Sympathie und Schrecken: Begegnungen mit Faschismus und Nationalsozialismus in Ägypten, 1922–1937 9783112402788, 9783879977109


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German Pages 322 [324] Year 2019

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Sympathie und Schrecken: Begegnungen mit Faschismus und Nationalsozialismus in Ägypten, 1922–1937
 9783112402788, 9783879977109

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Studien des Zentrum Moderner Orient Herausgegeben von Ulrike Freitag

A Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.

Israel Gershoni/Götz Nordbruch

Sympathie und Schrecken Begegnungen mit Faschismus und Nationalsozialismus in Ägypten, 1922-1937

Studien 29

KLAUS SCHWARZ VERLAG • BERLIN

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie - detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. Studien, herausgegeben von Ulrike Freitag Kirchweg 33 14129 Berlin Tel. 030 / 80307 228 www.zmo.de

© Klaus Schwarz Verlag Berlin Alle Rechte vorbehalten Erstauflage 1. Auflage 2011 Satz und Layout: ZMO Einbandgestaltung: Jörg Rückmann, Berlin Abbildungen (Einband): Vordergrund: Mussolinis Angriff auf Abessinien im Herbst 1935, al-Musawwar (Kairo), 6. September 1935; Hintergrund: al-Ahram, 12. Februar 1933; al-Shura, 13. Februar 1929

Druck: CPi Buch Bücher, de Printed in Germany ISBN:

978-3-87997-710-9

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung

Vorwort

Die Entwicklungen im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland stießen auch in arabischen Ländern auf großes Interesse. Als Ideologien, Bewegungen und Gesellschaftsformen galten Faschismus und Nationalsozialismus aus Sicht mancher Beobachter als mögliche Bezugspunkte in den Debatten um politische und soziale Reformen. Dennoch zeigten sich weite Teile der Öffentlichkeit ablehnend gegenüber den ideologischen Leitbildern und politischen Zielen, die von den Regimen Mussolinis und Hitlers verfochten wurden. Die rassentheoretischen Grundannahmen, die autoritäre Ordnung und die expansionistischen Ambitionen, für die Faschismus und Nationalsozialismus in unterschiedlicher Weise standen, waren für viele unvereinbar mit eigenen politischen und religiösen Interessen und Werten. Auch in der ägyptischen Öffentlichkeit wurde die Etablierung des faschistischen Regimes in Italien und der Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland aufmerksam verfolgt - und auch hier spiegelten sich in den Reaktionen vielfältige und bisweilen widersprüchliche Wahrnehmungen und Erwartungen. Selbst innerhalb einzelner ideologischer Strömungen und politischer Gruppierungen fanden sich dabei unterschiedliche Einschätzungen, die sich zudem oft über die Jahre wandelten und nicht selten ins Gegenteil umschlugen. Angesichts des politischen und intellektuellen Stellenwerts, den Ägypten in der arabischen Welt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert besaß, kommt diesen politischen Richtungsdebatten eine besondere Bedeutung zu, die über den unmittelbaren ägyptischen Kontext hinaus

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Sympathie und Schrecken

reicht und Rückschlüsse auf Entwicklungen auch in anderen arabischen Ländern zulässt. Vor dem Hintergrund der politischen Liberalisierung und der sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen und Krisen gelten die Jahre zwischen 1922 und 1937 als wichtige Wegmarke für die politischkulturellen Entwicklungen des Landes und der Region. Die politischen Optionen, die in diesen Jahren diskutiert wurden, verweisen auf den intellektuellen und kulturellen Pluralismus, von dem die politische Kultur Ägyptens vor dem Zweiten Weltkrieg geprägt war. Der schrittweise Niedergang des Wafd in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre stand dabei auf nationaler Ebene für einen Umbruch, der bereits vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zu spüren war. Der Abessinien-Krieg 1935-36, der die ägyptische Öffentlichkeit wesentlich prägte, markierte schließlich schon vor dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 das Ende der Zwischenkriegszeit. In der historischen Forschung wurde lange ein besonderer Schwerpunkt auf jene Akteure gelegt, die auf arabischer Seite an einer Zusammenarbeit mit Vertretern des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands interessiert waren. Gerade in der jüngeren Vergangenheit sind mehrere deutsch- und englischsprachige Veröffentlichungen erschienen, die die Kollaboration arabischer Persönlichkeiten und Organisationen vor allem mit dem nationalsozialistischen Regime herausstellen. Die Problematik dieser Arbeiten besteht dabei nicht allein in der Fokussierung auf prodeutsche Akteure und in den Schlüssen, die aus der Politik dieser Akteure über die Einstellungen der breiteren Öffentlichkeit gezogen werden. Als ebenso problematisch erweist sich das fast vollständige Fehlen arabischer Quellen, die Aufschluss über Motivationen und Abwägungen unter arabischen Beobachtern geben könnten. Dennoch beschränken sich entsprechende Studien in der Regel nicht auf Aussagen über deutsche oder alliierte Interessen und Strategien. Nicht selten dienen deutsch- und englischsprachige Dokumente auch als Grundlage für Schlussfolgerungen, die über Interessen und Visionen auf arabischer

Vorwort



Seite getroffen werden. Diese Ergebnisse leiden beinahe zwangsläufig unter verkürzten Darstellungen und Verallgemeinerungen, die der Widersprüchlichkeit und Komplexität zeitgenössischer Begegnungen mit Faschismus und Nationalsozialismus nicht gerecht werden. Die vorliegende Arbeit wird von einer umfangreichen Auswertung ägyptischer Quellen aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts getragen und analysiert die Breite der Auseinandersetzungen, die sich in der ägyptischen Öffentlichkeit um den Faschismus und Nationalsozialismus entwickelten. Neben Faszination und vehementer Kritik zählten dazu oft auch zwiespältige und abwägende Einschätzungen, die unter Intellektuellen, Politikern und politischen Aktivisten diskutiert wurden. In der Bandbreite dieser Reaktionen spiegeln sich die vielfältigen Konflikte, von denen die ägyptische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit geprägt war. Die öffentliche Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalsozialismus wird hier als Teil eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses über die zukünftige Ordnung gedeutet, der durch die politischen und sozialen Umwälzungen in der gesamten arabischen Welt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges noch verstärkt wurde. Diese Studie basiert auf dem von Israel Gershoni in hebräischer Sprache verfassten und bereits 1999 erschienenen Buch Or Ba-tzel: Mizraim ve-ha-Fashism, 1922-1937 (Licht im Schatten. Ägypten und der Faschismus, 19221937). Angesichts der Bedeutung dieser Arbeit für die geschichtswissenschaftliche Debatte um die Beziehungs- und Begegnungsgeschichte zwischen Deutschland und der arabischen Welt ist es überfällig, deren Ergebnisse auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Die vorliegende Studie beschränkt sich dabei nicht auf eine Übersetzung der ursprünglichen Arbeit. Wir greifen Ergebnisse zahlreicher Veröffentlichungen auf, die seit dem Erscheinen des Buches über die politisch-kulturellen Entwicklungen in Ägypten in der Zwischenkriegszeit publiziert wurden und stellen die Begegnungen mit Faschismus und Nationalsozialismus in den

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S y m p a t h i e und Schrecken

weiteren Kontext lokaler Debatten über die anzustrebende gesellschaftliche Ordnung. Dabei werden auch Ergebnisse und Thesen jüngerer Untersuchungen berücksichtigt, die den Wahrnehmungen von Faschismus und Nationalsozialismus vor allem in Palästina, Irak und Syrien und Libanon gewidmet sind. Dieses Buch versteht sich damit auch als Beitrag zu den Studien, die von dem Historiker Gerhard Höpp bereits in den 1990er Jahren über arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus am Zentrum Moderner Orient in Berlin auf den Weg gebracht wurden. Die Ergebnisse der Konferenzen »Arab responses to Nazism and Fascism, 1933-1945. Reappraisals and new directions« (Tel Aviv University, Mai 2010) und »European Totalitarianism in the Mirrors of Contemporary Arab Thought« (Orient Institut Beirut, Oktober 2010) konnten wir nur noch am Rande berücksichtigen. Angesichts des zunehmenden Interesses, das auch unter arabischen Historikern für dieses Thema zu beobachten ist, sind in näherer Zukunft weitere Veröffentlichungen zu erwarten, die das bis heute prägende Narrativ über eine weitgehende prodeutsche Haltung der arabischen Öffentlichkeiten kritisch hinterfragen. Bei der Recherche und Bearbeitung dieses Buches haben uns zahlreiche Personen und Institutionen geholfen, denen unser aufrichtiger Dank gebührt. Dabei sind vor allem das Department of Middle Eastern and African History der Tel Aviv University sowie das Institute of History and Civilization und das Centre for Contemporary Middle East Studies der Süddänischen Universität in Odense zu nennen. Namentlich erwähnt seien James Jankowski für seine Unterstützung bei der Suche und Auswertung von Quellen, aber auch bei der Formulierung von Thesen und Schlussfolgerungen; Joachim Warmbold für seine ausführliche Bearbeitung und Kommentierung einer ursprünglichen deutschen Fassung dieses Textes; Dirk Sadowski für seine umfangreichen Übersetzungen aus dem Hebräischen; Mustafa Kabha für seine Hilfe bei Übersetzungen aus dem Arabischen; Mazyad Khayr und S. Sharqas für ihre Korrekturen der Transkriptionen und Svenja Becherer vom Zentrum Moderner Orient für ihre un-

Vorwort

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komplizierte und effektive Hilfe bei d e r Fertigstellung dieses Buches. Eventuelle Fehler sind selbstverständlich von uns allein zu verantworten. Ein besonderer Dank gilt Ulrike Freitag, Direktorin des Zentrum Moderner Orient, die uns die Möglichkeit gab, dieses Buch in der Schriftenreihe des Zentrums zu veröffentlichen. Israel Gershoni, Götz Nordbruch Oktober 2010

Anmerkungen zur Transkription Bei d e r Umschrift a r a b i s c h e r Begriffe h a b e n wir uns f ü r eine vereinfachte Form des Systems entschieden, das im International Journal of Middle East Studies (IJMES) üblich ist. Diese Form wird auch auf die N a m e n von Autoren von arabischen Texten angewandt. In Einzelfällen k o m m t es d a h e r zu einer uneinheitlichen Schreibweise von Autorennamen. Die Ü b e r s e t z u n g e n aus dem Arabischen, Englischen und Französischen s t a m m e n - soweit nicht a n d e r s a n g e g e b e n von uns.

Inhalt

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Einleitung

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Die Entdeckung des Faschismus: Der Blick von außen, 1 9 2 2 - 1 9 3 0 Krise und Erneuerung: Eine Gesellschaft im Umbruch Freiheit und Staat: Alternativen politischer Herrschaft Stabilität und Freiheit: Die Ambivalenzen des konservativen Liberalismus Kampf um bürgerliche und nationale Rechte: Der Wafd zwischen Nationalismus und Demokratie

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Ablehnung und Faszination: Faschismus und Nationalsozialismus im Spiegel der öffentlichen Meinung in der Ära Isma il Sidqis, 1 9 3 0 - 1 9 3 4 Das politische Establishment und die junge Effendiyya: Reaktionen auf die politische und wirtschaftliche Krise Sympathie und Faszination: Faschismus und Nationalsozialismus als gesellschaftliche Alternativen Verteidigung der Demokratie: Faschismus und Nationalsozialismus als Herausforderung für die moderne Gesellschaft

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Eine Gefahr für die politische Ordnung: Reaktionen auf Faschismus und Nationalsozialismus in Zeiten der Neuorientierung, 1935-1937 Widerstreit der Interessen: Die Wiederherstellung der demokratischen Ordnung Vorbehalte in den Tageszeitungen: Die ÄthiopienKrise und die Rassenlehre Spott und Grauen: Die Darstellung von Faschismus und Nationalsozialismus in Illustrierten Gegen Imperialismus und >rassistischen NationalismusDie ägyptische Frage ist in Wirklichkeit eine international - Zur politischpublizistischen Tätigkeit ägyptischer Antikolonialisten in Berlin (1918 bis 1928)«, asien, afrika, lateinamerika, Nr. 1 (1987), S. 87-98.

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Unterstützung der Sowjetunion entwickelt hatten, stießen die antikolonialen Aktivitäten in Britisch-Indien oder Irland auch in Ägypten auf spürbares Interesse.10 Vielen Beobachtern war die internationale Dimension des ägyptischen Strebens nach Eigenständigkeit gegenwärtig. Die Kontakte einflussreicher nationalistischer Aktivisten wie Muhammad Farid (1868-1919) oder Mansur Mustafa Rif at (1883-1926) in Berlin oder Genf zu antikolonialen Aktivisten aus anderen Teilen der Welt trugen ein Übriges dazu bei, ein solches Bewusstsein zu schärfen.11 Bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg diente Europa als »Treffpunkt für Aktivisten unterschiedlichster Orientierung, darunter auch solchen mit konträren Zielen, die sich dennoch gemeinsam für eine neue Weltordnung stark machten.«12 Die relativen Freiheiten, die die Nationalisten in Europa genossen, äußerten sich nicht selten auch in einer politischen Radikalisierung, die bei einzelnen Aktivisten oder in informellen Zirkeln zu beobachten war. So hatte der 25-jährige Attentäter, der im Februar 1910 einen Anschlag auf den ägyptischen Premierminister Butros Ghali verübte, zuvor einige Zeit in London, Paris und Lausanne studiert. Auch die Spuren des Attentats, bei dem der Führer des Wafd und amtierende Premierminister, Sa'd Zaghlul, im Juli 1924 in Kairo verletzt wurde, führten zurück in die studentischen Milieus einer europä-

10 Ein Beispiel dafür ist die im Februar 1927 in Brüssel gegründete Liga gegen den Imperialismus, in der verschiedene arabische Aktivisten engagiert waren. Vgl. 'Abd al-Fattah Haykal/Mustafa 'Abd al-Fattah Haykal, »'Usbat munahidat al-imbiriliyya wa-l-kifah fi sabil al-istiqlal al-watani wadawr al-'arab fiha (1927-1937)«, Nahdj, Nr. 33 (1990), S. 119-125. 11 Vgl. Gerhard Höpp, »Zwischen allen Fronten. Der ägyptische Nationalist Mansur Mustafa Rif at 1883-1926 in Deutschland«, in: Atek/Schwanitz, Ägypten und Deutschland, S. 53-64. 12 Noor-Aiman Khan, »Des jeunes gens loin du pays: les étudiants égyptiens à l'étranger avant la Première Guerre mondiale«, in: Mounia Bennani-Chraibi/Iman Farag (Hrsg.), Jeunesses des sociétés arabes. Par-delà les menaces et les promesses (Kairo: Aux lieux d'être, 2007), S. 129. Siehe auch Tareq Y. Ismael/Rifa'at El-Sa'id, The Communist Movement in Egypt, 1920-1988 (Syracuse: Syracuse University Press, 1990), S. 1-11.

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ischen Hauptstadt. Der Attentäter, der mit seiner Tat die Verhandlungen Zaghluls mit den Briten verhindern wollte, war erst wenige Wochen zuvor von einem Studium aus Berlin zurückgekehrt. 13 Auch nach innen war eine klare Abgrenzung einer ägyptischen Öffentlichkeit immer weniger möglich. Die Erfahrungen der syrisch-libanesischen Christen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor den Repressionen der osmanischen Herrscher und den ökonomischen Krisen in Ägypten Zuflucht gesucht hatten, und der Libyer, Marokkaner und Algerier, die vor den Verfolgungen italienischer und französischer Kolonialmächte geflohen waren, spiegelten sich in unterschiedlichen politischen Prioritäten und gesellschaftlichen Visionen.14 Die mutamassirun, die >ägyptisierten< Angehörigen ethnischer oder religiöser Minderheiten, zu denen neben syrisch-libanesischen Christen vor allem auch Juden, Griechen, Italiener und Malteser gehörten, vertraten auf Grund ihrer ambivalenten Stellung in der Gesellschaft Positionen, die bisweilen konträr zu jenen der nationalistischen oder populistisch-islamischen Strömungen standen. 15 Die Selbstvergewisserung als ägyptische Nation und die Entstehung einer Nationalkultur standen insofern in engem Verhältnis zu den regionalen und internationalen Ereignissen. Im Anspruch auf kulturelle Authentizität und eine Besonderheit des nationalen Charakters, der von der Nationalbewegung verfochten wurde, spiegelte sich paradoxerweise die enge Bindung der ägyptischen Gesellschaft an die widersprüchlichen Entwicklungen jenseits der Landesgren-

13 Kassim, Die diplomatischen Beziehungen, S. 126. 14 Siehe dazu Hassan Muhammad Hassan, »Choix culturels et orientations éducatives en Egypte, 1923-1952«, Égypte/Monde arabe, Nr. 18-19 (1994), 27. 15 Die prekäre Stellung der mutamassirun im nationalistischen Diskurs wurde von Anthony Gorman herausgearbeitet, Anthony Gorman, Historians, State and Politics in Twentieth Century Egypt (London: Routledge, 2003), S. 177-186.

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zen, von denen die gesellschaftliche Realität in Ägypten oft unmittelbar beeinflusst wurde. Dennoch lassen sich die politisch-kulturellen Auseinandersetzungen der zwanziger und dreißiger Jahre nicht auf äußere Einflüsse reduzieren. Vielmehr standen die gesellschaftlichen Optionen, die von ägyptischen Intellektuellen und Politikern formuliert wurden, zunächst für Antworten auf konkrete Fragen und Konflikte, die den ägyptischen Alltag selbst unmittelbar prägten. Das Interesse an europäischen Denkströmungen und politischen Bewegungen, aber auch an den autoritären Reformprojekten in Japan, der Türkei und im Iran, das in diesen Jahren in ägyptischen Auseinandersetzungen deutlich wurde, war weniger Ausdruck eines Imports oder einer oberflächlichen Übernahme von Ideen und Begrifflichkeiten, die sich ursprünglich in einem fremden europäischen Kontext verorten ließen. Vielmehr verwies die Aufmerksamkeit, die dem romantischen Nationalismus in Deutschland, den Traditionen der französischen Revolution oder dem britischen Liberalismus entgegengebracht wurde, auf die Veränderungen, von denen die gesellschaftlichen Realitäten dieser Intellektuellen vor Ort selbst geprägt waren. Die Modernisierung der Gesellschaft, die sich u. a. in der Ausweitung des Bildungssystems und der fortschreitenden Urbanisierung der Bevölkerung abzeichnete, äußerte sich in der Suche nach neuen intellektuellen Wegmarken, die in den Veränderungen dieser Jahre Orientierung versprachen. Die wirtschaftlichen Unsicherheiten und Krisen der zwanziger Jahre taten ein Übriges, die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen zu schüren.16 Nicht selten ging es in diesen Debatten auch um neuere wissenschaftliche Theoreme, die auf ihre politische und gesellschaftliche Relevanz für die ägyptische Gesellschaft befragt wurden. Die Evolutionstheorien Charles Darwins stießen

16 Vgl. dazu z.B. Camilla Dawletschin-Linder, Die Türkei und Ägypten in der Wirtschaftskrise 1929-1933 (Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1989), S. 34-46.

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hier ebenso auf Interesse wie die bevölkerungspolitischen Überlegungen des britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus.17 Auch im Erziehungswesen und im Bildungssektor spiegelte sich das Interesse an neueren Ansätzen, die eine Formung und Steuerung der neuen Generationen nach den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft zu ermöglichen schienen. Die Trennlinien zwischen den Befürwortern und Gegnern entsprechender Neuerungen verliefen dabei keineswegs eindeutig. So zeigte sich Hasan al-Banna (19061949), der Gründer der Muslimbruderschaft, durchaus angetan von den reformpädagogischen Ansätzen Pestalozzis und Montessoris, dessen Lehren auch für die islamische Erziehung Botschaften bereithielten. 18 Oft gingen in diesen Debatten innenpolitische und außenpolitische Perspektiven ineinander über. Schon in den Frauen-Demonstrationen im März 1919 gegen die britische Vorherrschaft verband sich der Kampf um nationale Unabhängigkeit unweigerlich mit der Forderung nach einer Öffnung der patriarchalischen Gesellschaft. 19 Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich in Ägypten eine öffentliche Sphäre, in der soziale, religiöse und politische Fragen auch jenseits der gesellschaftlichen Eliten diskutiert wurden. Dabei kam der Presse eine wichtige Rolle zu, die sich nicht auf die Verbreitung von tagespolitischen Nachrichten beschränkte. Angesichts der Vielzahl der Publikationen und der Qualität der Beiträge entwickelte sich die Presse schon vor der Jahrhundertwende zu einem Forum, das von weiten Teilen der Bevölkerung genutzt wurde.20 Die Tageszeitung al-Ahram, die bereits 1875 gegrün-

17 Vgl. dazu El Shakry, The Great Social Laboratory, S. 146-164. 18 Iman Farag, »Éduquer les éducateurs: les revues pédagogiques égyptiennes de l'entre-deux-guerres«. Revue des mondes musulmans et de la Méditerranée, Bd. 95-98 (April 2002), S. 348. 19 Vgl. Beth Baron, Egypt as a Woman. Nationalism, Gender and Politics (Kairo: American University in Cairo Press, 2005), S. 107-113. 20 Zur Bedeutung der Presse in der Zwischenkriegszeit vgl. Ibrahim ' Abduh, Tatawwur al-sihafa al-misriyya, 1798-1981 (Kairo: Mu'assasat Sidjill al-'Arab,

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det wurde, war eine der Zeitungen, die ein breites Publikum über aktuelle Ereignisse informierten. Im Kontext der politischen Liberalisierung der zwanziger Jahre entwickelte sich die Zwischenkriegszeit zur »lebendigsten und vielleicht glücklichsten Epoche in der Geschichte der ägyptischen Presse. Für die meiste Zeit war sie politisch ebenso frei wie während der Jahrhundertwende.« 21 Mit der formalen Unabhängigkeit des Landes wurden die Möglichkeiten der britischen Behörden, unmittelbaren Einfluss auf die ägyptische Presse zu nehmen, deutlich beschnitten. In der Verfassung von 1923 war zudem das Recht auf freie Meinungsäußerung verankert, zugleich waren einer Zensur der Presse durch den König und die Regierung enge Grenzen gesetzt. Sanktionen gegenüber Journalisten und Herausgeber waren danach formal nur dann statthaft, wenn es um die Abwendung von Gefahren für die gesellschaftliche Ordnung ging. Dabei war es gerade der Kommunismus, der von Befürwortern solcher Sanktionen als besondere Gefahr für die ägyptische Gesellschaft herausgestellt wurde. 22 In den politischen Kämpfen zwischen den Parteien und dem Königshaus kam es wiederholt zu Versuchen, durch Inhaftierungen und Schließungen von Redaktionen auf die Meinungsbildung Einfluss zu nehmen. Dennoch gelang es der politischen Opposition selbst in den Jahren unter den Premierministern Muhammad Mahmud (1928-1929) und Isma'il Sidqi (1930-1933), mit ihren Positionen in der Presse Gehör zu finden.23 Die Umbrüche der zwanziger Jahre und die sich entwickelnde pluralistische politische Kultur trugen ein Übriges dazu bei, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu befördern. Charakteristisch war dabei der religiöse und ethnische Pluralismus, der in dieser Öffentlichkeit zum Aus-

1982), S. 209-228 und Ami Ayaion, The Press irt the Arab Middle East: A history (New York: Oxford University Press, 1995), S. 75-82. 21 Ayalon, Press, S. 75. 22 'Abduh, Tatawwur al-sihafa al-misriyya, 1798-1981, S. 328. 23 Siehe ebd., S. 327-330 und Ayalon, Press, S. 79-80.

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druck kam. Neben der muslimischen Bevölkerungsmehrheit nahmen die ethnischen Minderheiten einen wichtigen Platz ein. Ähnliches galt für die jüdische Gemeinschaft, die sich aktiv am politischen Diskurs beteiligte. Die besondere Prominenz der syrisch-libanesischen Emigranten in der Presselandschaft stand in besonderer Weise für die weitgehende wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit der Presse von den herrschenden Eliten. Zusammen mit den Zeitungen und Zeitschriften, die dem Wafd und der Hizb al-Ahrar al-Dusturiyyin (Liberal-Konstitutionelle Partei) nahe standen, bildeten diese Periodika eine wichtige Stütze der pluralistischen politischen Kultur. Sie boten den unterschiedlichen Akteuren eine Bühne für tagespolitische, aber auch für politisch-theoretische Debatten. Die Bedeutung der Presse, die durch fachwissenschaftliche Monographien und literarische Texte ergänzt wurde, spiegelte sich im Drang der Intellektuellen und politischen Entscheidungsträger, die alltäglichen Kontroversen im Wettstreit um die öffentliche Meinung mitzugestalten. Das Lesen und Vorlesen von Zeitungen in der Öffentlichkeit - im Kaffeehaus, am Arbeitsplatz, im Rahmen der Familie oder in Moscheen - bot Gelegenheit zum Austausch, in den auch jene eingebunden waren, die des Lesens selbst nicht mächtig waren. Dies äußerte sich auch in der Bedeutung, die Journalisten im öffentlichen Diskurs zukam. Ihre Rolle bestand nicht allein darin, über Ereignisse zu informieren und Entwicklungen abzubilden. Viele Journalisten sahen sich vielmehr ausdrücklich als Aktivisten, die sich mit politischen Prinzipien identifizierten - und von der Leserschaft mit diesen identifiziert wurden. Charakteristisch für die Zwischenkriegszeit war die »Figur des kritischen Journalismus, der Position bezog und mit anderen Strömungen, die die politische Szenerie Ägyptens ausmachten, konkurrierte.« 24 Pro-

24 Sonia Temimi, »D'un journalisme à l'autre: contours d'une identité professionelle et évolution de son rapport au pouvoir politique 1923-1970«, Égypte/Monde arabe, Nr. 4-5 (2001), 3.

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minente Journalisten und Publizisten wie Muhammad Husayn Haykal und 'Abd al-Qadir Hamza waren als Mitglieder der Liberal-Konstitutionellen Partei oder des Wafd unmittelbar am politischen Geschehen beteiligt. Die politischen Freiheiten, die von der Verfassung gewährt wurden, ermöglichten zugleich eine kritische öffentliche Bewertung der politischen Institutionen und Akteure. Kulturvereine, Kaffeehäuser und Moscheen wurden dabei ähnlich wie Theater und Kinos zu Foren, die zur Meinungsbildung und Politisierung der Öffentlichkeit beitrugen. Zudem beförderte die massive Ausweitung des staatlichen Bildungssystems die gesellschaftliche Basis für diese Debatten. Dabei ging es nicht zuletzt auch darum, durch eine Nationalisierung der Lehrinhalte - zum Beispiel hinsichtlich der Darstellung der ägyptischen Geschichte - ein Nationalbewusstsein zu befördern, das schließlich auch im politischem Engagement der Bürger für die Interessen der Nation zum Ausdruck kam.25 Bei allen Einschränkungen, denen die Meinungsbildung im Machtspiel zwischen den Behörden, etablierten Eliten und neuen politischen Akteuren bisweilen ausgesetzt war, entwickelten sich die in der Presse artikulierten Positionen zu einer relevanten Größe im politischen Entscheidungsprozess. Über die Presse fanden auch Vertreter von Vereinen und informellen Zirkeln Gehör, die als Interessenvertretungen von Arbeitern, Frauen oder Studenten als außerparlamentarische Kräfte in den öffentlichen Raum drangen. Selbst jene Strömungen, die sich gegen eine parlamentarisch-pluralistische Ordnung aussprachen, beteiligten sich am Ringen um die Deutungshoheit in der öffentlichen Debatte. Der politische Diskurs der Zwischenkriegszeit war

25 Siehe dazu Barak A. Salmoni, »Historical Consciousness for Modern Citizenship. Egyptian schooling and the lessons of history during the constitutional monarchy«, in: Arthur Goldtschmidt/AmyJ. Johnson/Barak A. Salmoni (Hrsg.), Re-Envisioning Egypt, 1919-1952 (Kairo: American University in Cairo Press, 2005), S. 164-193.

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insofern zugleich Grundlage und Ergebnis eines politischen Umbruchs, der mit der Verabschiedung der Verfassung einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Der italienische Faschismus und der Nationalsozialismus in Deutschland boten mögliche Anknüpfungspunkte bei der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen. Die Auseinandersetzung mit Europa, mit dem sich im 19. Jahrhundert das Bild »des wissenschaftlichen Fortschritts, der technischen Innovation und Invention, des menschlichen Fleißes, der Bildung und der Prosperität, kurzum der >ModerneWestenIn Deutschland gibt es heute eine Republik, aber keine Republikaner?« 28

Angesichts der antibritischen Unruhen, die mit der Verhaftung Sa'd Zaghluls im März 1919 in Ägypten ausbrachen, gewannen diese Fragen auch im ägyptischen Kontext drängende Bedeutung. Gleichwohl markierten diese Auseinandersetzungen keinen Bruch mit den lokalen intellektuellen Traditionen. Wie in anderen Ländern der Region knüpften sie an Kontroversen an, die sich bis in die Zeit Muhammad 'Alis und der Tanzimat-Reformen zurückverfolgen lassen: »Die intensiven Debatten und leidenschaftlichen Polemiken dieser Zeit griffen in einem Klima politischer Umwälzungen die Diskussionen auf, die bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert über die Reform des Staates, die Okzidentalisierung, die Grundlagen der Nation und die Anpassung des Islam an die Moderne geführt worden waren. [...] Der Weltkrieg und die russische Revolution, durch die die Prinzipien der Nationalitätenfrage und der Freiheit und Selbstbestimmung der Völker in liberalem

27 Marqas Faradj Bishara, Nitshah [Nietzsche] (Alexandria: Matba'at al-Salam, 1915?), siehe dazu Nabil Faradj, » A w w a l kitab fi 1-lugha al-'arabiyya 'an Nitshah«, Ibda', Nr. 9, September 2001, S. 69. 28 »Almaniya al-djadida«, al-Hilal, Januar 1920, S. 293.

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oder marxistischem Geiste neu gefasst wurden, festigten und erschütterten die koloniale Herrschaft zugleich.« 29

Die Ausdifferenzierung und Radikalisierung der nationalistischen und reformislamischen Strömungen, die Formierung einer Arbeiterbewegung und die Popularisierung liberal-demokratischer Vorstellungen beschränkte sich dabei nicht auf eine im engeren Sinne politische Sphäre. Die Fragmentierung und Diversifizierung der politischen Orientierungen fand auch in den intellektuellen und kulturellen Auseinandersetzungen Ausdruck, an denen sich mit der Entstehung einer gebildeten Mittelschicht, der jungen Effendiyya, immer weitere Teile der städtischen Öffentlichkeit beteiligten. Allein zwischen 1925 und 1935 hatte sich die Zahl der Studenten im Verhältnis zur Einwohnerzahl verdoppelt. Im Verhältnis zur Bevölkerung verdreifachte sich im gleichen Zeitraum auch die Zahl der Schüler an staatlichen Schulen. 30 Dennoch war es nicht allein die zahlenmäßige Basis, an der sich die Entwicklung einer politischen Öffentlichkeit festmachte. So weist Lucie Ryzova in einer Untersuchung über die junge Effendiyya auch auf den Bewusstseinswandel hin, der in dem Streben dieser Generation zum Ausdruck kam. Unabhängig davon, ob die Angehörigen der Effendiyya tatsächlich in die Mittelschicht aufstiegen, standen sie für ein neues politisches Selbstbild und den Anspruch, die Gesellschaft aktiv zu ge29 Anne-Laure Dupont/Catherine Mayeur-Jaouen, »Monde nouveau, voix nouvelles: États, sociétés, islam dans l'entre-deux-guerres«, Revue des mondes musulmans et de la Méditerranée, Bd. 9 5 - 9 8 (2002), S. 9. Siehe zur Entstehung eines »neues Weltbildes« in dieser Zeit auch Michael Kreutz, Arabischer Humanismus in der Neuzeit (Münster: LIT-Verlag, 2007), S. 12-28. 30 Ahmed Abdalla, The Student Movement and National Politics in Egypt, 1923-1973 (Kairo: American University in Cairo Press, 2008), S. 25. Die Zahl der Studenten an der Universität in Kairo und an anderen staatlichen Hochschulen stieg von 3.368 im Jahr 1925/26 auf 7.515 im Jahr 1935/36. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Schüler auf weiterführenden Schulen von 16.879 auf 45.203, vgl. Haggai Erlich, Students and University in 20th Century Egyptian Politics (London: Frank Cass & Co., 1989), S. 98.

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stalten. Nicht zufällig schwankte die Wahrnehmung dieser Effendiyya in anderen Teilen der Bevölkerung zwischen »neuem Bürgertum« und »Unruhestifter«. 31 Ähnliches galt für die zunehmend politisierte Arbeiterschaft. So entstanden bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit zahlreiche Gewerkschaften - allein in Kairo existierten 1922 bereits 38 Gewerkschaften, in Alexandria waren es 40 -, was in wiederholten Arbeitskämpfen zum Ausdruck kam. Allein zwischen 1919 und 1922 wurden in Ägypten 81 Streiks ausgerufen, die den Alltag bisweilen erheblich beeinträchtigen. 32 Die Urbanisierung des Landes verstärkte diesen sozialen und intellektuellen Umbruch zusätzlich. So stieg die Einwohnerzahl Kairos von 800.000 im Jahr 1917 auf über eine Million zehn Jahre später. 1947 lebten bereits zwei Millionen Einwohner in der Hauptstadt. Die Landflucht und der rasante Anstieg der städtischen Bevölkerung gingen zwangsläufig mit einer Schwächung traditioneller Bindungen an dörfliche und familiäre Strukturen, religiöse Bruderschaften und lokale Autoritäten einher. 33 Die neue Umgebung in der Stadt machte eine Neuorientierung erforderlich, die sich auch in politischer und intellektueller Hinsicht bemerkbar machte. Das Interesse für so unterschiedliche Denker wie Giuseppe Mazzini und Karl Marx, Victor Hugo und John Stuart Mill stand im Kontext dieser Entwicklungen. In diesem Interesse spiegelte sich das Bemühen um eine elaborierte Übersetzung potentiell universeller Ideen und Perspektiven in den ägyptischen Kontext. Faschismus und Nationalsozialismus kam dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Unter Intellektu-

31 Lucie Ryzova, »Egyptianizing Modernity through the >New Effendiy a c Social and Cultural Constructions of the Middle Class in Egypt under the Monarchy«, in: Goldtschmidt/Johnson/Salmoni, Re-Envisioning Egypt, S. 131. 32 Marius Deeb, »Labour and Politics in Egypt, 1919-1939«, International Journal of Middle East Studies, Vol. 10, Nr. 2 (Mai 1979), S. 187. 33 Sami Zoubaida, »Urban Social Movements, 1750-1950«, in: Peter Slugett (Hg.), The Urban Social History of the Middle East, 1750-1950 (Kairo: American University in Cairo Press, 2009), S. 241-246.

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eilen, aber auch in der weiteren Bevölkerung standen diese Bewegungen für eine wiedergewonnene nationale Stärke. Schon in den zwanziger Jahren stießen die Entwicklungen in Italien unter ägyptischen Beobachtern auf Beachtung. Ähnliches galt für die politische Krise der Weimarer Republik und die frühen Erfolge der nationalsozialistischen Bewegung. Spätestens mit der Machtübernahme Adolf Hitlers wurde der Nationalsozialismus zu einem Thema, das nicht nur unter politisch Interessierten, sondern auch in weiteren Teilen der Bevölkerung diskutiert wurde. Veröffentlichungen über die Hintergründe und Ziele der faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen erschienen mittlerweile nicht mehr nur in Wochen- und Monatszeitschriften, sondern fanden immer häufiger Eingang in tagespolitische Berichte. Bereits Mitte Februar 1933 stellte die Zeitung al-Ahram die Ereignisse in Deutschland in einen weiteren Kontext: »Der Aufstieg Hitlers in Deutschland, Mussolinis in Italien, Mustafa Kemals in der Türkei und [Reza] Shah Pahlavis im Iran sind Ausdruck eines Trends in den modernen Gesellschaften. Der Widerstreit und das Ringen zwischen diesen Strömungen tauf der einen Seite] und dem Kommunismus, dem internationalen Sozialismus und ähnlichen Bewegungen [auf der anderen Seite] werden Folgen haben für die ganze Menschheit - und damit auch für uns. Niemand weiß, welches Lager aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen wird.« 34

Auffallend an dieser Berichterstattung waren neben der Vielzahl und Detailliertheit der Informationen auch die Unterschiedlichkeit der Einschätzungen und Positionen, mit denen die autoritären und expansionistischen Visionen von Faschismus und Nationalsozialismus kommentiert wurden. Die Schlüsse, die die jeweiligen Beobachter aus der Politik Hitlers und Mussolinis zogen, lagen dabei oft weit auseinander.

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»Hitler - oder der Nationalsozialismus. Die Entwicklung der Gesell-

schaft«, al-Ahram,

12. Feb. 1933.

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Sympathie und Schrecken

Die Bedeutung der dreißiger Jahre als Einschnitt in die politisch-kulturelle Entwicklung des Landes wird in der historischen Forschung ausführlich behandelt.35 Das Interesse, mit dem der Faschismus und der Nationalsozialismus in der ägyptischen Öffentlichkeit verfolgt wurden, galt dabei lange als Indiz für eine autoritäre Wende, die die ägyptische Gesellschaft in dieser Zeit erfasst habe: »Die dreißiger Jahre w a r e n der Beginn einer Epoche der Hoffnungslosigkeit und eines allgemeinen Gefühls des Scheiterns. [...] Die Krise der Demokratien im Westen brachte den Glauben vieler an den Wert der Demokratie ins Wanken. Die Bewunderung für den Faschismus verstärkte sich, als es Mussolini gelang, einen pünktlichen Zugverkehr zu organisieren, und als er die Faulenzer zwang, Maschinenöl zu trinken. Einige Ägypter waren der Ansicht, entsprechende Methoden wären in Ägypten erfolgversprechender als jene der demokratischen Institutionen. So zeigten sich die Blauhemden des W a f d und die Grünhemden des Jungen Ägypten in den Straßen und gebärdeten sich in ähnlich brutaler und einschüchternder Weise wie ihre faschistischen Ebenbilder.« 36

Bereits in dem 1969 erschienenen Buch The Modern History of Egypt bot Panayiotis J. Vatikiotis eine ähnliche Interpretation dieser Jahre. Der wachsende Einfluss von Organisationen wie der 1928 gegründeten Muslimbruderschaft und dem fünf Jahre später ins Leben gerufenen Jungen Ägypten standen aus seiner Sicht für eine Abkehr von demokratischen Gesellschaftsmodellen und für eine wachsende Unterstützung von Gewalt als Mittel der Politik. Dabei war es nicht nur die Popularität der neuen radikaleren

35 Vgl. dazu auch Israel Gershoni, »The Theory of Crisis and the Crisis in a Theory: Intellectual history in twentieth-century Middle East studies«, in: Israel Gershoni/Amy Singer/Y. Hakan Erdem (Hrsg.), Middle East Historiographies. Narrating the Twentieth Century (Seattle: University of Washington Press, 2006), S. 131-182. 36 'Afaf Lutfi al-Sayyid Marsot, Egypt's Liberal Experiment: 1922-1936 (Berkeley: University of California Press, 1977), S. 229.

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und autoritären Akteure, die als Zeichen einer politisch-kulturellen Neuorientierung gedeutet wurde. Auch die Werke, die in den dreißiger Jahren von Intellektuellen veröffentlicht wurden, die sich zuvor als Verfechter eines an Europa orientierten Liberalismus einen Namen gemacht hatten, galten als Hinweis auf einen ideologischen Wandel, der sich in einer Abkehr vom säkularen Humanismus und einer Hinwendung zur Religion und zum Irrationalismus niederschlug. Angesichts des Interesses, das Intellektuelle wie Taha Husayn (1889-1973), Muhammad Husayn Haykal, Tawfiq al-Hakim (1898-1987), Ahmad Lutfi al-Sayyid (1872-1963) oder 'Abbas Mahmud al-'Aqqad (1889-1964) den liberalen Traditionen Frankreichs und Großbritanniens in den vergangenen Jahrzehnten entgegengebracht hatten, erschien der zunehmende Einfluss radikal-nationalistischer und autoritärer Sichtweisen als Beleg für ein »Scheitern des Liberalismus« und einer »Reaktion gegen Europa«. 37 Tatsächlich standen Veröffentlichungen wie 'Ala hamish al-sira (Randbemerkungen zum Leben des Propheten, 1933) von Taha Husayn oder Hayat Muhammad (Das Leben Muhammads, 1935) von Muhammad Husayn Haykal für ein neues Interesse an religiösen Themen. Auch Nadav Safran interpretierte diesen verstärkten Bezug auf die Frühphase des Islams als Hinweis auf einen Bedeutungsgewinn antirationalistischen und antiwestlichen Denkens. Den Bruch mit einem säkularen und liberalen Zeitgeist, der nach Safrans Überzeugung in der Islamiyyat-Literatur dieser Autoren zum Ausdruck kam, beschrieb er als Zeichen einer allgemeine »Orientierungskrise« 38 der ägyptischen Gesellschaft.

37 Siehe Panayiotis J. Vatikiotis, The History of Modern Egypt. From Muhammad Ali to Mubarak (London: Weidenfels and Nicolson, 1991), S. 319. Der Titel der Erstauflage von 1969 lautete The Modern History of Egypt. 38 Nadav Safran, Egypt in Search of Political Community. An analysis of the intellectual and political evolution of Egypt, 1804-1952 (London: Harvard University Press, 1961), S. 165.

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Sympathie und Schrecken

Dennoch lassen sich diese Schriften der dreißiger Jahre nicht zwangsläufig als Abkehr vom liberalen Projekt lesen. So standen die Islambezogenen Werke dieser Jahre aus Sicht Albert Houranis durchaus in Kontinuität zum liberalen und reformorientierten Denken, das zuvor maßgeblich von Autoren wie Husayn und Haykal geprägt worden war. Im Unterschied zum Narrativ der Krise, das die dreißiger Jahre als Phase der politischen und intellektuellen Reaktion begreift, interpretierte Hourani den Rückgriff auf religiöse Themen als Versuch, die Geschichte des Islams für moderne Leser »neu zu erzählen« und damit an Lehren anzuknüpfen, die die Frühzeit des Islams für die zeitgenössische Gesellschaft bereithielt. So enthielt Husayns Prophetenbiographie nach Houranis Überzeugung vor allem auch eine zeitgenössische Botschaft: » D e r Prophet wird als Held im modernen Sinne dargestellt, [Kalif] 'Uthman als ein Symbol menschlicher Schwäche, [Kalif] "Ali als ein skrupelloser Herrscher. Die frühe Geschichte der umma wird als Kampf der Wahrheit und der Gerechtigkeit mit der Welt beschrieben - und als Versuch, die Herrschaft der Gerechtigkeit in der Welt durchzusetzen.« 39

Nicht die Rückkehr zur gesellschaftlichen Realität des 7. Jahrhunderts war aus Houranis Sicht das Ziel dieser Autoren. Vielmehr ging es ihnen darum, Traditionen herauszustellen, die dem Streben nach Gerechtigkeit in der zeitgenössischen Gesellschaft zusätzliche Legitimation gaben. Dies beinhalte auch den Versuch, traditionellen islamischen Akteuren im Ringen um gesellschaftlichen Einfluss entgegenzutreten. Die verstärkte Aufmerksamkeit, die dem Leben Muhammads und den rechtgeleiteten Kalifen beige-

39 Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939 (Cambridge: Cambridge University Press, 1983), S. 334. Siehe dazu auch Charles D. Smith, »The »Crisis of OrientationDer Feind meines Feindes ist mein Freund< bot allein keine Erklärung für diese Sympathien. Die Ideologie der beiden totalitären Regime passte zu einem Land wie Ägypten. Sie garantierte den Reichtum der Paschas und Beys, die während des Krieges riesige Vermögen anhäuften und diese zu behalten trachteten. Zugleich aber schlug der faule Zauber vom >Sozialismus