Zeitrahmen zu finden, – den Gesamtüberblick zu behalten, – überoptimistische Prognosen zu reflektieren,

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Kompetenzindikatoren Ich trage dazu bei, – zu reflektieren, ob eine Maßnahme, die sich in früheren Situationen als erfolgreich erwiesen hat, ungeprüft auf eine neue Situation übertragbar ist, – zu prüfen, ob für die geplanten Maßnahmen die notwendigen Ressourcen vorhanden sind;

Umsetzung

– die Handlungen mit ihren Nebenfolgen kontinuierlich zu reflektieren und auf Angemessenheit und Kontextbezug zu überprüfen, – dass nicht nur der als am dringlichsten wahrgenommene Aspekt bearbeitet wird, sondern der Gesamtkontext im Auge behalten wird, – dass Veränderungen des Kontextes während der Umsetzung mitbedacht werden, – kontinuierlich die Effekte des Handelns zu überprüfen, – Erfolge wertzuschätzen, Fehler und Schwachstellen zu analysieren – Offenheit für Kritik zu fördern und eine Fehlerkultur zu stärken;

Evaluation und Transfer

– dass die Ergebnisse des Prozesses im Hinblick auf quantitative und qualitative Aspekte sowie im Hinblick auf subjektiv wahrgenommene und indikatorenbasierte Kriterien gemessen und bewertet werden, – dass sowohl eine kurz- als auch eine mittelfristige Bewertung der Ergebnisse vorgenommen wird, – dass der Transfer der Ergebnisse und Lernerfahrungen auf andere Themen/Bereiche geprüft wird.

Kompetenzen zur Realisierung der generischen Prinzipien Die von Haken und Schiepek (2010, S. 450 ff.) formulierten generischen Prinzipien wurden bei der Übertragung in das Heidelberger integrative Prozessmodell für Beratung in ihrer Reihenfolge geändert. Dies ist der Zusammenschau mit dem Phasenmodell geschuldet. Dabei wird davon ausgegangen, dass drei dieser Wirkprinzipien durchgängig für den gesamten Beratungsprozess von großer Bedeutung sind, während die Übrigen zumindest grob den verschiedenen Phasen zugeordnet werden können (siehe Abbildung 2). Die generischen Prinzipien können in diesem Beitrag nur sehr knapp beschrieben werden (ausführlicher: Schiersmann u. Thiel, 2018a, S. 70 ff.). Eine Operationalisierung im Hinblick auf Kompetenzen erfolgt in Tabelle 2. Ȥ Stabile Bedingungen schaffen: Die Bearbeitung der Anliegen von Ratsuchenden, d. h. der Übergang von einem alten, unerwünschten zu einem neuen, erwünschten Muster, geht mit Instabilität einher. Daher besteht eine zen­ tra­le Aufgabe von Beratenden darin, gemeinsam mit Ratsuchenden stabile

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Ȥ

Ȥ

Ȥ

Ȥ

Ȥ

Ȥ

Ȥ

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Rahmenbedingungen für den Veränderungsprozess zu schaffen und so für strukturelle und emotionale Sicherheit bei den Beteiligten zu sorgen. Resonanz beachten: Im Beratungsprozess angewandte Methoden und Verfahren müssen dem aktuellen kognitiv-emotionalen Zustand der Rat­suchen­ den entsprechen, um verstanden und aufgegriffen zu werden (Haken u. ­Schiepek, 2010, S. 439). Energetisierung fördern/Kontrollparameter identifizieren: Eine zentrale Voraussetzung für Veränderungsprozesse stellt die energetische Aktivierung des Systems dar. Muster des relevanten Systems identifizieren: Bei diesem Prinzip geht es darum, das System zu identifizieren, auf das sich die Beratung beziehen soll. Hierzu gehört das Bestimmen von Systemgrenzen sowie das Erfassen und die Analyse der dynamischen Muster. Sinnbezug herstellen: Persönliche Entwicklungsziele müssen von den Ratsuchenden als sinnvoll erlebt werden und mit ihren zentralen Lebenskonzepten korrespondieren, damit die Veränderungsprozesse engagiert vorangebracht werden. Destabilisierung anregen: Beratung zielt darauf ab, dem Ratsuchenden neue Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen und unerwünschte Muster der Kognition, des Erlebens und Verhaltens zu destabilisieren. Symmetriebrechung unterstützen: Symmetrie bedeutet in der Sprache der Synergetik, dass zwei Muster eines Systems im Zustand kritischer Instabilität potenziell mit gleicher oder ähnlicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden können (Haken u. Schiepek, 2010, S. 439). Da kleine Fluktuationen ausschlaggebend sein können, ist die Vorhersagbarkeit gering. Die Aufgabe der Beraterin besteht darin, diese kritische Instabilität zu erkennen und die Umsetzung von Elementen des neuen Musters zu unterstützen. Stabilisierung neuer Muster unterstützen: Werden im Zuge des Beratungsprozesses positiv bewertete Kognitions-, Emotions- oder Verhaltensmuster erreicht, so gilt es, diese zu stabilisieren. Der Ratsuchende soll sich idealerweise mit den neuen Verhaltensweisen und Einstellungen sowie ihren Rahmenbedingungen identifizieren. Es geht darum, das neue Muster in das bestehende Selbstkonzept zu integrieren und mit bestehenden kognitivemotionalen Schemata zu vernetzen.

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Tabelle 2: Kompetenzen von Beratenden zur Realisierung der generischen Prinzipien (in Anlehnung an Schiersmann u. Thiel, 2012, S. 65 ff.) Kompetenz

Kompetenzindikatoren Ich trage dazu bei,

1. ­Stabilitätsbedingungen für Veränderungs­ prozesse schaffen 1.1 Strukturelle Sicherheit

– mich mit der/dem Ratsuchenden zu verständigen über: • das Vorgehen, • das Anliegen/das Thema der Beratung, • die zeitliche Gestaltung der Beratung, • die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit, • meine Rolle als Berater(in), • die Vertraulichkeit des Beratungsgeschehens;

1.2 Emotionale Sicherheit/ Vertrauen

– ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Ratsuchenden und mir aufzubauen;

1.3 Selbstwertunterstützung

– den Ratsuchenden wertzuschätzen und an seine Fähigkeiten und Erfahrungen anzuknüpfen;

2. Resonanz beachten

– dass die von mir eingesetzten Methoden bzw. Gesprächsstile der aktuellen Aufnahmebereitschaft des Ratsuchenden entsprechen, – an die Redewendungen, Bilder, idiosynkratischen Begriffe des Ratsuchenden anzuknüpfen, – im Hinblick auf die emotionale Befindlichkeit des/ der Ratsuchenden eine angemessene Bearbeitungstiefe zu realisieren;

3. Energetisierung ermöglichen

– herauszufinden, was die Energie des Ratsuchenden zur Veränderung stärkt, d. h., welche motivationalen Bedingungen eine Rolle spielen, wie Ressourcen aktiviert werden können;

4. Muster des Systems identifizieren 4.1 Systemgrenze

– das Beratungssystem mit seinen Teilen/Sub­ systemen zu definieren;

4.2 Muster des Denkens, Erlebens und Handelns

– typische Abläufe, Regeln und Zusammenhänge im System, z. B. durch Visualisierungsmethoden, herauszuarbeiten;

4.3 Einflussfaktoren

– Einflussfaktoren, die Veränderungsprozesse behindern bzw. fördern können, zu identifizieren;

5. Sinnbezug herstellen

– dass die mit dem Ratsuchenden entwickelten Ziele von diesem als stimmig mit seinen persönlichen Lebensvorstellungen empfunden werden;

Kompetenzen zum Umgang mit komplexen Systemen

Kompetenz

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Kompetenzindikatoren Ich trage dazu bei,

6. Destabilisierung anregen 6.1 Neue Perspektiven

– durch geeignete Übungen – wie Rollenspiele, Kraftfeldanalysen, Fokussierung auf Ausnahmen, Umdeutungen (Reframing) etc. – neue Blickwinkel auf das Anliegen zu eröffnen;

6.2 Informationsvermittlung

– dem Ratsuchenden relevante Informationen für die Bearbeitung seines Anliegens zu vermitteln;

7. Symmetriebrechung unterstützen

– dass die/der Ratsuchende sich in der Lage fühlt, das angestrebte neue Muster im Denken, Fühlen und Verhalten zumindest ansatzweise zu realisieren;

8. (Re-)Stabilisierung 8.1 Umsetzung in den Alltag

– dass der/die Ratsuchende die neuen Handlungsweisen verlässlich und routiniert im Alltag umsetzen kann;

8.2 Einflussfaktoren

– (intrapsychische und externe) Einflussfaktoren zu erkennen, die eine verlässliche Umsetzung des Gelernten in den Alltag unterstützen oder behindern;

8.3 Transfer auf andere Situationen

– dass der Ratsuchende das Gelernte in Zukunft auch in ähnlichen Situationen anwenden kann.

Kompetenzen zur Unterstützung von Reflexionsprozessen Die den folgenden Ausführungen zugrunde liegende Hypothese besteht darin, dass die Komplexität und die damit verbundene Unsicherheit, die im Beratungsprozess sowie im alltäglichen Leben vorhanden ist, nicht vermieden, der Umgang damit aber u. a. durch Reflexion optimiert werden kann (ausführlicher zu Reflexionsprozessen: Schiersmann u. Thiel, 2019). Der Begriff der Reflexion wird in der personen- und organisationsbezogenen Beratungsliteratur häufig genutzt. Gleichwohl erscheint er als angemessener Umgang mit Komplexität konzeptionell eher unterbelichtet. So fehlt die systematische Konzeptualisierung dieses Begriffs z. B. bei Autoren, die sich mit den Erfolgsfaktoren von Organisationsentwicklung auseinandergesetzt haben (z. B. Kotter, 1995; Gerkhardt u. Frey, 2006). In den sogenannten »Beratungsschulen« (z. B. person-, verhaltens-, system- und lösungsorientierte Beratungskonzepte) ist der Begriff ebenfalls wenig elaboriert. Gleichwohl ist – insbesondere im letzten Jahrzehnt – zu beobachten, dass Reflexion von einigen Autoren als zentrales Charakteristikum von Beratung angesehen wird. So betont z. B. Greif (2008)

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Christiane Schiersmann

die Bedeutung ergebnisorientierter Selbstreflexion beim Coaching. Moldaschl (2010, S. 298) spricht von »reflexiver Organisationsberatung« und charakterisiert die Reflexion als »dauernden Drahtseilakt« zwischen »systematischem Zweifel und zweckrationalem Handeln«. Um zu einer Systematisierung des Reflexionsbegriffs beizutragen, wurde eine Reflexionsmatrix entwickelt. Sie unterscheidet zwischen der Erweiterung der Perspektiven und deren begründeter Bewertung in Bezug auf die Selbstreflexion einerseits und die Kontextreflexion andererseits (siehe Abbildung 3). Diesbezügliche systematische Reflexionsprozesse sollten in unterschiedlichen Phasen einer Beratung angeregt werden und – bei einer Organisationsberatung – auf den unterschiedlichen Ebenen einer Organisation stattfinden (z. B. eines Projektteams, einer Abteilung, des Topmanagements/ Vorstands oder der Gesamtorganisation). In Anlehnung an den berühmten Satz von Bateson (1994, S. 582) geht es bei der Reflexion um einen »Unterschied, der einen Unterschied« macht. In einem ersten Schritt handelt es sich um das Identifizieren dessen, was zu einem konkreten Zeitpunkt im Rahmen des Beratungsprozesses im Vergleich zum bisherigen Denken, Fühlen und Handeln aus der subjektiven Sicht des Rat­ suchenden­systems als neu/anders wahrgenommen wird – z. B. durch neue Informationen oder bestimmte Fragetechniken wie z. B. durch Hinterfragen von

Reflexionsdimensionen

Selbstreflexion

Erweiterung der Perspektiven

Kontextreflexion

Bez u und gspun Bew kte f ür d ertu ie ng neu Fests tell er P u ers pek ng tive n

Was ist neu? Bewertung der Perspektiven Warum ist das wichtig?

Ratsuchendensystem

Beratersystem

Beratungssystem Abbildung 3: Reflexionsmatrix (in Anlehnung an Schiersmann u. Thiel, 2018a, S. 81)

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Generalisierungen, durch zirkuläre Fragen bzw. die Einnahme anderer Wahrnehmungspositionen und Zeitperspektiven. In einem zweiten Schritt steht die begründete Bewertung des Neuen im Mittelpunkt: Ist das im Beratungsprozess erfahrene Neue/Alternative subjektiv bedeutsam, wichtig und nützlich für das System? (Siehe dazu Abbildung 3.) Die Feststellung sowie die Bewertung des Neuen erfolgt zunächst induktiv durch das Ratsuchendensystem im Sinne selbstreferenzieller Begründungen, indem z. B. als bedeutsam erlebte neue Wahrnehmungen mit den bisherigen Erfahrungen und dem Selbstkonzept abgeglichen werden. Die Beratenden können zusätzlich theoriebezogene Kriterien für die Reflexion anbieten, z. B. die Grundbedürfnisse nach Grawe (2000) oder die »neuro-logischen« Ebenen nach Dilts, Delozier und Dilts (2013). Die soeben betrachtete Selbstreflexion ist um die Kontext- bzw. Strukturreflexion zu ergänzen (siehe Abbildung 3; Lash, 2014, S. 203 ff; Dehnbostel, Molzberger u. Overviewn, 2003), die in vielen Beratungskonzepten vernachlässigt wird. Dabei geht es darum, die sozialen Rahmenbedingungen (Familie, Freunde, Arbeitskollegen, Kultur einer Organisation, gelebte Fehlerkultur), die organisationalen (z. B. Branche, Betriebsgröße, Organisationskultur) sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (ökonomische, arbeitsmarktpolitische, rechtliche, technologische, demografische oder interkulturelle) zu fokussieren, weil diese die subjektiven Handlungsspielräume tangieren. Es gilt zu prüfen, welche förderlichen bzw. hinderlichen Faktoren die Realisierung der bisherigen und/ oder der neuen, als subjektiv bedeutsam erachteten Perspektiven beeinflussen. In der Tabelle 3 sind die für diesen Reflexionsprozess erforderlichen Kompetenzen benannt. Tabelle 3: Kompetenzen für die Reflexion Kompetenz

Kompetenzindikatoren Ich trage dazu bei,

Erweiterung der Perspektiven (Selbstreflexion)

– neue Perspektiven auf das Anliegen/Problem herauszuarbeiten;

Bewertung der neuen Perspektiven/Selbstreflexion

– zu eruieren, warum welche der neuen Perspektiven subjektiv vom Ratsuchendensystem als wichtig und nützlich bewertet werden, – Orientierungspunkte für die subjektive Bewertung anzubieten;

Erweiterung der Perspektiven/ Kontextreflexion

– zu klären, welche sozialen, organisationalen oder gesellschaftlichen Elemente aus der Umwelt in die Reflexion einbezogen werden sollten;

Bewertung der neuen Perspektiven/Kontextreflexion

– Orientierungspunkte für die subjektive Bewertung der Kontextdimensionen anzubieten.

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Christiane Schiersmann

Das Beratungssystem umfassende Kompetenzen Schließlich sind Kompetenzen von Bedeutung, die grundlegend für jedes professionelle Beratungshandeln sind und in enger Wechselwirkung mit den zuvor genannten modellspezifischen Anforderungen stehen. Hierzu kann auf das vom Nationalen Forum Beratung (nfb) und der Forschungsgruppe Beratungsqualität am Institut für Bildungswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (2014, S. 11 f.) entwickelte Kompetenzprofil zurückgegriffen werden (hier auszugsweise): Orientieren an den Ratsuchenden:

»Beratende Ȥ richten ihr Handeln an den individuellen Bedürfnissen und jeweiligen Anliegen der Ratsuchenden aus; Ȥ respektieren die vielfältigen Besonderheiten der Ratsuchenden in Bezug auf ethnische und kulturelle Zugehörigkeit, sozioökonomischen Status, Geschlecht und Alter; Ȥ berücksichtigen in ihrem Beratungshandeln biografische Gegebenheiten sowie individuelle Ressourcen und Restriktionen, die sich aus dem jeweiligen sozialen Umfeld der Ratsuchenden ergeben; Ȥ thematisieren in der Beratung, wenn die Interessen der Ratsuchenden in einem Spannungsverhältnis zu dem organisationalen/gesellschaftlichen Beratungsauftrag stehen; Ȥ unterstützen die Ratsuchenden mit dem Ziel, deren Selbstorganisationsfähigkeit zu stärken.« Schaffen von Transparenz des Beratungsangebots:

»Beratende Ȥ machen Zielsetzungen, Inhalte und Struktur des Beratungsangebotes bekannt und für alle Zielgruppen leicht zugänglich.« Zeigen einer professionellen Haltung und ethischen Verhaltens:

»Beratende Ȥ orientieren ihr Handeln an ethischen Prinzipien und machen diese transparent und erlebbar; Ȥ sind sich ihrer Rolle und Funktion bewusst und können das eigene beraterische Selbstverständnis (z. B. Auftrag, Rolle, Beratungskonzept) überzeugend vertreten und begründen;

Kompetenzen zum Umgang mit komplexen Systemen

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Ȥ integrieren Reflexion als immanenten Teil ihres Handelns und zeigen ein Bewusstsein für eigene Fähigkeiten und Grenzen; Ȥ planen und realisieren Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung.« Mitgestalten von Qualitätsentwicklungsprozessen:

»Beratende Ȥ orientieren ihr Handeln an anerkannten Qualitätsstandards für Beratung; Ȥ beteiligen sich regelmäßig bei der Planung, Umsetzung, Dokumentation und Weiterentwicklung der Qualitätssicherungs- und Qualitätsentwicklungsaktivitäten.«

Ausblick In diesem Beitrag wurde das Spektrum der Kompetenzen vorgestellt, das erforderlich ist, um das Heidelberger integrative Beratungsmodell umzusetzen. Um diese Kompetenzen empirisch erfassen und bewerten zu können, müssen sie noch weiter konkretisiert werden. Eigene Erfahrungen mit Methoden und Strategien der Kompetenzerfassung (Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017) zeigen, dass dies keineswegs ein einfaches Unterfangen ist. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass Kompetenzen nicht linear und deduktiv vermittelt werden können, sondern kompetenzorientierte Lernsettings erfordern, in denen diese entwickelt und sukzessive erweitert werden. Hierzu eignen sich Rollenspiele, die Analyse von Fallvignetten (Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017), das Lernen in Simulationsumgebungen (Bauer u. Weinhardt, 2015) sowie die systematische Reflexion des eigenen Beratungshandelns im Rahmen kollegialer oder professioneller Supervision.

Literatur Bateson, G. (1994). Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (5. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bauer, P., Weinhardt, M. (2015). Methodenkompetenzerwerb im Studium: Das Beispiel Beratungslernen in Simulationsumgebungen. In E. Bolay, A. Iser, M. Weinhardt (Hrsg.), Methodisch handeln – Beiträge zu Maja Heiners Impulsen zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit (S. 91–103). Wiesbaden: Springer Fachmedien.

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Dehnbostel, P., Molzberger, G., Overviewn, B. (Hrsg.) (2003). Informelles Lernen in modernen Arbeitsprozessen dargestellt am Beispiel von Klein- und Mittelbetrieben der IT-Branche. Berlin: BBJ. Dilts, R., Delozier, J., Dilts, D. B. (2013). NLP II – Die neue Generation. Strukturen subjektiver Erfahrung – Die Erforschung geht weiter. Paderborn: Junfermann. Dörner, D. (1994). Selbstreflexion und Handlungsregulation: Die psychologischen Mechanismen und ihre Bedingungen. In W. Lübbe (Hrsg.), Kausalität und Zurechnung (S. 199–229). Berlin: de Gruyter. Dörner, D. (2007). Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen (6. Aufl.). Reinbek: Rowohlt. Dörner, D. (2012). Emotion und Handeln. In P. Badke-Schaub, G. Hofinger, K. Lauche (Hrsg.), Human factors – Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen (2. Aufl., S. 101–120). Berlin u. Heidelberg: Springer. Dörner, D. (2016). Planen in komplexen Systemen. In G. Kamp (Hrsg.), Langfristiges Planen (S. 131–163). Berlin u. Heidelberg: Springer. Gerkhardt, M., Frey, D. (2006). Erfolgsfaktoren und psychologische Hintergründe in Veränderungsprozessen. OrganisationsEntwicklung, 13 (4), 48–59. Grawe, K. (2000). Psychologische Therapie (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Greif, S. (2008). Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion. Theorie, Forschung und Praxis des Einzel- und Gruppencoachings. Göttingen: Hogrefe. Haken, H., Schiepek, G. (2010). Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten (2. Aufl.). Göttingen u. a.: Hogrefe. Iding, H. (2010). Organisation – Beratung – Intervention. Zu einer mikropolitischen Theorie der Organisationsberatung. In S. Kühl, M. Moldaschl (Hrsg.), Organisation und Intervention. Ansätze für eine sozialwissenschaftliche Fundierung von Organisationsberatung (S. 187–214). München u. Mering: Hampp. Kotter, J. P. (1995). Acht Kardinalfehler bei der Transformation. Harvard Business Manager 1995, 17 (3), 21–28. Lash, S. (2014). Reflexivität und ihre Doppelungen: Struktur, Ästhetik und Gemeinschaft. In U. Beck, A. Giddens, S. Lash (Hrsg.), Reflexive Modernisierung (6. Aufl., S. 195–286). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Meck, U. (2013). Komplexitätsmanagement als Kompetenzmanagement. Eine funktionale Theorie erfolgskritischen Verhaltens beim Umgang mit Komplexität. Dissertation Universität Bamberg. Moldaschl, M. (2010). Reflexive Organisationsberatung. In S. Kühl, M. Moldaschl (Hrsg.), Organisation und Intervention. Ansätze für eine sozialwissenschaftliche Fundierung von Organisationsberatung (S. 271–302). München u. Mering: Hampp. Nationales Forum Beratung (nfb) und Forschungsgruppe Beratungsqualität am Institut für Bildungswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (2014). Professionell beraten: Kompetenzprofil für Beratende in Bildung, Beruf und Beschäftigung. Bielefeld: Bertelsmann. Schiepek, G., Eckert, H., Kravanja, B. (2013). Grundlagen systemischer Therapie und Beratung. Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schiersmann C., Petersen, C., Weber, P. (2017). Kompetenzerfassung im Beratungsfeld Bildung, Beruf und Beschäftigung. Instrumente zur Dokumentation, Bewertung und Reflexion der Beratenden. Bielefeld: Bertelsmann. Schiersmann, C., Thiel, H. U. (2012). Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen – eine Theorie jenseits von »Schulen« und »Formaten«. In C. Schiersmann, H. U. Thiel (Hrsg.), Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen – Empirische Studien zur Beratung von Personen und Organisationen auf der Basis der Synergetik (S. 14–78). Göttingen: V ­ andenhoeck & Ruprecht.

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Cornelia Maier-Gutheil

Kompetenz aus erwachsenenbildnerischer Perspektive und ihre Bedeutung für Lernprozesse im Kontext der Weiterbildung

Begriffsverständnis und Ausgangssituation Zum einen ist der Begriff der Kompetenz(entwicklung) in der deutschsprachigen Erwachsenenbildungsliteratur seit den 1990er Jahren »angekommen« und wird dort im Anschluss an das Paradigma des Lebenslangen Lernens diskutiert (Herzberg u. Truschkat, 2009; Hof, 2013). Fragen richten sich dabei vornehmlich darauf, wo bzw. in welchen Lernkontexten Kompetenzen am ehesten angeeignet werden und wie die solchermaßen entwickelten Kompetenzen angemessen erfasst und zertifiziert werden können. Damit verbunden sind ausgeprägte Debatten zum einen über selbstgesteuertes bzw. selbstorganisiertes Lernen von Erwachsenen (Siebert, 2013, 2017) und zum anderen die Erforschung informellen Lernens (Harring, Witte u. Burger, 2018; Rohs, 2016) wie auch dessen Anerkennungsund Zertifizierungsmöglichkeiten (Strauch, Jütten u. Mania, 2009). Bislang seltener wird explizit erforscht, welche Kompetenzen im Spezifischen für einen bestimmten Beruf bzw. eine konkrete professionelle Aufgabe benötigt werden. Ausnahmen stellen hierbei (bezogen auf den Erwachsenenbildungskontext im engeren Sinn) die Studie von Schenk und Wiesner (2010) zu Kompetenzen von Erwachsenenbildnern und Erwachsenenbildnerinnen mit der Entwicklung eines entsprechenden Passes, die Projekte der Heidelberger Forschungsgruppe um Schiersmann zu Beratungskompetenzen mit der Entwicklung eines entsprechenden Kompetenzprofils (Schiersmann u. Weber, 2013) sowie eine aktuelle Studie zur Entwicklung von Beratungskompetenzen im Studienverlauf (Bülow, 2018) dar.1 Insgesamt gibt es mehr Literatur zu der 1 Bülow bezieht sich für die Ratingverfahren in ihrer Studie auf die prozessbezogenen Kompetenzen des Kompetenzprofils von Schiersmann und Kolleginnen sowie Kollegen (Bülow, 2018, S. 121 f.; Schiersmann, Weber u. Petersen, 2013, S. 213 ff.).

Kompetenz aus erwachsenenbildnerischer Perspektive

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Frage, wie die Lehr-/Lernarrangements aussehen sollten, um solche individuellen und selbstgesteuerten Lernprozesse (mit dem Ziel der Kompetenzentwicklung) anzuregen und zu ermöglichen. Arnold und Schüßler (Arnold, Gómez Tutor, Prescher u. Schüßler, 2016) haben hier eine Vielzahl an Studien und Ideen eingebracht. Zum anderen ist Kompetenz – nicht nur in erwachsenenbildnerischen Diskursen – ein schillernder Begriff, der vor allem den bildungspolitischen Diskurs seit den 1990er Jahren maßgeblich prägt (Stichworte: Bologna-Reform, Europäischer bzw. Deutscher Qualifikationsrahmen, Wandel von der Inputzur Outputsteuerung). Kompetenz wird in der Regel verstanden als spezifische Fähigkeiten, die auf Wissensbeständen beruhen, sich in Handlungsfertigkeiten ausdrücken können, von motivationalen Bedingtheiten beeinflusst werden und in konkreten situativen Herausforderungen zur Anwendung kommen. Kompetenzen zeigen sich dabei als Dispositionen und werden erst auf der Ebene der Performanz sichtbar (Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017, S. 13 ff.). Erpenbeck und von Rosenstiel gehen noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur die gegenständliche Ebene des Handelns anführen, sondern Kompetenzen auch als »Selbstorganisationsdispositionen des gedanklichen […] Handelns« definieren (Erpenbeck u. von Rosenstiel, zit. nach Arnold, 2015, S. 27). Schiersmann et al. (2017) verorten die zugenommene Bedeutung der Kompetenzorientierung in dreierlei Hinsicht: Ȥ Erstens wirke sich die Kompetenzorientierung darauf aus, wie Lernen und Lehren konzeptualisiert werden, da das lernende Subjekt in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt (Subjektorientierung) und zudem Fragen danach bedeutsam werden, wie Lernprozesse – konstruktivistisch gedacht an autopoietische Systeme gebunden – in ihrer selbstorganisierten und selbstgesteuerten Form unterstützt und ermöglicht werden können (S. 10; Arnold et al., 2016; Siebert, 2013). Dies führe auch zu einer »Fokussierung auf Lernergebnisse (Outputs) im Verhältnis zu den Inputs (z. B. Lehrende, Rahmenbedingungen)« (Schiersmann et al., S. 10). Ȥ Zweitens korrespondiere das veränderte Lehr- und Lernverständnis »mit der Dynamisierung von Umweltfaktoren« (S. 10), die sich in lebensweltlichen Zusammenhängen wie auch Arbeitskontexten als neue Anforderungsstrukturen bemerkbar machten. Genannt werden hier »Technisierung, Digitalisierung, Verdichtung von Arbeitsaufgaben, Mobilität« (S. 10), die dazu führen, dass immer mehr berufliche Aktivitäten weniger standardisierbar und somit »nicht allein auf der Basis von Fachwissen und routinisierten Fertigkeiten zu bewältigen [sind]. Dies gilt in jedem Fall für anspruchsvolle soziale Dienstleistungen wie die Beratung« (S. 11).

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Ȥ Drittens habe sich der Diskurs um Kompetenzorientierung auf alle Ebenen des Bildungssystems ausgewirkt, was sich nicht zuletzt in dem Wechselverhältnis von Bildungsangeboten und EQR/DQR ausdrücke (Arnold, 2014, S. 89 ff.), beispielhaft sichtbar – wie bereits erwähnt – an den Versuchen der letzten Jahre, geeignete Verfahren zu entwickeln, um Kompetenzen messen und zertifizieren zu können (Straka, 2003). Mit dem Kompetenzbegriff ist somit nicht nur eine veränderte Orientierung hin auf die lernenden Subjekte und die Erträge ihrer Lernprozesse verbunden, sondern auch die Erkenntnis, dass Kompetenzen ihrerseits nur in Handlungszusammenhängen entwickelt werden können und dabei Kognitionen, Emotionen und Werte bedeutsam sind (Arnold u. Schüssler, 2001, S. 54 f.; Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017, S. 10; Siebert, 2017, S. 46 f.). Sowohl aus einer forschungsbezogenen als auch aus einer vermittlungsbezogenen Perspektive sind damit spezifische Herausforderungen verbunden. Diese sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

Kompetenzentwicklungsprozesse: Bedingungen und Kontexte für das Lernen Erwachsener Dem Phänomen Kompetenzentwicklung kann sich in zweierlei Hinsicht genähert werden: mit Blick auf die Tätigkeiten bzw. Berufe, bei denen die entsprechenden Kompetenzen zum Einsatz kommen sollen, und aus der Sicht der beteiligten Akteurinnen und Akteure, also der lernenden Individuen selbst. Bezogen auf die erstgenannte Perspektive haben wir es bei professionellem Beratungshandeln, sozialwissenschaftlich gesprochen, mit einem Tätigkeitstyp zu tun, der – so Baethge (2014, S. 86 f.) – hinsichtlich seiner dominanten Inhalte und Zwecke in die Kategorie des Umgangs mit Personen fällt. Als den sogenannten Dienstleistungsberufen zugehörend, zeichnet sich dieses Handeln zudem dadurch aus, dass es auf eine Koproduktion seitens der Adressatinnen und Adressaten angewiesen und sein zentrales Element die Interaktion ist. Allerdings – so merkt Luhmann an – stellt »Interaktionshandeln ein Handeln im Ungewissen« dar (zit. nach König, 2016, S. 87), sodass vor allem die Entwicklung von »internen Dispositionen« (Baethge, 2014, S. 97) – wie »selbständige Analyse- und Urteilsfähigkeit sowie Reflexivität über die eigene Rolle in komplexen Arbeitssituationen« (S. 97) – bedeutsam werden. Auch Arnold hebt als besondere Anforderung gegenwärtiger Erwerbsarbeit vor allem im Dienstleistungsbereich, im Anschluss an Brater, »das Gestalten offener Prozesse« hervor (Arnold, 2015,

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S. 33). Hier ergeben sich Verbindungen zum Begriff der Kompetenzentwicklung, wie er mit Bezug auf Bernien »die Entwicklung umfassender Problemlösungsund Selbstorganisationsfähigkeit [meint], welche die Individuen sowohl in vertrauten als auch in neuartigen komplexen Situationen handlungsfähig machen. ›Kompetenzentwicklung versteht sich eben gerade nicht als additive Anhäufung von abfragbarem Wissen, sondern als ganzheitliche Ausprägung von handlungsrelevanten Fähigkeiten, Wissensbeständen und Denkmethoden‹ (Bernien, 1997, S. 39)« (Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017, S. 12). Damit kommen wir zu dem zweiten Aspekt, dem Blick auf die individuellen Akteurinnen und Akteure, da es sich bei Kompetenzentwicklung um einen andauernden Prozess biografischen Lernens handelt (Geißler u. Orthey, 2002, S. 76; Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017, S. 12). Solche Prozesse vollziehen sich sowohl in (non)formalen als auch in in­for­ mellen Lernkontexten und – wie bereits angedeutet – verweist insbesondere der Aspekt der Reflexivität/Reflexionsfähigkeit auf eine enge Verschränkung dieser Lernprozesse mit der Person an sich. Kompetenzentwicklungsprozesse sind demnach – besonders in der hier fokussierten Domäne – mit identitätsbezogenen, d. h. nicht nur kognitiven, sondern auch emotionalen Lern- und Entwicklungsaufgaben verbunden. Erkenntnisse aus der Gehirnforschung belegen, »dass ›Fühlen, Denken, Handeln‹ (Roth, 2003) neurobiologisch untrennbar verknüpft sind, dass unser alltägliches Handeln mehr emotional als kognitiv gesteuert ist« (Siebert, 2017, S. 47). Aus einer erwachsenenbildnerischen Perspektive wird hier auch der Begriff des Deutungsmusters2 relevant, da (Identitäts-)Lernen bei Erwachsenen immer eine Veränderung von Deutungsmustern beinhaltet (Arnold, 2016, 1985). »Deutungsmuster lassen sich […] nicht allein durch Wissensvermittlung und damit Inhaltsaneignung ›aufklären‹. Erwachsene sind stets im Kokon ihrer gespürten Identität und Plausibilität gefangen, weshalb ein wirklich nachhaltiges Lernen nur gelingen kann, wenn die Lernenden ebenso umfassend in ihrer emotionalen Identitätsentwicklung angesprochen und auch zu dichten emotionalen Prozessen des Umspürens, des Selbsterlebens und der Selbstveränderung veranlasst werden können« (Arnold u. Schüßler, zit. nach Arnold, 2016, S. 14). Nicht ohne Grund wird das Lernen von Erwachsenen als Anschlusslernen (Schmidt u. Weinberg, 1978) charakterisiert, da es immer auf vorangegangene 2 Deutungsmuster beschreiben identitätstheoretisch die Art und Weise, nach welchen zentralen Orientierungen und (Wert-)Vorstellungen eine Person handelt und bilden ein relativ stabiles Selbst- und Weltverhältnis. Dabei sind diese Muster immer sozial geprägt, haben ihrerseits eine Orientierungsfunktion und dienen der Komplexitätsreduktion wie auch der Legitimation von Handlungsentwürfen (Siebert, 2008, S. 34).

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Erfahrungen aufbaut und somit gleichermaßen Qualifikations- und Identitätslernen ist (Siebert, 2008, S. 34). Lernen ist darüber hinaus immer auch in soziale Interaktions- und Diskurskontexte eingebettet – also situiert (Reinmann-Rothmeier u. Mandl, 1999) – und somit ein gleichermaßen individuelles wie auch soziales Phänomen (Hof u. Maier-Gutheil, 2014, S. 159; Maier-Gutheil, 2015, S. 9 f.). Systemtheoretisch betrachtet ist Lernen ein selbstorganisierter, selbstbezüglicher (autopoietischer) Prozess, der seinerseits entsprechende Kompetenzen3 voraussetzt (Siebert, 2013, S. 45 ff.; Arnold, 2012, S. 129 ff.). Lernen in diesem Verständnis heißt: »Wirklichkeit deuten, Bedeutungen zuschreiben, Bedeutungsvolles von Unbedeutendem unterscheiden [können]. Erwachsene sind lernfähig, weil sie in der Lage sind, sich zu sich selbst zu verhalten und weil sie für ihre Wirklichkeitsdeutungen Verantwortung übernehmen können« (Siebert, 2008, S. 32).4 Leitend für diesen Lernbegriff sind konstruktivistische Erkenntnisse, wie Beobachtungsabhängigkeit, die Reflexivität von Wirklichkeitswahrnehmungen, Viabilität (als Ersatz für den Wahrheitsbegriff) und Zirkularität (Siebert, 2017, S. 54 f.), womit auch eine Abkehr von Vorstellungen verbunden ist, Wissen ließe sich einfach vermitteln. Vielmehr werden »Lerninhalte […] in einem Prozess der Emergenz in den Köpfen der Lernenden (und der Lehrenden) ›erzeugt‹. Da jede/r andere biografische Erfahrungen, Vorkenntnisse und Interessen in ein Seminar mitbringt, entsteht auch bei jedem Teilnehmer [sic] ein besonderes ›curriculum‹« (Siebert, 2017, S. 79). Als Zwischenresümee kann festgehalten werden, dass Kompetenz­entwick­ lungs­prozesse (z. B. im Kontext von Beratung) aus einer erwachsenenbild­ nerischen Sicht als selbstbestimmte Lernprozesse zu betrachten sind, die bestimmte Kernkompetenzen (im Sinn von metakognitiven5 Lernstrategien und Lernmotivationen) voraussetzen, welche von außen nicht gesteuert, sondern nur ermöglicht werden können und zudem einerseits auf vorhandene biografische (als Deutungsmuster verdichtete) Erfahrungen verweisen, mit denen es umzugehen gilt, und sich andererseits immer in situativen Kontex3 Dabei geht es nicht nur um konkrete Lernstrategien, wie sie vielfach beschrieben und differenziert werden (Mandl u. Friedrich, 2006; zu Erfolg und Misserfolg: Holz-Ebeling, 2017), sondern auch Erfahrungen mit dem Lernen, etwa aus schulischen Kontexten, die als Lern­ erinnerungen bei ähnlichen Situationen im Erwachsenenalter zu Lernwiderständen führen können (Arnold, 2012, S. 131 ff.; zu Lernwiderständen auch Faulstich et al., 2005). 4 Die Verbindung dieses spezifischen Lernbegriffs mit dem Deutungsmusteransatz knüpft zudem an eines der zentralen didaktischen Prinzipien in der Erwachsenenbildung an, das mit dem Begriff der Teilnehmendenorientierung beschrieben wird (Siebert, 2008, S. 32 ff.). 5 Auf die Bedeutung vor allem metakognitiver Strategien, um Problemlösefähigkeiten domänenübergreifend entwickeln zu können, hat Kaiser in mehreren Studien hingewiesen (Kaiser, 2014).

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ten vollziehen. Was dies für die Seite der Planung und Gestaltung lernförderlicher bzw. Lernen ermöglichender Umgebungen bedeutet, wird im nächsten Abschnitt thematisiert.

Kompetenzorientierung: Gestaltung hochschulischer bzw. weiterbildender Lernumgebungen Nicht nur aus einer systemtheoretischen/systemischen Perspektive, sondern auch aufgrund empirischer Ergebnisse aus der Hirnforschung können wir heute sagen, dass die direkte Vermittlung von Inhalten nicht möglich ist, da Lernprozesse individuell und selbstorganisiert (autopoietisch) verlaufen und nicht von außen zu steuern sind (Arnold, 2012, S. 117; Roth u. Lück, 2010). Dies hat Konsequenzen für die erwachsenenpädagogisch angemessene Gestaltung von Lehr-/Lernsituationen: Wenn das Ziel ist, Kompetenzen der beteiligten (Lern-) Subjekte zu entwickeln, kann keiner Instruktionslogik mehr gefolgt werden. Mit solchen Überlegungen ist auch die Einsicht verbunden, dass sich die Aufgabe von Lehrenden folglich dahingehend verändert, anstelle der Vermittlung von Inhalten die individuellen Suchbewegungen der Lernenden zu begleiten, zu unterstützen und zu ermöglichen.6 Damit erfolgt zugleich ein Hinwendung zum einzelnen lernenden Subjekt, was sich in der methodisch-didaktischen Gestaltung von Lernarrangements widerspiegeln sollte. Dies klingt einfach, erfordert jedoch ein völliges Umdenken – nicht nur in hochschulischen, sondern auch in Weiterbildungskontexten – und letztlich einen Wandel von einer Lehr- zu einer Lernkultur. Eine kompetenzorientierte Didaktik »setzt auf eine selbsteinschließende Bewegung der Lernenden, da sie weiß, dass professionelle Autonomie nur in Lernprozessen entstehen kann, die die Selbststeuerung und die Selbstreflexion herausfordern und zulassen« (Arnold, 2015, S. 165). Müller merkt jedoch zu Recht an, dass die Dichotomisierung zwischen Instruktionsund Konstruktionslogik den Blick auf die wesentlichen Fragen verstellt. Denn auch das »selbstgesteuerte Lernen bedarf eines gewissen Maßes an Fremdsteuerung, um überhaupt in Gang zu kommen und auch, um in Gang zu bleiben« (Müller, 2016, S. 159). Es geht somit um Fragen danach, welche didaktisch-methodischen Arrangements sich dazu eignen, »den Freiraum für Selbststeuerung einerseits [zu] eröffnen und [zu] erweitern oder andererseits eher fremdgesteuert (vor-)[zu] strukturieren und [zu] verengen« (S. 159). Schließlich geht es im Kontext hoch6 Über das Lernen Erwachsener als Suchprozess hat Hans Tietgens bereits 1986 geschrieben.

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schulischer und weiterbildender Lernarrangements – und insbesondere auch beim Beratungslernen – darum, sowohl systematisch Überblicks-, Orientierungsund Detailwissen aufzubauen als auch die »Fähigkeiten zu kompetentem Entscheiden und Handeln« zu entwickeln (S. 166). Akademische Professionalität in diesem Verständnis beruht auf fachlicher Expertise und Selbstkompetenz, die gerade in beruflich komplexen Kontexten wie der systemischen Beratung benötigt werden, weil hier der Standardisierbarkeit Grenzen gesetzt sind und Fachkräfte immer wieder »Interpretationsleistungen« für Personen und Situationen erbringen müssen (Baethge, 2014, S. 92). Sie müssen in der Lage sein – wollen sie professionell handeln – mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten umzugehen wie auch neue und innovative Perspektiven zu entwickeln, vorhandene Perspektiven (die eigenen und/oder die von Klientinnen und Klienten) zu überdenken und zu transformieren sowie alternative Perspektiven zu bewerten (Mezirow, 1997, S. 136; Arnold, 2015, S. 161 f.). Die angesprochenen reflexiven Kompetenzen7 zu fördern und in diesem Sinn auch Identitätslernen zu ermöglichen – wie es z. B. im Rahmen der Weiterbildung zum systemischen Berater bzw. zur systemischen Beraterin stattfindet –, lenkt den Blick auf die personelle Rahmung des Lernarrangements. Siebert konstatiert den Bedarf an einer »Bezugsperson« (Siebert, zit. nach Arnold, 2015, S. 165), die vom lernenden Subjekt als relevant erachtet wird, um das Sich­ aus­einander­setzen mit dem je individuellen biografischen Gewordensein wie auch den eigenen Interessen, (Lern-)Zielen und Verhinderungen zu unterstützen. Dies erfolgt über die Förderung von Selbstbeobachtung im Sinn der Beobachtung 2. Ordnung. De Cuvry betont im Zusammenhang mit dem Ziel der Entwicklung reflexiver Handlungskompetenz die Notwendigkeit, zum Beginn des Lernprozesses eine »subjektive Bedarfserhebung […] durchzuführen, um danach subjektorientiert fördern zu können« (de Cuvry, 2002, S. 66).8 Im Rahmen einer solchen Kompetenzanalyse9 werden methodisch unterschiedliche situative (biografisch-orientierte Präsentationen, arbeits- und lebensweltorientierte Fallstudien und Rollenspiele, Kreativübung) und subjektorientierte

7 Mit den reflexiven Kompetenzen ist hier die Fähigkeit »des Überdenkens von Handlungen im Sinne einer kontinuierlichen Überwachung und Regulation« gemeint (Hoidn, zit. nach Arnold, 2015, S. 165). 8 Eine solche Vorstellung findet sich im Konzept der subjektorientierten Professionalisierung wieder, wie es von Marc Weinhardt entwickelt wurde (Weinhardt, 2017, S. 51). 9 Das hier angesprochene Verfahren zur Kompetenzanalyse wurde im Rahmen eines EU-Projekts (Leonardo-Studie) entwickelt, dessen Ziel es war, die durch informelles Lernen entwickelten Kompetenzen von Frauen in strukturschwachen Regionen Europas zu ermitteln und für den (Wieder-)Einstieg in den Beruf nutzbar zu machen (de Cuvry, 2002, S. 67 ff.).

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(Selbstauskunft, Selbsteinschätzung, biografisches Interview, gegebenenfalls Leistungs-, Intelligenz-, Persönlichkeitstests) Instrumente eingesetzt (S. 72 f.). Lernprozesse können  – im Anschluss an konstruktivistische Theorieperspektiven wie auch die Theorie der Situierten Kognition (Müller, 2016, S. 166 f.) – am nachhaltigsten10 unterstützt werden, wenn sie aufgaben- und situationsorientiert erfolgen (Arnold, 2015, S. 43). Wie die sogenannte Harvard-­ Case-Study-Method zeigt (Hammond, 2002), fördert die Auseinandersetzung mit realen Problemstellungen auch die Fähigkeit, »in komplexen Anforderungssituationen nicht nur den Überblick zu behalten, sondern auch eigene professionelle Lösungsstrategien zu entwickeln und zu erproben« (Arnold, 2015, S. 42). Wie aber sollen solche Situationen gestaltet sein? Der bekannte Satz, man müsse die Lernenden da abholen, wo sie stehen, führe – so Müller – vielfach dazu, dass sich die Lernenden langweilen (Müller, 2016, S. 171). Vielmehr gilt das »Prinzip der dosierten Überforderung« als wirksam (S. 171), da offenbar jene Situationen als besonders reizvoll erlebt werden, bei denen eine gewisse Unsicherheit darüber besteht, ob das Erforderte auch getan werden kann. Gleichwohl ist es notwendig, dass einige Teile der Aufgabe bereits beherrscht werden, damit Bearbeitungsversuche nicht lediglich zu einer frustrierenden Erfahrung führen. Diese Anforderung gilt im Rahmen einer kompetenzorientierten Didaktik – außer für das didaktische Lernarrangement an sich – auch für die Entwicklung geeigneter Prüfungsformen. Eine Prüfung müsse »1. eine typische, für den Beruf relevante Situation darstellen, 2. alle Dimensionen beruflicher Handlungen berücksichtigen (in der erforderlichen berufstypischen Ausprägung), 3. Gelegenheit für eine vollständige, in sich schlüssige Handlung bieten« (Hewlett u. Kahl-Andresen, zit. nach Arnold, 2015, S. 41). Diese Erkenntnisse aus der Berufsbildung können auf hochschulische und weiterbildnerische Kontexte übertragen werden. Um nun »passende« Aufgaben11 und Lernszenarien entwickeln zu können, muss es allerdings ein Wissen darüber geben, welche Kompetenzen für ein bestimmtes Handlungsfeld (eine Domäne) bedeutsam und relevant sind, in die mit einem Studium oder einer Weiterbildung eingemündet werden soll.12 10 Reinmann-Rothmeier und Mandl führen mit »aktiv, selbstgesteuert, konstruktiv, situativ und sozial« fünf Prozessmerkmale für ein nachhaltiges Lernen an (zit. nach Müller, 2016, S. 167). 11 Wildt (2011) unterscheidet mit Lernaufgaben, beruflichen und gesellschaftlichen Aufgaben sowie Prüfungsaufgaben drei verschiedene Aufgabentypen und verbindet diese mit dem Konzept des Constructive Alignment (Biggs, 1996). 12 Wie eine solche Kompetenzorientierung auf einer abstrakten Ebene aussehen kann, zeigen die Deskriptoren des Europäischen bzw. auch des Deutschen Qualifikationsrahmens (EQR bzw. DQR), die auf den unterschiedlichen Niveaustufen Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen unterscheidbar beschreiben.

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Kompetenzorientierung meint hier, entsprechende Kompetenzprofile für den jeweiligen Studiengang oder die spezifische Weiterbildung zu entwickeln. Dabei sollte das Kompetenzprofil »überschaubar bleiben und deshalb eine mittlere Komplexität aufweisen (z. B. fünf bis acht Kompetenzbereiche)« und »es muss ›operationalisierte‹ Beschreibungen (sogenannte ›Can Dos‹) beinhalten« (Arnold, 2015, S. 54).13 Die Entwicklung eines studiengang- bzw. weiterbildungsspezifischen Kompetenzprofils ist die erste Stufe, gefolgt von der Planung passender Studienmodule, aus denen heraus wiederum »modulspezifische Kompetenz­ entwicklungsziele und inhaltliche Gegenstandsbereiche« abgeleitet werden können (Kilian, 2017, S. 140). Hinsichtlich der Aufgaben ist bedeutsam, sich an einem »kumulativ-vernetzten Lernen« zu orientieren (S. 155). Das heißt, dass mit den Aufgaben an Vorwissen angeknüpft werden sollte und diese Aufgaben – äquivalent zu den aufeinander aufbauenden Kompetenzstufen – auch einer sich entwickelnden Logik folgen sollten.14 Die Gefahr besteht darin, dass die konzipierten Aufgaben zu viel Strukturierung vorgeben und so Lernprozesse eher begrenzen als sie zu ermöglichen. Bedeutsam ist im Kontext von Beratung – neben der Möglichkeit erfahrungsbezogenen Lernens an sich, wie sie in Form praktisch-konkreter Aufgaben und realer beruflicher Herausforderungen geboten werden – auch insbesondere das Lernen aus Fehlern. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass ein solches Lernen »einen Spezialfall des Erfahrungslernens dar[stellt] und […] sich auf die Konstruktion von Wissen anhand erlebter Episoden« bezieht (Strasser, 2014, S. 203). Solche Erfahrungen der Auseinandersetzung mit kritischen Ereignissen beinhalten ein hohes Maß an emotionalem Engagement und können »einen dauerhaften Einfluss auf die persönliche und professionelle Entwicklung haben« (S. 209). Zusammengefasst kann – im Anschluss an Arnold (2015) – formuliert werden, dass nur solche Lehr-/Lernkontexte Wirksamkeit entfalten, die professionell arrangiert und gestaltet sowie »in denen Erfahrungen mit dem eigenständigen Umgang mit Problemen und offenen Fragestellungen unausweichlich sind« (Arnold, 2015, S. 35). Dabei können die folgenden fünf Elemente als Grund13 Die TU Kaiserslautern zeigt vor allem bei ihren Fernstudiengängen in beeindruckender Form, wie eine solche Kompetenzorientierung im Kontext von Hochschule aussehen kann (DISC TU Kaiserlautern). 14 Hier ergeben sich Anschlüsse an das fünfstufige Modell der Brüder Dreyfus (Dreyfus u. Dreyfus, 1987), wie sich eine Person vom Status der Novizin zur Expertin entwickelt. Rauner setzt dieses Modell im Berufsbildungskontext ein und differenziert u. a. »Stufen und Bedingungen auf dem Weg vom Anfänger zum Experten«, wobei er Situationen, Fähigkeiten und Handlungen unterscheidet (Rauner, 2002, S. 116).

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linien einer kompetenzorientierten (Prüfungs-)Didaktik gelten: »selbstgesteuert: Kompetentes Handeln zeigt sich grundsätzlich in eigener Planung, Initiative und Prozessgestaltung. produktiv: Kompetentes Handeln führt zu Ergebnissen, d. h. komplexeren Bearbeitungen und Gestaltungen. aktiv: Kompetentes Handeln ist proaktiv, nicht nur reaktiv; es fordert den Akteur zur Entwicklung und Begründung eigener Lösungen heraus. situativ: Kompetentes Handeln zeigt sich in der angemessenen und sachgemäßen Bewältigung von – neuen und unerwarteten – Problemsituationen. sozial: Kompetentes Handeln ist vernetztes bzw. kooperatives Handeln; es nutzt Potenziale anderer und ist durch Arbeitsteilung und wechselseitige Unterstützung gekennzeichnet« (Arnold, 2015, S. 28).15

Was bleibt? Aktuelle Herausforderungen und offene Fragen Die Ausführungen zeigen, wie komplex Kompetenzentwicklungsprozesse sind – dies nicht nur aus einer vermittlungsorientierten Perspektive heraus betrachtet. Der Wandel hin zu einer Lernen gestaltenden Sicht ist – so die aktuellen Erkenntnisse – unerlässlich. Dies gilt für alle (weiter-)bildenden Kontexte, in denen Erwachsene bei ihren Lernprozessen begleitet und unterstützt werden sollen – vor allem, wenn es um eine so vielschichtige und anspruchsvolle Tätigkeit wie die des systemischen Beratens/Therapierens geht. Ein solcher Lernkulturwandel beansprucht dabei die ganze Organisation, was nicht zuletzt im Rahmen von Hochschule einige Herausforderungen beinhaltet. Hier ist ein Umdenken notwendig, da aktuelle Bildungstrends, nach Brandt und Bachmann (2014, S. 19 ff.), vier Elemente umfassen, die es im Sinne eines »Sowohl-als-auch« miteinander zu verweben gilt (gemäß Tabelle S. 17): Ȥ das Selbststudium (d. h., Gruppen- und Projektarbeit gewinnen an Bedeutung (»shift from teaching to learning«); Ȥ neue Prüfungsformate (d. h., Prüfungen werden studienbegleitend und kompetenzorientiert durchgeführt (»e-assessment«); Ȥ Entgrenzung (d. h., der gesamte Campus wird zum Lernort (»mobile learning«); Ȥ Virtualisierung (d. h., die virtuelle Komponente wird integraler Bestandteil der Lernumgebung (»virtual learning environment«).

15 Zu den sich jeweils aus den einzelnen Elementen ergebenden Leitfragen siehe auch Arnold, 2015, S. 30.

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Diese Trends gilt es, im Verständnis einer kompetenzorientierten Didaktik – was bedeutet »das angeleitete Selbstlernen der Lernenden in den Mittelpunkt« zu setzen (Arnold, 2015, S. 75)  – mit den Möglichkeiten der Entwicklung von Kompetenzprofilen und dazu passenden Aufgaben und Prüfungsformen zusammenzudenken. Relevant werden dann auch Absolventenverbleibsstudien, da vor allem die grundständigen Studiengänge zumeist polyvalent angelegt sind, wodurch die Entwicklung eines den Studiengängen angemessenen Kompetenzprofils eine besondere Herausforderung darstellt (S. 43) und ohne Wissen über die Einmündungsrealitäten der Studierenden in den Arbeitsmarkt nicht systematisch gelingen kann. Ebenfalls herausfordernd sind die Möglichkeiten und Grenzen der Messbarkeit von Kompetenzentwicklungsprozessen, deren Erforschung multimethodale Designs (Iller u. Wick, 2009) und – letztlich – auch längsschnittliche Zugänge erfordert (Maier-Gutheil, Kade u. Fischer, 2011; Maier-Gutheil, 2015). Dass dem Aspekt der Reflexion(-sfähigkeit) im Zuge von Kompetenzentwicklung sowohl retrospektiv als auch prospektiv eine zentrale Position zukommt, muss nicht gesondert betont werden. Schließlich ist die »Bewusstheit über die eigenen Kompetenzen und das eigene Tun […] Kernelement von Professionalität« (Schiersmann, Petersen u. Weber, 2017, S. 44).

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Zur Diskussion: Entwicklungsdynamik psychotherapeutischer Kompetenzen1

Kleiner Einstieg Wir wissen immer mehr, als wir zu sagen wissen. Dafür gibt es Beispiele nicht nur aus der Supervisionspraxis. Der Wissenschaftstheoretiker Alan Musgrave schilderte 1993 in seinem Buch »Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus« ein drolliges Beispiel: Hühnerzüchter wollen um des Eierlegens willen nur Hennen aufziehen. Küken müssen deshalb im Alter von einem Tag entsprechend sortiert werden, aber die Untersuchung durch einen Tierarzt wäre nicht nur teuer, sondern vor allem zeitaufwendig. Es hat sich nun herausgestellt, dass es bestimmte Leute gibt, die auf Anhieb sagen können, ob es sich um ein männliches oder um ein weibliches Küken handelt. Meist sind das Frauen, aber nicht nur. Alle möglichen Untersuchungen haben bislang nicht herausgebracht, wie sie das machen, und auch sie selbst können es nicht sagen. Aber es klappt. Gleich noch ein ganz anderes Beispiel. Georgios Dontas war Präsident der Archäologischen Gesellschaft in Athen. Er erhielt im Juni 2005 vom GettyMuseum in Los Angeles eine Statuette mit der Mitteilung, die monatelangen High-Tech-Untersuchungen, u. a. mit dem Elektronenmikroskop, hätten ergeben, dass diese Marmorstatuette als echt und als einige Tausend Jahre alt zu qualifizieren sei. Aber als er die Statuette beim ersten Mal erblickte, habe er ein Gefühl gehabt, als sei »eine Glasscheibe zwischen mir und dem Werk«. Andere hinzugezogene Kunstexperten fühlten nur, dass etwas »faul« sei, ohne ihr Unbehagen begründen zu können. Erneute Untersuchungen der Statuette, für die ein Kunsthändler 10 Millionen Dollar verlangt hatte, erwiesen sie schließ1 Anmerkung der Herausgeber: Der Artikel ist ursprünglich im Psychotherapeutenjournal, 4, 2007 erschienen. Der leicht überarbeitete und orthografisch aktualisierte Wiederabdruck in diesem Band erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.

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lich als Fälschung: Innerhalb von wenigen Sekunden war der Kenner zu einem richtigen Urteil gelangt (Klappacher, 2006, S. 50 f.). Beispiele dieser Art werden gerne erzählt, um den Wert der geheimnisvollen Intuition spektakulär zu unterstreichen.2 Damit stellt man die Intuition neben andere Wissenszugänge und verrätselt sie zugleich. Und wir wollen nicht übersehen, dass die Intuition sich ja nur deshalb als wahr herausgestellt hat, weil sie überprüft werden konnte. Aber es gibt Beispiele, die mehr illustrieren, etwas, was der verstorbene Chemiker und Philosoph Michael Polanyi als »Personal Knowledge« (1958/1962) bezeichnete: Die Entdeckung der Relativitätstheorie wird in Lehrbüchern der Physik so dargestellt, dass Einstein 1905 von den Michelson-Morley-Experimenten und deren negativem Ausgang erfahren und die entsprechenden Schlüsse gezogen habe. Diese Experimente basierten auf der Idee, dass die Lichtgeschwindigkeit für einen terrestrischen Beobachter immer die Gleiche sein müsse, egal in welche Richtung das Licht versandt würde. Das war deshalb überraschend, weil man ja annehmen musste, dass es doch immerhin kleine Differenzen gäbe in jener Richtung, in die die Erde sich dreht. Hier hätte sich ein Beobachter ja mitbewegt und folglich hätte die Lichtgeschwindigkeit langsamer sein müssen. Die Ergebnisse des Experiments widersprachen jedoch diesen Erwartungen. Die Geschichte wird so erzählt, dass Einstein vom Scheitern dieses Experiments gelesen habe und daraufhin seine neue Konzeption von Zeit und Raum mit der Lichtgeschwindigkeit als einer Konstanten konzipiert hätte. »But the historical facts are different«, schreibt Polanyi (S. 10) mit Genugtuung. Denn Einstein hatte, wie man seiner Autobiografie sowie weiteren Zeugenberichten entnehmen kann, über diese Frage bereits als 16-Jähriger gegrübelt. Intuitiv, schreibt er dort, sei ihm klar gewesen, dass die Dinge so verlaufen müssten, wie es erst viele Jahre später das Experiment gezeigt habe. Anders als bei der Intuition, die sich in actu und in Echtzeit gegenüber einem Problem vollziehen muss, hatte er »Personal Knowledge« über einen erst sehr viel später experimentell geprüften Sachverhalt. Es gibt ein Wissen außerhalb des wissenschaftlich Geprüften. Polanyi hält es für einen ausgemachten Irrtum, zu meinen, dass Wissenschaft vor allem in 2 Das interessante Buch von Gigerenzer (2007), Direktor des Berliner Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung in Berlin, enthält eine Fülle von Beispielen. Seine Rehabilitation des Unbewussten in der Kognitiven Psychologie freut mich als Mitherausgeber (neben Günter Gödde) eines dreibändigen Werkes über »Das Unbewusste« besonders auch deshalb, weil er mit Begriffen wie »Der unbewusste Schluss« (S. 105) dem Unbewussten damit kognitive Fähigkeiten zuspricht, wie Freud das in der »Traumdeutung« begann, als er davon sprach, dass das Träumen eine Form des Denkens sei (Buchholz, 2005a, 2005b).

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der Prüfung von Aussagen besteht. Für ihn ist der weit wichtigere Schritt die Entdeckung eines interessanten Problems, die sich immer aus persönlichem Wissen ergibt. So sieht es auch der Chemiker Theodore L. Brown (2003). Auch Freud hatte schon seinen Abituraufsatz über das Drama des Ödipus geschrieben. Von vielen weiteren Geistesgrößen wissen wir, dass sie ihr Lebenswerk darauf ausrichteten, Beweise für frühe Intuitionen zu finden. »Personal Knowledge« motiviert die Arbeit der Wissenschaft mehr, als in Poppers Falsifikationismus Platz hat.3 Der Zugang zur Welt, der hier anvisiert ist, liegt vor dem Experiment. Er ist primär in dem Sinne, dass einer ihn haben muss, bevor er sich überhaupt Experimente ausdenken kann. Das hatte Freud in einem Brief aus dem Jahre 1911 hellsichtig formuliert, als er meinte, »dass ich gar nicht für den induktiven Forscher organisiert bin, bin ganz aufs Intuitive angelegt, und dass ich mir eine außerordentliche Zucht angetan habe, als ich mich an die Feststellung der rein empirisch auffindbaren Psychoanalyse machte« (Freud an Jung, 17.12.1911). Die Beschränkung des Wissbaren auf das Sichtbare oder sichtbar zu Machende habe unser Denken verwüstet. Polanyi rückt den Popper’schen Falsifikationismus zurecht, wenn er darauf hinweist, dass Wissenschaftler nicht etwa danach streben, ihre Theorien zu falsifizieren; sie streben vielmehr danach, sie zu belegen, und sind bereit – wenn redlich –, Widerlegungen zu riskieren. Wissenschaftler haben metaphysische Überzeugungen, sie glauben bestimmte Dinge auch dann, wenn sie nicht oder noch nicht bewiesen sind. Solche Weltzugänge zeichnete der 1996 verstorbene Philosoph Hans Blumenberg als unbegrifflich aus. Sie sind Grundlage des wissenschaftlich-begrifflichen Wissens, nicht also etwa dessen Steigerung. Es gibt demnach eine Reihenfolge der Entwicklungsdynamik von der Unbegrifflichkeit zum Begriff. Hier, bei der Unbegrifflichkeit, wären psychotherapeutische Kompetenzen wohl in allererster Linie zu verorten. Dazu will ich einleitend einige Bemerkungen machen, die auf Blumenberg und Michael Polanyi beruhen; dann will ich eine empirische Studie referieren, die, obwohl philosophisch ohne Ehrgeiz, solche Ideen für die Entwicklung psychotherapeutischer Kompetenzen empirisch bestens belegt hat, und schließ3 »Objectivism has totally falsified our conception of truth, by exalting what we can know and prove, while covering up with ambiguous utterances all that we know and cannot prove, even though the latter knowledge underlies, and must ultimately set it seals to, all that we can prove. In trying to restrict our minds to the few things that are demonstrable, and therefore explicitly dubitable, it has overlooked the a-critical choices which determine the whole being of our minds and has rendered us incapable of acknowledging these vital choices« (Polanyi, 1958/1962, S. 286).

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lich Überlegungen einstreuen, was das alles für die Ausbildung von Psychotherapeuten bedeuten könnte.

Unbegrifflichkeit und implizites Wissen Der 1891 in Berlin geborene Michael Polanyi4, 1933 als Folge der Bedrohung durch die Nazis nach England geflohen, dort Professor der Chemie in Manchester, wechselt, nachdem er mehr als 200 naturwissenschaftliche Arbeiten in der Nähe des Nobelpreises veröffentlichte, in seiner zweiten Lebenshälfte auf den für ihn eingerichteten Lehrstuhl für »Social Studies«, ebenfalls in Manchester, wo er, freigestellt von allen Lehrverpflichtungen, seine Arbeiten über die Rolle des impliziten Wissens systematisch weiter zu entfalten beginnt. Leser des Säuglingsforschers Daniel Stern (2004) können sofort Verbindungen erkennen. Stern spricht vom »impliziten Beziehungswissen« als einer empfindlichen Dimension menschlicher Bezogenheit, etwa zwischen Mutter und Säugling. Polanyi hatte das implizite Wissen vor Stern beschrieben und nicht auf menschliche Beziehungen beschränkt, wohl aber das Implizite dort auch gesehen. Polanyi ist ein für unsere Thematik interessanter Autor, weil er von der harten Naturwissenschaft über erkenntnistheoretische Themen bei Grundfragen einer philosophischen Anthropologie und Psychologie ankommt. Für ihn ist Wissenschaft etwas, das nicht durch Regeln (des logischen Schließens oder der Falsifikation etwa) zu verstehen ist, sondern durch einen letztlich nur metaphysisch verstehbaren Glauben an die Existenz einer Wahrheit; Polanyi ist überzeugter Realist und könnte es als ein durch die harte Schule des naturwissenschaftlichen Labors gegangener Wissenschaftler gar nicht anders sein. Aber purer Empirismus, bloße Ansammlung von Daten scheint ihm selbst im Labor sinnlos, wenn nicht ein Forscher dabei ist, der Muster oder Gestalten zu erkennen in der Lage wäre. Ohne das, was Kant Urteilskraft genannt hatte, könnten Daten nicht in Ordnungen gebracht, Gestalten nicht wahrgenommen und Muster nicht mit anderen Mustern verglichen werden. Wissenschaftstheorie ist für ihn deshalb vor allem als Wissenschaftspsychologie zu betreiben. Interessanterweise erläutert Polanyi das am berühmten Menon-Paradox aus dem Gespräch des Sokrates mit jenem Menon. Sokrates erläutert dem verblüfften Schüler, wie der Mensch denn etwas entdecke: Wenn er es schon weiß, dann sucht er es nicht, denn er kennt es ja schon. Wenn er aber gar nichts davon 4

Über dessen Biografie und Philosophie informieren Scott und Moleski (2005) sowie Mitchell (2006).

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weiß, dann weiß er auch nicht, worauf er seine Suche richten soll und entdeckt es auch nicht, selbst wenn er es vor der Nase hätte. Und Polanyi fügt hier an: »Aber wie kann man ein Problem erkennen, ein beliebiges Problem, ganz zu schweigen von einem guten und originellen? Denn ein Problem sehen heißt: etwas Verborgenes sehen. Es bedeutet, die Ahnung eines Zusammenhangs bislang unbegriffener Einzelheiten zu haben« (Polanyi, 1985, S. 28). Und diese Ahnung bezeichnet Polanyi als implizites Wissen. Man muss – eben wie Einstein oder Freud oder der Archäologe oder die Hühnerzüchter – etwas schon wissen, damit man es auch »sehen« kann.5 Das macht verständlich, wie wir neuen Situationen begegnen und sie als neu erkennen, obwohl wir sie auf der Grundlage eines alten, schon verfügbaren Wissens bewältigen. Nichts anderes beschreibt das Konzept der Übertragung.6 Der neue Gesprächspartner, eine Therapeutin oder ein Therapeut, wird als fremd und neu erlebt, aber auf der Grundlage schon verfügbaren Wissens und Erlebens wird das bewältigt. Deutlich wird die therapeutische Situation beschrieben: eine Entdeckung machen, von der ein uns aufsuchender Mensch noch nicht einmal eine Ahnung hat. Wegen der genau er aber kommt – obwohl er das nicht sagen könnte! Eine Entdeckung, die ein Therapeut aber auch noch nicht wissen, sondern allenfalls ahnen kann, und die wir verhindern, wenn wir mit zu viel Theorie oder mit zu viel Kompetenzüberlegenheit die Erfahrung indoktrinieren oder wenn wir reduktionistisch die »Störung« »erklären« würden – wir würden epistemisches Wissen anbringen und das macht – das kann ich jetzt metaphorisch sagen – in der Behandlungssituation nicht satt. Bemerkenswerterweise heißt Polanyis Buch im Englischen »The Tacit Dimension« – als hätte er den Wert des therapeutischen Schweigens schon würdigen können. Freud hatte für das Zuviel an Reden den schönen Vergleich, dass wir in Zeiten der Hungersnot nur Speisekarten ausgeben würden. Implizites Wissen, das von Polanyi auch als »stilles« handwerkliches Können etwa im 5 Davon liefert ein sehr schönes Beispiel der Schriftsteller Martin Mosebach in seinem Roman »Das Beben« (2005, S. 158). Der Ich-Erzähler kommt nach Indien ins kleine Königreich Sanchor, wo ihm das Staatsarchiv gezeigt werden soll; der Brahmane fragt ihn »Was wünschen Sie zu sehen?« und dann schreibt Mosebach: »Seine Frage allein war ein Tadel. Er sprach damit zugleich aus, dass ich ehrlicherweise hätte zugeben müssen, nicht zu wissen, was hier sehenswert sein könne. Was wusste ich über Sanchor? War ich Staatsökonom oder Historiker? Was ging mich die Rechnungslegung des Finanzministeriums von Sanchor an? Mein Schweigen erkannte er hoffentlich als Zeichen gebotener Bescheidenheit.« 6 Übertragung und Widerstand werden neuerdings auch von Verhaltenstherapeuten als behandlungsrelevant reklamiert: »As in other therapies, the behaviour therapist may be faced with phenomena such as resistance or transference« (Emmelkamp, Vedel u. Kamphuis, 2007, S. 65). Allerdings informiert man sich über diese beiden Konzepte doch besser an der Quelle. Erfreulich, dass diese Dimensionen des Therapeutischen anerkannt werden.

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Labor angesprochen wird, wäre jene Dimension therapeutischer Kompetenz, die wir als paradoxe Form der Teilhabe ansprechen: Nur dort, wo ein Therapeut auch Patient in dem Sinne sein kann, dass er etwas in sich entdeckt (Polanyi spricht von »indwelling«), das dem Leiden seines Patienten nahe kommt, das er näherungsweise aus eigener Erfahrung kennt, kann er in hilfreichen Kontakt treten; implizites Wissen ist unverzichtbare Basis therapeutischer Kompetenz. Auch der Philosoph Hans Blumenberg (2007) könnte dafür in Anspruch genommen werden, die Unbegrifflichkeit als Basis des Begreifens auszuweisen. Blumenberg weiß, dass Begriffe mehr sind als bloß Bezeichnungen für Sachen, dass sie oft genug Gegenstände erst schaffen – und das gilt namentlich für Gegenstände der Mathematik. Es geht also nicht nur um psychotherapeutische, es geht um wissenschaftliche Operationen schlechthin! Und dabei kommt der Begriff des Unbewussten auf eine beachtliche Weise ins philosophische Spiel: »Ich meine noch einen anderen Sachverhalt, der sich dadurch von dem der Erzeugung mathematischer Begriffe unterscheidet, dass er einen Zugang in die Empirie eröffnet. So etwas ist der Begriff des Unbewussten. Wenn man darüber nachdenkt, wie der Begriff zu Stande gekommen ist und wie er sich geschichtlich transformiert hat, kommt man aus dem Staunen darüber nicht heraus, wie zeugungskräftig eine solche begriffliche Prägung sein kann. Es sieht wirklich so aus, als läge hier zunächst nur ein Wort vor, welches überhaupt keine Hilfe anbietet, einen Gegenstand, einen Sachverhalt, einen Prozess zu erfassen. […] Das Unbewusste wird in vergleichbarer Weise erschlossen, wie Kant es für die Freiheit behauptet hatte:« (Blumenberg, 2007, S. 40 f.). Aus der philosophischen Perspektive Blumenbergs erhält die Idee des Unbewussten, als einer relevanten Wissensdimension, Auftrieb. Wissenschaftler verarbeiten nicht nur Informationen, was die immer noch gängige Annahme in weiten Teilen der Cognitive Sciences ist, sondern sie »sehen« – wenn man auf den genauen metaphorischen Klang dieses Wortes hier hört – ganzheitliche Zusammenhänge.

Die überlegene Intelligenz des »Gelehrten Säuglings« Sowohl Polanyi als auch Blumenberg haben recht mit der Idee, dass dem wissenschaftlich-begrifflichen Denken etwas als dessen Basis vorausgeht. Francisco J. Varela ist wohlbekannter Biologe und Kybernetiker, der 1990 ein Buch über »Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven« publizierte. Darin fasste er aktuelle Trends zusammen und suchte nach Lösungen für bestehende Schwierigkeiten in diesem Feld. Er zeichnet nach,

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wie Kognitionswissenschaftler die Fähigkeit von Neuronengruppen zur Selbstorganisation nachzubilden versuchten; dies aber weniger technisch, sondern vor allem mathematisch. Dabei stößt er auf die Schwächen des Computermodells, die er genau beschreibt: »Das Ergebnis der Erfahrungen in den ersten beiden Dekaden der Herrschaft des Kognitivismus lässt sich am besten in der folgenden Überzeugung formulieren, die schrittweise in der Forschergemeinschaft entstanden ist: Es ist notwendig, die Position des Experten mit der des Kindes zu vertauschen, was die Rangfolge der Leistungen angeht. Die ersten Versuche richteten sich auf die Lösung der allgemeinsten Probleme, etwa der Übersetzung natürlicher Sprachen oder der Konstruktion eines allgemeinen Problemlösers. Alle diese Versuche zielten auf die Objektivierung der Intelligenz eines Menschen, der ein hochausgebildeter Experte ist, also auf die Lösung der interessanten, ›harten‹ Probleme. In dem Maße, in dem diese Versuche bescheidener und begrenzter wurden, wurde klar, dass die weitaus komplexere und grundlegendere Art der Intelligenz die des Kleinkindes ist, das Sprache aus fragmentarischen alltäglichen Äußerungen aufbauen und dort bedeutsame Gegenstände konstruieren kann, wo es nichts als eine Lichterflut zu geben scheint« (Varela, 1990, S. 56 f.). Das ist das, was Wilfried Bion 1971 die »embryology of the mind« nannte und es ist die genaue Analogie zu Blumenbergs »Unbegrifflichkeit«: Wer mit »hochausgebildetem Expertentum« auf dem Level des Begriffs beginnt, ignoriert, was schon Kleinkinder können: unbegrifflich denken und unbegrifflich sein (nicht aber: unbegreiflich!). Und er macht den Denkfehler, den Wittgenstein in den »Philosophischen Untersuchungen« am Beispiel des Spracherwerbs untersuchte. Kinder lernen Sprache nicht, indem man auf Dinge zeigt und ihnen dann die bezeichnenden Worte vorspricht. So lernt man allenfalls zweite Sprachen, Fremdsprachen. Erste Sprachen werden als Mitglied einer Lebensform gelernt – und dann ganz »nebenbei« (Tomasello, 2001, 2003). Teilhabe an der Lebensform aber ist basaler als das Begriffliche, es ist vor allem »embodied« und es ist an Situationen gebunden. Daraus erst das Begriffliche erwachsen zu lassen, ist das, was die »grundlegendere Art der Intelligenz« von Kleinkindern vermag. Just das hatte Ferenczi gemeint, als er (1923) in seinem berühmten Aufsatz vom »gelehrten Säugling« sprach. Wir können ermessen, welche verheerenden Folgen es hätte, wenn wir die Psychotherapie von dieser Dimension des impliziten Wissens entsorgen würden.

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Knowledge und Knowing Weil diese Frage so elementar ist, will ich mich noch etwas bei Polanyi aufhalten, mit dem Ziel, verschiedene Wissensformen genauer fassen zu können. Polanyi, wenn er absoluter Realist ist, dann ist er auch, in den Worten von Douglas Hofstadter, »holist par excellence« (dazu Klappacher, 2006). Was Wissenschaftlern einleuchtet, ist nicht einzelnes Faktum oder ein aufgestellter Satz, sondern ein System von Sätzen. Was wir im Deutschen als »Wissen« übersetzen müssen, wird bei Polanyi unterschieden in »knowledge« und »knowing«. Ersteres meint jenes sagbare, formulierbare und mitteilbare Wissen, das in die Lehrbücher eingeht; Letzteres den Prozess der Generierung von Wissen, der dem Lehrbuchwissen weit vorgelagert ist. Knowing ist keine Begrifflichkeit der Repräsentation; implizites Wissen besteht für Polanyi nicht aus mental repräsentierten Regeln, die – etwa in Manualen – formuliert werden könnten, um von anderen dann mit gleichen Ergebnissen angewandt werden zu können. Er stellt sich das eher vor wie das Erlernen des Fahrradfahrens. Nur ein zerstreuter Professor würde es versuchen, indem er Gesetze der schiefen Ebene und des freien Falls anwendet. Für Polanyi ist Knowing immer ein Embodied Knowing. Ohne das handwerkliche Geschick des versierten Labortechnikers, ohne das Feingefühl fürs Material könnte sich jener Sinn für Situationen nicht entfalten, den ein guter Wissenschaftler braucht. Knowing – das ist eigentlich ein Können7, das wir zwar im Nachhinein (!) als »Wissen« in manchen Fällen zu rekonstruieren vermögen, das aber nicht von vorneherein als Wissen auch im Kopf desjenigen vorhanden ist, dem wir Können zusprechen. Können ist, wie Donald Schön (1983) immer wieder beschrieben hat, dynamisch; Knowledge ist statisch. Wer etwa über die Fähigkeit, unabhängig zu denken, verfügt, könnte hergehen und die Eigenschaften des unabhängigen Denkens beschreiben, anhand von Vorbildern wie Montaigne, Lessing, Friedrich Schlegel oder anderen (Bohrer, 2007). Aber keiner könnte aus diesen Eigenschaften das zusammensetzen, was unabhängiges Denken meint. Und selbst wenn man das könnte, wäre es genau das nicht, sondern nur die Kopie von unabhängigem Denken. Das also ist das, was mit dynamisch gemeint ist. Psychotherapeutische Kompetenz sich als Wissensanwendung vorzustellen, entspringt somit (Klappacher, 2006, S. 24) einem Kategorienfehler. Wer sich gekonnt verhält, tut das nicht deshalb, weil er ein Set von Regeln schon im Kopf hätte, sondern weil er sich so verhält, als ob er diese Regeln im Kopf hätte. Eben 7 Ich habe in meinem Buch »Psychotherapie als Profession« (1999) das Können als die zentrale Dimension psychotherapeutischer Kompetenz in einigen Dimensionen detailliert beschrieben.

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deswegen tun sich Profis, wie der Athener Archäologe, so schwer damit, ihre Wissensbasis zu explizieren. Sie haben einfach »ein Gefühl« (so sieht es auch Gigerenzer, 2007) und wollen ansonsten in Ruhe gelassen werden. Können, so dürfen wir festhalten, ist verkörpert, es ist dynamisch und es ist situiert. Damit kann es auch als flüchtig bezeichnet werden. Genau das macht die Situation des professionellen Psychotherapeuten aus. In seiner Arbeit verhält er sich, als ob er Regeln folge und »knowledge« anwende, während er wahrscheinlich viel mehr von dem, was Polanyi als »knowing« bezeichnet, betreibt. Er ist körperlich präsent und folgt den Signalen seines Körpers, er handelt in Situationen und er kann das nur, soweit er im Fluss der Ereignisse mitschwimmt, also soweit er sich dynamisch einstellt. Aus der hier entwickelten Sicht wäre somit der Versuch, Psychotherapie zu manualisieren, ein schwerer Fehler, weil damit das Können des Psychotherapeuten einem fremden Regime, dem statischen Knowledge, unterworfen würde. Das statische Knowledge wird auch als epistemisches Wissen bezeichnet. Zwischen epistemischem Wissen und Können lässt sich noch das Alltagswissen verorten (Huppertz, 2006). Epistemisches und Alltagswissen sind hochgradig symbolisch, etwa in Wissenschafts- und Alltagssprache, das Können hingegen weit weniger. Alle drei weisen unterschiedliche Grade der Systematisierung auf, aber auch unterschiedliche Kontextabhängigkeiten. Epistemisches Wissen ist hochsystematisiert und kontextunabhängig, Können hingegen ist immer gering systematisiert, situativ variabel und damit kontextabhängig. Epistemisches Wissen besteht lange in der Zeit und wird regelgeleitet verändert, während Alltagswissen sich schleichend verändert und Können selbst flüchtig, an Situationen gebunden ist. Therapeutisches Können ist abhängig davon, dass man einem wirklichen Patienten gegenübersitzt, dass ein echtes Anliegen zur Sprache kommen kann etc. Deshalb ist therapeutisches Können schwer in epistemisches Wissen zu übersetzen. Und schließlich erfordern alle drei Bereiche unterschiedliche Weisen des Lehrens: Epistemisches Wissen kann explizit im Abgleich von Empirie und Theorie vermittelt werden und hier können Formen des Massenunterrichts angewandt werden, etwa in Vorträgen, Seminaren oder mittels Medien. Wissen kann gelehrt werden, Erfahrungen muss man machen. Alltagswissen hingegen braucht partiell die persönliche Anleitung durch eine Art Vorbild (Kochen lernen oder wie man Fremden höflich begegnet), aber auch Ausbildung eines Sinns für Situationen, etwa wann man einen Witz erzählen kann oder wann man das besser lässt, mit wem man klatscht oder wie man flirtet. Epistemisches Wissen, das auf Vereindeutigung drängt, wäre in solchen Alltagssituationen ganz falsch; wer fragt, was ein zugeworfener Blick bedeutet, zerstört die Situation. Aus diesem Grund scheitern alle Ratgeber, »wie man eine

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Frau anspricht« – die dort formulierten Regeln artikulieren ein epistemisches oder Alltagswissen, das in solchen Situationen gerade nicht gebraucht wird, weil es auf Embodied Knowledge ankommt.

Stufen des Könnens – Verzicht auf Regeln Können erwirbt man nur durch eigene Praxis, durch Versuch und Irrtum, durch Herausfinden der Regeln und deren Ansammlung zu einem Erfahrungsschatz an Daumenregeln, an Heuristiken. Solcherart erworbene Regeln können nur im Nachhinein reflektiert werden. Dabei kann man sich täuschen, wenn man meint, man habe Regeln »angewendet«. Hier gilt, dass Können immer nur so aussieht, als ob es von Regeln geleitet sei, die dann nachträglich rekonstruiert wurden. Aber wenn man Können allein von Regeln her aufbauen wollte, würde man scheitern. Das gilt sowohl für das gekonnte Öffnen einer Weinflasche, für das Binden von Schnürsenkeln, das Lernen eines Musikinstruments oder für das gekonnte Beginnen eines schwierigen Gesprächs. Wer das nur (!) aus Regeln – also ohne eine hilfreiche Veranschaulichung in einem Lehrer-Schüler-­ Verhältnis – lernen wollte, würde scheitern. Es braucht das Embodiment, das körperliche Gefühl für Zugnotwendigkeit, Kraftaufwand und Widerstand am Korken, für den Eigensinn des Schnürsenkels, für die Handstellung beim Musikinstrument, für die Präsenz des anderen. Kompetenzerwerb braucht manchmal Stützen, doch das sind nur Etappen auf dem Weg zum Können. Können, also implizites Wissen, also Kompetenz, baut sich auf in Stufenprozessen. Dafür hat man sich in der Pädagogik sensibilisiert. Dort interessieren Fragen, die für psychotherapeutische Weiterbildung etwa so gestellt werden könnten: Wenn ein Supervisand Fortschritte in einer Supervision macht – wie kann man das verstehen? Ist es so, dass er am Ende der Supervision jenes Wissen in seinem Kopf hat, das vorher im Kopf des Supervisors war? Kann man sich das so vorstellen? Der Sinn einer solchen Frage liegt natürlich darin, sie zu verneinen, aber wie dann? Selbst wenn der Supervisand gleiche Begriffe benutzen würde wie der Supervisor – wäre das vielleicht Indiz für gleiches Wissen (Knowledge), aber müssten wir nicht auf Knowing hinaus? Das Konzept eines impliziten Wissens trägt hier weiter – gute Supervision muss nicht nur Knowledge vermitteln, sondern implizites Wissen fördern. Georg Hans Neuweg (2004) verweist auf Bereiche der Pädagogik, die uns belehren können, etwa durch Experten-Novizen-Vergleiche. Es gibt sogenannte »nichtsaliente« Lernaufgaben, die sich nicht durch Verfügung über Information auszeichnen, sondern in der Bewältigung einer Handlungsaufforderung.

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Übersetzungsaufgaben gehören dazu, aber auch der Vergleich zweier Bilder, die Fähigkeit, ein Interview zu führen oder ein Stück nach Noten vom Blatt zu spielen. Wer prüfen will, ob einer das kann, wird sich nicht Regeln erklären lassen, sondern den Probanden in eine entsprechende Situation führen. Hier gilt Wittgensteins Maxime: »Denk nicht, schau!« Die Tatsachen und Faktoren sind in solchen Situationen unvollständig, sogar mehrere Muster können gesehen, verschiedene Ziele angesteuert werden; auch ist nicht ganz klar, welche Informationen relevant sind und welche vernachlässigt werden können. Können besteht sogar zu einem Teil darin, Information zu ignorieren! (Und natürlich gekonnt zu wissen, welche). Das ist der Fall etwa beim Treffen von Kaufentscheidungen, beim Schachspiel (das Freud als Vergleich für die Psychoanalyse diente) oder beim Autofahren. In all diesen Situationen gibt es zwar ein bestimmtes Set von Regeln wie in der Erhebung einer Anamnese in den Anfangssituationen einer psychotherapeutischen Behandlung – aber der Weg vom Novizen zum Könner besteht gerade darin, diese Regeln irgendwann hinter sich zu lassen. Überall gilt, dass Könner Regelwissen hinter sich lassen, freilich erst, wenn sie lang genug mit verschiedenen Fällen zu tun hatten: »Die bewusste Verarbeitung isolierter Elemente und Regeln, die die ersten Lernstadien kennzeichnet und die sich in Computerprogrammen objektivieren lässt, wird allmählich durch ein nur durch den Menschen aneignenbares holistisches Wahrnehmen ganzer Situationen, durch ›situatives Verstehen‹ ersetzt, wobei schließlich in der Situation die adäquate Verhaltensweise gleichsam schon mitgesehen wird. Diese Fähigkeit kann nur in einem Prozess ausgedehnter Erfahrung erworben werden« (Neuweg, 2004, S. 298). Die Stufen dieses Prozesses gibt Neuweg unter Verweis auf verschiedenste Lern-/Lehrereiche so an: In einem ersten, dem Novizenstadium, wird der Lernende mit gleichsam »schriftlichen« Instruktionen ausgestattet. In einem Prozess bottom-up lernt der Novize jene abstrakten Merkmale kennen, die eine Aufgabe bestimmen. Diese Merkmale sind nichtsituational; sie erfordern gerade nicht, dass der Lernende sich auf die Situation einlässt. Solange er die Merkmale nur einzeln wahrnimmt, erschließt sich dem Lernenden die Gesamtstruktur der Situation gerade nicht und ebenso wenig, dass die Bedeutung der einzelnen Merkmale sich erst aus der Wahrnehmung der Gesamtgestalt ergibt. Der Lernende, etwa ein Fahrschüler, lernt kontextunabhängige Regeln. Charakteristischerweise müssen Leute, die dieses Stadium längst hinter sich gelassen haben, sich angestrengt daran erinnern, welchen Regeln sie eigentlich folgen – so haben etwa Krankenschwestern, bei denen jeder Handgriff längst »sitzt«, Mühe, diese Schritte zu lehren.

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Im Stadium des fortgeschrittenen Anfängers begreift der Lernende die Wiederkehr einzelner bedeutungsvoller Elemente, die nicht über präzise Definitionsregeln erfassbar sind, sich deshalb auch nicht eindeutig lehren lassen, sondern voraussetzen, dass der Lernende sich im Problemfeld schon länger aufhält. Dazu gehören etwa die Fähigkeiten von Hundehaltern, verschiedene Arten des Bellens zu unterscheiden, oder das, woran wir erkennen, dass ein anderes Auto, das auf eine Kreuzung zufährt, halten wird. Solche Momente werden als physiognomische Elemente bezeichnet, weil sie das »Gesicht« einer Situationsgestalt erfassen. Hier müssen Lernende auf präzise Definitionen situationaler Aspekte geradezu verzichten, man muss an Beispielen lernen. Der Lernende bleibt aber gleichsam »Pedant« (S. 306), weil er sich noch arg an Regeln hält – selbst dann, wenn die Gesamtsituation eigentlich den Regelverstoß verlangt. Deshalb ist die zentrale Errungenschaft der dritten Stufe das Kompetenzstadium. Hier begreift der Lernende, dass er mit einer Perspektive an die Situation herantreten muss, die gestattet, die einzelnen Aspekte und physiognomischen Elemente nicht mehr absolut zu nehmen, sondern zu gewichten – aus der perspektivischen Betrachtung der Gesamtgestalt heraus. Autofahrer wollen an einem Ziel ankommen und erwägen verschiedene Wege, beschleunigen kurz vor dem Rotwerden der Ampel noch rasch etc. Aber der Lernende benutzt immer noch ein Kalkül, auch wenn sein emotionales Involvement schon weit höher ist und als solches bemerkt wird. Denn er fühlt sich verantwortlich, auf ihm lasten Folgen von Entscheidungen. Im Stadium des gewandten Könnens erkennt der Lernende Situationen als Ganzes, erwirbt mit der Fähigkeit zum Handeln aus einer gewählten Perspektive entschieden Urteilskraft; er durchdenkt Situationen nicht mehr sequenziell Step-by-Step, sondern handelt auf der Basis holistischen Erkennens von situativen Ähnlichkeiten, so wie wir Gesichter erkennen, nämlich ohne die Merkmale im Einzelnen zusammenzufügen. Der Lernende hat eine Vorstellung über den erwartbaren, »normalen« Ablauf der Dinge, bei dem kein Eingreifen erforderlich ist, und gestaltet damit intuitiv Erwartungen (S. 309) weiter aus. Er folgt weniger präzisen Regeln als offenen Maximen. Ein guter Lehrer erkennt sofort, wenn die Arbeit einer Schülerprojektgruppe nicht »läuft«, muss aber auf diesem Niveau noch überlegen, wie er eingreift. Wer zu dieser Stufe gelangen will, kann nicht mehr durch Begrifflichkeit, Analyse und Verbalisierung unterrichtet werden; er muss vielmehr an prototypischen Situationen lernen. Im Fall der psychotherapeutischen Weiterbildung käme hier die Konfrontation mit Fallbeispielen ins Spiel, die in Vieldeutigkeit und Detailliertheit alltäglichen Situationen real vergleichbar sind. Hier auf

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kontextfreies Regelwissen oder auf Anwendung allgemeiner Theorien zu rekurrieren, würde Lernende, die diese Stufe erreicht haben, nur frustrieren. Im fünften Stadium des Könnens, Intuitives Handeln, wird die Antwort nun gleichsam automatisch ausgelöst. Nicht mehr auf Elemente wird regelgeleitet reagiert, sondern Elemente haben sich zu komplexen Situationen und Klassen von Situationen gruppiert, für die Handlungsalternativen und Antworten zur Verfügung stehen, die bildhaft und nicht begrifflich (S. 311) im Gedächtnis aufbewahrt sind. Auf dieser Stufe entfällt strategisches Planen, weil es Antipode zum Intuitiven Handeln wäre, dem jetzt viel mehr zugetraut wird. Das physiognomische Erkennen von Situationen, das verkörperte Wissen, die situative Teilhabe ermöglichen intuitiv richtiges Reagieren unter Verzicht auf sämtliche relevanten Informationen; die Situation als Ganzes wird erkannt. Aber Könner analysieren Situationen natürlich dennoch, nämlich genau dann, wenn sie bemerken, dass sie für bestimmte Situationen keine Könner sind. Sie oszillieren dann zu den Modalitäten früherer Stufen zurück, weil sie ihre Kompetenzgrenzen erkennen und sich in jedem Fall wieder auf das höchste Niveau bringen wollen. Sie iterieren den Prozess der Könnerschaft immer erneut und immer gekonnter. Könner wissen um etwas, das Polanyi so ausgedrückt hat: »We alone can catch the knack of it; no teacher can do this for us« (Polanyi, 1969, S. 126). Nicht Planung für die Zukunft, sondern das Erkennen der Rolle der Gegenwart ist hier einer der entscheidenden Lernschritte. Diese »Zielorientierung des Handelns ohne bewusste Zielsetzung«, wie Neuweg (2004, S. 312) das paradoxale Moment genau beschreibt, kommt dem psychotherapeutischen Kompetenzerwerb sehr nahe, was aufregend deshalb ist, weil in diesem Modell ganz andere Lernentwicklungen zu Könnerschaften beschrieben werden. Dies Modell ist für nicht-psychotherapeutische Situationen entwickelt und gilt dennoch für den psychotherapeutischen Kompetenzerwerb genau: »Der Handelnde steht nicht über, sondern in der Situation, distanziert sich nicht von, sondern verschmilzt mit ihr. Sein Sinn für Abweichungen von der befriedigenden Gestalt wirkt unmittelbar handlungsauffordernd, ohne dass Sollgestalten als Ziele oder Pläne als Transformationsprozesse dazwischengeschaltet wären« (S. 312). Wir erkennen einen möglichen Fehler mancher psychotherapeutischer Ausbildungsideale: Es könnte falsch sein, wenn wir Weiterbildungsteilnehmern das Ideal, über den Situationen zu stehen, beibringen; richtiger wäre zu würdigen, wie sehr sie in den Situationen stehen. Und dass gerade darin ihre Chance zu intuitiver Kompetenz und angemessenen Antworten liegt! In der Situation sein und aus ihr angemessen zu handeln, würde »moments of meeting« (Stern, 2004)

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mit Patienten ermöglichen, die ihren Therapeuten vergeblich suchen, wenn er über der Situation schwebt.

Beziehung und Technik In meinem Buch »Psychotherapie als Profession« (1999) habe ich beschrieben, wie »Beziehung« und »Technik« Umwelten füreinander bilden. Ich hatte einmal Gelegenheit, solche Themen mit einer systemischen Kollegin zu diskutieren. Sie meinte, die systemische Fragerichtung helfe ihr da immer gut weiter. Man könne etwa depressive Patienten fragen, wann sie denn nicht depressiv seien. Ich kannte die Kunstfertigkeit systemischen Fragens, aber ich wandte aus meiner klinischen Erfahrung ein, meine depressiven Patienten würden, zumindest in den anfänglichen Stadien, eine solche Frage eher als Kritik auffassen, würden sich verprellt fühlen oder dergleichen. Dem stimmte die systemische Kollegin zu und wir klärten, dass solche Fragen dennoch Sinn machen, wenn sie eingebettet sind in ein konversationelles »soft environment«. Solche Fragen kommen an, wenn sie »weich« gestellt werden; der Therapeut zeigt gerade in seinem einleitenden Gestotter und Gestammel, an der Art, wie er die Technik platziert, an welcher Stelle des Gesprächs er sie ein- und anbringt, wie viele Anläufe und Reformulierungen er macht, genauen intuitiven Sinn für die Beziehungsgestaltungsbedürfnisse seiner Patienten. Leider ist diese wechselseitige Einbettung von Behandlungstechnik und Beziehungsgestaltung, dieses psychotherapeutische Pendant zu epistemischem Wissen und professionellem Können, mikroanalytisch bisher wenig studiert worden. Und hier liegt der Ursprung von Kategorienfehlern einer empirischen Forschung, die nur person­ unabhängige Technik evaluieren will. Es gibt ein System der Behandlungstechnik, das man beschreiben und sogar evaluieren kann, und es gibt ein beschreibbares Beziehungssystem. Das System der Technik findet man am ehesten in Lehrbüchern, das System der Beziehungen kann man beispielsweise entdecken, indem man auf die Gesichtsmimik von Therapeuten und Patienten schaut. Ich denke nicht nur an die Untersuchungen von Rainer Krause (Krause, 2002, 2005, 2009). Ich denke an die Arbeiten von Schwartz und Wiggins (1987) über die Fähigkeit von Therapeuten, das Suizidrisiko bei Patienten einzuschätzen, die gerade wegen eines misslungenen Suizidversuchs stationär aufgenommen worden waren. Befragt man die Therapeuten mit Fragebögen nach einem Interview mit solchen Patienten, dann ist ihre verbal-epistemische Kompetenz, einen zweiten Suizidversuch vorherzusagen, nicht besonders gut. Videografiert man aber die Gesichtsmimik der Therapeu-

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ten während des Interviews, dann werden die Trefferquoten sehr gut. Auf ihrem Gesicht zeigt sich, dass sie bei wirklich Gefährdeten sehr viel mehr Besorgnis erkennen lassen als bei geringer suizidalen Patienten. Das ist eine unbegriffliche Beziehungskomponente, nicht Anwendung von Theorie, sondern implizites Wissen. Nachträglich kann man eine Theorie aufstellen, aber sie kann unmittelbar nicht angewendet werden, weil es gerade auf die unbewussten Fähigkeiten von Therapeuten ankommt, sich für solche Dinge zu sensibilisieren. Es gibt Vergleichbares auf der Ebene des Sprachlichen, etwa bei gemeinsamen Fehlleistungen oder wenn Therapeuten absichtslos Worte verwenden, die fulminante Wirkung haben. Die Theorie kommt erst hinterher. Dies alles läuft (Buchholz, 2006) auf einer prozessualen Ebene ab. Der Prozess, das ist alles, was im Behandlungszimmer geschieht. Die prozessuale Ebene ist unterlegt von einer basalen Ebene, von kleinen alltäglichen Voraussetzungen, die wir zum Prozess mitbringen müssen. Etwa, dass wir nicht übermüdet sind, aufmerksam und einigermaßen ausgeglichen. Auf der prozessualen Ebene muss etwas entscheidend deutlich werden. Die einzelnen kommunikativen Operationen nämlich müssen so aneinander anschließen, dass deutlich wird, hier findet Therapie statt und nicht etwa »Flirt« oder »Kaffeeklatsch« oder einfach Gequatsche. In der Medizin gibt es grundsätzlich das gleiche Problem, aber Kontextmarkierungen wie der weiße Kittel machen sichtbar, dass hier medizinische Untersuchung stattfinden soll – und nichts anderes. In der Psychotherapie müssen Kontextmarkierungen kommunikativ gesetzt werden. Aus empirischen Untersuchungen (Wolff u. Meier, 1995) weiß man, dass Therapeuten bei ihren Antworten etwas länger zögern, bis sie sprechen, und eine solche Verzögerung würde im Alltag kaum toleriert; aber hier handelt es sich um einen anderen Kontext, der durch solche Markierungen deutlich gemacht wird. So kommt es vor, dass Therapeuten am Ende eines Erstgesprächs von ihren Patienten so etwas hören wie: »Vielen Dank!« Die Reziprozitätserwartungen des Alltags würden erfordern, mit »Gern geschehen«, »nichts für ungut« oder ähnlich zu antworten. Auswertungen haben gezeigt, dass das so gut wie nie vorkommt. Therapeuten schauen vielmehr ihre Patienten meist schweigend und bedeutungsvoll an, nicken leise mit dem Kopf und machen deutlich, dass sie auch diese Bemerkung ihrer dankbaren Patientin mit in ihre Überlegungen einbeziehen. Sie gestalten auf diese Weise mit implizitem Wissen eine Beziehung, den allermeisten wahrscheinlich ziemlich unbegrifflich und unbewusst. Sie nutzen das nicht als Technik, sie wenden dazu keine Theorie an. Es ist Teil professioneller Habitusformation, in deren Umwelt dann Theorie vorkommt. Solche Kontextmarkierungen machen Therapeuten aller Schulen individuell varianten-

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reich, aber dennoch so, dass man sagen kann, solche professionelle Habitusformation kommt in der Umwelt der Theorie vor. Theorie und Habitus bilden Umwelten füreinander. Wie solche Habitusformation ausgebildet wird, dazu gibt es die wunderbare Studie von Orlinsky und Rønnestad (2005). Diese Autoren haben an 5.000 Therapeuten der ganzen Welt und ganz verschiedener Schulen gezeigt, dass es für die Entwicklung von Therapeuten Zeit braucht. Sie beobachten, dass der Entwicklung von Psychotherapeuten wenig Aufmerksamkeit gezollt wurde: »As a rule, the study of psychotherapies has been favored over the study of psychotherapists – as if therapists, when properly trained, are more or less interchange­ able« (S. 5). Dieses Manko soll nun beseitigt werden, aber dazu muss mit Vorurteilen (»bias«) aufgeräumt werden: »We think that one reason for this relative paucity of research on psychotherapists is an implicit bias in thinking about therapy leading to the assumption that it is basically a set of methods, techniques, or procedures that are efficacious, in and of themselves, in curing or ameliorating psychological and psychiatric disorder […] This bias is supported by a scientific culture of modernity that prizes and emphasizes rationality, objectivity, and mechanisms conceived as impersonal processes […] and that views the personal element or the subjective equation in human experience and relations as a source of error in research to be minimized or controlled (e. g. the placebo effect)« (S. 5). Eine Bemerkung dieser Art hält fest, wie die Forschung mit ihrer Betonung von »Effektivität« sich an der Aufrechterhaltung des »Vorurteils« beteiligt hat; eines objektivistischen Vorurteils, dem Psychotherapie als apersonales Geschehen der Anwendung von Technik und Prozeduren erscheint und worin die Bedeutung des persönlichen, impliziten Wissens geradezu eliminiert würde. Psychotherapie ist in der Sicht von Orlinsky und Rønnestad nicht »Anwendung« von wissenschaftlich ermittelten »Techniken« auf ein »Problem«. Solcherart erscheint Psychotherapie nur dem Blickwinkel derjenigen, die diese Form der Forschung betreiben. Psychotherapie als »Problemlösung« aufzufassen, verkennt, wie viel Zeit gebraucht wird, damit ein Problem von manchen überhaupt erst formuliert werden kann, dass man unterscheiden muss zwischen lösbaren Problemen und solchen, die nur ertragen werden können (etwa Krankheiten, Verluste und anderes), und dass manche Probleme sich erst lösen lassen, wenn man sich weiterentwickelt hat: Was einem kindlichen Geist ein Problem sein kann, ist es für die meisten Erwachsenen nicht mehr. Psychotherapie ist weit mehr als »Problemlösen«, sie ist eine mehr und mehr sich verselbstständigende Profession, was Robert Holt und William Henry

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schon 1971 vorhergesagt haben, woran Orlinsky und Rønnestad mit Nachdruck erinnern, »that a new international profession has begun to emerge« (S. 8). Viele Therapeuten sehen ihre Profession deshalb keineswegs in Analogie zur Wissenschaft, sondern als Privileg, als kreative Kunst, und andere vergleichen sie mit religiöser, generativer oder gar spiritueller Erfahrung (Carlsson, Norberg, Sandell u. Schubert, 2011; Elsass, Rønnestad, Jensen u. Orlinsky, 2017; Erhardt, 2016; Gabbard u. Ogden, 2012; Lorentzen, Rønnestad u. Orlinsky, 2011; Orlinsky, Schofield, Schroder u. Kazantzis, 2011; Råbu et al., 2019; Rihacek, Danelova u. Cermak, 2012; Rønnestad u. Skovholt, 2003; Zilcha-­Mano u. Barber, 2014). Das wird zur Grundlage der empirischen Erhebung, welche die ganz antike Tradition des Orakels von Delphi (»Erkenne dich selbst!«) aufgreift, auf die sich auch Freud berufen hat: »Therapeutic work involves therapists not only as participant-observers of their clients’ personal struggles to develop but also as reflectively observing participants in their own professional growth. […] Indeed, judging from their own extensive use of personal therapy […], therapists may well be the foremost modern practitioners of the Delphic oracle’s injunction to ›Know thyself‹« (Orlinsky u. Rønnestad, 2005, S. 16). Wie aber wird von diesen Autoren denn nun die Entwicklung therapeutischer Kompetenz beschrieben? Ich fasse sehr knapp zusammen:

Die Entwicklung therapeutischer Kompetenz Wir beginnen, meist in unseren eigenen Familien als Laienhelfer, dem eine zweite Phase als »beginning students« folgt. Hier interessiert man sich für Theorie und ist bedürftig nach Anerkennung durch die Meister. In dieser Phase wird man süchtig nach leicht zu lernenden Techniken – wie etwa, bestimmte Fragen zu stellen usw. –, aber wenn man sich davon nicht lösen kann, stagniert die persönliche Entwicklung. In einer dritten Phase des »basic professional level« hängt man einer und nur einer Theorie an und verteidigt sie mit Zähnen und Klauen, und die Befunde der Autoren zeigen deutlich: Wer dieses Stadium eines »true believers« nicht durchgemacht hat, hat eine Chance, später bei den ausgebrannten Zynikern zu landen. In seiner Jugend gleichsam muss man an etwas geglaubt haben und diesen Glauben dann auch wieder aufgeben können, weil man nur dann ein Novize wird – viertes Stadium –, dem es schon gar nicht mehr auf Technik ankommt, sondern der einen »sense of being on one’s own« (Rønnestad u. Skovholt, 2003, S. 17) entfaltet und daran Freude hat. Novize also wird man in dieser empirischen Stufenlehre der therapeutischen Habitusformation, wenn man seine formelle Ausbildung beendet hat. Viele Therapeu-

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ten erinnern, erst nach ihrer formellen Ausbildung wirkliche Entwicklungsschritte gemacht zu haben, ein empirisch gesicherter Befund, der einem zu denken geben kann. Eine kleine Geschichte passt dazu: Ich hörte 1977 einem Gastvortrag von John Klauber im Frankfurter Sigmund-Freud-Institut zu, und er beschrieb, dass er zehn Jahre gebraucht habe, um sich von den während seiner Ausbildung implantierten Vorschriften wieder zu befreien. Nachdenken könnte man hier darüber, wie sich solche Dezennien verkürzen lassen. Vergleichbares berichten die von Orlinsky und Rønnestad Befragten auch, und weiter, dass die Novizen eine Art Schock erleiden, weil sie merken, dass die während der Ausbildung erlernten Techniken kaum halten, was ihnen versprochen wurde. Der Schock wird überwunden durch den Übergang in die Rolle des erfahrenen Professionellen. Der übt seine Profession aus durch Anwendung von Technik und Methode, aber keineswegs rigide oder theoriekonform, sondern die Entdeckung eines persönlichen Stils macht den erfahrenen Professionellen stolz. Dementsprechend heißt es in der »Introduction« zum Oxford Textbook of Psychotherapy (herausgegeben von schulisch verschiedenen Autoren: Gabbard, Beck u. Holmes, 2005): »Pure forms of psychotherapy are taught and tested in randomized controlled trials in many universities throughout the world, but most practitioners of psychotherapy in busy practices end up creating their own amalgam of pure and mixed models over time, depending on context and patient need.« Therapeuten entwickeln persönlichen Stil höchst variantenreich. Aus der Sicht einer Forschung, die Standardinterventionen definieren und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit prüfen will, folgt daraus babylonische Sprachverwirrung. Aus der Sicht der professionellen Praktiker aber ist es gerade notwendig, in vielerlei Zungen zu reden. Das professionelle Pfingsten antwortet auf das empirische Babylon. Hier sieht man eine neue Balance von Technik und Beziehung: Die schulengebundene Technik wurde ebenso gelernt wie die Theorie, aber eher im Sinne einer Durchgangspassage, einer Leiter, die man nach erfolgtem Aufstieg nicht mehr braucht: Verhaltenstherapeuten entdecken Widerstand und Übertragung. Der erfahrene Professionelle weiß (implizit), wie manche Patienten für Psychotherapie gewonnen, wie andere engagiert werden müssen und wie man falsche Überzeugungen angeht oder verworrene Vorstellungen klärt und auch, wie man sich manchmal gekonnt mit Patienten verstrickt. Erfahrene Professionelle integrieren Technik in einen weiteren Bezugsrahmen, sie verlassen das kollegiale Feld mehr und mehr, wenden sich anderen Themen wie Biografien, der Anthropologie oder der Musik zu und sie begreifen, dass das Spirituelle nicht Spezialgebiet ist, sondern Stufe im persönlichen Entwicklungsprozess. Sie entwickeln Wissen, das nicht repräsentativ-verfügend ist, sondern

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partizipativ und flüchtig; es muss aktualisiert werden durch Kontakt zu den eigenen Verwundungen. Sie machen die Entdeckung, dass es meist nicht viel Neues auf dem Laufsteg der therapeutischen Moden gibt, denn sie haben öfter alt Bekanntes als Dernier Cri gesehen. Wenn sie länger als Ausbildende und als Therapeuten tätig sind, erreichen sie die »senior professional phase« und machen die Entdeckung, »too soon to old and too late smart« (Rønnestad u. Skovholt, 2003) geworden zu sein, aber sie entschädigen sich mit einem sicheren Gefühl, das eigene Idiom artikulieren zu können. Der Gefahr einer möglichen intellektuellen Apathie arbeiten sie aktiv entgegen, indem sie sich intellektuell lernfähig zu erhalten versuchen, aber ihr Interesse an Kongressen lässt nach. Diese Entwicklung vom Laienhelfer über den Beginning Student zum Basic Professional Level und weiter zum Novizen, erfahrenen Professionellen und zum Senior spielt sich auf einer prozessualen Ebene ab, deren Voraussetzung die basale Ebene ist. Eine reflexive Ebene der Theoriebildung oder der theoretischen Schulenzugehörigkeit verliert im Prozess der Habitusformation mehr und mehr an Bedeutung. Als reflexiv bezeichne ich sie deshalb, weil hier entschieden wird, wie das eigene Tun bezeichnet wird. Das ist deshalb extrem schwierig, weil es keine allgemein verbindliche Definition von Psychotherapie bisher gibt, jedenfalls keine, der nicht mit guten Gründen vielfach widersprochen werden könnte; der erfahrene Professionelle weiß, dass er Psychotherapie kann, aber nicht, indem er erklärt, sondern ad oculos demonstriert. Reflexiv – das ist die Ebene der Theorie, die bestimmen können müsste, ob ein bestimmtes Tun als Psychotherapie (eventuell einer bestimmten Schule) gilt oder nicht. Und wir sehen, dass das so gut wie nicht geht, denn was erfahrene Professionelle tun, ist – Reden! (und Schweigen). Das schafft eine schwierige Situation, in der wir anerkennen müssen, dass Psychotherapie allgemein nicht definiert werden kann, wohl aber individuell immer realisierbar bleibt, soweit basale und prozessuale Ebene etabliert werden können. Therapeutische Kompetenzen liegen auf einer prozessualen Ebene des impliziten Wissens und personalen Könnens, sie entfalten sich partizipativ, embodied in Situationen und deshalb flüchtig. Theorie und Behandlungstechnik können und müssen diesen Prozess eine Zeit lang begleiten, aber Psychotherapie kann so nicht vollständig definiert oder gar global gesteuert werden. Offensichtlich liegen die Philosophie Blumenbergs, die Wissenschaftslehre Polanyis, Stufenlehren der Pädagogik und der empirischen Forschung zur therapeutischen Habitusformation nahe beieinander. Vielleicht geht es uns wie dem Archäologen: Dass wir darin etwas finden, was wir immer schon gewusst haben.

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Schlussbemerkung Wozu sind diese Überlegungen gut? Kürzlich habe ich davon gehört, dass in einer deutschen Großstadt Neubauten zu einem Klinikum errichtet wurden. Die Architekten hatten die Psychotherapie mit eingeplant, dabei einer Idee wie der folgend, dass Psychotherapie zuständig würde, wenn etwa die »compliance« eines Patienten schlecht sei. Solche Ideen sind im Prinzip nicht zu verwerfen, aber sie zeigen, dass hier auf einem Level gedacht wird, der bestenfalls den Beginning Students zugewiesen werden könnte. Diese erwarten alles von Optimierung der Technik. Wenn wir die Psychotherapie auf dieser Stufe stehen lassen, würden wir sie um das Beste bringen. Dass das so ist, kann, wie Untersuchungen wie die von Orlinsky und Rønnestad und vielen anderen zeigen, empirisch erforscht werden. Man kann aus der empirischen Forschung lernen, wo deren eigene Begrenzungen liegen. Das befreit vom Verdacht der Wissenschaftsfeindlichkeit, nur weil man das Intuitive schätzt. Im Gegenteil, man darf bessere Wissenschaft fordern, besseres Verstehen für die Subtilität therapeutischer Prozesse und angemessenere Möglichkeiten für die Psychotherapie als nur die, sie auf dem Level von Beginning Students zu verorten.

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Rebecca Hilzinger und Marlene Henrich

Implizite Wissensbildungsprozesse von systemischen Therapeutinnen und Therapeuten

Wie verlaufen Wissensbildungsprozesse von (systemischen) Therapeutinnen? Und wie können diese beschrieben werden? Solche und ähnliche Fragen zielen darauf ab, wie sich eine »könnensnahe« Wissensbasis entwickelt. Dabei spielen implizite Wissensbildungsprozesse eine bedeutende Rolle in der Herausbildung von Kompetenz. Allzu oft steht im Mittelpunkt der Betrachtungen, was »kompetente« Therapeuten ausmacht und wie diese Kompetenzen beschrieben werden können. Wie sich der Prozess dahin gestaltet, ist wenig beachtet und kaum beforscht. (Psycho-)Therapie ist aus Sicht der Professionalisierungsforschung die praktische Umsetzung einer spezifischen Wissensbasis. Psychotherapie ist eine praktische Wissenschaft: »Ihre Aufgabe ist es, Erkenntnisse der ›theoretischen‹ Wissenschaften auf den Einzelfall anzuwenden. Praktische Wissenschaften helfen dem Einzelnen bei seiner Problembewältigung« (Körner, 2015). Im günstigsten Fall entwickelt eine angehende Therapeutin, die eine systemische Therapieausbildung beginnt, einen Prozess, bei dem sie Wissen bildet, das sie in konkreten Therapiesituationen praktisch umsetzen kann (Handlungskompetenz). Doch wie bildet eine angehende Therapeutin eine solche spezifische Wissensbasis heraus, die sie zu kompetentem Handeln befähigt? Gruber (2007) beschreibt das Herausbilden einer spezifischen Wissensbasis und die zugehörige Handlungskompetenz von Beratenden in individuellen Mikro- und Makroprozessen. Individuelle Mikroprozesse beschreiben, wie Wissen angeeignet und verändert werden kann, und Makroprozesse beschreiben in Form von sogenannten Stufen, wie Expertise erworben werden kann. Im Folgenden geht es zunächst um die Mikroprozesse und den sozialwissenschaftlichen Kompetenzdiskurs. Im Anschluss daran wird das Modell von Dreyfus und Dreyfus (1986, dt. 1987) mit qualitativen Daten aus der Studie Wissensbildung in der systemischen Beratung und Therapie (WSBT; Henrich u.

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Weinhardt, 2018) dargestellt. Die Berücksichtigung von impliziten Wissensbildungsprozessen in Lehre und Forschung wird im Schlussteil des Beitrags aufgezeigt.

Individuelle Mikroprozesse: Wie können Lernprozesse beschrieben werden? Konventionelle, psychologische Modelle des Wissensbildungserwerbs gehen davon aus, dass der Fähigkeitserwerb sich in einer klaren Abfolge gliedert: Zuvor angeeignetes deklaratives Wissen wird in prozedurales Wissen überführt und anschließend findet eine Automatisierung von Handlungsroutinen statt (Fitts, 1964; Fitts u. Posner, 1967; Anderson, 1982, 1983, 1987; Ackerman, 1988). Diese Modelle stoßen dann an ihre Grenzen, wenn Wissensbildungsprozesse in Kontexten charakterisiert werden sollen, in denen nicht nur explizit formulierte Regeln vorliegen, die gelernt werden können, oder wenn trotz fehlender sprachlicher Instruktion gelernt wird (Neuweg, 2004, 2015). In weniger definierten Domänen wie der Beratung und Therapie sind unklare, komplexe Problemstellungen, uneindeutige und widersprüchliche Lösungswege eher die Regel als die Ausnahme, sodass auch die dazugehörigen Wissensbildungsprozesse zwangsläufig vielseitig und komplex sind (Weinhardt, 2014, S. 215). Eine angehende systemische Beraterin kann eine therapeutische Beziehung aufbauen, ohne jemals beispielsweise das Konzept des »Joinings« von Minuchin (1977) gelernt und explizit umgesetzt zu haben. Oder ein anderes Beispiel: Einem erfahrenen Therapeuten ist womöglich nur mühsam oder gar nicht zu entlocken, wie es ihm konkret gelungen ist, in einen guten Kontakt mit dem Klienten(system) zu kommen und sich miteinander einzustimmen. Oft wird die Antwort nach einem kurzen Moment der Stille lauten: »Das kommt darauf an« (vgl. Neuweg, 1999, S. 10, S. 241, S. 245). Schon diese beiden Situationen zeigen, dass es unterschiedliche Lernformen und unterschiedliche Arten von Wissen geben muss, die bei Wissensbildungsprozessen relevant sind, gerade in Domänen wie der Beratung und Therapie. Zentral ist dann die Frage, wie Wissen und Können zusammenhängen, denn nicht jede Art von Wissen führt automatisch zu Können. Es macht gewiss einen Unterschied, ob eine systemische Therapeutin theoretisch, explizit beschreiben kann, wie sie eine zirkuläre Frage stellen würde, oder ob sie in der konkreten Situation tatsächlich eine zirkuläre Frage zu stellen vermag und darüber hinaus sogar noch erklären könnte, wieso sie sich für diese Art des Fragens entschieden hat. Es besteht die Gefahr, dass Lernprozesse in »trägem Wissen« (Gruber u. Renkl, 2000) münden, wenn sie

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nicht implizit integriert werden. Dann wäre das Wissen zwar theoretisch gelernt, könnte aber in der Praxis nicht oder kaum angewendet werden. Und gleichzeitig: Es gibt schlichtweg kaum Evidenz über interne Prozesse des Bewusstseins. Wir wissen wenig darüber, wie unser menschliches Bewusstsein geschaffen ist oder wie menschliches Lernen »funktioniert«. Zum anderen gibt es keine generalisierten Regeln, mit denen Lernen vorhergesagt werden kann. Aus einer Bildungsperspektive heraus betrachtet, ist Lernen kontingent. Ausgehend von dieser Feststellung lassen sich in der wissenschaftlichen wie auch der praktischen Auseinandersetzung sehr unterschiedliche, teils eigenwillige Herangehensweisen ausmachen, wie mit dieser Wissenslücke umgegangen wird: Kompetenz wurde als hypothetisches Konstrukt im sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskurs geschaffen, um diese Wissenslücke zu füllen. Ein Konstrukt, das Karriere gemacht hat. Kompetenzforschung hat international eine lange, in Deutschland allerdings erst eine kurze Tradition, die an vielen Stellen durch einen verkürzten Kompetenzbegriff als Ergebnis outputorientierter Steuerung von Bildung im Zuge von PISA und Bologna überlagert wird. In den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen werden unter dem Begriff Kompetenz je nach theoretischer Anbindung, Selbstverständnis und Erkenntnisinteresse sehr unterschiedlicher Aspekte diskutiert. So wird Kompetenz mitunter als zielgerichtetes Planen von Handlungen oder gar als Persönlichkeitsbestandteil bestimmt. Entsprechend unterscheiden sich Ansätze zur Kompetenzermittlung. Dreh- und Angelpunkt für theoretische Überlegungen zu impliziten Wissensbildungsprozessen – ebenso wie daraus folgende Überlegungen zur Umsetzung in der Lehre, Weiterbildung und Forschung – ist die begriffliche Klärung des Konstrukts Kompetenz. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff »Kompetenz« hat laut Vonken (2005, S. 16 f.) die beiden Bedeutungen »competens« sowie »competere«, was im Deutschen »angemessen« beziehungsweise »zusammentreffen« bedeutet. Während die Bedeutung »competens« zunächst im Sinne von »Zuständigkeit« verwendet worden sei, ergebe sich die Bedeutung von »competere« daraus, dass Kompetenz dann vorhanden sei, wenn die Erfordernisse einer Situation mit den zu Bewältigung erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person »zusammentreffen« (vgl. Vonken, 2005, S. 17, zitiert nach Wollersheim, 1993, S. 89). In berufspädagogischen Auseinandersetzungen werden in der Regel Kom­ pe­tenz­konzepte verwendet, die das subjektive Handlungspotenzial beschreiben (Arnold u. Münk, 2006; Vonken, 2005). Solche Kompetenzkonnotationen betonen, dass der »Kompetente« die entsprechenden Anforderungen nicht nur erfüllen kann, sondern dass er die Fähigkeiten dazu aktiv erzeugt (Vonken, 2005). Der Fokus liegt dabei auf der Fähigkeit und Bereitschaft des Sub-

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jekts, reale Anforderungssituationen zu bewältigen. Diese Sichtweise bietet sich als neutraler Bezugspunkt außerhalb institutioneller und individueller Interessen an. Kompetenz bezeichnet sehr Unterschiedliches, nicht zuletzt deshalb, weil Kompetenz zugleich als Selbstorganisationsdisposition und als Lernergebnis beschrieben wird. Der Begriff ist mit sehr unterschiedlichen, normativen Vorstellungen aufgeladen. Einigkeit besteht jedoch zumindest darin, dass es sich um ein hypothetisches Konstrukt handelt: »Kompetenz ist demnach ein hypothetisches Konstrukt, das dabei hilft, innerpsychische Veranlagungen (Dispositionen) des Menschen zu beschreiben, welche nur indirekt über die Realisierung dieser Dispositionen in beobachtbarem Verhalten erschlossen werden können« (Erpenbeck u. von Rosenstiel, 2003, S. XI). Daraus geht hervor, dass zwischen dem Menschen inneliegenden Veranlagungen, die über das Kompetenzkonstrukt beschrieben werden, und zwischen etwas Beobachtbarem, der sogenannten Performanz, unterschieden wird. Es gibt unterschiedliche Ideen darüber, wie Wissen und Können bzw. Performanz zusammenhängen. Theoretische Modelle dazu, wie sich das Kompetenzkonstrukt zur Performanz verhält, sind zentraler Gegenstand der Forschung zu Kompetenz und Performanz. Die Forschung hierzu richtet, wie der Name vermuten lässt, den Fokus auf den Zusammenhang zwischen den innerpsychischen Veranlagungen und dem Ausführen von Handlungen. Hacker (2005) und Volpert (1992, 1994) stützen sich mit der Handlungsregulationstheorie auf die These, dass das Handeln durch zielgerichtetes Planen reguliert wird. Volpert merkt dazu an, dass dieses planvolle Handeln nicht unbedingt bewusst verlaufen muss: »Das muß nicht immer ein sorgfältiges und anstrengendes Planen sein; in einfachen Fällen […] entsteht der Weg zum Ziel recht spontan ›im Kopf‹« (Volpert, 1992, S. 14). Heckhausen und Gollwitzer (1987) unterteilen Handlungsphasen im Rubikonmodell in idealtypische Phasen: Abwägen (prädezisionale Phase), Planen (postdezisionale, präaktionale Phase), Handeln (aktionale Phase) und Bewerten (postaktionale Phase). Stangier (2015) bietet ein verfahrensübergreifendes Informationsverarbeitungsmodell psychotherapeutischer Kompetenzen an und betont die komplexe Interaktion zwischen Therapeut und Klient. Dazu erklärt er den Prozess der Informationsverarbeitung des Therapeuten als Entscheidungsgrundlage für therapeutisches Handeln, das mitunter implizit ablaufe. In der konkreten therapeutischen Situation aktiviere der Therapeut relevantes Wissen und passe dieses in den Handlungen an den Patienten an – ein Modell, das unserem Verständnis nach einen linearen Zusammenhang annimmt und

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zumindest nicht thematisiert, wie therapeutische Kompetenz konkret herausgebildet werden kann. In Dewes Modell der reflexiven Professionalität (Dewe, 2009) wird zwischen Handlungswissen und Wissenschaftswissen unterschieden. Professionalität wird hier durch die Relationierung unterschiedlicher Wissens- und Handlungsformen im Bereich professionalisierter Praxis herausgebildet. Dewes Verständnis ist, dass Theorie nicht in der Praxis zur Anwendung kommt, sondern durch einen »reflexiven Professionellen«, der auf der Grundlage seiner multiplen Wissensbasis die Problemlagen reflektiert und relationiert. Bei der Reflexion spielen dabei verschiedene Wissensformen eine Rolle. Professionelles Handeln ist demnach an das Verständnis gebunden, Wissen fallspezifisch und situativ zu generieren und reflexiv aufeinander zu beziehen und basiert weniger auf einem Verständnis technischer Handlungsrationalität. Ein alternatives Modell ist die Theorie vom impliziten Wissen, die von Gilbert Ryle (1969) erstmalig vorgestellt, von Michael Polanyi (1966, dt. 1985) weiterentwickelt und von Georg Hans Neuweg (2004, 2015) im deutschsprachigen Raum aufgegriffen wurde. Eine solche Positionierung hat in der Berufspädagogik eine längere Tradition, jedoch wird sie in der allgemeinen Professionalisierungsforschung eher wenig rezipiert. Die Grundannahme zum Zusammenhang zwischen Wissen und Handeln besteht darin, dass ein Zusammenspiel von implizitem und explizitem Wissen zu kompetentem Handeln führt. Die Theorie vom impliziten Wissen erweist sich als plausible Modellvorstellung, die klar benennt, dass Wissen sowohl durch die Beschäftigung mit theoretischem Wissen als auch im Prozess des Handelns herausgebildet werden kann. Danach kann kompetentes Handeln als Zusammenwirken von Hintergrundbewusstsein und Fokalbewusstsein betrachtet werden. Neuweg (1999) postuliert ein Hintergrundbewusstsein – von Sachverhalten, auf die wir nicht direkt achten, die aber zwingende Einflussgrößen auf unsere Aufmerksamkeit und unser Handeln darstellen – und ein Fokalbewusstsein – worauf unsere Aufmerksamkeit beim Handeln gerichtet ist. Beim Handeln bewirkt das Subjekt, dass die Elemente seines Hintergrundbewusstseins auf den Fokus seiner Aufmerksamkeit hinzielen. Das Wissen äußert sich im Können, es ist in ihm inkorporiert. Das tatsächliche Zusammenwirken von Hintergrundbewusstsein und Fokalbewusstsein verläuft weitestgehend implizit, da der Handelnde nicht gleichzeitig seine Aufmerksamkeit auf das Handlungsziel und auf das für die Handlung erforderliche Wissen richten kann. Der Vorteil dieser Modellvorstellung liegt darin, dass neben fachtheoretischem Wissen auch Erfahrung und Intuition Beachtung finden, anders als z. B. bei der Handlungsregulationstheorie, bei der es im Wesentlichen um die Vorgänge des bewussten Handelns geht (Richter u. Hacker, 2003).

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Individuelle Makroprozesse (Stufenmodelle): Wie verlaufen Professionalisierungsprozesse? Wie die spezifische Wissensbasis und die zugehörige Handlungskompetenz systemischer Fachkräfte zustande kommt, wird häufig in Form von Stufenabfolgen beschrieben. Es gibt einige Stufenmodelle, die den Fähigkeitserwerb phänomenologisch zu beschreiben versuchen, wobei die Anzahl der Stufen in den Modellen variieren. Unabhängig von der Anzahl an Stufen geht es in den Modellen um eine Stufenprogression vom Novizen zum Experten. Das wohl älteste Phasenmodell stammt von Cleveland (1907), der ein Fünfphasenmodell entwickelt hat. In diesem Modell wurden die kognitiven Prozesse innerhalb der Entwicklung von Schachexpertise rekonstruiert und dargelegt. Nach Groen und Patel (1988) werden allgemein vier Stufen auf dem Weg zum Experten durchlaufen: vom Novizen bzw. Anfänger über die Stufe des Intermediates und die des generischen Experten hin zum Experten. Das für Mediziner entwickelte Modell erinnert an das Enkapsulierungsmodell (Boshuizen u. Schmidt, 1992), in dem davon ausgegangen wird, dass deklaratives Wissen mit zunehmendem Grad an Erfahrung neu strukturiert und in höherrangige Strukturen integriert wird. Im Stadium des generischen Experten wird dem Aufbau einer deklarativen Wissensbasis große Bedeutung beigemessen, während sich der spezifische Experte durch eine herausragende Handlungskompetenz auszeichnet (Groen u. Patel, 1988). Ein weitaus bekannteres und ebenfalls fünfphasiges Modell ist das Modell des Fertigkeitserwerbs nach Dreyfus und Dreyfus (1986, dt. 1987). Dieses Modell wurde für unterschiedliche Berufsgruppen entwickelt und fand z. B. in der Lehrerprofessionalisierung (Terhardt, 1998) und in der Ausbildung von Pflegekräften (Benner, 1994) Eingang. In diesem Modell wird zwischen fünf Kompetenzgraden unterschieden: Novizen, Fortgeschrittene Anfänger, Kompetente Praktiker, Gewandte Praktiker, Experten. Die einzelnen Kompetenzstufen weisen jeweils eigene Qualitäten der Wissensgenerierung und Wissensanwendung auf. Dies kann beispielsweise in der mittleren Stufe anhand des gezielten Planens aufgezeigt werden: Während fortgeschrittene Anfänger das gezielte Planen mithilfe des Fokalbewusstseins tätigen, ist das bei Expertinnen im Hintergrund verankert, sodass sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Gegenstand richten können. Das Planen wird eher als »Bauchentscheidung« wahrgenommen, weniger als ein bewusst getätigter Planungsakt (Polanyi, 1958, 1966, dt. 1985). Während Experten auf den Gegenstand fokussiert sind und »Expertenwissen« im Hintergrund bleibt, müssen auf den vorherigen Stufen Teile des Fokalbewusstseins für den Wissensabruf genutzt werden. Die Leichtigkeit

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und Flexibilität eines intuitiven Expertenhandelns ist Nicht-Expertinnen auch dadurch (noch) nicht möglich, da sie ihre kognitiven Kapazitäten nicht nur für den Gegenstand, sondern auch für den Wissensabruf einsetzen (müssen). Auf diesen einzelnen Kompetenzgraden werden individuelle Prozesse der Aneignung und Veränderung von Wissen benannt, die so bisher nicht formuliert wurden. Zum Beispiel ist das Zielsetzen und Planen eine wichtige Etappe im Expertise­ erwerb, gleichwohl ist expertenhaftes Handeln kein professionelles Handeln, das ein Ziel oder eine Aktion bewusst auswählt (Dreyfus u. Dreyfus, 1986, dt. 1987). Im Folgenden wird das Modell von Dreyfus und Dreyfus, das ursprünglich für die Ausbildung von Flugzeugpiloten für den Umgang mit Krisensituationen bei der US-Air-Force entwickelt wurde, ausführlicher dargestellt. Das Modell wird deshalb ausgewählt, da es sich vor allem auf nicht-saliente, unstrukturierte Situationen, in denen es keine objektiven Regeln und Handlungsanleitungen gibt, bezieht. Ebenso wird dem impliziten Wissen in der Stufenprogression vom Novizen zum Experten eine hohe Bedeutsamkeit beigemessen, das sich schließlich in einer qualitativen Neuorganisation des Wissens widerspiegelt. Das Modell geht dementsprechend in einer angeleiteten Entwicklung von einer Anreicherung der Wissensbasis vom Rational-Expliziten hin zum Intuitiv-Impliziten aus. Didaktisch wird damit deutlich, dass Lernprozesse nicht ausreichend durch explizite Lernbedingungen hergestellt werden können, sondern natürliche Lernerfahrungen notwendig sind. Die explizite Vermittlung von Wissen stößt an ihre Grenzen. Die aus der allgemeinem Expertiseforschung bekannt gewordene Forderung des »deliberate practice« (Ericsson, Krampe u. Tesch-Römer, 1993) wird an dieser Stelle relevant: Das Zusammenspiel aus Erfahrung, Reflexion und Wissenserwerb ist notwendig, um eine »könnensnahe« Wissensbasis zu entwickeln. Dabei ist die Zusammensetzung der drei Anteile auf jeder Stufe unterschiedlich und ein wenig anders. Im Folgenden werden die Lernprozesse und didaktische Implikationen auf den jeweiligen Stufen dargestellt und mit qualitativen Daten aus dem Projekt »WSBT« (Wissensbildung in der Systemischen Beratung und Therapie) veranschaulicht (Henrich u. Weinhardt, 2018).1 1

WSBT ist ein von der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) gefördertes Projekt, das Wissensbildungsprozesse in drei verschiedenen Professionalisierungsphasen untersucht, um Antworten darauf zu finden, ob sich Lernen systemischer Beraterinnen und Therapeuten entlang der aus der allgemeinen Expertiseforschung bekannt gewordenen Indikatoren abbilden lässt. Methodisch wurde eine Prompting-Task-­Studie durchgeführt, in der die Studienteilnehmenden mittels der Methode des Lauten Denkens befragt wurden. Dieser Forschungsansatz gibt Aufschluss darüber, dass die Restrukturierung der Wissensbasis ein integraler Bestandteil der Professionalisierung psychosozialer Fachkräfte ist.

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Auf der ersten Stufe, im Novizenstadium, lernt der Lernende kontextunabhängige Regeln und Merkmale in einem vorrangig expliziten Modus. Der Lehrende gibt klare Informationen, die dem Lernenden erste Erfahrungen in der Domäne ermöglichen. So erfährt z. B. ein Beratungsnovize, wie ein Beratungsgespräch begonnen werden kann, beispielsweise durch eine freundliche Begrüßung oder durch das Anbieten eines Sitzplatzes (Bauer, 2014). Das Erlernen von Leitfäden, Konzepten, Modellen steht hier im Vordergrund. So ist in dieser Phase der Novize damit beschäftigt, das Gelernte zu erinnern, zu reproduzieren und anzuwenden. Beispielsweise erläutert eine in der WSBT-Studie interviewte Novizin (Weiterbildungsteilnehmerin, Berufsfeld: Organisation) dazu: »Ja, also ich nehme jetzt mal z. B., wir hatten im Seminar, ähm – jetzt muss ich grad noch mal grübeln –, einen, ich sag mal, einen Leitfaden, an was ich denken kann (Lachen). Oje, ähm, genau, also z. B. ist es für mich so ’en kleiner Leitfaden, den ich jetzt, glaub ich, mitnehmen würde, Auslöser, Anliegen, Auftragsklärung. Jetzt weiß ich leider nicht mehr ganz genau, wie es da weiterging. Ähm, ja (Lachen), genau, ähm. Jetzt muss ich erst mal nachdenken. Genau, Alternativen also Alternativen, z. B. Muster erkennen, genau, Muster unterbrechen, ähm, da ist auch wichtig dann dieser Schritt, ähm, das Muster erst mal zu würdigen, was es bisher gab, sonst kann es schlecht verabschiedet werden, und, ähm, dann eben auch eine Alternative für das unterbrochene Muster mit dem Klienten zu finden. Das wäre jetzt so ein grober, eine grobe Orientierung für mich als Berater.«

Auf der zweiten Stufe, der des fortgeschrittenen Anfängers, wird davon ausgegangen, dass der Fortgeschrittene bereits Erfahrungen in der Domäne gesammelt hat. Der bedeutende Lernschritt vollzieht sich hier in der Konfrontation mit vielen praktischen Beispielen, die alle etwas unterschiedlich sind, und der Lernprozess besteht darin, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Fortgeschrittene Anfänger in der Beratung bekommen so aufgrund ihrer gesammelten Erfahrung einen Eindruck von verschiedenen Klienten, den unterschiedlichen Problembereichen und Kontexten. Ein jugendlicher Klient, der Stress zu Hause mit seinen Eltern hat und zum Gespräch gezwungen wird, oder das junge Ehepaar, die sich eine Besserung im Umgang mit Konfliktsituationen in der Beratung versprechen, weisen z. B. auf zwei völlig unterschiedliche Settings, Ziele und Methoden hin. Ein Beispiel hierfür gibt das folgende Zitat einer fortgeschrittenen Anfängerin (Weiterbildungsteilnehmerin, Berufsfeld: Jugendhilfe): »Aber ich würde sagen, jeder Tag bringt irgendwie neue Situationen mit sich, und wir arbeiten mit dem, was kommt, was da

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ist. Und natürlich gibt es so was wie große Ziele, die verfolgt werden, dann wird aber im Alltag immer wieder geschaut, was ist jetzt gerade an der Reihe, was ist wichtig und was fällt mir dazu jetzt gerade ein bei der Arbeit.«

In der dritten Stufe, der sogenannten »Kompetenzphase«, erreicht der Lernende eine Problemlösefähigkeit, die ihn dazu befähigt, an Situationen bewusst heranzutreten und Handlungsalternativen, Ziele und Pläne abzuwägen. Entscheidungen werden nicht mehr anhand der Befolgung von Regeln getroffen, sondern an die Situation angepasst. So würde der Berater in der Kompetenzphase, der einen jugendlichen beratungsresistenten Jugendlichen berät, sich genau vorab überlegen, wie er das Gespräch gestalten möchte, wägt verschiedene Strategien ab, entscheidet sich schließlich für eine Strategie. Innerhalb des Gesprächs überdenkt er sein Ziel und ändert gegebenenfalls den Plan. Zum Beispiel erläutert ein Weiterbildungsteilnehmer (Berufsfeld: Schulsozialarbeit) in systemischer Beratung und Therapie dazu Folgendes: »Zu Beginn der Sitzung habe ich mich genau vorbereitet und überlegt, wie ich die Sitzung gestalten möchte, also wie ich den Jugendlichen erreichen kann. Habe mich dann bewusst auf die Beziehungsseite gestellt und wollte ja nicht zu konfrontativ werden. Im Gespräch selbst hab’ ich dann gemerkt, das läuft nicht so, der Junge braucht auch ein bisschen Konter, und dann schwank ich um zu paradoxen Interventionen, das lief dann besser.«

Im vierten Stadium, dem des gewandten Könnens, verfügt der Lernende über reichhaltige Erfahrung. Situationen werden nicht durchdacht, sondern auf der Grundlage früherer Erfahrungen begriffen. Ohne bewusste Anstrengung werden Situationen mit Problemcharakter gemeistert, wobei die Detailplanung im Voraus stattfindet oder auch Neues aus aktuellen Situationen hinzulernt und aus der Differenz gelernt wird. Ein Berater auf dieser Stufe erkennt Fälle, die auf beruflich zusammengefasster Erfahrung basieren. So weiß z. B. der Berater eines Paarkonflikts, dass sich dieser häufig auf die Elternebene mitverlagert. Zudem weiß der Berater, dass es darum geht, zu schauen, welche Muster, welcher Wunsch, welches Bedürfnis hinter den Konflikten beispielsweise stecken, und dass Neutralität und Allparteilichkeit eine wesentliche Strategie ist. Zum Beispiel hat eine Weiterbildungsteilnehmerin (Berufsfeld: Erziehungsberatung) hierzu Folgendes expliziert: »Paarkonflikt. Ähm, na ja, gibt’s viele, die das haben, viele Paare, ähm. Interessant ist, die können auch zusammen sein oder auch nicht und trotzdem Paarkonflikt haben. Ähm, das ist so was, dass öfter auch hinter Symptomen von Kindern steckt oder auch wenn Familien ihre Kinder hier anmelden und kommen,

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da vermutet man gerne Paarkonflikt oder sieht man vielleicht einen Paarkonflikt. Aber ich habe neulich dazugelernt, das soll man nicht gleich ansprechen eigentlich, das soll man für sich behalten, vielleicht (Lachen), und dann an diesen Symptomen oder diesen Problemen, die sie einem reichen, dann auch arbeiten, das heißt dann Vehikel. Okay. Und zu Paarkonflikten: Manchmal kommen schon Paare, die die Konflikte schon offen haben und wollen daran arbeiten, ähm, ja. Es geht öfters um Vergangenheit oder so Verletzungen, die ganz alt sind, aber ja, das zeigt sich auch hier im täglichen Leben, ähm, und ich bin immer, ich bin öfters so eingestellt, dass ich vor allem herausfinden will, ob die Paare auch außerhalb dieses Konflikts noch was haben, ob die noch gern miteinander sind, was die verbindet – sozusagen vom Konflikt weg zur Ressourcenseite. Aber gelingt nicht immer.«

Im fünften Stadium, dem Expertisestadium, verfügt der Lernende über zehn Jahre und mehr Erfahrung. Durch Übung, Reflexion und Erfahrung erkennt der Experte in jeder spezifischen Situation den Einzelfall und interveniert intuitiv angemessen. Der Experte folgt keinen Regeln, sondern ist ganz in der situativen Gegenwart und agiert aus seiner erfahrungsbasierten, impliziten Wissensbasis. Das folgende Zitat einer Expertin (Weiterbildungsteilnehmerin, Berufsfeld: Erziehungsberatung) konkretisiert z. B. diese Phase folgendermaßen: »Was ich vor allen Dingen sehr schwierig finde bei Familienkonflikt ist, wenn die Eltern einen Konflikt haben mit dem Kind. Alle sind im Raum anwesend und die Eltern beginnen dann, vor dem Kind den Konflikt auszubreiten bzw. dem Kind zu sagen, wie blöd es ist. Da ist man dann unglaublich damit befasst oder muss sich damit befassen, dieses Kind zu schützen. Und da hab’ ich nur negative Erfahrungen gemacht. Ich habe ja schon Probleme mit dem Paarkonflikt und, ähm, mache das auch so, dass ich manchmal den einen Konfliktpartner, äh, vor die Tür bitte, damit der andere Konfliktpartner mir alleine erzählen kann, was er alles, was dieser andere Böse alles macht, ohne dass er diesen anderen Partner verletzt. Denn diese Verletzungen, das passiert ganz leicht, also das bei den Verletzungen also in so einem Gespräch die Verletzungen größer werden, indem man da drauf rum, die ganze Zeit drauf rum tritt. Also das ist unbedingt zu vermeiden. Also, wie gesagt, unser Ziel ist es ja, dass die Konflikte kleiner werden und die Verletzungen kleiner. Was mir dazu einfällt zu Familienkonflikt ist hier ganz oft diese Konfliktmutter mit der pubertierenden Tochter. Und das ist sehr oft so, dass die vielleicht einmal zu zweit kommen und danach kommt die Mutter alleine. Die Mutter möchte ja sehr, sehr gerne, dass die Tochter zu mir kommt und ich die Tochter ändere, dass sie lieb und nett ist. Aber worum es eigentlich geht, ist, die Mutter zu stärken, den Familienkonflikt auszuhalten, und dann endet das so.«

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Stufenmodelle wie das von Dreyfus und Dreyfus blieben nicht unangefochten. Ein Hauptkritikpunkt ist dabei, dass die tatsächliche Entwicklung nicht immer linear verlaufen würde, wie in der Stufenprogression dargestellt (Molander, 1992; Grossmann, 1992; Dall’Alba u. Sandberg, 2006; Gobet u. Chassy, 2008). Dies konnte auch empirisch in der Entwicklung von Beratern und Therapeutinnen nachgewiesen werden. Boshuizen (2004) fand in ihrer Think-Aloud-Studie mit 184 Medizinstudierenden heraus, dass Lernprozesse gerade im Stadium des fortgeschrittenen Anfängers diskontinuierlich verlaufen können. Es sei davon auszugehen, dass sich die Diskontinuität in Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen widerspiegele (Boshuizen, 2004). Damit liegt die Vermutung nahe, dass Beratungslernen in diesem Stadium diese Besonderheit generell umfasst, da sich die unterschiedlichen Wissensbasen zwischen Befolgung von Regeln (explizites Wissen) und praktischen Problemlagen (implizites Wissen) erst konsolidieren. Solche Diskontinuitäten scheinen im Expertiseerwerb unumgänglich zu sein, sodass eine strenge Dichotomisierung in explizite und implizite Lern- und Wissensformen in der Ausbildung von Beraterinnen und Therapeuten demnach unangemessen wäre. Bereits Polanyi (1958) geht von parallel verlaufenden Lernprozessen aus. Auch Volpert warnt vor einseitiger Betonung eines Lernprozesses (Volpert, 1994).

Diskussion und Ausblick: Berücksichtigung impliziter Wissensbildungsprozesse in Forschung und Lehre In diesem letzten Teil werden wesentliche Implikationen für die Forschung in Form von drei zentralen Forschungszugängen benannt und der aktuelle Forschungsstand zu impliziten Wissensbildungsprozessen, gruppiert in die drei Bereiche Instrumente, qualitative Studien zu konkretem Handeln und Lehr-/Lernumgebungen, dargelegt. Zu jedem dieser Bereiche wird exemplarisch ein Beispiel angeführt. Wie implizite Wissensbildungsprozesse in didaktischer Hinsicht berücksichtigt werden können, wird abschließend zusammengetragen. Festgehalten werden kann: Gerade die Tatsache, dass wir wenig darüber wissen, wie Lernen funktioniert, fordert uns in der Frage heraus, präziser zu werden, welches theoretische Modell von Wissen und Können (individuelle Mikroprozesse) und welches Stufenmodell des Wissenserwerbs (individuelle Makroprozesse) wir annehmen. Eine Theorie über das Verhältnis von Wissen und Können ist sowohl für theoretische Diskurse wie didaktische Umsetzungen unabdingbar.

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Aktuelle Forschungszugänge erfordern deshalb gleichzeitig auch, die Wahl entsprechender Prämissen klar zu benennen und zu begründen: Ȥ Über welche Kompetenzen verfügen systemische Berater und Therapeutinnen? (Kompetenzstrukturmodell) Ȥ Wie können Kompetenzen auf den einzelnen Stufen trotz ihrer je unterschiedlichen Qualitäten erfasst werden? (Kompetenzniveaumodell) Ȥ Als wie abhängig zeigt sich therapeutische Kompetenz vom Therapieverfahren? Die Erforschung impliziter Wissensbildungsprozesse von systemischen Beraterinnen und Therapeuten hat sowohl im deutschsprachigen Raum wie auch international gerade erst begonnen. Der aktuelle Stand der Forschung kann anhand von drei groben Kategorien dargestellt werden: a) Es liegen Instrumente vor, mit denen das sichtbare Handeln (Performanz) von systemischen Fachkräften in Form von Adhärenz- und Kompetenzskalen eingeschätzt werden kann (u. a. Schweitzer u. Nicolai, 2010; Schiepek, Honermann, Müssen u. Senkbeil, 1997; Stratton et al., o. J.; Weinhardt, 2016; Hilzinger, Schweitzer u. Hunger, 2016). Die TBKS (Tübinger Beratungskompetenz-Skala; Weinhardt, 2014) ist beispielsweise eine übersetzte und adaptierte Version der US-amerikanischen »Counseling Skills Scale« (Eriksen u. McAuliffe, 2006, 2003), die verschiedene Facetten von Beratungskompetenz erfasst, z. B. die Fähigkeit, ein Problem zu explorieren. Die TBKS ist aus zweierlei Hinsicht ein wichtiges Instrument des Beratungslernens: Einerseits erhalten Lernende eine Rückmeldung durch geschulte Beratende zum Stand ihres Kompetenzerwerbs. Andererseits können sich Lernende mit der TBKS selbst beschäftigen, um so ihre eigene Selbstbeurteilungskompetenz – als Teil von Beratungskompetenz – zu schulen. b) Qualitative Studien, die Prozesse beschreiben, die während des Handelns bedeutsam sind (u. a. Rober, 2008a, 2008b). Wenn die Theorie vom impliziten Wissen als theoretisches Modell individueller Mikroprozesse angenommen wird und Kompetenzen systemischer Therapeuten beschrieben werden sollen, wird die Datenerhebung so angelegt sein, dass der Fokus auf die Erfassung von Denk- und Entscheidungsprozessen gerichtet ist, die während des Handelns bedeutsam sind. Abgebildet werden soll dann gerade kein Lehrbuchwissen, sondern jene Prozesse, die in der konkreten Situation notwendig sind, um therapeutisch handeln zu können. Eine mögliche Umsetzung legt Hilzinger (2013) mit dem Verfahren der Videoanalyse und Rekonstruktion mittels leitfadengestütztem Experteninterview vor. Rober hat einen ähnlichen Forschungszugang und beschäftigt sich in seiner qualitativen

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Forschung mit dem inneren Gespräch von Familientherapeuten (»researching what is not said«). Nach der rekonstruktiven Analyse von Rollenspielen mit erfahrenen Expertinnen kategorisiert Rober (2008a, 2008b) mithilfe der Grounded Theory vier Prozesse, die während des Handelns ablaufen: a) Processing the client’s story, b) Attending to client process, c) Focusing on own experiencing, d) Managing the therapeutic process. c) Studien, die innovative Lehr-/Lernumgebungen thematisieren (Rousmaniere, Goodyear, Miller u. Wampold, 2017; Weinhardt, 2015, 2016). In einer Studie zur längsschnittigen Entwicklung beraterisch/therapeutischer Kompetenz (Weinhardt, 2015, 2016) wird die Beratungskompetenzentwicklung über den Studienverlauf anhand von 206 Erstgesprächen aus dem BeraLab2 gemessen. In dieser Studie kann gezeigt werden, dass Kompetenzerwerb in Bezug auf implizite und explizite Wissensbildungsprozesse unterschiedlich verläuft. Während Beziehungsgestaltungsfähigkeiten eher einem impliziten Lernen gleichen, da sie eher ein längerfristiger Prozess mit vermutlich starken allgemeinbiografischen Entwicklungsanteilen ist, können Technik und Methoden eher durch explizites Lernen erworben werden. Das Ergebnis der Studie zeigt, dass die Zunahme von Beziehungsgestaltungsfähigkeiten nahezu eine lineare Funktion der Zeit mit einer durchschnittlichen Effektstärke von .21 pro Hochschuljahr darstellt, während die Technik- und Methodenkompetenz hingegen nicht linear verläuft und mit zunehmender Studiendauer abflacht (d=.81). Es finden somit explizite und implizite Lernprozesse über den Studienverlauf statt, die jedoch unterschiedliche Verlaufsformen einschlagen und wertvolle didaktische Hinweise in Bezug auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen liefern. Bisher wurde eine Seite der Medaille gänzlich ausgeblendet, wenn es um implizite Wissensbildungsprozesse geht: Welche Rahmenbedingungen ermöglichen das Herausbilden solcher Prozesse? Welche didaktischen Konsequenzen können gezogen werden? Individuelle Mikro- und Makroprozesse stehen in engem Zusammenhang mit Fragen der Didaktik des beruflichen Lernens – der Curriculumsentwicklung sowie den Fragen der Ausgestaltung von Lern-/Lernprozessen. Abhängig davon, welche theoretischen Modelle als besonders stimmig erachtet und ausgewählt werden, ergeben sich dazu weitreichende didaktische Konsequenzen, die letztlich auch Fragen der Leistungsbeurteilung betreffen (Neuweg, 2 Das BeraLab ist eine realitätsnahe Simulationsumgebung (Weinhardt, 2017), in der ausgebildete Schauspielklienten prototypische Fälle aus der psychosozialen Beratung spielen. Dort können Studierende Beratungserfahrungen sammeln.

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1999). Wenn der Kompetenzbegriff als relativ überdauernde, kognitiv verankerte Fähigkeit zur Generierung beruflichen Könnens ernst genommen wird, ist es notwendig, Wissen und Können bei der Kompetenzermittlung zu erfassen. Wird nur Wissen analysiert, bleibt unklar, ob die Berater und Therapeutinnen dieses Wissen in Können überführen können. Wird lediglich ein Verhaltensausschnitt analysiert, bleibt fraglich, über welche Wissensbasis die Lernenden verfügen (Fischer, 2009). Für die Lehre und Weiterbildung haben diese Annahmen über das Verhältnis von Wissen und Können weitreichende Konsequenzen: Im Zweiphasenmodell der Therapie- und Beratungsprofessionalisierung in Deutschland, in dem erst nach einem grundständigen Studium eine anschließende beraterische oder therapeutische Zusatzqualifikation bei gleichzeitiger Berufstätigkeit absolviert wird, werden den expliziten und impliziten Formen des Lernens unterschiedlich Rechnung getragen: Während in der Phase des Studiums in der Regel der expliziten Wissensaneignung Vortritt gelassen wird, wird der Verzahnung von Theorie und Praxis erst in der zweiten Professionalisierungsphase Rechnung getragen (Weinhardt, 2019). Da besonders die Wissensbasis von Beratungs- und Psychotherapielernenden in frühen Stadien des Expertiseerwerbs sehr gemischt, heterogen und qualitativ unterschiedlich ist, hat jeder eine ganz individuelle, sozusagen »personenspezifische Wissensbasis« (Weinhardt, 2017). Eine solche personenspezifische Wissensbasis kann durch eine Systematik der Wissensbildung aus der Kreuzung von implizitem und explizitem Lernen mit implizitem und explizitem Wissen (Neuweg, 2004, 2015; Weinhardt, 2018) verdeutlicht werden. Anhand einer solchen Matrix (siehe Abbildung 1) ist es möglich, individuelle Lernprozesse zu beschreiben und auszuwerten.

Abbildung 1: Das 2 × 2 der Wissensbildung (Weinhardt, 2018, S. 99)

Durch entsprechende Lernarrangements können dann individuelle Lernprozesse auf dem Modell des 2 × 2 der Wissensbildung initiiert und konkrete

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Entwicklungsaufgaben für Einzelne definiert werden. Implizite Lernprozesse können z. B. durch Cognitive-Apprenticeship-Ansätze (Collins, Brown u. Newman, 1989) weiterentwickelt werden, während beispielsweise konkrete Reflexionsfähigkeiten durch reflection in action und reflection on action (Schön, 1983) trainiert werden können. Ebenso können Phasen einer expliziten Lerneinheit etwa in Form eines klassischen Methodenseminars hilfreich sein, um die schulenspezifischen Beratungs- und Psychotherapietechniken zu professionalisieren. Didaktisch wird damit deutlich, dass Lernprozesse nicht ausreichend durch explizite Lernbedingungen hergestellt werden können, sondern natürliche Lernerfahrungen notwendig sind. Denn Wissen von Experten ist nicht vollständig explizierbar und instruierbar, wie Neuweg im Explikations- und Instruktionsproblem von Erfahrungswissen verdeutlicht (Neuweg, 2015, S. 28 ff.). Experten können in der Regel nur schwer das Regelwissen der Praxis verbalisieren, da sie es zugunsten intuitiverer Modi bereits hinter sich gelassen haben (Explikationsproblem der ersten Person: Nichtverbalisierbarkeit). Zudem kann kompetente Praxis mindestens partiell überhaupt nicht über Systeme von Regeln beschrieben werden (Explikationsproblem der dritten Person: Nichtformalisierbarkeit). ­Daraus resultiert zwangsläufig ein Instruktionsproblem, wenn Können nicht als Einhalten von Regeln dargestellt werden kann. Doch selbst wenn Können in Regeln abgebildet werden könnte, so resultiert daraus ein didaktischer Kategorienfehler, da Lernzielbeschreibungen nicht schon gleich Aussagen darüber treffen, welche Lernwege zur Erreichung dieser Lernziele führen (S. 123). Die Nichtexplizierbar- und Instruierbarkeit von implizitem Wissen führt dazu, dass der Novize auf Erfahrungslernprozesse, auf »learning by doing«, angewiesen ist (S. 37). Didaktisch geht es dann eher darum, das Erfahrungslernen professionell zu begleiten und zur Ausbildung reflexiver Kompetenz beizutragen (S. 41). Drexler und Hilzinger (2015) schlagen mit Bezug auf die Theorie vom impliziten Wissen einige didaktische Grundsätze vor, so z. B. die für die Entwicklung zum Experten beständige Notwendigkeit, am konkreten Fall zu lernen, und die Maxime, anschließend über das Gelernte am konkreten Fall zu sprechen. Auch die möglichst frühe Konfrontation mit realen Anliegen in der geschützten Atmosphäre der Weiterbildungsgruppe ist empfehlenswert, da »Können« nur im tatsächlichen Handeln und der anschließenden Reflexion entwickelt werden kann. Nach Orlinsky und Rønnestad (2005) sollten Anfänger von ihren Supervisorinnen möglichst ermutigt werden. In der Konsequenz ist die Unterscheidung und die Förderung der jeweiligen, sehr individuellen Modi der Wissensbildung, ein wichtiger didaktischer Bestandteil des Lehrens und Lernens von Beratung und Therapie.

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Marc Weinhardt

Systemische Professionalisierung als Lern- und Bildungsprozess: Fachliche Entwicklungsaufgaben lösen, Professionalisierungskulturen gestalten

Wie werden Fachkräfte, die systemische Beratung und Therapie als komplexe personenbezogene Dienstleistungen erbringen, handlungsfähig? Wie sehen die zugehörigen Lern- und Bildungswege genau aus? Wie lassen sich diese Lernund Bildungsprozesse konstruktiv gestalten und in welchen (Aus-)Bildungskontexten finden sie statt? Die Formulierung von Fragen in der hier gewählten Form legt dabei die diesem Artikel zugrunde liegende Argumentationsfigur bereits offen: Dieser Text konzeptualisiert die Professionalisierung von Beratungsfachkräften als komplexen Lern- und Bildungsprozess, der an verschiedenen Lernorten stattfindet, dabei weit über die Phase des Studiums und der Berufsausbildung hinausgeht und formale, non-formale und informelle Bildungsprozesse umfasst. Eine solche Definition schließt zunächst an den umfangreichen, aber wenig systematisierten Korpus der Professionalisierungs- und Professionsforschung an (Dick, Marotzki u. Mieg, 2016; Schwarz, Ferchhoff u. Vollbrecht, 2014). In ihr wird verhandelt, unter welchen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen sich professionelles Handeln und Professionen im Wechselspiel zwischen zugewiesener und selbst ausgewiesener Zuständigkeit beruflicher Gruppen für bestimmte Teilfragen moderner Lebensführung funktionalisieren konnten. Aktueller Forschungsstand und daraus gefolgerte Desiderate zu diesen grundlegenden Fragen müssen derzeit als unübersichtlich bezeichnet werden. Dies liegt zusammengefasst daran, dass es fraglich ist, ob tradierte Professions- und Professionalisierungskonzepte für neu entstehende (Semi-)Professionen überhaupt tragfähig sind (Stichweh, 2000) und inwiefern es sich bei Beratung und Therapie überhaupt um Professionen handelt. Für die in diesem Beitrag exemplarisch behandelte Frage der Professionalisierung systemischer Fachkräfte schließlich stellt sich ein weiteres Komplexi-

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tätserfordernis ein: Beraterisches Handeln ist, wenn es nicht dekontextualisiert lediglich als verkleinerte Form psychotherapeutischen Handelns verzwergt werden soll, eine zentrale Hilfeform in der Sozialen Arbeit (Bauer u. Weinhardt, 2014; Nestmann u. Sickendiek, 2018). Diese erbringt in ihrem gegebenen Vermittlungsauftrag zwischen Individuum und Gesellschaft sehr unterschiedliche Dienstleistungen, die den weiten Bereich der Hilfen zur Erziehung, der Jugendkulturarbeit, der Arbeit mit alten, behinderten oder geflüchteten Menschen, aber auch therapienahe Angebote, beispielsweise in der Suchthilfe oder der Sozialpsychiatrie etc., umfasst. Bis heute ist dabei nicht abschließend geklärt, ob die innere Systematik Sozialer Arbeit (Thole, 2011; Otto, Thiersch, Treptow u. Ziegler, 2018; Graßhoff, Renker u. Schröer, 2018) entlang von Arbeitsfeldern, Handlungsformen, gesellschaftlichen Diskursen oder Konzepten mittlerer Reichweite ausgerichtet ist und ob eine konsistente Theoriebildung für den Gesamtentwurf Sozialer Arbeit überhaupt möglich ist und auf welchen Objektbereich diese referenzieren kann (May u. Schäfer, 2018; Neumann u. Sandermann, 2018; Lambers, 2018). So erklärt sich, dass Literatur- und Forschungsstand bezüglich Fragen professionellen Handelns und seiner Genese im Kontext Sozialer Arbeit besonders unübersichtlich sind (Becker-Lenz, 2015; Becker-Lenz, Busse, Ehlert u. Müller-Hermann, 2013), wobei sich der Beratungsdiskurs nochmals parzelliert und sich wechselnd an Konzepten der Sozialen Arbeit einerseits und der Psychotherapie andererseits orientiert, mit der sie vor allem im internationalen Kontext eine große phänomenologische Nähe teilt. Diese Widersprüchlichkeiten lassen sich jedoch für diesen Beitrag erkenntnisreich nutzen, denn sie machen deutlich, dass ein Professionalisierungsmodell für systemisches Handeln in der Konsequenz zwei Argumente aufnehmen muss: Es muss einerseits generalistisch genug sein, um die Vielfalt an Teilprozessen in der Entwicklung hin zur beraterisch-therapeutischen Könnerschaft (Neuweg, 2004) abzubilden, und es muss andererseits domänenspezifisch sein, d. h., Wissens- und Könnenselemente für gelingendes Handeln hinreichend genau beschreiben, da beispielsweise davon auszugehen ist, dass die Gestaltung einer helfenden Beziehung oder Techniken und Methoden des Intervenierens in der Beratung und Therapie anders gestaltet werden müssen als in den Hilfen zur Erziehung oder in administrativen Tätigkeiten in der Sozialen Arbeit. Das hier vorgestellte Konzept nimmt Bezug auf eine längere Beschäftigung mit beraterischer Handlungskompetenzentwicklung unter der Lern- und Bildungsperspektive von Fachkräften in der Sozialen Arbeit (Weinhardt, 2019, 2018a, 2017, 2015, 2014; Henrich u. Weinhardt, 2018). Die darin eingegangenen Befunde und Konzepte wurden zu einem Modell subjektorientierter Professionalisierung (Weinhardt, 2018b) verdichtet, das derzeit in unterschiedlichen

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Kontexten pädagogischen Handelns zur Anwendung kommt (für die Lehrerbildung: Bauer, Christ, Kniep, Lange u. Weinhardt, i. E.). Nach einer kurzen Vorstellung des Gesamtmodells vertieft dieser Beitrag dabei zwei Aspekte: Ȥ Zum einen das Konzept der Identifikation und Lösung individueller fachlicher Entwicklungsaufgaben1 (Bauer et al., 2017) als Kernbestandteil des Professionalisierungsprozesses angehender systemischer Fachkräfte sowie die Berücksichtigung und Gestaltung der hierzu gehörigen Professionalisierungskulturen, die an verschiedenen Lernorten und -situationen als Antworten auf kontingente (Aus-)Bildungsoptionen gelesen werden können und die für die Soziale Arbeit bisher wenig stringent behandelt sind (Müller-­Hermann, Becker-Lenz, Busse u. Ehlert, 2018). Ȥ Zum anderen könnte dann eine aus einer Praxistheorie der Wissensgenese (Reckwitz, 2003; Schatzki u. Knorr-Cetina, 2001) informierte Perspektive, so die These, deutlich machen, dass diese individuellen Entwicklungsaufgaben im Kontext der sie strukturierenden Strukturen ganz unterschiedlich professionalisierungskulturell gerahmt werden können. Die systemische Beratungsszene hat dabei ganz eigene Antworten auf Fragen der Wissensgenese durch Wissensweitergabe entwickelt, z. B. eine stark an Personen und konkrete Ausbildungsinstitute gebundene orale Tradition (Bauer u. Weinhardt, 2016). Die Transformationen dieser Strukturen aufgrund der verstärkten Akademisierung von Beratung durch die Bolognareform sowie die sozialrechtliche Anerkennung und der damit einhergehenden Annäherung von (wissenschaftlicher) Weiterbildung und Hochschulbildung (Seitter u. Feld, 2019; Egger u. Bauer, 2017; Weinhardt, 2017) sind dabei derzeit noch gar nicht absehbar. Sagen lässt sich jedoch sicherlich, dass unter einer hier versuchsweise entfalteten integrierten Perspektive Professionalisierungsprozesse in ihrer sehr individuellen und subjektiven Gestalt sichtbar werden, auf die Studium, Weiterbildung und Berufspraxis Antworten finden müssen.

1 Der Text zu diesem Abschnitt basiert auf einem stark zusammengefassten und auf Beratung fokussierten Kapitel einer größeren Monografie (Weinhardt, 2019).

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Individuelle Entwicklungsaufgaben als Basis subjektorientierter Professionalisierung Abbildung 1 zeigt das vorgeschlagene Modell subjektorientierter Professionalisierung (Weinhardt, 2019, 2018a, 2018b), in dessen Zentrum die Bearbeitung von individuellen fachlichen Entwicklungsaufgaben steht. Es basiert in seinen Grundannahmen auf dem Forschungs- und Theorieprogramm der Bildungsgangforschung, die im deutschsprachigen Raum durch Hericks (2001, 2006) in der Lehrer(innen)bildung prominent geworden ist, erweitert diese jedoch systematisch. Grundlage der Bildungsgangforschung ist die Trennung zwischen objektivem und subjektivem Bildungsgang und damit die theoriekonsistent angelegte Öffnung von Lernen hin zur Bildung: Ȥ Der objektive Bildungsgang ist dabei die Gesamtheit der objektiv hergestellten Strukturen, also Sozialformen, Curricula, Prüfungsformate, Rhythmisierung etc., die sich auf der Strukturseite des Modells abbilden. Im Kontext von Professionalisierung in Beratung und Therapie ist bei der Betrachtung der Strukturseite zu beachten, dass sich hier die gesamte Vielfalt von Bildungsinstitutionen abbildet und so phasenweise Hochschulstrukturen, Weiterbildungsstrukturen oder Anforderungen des (Weiter-)Lernens an der Arbeitsstelle relevant sind. Ȥ Auf der anderen Seite des Modells erscheinen die individuellen Voraussetzungen der Lernenden, beispielsweise Vorwissen und Vorerfahrung, aber auch Berufswahlmotive, Selbstwirksamkeitserleben oder epistemische Überzeugungen zu beraterischem Handeln. Für beide Seiten gilt dabei, dass die aufgelisteten Eingangsvariablen zwar aus dem Korpus der allgemeinen Professionalisierungsforschung zu entnehmen sind, aber sicherlich keine vollständige Aufzählung darstellen. In der konkreten Anwendung des Modells für die Gestaltung von systemischen Aus- und Weiterbildungsprozessen und deren reflexiver Begleitung und Erforschung müssen hier also fallweise Ergänzungen und Erweiterungen abgebildet werden. Die größte Spezifikationsherausforderung ergibt sich jedoch aus der dritten Einflusssphäre auf die eigentlichen Wissensbildungsprozesse, die im Zentrum des Modells stehen:

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Abbildung 1: Modell subjektorientierter Professionalisierung (nach Weinhardt, 2018b, S. 51; Bauer et al., 2017)

Mit domänenspezifischem Zielhorizont des professionellen Handelns sind diejenigen Faktoren gemeint, die systemische Fachkräfte in Koproduktion mit ihren Adressaten und Adressatinnen erzeugen müssen, damit Beratung und Therapie erfolgreich werden kann. Hierzu gehören beispielsweise eine passende Haltung und Arbeitsbeziehung, das Entwickeln von Selbstwirksamkeitserleben etc. Zur genaueren Beschreibung eines systemischen Wirkfaktormodells, das entlang von Befunden und Konzepten der allgemeinen Wirkfaktorforschung zu einem schulübergreifend einsetzbaren, gut definierten Modell systemischen Handelns entwickelt wurde, liegt eine weiterführende Monografie vor (Weinhardt, 2018b). Im Mittelpunkt des Modells stehen die eigentlichen Lern- und Bildungsprozesse, die – das ist einer der zentralen Erkenntnisgewinne des Modells – sehr differenziert entlang der Unterscheidung impliziten und expliziten Lernens und Wissens unterschieden werden. Die daraus resultierende Vierfeldermatrix wurde von Neuweg vorgeschlagen, der sich aus einer berufspädagogischen Perspektive und mit einem starken Fokus auf implizite Prozesse mit beruflicher Handlungskompetenz befasst. Mit implizitem Lernen ist dabei dasjenige Lernen gemeint, das unbemerkt als solches stattfindet (Neuweg, 2015, S. 153). Bezogen auf Professionalisierung finden sich hier wichtige Anknüpfungspunkte an Prozesse, die als Einsozialisierung und Enkulturation in das Beratungs- und Therapiewesen oft nur beiläufig und mit zu wenig Konsistenz gewürdigt werden, obwohl möglicherweise gerade diese Lernvorgänge ganz wesentliche Weichenstellungen in der Professionalisierung bewirken, z. B. auf welche Art von Organisation und Einrichtungskultur (Schröer, Göhlich, Weber u. Pätzold, 2016; Klatetzki, 2015)

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das Lernen von Studierenden im Praktikum oder bei Berufsanfängern trifft. Solche impliziten Lernprozesse spielen jedoch nicht nur erst in der eigentlichen Professionalisierungsphase (also ab der Hochschulbildung) eine Rolle. Vielmehr lassen sich auch implizite Lernprozesse rekonstruieren, die einen großen Einfluss auf Beratungsfachlichkeit haben, jedoch wesentlich früher als mit dem Eintritt in das Studien- und Berufsfeld begonnen haben. Ein üblicher Theoriezugang hierzu ist das Habituskonzept von Bourdieu (Bourdieu, 1982, 1998; Engler, 2008), wobei insbesondere bei personenbezogenen Dienstleistungen mit augenscheinlicher Alltagsnähe die besondere Herausforderung darin besteht, berufliches Handeln nicht unreflektiert aus implizit gelernten Alltagsroutinen zu entwickeln.2 Vielmehr spielt implizites Wissen auch in der vollendeten Professionalisierung eine wesentliche, wenn nicht sogar die wesentlichste Rolle, wie in Neuwegs Formel des »Schweigens der Könner« (Neuweg, 2015) deutlich wird: Implizites Wissen entsteht in diesem Sinne auch als Transformationsprodukt aus anderen Lern- und Wissensarten. Dies wird im fortschreitenden Gang der Explikation der Vierfeldermatrix deutlich, denn auch explizites Lernen kann zu implizitem Wissen führen, womit in der Neuweg’schen Heuristik auch diejenigen Prozesse abgebildet sind, in denen offensichtlich gelernt wird und das Ergebnis dieses Lernens beispielsweise Routinen sind, die bei weitgehender Automatisierung wiederum nicht mehr sofort und vollständig expliziert werden können. Beispiele aus der psychosozialen Beratung sind hierfür konkrete Frage- und Interventionstechniken, deren Ex-Post-Explikation beispielsweise lehrende Beratende regelmäßig vor didaktische Probleme stellt, weshalb sich an vielen Stellen bis heute eine nicht vollständig didaktisch als solche gekennzeichnete und ausgewiesene Kultur des Lernens am Modell auffinden lässt und diese sich eher in der Weiterbildung, aber bisher nur selten in der Hochschullehre findet (Bauer u. Weinhardt, 2016). Explizites Lernen, das zu einer expliziten Wissensbasis führt, dürfte hingegen eine Lern- und Bildungsformation darstellen, die die Intentionen formaler Bildungsangebote besonders abbildet, in denen die Aufnahme und Reproduktion von Wissen in den bis heute überwiegend dort etablierten Praktiken die Hauptrolle spielt. Weiterhin stellt dieser Prozess auch den Weg dar, der (auch entgegen vieler Forschungsbefunde) meist überwiegend in der klas2 Besonders Beziehungsgestaltungsfähigkeiten sind hier immer wieder Anlass zu unklarer Begriffsbildung: Die Gestaltung einer Arbeitsbeziehung ist in der Beratung Teil des professionellen Handelns und dort domänenspezifisch definiert. Sie ist zu unterscheiden von allgemeinen sozialen Kompetenzen, wie sie domänenübergreifend sicherlich in allen Dienstleistungsberufen wünschenswert und nochmals zu trennen sind von Alltagskompetenzen eines gelingenden menschlichen Umgangs in nichtprofessionellen Kontexten.

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sischen Professionalisierung unterstellt wird, die sich auf ein Zertifikatswesen beruft. Diese Tatsache (und auch das Akzeptieren der Differenz zwischen formaler Legitimation und echtem Können) ist insofern nicht weiter verwunderlich, denn zur Verwaltung exklusiver Zuständigkeit für eine spezifische Fragestellung im Sinne einer klassischen Profession gehört notwendigerweise das nach außen und innen als Inklusionskriterium legitimierbare und damit explikationsbedürftige Wissen. Und schließlich existiert ein Weg, der von implizitem Lernen zu explizitem Wissen führt. Er macht u. a. damit das implizite Lernen selbst zum Gegenstand, reflektiert also die nicht unmittelbar zugänglichen Wissensbildungsprozesse und beschreibt so das an vielen Stellen auffindbare Reflexionserfordernis sozialprofessionellen Handelns. Beispiele hierfür sind die zahlreichen, auf Selbst- und Fremdaufklärung der eigenen Biografie zielenden Formate, die intensiv in der Beratungsausbildung angewendet und diskutiert werden. Vermehrt findet diese Wissenskonfiguration aber auch Niederschlag in der Hochschullehre bzw. wird dort zumindest stark diskutiert, wobei neben den inhaltlichen Fragestellungen vor allem auch die Begrenzungen eines formalen Bildungssystems Berücksichtigung finden müssen, in dem Lehrende und Lernende nicht bedingungslos auf die eigene Biografie und die zugehörigen Eigenheiten impliziter Wissensbildung zugreifen können. Schon die Aufschlüsselung in die analytischen Teilprozesse von Professionalisierung entlang der Vierfeldermatrix der Wissensbildung zeigt, dass es sich hierbei um ein komplexes Geschehen handelt. Dem Grundgedanken der Bildungsgangforschung folgend, zeigt sich dann auch, dass ein aus (vermeintlich) objektiven Strukturen bestehender objektiver Bildungsgang immer nur als subjektiver Bildungsgang erfahrbar wird und so eine außerordentlich aktive Konstruktions- und Aneignungsleistung darstellt. Im ursprünglich von Hericks rezipierten Ausgangsmodell gilt dabei die Annahme, dass sich diese Prozesse auf der subjektiven Ebene so als Entwicklungsaufgaben beschreiben lassen, dass sie Lernenden und Lehrenden als Sinngestalten von Lern- und Bildungsprozessen gelten können. Bei Übernahme dieser zentralen Prämissen des Modells von Hericks, das inhaltlich auf den gut operationalisierten Bereich der Lehrerbildung und zeitlich auf die Phase der hochschulischen Bildung zielt, muss es aber für die Adaption im Kontext von Beratungsprofessionalisierung über den gesamten Lebenslauf erweitert werden. In der Folge wird im vorliegenden Modell nicht von definierten Entwicklungsaufgaben im Sinne einer abschließenden Liste ausgegangen, die in vorgebbaren Teilphasen der Professionalisierung zu bearbeiten sind. Vielmehr gilt bereits die Herstellung jeweils kohärenter Deutungen und Definitionen von

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Entwicklungsaufgaben als Teil des Lern- und Bildungsprozesses, um so der besonderen Pluralität der Strukturseite gerecht zu werden. Die Konsistenz des Modells ergibt sich an dieser Stelle also im Gegensatz zu den Ausgangsüberlegungen von Hericks nicht aus der Festlegung der Menge und Beschaffenheit von Entwicklungsaufgaben, sondern dem domänenspezifischen Zuschnitt des konkreten Erwartungshorizontes professionellen Beratungshandelns (hier in der Sozialen Arbeit), dem zugestanden wird, dass es als besonders komplexe, personenbezogene Dienstleistung aus heterogenen individuellen Ausgangsbedingungen, über eine lange Zeit hinweg und an zahlreichen und sehr unterschiedlichen Lern- und Bildungsorten entwickelt wird. Der Bildungsgang unter der so skizzierten Perspektive von Professionalisierung als Lebenslanges Lernen umfasst dann alle Strukturen des Lebenslaufes, in denen Bildung thematisch wird, also vor allem auch das Lernen in sehr unterschiedlichen Organisationen der Sozialen Arbeit und psychosozialen Versorgung, in denen Beratung und Therapie praktiziert werden, zumal diese Institutionen und Organisationen wesentlich heterogener ausgestaltet sind als etwa die Institution Schule (Müller-Hermann et al., 2018), die nach wie vor eine präziser beschreibbare Funktion übernimmt als das Gesamtsystem wohlfahrtsstaatlicher Angebote, in und durch das psychosoziale Beratung und Therapie angeboten werden und innerhalb dessen Professionalisierungsprozesse formiert und absolviert werden.

Professionalisierungskultur als Rahmung von Lern- und Bildungsprozessen Aus den bisherigen Ausführungen, die von zahlreichen Forschungsbefunden gedeckt sind, wird deutlich, dass unter einer Lern- und Bildungsperspektive Professionalisierung als hoch individueller Bildungsprozess erscheint. Sein subjektiver Gehalt speist sich dabei aus dem Spannungsfeld unterschiedlicher struktureller Anforderungen der Institutionen des Bildungslebenslaufes und ihrer Programme sowie den individuellen Eingangsvoraussetzungen der Lernenden. Die besondere Herausforderung und Qualität von Professionalisierung unter der Bildungsperspektive besteht vor allem darin, implizite und explizite Wissensbildungsprozesse hinsichtlich des Zielhorizontes gelingenden systemischen Beratungshandelns zu integrieren. Selbst bei sehr feingliedriger Analyse einzelner, empirisch rekonstruierter Bildungsverläufe bleibt aber dann immer noch die Frage offen, auf welche spezifische Weise diese vielfältigen Faktoren und Optionen miteinander verbunden sind und verbunden werden. Zwar hat Becker-Lenz (Becker-Lenz, 2018) zutreffend festgestellt, dass von einer ein-

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heitlichen Professionskultur als übergreifendem Orientierungsrahmen in der Sozialen Arbeit nicht gesprochen werden kann. Möglicherweise – hier begänne im Anschluss an das bisher Berichtete ein neuer Forschungszugang – ist ein definierter Kulturbegriff aber dann tragfähig und nutzbringend, wenn einer Beschränkung im Sinne der hier entfalteten Domänenspezifik, in diesem Text also auf Professionalität von (systemischer) Beratung und Therapie, Rechnung getragen wird. In Anschlag zu bringen wäre dann der Begriff einer beraterischen Professionalisierungskultur als domänenspezifische Antwort auf die Frage nach Selektionsmechanismen zur Rahmung von Lern- und Bildungsprozessen. Ein solcher Zugang im Sinne eines dem Practice Turn folgenden Alltagskulturbegriffs (Reckwitz, 2003) fragt, wie im alltäglichen (Aus-)Bildungswesen von allen Akteurinnen und Akteuren und den von ihnen verwendeten Materialien Beratungsprofessionalisierung gestaltet wird. Dabei wäre es außerordentlich reizvoll, auch die Bedeutung von Materialität in Professionalisierungsprozessen zu untersuchen. So tauchen in den Narrationen um das systemische Ausbildungswesen einerseits die viel besprochenen Urgesteine und Gründungsfiguren als Urheber und Vorbilder einer oralen Wissensreproduktion auf, die auf eine besonders betonte Entfaltung von Bildungspraxis durch menschliche Handlungsvollzüge verweisen. Gleichzeitig scheinen konkrete Orte und Materialien, beispielsweise besondere Gebäude, in denen Ausbildungsinstitute untergebracht sind bzw. die Städte, in denen diese sich befinden3 oder überlieferte und unter der Hand weitergegebene Videoaufzeichnungen mit besonders eindrucksvollen Beratungsszenen bedeutsame Rollen zu spielen. Andererseits lässt sich eine vornehme Zurückhaltung im Einsatz sonstiger (digitaler) Medien sowohl bezüglich Form (z. B. Beamer und Whiteboards anstatt der an vielen Stellen kultartig eingesetzten Flipchartvisualisierungen) als auch Inhalt (z. B. als KI-unterstützte oder vollkommen computergesteuerte, self-guided Beratungsangebote; Berger u. Krieger, 2018) beobachten. Alle diese Handlungspraxen lassen sich durch die Frage nach der spezifischen kulturellen Praxis des Beratungsprofessionalisierungswesens möglicherweise beantworten. Intuitiv werden viele systemische Fachkräfte beim Versuch der Einführung eines solchen Kulturbegriffs von einem durchaus fassbaren Rahmen ausgehen, denn zahlreiche Selektionserfordernisse liegen bereits im spezifischen Gegenstand eingeschrieben: Soll für die Vermittlung von Beratungsverfahren ein eher (selbst)erfahrungsorientierter Modus ein3 Im deutschsprachigen Raum wird beispielsweise von der Heidelberger Gruppe (um Helm Stierlin), international von der Palo-Alto-Gruppe (am Mental Research Institute/MRI: Marc, Picard u. Holl, 1991) oder »den Mailändern« (um Mara Selvini Palazzoli) gesprochen.

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geschlagen und Zurückhaltung mit einer allzu starken Didaktisierung geübt werden? Wie wird mit dem Spannungsfeld umgegangen, Fachkräfte für einen wohlfahrtsstaatlich alimentierten Bereich mit begrenzten Einkommens- und Aufstiegschancen im Rahmen kostspieliger, kommerzieller Selbstzahlerfortbildungen aus- und weiterzubilden? Wie wird die unhintergehbare Ambivalenz gelöst, dass für die Signalisierung von Fachkompetenz Zertifikate vergeben werden, die systemische Theoriebildung aber bisweilen sehr radikal zu der Feststellung neigt, dass Kompetenzen soziale Konstruktionen sind und deshalb nicht als personengebundenes Wissen und Können an Fachkräften festgemacht werden können? Antworten auf diese auf Dauer gestellten Ambivalenzen werden dabei beobachtbar zufriedenstellend insofern gegeben, als dass die systemische Community entlang der Professionalisierung ihres Beratungsverfahrens auf der Makroebene Dachverbände gegründet und Ausbildungsrichtlinien erlassen hat, auf der institutionellen Ebene kommerzielle Weiterbildungsorganisationen unterschiedlicher Ausprägung unterhält und auf der individuellen Ebene der Zustrom an lernbereiten Ausbildungsteilnehmenden nicht abreißt. Es wäre nun reizvoll, diese erfolgreichen Selektionen hinsichtlich der Einrichtung von Bildungsprozessen in der systemischen Beratung als Professionalisierungskultur näher zu beschreiben. Begreift man Kultur zunächst im allgemeinen Sinne als Antwort auf Weltoptionen (Waldenfels, 2011), so wäre Professionalisierungskultur also die Antwort auf Fragen der konkreten Ausgestaltung entlang des dargestellten Modells. Hieraus ergäbe sich dann naturwüchsig, unter einer ethnografischen Perspektive und möglicherweise als Längsschnitt eingerichtet die konkrete Professionalisierungspraxis in der systemischen Beratungs­ community als Korrelat einer beschreibbaren Professionalisierungskultur zu rekonstruieren – ähnlich wie dies Schatzki und Knorr-Cetina (2001) für Naturwissenschaften und gestaltende Berufe unternommen haben. Möglicherweise, dies ist eines der spannenden Erkenntnisse aus den Studien zur Wissenserzeugung in naturwissenschaftlichen Laboren, sind auf kultureller Ebene auch in der beraterischen Professionalisierung ganz andere Logiken und Faktoren wirksam, als die Oberflächenstruktur des (Aus-)Bildungswesens ausweist.

Fazit Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich die Genese von Fachlichkeit auf der konkreten Ebene einzelner Fachkräfte theoretisch und empirisch gesättigt beschreiben lässt.

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Das vorgestellte Modell subjektorientierter Professionalisierung macht angesichts heterogener (Aus-)Bildungsstrukturen und Eingangsvoraussetzungen aufseiten der Lernenden den Vorschlag, Professionalisierung als Lösung individueller fachlicher Entwicklungsaufgaben zu formulieren. Das aus zahlreichen empirischen Studien heraus entwickelte Modell kann dann als Heuristik dienen, mit der Lernende und Lehrende Lern- und Bildungsprozesse reflektieren und gestalten können und ist als Konkretisierung anschlussfähig an Konzepte der reflexiven Professionalisierung (Schwarz et al., 2014; Otto, Polutta u. Ziegler, 2010). In einem darauffolgenden Schritt wird eine bisher noch nicht empirisch befriedigend gelöste Frage formuliert, nämlich durch welche Selektions- und Steuerungslogiken die einzelnen Faktoren der so in ihrer Komplexität deutlich werdenden Prozesse zusammengehalten werden. Der Vorschlag besteht darin, vermehrt die Tragfähigkeit einer spezifischen Professionalisierungskultur im (systemischen) Beratungswesen zu prüfen. Dies wäre bezogen auf Forschung ein ansprechendes Programm und angesichts der vielfältigen Selbstvergewisserungsnotwendigkeiten der systemischen Community eine möglicherweise angemessene Antwort auf neue Herausforderungen des Beratungsfeldes, die sich durch die Akademisierung der Beratungslandschaft und die sozialrechtliche Anerkennung als Psychotherapieverfahren auf allen Ebenen systemischen Arbeitens abzeichnen.

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Die erkenntnistheoretischen Säulen und praxeologischen Grundorientierungen systemischen Arbeitens

Einführung Das von Schlippe’- und Schweitzer’sche Postulat Soll auf die Frage »Was ist ›systemisch‹?« geantwortet werden, dann bietet sich (für mich) eine Aussage von Arist von Schlippe und von Jochen Schweitzer (z. B. 1996, S. 32; 2019) an, die systemische Praxis als angewandte Erkenntnistheorie markieren. An dieses Postulat knüpft sich eine weitere Frage an, nämlich welche Erkenntnistheorie es denn sei, die da angewendet werden soll? Die Antwort auf diese Frage wäre: Konstruktivismus und Systemtheorie (siehe Abbildung 1 sowie Ochs, 2013; Ochs u. Lingnau-Carduck, in Vorb.). Auch wenn es Überschneidungen zwischen beiden gibt1, so erscheint es gerechtfertigt, diese beiden erkenntnistheoretischen Standbeine separat bezüglich ihrer Implikationen für die systemische Praxis sowie Fort-, Aus- und Weiterbildung in den Blick zu nehmen: Denn es gibt konstruktivistische Ansätze, die komplett ohne Systemtheorie auskommen, und systemtheoretische Perspektiven, die sich explizit vom Konstruktivismus distanzieren. Dieser Beitrag skizziert u. a. Auswirkungen auf Praxis und Weiterbildung, die durch meist implizit bleibende Theorieunterscheidungen zustande kommen.

1 Gloy (2006, S. 221) formuliert in seiner Einführung zur Gegenwartsphilosophie: »Wo von System und Systemtheorie die Rede ist, liegt der Gedanke der Konstruktion und des Kon­ struktivismus nicht fern.«

Die erkenntnistheoretischen Säulen und praxeologischen Grundorientierungen

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Abbildung 1: Die zwei erkenntnistheoretischen Säulen des systemischen Arbeitens

Die drei K Was Systemtheorie angeht, so lassen sich zwei Strömungen unterscheiden, die im deutschsprachigen Raum zur theoretischen Fundierung systemischer Praxis relevant sind: die soziologische (Luhmann, 1984) und die synergetische Systemtheorie (Haken, 1983). Bei der Betrachtung sozialer Beziehungsgefüge – wie Familien, Organisationen oder Netzwerken – steht innerhalb der soziologischen Systemtheorie Kommunikation im Mittelpunkt; im Rahmen der Theorien dynamischer Systeme, wie der synergetischen Systemtheorie, geht es um Komplexität. Wird diesen beiden basalen systemtheoretischen Kernen Kommunikation und Komplexität noch der Konstruktivismus hinzugefügt, dann hat man quasi die »drei K« systemischer Erkenntnistheorie beisammen – nicht Kinder, Küche, Kirche, sondern: Kommunikation, Komplexität, Konstruktivismus. Konstruktivismus ist ein Oberbegriff für Erkenntnistheorien, die davon ausgehen, dass a) unser Erleben – von der Welt, der Wirklichkeit und von uns selbst – hergestellt, eben »konstruiert« ist; sowie b), dass es, daraus folgend, keinen objektiven Zugang zu Welt gibt (Gadenne, 2018). Erkenntnis spiegelt nicht einfach abbildhaft wider, was »da draußen« ist (das wäre die philosophische

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Position des naiven Realismus2) – oder, um dies metaphorisch auszudrücken: Die Landkarte (unsere Konstruktion) ist nicht die Landschaft (»da draußen«; Korzybski, 1933). Für die systemische Praxis sind drei konstruktivistische Strömungen relevant: biologischer/radikaler Konstruktivismus, sozialer/relationaler Konstruktionismus sowie gemäßigter/psychologischer Konstruktivismus (ausführlicher hierzu Ochs u. Lingnau-Carduck, in Vorb.). Wissenschaftliche Grundlagen und empirische Evidenz Die beiden erkenntnistheoretischen Grundlagen systemischer Praxis markieren zudem die wissenschaftlichen Grundlagen selbiger, was sich etwa auch in entsprechenden Forschungsprogrammen ausdrückt. Von der wissenschaftlichen Begründetheit lässt sich die empirische Evidenz, also die durch empirische Erhebungen und Daten untermauerte systemische Praxis unterscheiden (Ochs, 2019; Ochs u. Lingnau-Carduck, in Vorb.). Für deren Anwendungsfeld Psychotherapie ist diese Evidenz inzwischen extensiv dokumentiert worden (z. B. von Sydow, 2012; Carr, Pinquart u. Haun, 2020). Was große Anwendungsfelder systemischer Praxis jenseits psychotherapeutischer Heilkunde angeht, etwa psychosoziale oder Organisationsberatung, so liegen ebenfalls empirische Evidenzen vor – wenn man einem Verständnis von Evidenzbasierung folgt, das von einer Integration und Nicht-Hierarchisierung der Perspektiven etwa klinischer Expertise und externer RCT-Effekte (RCT = randomized controlled trial, dt. randomisierte kontrollierte Studie) ausgeht (Sackett, Rosenberg, Gray, Haynes u. Richardson, 1996) sowie verschiedene Forschungszugänge zum Gegenstandsbereich, explizit auch qualitative (Greenhalgh u. Taylor, 1997), in den Blick nimmt.3 Was Aus-, Fort- und Weiterbildung angeht, so erscheint dies insofern relevant, als dass professionelles Vorgehen immer auf dem Hintergrund wissenschaftlicher Grundlagen zu erfolgen hat – diese differenzierter zu reflektieren und im Diskurs argumentativ vertreten zu können, ist deshalb ein wichtiger Aspekt von Kompetenzentwicklung.

2 Naiver Realismus würde als epistemologischer Gegenspieler des Konstruktivismus fungieren – und nicht, wie manchmal vermutet wird, kritischer Rationalismus oder Popper’scher Positivismus (z. B. Gadenne, 2018). 3 Beispiele hierfür sind zu finden etwa in Ochs und Schweitzer (2012) und Ochs, Borcsa und Schweitzer (2020).

Die erkenntnistheoretischen Säulen und praxeologischen Grundorientierungen

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Umsetzung der erkenntnistheoretischen Grundlagen in die Praxis Was die Realisierung der erkenntnistheoretischen Grundlagen in der systemischen Praxis angeht, so kann davon ausgegangen werden, dass diese stattfindet, wenn die praxeologischen4 Grundorientierungen systemischen Arbeitens umgesetzt werden. Diese Grundorientierungen lassen sich theoretisch von den beiden erkenntnistheoretischen Standbeinen nachvollziehbar ableiten. Die praxeologischen Grundorientierungen sind (siehe Abbildung 2): Ȥ Lösungs- und Ressourcenorientierung, Ȥ Kontext- und Musterorientierung, Ȥ Kunden- und Auftragsorientierung, Ȥ Kooperations- und Beziehungsorientierung, Ȥ Neugier- und Kreativitätsorientierung, Ȥ Allparteilichkeits- und Neutralitätsorientierung.

Abbildung 2: Die praxeologischen systemischen Grundorientierungen und ihre mögliche Ausprägung (0–100 %) in einem hypothetischen spezifischen Fall

4

Praxeologie meint die Lehre vom (wirkungsvollen) Handeln (Maluschke, 1971; Espinas, 1890).

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Lösungs- und Ressourcenorientierung Umfassend, konsequent und von Beginn an … Lösungs- und Ressourcenorientierung kann als diejenige Grundorientierung betrachtet werden, die am ehesten mit dem systemischen Ansatz assoziiert wird. Tatsächlich ist die empirische Evidenz für jenes systemische Vorgehen, das am stringentesten Ressourcen- und Lösungsorientierung realisiert, nämlich die lösungsorientierte Kurztherapie, beeindruckend (Ochs, 2019). Kein anderes Therapie- und Beratungsverfahren praktiziert Lösungs- und Ressourcenorientierung so umfassend, konsequent und von Beginn an wie das systemische. In Systemischer Therapie/Beratung wird erarbeitet, dass die Patienten, Klienten, Kunden, Adressaten sehr schnell wieder auf eigene Füße kommen, ihr Leben selbst in die Hand nehmen und hierfür so viele Ressourcen (z. B. intra- und interpsychische, infrastrukturelle und sozioökonomische, spirituelle, aber auch primäre, sekundäre sowie tertiäre Netzwerke) jenseits des Therapiekontextes wie möglich nutzen. … und dennoch eingebettet in Beziehung Deshalb werden lösungs- und ressourcenorientierte Fragen häufig schon in den allerersten Stunden gestellt. Als solch eine initiale Frage schlägt Kindl-Beilfuß (2012, S. 23) etwa vor: »Angenommen, die Dinge entwickeln sich gut, was wäre für Sie ein guter Schritt nach vorn?« Selbstredend gilt auch für systemischlösungsorientiertes Arbeiten, dass Techniken und Methoden eingebettet sein müssen in gelingende professionelle Beziehungsprozesse (siehe Kooperationsund Beziehungsorientierung). There must be some misunderstanding – part 1: »turning shit into roses« Des Weiteren erscheint keine praxeologische Grundorientierung mit so vielen Missverständnissen behaftet wie die Lösungs- und Ressourcenorientierung. Ein plattes »positives Denken«, wie es etwa in Persönlichkeits- oder Motivationsseminaren praktiziert wird, nach dem Motto »Think positive – und alles wird gut!«, ist hiermit explizit nicht gemeint – auch keine banales »turning shit into roses« oder das Negieren von Problemen und Defiziten. Ein solches Denken erlaubt ein systemisches Vorgehen schon wegen der Zentralität des Prinzips des systemischen Antagonismus (siehe Kontext- und Musterorientierung) in sel-

Die erkenntnistheoretischen Säulen und praxeologischen Grundorientierungen

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bigem nicht, d. h., Lösungs- und Ressourcenorientierung ist nicht ohne deren widerstreitende Tendenz Problem- und Defizitorientierung reflektier-, denkund behandelbar. Es geht eher um die Kompetenz des »binokularen« Sehens, bei dem sowohl mit einem problem- und defizitorientierten als auch mit einem ressourcen- und lösungsorientierten Auge fachliche Perspektiven realisiert werden können (Fürstenau, 2007). Denn analog zur Wahrnehmungsphysiologie entsteht »Tiefenschärfe« erst durch diese »beidäugige Sehen«, so auch beim systemischen Fallverstehen; es geht also metaphorisch darum, sowohl Dr. Jekyll als auch Mr. Hyde in die Therapie- und Beratungsdiskurse einzuladen. Die Einbeziehung von »Binokularität« in das ressourcen- und lösungsorientierte Arbeiten verdeutlicht auch, dass Problemaktualisierung und Problembewältigung, die als wichtige Aspekte der allgemeinen Wirkprinzipien von Beratung gelten (Grawe, 1995), im Kontext des systemischen Ansatzes durchaus ihren Platz haben. Zudem weist Carr (2016) darauf hin, dass wesentlich für Erfolg systemischer Interventionen ist, Probleme und Schwierigkeiten anzusteuern und zu thematisieren (auch wenn es »weh tut«, wenn nicht »ewig um den heißen Brei herumgeredet« wird) – denn andernfalls ist Unwirksamkeit dieser Interventionen zu prognostizieren. Um dies zu tätigen, wird allerdings umfänglich auf im System verfügbare Ressourcen und Stärken rekurriert. Diese werden lösungsorientiert umgedeutet – die Ressourcen und Stärken werden also konsequent genutzt, um Problemaktualisierung und -bewältigung zu betreiben. Hier ist ein Art »Jongliertalent« gefragt, welches zwischen dem defizit- und problemorientierten Blick und der lösungs- und ressourcenorientierten systemischen Perspektive hin und her pendelt (de Shazer, 1989, S. 237). There must be some misunderstanding – part 2: das »Pippilotta-Prinzip« Ein weiteres manchmal bei der Lösungs- und Ressourcenorientierung anzutreffendes Missverständnis ist das Motto »Warum schwer, wenn es auch leicht geht?!«. Dieses weisheitsferne Motto zeugt von einer naiven Anthropologie und einem trivialisierten Verständnis von Konstruktivismus, das dem PippilottaPrinzip folgt (»Ich mach mir die Welt, widewide, wie sie mir gefällt«). Zum einen vernachlässigt es eine wesentliche lernpsychologische Erkenntnis, nämlich, dass das Ausrichten des Verhaltens anhand sich »leicht anfühlender« kurzfristiger Konsequenzen – meist aufgrund negativer Verstärkungseffekte (z. B. Reduzierung unangenehmer Spannungszustände durch Konfliktvermeidung) – zu problematischen langfristigen Konsequenzen (z. B. Konflikteskalation) führt. Lernpsychologisch informierte »Lösungsorientierung« beinhaltet dagegen das

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Aushalten kurz- bis mittelfristiger Spannungs- und Unwohlzustände, also das Realisieren von Frustrationstoleranz zugunsten von erstrebenswerten langfristigen Konsequenzen (z. B. gelingender Konfliktklärung). Zum anderen verschließt dieses Motto die Augen vor der in sämtlichen spirituellen Traditionen vorzufindenden Erkenntnis, dass, wie es Buddha ausdrückte, »in any given lifetime, we would be given ten thousand joys and ten thousand sorrows« (Walsh, 1999, S. 122). Die Tür, die nur von innen geöffnet werden kann Doch weshalb ist Lösungs- und Ressourcenorientierung so zentral für systemische Praxis? Neben der bereits angedeuteten empirischen Evidenz lässt sich dies ableiten aus systemtheoretischen Grundlagen: Lebende komplexe Systeme sind nicht direktiv instruier- und steuerbar, sie können sich »nur« selbstorganisiert aus sich selbst heraus verändern. Veränderung bzw. Wandel ist eine Tür, die nur von innen geöffnet werden kann, wie ein französischer Aphorismus sinngemäß lautet (Rufer u. Schiepek, 2014, S. 328). Alle diejenigen, die professionell mit komplexen, lebenden Systemen arbeiten, können, um in der Tür-Metapher zu bleiben, lediglich »anklopfen«; das System »entscheidet« jedoch selbst, ob es die Tür öffnen will – und es entscheidet, was es mit dem »Anklopfen« macht. Die »guten Gründe« Zum anderen speist sich ein wichtiges Kalkül des lösungs- und ressourcenorientierten Vorgehens, nämlich jenes der »Guten Gründe« (z. B. EbbeckeNohlen, 2000), aus der systemtheoretischen Erkenntnis, dass alles, was Systeme produzieren an Dynamiken und Strukturen, eine Funktionalität für deren Selbstherstellung hat. Praktisch bedeutet dies, dieser Funktionalität – also auch all dem, was als schwierig und leidvoll erfahren wird – zunächst wertschätzend und würdigend zu begegnen; dies kann geschehen durch die Einladung, Hypothesen bezüglich der »Guten Gründe« zu generieren und zu explorieren. Oft gelingt es, die dahinterliegenden Bedürfnisse, Anliegen, Funktionalitäten dann in den Blick zu nehmen und auf diese einzugehen, mit diesen zu arbeiten. Grundsätzlich lassen sich aus der Perspektive dieses Kalküls sämtliche Schwierigkeiten auf diese Art und Weise reflektieren. Dadurch können quasi »Probleme zu Lösungen« werden (Mücke, 2003), und Umdeutungen bzw. Neurahmungen stellen eine wichtige Technik systemischen Arbeitens dar (Ochs, 2012).

Die erkenntnistheoretischen Säulen und praxeologischen Grundorientierungen

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Solution Talk Aber nicht nur die systemtheoretischen epistemologischen Grundlagen systemischer Praxis, auch die konstruktivistischen legen ein lösungs- und ressourcenorientiertes Vorgehen nahe: »Problem talk leads to problems, solution talk leads to solutions«, wie das berühmte Diktum von Steve de Shazer (1989) lautet. Dieser sozial-konstruktionistischen Erkenntnis folgend, dass Sprache Wirklichkeit (mit)kreiert, wird beim systemischen Arbeiten viel Wert auf ein »lösungs- und ressourcenorientiertes Sprechen« gelegt. Dies bedeutet, weniger ein ausführliches Analysieren, Kategorisieren und Inventarisieren von Problemen, Schwierigkeiten und Konflikten im Dialog voranzutreiben, als vielmehr Wert zu legen auf ein extensives und detailliertes Erkunden, Sammeln und Anregen von multiplen Ressourcen und Lösungsansätzen auf vielfältigen Systemebenen mit allen relevanten Akteuren. De Shazer wies darauf hin dass »es ein großer Irrtum der Psychotherapie sei, zu vermuten, dass zwischen dem Problem und seiner Lösung ein Zusammenhang bestehe. Im Gegenteil, Lösungen seien sich ähnlicher als Probleme; man brauche kein Schlosser zu sein, um ein Schloss zu öffnen, es brauche nur den passenden Schlüssel oder Dietrich« (von Schlippe, 2010, S. 70).

Kontext- und Musterorientierung Old School Family Therapy Kontext- und Musterorientierung bezieht sich auf jene Aspekte, die landläufig mit Systemischer (Familien-)Therapie in Zusammenhang gebracht werden, nämlich auf das Verstehen, Erkennen, Explorieren und Verändern der mit Problemen, Hindernissen und Konflikten assoziierten familiären Kommunikations- und Interaktionsmuster. Hierfür existieren eine Fülle von Modellen, vor allem auch im Kontext der »Old School«-Familientherapie (z. B. McMaster Model: Process Model of Family Functioning, Minuchin: Family Stress Model), wie sie etwa in einschlägigen Familientherapielehrbüchern beschrieben werden (z. B. Carr, 2012; Dallos u. Draper, 2015; Winek, 2014). Zudem gibt es eine Vielzahl an Methoden und Techniken, beispielsweise Netzwerkkarten, Beziehungslandschaften, diverse Formen der Skulpturarbeit oder systemische Sozio-, Geno- und Organigramme. Außerdem dienen verschiedene systemische Fragetypen – wie das Fragen nach Unterschieden oder das zirkuläre Fragen – dazu, dem gemeinsamen Diskurs zur Verfügung zu stellen, wie wichtige

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Akteure die Interaktions- und Kommunikationsmuster beschreiben, erleben und bewerten (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 249–276). Strumafreie Hälse Zum anderen sind im Zusammenhang mit Kontext- und Musterorientierung aber auch die intra- und interpsychischen konnotativen Kontexte von psychischen Symptomen und Problemen, also die »Landkarten« der Beteiligten, einbezogen. Denn nicht selten entscheiden diese darüber, ob ein Phänomen überhaupt als Konflikt, Hindernis oder Problem klassifiziert wird: »Bekanntlich ist es bei den Bewohnern von Hochgebirgsdörfern über Jahrhunderte hin mehr oder weniger zur Kropfbildung gekommen. Eines Tages nun verschlug es einen Städter mit einem dünnen, strumafreien Hals in eines dieser Dörfer. Es dauerte nur eine kurze Zeit, bis sich eine Schar laut johlender Kinder um ihn sammelte, die sich über seinen dünnen Hals lustig machte. Ihr Gejohle sorgte schließlich dafür, dass einige der Mütter einschritten, sich bei dem fremden Herrn für das Verhalten ihrer Kinder entschuldigten und ihnen ins Gewissen redeten, es gehöre sich nicht, über die Krankheiten seiner Mitmenschen zu spotten« (Simon, 1995, S. 50). Eigenzeiten: Alles hat seine Zeit – tatsächlich! Des Weiteren bezieht sich Kontext- und Musterorientierung darauf, zeitliche Muster der Dynamik von Systemen zu berücksichtigen, die sich auf einem zeitlich irreversiblen Kontinuum entfalten. Komplexe, lebende Systeme unterliegen idiosynkratischen zeitlichen Dynamiken, sogenannten »Eigenzeiten« (Nowotny, 1993). Dies bedeutet u. a., dass Systeme über veränderungssensible und veränderungsinsensible Phasen bzw. Zeiträume verfügen. Zum Beispiel sind Interaktions- und Kommunikationsmuster in Paarsystemen mitunter trotz des damit verbundenen Leids und der Konflikthaftigkeit chronisch so verfestigt, sodass fachlich ausgeklügelte Interventionen nicht mehr fruchten. Manchmal kann aber auch eine nebenbei gemachte Bemerkung, beispielsweise der harmlose Allgemeinplatz, »dass man auch mal fünf gerade sein lassen muss«, zu sprunghaften Veränderungen führen – je nachdem, wie veränderungsbereit das System sich selbst bereits »gemacht« hat. Die aus der synergetischen Systemtheorie abgeleiteten »generischen Prinzipien« (Haken u. Schiepek, 2010) dienen zur Konzeptualisierung, Handhabung und zum Verständnis selbstorganisierter Veränderungsprozesse in komplexen Systemen wie Netzwerken. Sie verweisen explizit im sechsten Prinzip, »Kairos«, ebenfalls auf den Aspekt der »Eigenzeit«.

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The (Holy) Law of Systemic Antagonism Damit komplexe Systeme sich überhaupt konstituieren, aufrechterhalten und ausdifferenzieren können, müssen sich die das System bildenden Elemente und Subsysteme in gegensätzlichen und different-divergenten Verhältnissen zueinander ausrichten. Der französische Komplexitätstheoretiker Edgar Morin formulierte in diesem Zusammenhang das »Gesetz des systemischen Antagonismus«, das besagt, dass gegenläufige Tendenzen und Widerstreit grundlegende Organisationsprinzipien komplexer Systeme sind. Morin (1981, S. 118) formuliert: »Organizational equilibriums are equilibriums of antagonistic forces. Thus, every organizational relationships, and then every system, comprises and produces antagonism and in the same time complementarity«; ähnlich schon Ludwig von Bertalanffy (1968, S. 66): »Every totality is based on competition between its elements and presupposes struggle between its parts.« Fritz Simon betont, dass komplexe Systeme paradox organisiert sind. Des Weiteren besagt das Prinzip des systemischen Antagonismus, das auch als »Prinzip der Balancierung gegenläufiger Tendenzen« (Simon, 1995, S. 73) bezeichnet werden kann, dass komplexe Systeme, »um ihre Integrität als Ganzheit, ihre Morphostase und Homöostase, zu gewährleisten, […] intern über Komponenten verfügen (müssen), die widersprüchliche Wirkungen ausüben« (S. 73). Morin wendet das Prinzip des systemischen Antagonismus immer wieder auch auf soziale Systeme an, etwa mittels der widerstreitenden Kräfte von Ordnung und Unordnung: »Disorder constitutes the inevitable, necessary, and often fecund response to the sclerotic, schematic, abstract, and simplifying character of order« (Morin, 2008, S. 65). Heterogenität, Antagonismen und Paradoxien sind Muster, die also notwendige Voraussetzungen für selbstorganisierte, »eigenzeitliche« Veränderungsprozesse sind. Systeme sind in der Lage, Vieldeutigkeit und Gegensätze zu organisieren und zu integrieren; dies ist vielleicht sogar einer ihrer wesentlichen Aufgaben.

Auftrags- und Kundenorientierung Wenn der Kunde (tatsächlich) König wäre Die Begriffe »Auftrag« und »Kunde« sind vor allem in betriebswirtschaftlichen und Dienstleistungszusammenhängen vorzufinden und werden mit solchen assoziiert. Diese Grundorientierung systemischen Arbeitens möchte jedoch nicht in neoliberal-kapitalistischer Manier der Ökonomisierung psychosozialer

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Verhältnisse und Tätigkeiten das Wort reden (Ochs u. Lemme, 1998). Um dieser »unheiligen« Assoziation von systemischer Auftrags- und Kundenorientierung mit neoliberalen Konzepten entgegenzutreten, schlägt Hargens (2015, S. 27 ff.) vor, eher von »kundigen Menschen«, denn von Kunden im psychosozialen Bereich zu sprechen. Demnach geht es darum, das Vorgehen nicht nur und nicht allzu sehr an den eigenen Vorstellungen, Konzepten und Hypothesen als Fachkraft auszurichten, sondern vor allem an den Bedürfnislagen, Wünschen, Zielen und Vorstellungen, eben an den »Aufträgen« – der Kundinnen und Kunden. In diesem Sinne sind beim systemischen Arbeiten die Patienten, die Klienten, die Familienmitglieder, die Adressaten von Hilfen tatsächlich »kundig« und somit »König«. Fortlaufend und ständig Systemische Auftragsklärung findet nicht nur zu Beginn von Beratungsprozessen, sondern fortlaufend statt – z. B.: »Welches Thema, welche Frage brennt heute unter den Nägeln/würde heute einen entscheidenden Schritt voran bedeuten?« Es wird zudem beispielsweise erkundet: »Wer will was? Von wem? Ab wann? Bis wann? Wie viel? Wozu? Mit wem?« Aber auch: »Gegen wen? Wer will was nicht? Von wem nicht? Wann noch nicht? Wann nicht mehr? Wozu nicht?« Dies unterscheidet Auftragsklärung etwa von der Zielklärung in anderen Beratungs- und Therapieverfahren (z. B. Ambühl u. Strauss, 1998). Es stellt sich also die Herausforderung, mit allen relevanten Akteuren solche Prozesse der Auftragsklärung immer wieder zu initiieren und zu durchlaufen. Nur so kann sichergestellt werden, dass nicht an den Bedürfnislagen, Wünschen, Zielen und Vorstellungen, eben an den »Aufträgen«, »vorbeigearbeitet« wird – mit dem Ergebnis, dass irgendwann alle frustriert sind, aber keiner so recht weiß, warum. Implizit, explizit und widersprüchlich – alles ist erlaubt Nicht selten existieren implizite und explizite, ausgesprochene und unausgesprochene Aufträge seitens Klienten/Kunden sowie seitens relevanter Akteure. Weiterhin kann damit gerechnet werden, dass die Aufträge der relevanten sozialen Akteure sich auch widersprechen. Hier kann die Erkenntnis helfen, dass lebende Systeme mit Paradoxie, Ambivalenz und Intransparenz angereichert sind, und deshalb solche Widersprüche in komplexen lebenden Systemen eher die Regel als die Ausnahme bilden (siehe Kontext- und Musterorientierung).

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Der »ganz normale Wahnsinn« des komplexen Auftragsgeflechts Eine fruchtbare inter- und (selbst)supervisorische Methode und Reflexionsfolie, um sich den möglichen impliziten und expliziten Aufträgen zu nähern, die im »ganz normalen Wahnsinn« des komplexen Auftragsgeflechts der Fälle, mit denen es Berater und Therapeuten zu tun haben, vorhanden sind, stellt das sogenannte »Auftragskarussell« dar (von Schlippe, 2014; hierzu auch Abbildung 9 in Ochs et  al., 2017, S. 56). Diese Methode ermöglicht es den Beratenden, Erwartungserwartungen (Luhmann, 1972, S. 33 ff.) hinsichtlich Auftraggebern im psychologischen Raum zu explorieren. Als Auftraggeber können im Sinne des Auftragskarussells etwa fungieren: alle relevanten Akteure und im psychologischen Raum die für den Fall bedeutsamen »Objekte«, z. B. Institutionen oder Selbstanteile (das »professionelle Über-Ich«).

Kooperations- und Beziehungsorientierung Sekundäre und tertiäre Netzwerke Die Notwendigkeit, zu kooperieren, lässt sich unmittelbar aus den erkenntnistheoretischen Grundlagen systemischen Arbeitens ableiten – um beispielsweise die subjektiven »Landkarten« relevanter Akteure und Adressaten neugierig explorieren zu können, muss mit diesen kooperiert werden (Ochs u. Orban, 2012). Kooperieren meint ein proaktives, also Initiative beinhaltendes Praktizieren, Anregen und Stärken der Zusammenarbeit auf vielen verschiedenen Ebenen, vor allem bezüglich sekundärer und tertiärer Netzwerke.5 Ein technokratischer Terminus, der in diesem Zusammenhang manchmal auftaucht, ist jener der Schnittstellenmanagementkompetenz; dieser bezieht sich darauf, nicht nur gelingend als Netzwerkkoordination kooperieren zu können, sondern auch die Kooperationsprozesse anderer Akteure konstruktiv begleiten und moderieren zu können. Zusammenarbeit ist neben Ermutigung und Kreativität einer der drei wesentlichen Wirkfaktoren systemischer Kurzzeitperspektiven (Furman, 2011).

5 Primäre, also etwa familiäre Netzwerke werden eher unter der Kontext- und Musterorientierung thematisiert.

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Multi-Sensorial Beings Die systemische Beziehungsorientierung basiert auf der basalen kommunikationstheoretischen Erkenntnis, dass der Beziehungsanteil der Kommunikation hochrelevant für gelingende (professionelle) Kooperation erscheint, denn »jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, dass letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist« (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969, S. 56). Dieses Watzlawick’sche Kommunikationsaxiom postuliert also sogar, dass der Beziehungsaspekt wichtiger als der Inhaltsaspekt ist – und richtet somit unser Augenmerk verstärkt auf nonverbale, analoge und implizite Anteile von Kommunikation (Knapp, Hall u. Horgan, 2014). Der Anthropologe Raymond L. Birdwhistell (1970) stellt dazu passend fest: »Man is a multi-sensorial being. Occasionally he verbalizes […] and we must seriously examine the implications of the fact that man does not communicate by word alone.« In diesem Zusammenhang kann auch das Konzept der »Resonanzbeziehungen«, das Rosa (2016) als Antagonist zum soziologischen Konzept der Entfremdung entwickelt hat, diskutiert werden – und zwar deshalb, weil die Kompetenz, auf diese Art mit der Welt in Beziehung treten zu können, eine Voraussetzung darstellt, um Zugang zu nonverbalen, analogen und impliziten Anteilen von Kommunikation zu erlangen. »Alle Sprache ist nur eine schlechte Übersetzung«– das soll Franz Kafka formuliert haben. Relationaler Konstruktionismus Andererseits stellt der relationale Konstruktionismus, der als »relational version of social constructionism« (Galbin, 2015, S. 934) betrachtet werden kann, eine erkenntnistheoretische Basis für systemische Beziehungsorientierung dar. Während der soziale Konstruktionismus die Perspektive einnimmt, dass Wirklichkeitskonstruktionen mittels Kommunikations- und Interaktionsmuster hergestellt werden, nimmt der relationale Konstruktionismus die Sichtweise ein, dass selbige sich in der ganzheitlichen Begegnung und Bezogenheit von Menschen  – die deren Leiblichkeit, Geschichtlichkeit und soziokultureller Prädisponierung (Habitus) mitberücksichtigt – erst entfalten kann, und zwar als quasi nicht endender, offener Prozess. Wer hierbei an Martin Bubers (1923) berühmtes Diktum denkt: »Der Mensch wird am Du zum Ich« (S. 32), denkt richtig. Denn die philosophische Tradition des Dialogismus, als einer deren Väter Martin Buber – neben vielen anderen (Ochs, 2018) – bekanntlich gilt,

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durchdringt regelrecht den relationalen Konstruktionismus, sodass er auch als eine postmoderne Ausformung des Dialogismus betrachtet werden kann.6 Kontextsteuerung per affektiver Rahmung Systemische Beziehungsorientierung unterscheidet sich bedeutsam etwa von psychodynamischer, bei der die Beziehung als Substrat für die Anwendung von Methoden/Techniken dient. Systemische Beziehungsorientierung bedeutet vor allem affektive Rahmung (Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 1998) – im Sinne von Kontextsteuerung für gelingende Selbstorganisationsprozesse. Basal sind hierfür (immer noch) die »Necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change« von Rogers (1957): Empathie, Kongruenz, unbedingte Wertschätzung. Grundlage für die Kompetenz der affektiv-rahmenden Kontextsteuerung ist Empathiefähigkeit und Selbsterkenntnis über die eigene seelische Verfasstheit sowie den eigenen entwicklungspsychologischen Bindungshintergrund7 – deshalb sind auch im systemischen Kontext Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und »Eigentherapie« notwendige Bestandteile von Trainings (z. B. Familienrekonstruktionen).8 Affektive Rahmung kann prinzipiell in sämtlichen professionellen Kontexten realisiert werden – Stephens, Heaphy und Dutton (2011) haben etwa den Begriff der sogenannten »High-Quality Connections« in diesem Zusammenhang entwickelt: »Im Focus von High-Quality Connections stehen kurze Interaktionen im Arbeitsleben, die sowohl für die interagierenden Personen, als auch für die Organisation positive Wirkungen haben. Ein positiver Kontakt kann aus einer momentanen, spontanen Begegnung heraus entstehen, er kann sich aber auch in einer länger andauernden Beziehung entwickeln und ändern. Dabei ist nicht notwendig, dass beide Personen eine gemeinsame Vergangenheit oder eine gemeinsame Zukunft verbindet. Im Zentrum steht das Hier und Jetzt einer wechselseitig aktiven, als positiv erlebten Begegnung« (Fischer, 2015, S. 37).

6 In gewissem Sinne nimmt der systemische Ansatz damit wieder Bezug auf eine seiner Wurzeln, nämlich die erfahrungszentrierte Familientherapie (Kriz, 2014, S. 270–272). 7 Unsichere Bindungshintergründe im Sinne der Bindungstheorie – damit ist eine eher geringe Zuversicht bezüglich der Verfügbarkeit, Verlässlichkeit und »Nützlichkeit« von Bindungspersonen gemeint – sind einer Untersuchung zufolge bei Beratungsfachkräften Früher Hilfen überrepräsentiert (Suess, Mali u. Bohlen, 2010). 8 Nodop und Strauss (2013) haben Kriterien mangelnder therapeutischer Eignung empirisch auf Grundlage der Antworten von Psychotherapieausbildungsinstitutsleitern ermittelt; am häufigsten wurden von jenen genannt: Psychische Instabilität/Störung, mangelnde Introspektions-/Reflexionsfähigkeit, Empathiemangel sowie mangelnde Interaktionskompetenz.

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Me, Myself and I – Mitgefühl mit mir selbst Letztendlich lässt sich auch Selbstfürsorge als Realisierung einer systemischen Praxis der Beziehungsorientierung verstehen. Denn aus systemtheoretischer Sicht ist auch das Selbst nur dialogisch konzipierbar – nämlich insofern, als dass das kleinste vorstellbare System einen Bipol darstellt (Morin, 1981). Ein solcher Bipol wäre etwa im Zusammenhang mit dem Selbst die berühmte von James (1890) eingeführte Unterscheidung von »Me« and »I«, wobei unter »Me« das Selbst, das beobachtet werden kann, und unter »I« das Selbst, das beobachtet, verstanden wird. Mahoney (2003, S. 153) fasst die Implikationen aus diesem dialogisch-systemisch/konstruktivistischen Selbstverständnis auf folgende Weise zusammen: »No matter, where you go, there you are […] You are the only person you have to be with all the time« – und fügt hinzu: »A large part of your quality of life depends on the quality of your relationship with yourself« (S. 153). Dies kann sowohl für den privaten als auch den beruflichen Kontext konstatiert werden. Selbstfürsorge bedeutet demnach, eine achtsame und wertschätzende Beziehung zu sich selbst zu entwickeln und zu pflegen. Ein Konzept, das im Zusammenhang mit Selbstfürsorge im Kontext der klinischen und Persönlichkeitspsychologie seit einigen Jahren verstärkt diskutiert wird, ist jenes des Selbst-Mitgefühls (Self-Compassion). Auch wenn dieses Konzept Ursprünge in buddhistischen Traditionen aufweist, lässt es sich empirisch-psychologisch definieren und messen (Neff, 2015). Dieses Selbst-Mitgefühl setzt sich aus drei Prozessen zusammen: 1. Achtsamkeit, 2. ein freundlicher Umgang mit sich selbst, 3. der Tatsache, dass wir alle »Brüder und Schwestern« insofern sind, dass jeder Mensch sich mit den existenziellen Bedingungen der conditio humana9 auseinandersetzen muss und Menschsein letztlich bedeutet, sterblich, verletzlich und imperfekt10 zu sein.

  9 Diese Bedingungen werden seit einiger Zeit wieder verstärkt im Kontext von Beratung/Therapie diskutiert (Vogel, 2013; Yalom, 2010). 10 Der Aspekt der Fehlerfreundlichkeit im Umgang mit sich selbst, der im Rahmen des SelbstMitgefühl-Konzepts so betont wird, findet eine Entsprechung im systemtheoretischen Kalkül, dass lebende, komplexe Systeme »Ordnung und Unordnung« benötigen, um sich überhaupt weiterentwickeln und »wachsen« zu können (Morin, 2008, S. 63).

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Selbstfürsorge kann solide Grundlage dafür sein, sich in komplexen beruflichen Beziehungs- und Auftragsgeflechten (vgl. Auftrags- und Kundenorientierung) immer wieder persönlich und fachlich stimmig sowie dynamisch verorten zu können.

Neugier- und Kreativitätsorientierung Die »erfinderischen Fähigkeiten« der Hyperkomplexität Ein wesentlicher Aspekt der Praxis der Lösungs- und Ressourcenorientierung besteht darin, neugierig zu sein für die Lösungsimpulse, die das System aus sich heraus, eben selbstorganisiert, generiert. Und da wir es mit lebenden, komplexen Systemen zu tun haben, können diesen Lösungsimpulse aus grundsätzlichen systemtheoretischen Erwägungen als erfinderisch, also kreativ, angesehen werden: Denn solche Systeme – Morin spricht gar von Hyperkomplexität –, die stets der »Möglichkeit des Irrtums« (Morin, 1974, S. 149) ausgesetzt sind, verfügen über »erfinderische Fähigkeiten […], also aus dem ›Rauschen‹, das heißt aus den zahllosen, ungeordneten und heterogenen geistigen Inhalten und den uneindeutigen, durch die Sinne übermittelten Botschaften eine Ordnung zu organisieren« (S. 142). Unter anderem aufgrund dieser basalen systemtheoretischen Perspektive habe ich entschieden, die Neugier- und Kreativitätsorientierung nicht unter Lösungs- und Ressourcenorientierung zu subsumieren, sondern als eigenständige Orientierung aufzuführen. Auch Furman (2011) nennt Kreativität (neben Hoffnung und Zusammenarbeit) als wesentliche »Ingredienz«, was Wirksamkeit des lösungsorientierten Ansatzes angeht. Senreich (2014) formuliert zur »kreativen Anpassung« aus einer gestalttherapeutischen Selbstorganisationsperspektive: »The specific attempt an individual makes to obtain a need or want in the moment to the best of one’s ability in a particular situation is referred to as ›creative adjustment‹. It is determined by temperament, abilities, family, community, culture, prior learning, societal mores, issues of marginalization and oppression, access to resources, along with every other influence. Creative adjustment is a very broad concept, as it includes all coping skills, defense mechanisms, and psychiatric symptoms. […] It can be expanded to include how families, communities, and larger social systems meet their needs in the field as well.«

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Arts and Crafts und der Möglichkeitssinn Die Kreativitätsorientierung beinhaltet über ihre assoziative Nähe zur Kunst darüber hinaus auch die Perspektive des »Möglichkeitssinns«11, dessen Verfeinerung ein wesentlicher Aspekt systemischen Vorgehens darstellt (Schweitzer u. Ochs, 2008); denn »Kunst ist das stärkste bekannte Stimulans des ›Möglichkeitssinns‹ – und nach allem, was ihre Urheber erzählen und träumen, wird sie eben dafür erschaffen« (Muschg, 1981, S. 177). Deshalb nehmen kreative und erlebnisorientierte Methoden einen besonderen Stellenwert ein in systemischer Praxis. Ein schönes Beispiel für eine solche systemische Praxis, in der kreative und gestalterische Elemente eine wesentliche Rolle spielen, ist etwa die Multifamilientherapie (Asen u. Scholz, 2015). Humor, Witze und Cartoons Zudem ist für systemische Praxis der nachgewiesene Zusammenhang zwischen Kreativität12, erfinderischen Lösungen und Humor relevant: Nicht nur innerhalb der systemischer Praxis nahestehenden Provokativen Therapie (Farrelly, 2005) wird Humor verstärkt eingesetzt – auch in familientherapeutischen Ansätzen alter Schule spielt Humor eine wichtige Rolle (von Schlippe u. Schweitzer, 2012): Salvadore Minuchin etwa arbeitete gerne mit spontanen kreativen Ideen und Humor und legte viel Wert auf »Enactment«, also das konkrete In-Szene-Setzen bisheriger und neu zu erprobender Familieninteraktion. Für Keith und Whitaker (1981) besteht beispielsweise das Wesen psychischer Erkrankungen im Verlust des Humors und der Fähigkeit, zu spielen – und seine oft verwirrend kreative Praxis legte einen besonderen Akzent darauf, dass die Familien das Spielen wieder erlernen sollten (nach dem Motto: »Eine Prise Verrücktheit hinzufügen

11 Der Möglichkeitssinn wurde bekanntlich von Robert Musil (1978, S. 16) eingeführt: »Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch einen Möglichkeitssinn geben. […] Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen. […] So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht weniger zu nehmen als das, was nicht ist.« 12 Es soll jedoch keinem flachen, naiven Verständnis von Kreativität das Wort geredet werden, so als sei Kreativität eine unerschöpfliche Ressource für alle und jeden, jederzeit und bedingungslos abrufbar. Reck (2019) weist in seiner »Kritik der Kreativität« darauf hin, dass schöpferische Prozesse immer auch solche der Verausgabung, Verschwendung, Erschöpfung und sogar Zerstörung sein können. Für ihn erscheint Kreativität gar als ein seltenes Vermögen innovativer und komplexer Transformation.

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und gut umrühren«). Auch kommen Witze und Cartoons in der systemischen Praxis zum Einsatz (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 318 ff.; Trenkle, 2017).

Allparteilichkeits- und Neutralitätsorientierung Allparteilichkeit bezieht sich auf die Kompetenz, »für alle Familienmitglieder gleichermaßen Partei zu ergreifen, die Verdienste jedes Familienmitgliedes anzuerkennen und sich mit beiden Seiten ambivalenter Beziehungen identifizieren zu können« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 205). Neutralität meint weder kühle Distanziertheit oder Meinungs- bzw. Standpunktlosigkeit: Sie wird im Beratungsdiskurs realisiert, »wenn den Teilnehmern einer systemischen Beratung hinterher unklar ist, auf wessen Seite der Berater mehr gestanden hat, welche der vertretenen Ideen er favorisiert und wie er zum Problem steht – dann war der Berater ›neutral‹« (S. 205). Es lassen sich drei Formen von Neutralität unterscheiden (S. 206): 1. Neutralität gegenüber Personen, 2. Neutralität gegenüber Problemen/Symptomen (auch Veränderungs­neu­ tra­lität), 3. Neutralität gegenüber Ideen (z. B. Problemerklärungen, Lösungsideen, Werthaltungen, Meinungen). Die systemtheoretische Grundlage dieser Orientierung lässt sich u. a. in den Prinzipien des systemischen Antagonismus und der Autopoiese verorten bzw. in der Würdigung dieser Prinzipien. Wenn davon ausgegangen wird, dass (nachhaltige) Veränderungen in lebenden, komplexen Systemen »nur« selbstorganisiert vonstattengehen können, dann ist es vornehmste Aufgabe systemischer Praxis, all die Kräfte (z. B. widerstreitende und heterogene Tendenzen) wertzuschätzen, die im System wirksam werden und somit zur selbstorganisierten Homeo- oder Heterostase, und damit zur Autopoiese, beitragen können. »Arsch huh, Zäng ussenander!« Angedenkens dieser systemtheoretischen Grundlagen lassen sich möglicherweise Missverständnisse reflektieren, was Allparteilichkeits- und Neutralitätsorientierung angeht. Es geht hierbei primär also um Würdigung der Eigenlogik, Eigenzeit und Autopoiese lebender, komplexer Systeme. Es geht nicht um die Konstruktion eines phantastischen Beraterwesens, das freischwebend und bar jeglicher Werthaltung bzw. ethisch-moralischer Standpunkte elegant-gewitzte

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systemische Fragen innerhalb des Beratungsdiskurses kredenzt. Allparteilichkeits- und Neutralitätsorientierung meint nicht Meinungs-, Haltungs- und Standpunktlosigkeit gegenüber in makro-, meso- und mikrogesellschaftlichen Kontexten allgegenwärtiger Phänomene wie Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch, Drohung, Manipulation, (Vor-)Verurteilung, Vorurteil, Leid und Not. Was makrosoziologische Zusammenhänge angeht, so sind in Zeiten etwa des sich ausbreitenden Populismus, des fortschreitenden Klimawandels und der gesellschaftlichen Entsolidarisierung gerade auch Systemiker(innen) gefragt, »Kante zu zeigen« sowie »Arsch huh, Zäng ussenander!«, wie es im Rheinland heißt, zu praktizieren.13 Was mikrosoziologisch-beraterische Diskurse betrifft (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 205 f.), so geht es ebenso nicht darum, »keine eigene Meinung zu haben, sondern lediglich, diese nicht in einer doktrinären Form einzubringen wie: ›So sollten Sie sein und so nicht!‹« (vgl. Cecchin, 1988). Eine Beraterin kann sowohl einen eigenen Standpunkt einbringen und dennoch Neutralität wiedergewinnen, indem sie deutlich macht, dass diese Meinung für das Klientensystem möglicherweise überhaupt nicht passt oder relevant ist. Ein Berater kann zudem sehr aktiv Anteil nehmen am Beratungsdiskurs und sich phasenweise im Gespräch stark mit einzelnen Mitgliedern engagieren, ja muss es sogar, »um zu versuchen, die Bedeutung sogar hinter den widerwärtigsten Handlungen oder Ereignissen zu finden« (Hoffman, 1996, S. 67).

Abschließende Überlegungen Die 50/50-Regel Die praxeologischen Grundorientierungen werden realisiert rund zur Hälfte über Methoden und Techniken und rund zur Hälfte über eine entsprechende professionelle Haltung. Dieses 50/50-Verhältnis basiert auf Erfahrungsevidenzen und ist auf dieser Grundlage meine eigene Setzung. Mit Methoden und Techniken sind systemische Interventions- und Handlungsmöglichkeiten, wie lösungsorientierte Fragen, Genogramme oder Auftragskarussell gemeint; wobei Methoden Techniken subsumieren14, z. B. kann die Wunderfrage als lösungsorientierte Frage, der ressourcenorientierte Stammbaum innerhalb der Geno13 Siehe hierzu auch die Aktivitäten des Gesellschaftspolitischen Forums der DGSF (www.dgsf. org/themen/gesellschaftspolitisches/forum). 14 Diese Hierarchisierung lehnt sich an den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) an.

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gramme und das Tetralemma bei den Skulpturmethoden eingeordnet werden. Professionelle Haltung bedeutet der Umgang mit anderen und mir selbst im Berufskontext.15 So kann etwa in Kooperationen Kolleginnen und Kollegen mit einer lösungs- und ressourcenorientierten Haltung des »Unterstellens« guter Absichten begegnet werden. Adressaten der Sozialen Arbeit können beispielsweise mit einer Haltung angesteuert werden, dass sämtliches Verhalten und Erleben eine biografische und lebensweltbezogene Funktionalität (»gute Gründe«) besitzt, die es lohnt, neugierig zu erkunden. Dynamische Prinzipien Mit den sechs praxeologischen Grundorientierungen verbindet sich zum einen die Überlegung, dass diese systemisches Arbeiten umfänglich charakterisieren und systemisches Arbeiten stattfindet, wenn diese Anwendung in der Praxis finden.16 Diese Grundorientierungen sind jedoch nicht völlig trennungsscharf: So können etwa Ressourcen im familiären Umfeld mittels zirkulärer Fragen exploriert und diese Vorgehen sowohl der Kontext- und Musterorientierung als auch der Lösungs- und Ressourcenorientierung zugeordnet werden; oder es kann einem beruflichen Kooperationspartner begegnet werden mit einer professionellen Haltung der Wertschätzung und Würdigung seiner Anliegen und Bedürfnisse, etwa auch aus der Eigenlogik des organisationalen, institutionellen und professionellen Beziehungsgefüges heraus, in welche dieser eingebunden ist, und diese Haltung sowohl der Lösungs- und Ressourcenorientierung als auch der Kooperations- und Beziehungsorientierung zugerechnet werden. Diese beiden Beispiele können aber auch dafür stehen, dass das Zuordnen systemischer Techniken, Methoden und Haltungen zu praxeologischen Grundorientierungen einerseits keine eindeutige und andererseits keine beliebige Angelegenheit ist. Denn vielleicht kann letztgenanntes Exempel doch etwas mehr der Kooperations- und Beziehungsorientierung denn der Lösungs- und Ressourcenorientierung und erstgenannte Illustration dafür eher der Lösungsund Ressourcenorientierung und nicht ganz so stark der Kontext- und Muster15 Zum Haltungskonzepts im systemischen Kontext vgl. z. B. Herwig-Lempp (2019), Bauer und Weinhardt (2020). 16 Es wird davon ausgegangen, dass die praxeologischen Grundorientierungen eine »dynamischinteraktive Umsetzung von Prinzipien aus Verfahren ›X‹ (Verfahren ›X‹ = systemisches Arbeiten) ist« darstellen – und diese Prinzipien lassen sich aus den erkenntnistheoretischen Grundlagen systemischen Arbeitens ableiten. Hinreichend konstant sind nur diese Prinzipien – die grundlegend ggf. auch im Labor erforscht werden können – die Methoden, Techniken und Haltungen aber sind eine vielgestaltige, veränderbare, prozessadaptive und interaktive Verwirklichung dieser Prinzipien (Kriz, 2007, S. 255).

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orientierung zugeordnet werden – wenn das Explorieren der familiären Ressourcen noch verbunden worden wäre mit der Frage nach Unterschieden oder Rangreihen diesbezüglich, so würde die Zuordnung zur Kontext- und Musterorientierung eventuell eindeutiger möglich sein. Zu erwarten wäre, dass fachlich begründet wird, inwiefern (qualitativ) und in welchem Ausmaß (quantitativ) eine spezifische systemische Methode, Technik oder Haltung zu welchen praxeologischen Grundorientierungen zugerechnet werden kann; dieser Reflexionsrahmen ermöglicht ein vertiefendes, analy­sie­ ren­des und systematisierendes Durchdringen systemischer Praxis. Fazit Das Modell der erkenntnistheoretischen Säulen und praxeologischen Grundorientierungen systemischen Arbeitens stellt einen Orientierungs- und Reflexionsrahmen für die Lehre sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungen dar, der sich im Rahmen der Erfahrungsevidenzen von Lehrenden bewährt hat. Er ermöglicht zudem, einerseits vertiefend die wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Grundlagen sowie die Breite empirischer Evidenz systemischen Arbeitens in den Blick zu nehmen; andererseits bietet er die Option, die eigene Praxis anhand der praxeologischen Grundorientierungen differenziert zu begründen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu modifizieren.

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Reinert Hanswille

Vor den Bergen der praktischen Interventionen liegt das Tal der konzeptionellen Ideen Systemische Interventionen und Werkzeuge lehren

Oft wird in der systemischen Welt vom Methodenkoffer (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 75), von Technikseminaren gesprochen und der systemischen Therapie wird gerne eine große Methodenvielfalt nachgesagt. Teilnehmende beschreiben ihre Motivation für den Besuch einer Weiterbildung mit Aussagen wie: »Ich will meinen Methoden- oder Handwerkskoffer erweitern«, oder: »Ich will mein Toolspektrum vergrößern oder mehr Interventionen kennenlernen, um besser mit Klienten, Systemen oder Familien arbeiten zu können.« Beim Zuhören entsteht so schnell ein gegensätzlicher Eindruck zu Heinz von Foersters Beschreibung: »Systeme sind nichttriviale Maschinen« (von Foerster, 1999, S. 12). Denn in dessen Verständnis sind Menschen und menschliche Systeme durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet, u. a. weil ihr Verhalten nicht erklärbar und vorhersehbar ist, sie aus Erfahrung lernen, ihre »Erfahrungseindrücke vermittels ihres Gedächtnisses und vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungsgeschichte verarbeiten, was allein den Output determiniert (Verhalten, Handeln, Kommunikation), der damit eben nicht trivial, vorhersagbar und linear-kausal erklärbar ist« (Levold, 2014, S. 56, mit Bezug auf von Foerster u. Pörksen, 1998, S. 38 ff.). Sie entziehen sich dem mechanischen Verständnis, in dem eher daran gedacht wird, man brauche nur genügend Werkzeuge, Methoden und Techniken und dann klappt’s schon – salopp gesagt – mit der Veränderung im System. Oder in Anlehnung an ein Zitat von Maslow: »Ich glaube, es ist verlockend, wenn das einzige Werkzeug, das man hat, ein Hammer ist, alles zu behandeln, als ob es ein Nagel wäre« (Maslow, 1966, S. 15).

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Unterscheidung der Begrifflichkeiten Im Vorfeld soll eine Unterscheidung und Klärung der Begriffe Therapieverfahren, Methode, Intervention und Technik versucht werden, die im allgemeinen Sprachgebrauch, in der Fachliteratur, in Workshops und Seminaren häufig als Synonyme benutzt werden. Allerdings scheint eine Unterscheidung sinnvoll, um einen differenzierteren Blick zu erlangen auf die Dinge, die in einer Aus- oder Weiterbildung unterrichtet werden. Eine Unterscheidung bietet der wissenschaftliche Beirat Psychotherapie und der »Gemeinsame Bundesausschuss« (G-BA) an. Diese Unterscheidung wird in ihren Grundzügen von den Vertretern der wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren geteilt oder besser, es wird ihr im Gesundheitssystem gefolgt. Und nach der sozialrechtlichen Anerkennung der systemischen Therapie für Erwachsene durch den G-BA werden sich auch die Systemiker, die im System des Sozialrechts arbeiten, daran orientieren. Sie grenzen die zentralen Begriffe Verfahren, Methoden und Interventionen/Techniken deutlich voneinander ab. Ein Psychotherapieverfahren ist demnach gekennzeichnet durch drei zen­ trale Merkmale: 1. theoriegebundene Grundannahmen zur Begründung, Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von Krankheiten; 2. entsprechende Behandlungsstrategien für ein breites Spektrum an psychischen Erkrankungen und entsprechende Behandlungsmethoden; 3. entsprechende Konzepte zur Indikationsstellung, Behandlungsplanung und zur therapeutischen Beziehungsgestaltung (G-BA Gemeinsamer Bundesausschuss, 2017, S. 7). Als Psychotherapieverfahren sind gegenwärtig anerkannt (im Sinne des Sozialrechts): Analytische Psychotherapie, Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie und die Systemische Psychotherapie (für Erwachsene). Eine Psychotherapiemethode ist gekennzeichnet durch: eine Theorie zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung einer Störung; Möglichkeiten zur diagnostischen Erfassung, die Beschreibung der Vorgehensweise und der angestrebten Behandlungseffekte (S. 7). Als Methode sind durch den G-BA anerkannt: Interpersonelle Therapie (IPT; bei affektiven Störungen und Essstörungen), EMDR-Therapie (zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung), Hypnotherapie (zur Raucherentwöhnung und zur Mitbehandlung bei somatischen Erkrankungen). Eine psychotherapeutische Technik sind im Verständnis des G-BA eine konkrete Vorgehensweise im Rahmen von Psychotherapieverfahren oder Methoden,

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angestrebte Ziele zu erreichen (S. 8). Beispiel: In der »psychotherapeutischen Intervention kommt, unabhängig von der Wahl des Therapieverfahrens, der systematischen Berücksichtigung und der kontinuierlichen Gestaltung der Therapeut-Patient-Beziehung im Einzel- wie im Gruppensetting eine zentrale Bedeutung zu« (S. 6). Intervention (von lat. interventio = Dazwischenkommen, Eingreifen, Vermittlung; engl. Intervention of treatment techniques) meint die Durchführung einer Maßnahme, einer Handlung, einer Aktion bezogen auf ein System – z. B. eine Familie, eine Organisation, ein Individuum – mit dem Ziel, einen Zustand, ein Verhalten oder eine Struktur zu verändern. Interventionen beruhen auf allgemeinen Veränderungsprinzipien (z. B. Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung etc.) und dienen der Behandlung und Veränderung von Individuen und Systemen (Margraf u. Maier, 2012) und sind in der Regel zweckgerichtet, anregend, manchmal zielgerichtet, verfolgen eine Absicht etc. Meist unterstützen sie den Veränderungsprozess der Klienten. Techniken bieten Möglichkeiten an, in komprimierten, in der Regel strukturiert angeleiteten Übungen (z. B. Systemskulptur, Skalierungen), durch gezielte Fragen (Wunderfrage, Unterschiedsfragen, hypothetische Fragen etc.), offene Szenarien (z. B. Rollenspiel, Enactments) oder narrative Anregungen (Metaphern, Genogramme, Geschichten, Umdeutungen etc.) Erfahrungen zu machen, die einen Unterschied bilden zu den Alltagserfahrungen der Klientinnen und Klienten. In der therapeutisch-beraterischen Fachsprache wird zwischen Intervention und Technik nicht unterschieden, das soll hier auch nicht geschehen.

Wie bedeutsam sind Techniken und Interventionen für die Wirksamkeit der Beratung bzw. Therapie? Viele Weiterbildungsteilnehmende, die sich für eine Aus- oder Weiterbildung in Systemischer Therapie interessieren, sind auf der Suche nach praktischen Vorgehensweisen und Techniken. Sie wollen Handwerkszeug für ihre Arbeit und verbinden damit, wirksamer in der Beratung sein zu können. Dieser Nachfrage entgegenkommend, finden sich zahlreiche systemische Publikationen, die sich mit Tools, Techniken und Interventionen beschäftigen (z. B. Bleckwedel, 2008; Caby u. Caby, 2009, 2011; Neumann, 2011; Renoldner, Scala u. Rabenstein, 2006; Schwing u. Fryszer, 2010). In der Praxis vieler Systemiker entsteht daher der Eindruck, der therapeutisch-beraterische Prozess bestehe aus einer Aneinanderreihung von – der systemischen Arbeit zugeschriebenen – Techniken und Interventionen.

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Systemische Therapie und Beratung wird aus der Beobachtersicht nicht selten mit Techniken gleichgestellt. »Machen die nicht Skulpturen oder Aufstellungen?« Solche oder ähnliche Äußerungen zeigen, dass oft systemische Therapie mit einem Handwerkskoffer von Techniken oder mit einem »Rezeptbuch Systemische Therapie« verwechselt wird. Allerdings sind Techniken und Interventionen für einen hilfreichen und unterstützenden Therapie- und Beratungsprozess nur sehr begrenzt bedeutsam. Die fünf allgemeinen Wirkfaktoren, die Klaus Grawe (2000) nach der Auswertung zahlreicher Metaanalysen postuliert, beschreiben Problemaktualisierung, Ressourcenaktivierung, Problembewältigung, motivationale Klärung und die Therapiebeziehung. Verfahrensübergreifende Wirkfaktoren werden ebenfalls im »Generic Model of Psychotherapy« von Orlinsky und Howard (1987) und in den generischen Prinzipien von Haken und Schiepek (2010) beschrieben. Sie zeigen ähnlich wie die allgemeine Wirksamkeitsforschung, dass die Bedeutung der Techniken und Interventionen an sich für die Wirksamkeit eines Beratungsprozesses eher gering ist. Techniken erhalten ihre Bedeutung durch das Eingebundensein in ein Verfahrensverständnis mit einer erkenntnistheoretischen Rahmung, einer Veränderungstheorie und einer therapeutischen Haltung. Losgelöst sind Techniken und Interventionen vor allem im Vergleich zu anderen Therapievariablen, wie dem Therapeutenverhalten und unspezifischen Variablen (Common Factors) wie Unterstützung, Einfühlung, Ermutigung und Merkmalen des Klienten selbst (Wampold, Imel u. Flückinger, 2018) eher von geringer Bedeutung. Zusammenfassend können die Ergebnisse der Psychotherapieforschung so beschrieben werden: Psychotherapie ist wirksam, ohne dass diese Wirkung auf die speziellen Interventionen und Techniken zurückzuführen ist. Zentraler Wirkfaktor für die Effektivität von Psychotherapie ist die therapeutische Beziehung, die Persönlichkeit und die Haltung des Therapeuten.

Wie entstehen Techniken und Interventionen und wie sind sie begründet? Techniken bzw. Interventionen haben ganz unterschiedliche Entstehungsgeschichten. Einige therapeutische Techniken sind eher allgemein und finden sich in allen therapeutischen Verfahren – wie z. B. Rollenspiele, Arbeit mit Metaphern. Andere werden in Verbindung mit therapeutischen Persönlichkeiten gebracht, die dann wiederum einem bestimmten Therapieverfahren

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zugerechnet werden. Die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung geht auf Sigmund Freud zurück, deshalb wird diese Interventionsform der Psychoanalyse zugerechnet, obwohl sie von vielen anderen therapeutischen Richtungen ebenfalls aufgegriffen wurde. Die Arbeit mit Skulpturen wird Virginia Satir zugeschrieben und als eine Technik verstanden, die eher in die Familientherapie und Systemische Therapie gehört. Aber auch hier gibt es unterschiedliche Ausprägungen im Psychodrama, der Gestalttherapie und weiteren Richtungen. Andere Interventionen sind im Kontext von Behandlungen spezifischer Störungsbilder entstanden und wieder andere als Techniken, um Klienten didaktisch die Beteiligung am Therapieprozess zu erleichtern, wie z. B. Zeitlinienarbeit, Arbeit mit Karten, Seilen oder Bildern. Sie sind meist verfahrensunspezifisch. Es gibt Interventionen, die primär einem Verfahren zugeschrieben werden. Sie stehen dann oft in engem Zusammenhang mit den jeweiligen theoretischen Orientierungen, innerhalb derer sie entstanden sind, wie z. B. das SORCK Modell (Stimulus, Organismusvariable, Reaktion, Kontingenz, Konsequenz) in der Verhaltenstherapie, die zirkulären Fragen in der systemischen Therapie, die Übertragungsanalyse in der Psychoanalyse, das Spiegeln der Gesprächspsychotherapie. Andere Techniken werden verfahrensübergreifend genutzt und sind kaum an eine theoretische Orientierung gebunden, wie z. B. Rollenspiele, Malen, Arbeit mit Symbolen oder Metaphern. Wieder andere wurden von einzelnen Praktikern entwickelt, weil sie mit ihnen gute Erfahrungen gemacht haben, wie die Arbeit mit Postkarten oder Seilen und Tüchern. Bedeutung erhalten Techniken und Interventionen durch die Einbindung in ein Verfahren, in die spezifischen Haltungen und Theorien. Techniken und Interventionen sind losgelöst aus ihren Entstehungsgeschichten »neutral«. Deshalb könnte man auch sagen, dass es nicht wirklich »systemische« Techniken und Interventionen gibt. Systemisch werden sie erst durch die Einbindung in ein theoretisches Gesamtkonzept. Durch die konzeptionelle Einbindung werden die Interventionen und Techniken systemisch. Die Techniken, die dem systemischen Verfahren zugerechnet werden, sollten sich auch konzeptionell und/oder systemtheoretisch begründen lassen. Ȥ So beruht die zirkuläre Frage auf der theoretischen Idee, dass I­ nteraktionsund Kommunikationsprozesse in Systemen sich immer auch zirkulär ereignen. Ȥ Die Ausnahmefrage (Wann tritt ein bestimmtes Verhalten oder Symptom nicht auf?) beruht auf der Idee, dass Verhalten oder Dynamiken in einem System nie konstant und gleich sind, sondern Systeme immer in Veränderung begriffen sind und zeigt eindrucksvoll die Bedeutung von Ressourcen.

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Ȥ Skulpturen beziehen sich auf die klassische Systemtheorie und auf die Selbstorganisationstheorie. Sie zeigen die Idee, dass Menschen innere Bilder von Systemen entwickeln und sich daran orientieren und dass die einzelnen Systemmitglieder immer aufeinander bezogen sind. Ȥ Das Reflecting Team greift die Idee des Konstruktivismus auf, dass jeder eine andere, gleichrangige und gleichwertige Beobachtung und Wahrnehmung hat, und verdeutlicht, wie sich Systeme gegenseitig beeinflussen. Ȥ Die Wunderfrage verdeutlicht die Bedeutung der Wirklichkeitskonstruktionen und – wenn sie in einem System Anwendung findet – auch die Kraft positiver zirkulärer Prozesse. Ȥ Die Genogrammarbeit spiegelt die Bezogenheit auf frühere Generationen und die Entwicklung und Bedeutung zentraler Geschichten, die in der Familie erzählt werden.

Wann benötigen wir Techniken und wie kommen wir dazu, diese einzusetzen? Wie kommen systemische Therapeuten zur Auswahl ihrer Techniken oder Interventionen? In der Supervision und in Weiterbildungen bekommt man oft folgende Antworten: Ȥ »Ich mache das immer in der Anfangsphase einer Therapie.« Ȥ »Mein Bauch hat mich dahin geführt.« Ȥ »Wir haben das vor Kurzem in der Weiterbildung gelernt.« Ȥ »Ich hatte es gelesen und mir hat die Übung gefallen.« Ȥ »Ich dachte, es würde jetzt passen.« Ȥ »Ich hatte Spaß daran, das zu machen.« Ȥ »Mit der Intervention habe ich oft Erfolg.« Bei vielen Antworten entsteht der Eindruck, die Technik sei rein zufällig entstanden oder hänge eher von der Vorliebe der Therapeutin ab – so, als ob der Klient, das System, das Störungsbild, die Systemdynamik und die Persönlichkeit fast uninteressant seien. So entsteht nicht selten der Eindruck, Interventionen oder Techniken entwickelten sich ohne Zusammenhang und Resonanz auf die Klienten, natürlich häufig mit der Hoffnung und Idee beim Therapeuten, dadurch bei den Klientinnen etwas auszulösen, anzuregen oder neue Informationen zu gewinnen, die den Prozess dann weitertragen. Und das geschieht ja auch überraschend oft, da viele Techniken in sich viel Potenzial tragen. Dennoch fehlt der Bezugsrahmen, wofür die ausgelösten Emotionen oder Dynamiken

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genutzt werden können (Levold, 2014, S. 220–223). Dabei wird immer wieder übersehen, wie sich bestimmte Interventionen auch negativ auf Störungsbilder und verdeckte Dynamiken in der Familie auswirken, wie unter Umständen innere Prozesse negativ beeinflusst oder ungünstige Problemmuster verstärkt werden. Wenn wir uns dabei noch vorstellen, in welch unterschiedlichen Kontexten, Situationen, Settings etc. die Kolleginnen und Kollegen (später) arbeiten, dann erscheint es manchmal doch etwas naiv, wie wir mit den »geliebten« systemischen Techniken umgehen. Leider werden systemische Interventionen nicht selten als eine »Allzweckwaffe« angesehen. Ob Skulpturen, Genogramm, zirkuläre Frage oder Reframing und Metaphern, Wunderfrage oder Familienbrett – vieles davon wird in den meisten Therapien und Beratungen vorkommen, wenn wir uns Therapie- und Beratungsverläufe ansehen. Allerdings hat das oft mit Beziehungsorientierung, qualitativem Störungswissen, Prozesskompetenz, Anregung von Selbstorganisation nicht viel zu tun. Dieser schematische Gebrauch von Interventionen und das eingeschränkte Verständnis von Veränderungsprozessen in Therapie und Beratung, das sich oft in der systemischen Praxis findet, wird den vielfältigen Situationen, Settings und Kontexten, in denen systemische Therapie/Beratung stattfindet, nicht gerecht: Ȥ Die Lebensalterspanne reicht vom Kleinkind bis zum Hochaltrigen. Ȥ Eine kultursensible Arbeit ist notwendig. Ȥ Viele Klienten haben einen Migrationshintergrund, und vielleicht ist eine Kooperation mit einem Sprachmittler notwendig. Ȥ Manche Klienten haben ein Handicap oder leiden unter gesundheitlichen Einschränkungen. Ȥ Viele Patienten kommen aus armen und sozial benachteiligten Familien. Ȥ Die Therapie/Beratung findet in ganz unterschiedlichen Kontexten statt (von der ambulanten Praxis und Arztpraxis über aufsuchende Familientherapie und stationäre Kontexte hin zu Beratungsstellen etc.). Ȥ Sie findet im Zwangskontext oder in freiwilligen Kontexten statt. Ȥ Sie findet in unterschiedlichsten Netzwerken und Kooperationen statt – mit Kliniken, Jugendhilfeeinrichtungen, Sozialpsychiatrie, Drogenberatung und diversen anderen Organisationen und Institutionen. Ȥ Klienten und Patientinnen haben die unterschiedlichsten Störungsbilder, von Angststörungen bis zum Zwang. Ȥ Sie kommen mit den vielfältigsten Konflikten, Problemen, Symptomen, die die Menschen für sich definieren (Paarkonflikte, Geldmangel, mögliche Trennung etc.).

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Wenn wir diese Beschreibungen ernst nehmen, benötigen systemische Therapeuten und Berater andere Kompetenzen und Werkzeuge, um fachlich kompetent mit Klienten, Systemen, Störungen, Problemen etc. qualitativ zu agieren und Systeme unterstützen zu können.

Rahmung für systemisches Arbeiten in Beratung und Therapie Techniken und Interventionen bilden die handwerkliche Ebene, die allerdings oft nicht spezifisch systemisch sind. Die Techniken und Interventionen entwickeln sich aus den systemischen Hypothesen und den Zielen für den Beratungsprozess. Beides ist eingebunden in die Haltungen, die systemische Therapeuten auszeichnen: Wertschätzung, zirkuläres Denken, Neutralität und Allparteilichkeit, Ressourcenorientierung etc. Gerahmt wird das Ganze durch das klinische Modell »über das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung von Problemen, Störungen, Krankheiten, einschließlich Theorien der Veränderung« (Geyerhofer, Ritsch u. Thoma, 2018, S. 63). Eingebunden ist all das in die interdisziplinäre Systemtheorie der Synergetik (Haken u. Schiepek, 2010), die sich als Strukturwissenschaft versteht, und eine personenorientierte Systemtheorie (Kriz, 2017). Innerhalb dieser Konzeption ist Systemische Therapie und Beratung ein Begleiten und Steuern von Selbstorganisationsprozessen auf vier zentralen Prozessebenen (dazu ausführlich: Kriz, 2017, S. 19 ff.): 1. der psychischen Ebene, 2. der interpersonellen Ebene, 3. der organismischen bzw. körperlichen Ebene, 4. der makrosozialen und kulturellen Ebene. Innerhalb der Synergetik beschreiben die sogenannten generischen Prinzipien Bedingungen für Veränderungsprozesse und können als eine Konkretisierung für ein klinisches Modell Systemischer Therapie und Beratung verstanden werden. Es handelt sich dabei nicht um ein Phasenmodell, das in dieser Reihenfolge abgearbeitet werden soll »und eine normative Schrittfolge aufzwingen würde, sondern um Kriterien, die es permanent zu beachten gilt« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 437) und die in einzelnen Beratungs- und Therapiephasen unterschiedliche Bedeutung erlangen können. Sie lassen sich wie folgt beschreiben (Rufer, 2012; Strunk u. Schiepek, 2012; Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013): 1. Herstellen von Stabilitätsbedingungen: Gibt es ausreichende Sicherheit im therapeutischen Setting (Therapiesetting, Behandlungsverlauf, Glaubwürdig-

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keit, Systemkompetenz etc.) und im privaten Lebensraum (Beziehung, Selbstwert, soziale Eingebundenheit etc.) oder muss diese in den Sitzungen noch erarbeitet werden? Identifikation von Mustern des relevanten Systems (Individuum, Paar, Familie, Gruppe, Institution), in dem Veränderungen beabsichtigt sind: »Erfassen problematischer Kommunikations- und Beziehungsmuster oder intra- und interpersoneller Systemprozesse« (Rufer, 2012, S. 37). Sinnbezug/sinnhafte Einordnung und Bewertung des Veränderungsprozesses durch die Klientinnen und Klienten unter Einbezug persönlicher Entwicklungsaufgaben, Systemaufgaben und des Lebensstils, um die Bedeutsamkeit für den Sinn zu erleben. Identifizierung von Kontrollparametern und Anregung von Entwicklung, Aktivierung von intrinsischer Motivation für Veränderung, Ressourcen­ aktivierung, Bildung von Annäherungszielen der Klienten. Destabilisierung bzw. Erkennen von Phasen der Instabilität und Fluktuationsverstärkung durch Musterunterbrechung, Verhaltensexperimente, Unterschiedsbildung und Ausnahmen. »Kairos« – Resonanz und Synchronisation ermöglichen und Passung mit psychischen und sozialen Prozessen. Gezielte Symmetriebrechung durch Zielorientierung, Antizipation und geplante Realisation des neuen Ordnungszustands, um in Phasen kritischer Instabilität Prozesssteuerung zu ermöglichen. Restabilisierung durch Maßnahmen zur Stabilisierung und Integration neuer Muster (Verhalten, Emotion, Kognition, Körpererleben).

Daraus abgeleitet scheint es für das Training in der Aus- und Weiterbildung von systemischen Therapeuten und Beratern vor allem sinnvoll, zu erlernen, wie Haltungen eingenommen werden können, die exemplarisch für die systemische Therapie stehen. Zwei zentrale stützende Elemente für die Prozessgestaltung im systemischen Arbeiten sind die Arbeit mit Zielen für den Beratungs-/Therapieprozess und die Hypothesenbildung. Sie bilden in der Weiterbildung die Rahmung für das Erlernen und Trainieren von Techniken und Interventionen: Ziele Ziele haben in der systemischen Therapie eine besondere Bedeutung für den Therapieprozess. Sie wollen eine Fokussierung für die Klientinnen und das Klientensystem anbieten, den Rahmen für einen selbstorganisierten Ver-

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änderungsprozess. Sie wollen die Voraussetzung für eine konstruktive, selbstbestimmte Entwicklung schaffen. Dabei ist es oft sinnvoll, konkrete und selbstverantwortete Ziele zu erarbeiten, die eine möglichst hohe Bedeutung für die Klienten haben. Durch eine schnelle Annäherung an sie kann dann das Gefühl der Selbstwirksamkeit aktiviert werden, was zu weiteren Veränderungen anregt. Die Orientierung auf die Ziele der Klienten erwächst aus der Wertschätzung und dem Respekt, den die Therapeutin ihren Klienten entgegenbringt. Die Klienten sind die Experten für ihr eigenes Leben, die am besten wissen, bzw. mithilfe der Therapeutin herausfinden werden, was für sie gut, richtig und wichtig ist. »Sie strebt eine kooperative Beziehung auf gleicher Augenhöhe an und achtet auf eine klare Trennung der Verantwortungsbereiche: Die Klienten sind zuständig und verantwortlich für ihr psychisches Wohlergehen und ihr Familienleben, die Therapeutin ist zuständig für ein nach neuestem Stand der Praxis und Wissenschaft optimales therapeutisches Angebot. Nur mit sorgfältiger Beachtung dieses Prinzips kann die Therapeutin verhindern, dass sie sich in den Bedürfnissen ihrer Kunden verstrickt und häufig das Leid ihrer Klientinnen nur noch vermehrt« (Rotthaus u. Hanswille, 2016, S. 31). Grawe (2004, S. 49 ff.) verweist auf die Wichtigkeit der Erarbeitung von konkreten, für die Klienten wichtigen Zielen. Dabei gilt es, Ziele zu erarbeiten, die plastisch und anschaulich sein sollten und über möglichst viele Wahrnehmungskanäle aktiviert werden. Dazu können unterschiedliche Techniken – wie Skulpturen, Fragetechniken, Bilder, BASK (Behavior, Affect, Sensation, Knowledge), Metaphern, Beobachterpositionen – genutzt werden. Ziele aktivieren die Selbstwirksamkeit der Klienten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und dienen dazu, Entwicklungen anzustoßen. Sie sind auch als Anreiz für die Motivation zu verstehen, um eine gute Bahnung für den Entwicklungsprozess zu erhalten. Diese Effektivität erhalten Ziele dadurch, dass sie: Ȥ positiv und prozesshaft gestaltet sind (keine Fragen wie z. B. »Wie kann ich es schaffen, mehr mit meinem Partner zu sprechen?« – denn die Frage haben sich die Klienten auch ohne Therapie schon gestellt); Ȥ spezifisch und konkret sind (also keine Wünsche, siehe Beispiel unten); Ȥ im Kontroll- und Verantwortungsbereich des Klienten liegen (keine Delegation oder Veränderungswünsche für andere Familienmitglieder wie z. B. »Wie schaffe ich es, meine Tochter darin zu unterstützten, wieder regelmäßig zur Schule zu gehen?«, sondern: »Ich möchte innerlich gelassener sein und ruhiger werden, damit meine innere Unruhe mich seltener dazu verleitet, meine Tochter zu kontrollieren. Dadurch könnte ich meine Tochter unterstützen, sich leichter für einen Schulbesuch zu entscheiden. Das würde mir

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gelingen, indem ich öfter Dinge tue, die mir guttun, wie z. B. mit meinem Mann zu sprechen und Sport zu treiben.«); den Beginn eines Entwicklungsprozesses beschreiben (die ersten Schritte) und nicht das Ende (z. B. »Meine Bedürfnisse besser zu spüren und sie zu äußern, wird dazu führen, dass ich für meinen Mann sichtbarer werde.«); die Anwesenheit von etwas beschreiben (z. B. mehr innere Sicherheit) und nicht die Vermeidung von etwas (z. B. mein Problem ist dann weg); wichtig und bedeutsam für den Klienten sind (damit sie motivieren); zirkulär und interaktionell überprüfbar sind, also von anderen bemerkbar und diese wiederum anregen, vielleicht etwas anderes zu tun (z. B. »Wenn es mir gelingt, meine Bedürfnisse auszusprechen, hat meine Frau die Möglichkeit, darauf zu reagieren, indem auch sie ihre Wünsche beschreibt«); sich im Beratungs-/Therapieprozess verändern und erweitern können.

Die synergetische Systemtheorie und die Neurobiologie weisen darauf hin, dass Ziele eine hohe emotionale Bedeutung und einen hohen Sinnbezug zeigen sollen, denn nur wenn wichtige und bedeutsame Ziele aktiviert sind, werden nach Grawe (2004, S. 49 ff.) auf neuronaler Ebene Dopaminrezeptoren aktiviert. Das setzt dann eine »Second-Messenger-Kaskade« (Le Doux, 1998, S. 234 f.) in Gang, die dafür sorgt, dass wichtige neuronale Prozesse für Lernen und Entwicklung in Gang gesetzt werden. »Wenn es in einer Therapie nicht gelingt, wichtige Annäherungsziele des Patienten zu aktivieren und sie zum Motor des Veränderungsprozesses zu machen, sollte man die Behandlung des betreffenden Problems lieber sein lassen« (Grawe, 2004, S. 55). Die Klärung von Zielen gehört zu den anspruchsvollsten Phasen in einem Beratungsprozess. Entsprechend intensiv sollte sie trainiert und geübt werden. Demonstrationen durch Trainer, Rollenspiele, Videoeinheiten, Theorieeinheiten können diesen komplizierten Prozess kleinschrittig vermitteln. Unterstützt werden kann das Lernen durch analoge Prozesse, indem die Teilnehmenden für sich Ziele entwickeln in Bezug auf die Weiterbildung und die einzelnen Weiterbildungsphasen oder durch eine Zielentwicklung innerhalb einer möglichen eigenen Familien- oder Paartherapie. Außerdem hat sich das Trainieren von guter Beobachtung, Wahrnehmung und dem Erwerb von Prozesskompetenz als sinnvoll erwiesen. Denn der Prozess der Zielarbeit ist in sich bereits ein kleiner Veränderungsprozess, indem ein System die Bedeutung zirkulärer Prozesse (systemischen Denkens) erfährt und die direkte Bezogenheit untereinander erlebt. Je klarer es dem Therapeuten gelingt, die Veränderungsauswirkung jedes Ziels auf alle Systemmitglieder zu verdeutlichen und spürbar zu machen (2, 3, 4, 7 der generischen Prinzipien), umso leichter wird es gelingen, bedeutsame Ziele

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zu erarbeiten und zu finden. Die Erarbeitung von Zielen ist auch eine zentrale Basis für die Bildung von Hypothesen. Die Ziele sind praktisch der Referenzrahmen für die Hypothesen. Systemische Hypothesen Diese Hypothesen werden im Laufe eines Beratungs- oder Therapieprozesses immer wieder neu gebildet, überprüft und verändert. Aus der systemischen Hypothese wird die Technik oder Intervention abgeleitet, die den weiteren Prozess bahnt. Die Hypothesen sind der Leitfaden für die Strukturierung der Sitzung, sie bilden den »roten Faden« für den Therapieprozess und dienen als Orientierung für die Prozessgestaltung der Therapeutin. Sie beruhen auf ihren subjektiven Beobachtungen und sind im systemischen Verständnis weder falsch noch richtig. Der Wert der Hypothesen liegt in ihrer Nützlichkeit für das Klientensystem. Die Klienten begegnen dem Therapeuten mit ihren Erklärungen, die in der Regel linear-kausal das Verhalten einzelner Personen als Ursache für die erlebten Probleme beschreiben. Diese Erklärungsgeschichte über den Anlass für die Unzufriedenheit, das Problem oder Symptom hat bisher keine Verbesserung oder sinnvolle Veränderung gebracht. Die Lösungsversuche des Systems sind gescheitert, oder es ist festgefahren, und dies hat dann dazu geführt, dass das Klientensystem nach Hilfe sucht. Innerhalb der generischen Prinzipien werden Hypothesen in den Punkten 2, 3, 4, 5, 6 und 7 als hilfreich erlebt. Das 4-Schritte-Modell der systemischen Hypothese

Nach von Schlippe und Schweitzer (2012, S. 204) besteht eine systemische Hypothese aus einer Ordnungsfunktion und einer Anregungsfunktion. In der Ausund Weiterbildung hat es sich aus meiner Sicht bewährt, das Modell um die Beobachtungsfunktion und die abgeleitete Intervention zu erweitern. Dadurch wird die engere Verknüpfung hergestellt zwischen 1. den zirkulären Beobachtungen im System, 2. den Erklärungsmodellen für die beobachtete Wirklichkeit des Systems (Ordnungsfunktion der Hypothese), 3. den zirkulären Anregungen für einen selbstorganisierten Veränderungsprozess, 4. der Idee, mit welchen Interventionen dieser Prozess angestoßen werden kann. Das 4-Schritte-Modell verdeutlicht den Aufbau einer systemischen Hypothese: 1. Beobachtungen: Die Therapeutin sammelt Beobachtungen und Wahrnehmungen in der Sitzung und Informationen, die sie bisher über das Klien-

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tensystem zusammengetragen hat (z. B. zirkuläre Interaktionen, Beschreibungen von Aktionen, sich wiederholende Muster, ähnliche Geschichten). Dabei trifft sie immer eine Entscheidung, welche Wahrnehmungen und Beobachtungen sie für den jetzigen Zeitpunkt als bedeutsam und weniger bedeutsam versteht. 2. Ordnungsaspekt: Aus den gemachten Wahrnehmungen werden Muster familiärer Interaktionen gebildet und mit fachlichem Wissen angereichert. Hier werden die vielen Informationen des Therapiegesprächs sortiert und die Therapeutin versucht, bedeutsame von irrelevanten Beobachtungen zu trennen und eine erste Erklärung für die familiären Interaktionen und Muster zu finden (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 204). Das kann durch kognitiv-sprachliche Beschreibungen geschehen oder angereichert werden durch Metaphern und Symbole (z. B. eine Landkarte nach Minuchin, eine Karte des inneren Systems, ein Genogramm). 3. Anregungsteil: Dieser Teil will neue Perspektiven anregen, neue Informationen geben, Ideen für Musterveränderungen anbieten, Erklärungen zur Verfügung stellen, Auswirkungen von Veränderungen bedenken, Lösungsideen bedenken, um Systemanregungen anbieten zu können, die einen auftragsund zielorientierten Prozess ermöglichen. Dabei werden die zirkulären Interaktionsmöglichkeiten im System »vorgedacht« und auf die Therapieziele hin orientiert (z. B. Wenn es dem Vater gelänge, seine Gefühle deutlicher zu zeigen und ein freundlicheres Verhalten gegenüber seiner Frau zu zeigen, kann diese sich möglicherweise wieder mehr geliebt fühlen und sich liebevoller gegenüber ihrem Mann verhalten. Diese unterstützende und wohlwollende Interaktion zwischen den Eltern kann den Sohn einladen, sich wieder mehr akzeptiert zu fühlen). Der Anregungsteil kann auch Anteile der Ordnungsfunktion überprüfen, um die eigene Hypothese zu festigen. 4. Die abgeleitete Intervention ist dann wiederum die Suche nach dem Werkzeug, der Intervention oder der Technik, wie die Ideen der Anregungsfunktion erreicht oder umgesetzt werden können. Dieser letzte Schritt der Hypothesenbildung will helfen, die Therapeutin in der kommenden Sitzung zu fokussieren und die therapeutische Komplexität zu reduzieren (Hanswille, 2016, S. 60–70). Die drei Quellen der systemischen Hypothese

1. Eine Quelle sind die Beobachtungen des Therapeuten, die im direkten Kontakt mit den Klienten gewonnen werden: die genauen und präzisen Wahrnehmungen und Beobachtungen des Klientensystems, der zirkulären Interaktionen, der Kommunikationsmuster, der Emotionen, die Gegen-

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übertragung (d. h. der Reaktionen, Gefühle des Therapeuten auf das System). Gesammelt werden wichtige Informationen und Beschreibungen der Klienten, wie etwas Bestimmtes erfolgt, z. B. wie mit den Hausaufgaben umgegangen wird, wie im Kontext über die Familie gesprochen wird, welche zirkulären Muster sichtbar werden. 2. Eine weitere wichtige Quelle für die Ordnungsfunktion einer Hypothese ist unser therapeutisches Wissen, das wir aus unserer Erfahrung, aus Wissenschaft und Forschung und unserem klinischen Modell beziehen (z. B. Minuchins Landkarte, Delegationen, mehrgenerationale Perspektiven, Kommunikationsstrukturen etc.). Störungsspezifisches Wissen, familiendynamische Erfahrungen und Grundlagen aus anderen relevanten Wissenschaften können helfen, neue Einsichten zu ermöglichen und neue Sichtweisen zu eröffnen. So können in der Ordnungsfunktion Worte und Erklärungen für therapeutische Prozesse und Musterbildungen gefunden werden, Komplexität reduziert und therapeutische Handlungskompetenz aufgebaut werden. 3. Die Prozesskompetenz ist die Basis der Anregungsfunktion. In ihr werden Ideen gebündelt, die für den Therapeuten und die Familie neue Sichtweisen über Interaktionsprozesse anbieten, um neue Muster zu entwickeln und eingefahrene Spuren zu verlassen. Die Anregungsfunktionen haben oft einen Neuigkeitscharakter für die Familie und manchmal überprüfen sie Annahmen des Therapeuten. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den Zielen des Klientensystems, nutzen deren Ressourcen und werden gerahmt durch die Selbstorganisation des Klientensystems. Eine systemische Hypothese ist umso nützlicher und passender, »je mehr Mitglieder eines Problemsystems sie umfasst und je mehr sie in der Lage ist, die Handlungen der verschiedenen Akteure in wertschätzender Weise zu verbinden« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 204). Jeder therapeutischen Handlung (Fragen, Techniken, Körperhaltung, verbale und nonverbale Reaktionen) liegt letztlich eine bewusste oder unbewusste Hypothese zugrunde. So verhindert die systemische Hypothese die Prozessgestaltung auf Basis diffuser Gefühle, Antipathien, Vorurteilen, routinemäßigen Abläufen etc. Sie unterstützt eine neutrale/allparteiliche Haltung und fördert es, den Klientinnen unvoreingenommen zu begegnen, eigene Vorurteile und Annahmen zu hinterfragen und Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle sowie -handlungen deutlich zu reduzieren. Es geht nicht darum, möglichst viele Hypothesen zu bilden, denn dadurch wird die Komplexität nur erhöht und das führt letztlich in die Lähmung der Therapeutin. Es geht darum, wenige zentrale Hypothesen, die auf den Auftrag orientiert sind, zu konstruieren. Sie werden

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dann von der Therapeutin in der Sitzung überprüft. Hypothesenbildung ist ein Akt der Komplexitätsreduktion, um handlungsfähig im therapeutischen Prozess in komplexen Systemkonstellationen zu sein. Die Hypothese soll die Informationen liefern, um Interventionen zu entwickeln. Während der Intervention und in den Handlungen des Systems danach kann der Therapeut beobachten, ob sich die Hypothese bestätigt bzw. als hilfreich erweist oder ob deutlich wird, dass sie nicht passt und verworfen werden sollte. Die Hypothesen sind der rote Faden des Therapieprozesses. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine Hypothese dann hilfreich ist, wenn sie Informationen für eine Intervention enthält, auf Beobachtungen des Systems beruht, zirkuläre Beschreibungen enthält und eine Anregung für eine Musterveränderung des Systems bietet. Bildhaft können wir uns den therapeutischen Prozess so wie in Abbildung 1 vorstellen.

Abbildung 1: Bildliche Darstellung des therapeutischen Prozesses

Einüben und Trainieren der Techniken und Interventionen Wenn wir die oben ausgeführten Ideen jetzt auf das Training von systemischen Techniken und Interventionen in der Aus- und Weiterbildung anwenden, dann wird deutlich, dass neben dem handwerklichen Erlernen einer Technik das Training der therapeutischen Haltungen, des klinischen Konzepts und der Prozesskompetenz im Mittelpunkt stehen müssen. Techniken und Interventionen werden als Ableitungen aus systemischen Hypothesen verstanden, die die Therapeutin bzw. der Therapeut im Rahmen des therapeutischen Prozesses

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entwickelt. Auf der nächsten Konkretisierungsebene geht es darum, Techniken und Interventionen zu erlernen, einzuüben und zu verinnerlichen. Denn nur wenn ich mir keine Gedanken mehr über die Durchführung einer Technik machen muss, kann ich den Fokus auf den Prozess, meine Wahrnehmung, meine Resonanzfähigkeit und meine inneren Hypothesenbildungsprozesse legen. Nur wenn der technische Prozess gut automatisiert ist, kann ich die Technik schnell anpassen oder mit einer anderen Intervention verbinden, um meinen Klienten ein hilfreiches Angebot machen zu können. Wenn wir die therapeutische Kunst mit Handwerkskunst vergleichen, dann geht es darum, dass der Handwerker nicht nur weiß, welche Werkzeuge er nutzen kann, sondern vor allem darum, dass er sie kunstfertig einsetzen und kombinieren kann. Und dazu sind Training, Übung und Geschick nötig. Handwerker »üben« praktisch täglich: wie der Hammer geführt werden muss, um ein Blech zu biegen, oder wie eine Verbindung von Kupferrohren stabil und sicher erfolgen kann oder wie eine elektrische Schaltung sicher und funktionsfähig eingerichtet wird. Beides können angehende Therapeutinnen in Seminaren lernen. Aber ähnlich wie bei einem Handwerker, dem die größte Kunstfertigkeit nichts nutzt, wenn er keine innere Vorstellung, keine Theorie darüber hat, wie sein Werkstück später aussehen soll oder wie sich das verwandte Material unter der Bearbeitung verhält; wenn er nicht weiß, wie heiß z. B. das Metall werden muss, um es zu löten oder leicht mit dem Hammer zu biegen etc., ist es auch bei der Therapeutin. Wenn sie z. B. eine Skulptur anbieten oder eine zirkuläre Frage stellen kann, aber keine Idee hat, wie sich der Prozess dabei und danach entfalten könnte, wie sich eine bestimmte Symptomatik auswirkt oder wie die Dynamik im Paar sich entwickeln wird etc., dann bleibt es ein Glücksspiel, inwiefern sich das System angeregt fühlt oder eine Symptomatik verändert wird, oder die Intervention sogar schädliche Auswirkungen im System haben könnte. Wie oft muss ich eine bestimmte Technik z. B. beim Skifahren üben, bis ich sie wirklich auch in schwierigem Gelände und bei schlechter Sicht sicher ausführen kann? Oder wie lange muss ich mit meinem Instrument üben, um eine bestimmte Melodie sicher zu spielen und vielleicht sogar in einem Orchester, wo ich auch noch auf die anderen Instrumente achten muss? Ähnlich verhält es sich mit dem Einüben therapeutischer Techniken und Interventionen. Manchmal entsteht der Eindruck, dass die Erwartung herrscht, dass es ja nicht so kompliziert ist und es ausreicht, von einer Technik theoretisch gehört zu haben oder sie einmal in einem Rollenspiel ausgeführt zu haben. In der Regel reicht das nicht. Oft erzählen Teilnehmende bereits zu Beginn der Weiterbildung, dass sie diese oder jene Technik schon regelmäßig einsetzen. Im konkreten Tun wird dann manchmal deutlich, wie wenig eingebunden und technisch sauber die

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Interventionen genutzt werden (so macht es einen Unterschied, ob z. B. bei der Ausnahmefrage gesagt wird: »Gibt es auch Ausnahmen von …?« oder »welche Ausnahmen gibt es von …?«). Nur wenn der Therapeut die theoretische Rahmung der Technik kennt, einmal erlebt hat, wie die Intervention »richtig« ausgeführt wird und dies häufig in veränderten Kontexten wiederholt, kann er sich die Sicherheit und Präzision erarbeiten, die notwendig ist, um sie in therapeutischen Prozessen verlässlich einzusetzen. Durch die ständige Wiederholung, Übung und begleitende Supervision kann er dann die Fähigkeit zur Meisterschaft entwickeln.

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Haja (Johann Jakob) Molter unter Mitarbeit von Birgit Wolter

Systemische Didaktik

Ein indischer Guru wurde einmal gefragt, welche Ziele er verfolge, wenn er seine Schüler unterrichte. Der Guru überlegte nicht lange, er antwortete: »Wenn der Guru acht Meter springt, dann springt der schlechteste Schüler mindestens acht Meter fünf.« Systemische Didaktik als Lehre vom Lehren und Lernen führt von einem im Rahmen des Lehrangebotes (z. B. eines Curriculums) fremdbestimmten zu einem selbstorganisierten Lernen. Lehrende und Lernende schaffen gemeinsam einen Kontext, in dem die Lernenden unter der ermutigenden und anregenden Vermittlung der Lehrenden sich das theoretische Wissen und praktische Rüstzeug so aneignen, dass ihre Fähigkeiten und Ressourcen sich voll entfalten können und sie auch in anderen Lebensbereichen genutzt werden können. Wir nähern uns dem Thema in drei Schritten: 1. Welche möglichen Beschreibungen und Erklärungen bieten systemische Theorien für die Praxis? 2. Welche Schlussfolgerungen kann man aus systemischen Theorien für die systemische Didaktik ziehen? Was ist unsere grundlegende Überzeugung und Haltung? 3. Welche Handlungsschritte ergeben sich vor dem Hintergrund systemischer Theorien und systemischer Haltung?

Vom Nutzen systemischer Theorien Systemische Didaktik speist sich aus unterschiedlichen systemischen Theorien.1 Einen großen Beitrag dazu leistete die Entwicklung der Familientherapie 1

An diesen Theorien orientieren sich auch die Beiträge aus der systemisch-pädagogischen Praxis: Voß (2005), Siebert (2006), Arnold (2007), Reich (1997): »Systemisch – konstruktivistische Pädagogik«, Arnold und Schüßler (2003): »Ermöglichungsdidaktik«.

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zur Systemischen Therapie (Molter, 2016). Es kam zu einem Übergang von einer Kybernetik 1. zur Kybernetik 2. Ordnung. Die Ansätze der Kybernetik 1. Ordnung werden heute als mögliche Beobachtungsstandpunkte bzw. Landkarten utilisiert, um die Förderung von Selbstorganisationsprozessen bei den Klienten und Kunden anzuregen. Weiteren bedeutenden Einfluss haben die Kommunikationstheorie (Watzlawick et al., Satir), Konstruktivismus (von Glasersfeld), die Theorie der Autopoiese (Maturana, Varela), personenzentrierte Systemtheorie (Kriz), die Arbeiten von Niklas Luhmann – beginnend mit dem grundlegenden Werk von Niklas Luhmann »Soziale Systeme« –, die Synergetik (Haken, Schiepek)) und die Chaostheorie. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Auffassung von Nichtlinearität, Rekursivität, Kontingenz und Selbstorganisation.2 »Autopoietische Systeme verhalten sich immer und ausschließlich aufgrund ihrer aktuellen internen Strukturen und Prozesse. Sie sind selbstbezogen und innengesteuert. Darin besteht ihre Autonomie. D. h. aber nicht, dass sie unabhängig von dem sind, was in ihren Umwelten geschieht, sondern nur, dass sie höchst individuell auf diese Geschehnisse reagieren, die daher nicht als ›Ursachen‹ in geradlinig-kausalem Sinne betrachtet werden können, sondern lediglich als Auslöser für innengesteuerte Verhaltensweisen« (Simon, 2006, S. 53). Wir halten die operationale Geschlossenheit für eine hilfreiche Landkarte, um Selbstorganisationsprozesse in der Aus- und Weiterbildung anzuregen. ­Darüber hinaus sollte eine systemische Didaktik ihren Fokus auch auf die Person richten und die körperlichen, die psychischen, die mikrosozialen und die kulturellen Prozessebenen, die die Lehrenden und Lernenden mitbringen, berücksichtigen (Kriz, 2014). In jüngster Zeit liefern die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die das menschliche Gehirn als einen selbstorganisierenden Erfahrungsspeicher sehen, weitere bedeutende Anregungen für eine systemische Didaktik. (Grawe, 2004; Hubrig, Hallerbach, Wosnitza u. Herzenberger, 2015; Hüther, 2006; Juckel u. Edel, 2014; Kandel, 2007; Schiepek, 2010; Schwing, 2009). In systemischer Therapie, Beratung, Supervision und Coaching hat sich daraus eine blühende und facettenreiche Praxeologie entwickelt. Aus diesen Ansätzen filtern wir Leitgedanken heraus, die wir als relevant für eine systemische Didaktik betrachten. Dabei gehen wir davon aus, dass wissenschaftliche Theorien und »kleine« Theorien alltäglichen Handelns als Landkarten zu betrachten sind. Dabei sollte beachtet werden, dass die Landkarte nicht die Landschaft ist (Korzybski, 1933).

2 Diese Aufzählung ließe sich erweitern: Differenztheorie, Sprachphilosophie, Konstruktivismus, Dekonstruktivismus, sozialer Konstruktionismus, Theorien dynamischer Systeme …

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Landkarten sind hilfreich, wenn sie verlässliche Orientierung bieten (Viabilität: von Glasersfeld, 1981, S. 43): Wir benötigen Landkarten zur Orientierung und die Güte der Landkarten bemessen wir daran, wie erfolgreich sie uns durch die Landschaft führen. Ȥ Realität ist abhängig vom Beobachter, d. h., Realität ist das Ergebnis eines konstitutiven Prozesses und immer an die Wechselwirkung zwischen einem erfahrenden und einem zu erfahrenden System gekoppelt. Ȥ Erkennen ist nur durch das Vornehmen von Unterscheidungen möglich (Spencer-Brown, 2008: »draw a distinction«). Ȥ Die Bedeutung unserer Unterscheidungen ist vom jeweiligen Kontext abhängig, z. B. Weinen auf dem Siegerpodest hat eine andere Bedeutung als Weinen bei einer Verabschiedung am Bahnhof. Ȥ Im Systemischen spricht man nicht von Eigenschaften der Dinge oder Personen, sondern von Relationen. Es handelt sich um kommunikative Zuschreibungen. Ȥ Daraus folgt für systemisch Handelnde, dass sie eine Haltung der Neugier brauchen, förderlich ist dabei eine Position des »Nichtwissens«3 (Molter, 2017, S. 16 f.). Ȥ Evolutionär bestimmte Musterbildungsprozesse der Interaktionsdynamik sind vorkonstelliert und beeinflussen die Kommunikationsprozesse (Kriz, 2014). Das bedeutet für den systemischen Didaktiker, dass er mit Blick auf Systemzusammenhänge die Menschen, mit denen er didaktisch unterwegs ist, in ihrem Sosein respektiert und hilft, Bedingungen zu schaffen, die im weitesten Sinne ein konstruktives, aufbauendes Klima ermöglichen. Der systemische Didaktiker sieht sich nicht als Alleinunterhalter, bestenfalls kann er in den wechselseitigen Selbstorganisationsprozessen zur Mehrung von Selbstführungskompetenz und Reflexionsfähigkeit der Lernenden beisteuern.4 Es geht darum, dass die Lernenden aus der Reflexion ihrer bisherigen Erfahrungen für sich selbst gangbare Wege und stimmige Lösungen entwickeln, wie sie mit dem vermittelten Wissen umgehen und wie sie es für sich nutzbar 3 Woher wusste Sokrates, von dem »Ich weiß, dass ich nichts weiß« stammt, dass er nichts wusste? Oder ist es möglich, in respektvoller Weise sein Wissen anzubieten? Das ist möglich. 4 »Beisteuern ist nicht das gleiche wie Steuern. Es ist aber auch nicht das gleiche wie einfach dabeizusitzen. Beisteuern meint die Kompetenz, sich erkennbar, verantwortlich und anschlussfähig daran zu beteiligen, Perspektiven zu weiten und neue Möglichkeiten zu erschließen, ohne dies einseitig und allein entscheidend tun zu können« (Loth, 1998, S. 41 f.).

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machen. Das »Lernen zu lernen« (»Deutero learning«, Bateson, 1964)5 sollte eingeübt werden. Für diese Zielsetzung eignet sich die systemische Vorgehensweise, da sie die Sinn- und Bedeutungsumgebungen der Lernenden anerkennt und deren Problembeschreibungen zum Ausgangspunkt nimmt, um daraus Lösungen zu entwickeln (Molter, 2014). Dabei ist zu berücksichtigen, »dass ein lineares Verständnis von Ursache und Wirkung in sozialen nichttrivialen Systemen weder anwendbar noch begründbar ist« (Grossmann, Bauer u. Scala, 2015, S. 36 f.). Dies gilt auch für die Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden. Die Lernenden werden nur das aufnehmen können, was für ihr psychisches System stimmig und ankoppelungsfähig ist. Vom Lehrenden erfordert das einen großen Respekt vor der Individualität eines jeden Lernenden. Hier gilt es Abschied zu nehmen von der »Nürnberger-Trichter«-­ Didaktik. Eine systemische Didaktik soll »Anregung zum Handeln und Irritation gewohnter Denkgewohnheiten vermitteln und – wenn notwendig – die Komplexität der Herausforderungen reduzieren helfen« (Molter u. Schmidt, 2016, S. 105).

Ressourcen- und Lösungsorientierung Systemische Didaktik orientiert sich an Ressourcen und Lösungen. Wenn man dazu als Folie Selbstorganisation und Personenzentrierung unterlegt, dann kommt es darauf an, die Lernenden zu befähigen, das Lernen zu lernen, d. h. zu einem Prozess beizusteuern, der die Lernenden nicht zu passiven Empfängern macht, sondern ihnen in der Interaktion ermöglicht, selbstverantwortlich und selbsttätig ihr Lernen zu organisieren. »Der Begriff Ressource umfasst ein weites Spektrum, es kann sich um Verschiedenartiges handeln: eigene Kompetenzen und Fähigkeiten, Bezugspersonen, soziale Bezüge und Zugehörigkeiten, materielle Ressourcen, Ideelles wie Ideen, Visionen, Erinnerungen, Spiritualität und Religiosität usw.« (Schiepek u. Matschi, 2013, S. 56). Bei der Lösungsorientierung geht man davon aus, dass jeder Mensch eigene Strategien für anstehende Handlungsanforderungen entwickeln kann und dafür die notwendigen Ressourcen zur Verfügung hat. Der lösungsorientierte Ansatz hält den Klienten und Kunden – das gilt auch für den Lernenden – »als Experten für seine zu findenden Lösungen. Der Kunde heißt Kunde, weil er einerseits 5 Gregory Bateson charakterisierte mit diesem Begriff die Organisation des Lernens (auch: Visser, 2002).

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die Dienstleistung bezahlt und weil er andererseits der Experte für das ist, was er will – er ist ein Kundiger« (Hargens, 2006, S. 23). »Auch de Shazer (1992, S. 64–77) plädiert dafür, dass das Material für eine Lösung nur von den Kunden kommt. Es wird unterstellt, dass der Kunde die Freiheit hat, zu wollen, was er will. So sehen wir das nicht ausschließlich. Kunde kann man auch so konnotieren, dass er etwas einkaufen oder erwerben will, was er no ch nicht hat, um sein Fähigkeitsrepertoire oder seine Ressourcen zu erweitern« (Molter u. Wolter, 2016, S. 58). Legt man diese Prämissen zugrunde, bedeutet systemische Didaktik ziel- und lösungsorientiertes Vorgehen. Daraus folgt für die Lehrenden, dass sie zu Beginn des Lernprozesses mit den Lernenden, analog der Auftragsklärung in der systemischen Therapie- und Beratungspraxis, aushandeln, wo es hingehen soll. Da man systemische Didaktik ebenfalls als systemische Praxis bezeichnen könnte.

Kommunikativer Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden Man kann davon ausgehen, dass die Lernenden bereits Ressourcen mitbringen. Es kommt darauf an, dass sie motiviert sind, diese für das Lernen zu nutzen, es kann aber auch notwendig werden, dass sie noch nicht vorhandene Ressourcen erwerben können. In einem Klima förderlicher Selbstorganisation (Molter, 2002/2006) entwickelt sich ein soziales System, das hier als »Kommunikation unter Anwesenden« definiert werden soll (Luhmann, 1984, S. 51 ff.) und sich aufgrund seiner Zusammensetzung durch Personen selbstorganisiert strukturiert (siehe oben). Die Lehrenden sollten sich bewusst sein, dass nicht so sehr ihre eigenen Erwartungen an die Lernenden ihr Verhalten leiten, sondern ihre Erwartungserwartungen – nämlich das, was sie vermuten, das die Lernenden von ihnen erwarten  – bestimmt vielfach ihr Denken, Erleben und Handeln. Das gilt umgekehrt auch für die Lernenden. »Luhmann hat den Begriff Erwartungserwartungen, der auf George Herbert Mead zurückgeht, in dem für seine Theorie grundlegenden Buch ›Soziale Systeme‹ näher erläutert. George Herbert Mead verstand darunter eine Antizipation von Handlungen und die Reaktion darauf. Nach Luhmann reduzieren Erwartungen die Komplexität in der Bewältigung des Alltags. Erwartungserwartungen sind Erwartungen, die sich auf die Erwartungen eines Gegenübers beziehen« (Molter u. Nöcker, 2015/2018, S. 34 f.). Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, die Rückbezüglichkeit miteinzubeziehen: Alles was gesagt und getan wird, wird von und zu einem Beobachter gesagt und getan. Das Verhält-

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nis zwischenmenschlicher Interaktionen, ergibt sich aus dem Ansprechen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Es gehört zur Natur dieses Austausches, dass die Relativität verschiedener Standpunkte der beteiligten Personen deutlich wird. Die Lehrenden und Lernenden können nicht sicher sein, dass ihre Wahrnehmung der Realität entspricht. Das gilt für Lehrende und Lernende: »Unser Handeln unterliegt der Kontingenz. Daraus ergibt sich eine prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen. Wir können nicht sicher sein, dass das, was wir wahrnehmen, der Realität entspricht. Das gilt für alle Teilnehmer der Kommunikation. Daher herrscht doppelte Kontingenz« (S. 36). Das impliziert für die Lehrenden, dass sie auf die Deutungshoheit verzichten. Konsensualität sollte den Begriff der Objektivität ersetzen, allerdings mit der Einschränkung, dass auch Dissens ausgehalten werden sollte. Im Austausch von Lehrenden und Lernenden kann der systemisch orientierte Didaktiker auf seine Kompetenz mit persönlichen und interpersonellen Problemen und Konflikten umzugehen, zugreifen und so zu Lösungen beitragen, sollten sich in den Interaktionen Turbulenzen und Störungen zeigen. Für den an ressourcen- und lösungsorientierten Didaktiker kommt es dabei weniger darauf an, die Ursachen der Störungen zu ergründen. Es kann hilfreicher sein, Lösungen zu finden, als die Gründe für das Problem zu verstehen. Kleine Veränderungen können zu großen Veränderungen führen, müssen es aber nicht notwendigerweise. Lösungen können aus verschiedenen Richtungen kommen (Molter, 2000, S. 141–169). Dafür eignen sich systemische Methoden und Vorgehensweisen, von denen heute ein breites Angebot vorliegt.

Systemische Haltung Wenn man sich als Lehrende für eine systemische Didaktik entschieden hat, sollte man davon ausgehen, dass die Lernenden eher einem linear-kausalen Weltbild verhaftet sind. Wie die Lehrenden kommen sie aus unterschiedlichen familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Systemen und sie bringen – wie schon beschrieben – unterschiedliche Erwartungen und Zielvorstellungen mit. Um anschlussfähig an die Lernenden zu werden, hat sich eine systemische Haltung bewährt. Voraussetzung ist – das möchten wir noch einmal betonen – ein »unerschrockenes Respektieren«6 (Hargens, 1995, S. 36) des Anderseins der Lernenden. 6 »Unerschrockenes Respektieren« verstehen wir als eine Haltung, die vom Respektieren unserer Gegenüber getragen wird, uns zugleich aber ermutigt, jede denkbare Frage als möglich zuzulassen (Hargens, 1995, S. 36).

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Aus dem »Kofferwort« Haltung lassen sich mehrere Bedeutungen herausheben. »Das Wort ›Haltung‹ hat etwas mit ›Halt haben‹ und ›geben‹ zu tun, aber auch mit ›halt‹ im Sinne von ›Stopp‹, also Grenzziehung, Positionierung, Authentizität. Unsere Haltung steht in enger Verbindung mit unserer Identität, dem Charakter, den Einstellungen, Wahrnehmungsweisen und Wirklichkeitskonstruktionen […] Haltung ist die Art und Weise, wie wir uns zu uns selbst und zu unserer Umwelt in Beziehung bringen, wie wir uns mit unserer Außen- und Innenwelt auseinandersetzen« (Königswieser u. Hillebrand, 2006, S. 74). Für den systemisch Lehrenden stellt das eine hohe Anforderung dar. Diese Haltung soll ihm und den Lernenden Halt geben, ohne darauf zu verzichten, seine Positionierung deutlich zu machen und, wenn notwendig, Grenzen zu ziehen. Daher sollte er sich bewusst sein: »Haltung als Prozess des In-­ Kontakt-Gehens mit sich selbst, den anderen, den Themen und der Umwelt ist ein lebenslanger Prozess, der kontinuierlicher Reflexion bedarf« (Bergknapp, 2016, S. 5). Eine solche Haltung vertraut auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Lernenden. Der Lehrende tritt im interaktiven Austausch nicht als Experte auf, er kann sich mit eigenen Ideen zurückhalten oder sie als Angebote verstehen, die den Lernenden ermutigt, selbst Ideen und Lösungsstrategien zu entwickeln. Diese Aussagen beziehen sich auf den Prozess der Organisation des Lernens. Was die zu vermittelnden Inhalte betrifft, braucht der Lehrende seine Expertise nicht zu verleugnen. Wie kann es gelingen, im Kontext von Lehre dazu beizutragen, dass ein förderliches Klima für Selbstorganisation entsteht?

Methodische Impulse: Kontext-sensible Förderung von Selbstorganisierungsprozessen Was systemische Methoden, Interventionen und »Einladungen« angeht, können wir auf eine reichhaltige Literatur zurückgreifen und wir finden darin viele wertvolle Anregungen. Wir befassen uns im Folgenden mit dem Kontext, in dem systemische Didaktik stattfindet und wie hier systemische Methoden, Interventionen und »Einladungen« zur Anwendung kommen können. Für Maturana (1975) zeigt sich Leben in einer besonderen Form der zirkulären, selbstrückbezüglichen Organisation von Prozessen, durch die ein lebender Organismus sich von seiner Umwelt abgrenzt und unterscheidet. Autopoietische Systeme werden nicht von außen erschaffen. Sie haben die Eigenschaft, sich in ihrer Struktur durch ihr eigenes Prozessieren herauszubilden und als Ein-

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heit abzugrenzen. Luhmann (1984) hat Maturanas Konzept der Autopoiese auf soziale Systeme übertragen.7 Wenn man diese Sichtweise auf die Prozessorganisation einer systemischen Didaktik überträgt, orientieren wir uns an Ausbildungssystemen, die über einen längeren Zeitraum Bestand haben. Das was in diesen Systemen vermittelt oder angeregt durch die Lehrenden passiert, kann man als eine Folge von Kommunikationen auffassen, die sich von anderen Umwelten deutlich unterscheiden. Die körperlichen, kognitiven und emotionalen Prozesse der Lernenden und Lehrenden stellen Umwelten im Sinne Luhmanns (1997) dar. Die Kommunikationen emergieren und erhalten sich als abgegrenzte Einheiten, indem sie sich selbstrückbezüglich aktivieren. Wenn man den Kontext von Lehren und Lernen so definiert, geht man davon aus, dass Veränderungen eher nicht zielgerichtet (Kybernetik 1. Ordnung) eingeleitet werden können. Die Herausforderung für die Lehrenden besteht zunächst darin, Anschluss an das Kommunikationssystem der Lernenden zu finden. Unsere folgenden Ausführungen über die Anwendung systemischer Methoden für eine systemische Didaktik gehen davon aus, dass dieser Anschluss gelungen ist und zwischen Lehrenden und Lernenden ein wertschätzender Umgang entstanden ist, in dem auch ihrer individuellen Einzigartigkeit mit Respekt und Wertschätzung begegnet wird. Vorausschicken möchten wir, dass sich systemische Didaktik aller gängigen Hilfsmittel zur Vermittlung von Inhalten bedient.8 Die Methoden, die wir einsetzen und beschreiben, sollen dazu beitragen, den Prozess – das Wie – zu einer förderlichen Selbstorganisation zu beschreiben. Nicht zu unterschätzen ist das Setting, in dem sich die Lernprozesse abspielen. Wenn es eben geht, vermeiden wir »Frontalunterricht«, wir bevorzugen kreis- oder halbkreisförmige Anordnungen. Lehrende wie Lernende sollten die Möglichkeit haben, sich im Raum zu bewegen. Aus der systemischen Haltung heraus treten die Lehrenden den Lernenden mit einer »wohlwollenden« Neutralität entgegen. Viele der systemischen Methoden und Interventionen, die in der systemischen Beratung angewandt werden, sind auch im Lehr-/Lernkontext einsetzbar.9 Ebenso profitieren wir von dem Erfahrungsschatz der Gruppendynamik, hier 7 Maturana allerdings hat dieser Theorieentscheidung widersprochen. In einem Gespräch mit Bernhard Pörksen, das 2001 in der Zeitschrift »Communicatio Socialis« erschienen ist, erklärt er, warum er die Übernahme des Autopoiesebegriffs in die Theorie sozialer Systeme für falsch hält. 8 Arbeitsblätter, Tafel, Flipchart, Whiteboard, Filme, Videos, DVD, Beamer usw. 9 Brüggemann, Ehret-Ivankovic u. Klütmann, 2014; Liebing, Löhr, Wiesner u. Wöhrle, 2017; Reich, 2007; von Schlippe u. Schweitzer, 2009; Schwing u. Fryszer, 2013. Methodenpool: http://methodenpool.uni-koeln.de (5.11.2019).

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besonders von ihrem Beitrag zum Konfliktmanagement: Die Lehrenden können die Lernenden dabei unterstützen, ein Konfliktbewusstsein zu entwickeln, um z. B. mit Konkurrenzgefühlen umzugehen. Die »Weisheit« eines so entstehenden Lehr-/Lernsystems wird gefördert, indem die Lehrenden beobachten, anregen, zuhören, Fragen stellen, moderieren und eigene Gedanken, Erfahrungen und Hypothesen10 zur Verfügung stellen.

Interaktive Vorlesung Wir beschreiben prototypisch, wie wir den Lernenden das vom Curriculum geforderte Wissen vermitteln: Wir bilden Untergruppen von 3–4 Personen. Die Gruppen bleiben im Raum. Allen Lernenden steht ein Skript mit den zu lehrenden Inhalten zur Verfügung. Wir geben dann kurze Inputs zum Lernstoff, nach jedem Input haben die Lernenden Zeit zur Verfügung, das Gehörte zu reflektieren und zu diskutieren und ihre Fragen auf Moderationskarten festzuhalten. Bevor es zum nächsten Input geht, geben wir als Lehrende Gelegenheit, die Fragen zu stellen und mit uns zu reflektieren und diskutieren. Das Feedback der Lernenden bestärkt und ermutigt uns, immer wieder auf diese Art der Wissensvermittlung zurückzugreifen.

Fazit Wir verstehen systemisches Lehren und Lernen als einen lebendigen, interaktiven Prozess. Impulse der Lehrenden stoßen auf reichhaltige Kenntnisse und Erfahrungen und unterschiedlichen Praxistransfer der Teilnehmenden, die dadurch selbst zu Impulsgebern und Lehrenden werden. Die Palette zur Anregung von systemischen Lern- und Entwicklungsprozessen bedient sich dabei verschiedenster Optionen, wie fachliche Inputs, verbaler und nonverbaler Methoden, Rollen- und Planspielen, Aktionsmethoden, L-Beratungen, praxistauglicher Reflexionen – z. B. Reflecting Team, Explorationen, Literaturstudium, Supervision, zirkuläre Feedbackkultur mit Blick auf die Wirksamkeit von Didaktik und Praxis. Prozesse, die entsprechend rückgekoppelt werden, entwickeln aus unserer Erfahrung eine eigenständige Dynamik in den jeweiligen Kontexten.

10 Das Hypothetisieren gehört zu den Basisfertigkeiten systemischer Praxis (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1981).

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Wenn das alles zusammenkommt, werden die Lernenden auch über das Modelllernen ihre ihnen gemäße systemische Haltung entwickeln. Das konnten wir durch viele Rückmeldungen unserer Studenten und Auszubildenden erfahren. Die in der Lehre als irreversibel anzusehende Digitalisierung wird Lehrende und Lernende vor neue Herausforderungen stellen. Es wird sich zeigen, wie neue Formate – wie z. B. E-Learning, Webinar, Lehre über Skype – in eine systemische Didaktik einbezogen werden können. Abschließend stellen wir heraus: In einem systemischen Verständnis ereignet sich Lernen durch dynamische und auf Perspektivenwechsel gegründete Interaktionen in wechselseitigen Selbstorganisationsprozessen. Konfuzius sah im Lernen »ein Meer ohne Ufer«. So folgen wir seiner Empfehlung: »Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.«

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Petra Bauer

Systemisch denken lernen – systemische Kompetenzentwicklung als Lernen am Fall

Wenn Therapeut*innen und Berater*innen sich ihren Klient*innen zuwenden, im Gespräch gemeinsam Problemstellungen ausloten, die Kontexte klären und im Prozess versuchen, Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, entwickeln sie kontinuierlich Konzepte darüber, was hier der Fall sein könnte. Auch wenn in der systemischen Therapie und Beratung der Hypothesencharakter der Fallkonzeptualisierung besonders betont wird, kommen systemische Therapeut*innen und Berater*innen nicht umhin, gedanklich Ideen darüber zu formulieren, wie die als problemhaft markierte Situation des Paares, der Familie, der Organisation vor dem Horizont des eigenen systemischen Denkgebäudes verstanden werden können. Wie dies in der Praxis aussieht, möchte ich mit Hilfe eines kurzen Ausschnitts aus einer Fallbesprechung, die in einer Erziehungsberatungsstelle stattfand, illustrieren. Der systemisch ausgebildete Berater führt seine Frage an die kollegiale Runde folgendermaßen ein: »[…] Und ich wollt euch so ein bisschen (.) fragen, wie ihr das (.) einschätzt, so ’ne Dynamik in so ’ner Familie mit Essstörung, (.) weil ich da, da jeder (.) sagt dem andern was also (.), quasselt da rein und bezieht sich auf den andern, also dass mal der Einzelne auftauchen darf und mal sagen kann (.), äh so geht’s mir, das will ich oder so was. Also es wird ständig (.), Sie beziehen sich ständig aufeinander, also es ist ein wahnsinniges Chaos, finde ich (.), und deswegen hab‘ ich jetzt mal für mich da nur (.) den Teil rausgeschnitten, dass ich (.) gesagt hab,‘ ok, (.) jetzt arbeite ich mal nur mit dem Jugendlichen, also (.) was so den Aspekt dieser Versorgung für diesen Jugendlichen: Wie stellt er sich das vor, wie kann man das mit der Mutter absprechen, inner innerfamiliär (.), und dieses ganz dieses ganze Zeug (.), den mal rauszuschneiden. Und da wollt ich euch einfach ein bisschen um eure Einschätzung fragen (.) aus eurer Erfahrung mit (.) mit Familien mit Essstörungen (1) zu dem Vorgehen da von mir (1).«1 1

Die Fallbesprechung entstammt einem Forschungsprojekt mit dem Titel »Multiprofessionelle Kooperation im Aushandlungsprozess«, in dem Fallbesprechungen aus Erziehungsberatungs-

Systemisch denken lernen – systemische Kompetenzentwicklung als Lernen am Fall

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Wie dieser kurze Ausschnitt verdeutlicht, versucht der Berater hier der Komplexität des Geschehens in der Interaktion innerhalb, aber auch mit der Familie dadurch gerecht zu werden, dass er einerseits die Interaktion zum Label »Familie mit Essstörungen« verdichtet. Andererseits versucht er gleichzeitig, eine Handlungsstrategie zu entwickeln, die es ihm erlaubt, die Problemstellungen der Familie so zuzuschneiden, dass sie für ihn als Erziehungsberater bearbeitbar werden (hier: primär mit dem Jugendlichen als Hauptadressaten zu arbeiten). Dass dieser Fall in einer regelmäßig stattfindenden Fallbesprechung eingebracht wird, verweist darauf, dass dieses Bemühen um das Verstehen des Falls und Entwickeln einer bearbeitbaren Problemstellung keineswegs selbstläufig geschieht und immer wieder neu hergestellt werden muss. Die Herausforderung der beraterischen Arbeit zeigt sich hier sehr plastisch darin, dass die Interaktionen der Familie in der Beobachtung des Beraters als »wahnsinniges Chaos« erscheinen, während gleichzeitig der beraterische Anspruch genau darin besteht, diese chaotisch wirkende Komplexität zu bändigen. Damit ein Chaos nicht nur als solches wahrgenommen wird, sondern interaktive Muster darin erkennbar werden, müssen bestimmte Aspekte fokussiert, andere ausgeblendet werden. Um zu verhindern, dass diese Muster vorschnell zu Tatsachen verhärtet werden, muss gleichzeitig der Erkenntnischarakter dieser Musterwahrnehmung immer wieder neu dadurch betont werden, dass die ausgeblendeten Aspekte im Gedächtnis der professionellen Therapeutinnen und Beraterinnen (der Einzelnen, des Teams etc.) erhalten bleiben: Jeder Fall kann so, aber immer auch ganz anders verstanden werden. Diese sich in Fallbesprechungen interaktiv entfaltenden Suchbewegungen bilden den Kern dessen ab, was systemisches Denken in Beratung und Therapie konkret bewirken soll, wenn damit gemeint ist, einen Fall systemisch zu verstehen. Die folgenden Überlegungen richten sich nun darauf, diese Prozesse des systemischen Fallverstehens zunächst professionstheoretisch einzuordnen, also nachzuzeichnen, warum Fallverstehen eine zentrale Rolle in jeder professionellen Beratung und Therapie einnimmt und daher als Kernkompetenz bezeichnet werden kann. Fallverstehen geht jeder Intervention im Sinne der Anwendung

stellen und Teams der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Frage untersucht wurden, wie sich hier Multiprofessionalität ausgestaltet. Nähere Informationen zum Projekt und zu dieser speziellen Besprechung finden sich in Bauer (2018). In diesem kurzen Ausschnitt sind dialektale Ausformungen geglättet. Punkte in Klammern stehen für kurze Pausen, die Zahlen in Klammern benennen die Dauer der Pausen in Sekunden. Wir danken an der Stelle noch mal allen Kolleginnen und Kollegen, die uns als Forscherteam diese Einblicke in ihre täglichen Verständigungsprozesse gewährt haben.

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konkreter Methoden oder der Wahl spezifischer Settings voraus (siehe den folgenden Abschnitt: »Fallverstehen als professionelle Kompetenz«). Interessant und bisher noch wenig beleuchtet ist der Umstand, dass Fälle im kollegialen Austausch – über die Vielfalt möglicher Arbeitsfelder und Einrichtungen hinweg – erzählt werden. Daran lassen sich theoretische Ansätze anschließen, die darauf verweisen, dass Wissensbildung im professionellen Sinn immer auch narrativ strukturiert ist: Es geht nicht nur um ein Denken in theoretischen, systemischen Konzepten, sondern professionelle, beraterische und therapeutische Praxis entfaltet sich entlang des Erzählens von (Problemund Lösungs-)Geschichten. Damit bekommt die Art und Weise, wie über Fälle »erzählt« wird, eine wichtige Bedeutung für die sich daran anknüpfenden Lernund Verstehensprozesse (siehe Abschnitt »Lernen am Fall«). Wenn die für das Anliegen dieses Sammelbandes zentrale Frage ist, wie systemisches Denken gelehrt und erlernt werden kann, so geht dieser Artikel also der spezifischen Frage nach, wie Teilhabe an und Gestaltung von Erzählungen, in denen systemische Fälle konstruiert werden, erworben wird. Im Gegensatz zur Tiefenpsychologie, in der Falldarstellungen und die Auseinandersetzung mit Kasuistik im Sinne von Krankengeschichten die Entwicklung des Verfahrens maßgeblich mitbestimmt haben, wird Kasuistik im systemischen Feld zwar häufig praktiziert, aber bisher erst in Ansätzen systematisch entfaltet (Ritscher, 2012; auch Levold, Bauer, Beher u. Bräutigam, 2019). Daher kann hier auch nur eine erste Annäherung an die Bedeutung kasuistischer Arbeit erfolgen. Ein Blick auf die Vielfalt möglicher Formen und Methoden der systemischen Fallarbeit schließen sich daran an (siehe Abschnitt »Fallbasiertes Lernen als Lern- und Vermittlungsinstrument systemischen Denkens«). Abschließend geht es (im Abschnitt »Ausblick: Systemisches Denken lernen als kollektive Praxis«) darum, noch einmal den Bogen zum Anfang zu schlagen und darauf zu verweisen, dass Fallarbeit immer in kollektive Praktiken eingebettet ist, was insbesondere die Rolle einer systematischen Kasuistik in der Aus- und Weiterbildung unterstreicht.

Fallverstehen als professionelle Kompetenz Versucht man, sich dem Fallbegriff zu nähern, wird deutlich, dass nicht nur im beraterisch-therapeutischen Handeln, sondern auch im Alltag häufig von »Fällen« die Rede ist. Der berichtete Fall kann sich beispielsweise auf ein individuelles Krankheitsgeschehen, aber ebenso auf ein besonders aufregendes Urlaubsereignis beziehen. Sprachlich betrachtet, wird ein Fall dadurch markiert, dass

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sich etwas aus dem kontinuierlichen Fluss alltäglicher Ereignisse heraushebt und als konkrete Begebenheit abgegrenzt wird (Steiner, 2004, S. 14 f.). Entscheidend ist dabei, dass sich ein Fall nur aus der Perspektive eines darüber berichtenden Subjektes als solcher darstellt: »Zum Fall wird aber eine derart formal gekennzeichnete Handlungssequenz immer erst dann, wenn mindestens ein erkennendes Subjekt darüber nachdenkt, spricht, schreibt und sich ihrer bewusst wird. Die Handlungssequenz steht damit unter einem bestimmten Gesichtspunkt für etwas und erzeugt im Bewusstsein dieses erkennenden Subjekts eine bedeutungstragende Wirkung« (Steiner, 2004, S. 14). Im therapeutischen und beraterischen Handeln erfolgt die Bezugnahme auf den Fall und die dieser vorgängigen Konstitution eines Falls auf eine spezifische Weise: Die Konstitution einer im engeren Sinne professionellen Perspektive auf den Fall beschreibt einen sozialen Konstruktions- und Transformationsprozess (Gildemeister u. Robert, 1997), in dem im Alltag entstandene Problemstellungen von professionell Tätigen »zwar dort verstanden, aber gerade nicht in ihrer lebensweltlichen Bestimmung, ggfs. Diffusität und lebenswirklichen Verwobenheit belassen werden« (S. 32). Problemstellungen werden gewissermaßen aus der Zone des alltäglichen Verständnisses herausgenommen und stattdessen in ein professionelles Bezugssystem übersetzt (Stichweh, 1992). Erst mit dieser Transformation werden Fälle für Professionelle bearbeitbar. Dabei ist wichtig, zu betonen, dass alltagssprachlich zwar von Professionalität gesprochen wird, wenn jemand eine Tätigkeit im beruflichen Bereich sehr gut und versiert ausübt und diese Tätigkeit mit besonderem Sachverstand durchgeführt wird. In einer soziologischen Betrachtung zeigen sich durchaus Anklänge an dieses Alltagsverständnis, dennoch geht es im Gebrauch des soziologischen Begriffs darum, Professionalität als etwas auszuweisen, das auf den spezifischen Charakter der Tätigkeit zurückgeführt werden kann. Professionelle berufliche Tätigkeiten sind dann beispielsweise solche Aufgaben, die nur in gemeinsamer Interaktion mit Klientinnen, Adressaten, Patientinnen erbracht werden können und die dabei auch in besonderer Weise von diesen Interaktionen abhängig sind. Sie beziehen sich auf Problemstellungen, die die psychische, physische, moralische oder rechtliche Integrität von betroffenen Personen berühren und daher auch einen besonderen Schutz dieser Personen erfordern (Dick, 2016). Professionelle Tätigkeiten sind in diesem Verständnis durch eine besondere Risiko- und Fehleranfälligkeit gekennzeichnet, sie sind nicht vollständig planbar und in ihren Konsequenzen unvorhersehbar. Sie erfordern daher ein spezielles Arbeitsbündnis zwischen Professionellen und Klienten, in dem einerseits die Rollenförmigkeit der Beziehung betont wird, andererseits die für Beratung und Therapie notwendige persönliche Nähe und

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Petra Bauer

Offenheit der Beziehung – soziologisch gesprochen deren Diffusität – miteinander vermittelt werden (Hildenbrand u. Welter-Enderlin, 2004). Klassischerweise werden ärztliche, juristische oder seelsorgerliche Handlungen als professionelle Tätigkeiten bezeichnet, in der neueren Professionsforschung wird aber inzwischen auch die wachsende Vielfalt von pädagogischen, beraterischen und therapeutischen Tätigkeiten darunter gefasst. Ein wesentliches Charakteristikum dieser Art des professionellen Handelns besteht darin, dass es sich – auch in Therapie und Beratung – nie auf die ganze Person richtet, sondern auf bestimmte Aspekte von Problemen oder Störungen, z. B. körperliche Symptome oder als auffällig wahrgenommene Verhaltensweisen. Fallverstehen bezieht sich dann darauf, genau den als relevant erachteten Ausschnitt zu bestimmen und damit die Problemstellung in spezifischer Weise einzuordnen. Ein Fall im professionellen Sinn konstituiert sich dadurch, dass eine geschilderte Problematik einer Klientin, eines Patienten unter eine bestimmte theoretisch profilierte Kategorie subsumiert oder zu einer kategorialen Ordnung in Bezug gesetzt wird (Bergmann, 2014, S. 17). Was jeweils als relevante kategoriale Ordnung in Anschlag gebracht wird, hängt von den Wissensbeständen und den damit verbundenen Deutungssystemen der jeweiligen Beraterinnen und Therapeuten ab. An dieser Stelle werden die unterschiedlichen Therapieverfahren in besonderer Weise wirksam, indem das als problematisch erlebte Verhalten einer Person beispielsweise systemisch oder tiefenpsychologisch verstanden werden kann. Die Konstitution eines Falls gehört somit zu den grundlegenden erkenntnisbildenden Praktiken jeder Professionellen (S. 17). Damit kommt als zentraler Aspekt professioneller Kompetenz die Fähigkeit ins Spiel, eine fallbezogene Urteilskraft zu entwickeln (S. 20; Klatetzki, 2005): Erst mithilfe dieser Urteilskraft werden Informationen vor dem Hintergrund der zugrunde gelegten Wissensbestände geordnet, bewertet und zu einem kohärenten Bild zusammengefügt. Allerdings wäre es verkürzt, davon auszugehen, dass Fälle nur im Sinne einer »reinen Lehre« einzelner Therapieverfahren gebildet werden. So macht es unter Umständen einen großen Unterschied, ob ein Problem in einer Erziehungsberatungsstelle als Fall bearbeitet wird oder in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, auch wenn sich beide Einrichtungen als systemisch orientiert verstehen. Neben therapeutischen Bezugssystemen spielen eben auch organisatorische Logiken, lokale Praktiken wie die Notwendigkeit der Nutzung von Diagnosen als Berechnungsgrundlagen und die jeweils vorhandenen Settingmöglichkeiten eine immense Bedeutung bei der Frage, was jeweils überhaupt zum Fall werden kann (Bauer, 2018). Die Bestimmung einer spezifischen Fallperspektive ist daher immer eine komplexe Angelegenheit, sie verläuft prozesshaft und entfaltet sich in immer

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neuen Schleifen. In Prozessen des Fallverstehens realisiert sich damit auch ein praktisches, nicht nur theoretisch begründbares, sondern durch Erfahrung und in der Auseinandersetzung mit »Einzelfällen« gewonnenes Wissen von Professionellen, das nur in Teilen expliziert werden kann (Neuweg, 2015). Gerade dies macht es notwendig, diese Prozesse bereits im Rahmen einer professionellen Aus- und Weiterbildung einzuüben und gleichzeitig die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Reflexion dieser Prozesse deutlich zu machen.

Lernen am Fall Konzepte des Falllernens rekurrieren auf ein Grundverständnis professionellen Wissens als praktischem Wissen. Praktisches Wissen besteht aus einer Gemengelage aus wissenschaftlichen Wissensbeständen, praktischen Erfahrungen, theoriebasierten Konzepten, aber auch aus individuellen Wertvorstellungen und biografischen Erfahrungen. Diese Wissensbestände werden nicht einfach auf einen Fall angewandt, sondern müssen in spezifischer Weise »relationiert« werden (Dewe, 2012; Messmer, 2017; Strasser, 2006). Professionswissen ist dabei auch dadurch charakterisiert, dass es auf explizierbaren, generalisierten Konzepten beruht, aber ebenso auf implizit bleibenden Wissensanteilen (Henrich u. Weinhardt, 2018; Neuweg, 2015; Hilzinger u. Henrich sowie Weinhardt in diesem Band). Eine zentrale Besonderheit dieses praktischen Wissens, auf die sich das Lernen am Fall beziehen lässt, ist nun, dass dieses Wissen, wie insbesondere Studien aus der Expertiseforschung zeigen, episodisch strukturiert ist. Wie Studien in der Tradition der Expertiseforschung gezeigt haben, wird professionelles Wissen entlang von Fällen generalisiert. Strasser und Gruber (2015) haben beispielsweise die Kompetenzentwicklung von Beratenden untersucht und sprechen hier – in Anlehnung an Studien aus dem Bereich der Medizin – von sogenannten Illness-­Skripts. Damit bezeichnen sie Skripts, in denen sich erfahrungsbezogenes und konzeptuelles Wissen über Fälle zunehmend verdichtet und dadurch sehr schnell fallbezogen abrufbar wird: »The results show that experts’ knowledge is organized in script-like structures that integrate declarative knowledge and professional experience and help experts in accessing relevant information about cases. Novices revealed less integrated knowledge structures. It is concluded that knowledge restructuring and illness script formation are crucial parts of the professional learning of counselors« (S. 515). Beraterischer Kompetenzaufbau folgt in diesem Sinne der Logik der Ähnlichkeit und der Analogiebildung, indem »relevante frühere Fälle« im Gedächtnis

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gespeichert und dazu genutzt werden, »um einen vorliegenden neuen Problemfall zu interpretieren oder zu lösen« (Steiner, 2014, S. 11). Im Fall realisiert sich die Vermittlung und Relationierung der Wissensformen, er bildet die Grundlage beraterischen und therapeutischen Wissensaufbaus: »Wir gewinnen verallgemeinerte und damit theoretische Aussagen über beobachtete Phänomene, indem wir vom Einzelfall über eine Vielzahl vergleichbarer Einzelfälle zu Aussagen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in dieser Vielfalt, und von dort zu Strukturaussagen in Form allgemeiner theoretischer Begriffe und Konzepte kommen« (Ritscher, 2012, S. 230). Auf diese Weise entsteht eine narrativ strukturierte »Wissensbasis«, die es »durch die Integration von theoretischen Erklärungen oder Theorien und gemachter Erfahrung in komplexen Praxissituationen […] ermöglicht, zunehmend auch mit vielschichtigen Situationen sowie unvorhergesehenen und ungewissen Problemlagen umgehen zu können« (Zürcher, 2018, S. 34). Auch in anderen wissenschaftstheoretischen Traditionen wird diese im Kern narrative Struktur professioneller Wissens- und Erfahrungsbildung betont. Im Rekurs auf interaktionstheoretische Ansätze hat Klatetzki (2019) die Bedeutung von Fallgeschichten für die Strukturierung eines professionellen Fallbezugs herausgearbeitet. Aus seiner Sicht ist ein wichtiges Merkmal professioneller Fallgeschichten, dass sich diese entlang von Schädigungen und Problemen von Personen entfalten und daran anschließend zwei Formen von Zukünften entwickelt werden: eine, in der das Problem bestehen bleibt, wenn nichts passiert, und eine, in der das Problem mithilfe der professionellen Intervention verschwindet. Eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit der narrativen Struktur professionellen Wissens besteht insbesondere auch in der Psychoanalyse. Ihre Entstehung als Therapieverfahren gründet u. a. in den berühmt gewordenen Krankengeschichten von Sigmund Freud (Grundmann u. Kächele, 2012). Eine auch für systemische Fallgeschichten interessante Unterscheidung ist dabei die zwischen der Oberflächen- und der Tiefenstruktur einer Geschichte (Stern, 1998, S. 2): Die Oberflächenstruktur umfasst die manifesten Inhalte der Erzählung. In der Tiefenstruktur einer Fallgeschichte spiegelt sich dann in der Logik tiefenpsychologischen Denkens die zunächst implizit bleibende Beziehungsgeschichte von Patienten und Therapeutinnen, die in der neueren psychoanalytischen Therapie den zentralen Zugang zum Verständnis der Problemstellungen von Patienten ermöglicht. Pointiert formulieren dies die Psychotherapieforscher Grundmann und Kächele (2012, S. 278): »Um verstehen zu können, was und warum eine Behandlung so und nicht anders verlaufen ist, muss man auch über den Arzt Bescheid wissen, der die Behandlung durchgeführt hat.« Sie weisen auch darauf hin, dass Geschichten immer eine gewisse Kohärenz und damit einen sinnvollen inneren Zusammenhang aufweisen müssen, sie

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unterliegen einer spezifischen Selektivität bezüglich dessen, was erzählt, aber eben auch nicht erzählt wird. Dies unterstreicht, dass Fallgeschichten eben auch in hohem Maße die Perspektive des jeweiligen Erzählers widerspiegeln. Ohne die nur kurz angesprochenen unterschiedlichen theoretischen Zugänge hier weiter ausführen zu können, unterstreichen sie doch die enorme Bedeutung des »Denkens« in Fällen für professionelles Handeln generell, aber insbesondere auch für die Entwicklung einer systemisch ausgerichteten therapeutischen und beraterischen Kompetenz.

Fallbasiertes Lernen als Lern- und Vermittlungsinstrument systemischen Denkens Das Lernen am Fall lässt sich vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen von Kompetenzentwicklung und Expertiseaufbau als Teil eines – in der Pädagogik und Didaktik – bereits sehr früh ausformulierten Dreischritts konzeptualisieren (Schrader, 2018, S. 140 ff.): Der erste Schritt besteht aus einem gezielten, expliziten und generalisierten Wissensaufbau, der zweite Schritt markiert dann dessen Bezugnahme auf konkrete Problemstellungen in Form einer fallspezifischen Vermittlung und Relationierung der unterschiedlichen Wissensformen. Zentraler dritter Schritt ist die kontinuierliche Reflexion der in der Fallarbeit erlangten Erfahrungen. Diese hier schlicht erscheinende, aber didaktisch hoch anspruchsvolle Form des Lernens am Fall erfordert in jeder professionellen Aus- und Weiterbildung einen systematischen und angemessenen Platz. Auch wenn die Arbeit mit Fallbeispielen, das Üben von Gesprächsführung und professioneller Beziehungsgestaltung in Form von Rollenspielen oder in der Supervision von Realfällen etc. zum Grundbestand systemisch orientierter Weiterbildungen gehören, gibt es im systemischen Feld bisher noch kaum systematische Überlegungen, wie eine auf Lernprozesse zielende systemische Kasuistik aussehen kann (Ritscher, 2012) und wie diese didaktisch fundiert in der Aus- und Weiterbildung sinnvoll eingesetzt werden kann. Geht man davon aus, dass systemische Kompetenzentwicklung nicht nur darin besteht, Beratung und Therapie als übergreifende Handlungsform zu erlernen, sondern diese eben in einer spezifischen, systemischen Weise zu praktizieren, folgt im Anschluss an die Überlegungen des vorangegangenen Abschnitts, dass das Lernen am Fall so gestaltet sein sollte, dass tatsächlich systemische Konzepte dadurch vermittelt und erlernt werden können. Anknüpfend an die vorgestellten Überlegungen heißt dies, dass Fall- und Behandlungsgeschichten so erzählt werden müssen, dass systemische Konzepte und Modelle

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daran anschließen bzw. systemische Prinzipien und Haltungen damit vermittelt werden können. Geht man davon aus, dass Fallarbeit in einem übergreifenden Sinn dazu dient, das Herstellen eines Zusammenhangs von Fallverständnis, Beziehungsgestaltung, Interventionsstrategien und antizipierten Resultaten immer wieder neu zu üben und systematisch zu reflektieren, so besteht im Erzählen dieser Fallgeschichten die Möglichkeit, diesen Zusammenhang in einer systemischen Denkweise sichtbar und nachvollziehbar zu machen (ein Beispiel dafür: Wagner u. Binnenstein, 2018). Auch wenn es immer wieder Versuche gegeben hat, Fälle im systemischen Sinn zu berichten und zu erzählen (siehe z. B. die Themenhefte 3/2012 und 3/2019 der Zeitschrift »Kontext« oder die Rubrik »Der besondere Fall« in der Zeitschrift »Familiendynamik«), gibt es bisher wenig Vorschläge dafür, wie eine Fallgeschichte so ausgestaltet sein sollte, dass sie systemisches Denken vermitteln kann. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden lediglich einige Punkte benennen, mit denen in einer übergreifenden Perspektive spezifische Anforderungen an systemisches Denken charakterisiert werden können, die sich entsprechend in den Fallgeschichten niederschlagen sollten. Begründungen für spezifische Formen systemischen Denkens basieren zunächst auf ganz unterschiedlichen systemtheoretischen Zugängen (vgl. zusammenfassend das Kapitel zur systemischen Epistemologie in Levold u. Wirsching, 2016, S. 45 ff.). Diese lassen sich auf einige zentrale Aspekte systemischen Denkens verdichten, wie sie auch in vielen Lehrbüchern immer wieder von Neuem systematisch dargestellt werden. Wichtig ist dann beispielsweise für die Vermittlung systemischen Denkens in Form von Lehrfällen, Ȥ dass damit Perspektivität und Offenheit (Hildenbrand, 1998, S. 115) betont wird. Ȥ dass Fälle und ihre Bearbeitung ein konstruktivistisches Verständnis von Wirklichkeit widerspiegeln. Ȥ dass darin der Standpunkt der Beraterin/des Therapeuten als zentraler Wirkmechanismus begriffen wird und dass gleichzeitig ernst genommen wird, dass Fälle nur aus einer Beobachterposition heraus als solche erzählt werden können. Ȥ ebenso der Blick auf Zeitlichkeit, insbesondere auch auf die Nichtlinearität von Entwicklungen und die Phasenhaftigkeit von Musterveränderungen. Ȥ die Beachtung der sogenannten generischen Prinzipien (Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013; Rufer, 2013; Beitrag Hanswille in diesem Band). Ȥ die Ausrichtung an der Prozesshaftigkeit von Problementstehung und -bearbeitung und der interaktiven Eigendynamik sozialer Systeme, an Ressourcenorientierung und Zirkularität und einem je spezifischen, auf syste-

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mischen Konzepten basierenden Wirkverständnis (Hollstein-Brinkmann, 2012, S. 199 ff.). Ȥ die Kontextuierung von Problemstellungen und insbesondere auch die Einbeziehung und Reflexion des sozialen Kontextes von Therapie und Beratung als wesentlichem Aspekt ihrer Wirksamkeit (Wampold, Imel u. F ­ lückiger, 2018). Die zentrale Herausforderung für die systemische Aus- und Weiterbildung besteht nun darin, systemische Fallarbeit so auszurichten, dass sich diese Grundorientierungen auch tatsächlich vermitteln. Dies beginnt bereits bei der Art und Weise, wie Fälle durch Erzählungen präsentiert werden. Häufig sind Fallerzählungen so ausformuliert, dass sie insbesondere den Aktionen der jeweiligen Beraterin eine innere Kohärenz verleihen. Brüche und Widersprüche erscheinen – nicht nur in der systemischen Fachliteratur – häufig geglättet, Irritationen und Unsicherheiten werden selten offensiv benannt (Overbeck, 1993). Fallgeschichten werden gewissermaßen »homogenisiert« und folgen einem »Entwicklungsschema, das die Brüche und Verwerfungen des Prozesses nicht mehr so deutlich erkennen lässt« (S. 43). Die bewusste Gestaltung einer systemischen Kasuistik erfordert stattdessen, die eigene Beobachtungsperspektive und interaktive Verfasstheit des Prozesses eben nicht auszublenden, sondern die jeweiligen »Verwicklungen sichtbar« (S. 45) und auch in der kasuistischen Beschäftigung zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Gute Falldarstellungen zeichnen sich in diesem Sinne dadurch aus, dass sie einerseits eine große »Anschaulichkeit« aufweisen und den Verlauf ausführlich dokumentieren, aber andererseits auch eine »gewisse Mehrdeutigkeit« und Unabgeschlossenheit bewahren (Heiner, 2012, S. 203). Einen ausführlichen Vorschlag zur Ausarbeitung entsprechender Falldarstellungen hat Ritscher (2012, S. 232 f.) vorgelegt. Er unterscheidet elf Perspektiven, die in Falldarstellungen systematisch aufgenommen werden können, so z. B. neben Problembeschreibung, Ressourcensuche, bisherigen Lösungsversuchen, Zielentwicklungen und Hypothesen zu Mustern im Prozess auch Stationen des Unterstützungsprozesses, veränderungsrelevante Ereignisse und Aspekte des Scheiterns und Zweifelns. Diese Aufzählung bietet eine gute Grundlage, soll aber nicht suggerieren, dass damit die Form festgelegt und in sich kohärent sein muss. Deutlich wird: Fallgeschichten, die nicht nur der Darlegung und Vermittlung von Praxiserfahrungen dienen, sondern systemisches Denken vermitteln sollen, brauchen eine kontinuierliche Rückbindung an die – implizit oder explizit – zugrunde gelegten theoretischen Konzepte. Im Idealfall ermöglichen es Lehr-

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und Lernfälle auf diese Weise, die spannungsreiche Vermittlung von allgemeinen Aspekten, explizit generalisierten Wissensbeständen und den Besonderheiten des jeweiligen Falls zum Gegenstand der vertieften Auseinandersetzung und zur Grundlage von Lernprozessen zu machen (Heiner, 2012). Hier zeigt sich dann auch die große Bedeutung rekonstruktiver Methoden in der Arbeit mit Fällen (exemplarisch: Hildenbrand 2015 zur Arbeit mit Genogrammen). Im Sinne einer rekonstruktiven Kasuistik werden Fälle von Lernenden beispielsweise mithilfe interpretativer Verfahren sukzessive analysiert und sehr umfassend in Bezug auf mögliche Lesarten gemeinsam ausgedeutet (siehe auch den Beitrag von v. Sicharts in diesem Band). Ein rekonstruktives Vorgehen schafft die Basis dafür, theoretische Konzepte Schritt für Schritt an das Material heranzutragen und dadurch transparent werden zu lassen. In Bezug auf die Wahl des zugrunde gelegten Datenmaterials scheint es in der Arbeit mit Fällen keine Grenzen zu geben. In der Aus- und Weiterbildung ebenso wie in der weiterführenden Supervision haben sich klassische Formen verschriftlichter Falldarstellungen, Gesprächstranskripte, Videomitschnitte und Beobachtungsprotokolle ebenso bewährt wie neuere Formen didaktisch aufbereiteter, videogestützter Fallbasierung (Schöb u. Schrader, 2015). Dabei können eine Vielzahl von systemischen Methoden zur Aufbereitung von Fällen eingesetzt werden. Eine besondere Rolle in methodischer Hinsicht spielt die Arbeit mit Fällen für erfahrungsbasierte Formen des Lernens. Dabei werden Fälle dann nicht nur dazu genutzt, darüber zu sprechen und sie zu diskutieren, sondern sie werden zur Grundlage für das Üben und Trainieren konkreter beraterischer und therapeutischer Fertigkeiten. Weit verbreitet ist in der Aus- und Weiterbildung nach wie vor der Einsatz von Rollenspielen aller Art (Ahlers, 2017), ebenso von Demonstrationen durch Lehrende und Lernende. Seit einiger Zeit kommen zunehmend auch Simulationsverfahren zum Einsatz, mit denen sich komplexe Konstellationen nachspielen lassen und die dann – z. B. bei Kriz als Systemspiele – Aspekte von Planspielen umfassen. Eine zunehmend bedeutsamer werdende Rolle spielen Simulationen, bei denen sich mithilfe von trainierten Schauspielklientinnen und -klienten das Durchführen von Beratungsund Therapiegesprächen quasi in »Echtform« spielen lassen (Bauer u. Weinhardt, 2015; Weinhardt, 2014; Zürcher, 2018). Auch wenn es bisher noch kaum Untersuchungen dazu gibt, welche Auswirkungen die jeweiligen Methoden der Fallarbeit auf Lernprozesse von Lernenden haben, zeigt sich doch, dass es mithilfe von Simulationen in besonderer Weise gelingt, eben nicht nur das deklarative, explizite Wissen abzurufen, sondern ganz konkret praktisches Wissen zum Vorschein zu bringen und dadurch auch zum zentralen Gegenstand nachträglicher Reflexion machen zu können.

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Ausblick: Systemisches Denken lernen als kollektive Praxis Die Sicht auf Kompetenzentwicklungsprozesse in der Beratung und Therapie wird vor allem in der Psychotherapieforschung fast vollständig auf das individuelle oder interaktive Geschehen begrenzt: Beratung und Psychotherapie leben von den methodischen Kompetenzen und dem Wissen der einzelnen Therapeutinnen und Berater. Diese, so die generelle Ansicht, agieren dann auf der Basis ihrer Fähigkeiten zur professionellen Beziehungsgestaltung, ihrer fachlichen Grundhaltung und einer methodisch angemessenen Durchführung von Therapie- und Beratungsgesprächen jeweils mehr oder weniger kompetent. Abschließend soll darauf verwiesen werden, dass Fallarbeit gerade im Kontext von Aus- und Weiterbildung immer auch als kollektive Praxis betrachtet werden muss. Der zu Beginn vorgestellte Ausschnitt aus einer Fallbesprechung zeigt, dass sich systemisches Denken eben nicht nur »in den Köpfen« einzelner Lerner abspielt, sondern in der Auseinandersetzung mit Kolleginnen in der Praxis erfolgt, die als kritische Instanz und Korrektur aber auch als Vorbilder, Rollenmodelle, Gegenparts etc. fungieren können. Kompetenzentwicklung umfasst daher immer mehr als die Entwicklung einzelner Personen (Bauer, 2016). Fallbesprechungen und Supervision sind dafür in der alltäglichen psychosozialen und medizinischen Arbeit die zentralen kasuistischen Räume, in denen sich die fachliche Kultur von Einrichtungen entfaltet, aber auch systematisch weiterentwickelt werden kann (Bauer, 2018). Genauso bildet sich in Weiterbildungskursen ein spezifischer kasuistischer Raum, in dem Fälle dann häufig so und nicht anders besprochen werden: Auch hier entwickelt sich meist sehr schnell ein kollektives Wissen darüber, was als systemisch betrachtet wird und was eben nicht oder was jeweils als angemessen/nicht angemessen gilt. Diese Art und Weise des impliziten Lernens, der Einsozialisation in eine spezifische Art und Weise, systemisch zu denken, bildet eine wesentliche, wenn auch immer noch wenig bedachte Grundform von Kompetenzentwicklung. Fallarbeit ermöglicht in besonderer Weise, diese Prozesse kontinuierlich zu reflektieren und gegebenenfalls auch neu zu gestalten. Um das Potenzial von Fallarbeit für die Unterstützung von beraterischen und therapeutischen Kompetenzentwicklungsprozessen besser auszuschöpfen, müsste diese Form allerdings didaktisch und methodisch noch sehr viel mehr präzisiert werden. Um didaktischen Prinzipien – wie Teilnehmerorientierung oder Vermittlung von Sach- und Personenebene – gerecht zu werden (Schrader, 2018), müsste die Auswahl von Fällen sehr gezielt auf die Lernbedarfe der Gruppe oder auch einzelner Lernender ausgerichtet und angepasst werden. Um eine gezielte Weiterentwicklung systemischer Kasuistik zu befördern,

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wäre ein über die wenigen, bisher vorliegenden Lehrbücher hinausgehendes Repositorium von Lehr- und Lernfällen sinnvoll, dessen Strukturierung und Darstellung sich beispielsweise an den von Wolf Ritscher (2012) formulierten Anregungen orientieren könnte. Nicht zuletzt wird es darum gehen, gerade vielversprechenden Lehr- und Lernformen – wie dem fallbasierten Lernen in Simulationsumgebungen – einen systematischen Platz einzuräumen.

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Beratungslernen mit Simulation

Berufliche Qualifizierungen in systemischer Beratung werden traditionell als berufsbegleitende Weiterbildungen angeboten, beispielsweise für im sozialen, wirtschaftlichen oder psychologisch-medizinischen Bereich Tätige. Diese verfügen in der Regel über Übungsmöglichkeiten als Beratende in ihrem alltäglichen Tätigkeitsbereich. Im Rahmen berufsbegleitender Weiterbildungen wird neben schulgebundener Vermittlung theoretischer Grundlagen daher auch ein Schwerpunkt auf die eigenständige Durchführung von Beratungsgesprächen in der jeweiligen Berufspraxis gelegt. Diese Vorgehensweise folgt Modellen des Expertiseaufbaus zum Beratungslernen (Strasser u. Gruber, 2003): Hierbei wird davon ausgegangen, dass Beraten gelernt wird, indem Erfahrungen mit Beratungsfällen auf der Grundlage theoretischen Wissens zum Themenfeld Beratung reflektiert werden. Konkrete Handlungsmöglichkeiten als Beratende nutzen zu können, stellt in diesen Kompetenzentwicklungsmodellen einen notwendigen Bestandteil im Prozess des Beratungslernens dar, um beraterische Handlungskompetenz aufbauen zu können. Der anschließenden Reflexion des eigenen, konkret im Gespräch gezeigten Beratungshandelns kommt zudem eine entscheidende Rolle zu. Der Erwerb theoretischen Wissens über Beratung und Erfahrung als Beratende führen demnach nicht automatisch zur Ausbildung von Beratungskompetenz (Strasser, 2014, 2016). Entscheidend für deren Erwerb ist, dass die gemachten Erfahrungen in Beratungsgesprächen vor dem Hintergrund des theoretischen Wissens reflektiert, ausgewertet und für das eigene Lernen genutzt werden. Diese reflexiven Prozesse werden in berufsbegleitenden Weiterbildungen in der Regel im Rahmen von Supervisionssitzungen angestoßen. Lernenden wird so auch der Transfer des Gelernten erleichtert. Indem sie fortlaufend im Berufsalltag die Möglichkeit nutzen, theoretisch Gelerntes sofort in praktisches Handeln umzusetzen, können sie durch die Reflexion der konkreten Erfahrungen gezielt für die nächste Anwendung lernen. Somit kann sich für das jeweilige Tätigkeitsfeld situationsbezogene Hand-

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lungskompetenz entwickeln, die die konkreten Bedingungen und Erwartungen des Arbeitsplatzes berücksichtigt (Hof, 2002). Die mehrjährige Zugehörigkeit zu einer Weiterbildungsgruppe bietet darüber hinaus die Möglichkeit, im Austausch mit den Lehrenden, die in der Regel erfahrene Beratende sind, langsam in die Gemeinschaft der Beratungsexpertinnen und -experten hineinzuwachsen (Strasser u. Gruber, 2003). In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie dieses bewährte Vorgehen des Beratungslernens auf die Lernsituation von Novizinnen und Novizen übertragen werden kann, die keine Möglichkeiten mitbringen, Gelerntes in der beruflichen Alltagspraxis auszuprobieren. Diese Herausforderung zeigt sich beispielsweise im Kontext Hochschule, wenn der Handlungskompetenzerwerb von Professionen, die später im Berufsfeld beratend tätig sind, bereits im Rahmen der Hochschulbildung aufgebaut wird. Die Arbeit mit Simulationsklienten bietet dafür einen Lernzugang, mit dem Handlungserfahrungen in der Rolle von Beratenden in einer dafür geschaffenen Lernumgebung gemacht werden können.

Vermittlung beraterischer Handlungskompetenz im Rahmen einer Hochschulausbildung An universitäre Bildung stellt sich seit der Unterzeichnung der BolognaErklärung die Herausforderung, dass bereits Studienabschlüsse eine berufsqualifizierende Grundausbildung gewährleisten sollen (Wick, 2011). Für beratende Berufe, deren Grundqualifikation an der Hochschule erworben wird, stellt sich damit die Frage, wie und in welchem Ausmaß beraterische Handlungsmethoden und -kompetenzen für eine spätere Beratungstätigkeit bereits im Kontext Hochschule erworben werden können und sollen. Beratung gilt beispielsweise als eine »Kernkompetenz der Sozialen Arbeit« (Widulle, 2016, S. 23). Auch in etlichen Praxisfeldern der Psychologie sind beraterische Kompetenzen gefragt. In diesen Berufsfeldern gibt es keine Lernphase in der Praxis, wie sie etwa Medizinstudierende im Praktikum über Jahre durchlaufen. Von Beginn einer beruflichen Tätigkeit an wird vorausgesetzt, dass Beratung fach- und sachkundig qualifiziert ausgeübt wird. Damit wird auch von Berufsanfängern professionelle Handlungsfähigkeit erwartet. Die Entwicklung und Vermittlung von Handlungswissen und von Handlungskönnen sind damit auch im Hochschulkontext zwei zentrale Aspekte der Professionalisierung von Fachkräften, um diese auf konkrete Tätigkeiten in ihrem künftigen Berufsfeld vorzubereiten. Wie können die in der beruflichen Weiterbildungspraxis bewährten Ausund Weiterbildungselemente, welche sich durch Theorievermittlung, praktische

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Umsetzung des Gelernten sowie zeitnaher Reflexion derselben auszeichnen, in Lehr-/Lernkontexten umgesetzt werden, in denen Lernende noch nicht in einem beratenden Bereich tätig sind? Problemorientierte Formen des Lehrens und Lernens, in denen Aufgaben und Herausforderungen aus der beruflichen Praxis im Mittelpunkt stehen, können dazu beitragen, bereits im Studium erstes Anwendungswissen und Handlungskompetenz aufzubauen (Mandl, Gruber u. Renkl, 2003), wie beispielhaft in der Literatur beschrieben (u. a. Hawelka, 2007; Sonntag, Stegmaier u. Jungmann, 1998; Stark, Schnurer u. Mandl, 2005). Diese im Kontext Hochschule umzusetzen, erfordert, dass reale Situationen aus dem Berufsalltag in ihrer ganzen Komplexität widergespiegelt werden, sodass »die Lernenden einerseits vielfältige und realitätsnahe Lernerfahrungen sammeln und andererseits mit dem Wissen auch die Anwendungsbedingungen dieses Wissens erwerben« (Sonntag et al., 1998, S. 330). Probehandeln in sogenannten problemorientierten Lernumgebungen (Stark et al., 2005) ermöglicht es, Handlungswissen und praktische Fertigkeiten parallel zu erwerben und anwenden zu können. Werden die gemachten Erfahrungen individuell reflexiv bearbeitet, etwa im Rahmen einer Supervision, so können sich neue Bedeutungen und alternative Sichtweisen entwickeln, die Ausgangspunkt für aktives Experimentieren der Lernenden mit unterschiedlichen Handlungsmustern sein können (Krause, 2012). Wie im Folgenden dargestellt, kann eine Lernumgebung mit Simulationsklientinnen und -klienten im Anfangsstadium des Beratungslernens Übungsmöglichkeiten in der Praxis ersetzen. Dies wird beispielhaft am Lehrkontext Hochschule dargestellt.

Beratungslernen mit Simulationsklientinnen und -klienten Bei der Gestaltung von Lernumgebungen im Bereich Beratungslernen wurden erste positive Erfahrungen mit dem Simulationslernen gemacht (z. B. Gutknecht, 2010; Widulle, 2012; Weinhardt, 2013, 2014; Zürcher, 2018). Diese Arbeiten orientieren sich an Lehrformen im Medizinstudium, in dem seit den 1960er Jahren mit Simulationspatienten gearbeitet wird (Vu u. Barrows, 1994). Diese präsentieren Studierenden realitätsnahe berufliche Anforderungen aus dem Berufsalltag der medizinischen Praxis. Gegenüber den Lernenden ist dabei offengelegt, dass es sich um Simulationen handelt. Als Lernpotenziale der Simulation in der Medizinerausbildung nennt Dieckmann (2016) so auch neben den konkreten Praxiserfahrungen der Lernenden die Möglichkeit der reflektierten Beobachtung und Rückmeldung, die realitäts-

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nahe Prüfung theoretischer Konzepte sowie die Option des aktiven Experimentierens, d. h. des Erprobens unterschiedlichster Denk- und Handlungsweisen, die die Teilnehmenden immer wieder reflektieren und diskutieren können. Der geschützte Handlungsrahmen erlaubt es den Lernenden, Fehler zu machen. Zudem lassen sich die jeweiligen Lernziele den Bedürfnissen und dem Wissensstand der Lernenden anpassen. Teilabschnitte können beispielsweise wiederholt erprobt werden (Schultz et al., 2007). Ratsuchende werden im Tätigkeitsfeld Beratung nicht als Patientinnen und Patienten bezeichnet, sondern z. B. als Klienten, weswegen im Folgenden die Bezeichnungen Simulationsklientin bzw. Simulationsklient für die simulierenden Ratsuchenden in der Beratungsinteraktion genutzt wird. Was unterscheidet das Lernen mit Simulation vom Einsatz von Rollenspielen? Letztere ermöglichen freiere Darstellungen, mit der Folge, dass die Art und Weise der Rollendarstellung nicht konkret vorhersehbar ist. Im Unterschied dazu zielt die Arbeit mit trainierten Simulierenden auf authentische und vorhersagbare Darstellungen von Ratsuchenden. Schäfer und Kollegen (2007b) sprechen in diesem Zusammenhang auch von der Möglichkeit der standardisierten Darstellung in dem Sinne, dass Situationen aus dem Berufsalltag wiederholt übereinstimmend dargeboten und so von unterschiedlichen Studierenden bearbeitet werden können. So können ihre unterschiedlichen praktischen Problemlösungen verglichen und diskutiert werden. Verschiedene Autoren (Partschefeld, Strauß, Geyer u. Philipp, 2013; Widulle, 2012; Wündrich et al., 2008; Zürcher, 2018) betonen, dass die Arbeit mit standardisierten Darstellungen von Simulationsklientinnen und -klienten ein intensives Schauspieltraining erfordert, um Realitätsnähe und Konstanz der Darstellungen zu gewährleisten. Wie dies konkret umgesetzt werden kann, wird am Beispiel eines Projekts zum Beratungslernen mit Simulation im Kontext Hochschule aufgezeigt: An der Arbeitsstelle für Beratungsforschung im Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Universität Tübingen wurde in diesem Rahmen eine problemorientierte Lernumgebung geschaffen, die komplexe Handlungssituationen in der psychosozialen Beratung darstellt.1 Angelehnt an Lernsettings zur Gesprächsführung in der Pädiatrie mit sogenannten standardisierten Eltern (Nikendei et  al., 2005; Schäfer et  al., 2007), bekamen Studierende der Erziehungswissenschaft und der Schulpsychologie in einem Seminar zu 1 Ein theoretisch fundiertes Konzept für Beratungslernen in einer Simulationsumgebung mit trainierten Schauspielklientinnen und -klienten wurde von mir im Rahmen einer Dissertation entwickelt und umfangreich evaluiert. Für eine ausführliche Darstellung des Vorgehens wird daher auf die Dissertationsschrift verwiesen (Zürcher, 2018).

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systemischer Beratung Gelegenheit, in der Rolle professionell Beratender Gespräche mit Rat suchenden Eltern zu führen. Die Lernumgebung stellte eine Beratungseinrichtung im Kontext Schule dar, an die sich Eltern wegen der Schulprobleme ihrer Kinder wenden konnten. Die Ratsuchenden wurden dabei von Laienschauspielerinnen und -schauspielern dargestellt. Diese entwickelten in einem intensiven Schauspieltraining persönliche Fallbiografien, in denen sie Schlüsselmerkmale von Fallvignetten umsetzten. So konnten reale Falldarstellungen standardisiert angeboten und wiederholt von unterschiedlichen Beratenden bearbeitet werden. Die Realisation von Alltagssituationen professionell Beratender in einer Lernumgebung zu präsentieren, erwies sich als voraussetzungsreich (siehe Abbildung 1): Für die Umsetzung dieser Lehr-/Lernform wurde zunächst ein Arbeitskontext definiert und nachgestellt. Im hier zugrunde gelegten Beispiel wurde das Setting Schulberatung an einer Eltern- und Familienberatungsstelle gewählt, da die Studierenden eine große thematische Schnittmenge an Wissen in den Bereichen Kinder, Jugend und Familie mitbrachten. Zudem war die Schulberatung ein mögliches zukünftiges Tätigkeitsfeld der am Seminar Teilnehmenden. In den Räumen der Arbeitsstelle für Beratungsforschung wurde ein Beratungszimmer eingerichtet. Als Vorbild dienten Räume einer schulpsychologischen bzw. psychosozialen Beratungsstelle, in denen sich Beratende und Ratsuchende an einem kleinen Tisch gegenübersitzen. Die Gespräche wurden mit dem Einverständnis der Beteiligten videografiert, um das gezeigte Beratungshandeln später reflektieren zu können.

Abbildung 1: Eine Lernumgebung gestalten: Vom authentischen Praxisfall über die Fallvignette und das Rollenskript zur standardisierten Darstellung der Ratsuchenden durch Simulationsklientinnen und -klienten (Zürcher, 2018, S. 63)

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Im Folgenden wird dargestellt, wie die Kernelemente zur Gestaltung des Lernsettings »Schulberatungsstelle« methodisch umgesetzt wurden: Für das fallbasierte Lernen, welches die Arbeit an eigenen Fällen ersetzte, wurden Fallvignetten gestaltet. Diese bildeten die Grundlage für die Erarbeitung individueller Rollenskripte, die im Rahmen eines Simulationstrainings eingeübt wurden, um eine standardisierte realistische Darstellung zu erreichen.

Entwicklung einer Fallvignette Ist die Arbeitssituation beschrieben, so wird aus dem Alltag in diesem Berufsfeld ein authentischer Fall ausgewählt. Ziel ist es, die Realitätsnähe der Informationen zu gewährleisten, Unstimmigkeiten im Fallverlauf zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. Um Beratungsanliegen für die Bearbeitung in problemorientierten Lernumgebungen nutzen zu können, werden Fallgeschichten in Vignettenform verdichtet. Fallvignetten können als »Ausschnitte aus einem Fall, […] die die für die Aufgabenstellung zentralen Informationen beinhalten, z. T. noch ergänzt mit knappen Erläuterungen« beschrieben werden (Dirks, 2012, S. 1). Bei der konkreten Erstellung einer Fallvignette werden die notwendig zu repräsentierenden, d. h. von den Darstellenden nicht eigenständig abänderbaren Kernelemente des Falls herausgearbeitet und verschriftlicht. Dabei werden sowohl grundlegende Informationen zum Fall samt der Problemgenese als auch gegebenenfalls bereits bekannte Lösungsversuche genutzt. Je weitreichender und detaillierter die Informationen sind, desto stärker kann die spätere Darstellung beeinflusst werden. Neben rein anamnestischen Fakten zur Problemlage kann die Fallvignette auch Informationen zur Darstellung durch den Ratsuchenden beinhalten: Wie fühlt sich die Rat suchende Person? Wie ist die Einstellung zur Problemlage, die eigene Motivation für eine Lösungsfindung etc.? Werden diese Aspekte nicht festgelegt, so können Schauspielende dies später in ihrer Darstellung variieren. Bei der Auswahl der Fallgeschichte sind folgende Kriterien zu berücksichtigen: Ȥ Professionskontext: Die Fallgrundlage beinhaltet eine oder mehrere Aspekte einer Problemlage, die im simulierten Arbeitsalltag tatsächlich ein beratungsrelevantes Thema darstellt. Der Fall enthält Kernelemente, die in vergleichbaren Fällen im ausgewählten Arbeitsfeld zu finden sind. Ȥ Praxis- und Bearbeitungskontext: Die Fallgrundlage beinhaltet alle Informationen, die zur Bearbeitung des Falls im Beratungsprozess wichtig sind. Daher ist bei der Fallausgestaltung parallel eine fiktive theoretische Bearbei-

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tung des Falls mitzudenken: Welche Informationen benötigen bzw. erfragen Beratende in der Regel? Welche Detailfragen werden sie voraussichtlich stellen? Mögliche Antworten auf Fragen, die im gemeinsamen Arbeitsprozess in der Beratung anstehen, werden durch konkrete Informationen in der Fallgeschichte vorbereitet. Beispielsweise werden Anliegen der Ratsuchenden in der Fallvignette konkret benannt. Ȥ Lernkontext: Die ausgewählte Fallgeschichte berücksichtigt hinsichtlich ihrer Komplexität bzw. der Dichte an Informationen die Erfüllung der angestrebten Lernziele. Für Beratungslernende im Anfangsstadium bieten sich daher Fallgeschichten an, die eine überschaubare Anzahl eher typischer Problemlagen beinhalten und damit auch für ungeübte Beratende noch durchschaubar sind. Zentral erscheint hierbei, Problemlagen zu wählen, die von den Lernenden aufgrund ihres feldspezifischen Wissens erkannt und bearbeitet werden können. Im hier beschriebenen Beispielfall wurde Studierenden die Gelegenheit gegeben, sich als Beratende im Erstgespräch mit einem Elternteil zu erproben. Simulationsklientinnen und -klienten sollten dafür Rat suchende Eltern von Sekundarstufenschülern (männlich, Klassenstufe 7) darstellen, die sich um das schulische Verhalten bzw. die Schulleistungen ihres Kindes sorgten und deshalb eine Beratung aufsuchten. Um die Komplexität der Beratungssituation für die Novizinnen und Novizen in der Beratendenrolle bearbeitbar zu halten, wurde festgelegt, dass jeweils nur ein Elternteil zur Beratung kommt, sodass in allen Fällen die Anzahl der Gesprächsteilnehmenden konstant war: eine Rat suchende und eine beratende Person. Für die darstellenden Simulierenden ergab sich aus dieser Konstellation die Herausforderung, dass sie neben der eigenen Rolle auch die Sichtweisen des Kindes und des zweiten, im Gespräch nicht anwesenden Elternteils erarbeiten mussten. Am Beispiel der in Tabelle 1 beschriebenen Fallvignette aus dem Kontext Elternberatung wird die Struktur der Vorlage deutlich: Neben der eigenen Sicht auf die Befindlichkeiten hinsichtlich der Problemgeschichte und -lagen der Rat suchenden Person werden folgende Informationen benötigt: Ȥ Informationen zur bzw. Merkmale der familiären Situation, u. U. Sichtweise des nicht anwesenden Elternteils; Ȥ Informationen und Daten zum Indexkind (Alter, Entwicklungsstand, z. B. schulische Situation des Kindes, Verhalten, Hobbies, etc.); Ȥ Beschreibung der schulischen Leistungen des Kindes (aus Sicht der/des Ratsuchenden); Ȥ mögliche Anliegen (kindbezogen, elternbezogen).

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Die Ratsuchenden werden mit den Informationen in die Lage versetzt, verschiedene Adressatenperspektiven einnehmen zu können: die eigene; die des Kindes, um dessen Schulprobleme es in der Beratung geht; die des nicht anwesenden Elternteils; evtl. auch die der Lehrkräfte, eines Großelternteils etc. Tabelle 1: Beispiel für eine Fallvignette aus dem Lernkontext Schulberatung (Zürcher, 2018, S. 89 ff.) Fallvignette Alleinerziehende – Lernumgebung Schulberatung Problemschwerpunkt auf Erziehungsproblematik, besonders Verhaltens­ auffälligkeiten und Schulabsentismus Mutter/Vater fühlt sich hilflos. Es gibt Klagen der Lehrkräfte, der Sohn sei frech und störe den Unterricht. Auch fehle er sehr häufig, mache keine Hausaufgaben und bringe wenig Leistung. Eine Bekannte/ein Bekannter (Freund/-in, Bekannte/-r, Nachbarin) hat die Beratung empfohlen. Ihr hatte die Beratung damals sehr geholfen. Mutter/Vater möchte eher ihre eigenen Probleme, die sie/er mit dem Sohn hat, besprechen, weniger die konkreten Probleme des Sohnes in der Schule. Letztere soll die Schule mit ihm lösen. Erziehungsproblematik steht im Mittelpunkt. Daten zum Kind Junge, Klasse 7, 13 Jahre alt. Damit eher am oberen Altersspektrum der Klasse. Sieht älter aus. Einzelkind. Gehört in der Schule zu den »Coolen«, ist kommunikativ und kann sich gut durchsetzen. Wird von Kollegen geachtet, hat was zu sagen. Es gibt auch Lehrkräfte, die ihn mögen und gut mit ihm klarkommen. Ist auch gut in sozialen Gruppen außerhalb der Schule integriert, aber »mit den Falschen« unterwegs. Ist sportlich, kann gut schwimmen und spielt z. B. Fußball im Verein, zieht abends rum, raucht manchmal heimlich, trinkt vermutlich auch Alkohol. Informationen zur Familie Trennungssituation der Eltern, alleinerziehendes Elternteil, wenig Ressourcen, zeitlich wie finanziell. Problembereich 1 Verhaltensauffälligkeiten in der Schule, stört den Unterricht durch Zwischenrufe und Anmerkungen, was manche Lehrkräfte stört, macht keine Hausaufgaben, leistet deutlich weniger, als er laut den Lehrkräften leisten könnte, läuft auch zu Hause etwas aus dem Ruder, macht sein eigenes Ding. Dass er schnell massiv versetzungsgefährdet sein könnte, scheint dem Elternteil nicht bewusst. Problembereich 2 Zunehmender Schulabsentismus, schwänzt gemeinsam mit seinem Kumpel oft den Unterricht, kommt zu spät, geht früher, fehlt in der Mittagsschule. Elternteil deckt das immer wieder mit nachträglichen schriftlichen Entschuldigungen (»schlechtes Gewissen«). Schule schwänzen gehört bereits zum Alltag. Dass das schlimme Folgen haben kann (Versetzungsgefährdung, vollständiges Fernbleiben, Herausfallen aus der Schulstruktur etc.), scheint dem Elternteil wenig bewusst.

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Fallvignette Alleinerziehende – Lernumgebung Schulberatung Problemschwerpunkt auf Erziehungsproblematik, besonders Verhaltens­ auffälligkeiten und Schulabsentismus Schulische Leistungen (Sichtweise Elternteil) Zeigt eher wenig gute schulische Leistungen, besonders bei Lehrkräften, mit denen er nicht klarkommt. Ist beim aktuellen Mathelehrer z. B. total abgesackt, nachdem er jahrelang auf Eins stand. Kann aber gut rechnen. Ist diskussionsfreudig und macht gut mit in Deutsch, Gemeinschaftskunde, Sport. Genaue Angaben zu den anderen Noten kann Elternteil nicht machen. Fehlende Hausaufgaben führen auch zu Notenabzug etc. Mögliche Anliegen elternteilbezogen (Beispiel)

Mögliche Anliegen kindbezogen (Beispiel)

Verstehen Sie, dass ich das alleine nicht schaffe!

Bringen Sie meinen Sohn wieder in die Spur! Machen Sie den Lehrkräften klar, dass er kein schlechter Junge ist! Helfen Sie ihm, dass er auf der Schule bleiben kann und mehr lernt!

Ausbildung von Simulationsklientinnen und -klienten Fallvignetten, die nicht abänderbare Kernelemente eines Falls beinhalten, dienen als Grundlage für die individuellen Rollenausarbeitungen der Simulationsklientinnen und -klienten. In Anlehnung an die Beschreibungen zum Training von Simulationseltern in der Heidelberger Pädiatrie (Hoffmann et al., 2007; Schulz et al., 2007) wurde im hier vorgestellten Promotionsprojekt (Zürcher, 2018) eine Rollenskriptvorlage (siehe Tabelle 2) entwickelt. Diese diente im Rahmen des Schauspieltrainings dazu, eine individuelle Rollenbiografie zu verschriftlichen und einzustudieren. Die Vorgaben in den Fallvignetten wurden durch individuelle Befindlichkeiten, Gedanken, Emotionen, die sich zur Fallgeschichte in der Darstellung ergaben, ergänzt. Das Rollenskript wurde parallel zum Einsatz als Simulationsklient weitergeschrieben, wann immer sich ein neuer Aspekt in der Darstellung zeigte, beispielsweise, wenn Fragen zu Facetten der Problemgeschichte erfragt wurden, die noch nicht festgelegt waren. Dies gewährleistete, dass sich die Darstellungen zunehmend konstanter und konsistenter zeigten.

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Tabelle 2: Beispiel für eine Rollenskriptvorlage, die als Einstieg in eine neue Rolle von den Simulierenden im Rahmen des Schauspieltrainings angelegt, ergänzt und während der Simulationseinsätze fortgeschrieben wird (Die Darstellenden formulieren darin in eigenen Worten, wie sie die Fallvignette verstehen und was sie daraus wie darstellen möchten.) Rollenanleitung für Fallvignette xy (von den Darstellenden in ihren eigenen Worten auszufüllen) Klientenbeschreibung (ggf. Aspekte der Fallvignette, falls dazu Hinweise enthalten sind) Fiktiver Name/Geschlecht/Alter

Alter sollte zur Rolle passen wie auch andere sichtbare Merkmale. Wird z. B. ein Migrationshintergrund gewählt, so sollten die Darstellenden das auch äußerlich verkörpern, evtl. einen Akzent haben etc.

Äußeres Erscheinungsbild

Frisur, Kleidung, Typische Mimik, Gestik, Tic? In der Rolle wird möglichst immer dieselbe Kleidung getragen (Variation nach Jahreszeiten)

Charaktereigenschaften

Wie genau sollen die Aspekte der Fallvignette umgesetzt werden? Was soll die individuelle Darstellung akzentuieren? (Müssen zur Person passen, die die Rolle verkörpert, sonst drohen die Darstellungen künstlich zu wirken.)

Beschreibung meines Kindes, dessen Verhalten zur Beratung Anlass gibt (ggf. Aspekte der Fallvignette) Fiktiver Name/Geschlecht/Alter Äußeres Erscheinungsbild Charaktereigenschaften Problemgeschichte (auf Grundlage der Fallvignette) Vorgeschichte und aktuelles Problem, aktuelle Motivation, eine Beratung aufzusuchen Differenzierte Problembeschreibung Anliegen/Ziele Klienten (offen/verdeckt) Mögliche Aufträge Ggf. bereits ausprobierte Lösungswege Rollenbeschreibung (ggf. auf Grundlage der Fallvignette) Mein Verhalten zu Beginn der Beratungssituation, mögliche Änderungen im Verlauf, die sich zeigen

Mimik/Gestik, die zur Rolle gehört, muss zur Person passen, die sie verkörpert

Meine Einstellung zur Beratung Wie geht es mir in der Beratung? (Emotionalität) Herausforderungen für die Beratenden, die sich durch die individuelle Darstellung ergeben: …

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Im Folgenden wird beschrieben, wie die Simulierenden praktisch trainiert wurden. Neben allgemeinen Informationen zu den konkreten Aufgaben, Zielen und Herausforderungen beim Einsatz als Simulationsklientinnen und -klienten, wurden weitere Elemente des Rollenskripts erarbeitet: Ȥ Rollenskript »Wer bin ich?«: meine Biografie als Herr/Frau …; Ȥ Rollenskript »Mein Kind«: die Biografie meines Kindes; Ȥ aktuelle Lebenssituation, Familien- und Helfersysteme; Ȥ Problemsituation und Problemgeschichte, Anamnesebogen und Zeitstrahl der Problemanamnese, Erfassen von Ausnahmen und bisherigen Lösungsversuchen; Ȥ konkretes Erarbeiten und Nachspielen von Schlüsselszenen. Als hilfreich erweisen sich dafür Materialien aus der Systemischen Beratung und Supervision, wie beispielsweise Genogramm, Familien-Helfer-Map, Zeitstrahl, Soziogramm und Berichte (z. B. Schwing u. Fryzser, 2015, S. 60 ff.). Diese bearbeiteten die Schauspielenden in der Regel zwischen den Trainingseinheiten. Zudem wurden Episoden aus der Biografie nachgespielt, um sich in die Rolle einzufinden. Dadurch lernten die Darstellenden sich selbst in der Rolle immer besser kennen. Zur Darstellung gehört weiterhin ein passendes Äußeres, das zur Rolle gehört. Bei der Simulation stets ähnliche Kleidung zu tragen und sich für den Einsatz jeweils umzuziehen, unterstützen es, in die Rolle zu schlüpfen und diese nach dem Einsatz wieder abstreifen zu können. Ergänzend benötigen Laienschauspielende je nach Erfahrung auch theaterpädagogische Unterstützung, um bestimmte Aspekte darstellen zu lernen. Eine authentische Darstellung in der Simulation unterscheidet sich von einer schauspielenden Bühnenpräsenz dadurch, dass sie Alltagssituationen präsentieren soll. Schauspielerische, ausladende Bühnenpräsenz ist hier nicht gefragt. Die Auswertung von videografierten Probeeinsätzen in Beratungsgesprächen mit professionell Beratenden ergibt abschließend ein Gesamtbild, ob die Darstellung in sich stimmig und authentisch ist. Im vorliegenden Fall waren sieben Sitzungen á vier Stunden notwendig, bis die Simulierenden zum Einsatz kamen. Eine stabile Darstellung ergab sich nach weiteren sechs bis acht Einsätzen, die jeweils nachbesprochen wurden. Das Rollenskript diente als Grundlage, um sich nach Pausen wieder in die Rolle einzuarbeiten. Letztlich erreichten im hier vorgestellten Projekt nicht alle an der Ausbildung für Simulationsklienten Teilnehmenden tatsächlich ein Stadium der Rollendarstellung, das sie für den Einsatz in der Simulationsumgebung qualifizierte. Von den neun Kandidaten, die alle Bausteine der Simulationsklientenausbildung

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durchliefen, wurde ein Kandidat von den professionell Beratenden als nicht authentisch bewertet, bei einer Kandidatin variierte die dargestellte Rolle so stark, dass die Kernelemente der Fallvignette nicht zuverlässig erkennbar waren. Beide Personen konnten in der Lernumgebung letztlich nicht eingesetzt werden. Neben der darstellerischen Leistung zeichnen sich geeignete Simulationsklientinnen und -klienten auch dadurch aus, dass sie zeitlich flexibel sind und zu den Übungszeiten für Einsätze zur Verfügung stehen können. Tabelle 3: Elemente der Ausbildung zum Simulationsklienten 1. Allgemeine Informationen – Informationen zur Simulation und den Einsätzen in Forschung und Lehre • Was macht ein Simulationsklient? • Unterschiede Schauspiel und Simulation • Ziel: standardisierte Eltern spielen, unterschiedliche Adressatenperspektiven einnehmen • Einsätze im Rahmen von Forschung und Lehre: Bedingungen, Schweigepflicht, Vergütung – Informationen zu den Fallvignetten, die umgesetzt werden • Entstehung der Fallvignetten • Darstellung der Kernelemente der Fallvignetten • Umsetzung der Fallvignetten: Vorgaben und Freiheiten in der Simulation – Informationen zu den Erstgesprächen, in denen die Klientenrolle eingenommen werden soll • Beratungssituation (Setting, Zeitdauer, Berater) • Gesprächsaufbau und Phasen des Erstgesprächs, mögliche Fragen im Erstgespräch 2. Erarbeitung konkreter Materialien zur Fallvignette Für jede Fallvignette wird die Biografie und Situation neu entwickelt. – Präsentation Fallvignette und Dokumentationsbogen Kind Fragen klären, Kernelemente des Falls erarbeiten – Problemsituation und Problemgeschichte • Anamnesebogen und Zeitstrahl der Problemanamnese, z. B. Was genau ist schwierig? Worin genau besteht das Problem? Seit wann bestehen die Schwierigkeiten/Probleme? Was hat die Situation verbessert/verschlechtert, gar nicht beeinflusst? • Erfassen von Ausnahmen und bisherigen Lösungsversuchen bezogen auf das vorgetragene Problem • Details der Fallvignette werden der eigenen Rollengeschichte angepasst. Es wird eine eigene Variante der Problemanamnese entwickelt. Die Kernelemente bleiben bestehen. – Rollenskript »Wer bin ich?« Meine Biografie als Herr/Frau … Detaillierte Antworten auf Fragen, die ein Bild über mich und meine Lebenssituation aufzeigen: Wer bin ich? Wie lebe ich? Was arbeite ich? Was mache ich in meiner Freizeit? Wer steht mir nahe? Was ist mir wichtig? Wie kommuniziere ich? Von was träume ich? Aktuelle und frühere Partnerschaften etc.

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– Ggf. Rollenskript »Mein Kind«: die Biografie meines Kindes Detaillierte Antworten auf Fragen, die mein Kind beschreiben, seine Lebenssituation, seine sozialen Beziehungen, Stärken, Schwächen etc. Brief an mein Kind: Gibt Auskunft darüber, wie ich mit meinem Kind kommuniziere, was ich ihm sagen möchte, beschreibt Einblicke in unser gemeinsames Leben – Fakten: Aktuelle Lebenssituation, Familien- und Helfersysteme • Allgemeine Familiensituation Familienstand, wirtschaftliche und berufliche Situation, Wohnverhältnisse evtl. Zeitstrahl der Familienanamnese: Was ist seit der Geburt des Kindes passiert, das in der Beratungssituation erzählt werden könnte? • Ggf. Informationen zum nicht anwesenden Elternteil: Elternbiografie Herr/Frau … Wer und wie ist der andere Elternteil? Wieso ist er/sie beim Gespräch nicht dabei? Wo ist er/sie? Falls getrennt, seit wann? Wie ist die Trennung verlaufen? etc. • Ggf. Informationen zu weiteren Kindern: Kinderbiografien Falls es Geschwister gibt, Informationen angelehnt an Rollenskript »Mein Kind« • Helfersystem: Auf welche Helfer/-innen kann ich in meiner Rolle zurückgreifen? Gibt es innerfamiliäre Unterstützung? Geschwister des Elternteils, Großeltern etc. Gibt es außerfamiliäre Unterstützung? Lehrkräfte, Nachbarn, Freunde, bereits involvierte andere Beratungsstellen, Ärzte, Sozialer Dienst etc. – Erarbeiten der eigenen Rolle/Lebenssituation • Die eigene Rolle durchleben: Was mache ich innerhalb von 24 Stunden konkret, um 6:00 Uhr, 7:00 Uhr … 18:00 Uhr, abends, nachts → konkrete Situationen werden durchlebt und dargestellt – Erarbeiten von beispielhaften Schlüsselszenen, die konkret gespielt werden und deren Verlauf dokumentiert wird: • Gespräch mit einer Bekannten, in der der Problemkontext thematisiert wird und die Idee entsteht, eine Beratung aufzusuchen; • Alltagssituation mit dem Kind (z. B. gemeinsames Mittagessen); • Gespräch mit dem Kind »Möchte Abends weg gehen und länger weg bleiben«, »Kind hat Schule geschwänzt und möchte eine Entschuldigung«; »Kind hat Haus­ aufgaben nicht gemacht« etc.; • Teilnahme an einer fiktiven Eltern-Selbsthilfegruppe: Das sind meine Sorgen. 3. Kostümanprobe 4. Übungsphase I und II: Erstes Probegespräch als Simulationsklient(in) Diese Trainingseinheit wird dadurch vorbereitet, dass die Phasen eines Erstgesprächs durchgesprochen werden. Beispielhaft werden systemische Fragen gestellt, für die die Simulierenden Antwortmöglichkeiten für ihre Rolle reflektieren. Dies gewährleistet, dass die Fragen im Gespräch beantwortet werden können. Besonders Fragen zu Vermutungen und Ansichten eines im Gespräch nicht anwesenden Dritten wurden von den Simulierenden ohne Vorbereitung nicht sinnvoll beantwortet. Die Beratenden geben Feedback an die Simulierenden, inwieweit sie diese als authentisch erlebt haben. Dazu können als Kriterien die Items des »Maastricht Assessment of Simulated Patients« (Wind, van Dalen, Muijtjens u. Rethans, 2004) genutzt werden. Zürcher (2018, S. 96) hat diese ins Deutsche übersetzt und sprachlich auf die Arbeit mit Ratsuchenden in der Beratung angepasst. 5. Erster Einsatz als Simulationsklient/-in

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Herausforderungen beim Einsatz von Simulation im Beratungslernen Hinsichtlich Vorbereitung und Durchführung erweist sich die Arbeit mit Simulationsklientinnen und -klienten als zeitintensiv (siehe Tabelle 3). Für jede Rolle wird eine Fallvignette benötigt, die in einem aufwendigen Schauspieltraining (6–7 Einheiten á 3 Std.) zu einem Rollenskript verarbeitet und eingeübt wird. Der Trainingsaufwand hängt auch vom geforderten Ausmaß der Standardisierung ab, mit der die Darstellung wiederholt werden soll. Werden hier hohe Anforderungen gestellt, so ist es auch nach dem Schauspieltraining parallel zu den Einsätzen immer wieder notwendig, mit den Simulierenden an ihren Darstellungen zu arbeiten. Die videografierten Gespräche bieten hierfür eine gute Grundlage. Als Herausforderung für die Darstellenden zeigt sich, nicht zu viele Informationen ungefragt preiszugeben und sich dabei an den Fragen der Beratenden zu orientieren. Es entstand der Eindruck, dass nicht mehr als drei Gespräche in Folge (jeweils mit 30 Minuten Pause dazwischen) sinnvoll waren. Wurde die Rolle öfter hintereinander gespielt, änderte sich das Antwortverhalten und Informationen wurden zunehmend ungefragt »abgespult«. Werden unterschiedliche Rollen von denselben Simulierenden gespielt, so könnte ein Rollenwechsel dies eventuell abschwächen. Dies konnte mit dem vorliegenden Material nicht systematisch untersucht werden. Letztlich erweist sich die Verfügbarkeit der Simulierenden als echte Ressourcenfrage. Es wird eine größere Anzahl trainierter Ratsuchender benötigt, da diese zeitlich nicht immer verfügbar sind. Andererseits dürfen nicht zu viele parallel trainiert werden, damit ein regelmäßiger Einsatz garantiert ist, um in den Rollendarstellungen routiniert zu bleiben. Um tatsächlich genügend Darstellende zur Verfügung zu haben, waren im vorgestellten Projekt bei zwanzig Studierenden, die im Seminar zwei bis drei Simulationsgespräche führten (zum Seminarablauf siehe Zürcher, 2018, S. 98 ff.), mindestens sieben Simulierende notwendig, die zwei Rollen darstellen konnten. Da die Rollen von Männern und Frauen trotz der festgelegten Kernelemente der Fallvignetten in ihren Darstellungen recht unterschiedlich ausgelegt und dargestellt wurden, wurde bei einem dritten Gespräch wieder die Fallvignette des ersten Gesprächs dargeboten, jedoch von Darstellenden des anderen Geschlechts. Trotz des beträchtlichen Aufwands ermöglicht diese Trainingsform, wie Evaluationen zeigen (Weinhardt u. Kelava, 2016; Zürcher, 2018), einen erheblichen Lernzuwachs im Bereich des Beratungslernens. Die simulierten Beratungsgespräche werden von den Studierenden als realistische Situationen wahr-

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genommen. Daher wird es in Zukunft für die zunehmend an Universitäten verlagerte Psychotherapieausbildung, aber auch für beraterische Weiterbildungen wichtig werden, sich mit dieser Trainingsform auseinanderzusetzen.

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Astrid v. Sichart

Systemisch-dokumentarische Paartherapie Neue Wege zum Verständnis von Paaren

Die Frage nach dem Wie des Gelingens von langjährigen Partnerschaften oder auch die Frage, wie Paare krisenhafte Situationen eigenständig, also ohne Therapeutinnen/Therapeuten, überwinden, hat mich während einer Forschungsphase, in der ich mit vielen Paaren Gespräche geführt habe, beschäftigt. Methodische Grundlage der Interviewführung und Auswertung war die Dokumentarische Methode. Die langjährige Beschäftigung mit rekonstruktiven Methoden hat mein Handlungsrepertoire als systemische Paar- und Familientherapeutin verändert und erweitert.1 Die Dokumentarische Methode liefert uns für das Verstehen resilienter Prozesse bei Paaren die notwendigen Instrumentarien durch die wesentliche Unterscheidung von Theorien über die Handlungspraxis und die Handlungspraxis selbst (Bohnsack, 2010, S. 227). Im Folgenden werden Kernfragen des psychotherapeutischen Arbeitens auf der Basis eines systemischen Ansatzes mit den Ansprüchen einer qualitativen Sozialforschung vor dem Hintergrund der aktuellen Paarforschung verknüpft. Damit soll verdeutlicht werden, welche Perspektive die Dokumentarische Methode als Zugang zum System »Paar« eröffnet, indem sie auf das handlungsleitende Wissen der Akteure fokussiert. Im Unterschied dazu hat ein psychotherapeutisches, auf Intervention gerichtetes Arbeiten häufig eher den intentionalen Gehalt im Blick. Die Unterscheidung dieser beiden Wissensformen ist gerade für Personen, die ihre therapeutischen und beraterischen Kompetenzen in der Arbeit mit Paaren (weiter-)entwickeln wollen, aus meiner Sicht von immenser Bedeutung. 1

Eine beispielhafte Schritt-für-Schritt-Darstellung des hier skizzierten Ansatzes sowie Therapiebeispiele aus der Praxis finden sich in meinem Buch »Systemisch-dokumentarische Paartherapie: Resilienz in Partnerschaften entdecken und stärken«. Göttingen: Vandenhoeck & ­Ruprecht. Zum tieferen Verständnis der Dokumentarischen Methode empfehle ich die Titel von Bohnsack (2007, 2017).

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Die Dokumentarische Methode geht zurück auf die Wissenssoziologie von Karl Mannheim, die vor allem in den 1920er und 1930er Jahren entwickelt und seit den 1980ern von Ralf Bohnsack weiterentwickelt wurde. Die zentrale Annahme besteht darin, dass unser Wissen und damit unsere Einstellungen, unsere Werthaltungen und Orientierungen auf Erfahrungen basieren, die wir abhängig von unserem Geschlecht, unserer Zugehörigkeit zu einer Generation und zu einem sozialen Milieu machen. So hat z. B. eine Frau, die Anfang der 1950er Jahre geboren und im Zeitgeist der »68er« sozialisiert wurde und aus einem bildungsbürgerlichen Milieu stammt, ein anderes Wissen über Kindererziehung als Frauen, die zehn Jahre davor oder danach aufgewachsen sind und z. B. in einem Handwerksbetrieb oder als Tochter einer alleinerziehenden Kassiererin groß wurden. Die Lebensumstände unseres Aufwachsens und unsere Erfahrungen, die wir dabei machen, sind das zugrunde liegende Material für unser intuitives Wissen, welches uns in unserem Handeln leitet. So entsteht aus den Erfahrungen unseres Lebens und den je spezifischen Bedingungen ein Alltagswissen, das uns ganz praktisch wieder für den Alltag zur Verfügung steht und uns z. B. hilft, in undurchsichtigen bürokratischen Angelegenheiten weiterzukommen, oder uns – eben auch in Bezug auf unser Thema – intuitive Handlungsimpulse in Konflikten mit unserem Partner/unserer Partnerin gibt. Wie gehandelt wird, weist immer auf unterschiedliche Ausformungen des Alltagswissens hin und damit auch auf unterschiedliche soziale Bedingungen im Leben der Handelnden. Auch wenn uns unser Alltagswissen als exklusive Erfahrung erscheint, so ist es doch über uns als Individuum hinaus in unser soziales Umfeld eingebettet. In ihrer Ausrichtung auf die Praxis des Handelns von Menschen fokussiert die Dokumentarische Methode auf das handlungsleitende implizite oder inkorporierte Wissen der Akteurinnen und unterscheidet es von deren explizitem Wissen. Dieses intuitive oder implizite Wissen ist uns so selbstverständlich und in »Fleisch und Blut« übergegangen – wir haben es inkorporiert. Es ist ein Wissen, das uns wegen seiner Selbstverständlichkeit reflexiv kaum zur Verfügung steht. Das zeigt sich in besonderer Deutlichkeit in der Arbeit mit Paaren, die ja sehr viel Alltag miteinander verbringen.

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Fremdverstehen: Wo verbirgt sich der Schlüssel zur Resilienz? Zum Unterschied von kommunikativem und konjunktivem Wissen Fragt man Paare in einem Interview danach, wie sie Krisen meistern, dann können sie – nach einigem Nachdenken – in der Regel Antworten dazu geben (z. B.: »Wir streiten und irgendwann ist genug gestritten.«). Dieses Wissen über sich stellt das Paar über Reflexionen her und es kann darüber kommunizieren. In der Dokumentarischen Methode wird dieses Wissen mit Bezug auf Karl Mannheim als kommunikativ-generalisiertes Wissen bezeichnet. Kommunikatives Wissen ist ein Wissen, das den Akteuren sofort zugänglich ist. Es ist auf einer öffentlich-gesellschaftlichen Ebene angesiedelt und bei jedem in gleicher Weise vorhanden. So ist die Bedeutung des Begriffs »Ehe« unmittelbar und unproblematisch zugänglich, da wir alle ein Wissen um die Institution Ehe haben. Nicht unmittelbar zugänglich ist uns aber der sogenannte konjunktive Erfahrungsraum, der als Begriff ebenfalls auf Karl Mannheim zurückgeht. Er bedeutet, dass Menschen, die sich in ähnlichen Erfahrungsräumen befinden – in den Dimensionen von Geschlecht, Generation, Milieu – wesentliche Aspekte einer gemeinsamen Weltanschauung und einen ähnlichen Denkstil teilen, ohne dass sie sich persönlich kennen müssen. Die Erkundung des konjunktiven Erfahrungsraums der Paare durch uns als Therapeutinnen ist deshalb so lohnenswert, weil sich hier alle Ingredienzien für einen resilienten Umgang eines Paares untereinander verbergen. Die Mitglieder eines konjunktiven Erfahrungsraums haben strukturähnliche Erfahrungen. So sind die Kinder, die im Nationalsozialismus aufgewachsen sind, ein gutes Beispiel. Nur sie wissen und spüren noch heute, was es bedeutet, in der Hitlerjugend dabei gewesen zu sein. Menschen aus dieser Zeit erzählen uns strukturähnliche Episoden, in einer ähnlichen Sprache und mit einer ähnlichen Weltanschauung oder mit einem ähnlichen Denkmuster. Ohne sich zu kennen, verstehen sie einander unmittelbar, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen. Paare, die über zwanzig Jahre miteinander gelebt haben, haben miteinander einen konjunktiven Erfahrungsraum geschaffen. Das zeigt sich ganz konkret daran, wie sie in der Abwesenheit des Partners bzw. der Partnerin »in seinem bzw. ihrem Sinne« Entscheidungen treffen, wie sie politische oder gesellschaftliche Themen ähnlich wahrnehmen und interpretieren und andere alltagspraktische Dinge miteinander verhandeln. Demgegenüber ist ein explizites Wissen ein theoretisches Wissen der Er­forschten über ihr Handeln, welches sogenannten Alltagstheorien oder auch

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Common-Sense-Theorien entspringt. Diese Theorien beziehen sich in ihrem Ursprung auf Alfred Schütz und sein Modell zweckrationaler Handlungsentwürfe. Im Zentrum dieses Modells stehen sogenannte Um-zu- und Weil-Motive, die dem Beobachter weitestgehend durch die Attribuierung von Intentionen zugänglich erscheinen. Ein Beispiel: In einem Gespräch erzählt ein Paar, dass sie häufig nach einem Streit gemeinsam etwas Schönes unternehmen. Die Attri­ buierung eines Motivs könnte sein: Sie machen etwas Schönes miteinander, um sich zu versöhnen oder um den Streit zu vergessen. Die Dokumentarische Methode fokussiert in den Rekonstruktionen der jeweiligen Textpassagen des tr dagegen auf die Herstellungspraxis der handelnden Personen. Es geht transkribierten Texten nicht um die Motive des Handelns, die aus der Vergangenheit kommen können, oder um Absichten des Handelns, die in der Zukunft liegen mögen, sondern es geht stattdessen um die Frage: Wie funktioniert das Handeln? Wie geschieht der Handlungsvollzug im Kontext von Geschlechterzugehörigkeit, von Zugehörigkeit zu einer Generation mit den jeweiligen historischen Merkmalen? Welche Denk-, Fühl- und Handlungsmuster lassen sich rekonstruieren? Das hier in zwei Ausschnitten zitierte Interview mit Nina und Robert soll ein Beispiel sein für die wesentlichen Unterschiede zwischen den methodischen Herangehensweisen einer eher systemisch oder dokumentarisch ausgerichteten Interviewführung. Es soll verdeutlichen, wie sich durch unterschiedliche Haltungen und Fragen unterschiedliche Zugänge zu expliziten oder impliziten Wissensbeständen generieren lassen und wie sich dieser Unterschied für die paartherapeutische Praxis nutzen lässt.

Interviewausschnitt 1 Y: Was hilft Ihnen da, die Krise auch zu durchlaufen? Robert2: Dass ich es nicht so ernst nehme. Nina: Er nimmt es nicht so ernst. Robert: Ich bin da von Natur aus ]. Nina: Aber du bist auch leichtsinnig. Ich muss ihn wirklich immer an die Hand nehmen und das will ich auch nicht, sag, bin nicht deine Mutter, bin ich nicht, das stimmt doch! Robert: Ja, ja. Nina: Und eh, ja: Ich versuche, so im Heute zu leben, bis morgen kann man denken, 2 Zur Anonymisierung sind alle Namen geändert.

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aber übermorgen kann alles ganz anders sein, und deshalb genießen, und was nicht so gut ist, das schaffen wir einfach, hoffe ich. Y: Was würden Sie so im Nachhinein – Sie haben so gesagt, wir haben uns da was erarbeiten müssen in unserer Beziehung –, was würden Sie sagen, was haben Sie jetzt erarbeitet? Nina: Mmh. Y: Was wissen Sie als Paar übereinander, wo Sie sagen, da passen wir drauf auf, da beugen wir vor? Nina: Dass wir achtsam miteinander umgehen, wirklich achtsam miteinander umgehen. Robert: Das haben wir doch immer gemacht. Nina: Ja, in letzter Zeit mehr als früher. Das auf jeden Fall. Robert: Ja, das mag schon sein. Das war ja auch eine ganz andere Situation. Nina: Ja, das ist sicher(unverständlich). Ich weiß, der Beruf an erster Stelle stand. Und dann kamen die Kinder und dann kam eine Weile nichts und dann kam ich irgendwann, nich? Und das war mir zu wenig. Y: Wie haben Sie das hergestellt, dass die Reihenfolgen sich verändert haben? Nina: Das ist eine gute Frage. Jetzt musst du ran! Robert: Ich verstehe nicht. Nina: Die Reihenfolge Beruf, Kinder, nichts.

Die erste Frage der Interviewerin richtet sich an Robert, da er sich aus ihrer Sicht bisher nicht so am Interview beteiligt hat wie seine Frau Nina. Die Auswirkungen der direktiven Frage an nur eine Person machen sich nach Roberts Antwort sofort bemerkbar. Nina fühlt sich übergangen und bringt sich ins Interviewgeschehen ein, indem sie seine Antwort wiederholt und über ihn redet. Sie bleibt in dem Modus, über ihn zu reden, und bewertet ein Verhalten, das er als »nicht so ernst nehmen« beschreibt, als »leichtsinnig«. Diese Interpretation seines Verhaltens brachte sie in der Vergangenheit dazu, sich um ihn zu kümmern, »ihn an die Hand zu nehmen«, was ihr gleichzeitig auch missfällt: »bin nicht deine Mutter«. Es fällt auf, dass sie die Dynamik zwischen sich und ihrem Mann – die sie eigentlich ablehnt – auf der performatorischen Ebene im Interview wiederholt. In einer noch stärker systemisch ausgerichteten Therapie hätte die Therapeutin vielleicht eine erste Hypothese in Richtung einer Schieflage zwischen Nina und Robert aufgestellt, in dem Sinne, dass er die Beziehung insgesamt nicht so ernst nimmt und sie zu wenig als Partnerin auf Augenhöhe agiert und eine Mutterrolle übernimmt. Um diese Hypothese zu überprüfen und sie auch als Information an das System Klientin/Klient zu geben, wäre eine mögliche zirkuläre (eventuell auch paradoxe) Frage sinnvoll: »Was müssten Sie noch

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tun, um füreinander die Mutter- und Vaterrolle zu übernehmen?« oder: »Was sagen gute Freunde über Sie?« oder: »Wer von Ihnen beiden übernimmt eher die Elternrolle für den anderen?« Nina wartet nun ihrerseits nicht darauf, gefragt zu werden, sondern beantwortet von sich aus die Frage der Interviewerin. Damit übernimmt sie als Reaktion auf die einseitige personenspezifische Frage der Interviewerin erneut die Mutterrolle und antwortet für Robert. Hiermit wird deutlich, wie durch die Frage der Interviewerin im Zusammenspiel mit dem Paar ein Muster entsteht, das sie – wenn sie ihr Vorgehen nicht kritisch reflektiert – als alleiniges Muster des Paares identifizieren könnte. Die Interviewerin wiederholt mit anderen Worten ihre Eingangsfrage, die sie dieses Mal an beide richtet, und möchte noch einmal wissen, was Nina und Robert sich erarbeitet haben. Die Frage nach dem Was evoziert im besten Fall eine Aufzählung von Tätigkeiten. In diesem Interview folgt ein Zeichen des Nachdenkens: »Mmh.« Die Interviewerin lässt allerdings dafür keine Zeit, sondern formuliert die Frage ein zweites Mal in eine Frage um, die eher auf die Gegenwart und Zukunft bezogen ist als auf die Vergangenheit. Die Antwort von Nina macht deutlich, wie Fragen nach dem Was eines Handlungsgeschehens das explizite Wissen hervorbringen: »Dass wir achtsam miteinander umgehen.« Dieses explizite Wissen rekurriert auf ein normatives und regelgeleitetes Verhalten. In Verbindung mit dem Wort »achtsam«, das auf den zur Zeit üblichen Sprachgebrauch von Therapeuten verweist, wird nicht ersichtlich, wie genau sich das achtsame Verhalten von Robert und Nina in der Praxis zeigt, wann sie es anwenden und wie es sich auf ihre Beziehung auswirkt. Im Interview wird die darauf folgende Anschlusskommunikation in einer Art und Weise weitergeführt, die deutlich macht, dass Nina und Robert zum Aspekt Achtsamkeit keine gemeinsame Rahmung haben. Der letzte Abschnitt des Interviews wiederholt das Muster zwischen der Interviewerin, Nina und Robert: Die Interviewerin lässt es durch ihre Ungeduld nicht zu einem selbstläufigen Dialog zwischen dem Paar kommen, sondern lenkt durch ihre steuernden Fragen den Fokus auf sich. Nina erzählt nicht weiter, sondern übernimmt ebenfalls eine Steuerungsfunktion, indem sie die Antwort an Robert delegiert. Durch diese eher systemische Gesprächsführung wird die Chance vergeben, durch Erzählungen und Beschreibungen des Paares ihre reale Handlungspraxis sichtbar werden zu lassen. Der folgende Interviewausschnitt entspricht mehr dem Stil der Dokumentarischen Methode und zeigt, wie Selbstläufigkeit in Paargesprächen entstehen kann und welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können.

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Interviewausschnitt 2 Y: Was würden Sie im Nachhinein sagen, was haben Sie sich erarbeitet und wie haben Sie es gemacht? Nina: Ja, es ist auch wieder Respekt gewachsen. Mmh. Und wir eine Fundament hatten dadurch, wir hätten natürlich auch einen Paartherapeut oder überhaupt gebraucht, aber das wolltest du nicht, niemals. Robert: Ja, ich entsinne mich nicht, dass das so, eh … Nina: doch … Robert: … dass das so eine Auflage war von dir. Nina: Auflage war es ja auch nicht, aber ich habe es dir angeraten, schon ein paar Mal, und es täte uns gut. Das haben wir dann einfach ohne versucht, ja. Robert: Ich habe sicher die Problematik nicht so empfunden wie du, und da waren ja nicht nur wir zwei, da war ja noch die Familie mit den Kindern und die Bindung an die Familie und das Zusammenbleiben mit den Kindern. Alles das ist ja so dominant und so wichtig, das kann man nicht. Nina: Ja, aber das ist nicht unsere Ehe! Robert: Nein, aber das gehört ja dazu, nich? Deswegen also, die eh, die Verbindung würde ja von mir niemals aufgelöst, niemals, der Gedanke wäre ja niemals gekommen. Ich hatte eine Freundin, die heute noch meine Freundin und eh, aber, aber ich bin ja nicht rumgesprungen, als ich unterwegs war. Es ging um eine Situation, die bei mir tiefer ging, mit. Aber, wie gesagt, die Familie war viel wichtiger, das alles, was wir gemeinsam uns erarbeitet haben, und die Situation mit den Kindern ist ja so was Wunderbares, denn das Verhältnis ist ja immer sehr gut gewesen mit den Kindern, bis heute auch. Nina: Ja, aber Robert, das wäre ja in jedem Fall … Robert: … ja, gut, aber … Nina: … das berührt ja unsere Zweisamkeit nicht. Robert: Natürlich, Zweisamkeit wäre nicht [Rest unverständlich].

In diesem Ausschnitt des Interviews fragt die Interviewerin nach den qualitativen Merkmalen, die sich das Paar zur Überwindung seiner Krise erarbeitet hat. Im Unterschied zur weiter oben angeführten Passage formuliert sie sie jedoch nicht als Was-Frage, sondern fragt nach dem Wie. Sie richtet, ebenfalls im Unterschied zur anderen Textstelle, die Frage an beide. Der dritte Unterschied besteht in der wesentlichen Tatsache, dass die Interviewerin mehr Geduld aufbringt, sodass ein selbstläufiger Dialog zwischen Nina und Robert entstehen kann. Die selbstläufigen Erzählungen und Beschreibungen von Nina und Robert beinhalten, wieder im Unterschied zur oberen Passage, ihren jeweils unter-

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schiedlichen persönlichen Habitus, der sich bei Nina auf Ehe und Zweisamkeit bezieht und bei Robert auf die Familie als Ganzes. Der Vergleich dieser beiden Interview-/Gesprächssequenzen ergibt für eine Paarberatungssituation im Unterschied zur üblichen systemischen Praxis folgende Erweiterung: Ziel einer (systemischen) Beratung ist die Aktivierung der Ressourcen für die Lösungsorientierung. Dabei wird davon ausgegangen, dass jedes System bereits über alle notwendigen Ressourcen verfügt, sie aus unterschiedlichen Gründen im Moment aber nicht nutzt (von Schlippe u. Schweitzer, 2003). Häufig wird dann – ähnlich wie im ersten Ausschnitt – von der Interviewerin nach den Um-zu-Motiven gefragt, hier sinngemäß in Form der Frage: »Worauf achten Sie, um Konflikte zu vermeiden?« Die Erwartung im Interview – und auch in der systemischen Therapie – ist es dann, Antworten zu resilientem Verhalten des Paares zu bekommen. Wie die zweite Gesprächspassage und die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, liegen die Hinweise dazu aber nicht in den Orientierungsschemata, d. h. in den Intentionen der Akteure, sondern im Habitus. Der Habitus lässt sich, wie wir gesehen haben, aber eben nur aus Erzählungen und Beschreibungen rekonstruieren, nicht aus Erklärungen und Argumenten. Wie sich gezeigt hat, liegt der Schlüssel des resilienten Verhaltens der Paare in ihrem impliziten Wissen, also in den handlungsleitenden Wissensstrukturen oder dem Habitus. Damit wird deutlich, wie sinnvoll es ist, in einem Beratungsgespräch erzählgenerierende Impulse zu setzen, um tatsächlich einen Zugang zu den Ressourcen der Klientinnen und Klienten zu erhalten. Die Erfahrung mit Interviewgesprächen, wie sie auf Basis der Dokumentarischen Methode erhoben werden, macht deutlich, welche Unterschiede sich aus einer systemischen Fragehaltung mit zirkulären Fragen und einer Explorationsmethode nach der Dokumentarischen Methode ergeben. Zirkuläre Fragen produzieren auf der Seite der Befragten hauptsächlich Gedankenprozesse und Antworten, die sich als argumentativ und erklärend beschreiben lassen. Damit werden theoretisch-reflexive Wissensbestände (re)produziert und ausgedrückt. Diese sind dem Bereich der Orientierungsschemata zuzuordnen. Eine Exploration im Sinne der Dokumentarischen Methode verlangt nach einem Anfangsimpuls dagegen die vollständige Zurückhaltung der Interviewerin. Dies erzeugt ein selbstläufiges Erzählen der Befragten, wodurch zusätzlich zum explizit Gesagten auch implizite Wissensbestände und der Habitus des Paares sichtbar werden. Sehr theoretisch ausgedrückt: Durch die Initiierung von Selbstläufigkeit kann die selbstreferenziell-systemische Struktur des Gesprächs unmittelbarer ihren Ausdruck finden. Für die Praxis gesprochen: Für ein erfolgreiches therapeutisches Vorgehen ergibt sich die Notwendigkeit zu einer Erweiterung der Fragetechnik über zir-

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Systemisch-dokumentarische Paartherapie

kuläres Fragen hinaus zu einem Interviewstil, der Paare dazu anregt, in ein gemeinsames Erzählen zu kommen. Die synoptische Darstellung in Tabelle 1 macht deutlich, worin die Hauptunterschiede der Frage- bzw. Interviewstile liegen: Tabelle 1: Hauptunterschiede der Frage- bzw. Interviewstile systemisch – rekonstruktiv Systemisches Beratungsgespräch

Rekonstruktive Gesprächsführung

Personen­ kreis

Ratsuchende, HilfeempfängerInnen

ExpertInnen, interessierte Personen

Ziel

(Wieder-)Herstellung von Handlungsfähigkeit, Veränderungen

themenbezogene Erzählungen und Beschreibungen

Haltung

Neugierde, einfühlendes Verstehen

Suspendierung eigener Bezugssysteme, Anerkennung von Autonomie

Gesprächs­ führung

steuernde Frageformen (zirkuläres Fragen) ­direktiv, affektiv, Feedback- und Deutungsangebote

Initiierung von Selbstläufigkeit, offen, Zurückhaltung eigener Affektivität

Zugang

kommunikativ-generalisiertes Wissen, Orientierungsschemata

konjunktiver Erfahrungsraum, Orientierungsrahmen

Methode

Mustererkennung

Rekonstruktion von Homologien auf der Grundlage der komparativen Analyse

Zeitliche Dimension

schnelles Handeln und Verstehen

Entschleunigung durch Rekon­ struktion des Interviewtextes

Um an das Wissen, das den Entscheidungen und Handlungen von Paaren zugrunde liegt und das eben auch den Paaren selbst nicht auf direktem Weg zugänglich ist, heranzukommen, ist es im Sinne einer Kompetenzerweiterung der Gesprächsführung wichtig, hier eher im Sinne der Dokumentarischen Methode vorzugehen. Die Antwort auf die Frage, wie Fremde – also auch Therapeutinnen und Therapeuten – von außen Zugang zu diesen verborgenen, impliziten Mustern bekommen, lautet: in Form von Erzählungen und Beschreibungen. Befragt man Paare mit einem sogenannten offenen und erzählgenerierenden Eingangsimpuls (»Mich interessiert, wie Sie als Paar leben und wie Sie Konflikte und Krisen meistern. Können Sie einmal erzählen?«), fordert diese Vorgehensweise das Paar dazu auf, über sein Leben zu erzählen sowie Situationen zu beschreiben. In diesen »selbstläufigen Erzählungen«, in denen Paare ihre Handlungspraxis darstellen, wird auf ein anderes und größeres Wissensrepertoire

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zurückgegriffen. Dieses Wissen wird als implizites, atheoretisches oder konjunktives Wissen bezeichnet. »Atheoretisch ist dieses Wissen, weil wir in unserer Handlungspraxis darüber verfügen, ohne dass wir es alltagstheoretisch auf den Punkt bringen und explizieren müssten« (Nohl, 2009, S. 10). Und hier liegt der Schatz und zugleich die Mühe für uns Therapeutinnen, diese verbindenden Fäden und Muster aus den transkribierten Erzählungen zu heben (zu rekonstruieren), sie zu entdecken und dem Paar zu zeigen oder ihm selbst das Handwerkszeug in die Hand zu geben, den eigenen Mustern auf die Spur zu kommen.

Wie Sprache auf einen Bedeutungsgehalt hinweist: Indexikalisches Wissen Ausgangsbasis für die Dokumentarische Methode sind die sozialen und historisch gewachsenen Merkmale der Kontexte der Befragten, in denen die Denk-, Deutungs- und Handlungsmuster entstehen. Das bedeutet für Therapeuten, dass sie in ihrer Beobachter- und Analyseeinstellung vom Was zum Wie wechseln. Die explorative Frage verändert sich von »Was geschah?« zu »Wie vollzieht sich die interaktive und erlebnismäßige Herstellung des Geschehenen?«. Garfinkel (1984), ein Hauptvertreter der Ethnomethodologie, bezieht sich auf Karl Mannheim und weist darauf hin, dass in der Alltagsverständigung Missverständnisse umso stärker auftreten, je weniger uns mit unserer Gesprächspartnerin oder unserem Gesprächspartner ein kultureller und Erfahrungshintergrund verbindet. Dieses Missverstehen beruht auf der sogenannten Indexikalität der Sprache. Indexikalität meint, dass sich die Bedeutung eines Begriffs immer nur in seinem konkreten Gebrauch und in Relation zu anderen begrifflichen Konzepten herstellt. Wenn wir uns also fragen, wie Paare mit Krisen umgehen und auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen, dann rekurrieren wir dabei auf die auf unmittelbarem Verstehen basierende »konjunktive Erfahrung«, auf ein Handlungswissen, das den Paaren wegen seines impliziten Charakters selbst nicht zugänglich ist und damit auch im Interview nicht expliziert wird. Es ist für die Akteure in einem Maße selbstverständlich, dass sie es nicht hinterfragen und damit auch nicht explizieren (müssen). Zur Beantwortung unserer Frage nach der Resilienz bei Paaren muss also genau dieses implizite Wissen der untersuchten Paare, das für ihre jeweilige Praxis des Zusammenlebens bestimmend ist, rekonstruiert werden. Den Zugang zu diesen konjunktiven Wissensbeständen erhält man dann, »wenn wir uns (auf dem Weg von Erzählungen und Beschreibungen oder auch der direkten

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Beobachtung) mit der Handlungspraxis vertraut gemacht haben« (Bohnsack, 2007, S. 14). Methodisch schlägt sich die Unterscheidung der zwei Wissensarten auch in der unterschiedlichen Vorgehensweise bei der Auswertung des Interviewmaterials nieder: die formulierende Interpretation, die nach dem Was des Geschehens fragt, und die reflektierende Interpretation, die nach dem Wie des Geschehens fragt. In den Passagen, in denen die Paare argumentieren und sich im Zuge der Konstruktion von Weil- und Um-zu-Motiven ihr Handeln erklären, bekommen wir Zugang zu ihrem theoretischen Wissen, d. h. den Orientierungsschemata. Beispiele: »Ich habe das gemacht, weil es dir so wichtig ist, dass ich abends Zeit für dich habe«, »Wir haben beide sehr viel gearbeitet, um schöne Reisen machen zu können«. Das Wissen, das die Paare hier zeigen, formiert sich um Normen und Erwartungen, z. B. bezüglich des Rollenhandelns in der Partnerbeziehung. Das Aufspüren des impliziten Wissens ist schwieriger und aufwendiger. Es lässt sich als Orientierungsrahmen oder synonym als Habitus in den Erzählungen der Paare rekonstruieren. Zugang zu diesem impliziten Wissen bekommen wir durch die Suche (im transkribierten Text oder im Gespräch) nach einander sich begrenzenden positiven bzw. negativen Lebensstilentwürfen. In der Dokumentarischen Methode wird das als (positiver) Horizont bzw. (negativer) Gegenhorizont bezeichnet.

Transkripte und Fotos als Medium der Selbsterkenntnis in der Paartherapie Die Erzeugung von Erzählungen und Beschreibungen eigenerlebter Erfahrungen innerhalb der Beratungssituation geben einerseits den Beratenden diagnostische Hinweise über den Modus Operandi der Selbstkonstruktionen; andererseits dienen sie dem Selbstverstehen und der Selbsterkenntnis der Klientinnen und Klienten. Sehr oft kommen Paare zu einer Paarberatung mit dem Anliegen, einander besser verstehen zu wollen. Meistens ist der Anlass für diesen Wunsch die gemeinsame Erfahrung einer langen, quälenden Zeit von Streitgesprächen und Konflikten. Die Vorstellung der Klienten beruht darauf, den subjektiv gemeinten Sinn ihres Partners bzw. ihrer Partnerin kennenzulernen und die Motivlage zu verstehen (Was wurde gesagt? Was bedeutet das? Welche Absicht verfolgt der, die andere? Was ist das dahinterliegende Motiv?), um von diesem neuen Erkenntnisstand aus besser miteinander kommunizieren zu können. Ähnlich

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einem interkulturellen Training hätte die Therapeutin die Funktion einer Lehrerin und die Klientinnen kämen in die Rolle von Schülerinnen. Ein mögliches Alternativsetting, in dem das Selbstlernen und die Selbsterkenntnis der Klienten stärker im Vordergrund stehen, ergibt sich durch eine Triade des Paares mit einem Transkriptionstext, der nach der Aufzeichnung eines möglichst selbstläufigen Interviews im Sinne eines Paargesprächs entstanden ist. Die Beschäftigung des Paares mit einem Text, den es selbst produziert hat und auf den es als eine gemeinsame Produktion schauen kann, externalisiert eine von den Partnern definierte Kommunikationsstörung auf ein fremdes und doch bekanntes Medium. In der Form des Transkripts begegnet ihnen der systemische Charakter ihrer Beziehung in objektivierter und gleichsam materialisierter Form. Analog zu den beiden dargestellten Schritten der rekonstruktiven Vorgehensweise, der formulierenden Interpretation und der reflektierenden Interpretation, lässt sich der Wechsel vom Was zum Wie auch konkret in der Paarberatung als Methode der Selbstwahrnehmung nutzen. Anstatt sich wie bisher über Inhalte auszutauschen und – häufig – über Motivunterstellungen und Erwartungsenttäuschungen zu streiten, ist das Lesen des Interviewtextes und der Austausch darüber eine Form, etwas über die praktizierten kommunikativen Strukturen zu erfahren: Wie beziehen wir uns im Gespräch aufeinander? Wie schaffen wir Reibung, Abgrenzung, Störung? Worin liegen unsere Übereinstimmungen, unsere gegenseitigen Wertschätzungen? Die Paare verstehen die Muster ihres eigenen fortlaufenden und sich wiederholenden Paargesprächs und können dadurch eine Idee entwickeln von kommunikativen Wahlmöglichkeiten und Alternativen bezüglich der Art und Weise, sich aufeinander zu beziehen. Die Begleitung durch eine Therapeutin oder einen Therapeuten besteht dann darin, das Paar anzuregen, über den eigenen Modus Operandi ihrer Handlungspraxis und ihrem handlungsleitenden impliziten Wissen auf die Spur zu kommen: Welche Strukturen begründen unser Handeln? Wie reagieren wir aufeinander? Wie »erschaffen« wir eine Eskalation, wie eine Deeskalation? In diesem Sinne geben Therapeutinnen Impulse und Hinweise zum Herstellungsprozess und damit auch zum Verstehensprozess, der einen Unterschied macht zwischen Information und Mitteilung. Und genau diese Unterscheidung wird zur Ausgangslage für mögliche alternative Kommunikationsverläufe. Methodisch analog lässt sich ein Vorgehen mit Fotos konzipieren und einsetzen. Der positive Reiz eines solchen Vorgehens liegt in der lediglich methodischen Begleitung von Paaren. Nicht die Therapeuten erschließen die Ressourcen des Paares, sondern das Paar wird auf diese Weise zum Expertenpaar des eigenen Diskurses. Damit verschiebt sich die Hierarchisierung des Besserwissens vom Therapeutensystem zum Klientensystem, und es ergeben sich für

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die beraterische Praxis neue Zugänge, die die Bewältigung von Krisen und Konflikten auf der Grundlage von lebens- und familiengeschichtlichen sowie sozialen Strukturierungen betrachten. Auch zur Aus- und Weiterbildung von Therapeutinnen und Beratern ergeben sich aus den bisher skizzierten Erkenntnissen inhaltliche und methodische Erweiterungen, insbesondere in Bezug auf drei wesentliche Punkte der Professionalität von Beratung: Ȥ Einübung von Reflexivität, Ȥ Methodenkompetenz in Bezug auf Fremdverstehen, Ȥ Gestalten eines Rahmens für Resilienz. Die grundlegende Idee zur Einübung dieser Kompetenzen einer reflexiven Haltung und einer versierteren und dabei gleichzeitig kritischeren Ausübung von Methoden in der Praxis von Beratung beruht auf einem Setting analog einer Forschungswerkstatt: In einer Gruppe von Therapeuten werden gemeinsam Transkripte aus Therapie- und Beratungssituationen interpretiert und auf zukünftige therapeutische Vorgehensweisen hin durchgesprochen. Dieses Vorgehen beruht auf der – auch persönlichen – Erkenntnis, dass Kompetenzen, die für qualitative Forschung erworben werden, auch eine Basis für professionelles Handeln darstellen. Damit ergeben sich für die beraterische Praxis neue Zugänge, die die Bewältigung von Krisen und Konflikten auf der Grundlage von lebens- und familiengeschichtlichen sowie sozialen Strukturierungen betrachten. Bruno Hildenbrand, der sich schon lange für die fallrekonstruktive Forschung als Zugang in der Paartherapie stark gemacht hat, bezeichnet Resilienz deshalb als »relationale Dimensionierung« und »kontextbezogene Kategorie« (Hildenbrand, 2005, S. 25). Meine Überlegungen beziehen sich auf die Vertiefung und Erweiterung der »wissenschaftlichen Reflexivität«. Dabei geht es vor allem um die Erkenntnis des eigenen Standorts, in den durch biografische Erfahrungen Vorannahmen eingelagert sind. Im Prozess des gemeinsamen Interpretierens von Transkripten aus Beratungssitzungen wird der eigene Standort nicht als subjektive Sicht ausgegrenzt, sondern methodisch kontrolliert. Überdies entsteht im gemeinsamen Reflexionsprozess mit der Therapeutin eine Theoriegenerierung, die auf dem praktischen Erfahrungswissen der Klientinnen und der Therapeutin beruht und die aus einer anfänglich kritischen Paarsituation eine über diese hinausgehende sozialwissenschaftliche These macht, die unter Umständen sogar gängigen anderen Thesen kritisch gegenübersteht. Ein besonderer Reiz der Dokumentarischen Methode liegt darin, dass die reflexive Kompetenz des eigenen

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Standorts nicht gesondert betrachtet werden muss, da sie ein integraler Bestandteil der Methode selbst ist. Die Entwicklung reflexiver Kompetenz insgesamt ist umso mehr angezeigt, als sich vor allem das beraterische Verständnis in den letzten Jahren stark gewandelt hat: von einem »direktiven Beraterverständnis« zu einer »hoch reflexiv angelegte[n] Hilfeform« (Bauer u. Weinhardt, 2014, S. 85). Bauer und Weinhardt beschreiben die Veränderung des psychosozialen Beraterverständnisses vor allem mit einem Wandel »bezüglich instruierender Information« hin zu einer Anregung von »Selbstklärungsprozessen« und einer Aktivierung von »Ressourcen zu alltagsnahen Lösungen« (S. 85). Methodenkompetenz in Bezug auf das Fremdverstehen von Klientinnen und Klientinnen stellt in der Weiterbildung von Beratenden keinen besonderen Schwerpunkt dar, obwohl das Verstehen von Äußerungen ein essenzieller Bestandteil der Tätigkeit ist. Verstehen wird als kommunikative, als intuitive Fähigkeit vorausgesetzt; wohl wissend, dass Gesagtes nicht nur Inhalte transportiert, sondern auch Einstellungen, Normen, Werte widerspiegelt. Eine reflektierte und systematische Verstehenskultur besteht nicht explizit. Hier wäre eine Orientierung an den Prinzipien der Dokumentarischen Methode im Sinne eines vertieften Verständnisses nicht nur sinnvoll und wünschenswert, sondern geboten. Zur Interpretation von sprachlichen (aber auch bildlichen) Ent-Äußerungen bietet sich der gleiche Kanon von Vorgehensweisen an, der in diesem Beitrag zur Rekonstruktion von Gesprächen skizziert wurde: Ȥ Sensibilisierung für Sprache im Prozess in Bezug auf die Indexikalität von Sprache, Ȥ Unterscheidung von Was und Wie durch formulierende und reflektierende Interpretation, Ȥ Fallverstehen durch Fallvergleich im Aufsuchen von Homologien und Kontrasten, Ȥ Rekonstruktion positiver und negativer Horizonte: Rekonstruktion des Enaktierungspotenzials, Ȥ Analyse von Diskursmodi, Ȥ Fotointerpretationen. Die methodologische Position einer Erkenntnistheorie, die sich aus der Praxis generiert, stellt die »Hierarchisierung des Besserwissens« in der Beziehung von Theorie, Methodologie und Praxis infrage (dazu auch Bohnsack, 2017, Kap. 10). Die »Hierarchisierung des Besserwissens« prägt jedoch bisher die Lehre und die Ausbildung in den Instituten: Das Bewusstsein, sowohl von Therapeutinnen als auch von Klienten, ist – trotz der kritischen Auseinandersetzung damit in

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der systemischen Therapie und Beratung – im Alltag sehr häufig geprägt von Begriffen wie »Anamnese« und »Diagnose« – einem Bewusstsein, das eine Idee von Wahrheit impliziert, die nur die Therapeutin oder der Therapeut kennt. Die Gestaltung eines Raumes, in dem Therapeuten und Klientinnen gemeinsam forschend lernen, bedeutet, einen Status des Wissens oder sogar Besserwissens aufzugeben. Nur durch die gemeinsame Interpretation von Texten bzw. Fotos in einem Aus- und Weiterbildungssetting bekommen die sonst eher unzureichend fassbaren Dimensionen von Introspektion und Empathie, die sonst üblicherweise im Bereich individueller Attribuierungen und Projektionen verbleiben müssen, eine valide und interpersonell nachvollziehbare Basis.

Literatur Bauer, P., Weinhardt, M. (2014). Die Entwicklung von Beratungskompetenz an der Hochschule. In S. Faas, P. Bauer, R. Treptow (Hrsg.), Kompetenz, Performanz, soziale Teilhabe. Forschung und Entwicklung in der Erziehungswissenschaft (S. 85–101). Wiesbaden: Springer VS. Bohnsack, R. (2007). Einleitung: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. In R. Bohnsack, I. Nentwig-Gesemann, A.-M. Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung (S. 9–27). Wiesbaden: Springer; VS. Bohnsack, R. (2010). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen u. Farmington Hills: Budrich. Bohnsack, R. (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen u. Toronto: Budrich. Garfinkel, H. (1984). Studies in ethnomethodology. Cambridge: Cambridge University Press. Hildenbrand, B. (2005). Fallrekonstruktive Familienforschung. Wiesbaden: Springer VS. Nohl, A.-M. (2009). Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2003). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I: Das Grundlagenwissen (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sichart, A. v. (2020). Systemisch-dokumentarische Paartherapie. Resilienz in Partnerschaften entdecken und stärken. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Die Autorinnen und Autoren

Petra Bauer, Prof. Dr., Diplom-Pädagogin und systemische Familientherapeutin, ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen. Michael B. Buchholz, Prof. Dr. Dr., Psychologe, Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler, lehrt an der International Psychoanalytic University in Berlin Sozialpsychologie; er ist außerdem Professor für Sozialwissenschaft in Göttingen und affiliierter Professor an der Hermann Paul School of Linguistics Basel-Freiburg. Reinert Hanswille, Diplom-Pädagoge, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Systemischer Therapeut, Supervisor (DGSF, DGSv), Lehrender für Systemische Therapie, Supervision und Coaching (DGSF), Spezielle Psychotraumatherapie mit Kindern und Jugendlichen (DeGPT), PITT, EMDR-Therapeut (EMDRIA), ist Institutsleiter des ifs (Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung). Marlene Henrich, Diplom-Pädagogin, Systemische Beraterin (DGSF), Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin i. A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der EH Darmstadt. Rebecca Hilzinger, Pädagogin M. A., Systemische Beraterin und Therapeutin (SG), Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der EH Darmstadt. Anke Leuthold-Zürcher, Dr., Diplom-Psychologin, Systemische Beraterin, Schulpsychologin, ist Referatsleiterin am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg. Cornelia Maier-Gutheil, Prof. Dr., Diplom-Pädagogin, ist Professorin für psychosoziale Beratung an der EH Darmstadt.

Die Autorinnen und Autoren

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Haja (Johann Jakob) Molter, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, systemischer Therapeut, Supervisor, Coach, ist für »molter nöcker networking, systemisches design und management« freiberuflich tätig. Matthias Ochs, Prof. Dr., Diplom-Psychologe, psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Familientherapeut, Lehrender für Systemische Therapie/Beratung, ist Professor für Psychologie und Beratung an der Hochschule Fulda. Günter Schiepek, Prof. Dr. Dr., leitet das Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung an der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg. Christiane Schiersmann, Prof. Dr., ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Weiterbildung und Beratung an der Universität Heidelberg. Astrid v. Sichart, Dr., Diplom-Pädagogin, systemische Paar- und Familientherapeutin, Coach und Personal- und Organisationsentwicklerin, ist bei »strategos«, Tübingen, tätig. Bruce E. Wampold, Prof. Dr., PhD, ABPP, ist emeritierter Professor für Counseling Psychology an der Universität von Wisconsin-Madison und Direktor des Forschungsinstituts des Psychiatrischen Zentrums Modum Bad in Vikersund, Norwegen. Seine derzeitige Forschungstätigkeit beinhaltet, Psychotherapie aus empirischen, historischen und anthropologischen Perspektiven zu verstehen. Marc Weinhardt, Prof. Dr., Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Pädagoge, Systemischer Familientherapeut, ist Professor für psychosoziale Beratung an der EH Darmstadt. Birgit Wolter, Diplom-Heilpädagogin, Systemische Therapeutin und Beraterin (SG/DGSF), Supervisorin (SG), approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ist als Mediatorin, Lehrtherapeutin (DGSF) und Trainerin für Weiterbildungen (Systemische Beratung/Therapie/Interventionen/Supervision/ Resilienz), Kommunikationstrainerin tätig. Sie verfügt über langjährige Beratungs- und Therapietätigkeit in unterschiedlichen psychosozialen Kontexten und im Profit-Bereich.