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German Pages 425 [428] Year 1987
Komparatistische Studien Band 12 Stärke, dein Name sei Weib!
Komparatistische Studien Beihefte zu „arcadia" Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Erwin Koppen
Band 12
w DE
G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1987
Stärke, dein Name sei Weib! Bühnenfiguren des 17. Jahrhunderts von Elida Maria S2arota
w G_ DE
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1987
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
CIP-Kurxtitelaufnabme der Deutschen Bibliothek Szarota, Elida Maria: Stärke, dein Name sei Weibl : Bühnenfiguren d. 17. Jh. / von Elida Maria Szarota. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. (Komparatistische Studien ; Bd. 12) ISBN 3-11-011177-2 NE: GT
ISSN 0172-9284
Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Übersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Umschlagentwurf: Rudolf Hübler
Meiner unvergessenen Mutter, der Dramatikerin Eleonore Kalkowska, zu ihrem 50. Todestag
Ein Wort des Dankes Ohne die bewundernswerte Hilfe zweier bedeutender Bibliotheken, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky Hamburg, hätte ich dieses Buch niemals schreiben können. So gilt denn mein Dank vorerst allen Bibliothekaren: dem leitenden Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Herrn Professor Dr. Paul Raabe, und seinen vorzüglichen Bibliothekaren Christian Hogrefe, Ingrid Nutz, Brigitte Jezierski und Gabriele Jockel, dem leitenden Direktor der Universitätsbibliothek Hamburg, Herrn Professor Dr. Horst Gronemeyer, Herrn Dr. Georg Ruppelt, der mir einen eigenen Arbeitsraum zur Verfügung stellte und alle meine besonderen Wünsche stets erfüllte, den unermüdlich hilfsbereiten Bibliothekarinnen der Katalog-Abteilung Petra Seidel und ihren beiden Kolleginnen, mit deren Hilfe ich meine hispanistische Literatur zusammenstellte. Mit Zärtlichkeit und Wärme erinnere ich mich der mich so beglückenden Arbeit in diesen beiden Bibliotheken. Mein persönlicher Dank gilt Frau Dr. Sabine Solf, Wolfenbüttel, die mich als erste zu diesem Buch beflügelte, Hermann Riefstahl, meinem Frankfurter Studienfreund, Darmstadt, Gotthardt Frühsorge und Peter Mortzfeld, meinen jungen Freunden und Kollegen, Wolfenbüttel, die während der letzten Monate der Fertigstellung dieses Buches meine unermüdlichen und zuverlässigsten Mitarbeiter waren. Herrn Professor Dr. Alan Soons, dem Hispanisten aus England, bin ich für seine aufmerksame und gewissenschafte Durchsicht und Korrektur meiner spanischen und anderer Texte zu großem Dank verpflichtet. Rotraud TrunzerSchmidt, mit der ich über ein Jahr vorzüglich zusammengearbeitet habe, sei hier mein wärmster Dank ausgesprochen. Dem hochverehrten Freund und Gönner meines Werkes, Dr. h. c. mult. Alfred Toepfer, Hamburg, sei an dieser Stelle mein nie versiegender Dank dargebracht. Warszawa-Wolfenbüttel, den 9. März 1987
Elida Maria Szarota
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Die Frau im Privatleben I. Gattin, Geliebte, Verlobte
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1. Die Ehegattin — Klassische Figuren a) Imogen in Shakespeares Cymbeline (1610) b) Badeloch in Vondels Gysbreght van Aemstel (1637) c) Andromaque in Racines Tragödie Andromaque (1667) . . .
9 9 18 25
2. Selbstbewußte — Selbständig handelnde Ehefrauen Hermione in Shakespeares The Winter's Tale (1611)
32 32
3. Die Geliebte Cleopatra in Shakespeares Antony and Cleopatra (1607) . . . .
40 40
4. Die Verlobte Viriate in Corneilles Sertorius (1662)
52 52
II. Er2wungene Ehen — Ein Intermezzo a) Shakespeares Tbe Taming of the Sbrew (1594) b) Shakespeares All's well that ends well (1604/05) c) Ehe als Assekuranz — Dorimene in Le mariage force (1664)
65 66 70 73
III. Die Mutter a) Gertrude in Shakespeares Hamlet (1601) b) Volumnia in Shakespeares Coriolan (1608) c) Syra, die Mutter des Mardesanes, in Rotrous Cosroes (1649) d) Die Agrippina in Lohensteins Agrippina (1665)
75 75 87 100 106
IV. Die Tochter und das Mündel
112
X
Inhaltsverzeichnis
1. Die Tocher a) Widerstand gegen den Vater — Juliet in Romeo and Juliet (zwischen 1594 und 1596) b) Die liebende Tochter in Racines Tragödie Iphigenie (1674) c) Die haßerfüllten Töchter Goneril und Regan in King Lear (1606)
112
2. Das Mündel Vorbemerkungen zu Molière a) Isabelle in Molières L Ecole des Maris (1661) b) Agnès in Molières L'Ecole des Femmes (1662)
137 137 138 140
V. Die Schwester a) Die Schwester möchte den Bruder retten — Isabell in Shakespeares Measure for Measure (1604) b) John Websters The Duchess of Malfi (1614) c) John Ford, 'Tis Pity she's a Whore (1633) VI. Geselligkeit — Preziose und Ambitiöse a) Molières Les Précieuses Ridicules (1659) b) Molières Les Femmes Savantes (1672)
112 119 129
143 143 150 157 167 167 172
Die Frau im öffentlichen Leben I. Die Frau im Beruf — Hofdame, Schauspielerin, Heilkundige, Amme a) Die Hofdame in Shakespeares Twelfth Night (1601) . . . . b) Die Schauspielerin in Rotrous Le Véritable Saint-Genest (1645) c) Die Heilkundige im Jesuiten-Drama Hildegardis Magna (1617) d) Die Amme in Shakespeares Romeo and Juliet
179 179 187 194 196
II. Im Widerstand gegen die Obrigkeit
205
1. Gegen den Mißbrauch der Macht Lope de Vega, Fuenteovejuna (1619)
205 205
2. Gegen das unmenschliche Staatsoberhaupt Lohensteins Epicharis
214 214
Inhaltsverzeichnis
III. Machtverlangen und Machtverzicht a) Lady Macbeth als Spiritus movens der Machtergreifung in Shakespeares Macbeth (1612) b) Beseitigung der Rivalen — Semiramis in Calderóns La Hija del Aire (1653) c) Kampf gegen die eigenen Söhne — Cléopátre in Corneilles Rodogune (1644) d) Machtverzicht — Rodelinde in Corneilles Pertharite (1651)
XI
220 220 226 235 242
Leiden und Leidenschaft I. Leiden 255 255 a) Casandra in Lope de Vegas El Castigo sin venganza (1631) b) Doña Mencía in Calderóns El Médico de su honra (1637) . . 264 c) Leonor in Calderóns A Secreto Agravio Secreta Venganza (1637) 272 II. Dulden a) Die Verstoßene — Katharina von Aragon in Shakespeares King Henry VIII (1613) b) Die Verlassene — Done Elvire in Molieres Dom Juan (1665)
285 285 292
III. Verzehrende Leidenschaft 298 a) Dido in Marlowes The Tragedie of Dido, Queen of Carthage (1594) 298 b) Zielscheibe unmenschlicher Intrige und rasender Eifersucht — Desdemona in Shakespeares Othello (1604) . . . . 309 c) Mariamne als Opfer krankhafter Eifersucht in Calderóns El Mayor Monstruo del Mundo (1667) 320 d) Julia in Calderóns La Devoción de la Cru% (1636) 327 e) Racines Phedre (1677) 335 f) Maßlosigkeit im Lieben und Hassen — Lohensteins Sophonisbe (1680) 348 Größe der Frau I. Heroismus der Frau Rotrous Antigone (1638)
359 359
XII
Inhaltsverzeichnis
II. Standhaftigkeit Justina in Calderöns El Mdgico prodigioso (1637) III. Selbstüberwindung Racines Esther (1689)
369 369 378 378
Nachwort
388
Literaturverzeichnis (in Auswahl)
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Namenregister
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Einleitung Die Keimzelle zu diesem Buch entstand vor über 20 Jahren, im Shakespeare-Jahr 1964. Damals wurde mir zum erstenmal ganz bewußt, welch mannigfache Rollen die Frau in seinen Bühnenwerken spielt. Aus intensiver Beschäftigung mit Shakespeare und der Shakespeare-Forschung erwuchs die erste Konzeption dieses Buches. Dann aber wurde ich durch ganz andere Aufgaben ausgefüllt, die mir keine Ruhe mehr ließen. Deren Niederschlag bilden meine Arbeiten über Lohenstein (Francke, Bern 1970) über das Drama des 17. Jahrhunderts im Francke-Verlag, Bern 1967 und 1976, sowie die mehrbändige Ausgabe der Periochen des JesuitenDramas im deutschen Sprachgebiet (Wilhelm Fink, München 1979— 1983). Es war immer mein besonderes Anliegen, eine umfassende Sicht auf die großen Phänomene und Probleme der europäischen Geistesgeschichte, insbesondere des Barock-Jahrhunderts, zu gewinnen, die maßgebenden Grundlagen und Grundwerte herauszuarbeiten, im Zusammenhang darzustellen und so ein Gesamtbild der jeweiligen Problematik zu schaffen. Im vorliegenden Buch sollte ohne aufdringliche Erklärungen, allein durch Vorführung und Beleuchtung der tragenden Gestalten, gezeigt werden, daß die Frau seit etwa vier Jahrhunderten ein eigenständiges Dasein zu führen bestrebt ist. Diese Eigenständigkeit wird von den einzelnen Frauen verschieden aufgefaßt: als Lösung vom Elternhaus, vom Ehemann, von der Familienbindung überhaupt, als neue Lebensform und Lebensaufgabe, als Kampf gegen die Tyrannei des Mannes oder der Männer, als Selbstverwirklichung ihres Wesens, das in Liebe und Anbetung des Mannes aufgeht oder das darauf beruht, daß die Frau den Mann umgarnt und ihn dann völlig beherrscht. Es ist interessant, ja aufregend, den sich langsam abzeichnenden Weg vom primitiven Mädchen, das ständig dem Mann (dem Vater, Bruder oder Ehemann) gehorcht, zur selbständigen, verantwortungsbewußten Frau zu verfolgen. Die Frage: Wer bin ich? Was will ich? Hänge ich von einem Mann ab, oder will ich mich ihm entziehen? stellen sich die jungen Mädchen immer wieder. Dieses Verlangen nach Selbstbestimmung und Eigenentscheidung ist bei den in diesem Buch auftretenden „Teenagern" sehr groß: bei Juliet, bei der Duchess of Malfi, einer sehr jungen Witwe, bei Molieres jungen
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Einleitung
Mädchen und Frauen, bei Agnès, Isabelle und bei Dorimène. Es ist wohl unleugbar, daß das Verlangen der Frau nach Selbstbestimmung in ihrem désir seine Wurzel hat, in ihrer Sexualität gegründet ist und alles andere erst danach kommt, wie die Frucht aus der Blüte hervorgeht. Dann aber, als dieser Höhepunkt im Leben des jungen Mädchens erreicht ist, kommt der zweite Schritt der Verselbständigung: Die Frau wird ein aktives Wesen, sei es in der Familie, sei es in der Gesellschaft. In der Familie hat sie die Funktion, die wir durch entsprechende Beispiele belegt haben: Ehefrau, Mutter, Tochter, Schwester. Aber ihre Rolle als Erzieherin innerhalb der Familie oder in der Gesellschaft kann wachsen und geradezu wunderbare Früchte zeitigen: in großartiger Weise in Racines Esther. Diese tritt zwar als ganz junge Frau auf, um für die Rettung ihres Volkes zu flehen; dahinter aber steht als lebendiges Bild Madame de Maintenon, die fromme Erzieherin von SaintCyr. Und Hermione in Shakespeares The Winter's Tale erscheint ebenfalls als Erzieherin, nämlich ihres Mannes. Auch Imogen in Shakespeares Cymbeline erzieht ihre Umwelt: ihre Brüder, ihren Mann und sogar ihren Vater und endlich den Wettenmacher Iachimo. Die der Überlieferung zufolge eigentliche Erzieherin ihrer Kinder, die Mutter, trägt in unseren Stücken kaum etwas zur Erziehung ihrer Kinder bei; vielmehr sind es erst die Söhne, die ihre Mütter erziehen. Hamlet erzieht Gertrude, Mardesanes Syra und Nero Agrippina, indem er sie umbringt! Hingegen ist das Verhältnis Coriolan-Volumnia ambivalent, doppeldeutig: Wer erzieht wen? Ich glaube, Coriolan möchte Volumnia erziehen, aber Volumnias Erziehungsversuch kostet ihn sein Leben. Während sich die Brüder oft als Erzieher aufspielen, ohne es zu sein, sind die Schwestern oft die Erzieherinnen ihrer Brüder. In Measure for Measure erzieht Isabell ihren Bruder, wenn auch nur Schritt für Schritt. In Websters The Duchess of Malfi ist hingegen der Versuch der Herzogin, ihre Brüder zu erziehen, völlig fehlgeschlagen. Es gibt also für die Frau in allen Formen und Abarten der Liebe Selbstverwirklichung; aber nicht ausschließlich in der Liebe — im Lieben und Geliebtwerden —, sondern auch im energischen Nein, womit die Frau dem Mann eine Abfuhr erteilt. Nicht nur, bevor es überhaupt zum Liebesakt kommt — das ist der häufigste Fall —, sondern später, während einer sich in die Länge ziehenden Liebesverbindung, die plötzlich und brutal unterbrochen wird, entweder weil den Mann unvermutet die Eifersucht plagt und die Frau sich seine Szenen keineswegs gefallen läßt, oder weil der Mann ein Zeichen am Körper der Geliebten entdeckt, das ihn zur Flucht treibt, wodurch sie, die plötzlich Verlassene, rasend wird vor
Einleitung
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Liebesverlangen und, um Rache für ihr Schicksal zu üben, zu morden und alles zu zerstören beginnt. Schließlich gibt es noch Fälle — und zwar recht häufige — wo sich die Familie plötzlich einmischt und die Liebenden gewaltsam und ohne einen Hauch von Menschlichkeit trennt. Hier kommt das Nein von der Familie, anderswo von der Frau selber, die von der grotesken Eifersucht des Mannes beleidigt ist oder auch von seiner ihr unverständlichen Flucht, seinem Versagen, zutiefst gekränkt wird. Es gibt tatsächlich genug Gründe für die Frau, sich dem Schänder und Verächter der weiblichen Ehre und des weiblichen Stolzes zu verweigern. Und das Nein ist die stärkste Waffe der Frau, dem Dolch des Mannes vergleichbar. Die Texte, die ich zur „Frau im Beruf" zusammengestellt habe, zur Hofdame, Schauspielerin, Heilkundigen und Amme, zeigen die Frau als weiblichen Eroberer, in einer neuen Dimension. Wenn wir uns diejenigen Frauen hinzudenken, die zwar in den Stücken unseres Buches kaum vorkommen, die jedoch faktisch durchaus berufstätig — nämlich als Schriftstellerinnen und Dichterinnen — hervortraten — nur Molieres Femmes Savantes vermitteln uns eine Vorstellung ihres Berufs —, und wenn wir die anonymen Stickerinnen von Gobelins und die Malerinnen bedenken, dann ist das Augenmerk, das ich auf die „Frau im Beruf lenken wollte, wohl berechtigt. Man muß sich die Besitznahme immer wieder neuer Gebiete durch die Frau etwa so denken: Sie steht mitten in einem Kreis und zerteilt ihn in Sektoren, die in ihrer Gesamtheit die Welt bedeuten. Der erste Sektor ist die Liebe zum Mann, den die Frau selber wählt und sich nicht von den Eltern oder der übrigen Familie aufzwingen läßt. Ihr erster Schritt zur Selbständigkeit ist also die persönliche Wahl des Ehepartners. Dem privaten Sektor der Gattenwahl folgt die zunehmende Bedeutung des Berufs für die Frau. Daran schließt sich folgerichtig derjenige Sektor an' auf dem die Frau das politische Leben mitbestimmt. Dieser räumt ihr innerhalb der Gesellschaft und des Gemeinwesens einen besonderen Rang ein. Hier erreicht die Frau einen Grad und eine Qualität der Selbstverwirklichung, den sie im Lauf der vorausgegangenen Jahrhunderte nur in den seltensten Fällen erreicht hatte. Es geht nicht um die Existenz solcher Frauen in der Wirklichkeit, sondern darum, daß sie nun in dieser Rolle auf der Bühne erscheinen und dadurch das Selbstbewußtsein der Zuschauerinnen heben — es sei denn, daß diese durch eine konservative Erziehung solchen autonomen Frauen von vornherein ablehnend gegenüberstehen. Außer den in meinem Buch ins Rampenlicht tretenden Frauen wie Laurencia in Fuenteovejuna und Epicbaris erschienen auf den europäischen Bühnen Jeanne d'Arc — in einem lateinischen Stück des Luxem-
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Einleitung
burgers Vernulaeus —, Judith, die Holofernes tötete, in einem Drama von Avancini, und man denke auch an die zahlreichen SophonisbeFiguren in Italien, Frankreich, England, die ihr Land retten möchten (wir druckten hier als Beispiel eine Analyse des Trauerspiels von Lohenstein ab). Alle die hier aufgeführten Frauen kämpften gegen den Mißbrauch der Macht, gegen die Eindringlinge in ihr Land, gegen die Feinde ihres Volkes. Die herrschsüchtige Frau ist so recht ein Thema des Barock, und so findet diese auch eine mannigfaltige Gestaltung in unserem 17. Jahrhundert. Diese Frauen treten nicht immer als Hauptfiguren auf (wie Lady Macbeth oder gar Semiramis), sondern auch als Zweitfiguren von überdimensionaler Größe. Agrippina in Racines Britanniens wirkt monumentaler als Nero, erst recht als der Titelheld; wir geben dem Trauerspiel Lohensteins den Vorzug, weil sich hier ihre Herrschsucht deutlich mit der Sohnesliebe, dem Inzest, paart, von dem bei Racine keine Rede ist. Je mehr Motive verkoppelt sind, desto aufreizender die Wirkung. Auch Viriate, die Verlobte des Sertorius in der Tragödie Corneilles, will herrschen, wird herrschen. Überhaupt sind gerade Corneilles Frauengestalten zum Herrschen geboren, zum Geliebtwerden bestellt — um einen Goethevers zu modifizieren. Allerdings haben die Forscher zu wenig auf den Unterschied zwischen konformistischer Haltung der Frauen und der Suche nach einem selbständigen Weg der nicht so zahlreichen, aber weit interessanteren Frauen geachtet. Selbstverständlich liegt schon in der Wahl des Berufs ein Kriterium für den Typus Frau, mit dem man es zu tun hat, ob mit dem „klassischen" oder dem „modernen", dem zur Emanzipation neigenden oder sie gar verwirklichenden. Vom emanzipatorischen Stadium aus steigt die Frau immer höher hinauf. Der Beruf ist ihr nun nicht mehr das einzige Mittel der Verselbständigung, sondern eines der Mittel. Denn nun greift sie des öfteren ins öffentliche Leben ein und spielt eine bedeutende Rolle darin. Eine geradezu heroische Rolle verkörpern Antigone, Esther, Laurencia, auch die Märtyrerinnen sind und waren Heroinen; da ich jedoch diesen vor ca. 20 Jahren ein besonderes Buch gewidmet habe („Künstler, Grübler und Rebellen"), spreche ich im vorliegenden nur von Calderons Justina. Der nächste Schritt auf dem Höhenflug der Frau ist ihr Machtverlangen und dessen Verwirklichung, in nicht vielen Fällen allerdings. Ihr Prototyp ist Lady Macbeth (wenn auch nicht unbedingt, da sie die Macht im wesentlichen für ihren Mann anstrebt), aber man sollte auch diejenigen Frauen dazunehmen, die die Macht für ihre Söhne oder ihren Sohn beanspruchen, um später, sei es mit ihnen, sei es ohne sie, regieren zu
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können. Zu ihnen gehört „The Queen" in Shakespeares Cymbeline, Syra in Rotrous Cosroès, Agrippina bei Racine und Lohenstein. So ist das Machtgelüste der Frau durchaus kein Sonderfall, sondern ein verbreitetes Phänomen, das v o m Ende des 16. Jahrhunderts an bei den weiblichen Bühnenfiguren Europas in Erscheinung tritt. Was im ersten Teil dieser Einleitung vorgestellt wurde, deckt sich nicht in allen Punkten mit dem Inhaltsverzeichnis und dem Inhalt unseres Buches. In diesem versuche ich, einen Weg von der kleinsten Zelle der Gesellschaft, der Familie, und den Funktionen ihrer einzelnen Mitglieder bis hin zur Ausstrahlung der Frau auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens nachzuzeichnen, während hier, in der Einleitung, unter Ausklammerung der Familienprobleme und -konflikte ausschließlich der Weg angedeutet wird, den die Frau als Individuum auf ihrer Suche nach Verselbständigung und Eigenständigkeit zu durchlaufen hat, bis sie endlich ihr hohes Ziel erreicht, im Weltgeschehen ihre unauslöschbaren Spuren zu hinterlassen. „Es kann die Spur von ihren Erdentagen Nicht in Äonen untergehn". Beide Ausgangspunkte begegnen sich allerdings in der Mitte, und zwar dort, wo die Frau vorerst im Beruf ihren autonomen Weg betritt. Es ist zu beachten, daß England bei den emanzipatorischen Bestrebungen der Frau v o m Ende des 16. Jahrhunderts an das führende und absolut vorwärtsweisende Land war, während in Frankreich — ausgenommen Molière — die Emanzipationsbestrebungen durch die Konstanten der französischen Gesellschaft, den Hang zur Klassik, zur Tradition, zum Konservatismus in ihre Schranken gewiesen wurden. Diese Linie wird auch von den Niederländern mit ihrem Haupt-Repräsentanten Vondel adoptiert. Die Spanier stehen durch ihren langen Kampf gegen die Mauren nicht mitten in der europäischen Tradition, sondern folgen einer Sonderentwicklung; sie bilden eine Randerscheinung von hohem künstlerischen Wert, oft dynamisch, oft arabeskenartig, oft grausam, manches Mal malerisch. In Deutschland ist der Typus der großen, heroischen Frau erst spät, nämlich bei Lohenstein, entwickelt. Unter den Märtyrerinnen ragt die Catharina von Georgien des Andreas Gryphius hervor, über die ich an anderer Stelle geschrieben habe. Hätten wir mehr vollständig erhaltene Stücke der deutschen Jesuiten, würden wir gewiß noch einige Heroinen — außer Judith von Avancini oder der Jephtias von Jacob Balde — bewundern können. Seltsamerweise sind die großen Liebenden der Deutschen kaum auf der Bühne zu sehen. Man ist in Deutschland gezwungen, zum Répertoire
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Einleitung
des englischen, französischen und spanischen Theaters zu greifen. Dort feiern sie allerdings oft eine bewundernswerte Wiedergeburt. Eine letzte Bemerkung zu meinen Zitaten aus Fremdsprachen. Ich bringe die Texte, die ich zitiere, immer zweisprachig. Shakespeares Texte gebe ich in der Übersetzung von A. W. Schlegel und Tieck, Marlowes Dido und John Fords 'Tis pity in der Übersetzung von Friedrich von Bodenstedt, zum Teil in meiner eigenen; Racines Andromaque bringe ich in der Übertragung von Dora von Gagern (Wien 1884), Racines Phèdre in derjenigen von R. A. Schröder, Iphigénie und Esther in meiner Prosaübersetzung. Die Texte von Corneille und Rotrou habe ich ebenfalls in Prosa übersetzt. Die Texte von Molière erscheinen in den Übersetzungen der Sämtlichen Werke (Propyläen-Verlag 1911 — 1921) von Reinhard Koester, Margarethe Beutler und Eugen Neresheimer (der Dom Juan). Die Übersetzungen spanischer Texte stammen von J. D. Gries, M. Kommereil, Gürster und Adolf Martin (1844), im Notfall von Hans Schlegel; Vondel habe ich mit Hilfe von Cornelia Moore übersetzt.
Die Frau im Privatleben
I. Die Gattin, Geliebte, Verlobte 1. Die Ehegattin — Klassische Figuren a) Imogen in Shakespeares Cymbeline (1610) Unter klassischen Figuren verstehe ich Frauen, die am Leben ihres Mannes in einem Maße teilhaben, daß er nichts ohne ihr Wissen und ihr Einverständnis unternimmt und beide ihr Leben gemeinsam gehen. Ein solcher Weg mag durch äußere Umstände unterbrochen werden, nichtsdestoweniger gehören sie aufs engste zusammen, sind einander zugeordnet, bilden eine Einheit, wie zum Beispiel Boot und Ruder eine Einheit bilden. Diese klassische eheliche Verbindung beruht meistens auf einer Verwandtschaft der Naturen, der Geister und der Seelen; sie kann auch auf der gemeinsamen Liebe zu einem Dritten (einer Kunst, einer Erkenntnis, einem Ziel oder ihrem Kind), einer gemeinsamen Aufgabe, einem gemeinsamen Werk beruhen. Je mehr Gemeinsamkeit, desto tiefer die Bindung, desto vollkommener die Ehe, desto klassischer ihre Form. Eine solche Ehe wird gefestigt durch ein absolutes Vertrauen zueinander, das in dem festen Glauben gründet, durch Gott oder ein Schicksal verbunden zu sein. Gerät dieses Vertrauen ins Wanken, wird es sehr schnell wiederhergestellt. Diese Ehen empfinden die Betroffenen, aber auch die Außenstehenden als etwas Unantastbares, Heiliges. Die durch die Ehe verbundenen Menschen bleiben von den Versuchen der Umwelt, sie zu trennen, innerlich unberührt und finden nach der ihnen aufgezwungenen Trennung schnell wieder zueinander, sobald der kairos gekommen ist. — Werden solche Ehen durch den Tod getrennt, bleibt dennoch eine feste Bindung bestehen, eine Treue über das Grab hinaus. Imogen, die Tochter des britischen Königs Cymbeline, eines Zeitgenossen des Kaisers Augustus, ist eine der liebenswertesten Frauengestalten Shakespeares. Cymbeline ist 1610 entstanden und sollte mutmaßlich bei den Feierlichkeiten zur Investitur des Prinzen Heinrich als Prinzen von Wales aufgeführt werden1. An den Prinzen Heinrich knüpfte das britische Königshaus und ganz England große Hoffnungen, und so liegt auch über Guiderius und Arviragus, den vorerst unerkannten Söhnen Cymbeli1
Vgl. Robert Speaight, Shakespeare, The man and his achievement, London 1977, S. 337.
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
nes, der Hoffnungsstrahl, der schließlich das zuerst so düstere Stück erhellt. Um die Gleichung sofort verständlich zu machen, stellt Shakespeare wohl die Kinder Cymbelines in die Konstellation der Nachkommen James' I: zwei Söhne und eine Tochter2. Das Stück, das so hoffnungsvoll endet, läßt das frühe Hinscheiden des Prinzen Heinrich (1612) noch nicht ahnen. Die Struktur von Cymbeline ist äußerst kompliziert: mehrere Motive sind übereinander gelagert, verzahnen sich, werden dann wieder fallen gelassen, bis schließlich am Ende ein überschaubares Netz von Beziehungen und Zusammenhängen vor uns liegt. Muriel Clara Bradbrook spricht von einem „triple-centred play" 3 : Imogen und ihre Brüder gehören der Romanze an, Lucius der römischen Geschichte, Iachimo manchmal der satirischen Komödie der jacobinischen „city sharks"4. Aber bei dieser Dreiteiligkeit wird die Rolle der Queen und Clotens vergessen. Das Ausgangsmotiv von Cymbeline ist nämlich der Haß der zweiten Frau König Cymbelines, der Queen, gegen ihre Stieftochter Imogen, die Tochter Cymbelines aus erster Ehe. Sie haßt das Kind ihres Mannes aus erster Ehe naturaliter, aber überdies materialiter, weil sie in Imogen die Erbin sieht, die ihre eigenen Zukunftspläne durchkreuzt. Sie möchte das Imogen zustehende Erbe auf ihren Sohn Cloten übertragen. Sie ist eine wicked woman par excellence; Bradbrook nennt sie Wicked Fairy 5 . Das Verhältnis von Vater und Tochter unterscheidet sich sehr von dem zwischen King Lear und seinen bösen Töchtern. In King Lear unversöhnlicher Haß bis zuletzt, in Cymbeline, diesem auf Versöhnung ausgerichteten Stück, wandelt sich das Haß-Verhältnis nach vielen Wechselfallen, Mißverständnissen und Prüfungen allmählich zu einer gesunden Vater-Tochter-Beziehung — allerdings erst, als der Stein des Anstoßes, die Intrigantin des Stücks, die Queen, nach qualvollen Leiden gestorben ist und die natürliche Ordnung zwischen Vater und Tochter wiederhergestellt werden kann. In Cymbeline spielt die Geschwisterliebe zwischen Guiderius, Arviragus und Imogen eine besondere Rolle. Hier fassen wir die wallisischen Akzente, die Arthur-Tradition gleichsam mit Händen6. Die Geschwister 2
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Vgl. Frances A . Yates, Shakespeare's Last Plays: A New Approach, London 1975, S. 48 f. Sie beruft sich auf Emrys Jones: „Shakespeare gives him t w o sons and a daughter, corresponding to James' actual family". M.C. Bradbrook, The Living Monument, Shakespeare and the Theatre of bis Time, Cambridge University Press, 1977, S. 196. Ebenda S. 197. Ebenda S. 195. Vgl. dazu Bradbrook, S. 199 f.
Imogen in Shakespeares
„Cymbeline"
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kommen aufeinander zu, ohne zu wissen, wer sie sind, erkennen einander intuitiv als Wesen höherer Art und Bestimmung, als Menschen von königlichem Geblüt. Sie haben keinerlei Mißtrauen gegeneinander; wenn ihnen jedoch ein Unwürdiger begegnet, wie der „hateful Cloten", dann erkennen sie ihn sofort als den minderwertigen Menschen, mit dem sie nichts zu tun haben wollen, als einen, den sie beiseite schaffen müssen, damit er ihre Kreise nicht störe. Die Wette zwischen Iachimo und Posthumus Leonatus, dem verbannten Gatten Imogens, soll den Kontrast zwischen Briten und Italienern verdeutlichen7. Die Gegenüberstellung fallt natürlich zugunsten der Briten aus. Die Wette kommt zustande, als der verbannte Posthumus seine Frau Imogen über alles rühmt und Iachimo ihm keinen Glauben schenkt. Posthumus geht die Wette mit Iachimo ein, weil er der Treue Imogens absolut sicher ist. Durch verschiedene gemeine Schliche und Betrügereien versucht Iachimo zu beweisen, daß Imogen ihren Mann betrügt. Diese Geschichte hatte Shakespeare mutmaßlich in einer französischen Übersetzung von Boccaccios Decamerone gefunden. Es handelt sich um die 9. Novelle des 2. Tages. Außerdem scheint es, daß Shakespeare noch die ursprünglich deutsche, später niederländische und englische Überarbeitung der Geschichte, Frederjke von Jennetfi, benutzte und beide Erzählungen kontaminierte9. Während bei Boccaccio und in Frederjke von Jemen der perfide Verleumder und Missetäter zum Tode verurteilt wird, kommt Iachimo, der versöhnenden Tendenz des Stücks entsprechend, mit heiler Haut davon10. M.C. Bradbrock sieht in der „Wager Story" dramatische Ironie11. Ich persönlich sehe in dieser Wette einen Fremdkörper, der gar nicht zu diesem Thema paßt, Imogen beleidigt, Posthumus — besonders wegen der Folgen — ein schlechtes Zeugnis ausstellt, so daß Robert Speaight sagen konnte: „Posthumus represents this soundness to a certain degree, although even with him it is not unflawed" 12 . Die Geschichte paßt ausgezeichnet in das Klima des Decamerone, aber gar nicht zu der Aura Imogens und ihres trefflichen Posthumus. Wie hätte der Gatte Imogens es zulassen dürfen, daß seine Frau das Objekt einer Wette wurde, ein 7
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Robert Speaight weist darauf hin, daß Rom und Italien in diesem Stück streng geschieden sind (I.e. S. 343). Abgedruckt in der Arden Shakespeare-Ausgabe von Cymbeline, S. 191—204. Vgl. dieselbe Ausgabe, Introduction, c. X X I I - X X I V . Vgl. zu diesem Fragenkomplex W. F. Thrall, Cymbeline, Boccaccio, and tbe Wager Story in England, Studies in Philology 28, 1931, S. 6 3 9 - 6 5 1 . Vgl. M.C. Bradbrook, S. 202. Robert Speaight, S. 342.
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Die Gattin, Geliebte,
Verlobte
frecher junger Mann ihre Ehrbarkeit in Frage zu stellen wagte, schon ganz von der Ausführung der Verifizierung zu schweigen, die sich Iachimo anmaßt? Ich verstehe nun auch, warum dieses Stück trotz der wunderschönen Gestalt Imogens so selten aufgeführt wurde; die Szene im Bedroom Imogens mußte das feinere Publikum schockieren, besonders die Damen der aristokratischen Gesellschaft. Ich möchte behaupten, daß die „Wager Story" der unumstößliche Beweis dafür ist, daß Shakespeare einen Mitarbeiter hatte, den er einfach gewähren ließ. Aber dieser hatte weder Shakespeares künstlerische Sichtweise, noch sein wunderbares Feingefühl, noch sein Einfühlungsvermögen in Menschen wie Imogen. Imogen! Sie ist unser zentrales Thema, unsere Frage, unsere Liebe. Welches ist ihr Charakter, ihr Wesen? Robert Speaight ordnet sie der Welt der Vögel zu, ihr Element sei die Luft 13 . Aber mir persönlich scheint das nicht den Kern ihres Wesens zu treffen — trotz aller Bird-Imagery, die sie gebraucht oder die man heranzieht, um sie zu fassen. Imogen ist ein irdisches Wesen höherer, ja höchster Art. Sie wirkt nicht wie „a piece of tender air"14; wäre sie das, würde sie gar schlecht zu einem Krieger wie Posthumus passen, wären nicht Cloten, Iachimo und Shakespeare selber so sehr von ihr angezogen worden. Auf die Frage, welches ihre Stelle in diesem Stück ist, lautet die unwiderrufliche Antwort: „here it is the princess who takes the centre of the stage ..."15. Und obwohl sie das geistige und emotionale Zentrum von Cymbeline ist, ist sie, solange sie am Hofe ihres Vaters ist, entsetzlich allein. Sie muß neben ihrem rücksichtslosen Vater und ihrer gehässigen Stiefmutter leben, fern von ihrem geliebten Posthumus Leonatus, den ihr Vater in die Verbannung geschickt hat, weil er Imogens Herz umklammert hielt. Die Menschen am Hofe hassen sie alle, auch Cloten, obwohl sein Haß eine Haßliebe ist: „I love and hate her, for she's fair and royal ..." (III. v. 71—75). Die ihr natürlich zugeordneten Brüder Guiderius und Arviragus leben von ihr ungekannt in einer Höhle in Milford-Haven in Wales, wohin sie als Knaben entführt wurden. Durch die Heraufbeschwörung von MilfordHaven sollte die Verankerung des Stücks in Wales betont werden, „the Welsh Vocation"16.
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Derselbe S. 340. Ebenda. M.C. Bradbrook, S. 195. Vgl. Speaight S. 339; Frances A. Yates, die sich auf Emrys Jones, „Stuart Cymbeline" in Essays in Criticism II, 1961, beruft, bemerkt dazu: „It was there that Henry VII landed, the Tudor ancestor of James I, the ancestor through whom he could be connected with the Tudor mythology of the descent from Trojan Brut" (S. 50).
Imogen in Shakespeares
„Cymbeline"
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Imogens Denken kreist ständig um Posthumus Leonatus, ein intensives, insistierendes Denken, das ihr ihr Ziel, ihn wiederzugewinnen, unablässig vor Augen hält. Dieses Denken kennt keine gewundenen Umwege, keine Lücken, ein Gedanke folgt notwendig aus dem andern bis zur Schlußfolgerung. Und so ist auch ihr Tun und Handeln: bewußt und folgerichtig, nach einer inneren, unbeirrbaren Stimme, die ihr zuflüstert, sie sei auf dem richtigen Weg. Deshalb kann sie, ohne zu zögern, in Männerkleidern fliehen, als das Leben in der unmittelbaren Nähe der Stiefmutter völlig unerträglich wird, und an einen Ort, wo ihr Rettung winkt. Auch in der Höhle angelangt, in der Belarius und ihre noch unerkannten Brüder leben, weiß sie, wie sie sich verhalten, wie sie handeln soll. Ihre innere Stimme ist unüberhörbar. Imogen ist zurückhaltend, aber freundlich, drängt sich den Höhlenbewohnern nicht auf, weiß aber genau, daß sie dort in sicherer Hut ist, begegnet ihnen mit Vertrauen und Liebenswürdigkeit, ein geheimes Band der Sympathie führt von ihr zu ihnen, von ihnen zu ihr. Wie aber erträgt sie die ihr von Cymbeline auferlegte Trennung von Posthumus Leonatus? In der langen Trennung der Liebenden fassen wir eine der tragischen Situationen Shakespearescher Dramatik und Dichtung überhaupt17, die uns seine zutiefst tragische Weltsicht erkennen läßt. Denn ein solches Getrenntsein verdeutlicht jenes französische „partir, c'est mourir un peu", das heißt, daß es die Idee des Todes zu jeder Stunde ahnen läßt und vergegenwärtigt. Trotzdem nimmt Imogen diese Trennung gelassen auf sich, weil sie davon überzeugt ist, daß Posthumus, dieser treffliche Mann 18 , unbedingt zu ihr gehört und, ob anwesend oder abwesend und sogar meilenweit von ihr entfernt, für alle Ewigkeit zu ihr gehört. Von ihm kann sie nichts trennen, weder der Zorn des Vaters, noch Länder und Meere — und auch keine gemeine Verleumdung. Die Wette, die Posthumus Leonatus mit Iachimo eingeht, wäre sie nie eingegangen. Man hätte ihr erzählen und weismachen können, was man wollte, Imogen hätte niemandem je Glauben geschenkt. In ihr ist tiefes und tief verankertes Vertrauen zu ihrem Mann, ein unerschütterlicher Glaube, eine felsenfeste Gewißheit. Und auch als ihr Mann einen eigentlich unverzeihlichen Fehler begeht und dem Verleumder Iachimo Glauben schenkt, auch dann zweifelt sie nicht an ihm, grollt ihm nicht, macht ihm keine Vorwürfe, keine Szenen, sondern vergibt ihm großmütig und wartet 17 18
Vgl. Speaight S. 90: „Absence is a recurring motif of the Sonnets". Zu „dieser treffliche Mann" bemerkt Speaight: „Wir müssen ihr das glauben", „because Shakespeare has failed to bring him alive" (S. 339). Trotzdem konnten einige überzeugende Worte von ihm angeführt werden.
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
geduldig, bis er reumütig wiederkommt. Und daß diese Stunde kommen würde, daran zweifelt sie keinen Augenblick. Imogen handelt in jeder Minute ihres Lebens nach ihrem inneren Gesetz und ihrem eigenen freien Willen. Ihr oberstes Gesetz ist, überall und immer der Stimme ihres Herzens zu folgen. So hat sie trotz aller Widerstände ihres Vaters den Mann geheiratet und hat dem die Treue gewahrt, für den sie sich von Anfang an entschieden hatte. Und Posthumus ist ihrer würdig; er ist von gleichem Schrot und Korn wie sie: I will remain The loyal'st husband that did e'er plight troth. My residence in Rome ... thither write, my queen, And with mine eyes I'll drink the words you send, Though ink be made of gall. (Act I, sc. ii, v. 2 6 - 3 2 ) Ich bleib' auf ewig Der treuste Gatte, der je Treu' gelobte. In Rom nun wohn' ich. ... dorthin schreibe, Und mit den Augen trink' ich deine Worte, Ist Galle gleich die Tinte. Und als sie ihm einen Diamanten ihrer Mutter schenkt und ihm empfiehlt, ihn bis zu seiner nächsten Ehe nach ihrem Tode zu bewahren, braust er auf: Imogen But keep it till you woo another wife, When Imogen is dead. Posthumus How how? Another? You gentle gods, give me but this I have, And sear up my embracements from a next With bonds of death! Remain, remain thou here, While sense can keep it on ... (Putting on the ring) (Act I, sc. ii, v. 44— 49) Imogen Bewahr' ihn, bis ein andres Weib du frei'st, Ist Imogen gestorben
Imogen in Shakespeares
„Cymbeline"
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Posthumus Wie! ein andres? — Ihr Götter laßt mir die nur, die ich habe, Und wehrt mir die Umarmung einer andern Mit Todesbanden! Bleib', o bleibe hier, So lang' hier Leben wohnt! (er steckt den Ring an) Endlich kommt nach langer Trennung von Posthumus die Zeit für ihre Bewährung. Sie folgt dem Rat ihres treuen Dieners Pisanio und flieht in Männerkleidung nach Milford-Haven, wo sich, wie man ihr verspricht, Posthumus aufhalten wird. Hier beginnt die dritte Etappe ihrer Zusammengehörigkeit mit Posthumus. Die erste — das sei dem Leser ins Gedächtnis gerufen — hatte sie am Hof ihres Vaters vor Posthumus' Verbannung verbracht; die zweite während der Verbannung, die durch die Wette mit Iachimo besonders qualvoll war. Jetzt aber, während der dritten Etappe, wächst sie täglich mehr über sich selber hinaus. Zuerst gewinnt sie die Sympathie ihrer noch unerkannten Brüder Guiderius und Arviragus, danach die des Pflegevaters der Brüder, Belarius. Sie geht mit ihnen ein Bündnis ein, es ist eine Art „entente tacite", die sie empfinden, aber nicht beim Namen nennen. Als Guiderius ihrem Hauptfeind, dem hateful Cloten, das Haupt abschlägt, ahnt sie, daß er einer göttlichen Eingebung gefolgt ist. So wird in Milford-Haven der Grundstein zu einer hoffnungsfrohen Zeit gelegt, in der es keine Queen, keinen Cloten mehr geben wird und Cymbeline selber ein anderer sein wird. Später werden die beiden Brüder im Krieg gegen die römischen Eroberer eine bedeutende Rolle spielen und die Briten von ihnen befreien. Imogen ist nicht nur treu und beständig, sie gehorcht nicht nur der unmißverständlichen Stimme ihres Herzens, sie ist auch überaus mutig, ja kühn und schnell entschlossen, wo es zu handeln gilt. Das ist vielleicht ihr hervorstechendster und bewundernswertester Zug. So ist sie mutig in dem Gespräch mit Cloten in Akt II, Sc. iii: Imogen ... and learn now, for all, That I, which know my heart, do here pronounce, By th' very truth of it, I care not for you, And am so near the lack of charity (To accuse myself) I hate you: which I had rather You felt than make't my boast (II, iii, v. 105-109) Imogen ... Ein für Alle mal, Ich, die mein Herz geprüft, beteure hier
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
Bei dessen Treu', ich frage nichts nach euch; Und bin fast so der Nächstenlieb' entfremdet (Ich klage selbst mich an), daß ich euch hasse; Fühltet ihr's lieber, braucht' ich mich nicht dessen Zu rühmen. Und als Cloten ihren geliebten Posthumus in gemeiner, niederträchtiger Weise beleidigt, anwortet sie stolz und im tiefsten betroffen: Profane fellow, Wert thou the son of Jupiter, and no more But what thou art besides, thou wert too base To be his groom: Thou wert dignified enough, Even to the point of envy, if 'twere made Comparative for your virtues to be styled The under-hangman of his kingdom; and hated For being preferr'd so well. ... He never can meet more mischance than come To be but nam'd of thee. His mean'st garment, That ever hath but clipp'd his body, is dearer In my respect, than all the hairs above thee, Were they all made such men. (ebd. v. 1 2 3 - 1 3 5 ) Verworfener Mensch! Wärst du der Sohn des Zeus, und sonst so, wie Du jetzt bist, wärst du doch zu niederträchtig Sein Knecht zu sein; hoch wärest du geehrt (Selbst um den Neid zu wecken, schätzte man Euch beide nach Verdienst), würd'st du ernannt In seinem Reich zum Unterbüttel; und Gehaßt für unverdiente Gunst. Kein größer Unheil kann ihn treffen, als Von dir genannt zu seyn. Das schlechtste Kleid Das je nur seinen Leib umschloß, ist teurer Für mich als alle Haar' auf deinem Kopf, Wär' jedes solch ein Mann. Imogen zeigt hier Cloten ihre vollkommene Verachtung und läßt ihn ihre absolute Überlegenheit spüren. Und sie ist kühn, ja geradezu verwegen,
Imogen in Shakespeares „Cymbeline"
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als sie es wagt, nach Milford zu fliehen, obwohl sie genau weiß, daß sie dadurch den unüberwindlichen Zorn ihres Vaters auf sich ziehen wird. Aber so dunkel auch die Wolken sind, die sich immer wieder über Imogens Schicksal zusammenziehen, das Stück endet versöhnlich. Dieser Gedanke muß hier untermauert und aus der christlich-optimistischen Weltsicht der letzten Schaffensjahre Shakespeares erklärt werden. Yates hat mit vollem Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Shakespeare Cymbeline zu seinem Titelhelden wählte, weil dieser nach der Chronik Holinsheds und der History of the Kings of Britain von Geoffrey of Monmouth zur gleichen Zeit regierte wie Kaiser Augustus. Seine Regierung verknüpften Shakespeare und seine Zeitgenossen wie auch schon das Spätmittelalter mit dem Beginn einer friedlichen Zeit, der Pax Romana, da sie mit der Geburt Christi zusammenfiel. Bekanntlich wurde die IV. Ecloge Vergils auf die Geburt des göttlichen Kindes, nämlich Christi gedeutet. Diese Interpretation paßt so ganz in Shakespeares Denken um 1610 hinein und wird seinem Spätwerk Cymbeline — wenn auch nicht expressis verbis — so doch in der Sache, zwischen den Zeilen, nutzbar gemacht und wird, so könnte man sagen, zur tragenden Säule eines Werks, das das Prinzip Hoffnung verkündet und aus ihm seine künstlerische und weltanschauliche Wirkung bezieht. So wird hier am Ende des Stücks eine Zeit nahenden Friedens angekündigt, die auf die Zeit der römischen Kriege und Bürgerkriege folgen würde, ein goldenes Zeitalter, auf das auch Shakespeare in den letzten Lebensjahren für sein eigenes Land hoffte. Der historische Cymbeline wird bereits von Spenser in der Faerie Queene genannt; die entsprechenden Verse werden des öfteren auch heute in der Sekundärliteratur zitiert, so in der Arden Shakespeare-Ausgabe19, bei Frances Yates20 und anderen: Next him Tenantius raigned, then Kimbeline What time th' eternall Lord in fleshly slime Enwombed was, from wretched Adam's line To purge away the guilt of sinful crime: O joyous memorie of happy time, That heavenly grace so plenteously displayed; (O too high ditty for my simple rime.) Soon after this the Romanes him warrayed; For that their tribute he refused to let be payd. 19 20
S. Introduction der Arden Shakespeare Ausgabe zu Cymbeline S. XIX. Frances A. Yates, S. 42.
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Nach ihm herrschte Tenantius, dann Kimbeline Zu der Zeit, als der ewige Herr in fleischigem Schleim Im Mutterleib lag, um von dem elenden Adamsstamm Die Schuld des Sündenfalls zu sühnen; O freudige Erinnerung an die glückliche Zeit, Als himmlische Gnade sich so freigebig zeigte; [o allzu hohes Lied für meinen einfachen Reim.] Kurz danach bekriegten ihn die Römer, Weil er sich weigerte, ihnen Tribut zahlen zu lassen. Der historischen Überlieferung zufolge21 war Imogen die Frau des trojanischen Vorfahren der britischen Könige, Brut, woran Spenser in der Faerie Queene erinnert22. Die britische Beziehung zu Troja führt uns ihrerseits zu einer anderen Troja-Tradition, der französischen, die ihren ersten sagenhaften König Francus aus Troja stammen läßt. So besteht eine geheime Beziehung zwischen den Frauengestalten verschiedener Kulturkreise: In ihnen wird oft nach einem „Ursprung" welthistorischer Art gesucht, sie wollen an eine ehrwürdige Tradition anknüpfen. Das gilt insbesondere von den Tragödien Vondels De Amsteldamsche Hekuba und von Gysbreght van Aemstel, von Racines Andromaque wie schon vom Cjmbeline Shakespeares. b) Badeloch in Vondels Gjsbreght van Aemstel (1637) Badeloch, die Frau Gysbreghts van Aemstel — die erst Anfang des dritten Akts auf der Bühne erscheint — wird nicht wie Imogen von ihrer Stiefmutter verfolgt, nicht von ihrem Vater tyrannisiert und nicht mit Gewalt von ihrem Mann getrennt. Ihr Leben erscheint unkompliziert und ungetrübt, es wird nicht durch Konflikte und Spannungen beunruhigt, menschliche Niedertracht begegnet ihr kaum, sie genießt den inneren Frieden, den ihr die harmonische Ehe mit Gysbreght, einem Mann ganz nach ihrem Sinn, gewährt, sie erfreut sich der Sicherheit, deren sie bedarf, um zufrieden und in Übereinstimmung mit Gott und der Welt leben zu können. Ja sogar die Belagerung Amsterdams, die die Bewohner der Stadt (bis Ende des zweiten Akts) bedrückte, scheint aufgehoben zu sein. Da aber bricht das Unglück über Amsterdam herein und reißt Badeloch aus ihrer Ruhe, trübt ihr bescheidenes Glück, ja droht es zu zerstören. 21
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G e o f f r e y of Monmouth, The History of the Kings of Britain, übs. von Lewis Thorpe, Penguin Books 1966, S. 1 1 9 , nach Yates, Note I und Holinshed. Frances A. Yates, S. 49 und dazu Anm. 16: Faerie Queene II, x, 13.
Badeloch in Vondels „Gysbreght van
Aemstel"
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Der Feind, die Männer von Haarlem, mit ihrem Feldherrn Willem van Egmond 23 , dringen heimtückisch auf einem Schiff in die Stadt ein und verwüsten sie in barbarischer Weise. In derselben Nacht hat Badeloch einen Traum, der sie aus dem Gleichgewicht bringt, ihr das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit nimmt und ihr Herz mit entsetzlicher Bangigkeit erfüllt. Daß sie sich von diesem Traum so tief beeindrucken läßt, zeigt, wie sensibel sie ist, beweist, daß sie jegliche Gefahr spürt und alle Erschütterungen — sogar im Schlaf — registriert — wie ein Seismograph. In diesem Traum erscheint ihr eine Tote, Machtelt (Mechthild), die Nichte Gysbreghts, und öffnet ihr die Augen für die realen Vorgänge da draußen. Der Feind sei keineswegs fort, erklärt Mechthild, sondern werde erst jetzt die Stadt bestürmen, besetzen und zerstören. Mechthild rät Badeloch im Traum, sofort mit den Ihren zu fliehen. Völlig benommen und verstört erwacht Gysbreghts Frau aus diesem beängstigenden Traum. Als Bruder Peter plötzlich „Waffen, Waffen" ruft, begreift sie, daß ihr Traum Wirklichkeit geworden ist. Gysbreght versteht nun, daß der Feind tatsächlich in der Stadt ist. Er läßt sich Helm und Rüstung bringen und will sich in den Kampf stürzen. Badeloch aber sieht die Sinnlosigkeit der Gegenwehr ein und ahnt, wieviel Leid der Kampf ihrem Mann bringen wird. „Nun lernen wir erst Haarlem und die Tücke Egmonds kennen", ruft sie erbittert aus. Sie beklagt ihren Mann, der am Tage seinen Schmerz verbeißt und die Nächte mit Wachen zubringt. Die Szene zeigt ihr Einfühlungsvermögen, man sieht, wie sehr sie jede Herzregung, jeder Gedanke Gysbreghts beunruhigt, wie innig sie mit ihm verbunden ist. Den dritten Akt beschließt der Chor der Klarissen, deren Kloster sich extra muros befindet (v: 903 — 930). Es ist Christnacht 24 , die Nacht von Christi Geburt, die die Menschheit mit Freude und Hoffnung erfüllen sollte. Aber nicht davon sprechen die Klarissen, sondern sie betrauern seherisch den bald beginnenden bethlehemitischen Kindermord 25 . Sie singen vom Hochmut des Herodes, der das Kindersterben verursacht hat. So stellen sie eine Gleichung zwischen den Opfern des Herodes und den in Amsterdam getöteten Kindern her. In diesem Chor ist Rahel die
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Willem van Egmond ist der Feldherr der Haarlemer. Andreas Gryphius läßt in Anlehnung an Gysbreght van Aemstel seinen Leo Armenius in der Christnacht spielen. Auch bei ihm geschieht in der Weihnachtsnacht Furchtbares: Leo Armenius wird ermordet. In der Barockzeit war das Thema in Malerei und Poesie sehr beliebt. Zur bildenden Kunst vgl. Pigler. In der deutschen Literatur denkt man z.B. an Klaj.
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
Mutterfigur, die die im Krieg trauernden Frauen beweint. In dem Chorlied der Klarissen werden Reminiszenzen an die Troades von Seneca wachgerufen, die Vondel 1625 übersetzt und De Amsteldamsche Hecuba genannt hatte26. Zu Beginn des vierten Aktes hört man den Bericht über die Besetzung Amsterdams; man erfahrt, wie eine Straße nach der anderen von den Haarlemern besetzt wurde. Die zweite Szene bringt dramatische Spannung in das Stück: Arend, der Bruder Gysbreghts, erscheint ohne ihn auf der Bühne. Badeloch ist entsetzt, ihn allein zu sehen: Von furchtbarer Unruhe gequält, stellt sie die bange Frage: Heer Broeder, wel wat's dit? Hoe keertghe dus alleen? O God, war blijft mijn heer? Is hy gebleven? (IV, v. 1073-1074) Da kommt Arends erlösendes Wort: Neen. Herr Bruder, was ist nur dies? Wieso kehrst du jetzt allein wieder? Oh, mein Gott, wo ist mein Herr? Ist er tot (auf dem Schlachtfeld) geblieben? Nein! Trotzdem wird Badeloch ihre Unruhe nicht los. Sie sieht den Kampf wie ein furchtbares Unwetter, in dem Gysbreght wie ein ruderloses Schiff umhertreibt (v. 1080—1081). Die innere Unruhe um ihren Mann ist ihr innerster Kern, sie wird sie nie ganz los, solange sie von ihrem Mann getrennt ist und um ihn bangt. Arend berichtet nun von den schrecklichen Morden, den Strömen von Blut, die er in Amsterdam gesehen hat. Ein Loblied der Amsterdamer Bürger auf die Ehe bildet den Abschluß des vierten Aktes (v. 1240—1288). Dieses Lied bedeutet den emotionalen Höhepunkt von Vondels erstem großen Bühnenerfolg, seinem Durchbruch. Es ist ein klassisches Ehelied zu nennen, in dem die Ehe in einigen Haupt- und Grundbegriffen zusammengefaßt wird: zwei Seelen sind aneinander geschmiedet, sie sind in Lieb und Leid so fest aneinander gekettet, daß sie nicht mehr zu trennen sind. Wenn auch Mauern zu Trümmern zerbrechen — die Ehe bleibt immer bestehen. 26
Zu diesem Werk vgl. W.A.P. Smit, Van Pascha bis Noah.
Badeloch in Vondels „ Gysbreght van
Aemstel"
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Bei den letzten Klängen des Liedes hört Badeloch jemanden an der Pforte rufen: God lof, het is mijn heer, ick heb zijn stem gehoort. (IV, v. 1288) Gottlob, es ist mein Herr, ich höre seine Stimme. Der fünfte Akt enthält einen Botenbericht über die grausame Zerstörung Amsterdams und den Untergang Bischof Gozewijns und der Nonnen des Klarissen-Klosters. Dieser Bericht ist eine erschütternde Märtyrergeschichte, durch die die Ermordung der Nonnen wie eine Heiligenlegende wirkt. Man denkt sofort an den Tod der zehntausend Jungfrauen, den Vondel zwei Jahre später in seinen Maeghden27 vergegenwärtigen sollte. Der Bote drängt Gysbreght, einen Ausfall zu machen und das Schloß von den Belagerern zu befreien. Durch das Fenster beobachtet Badeloch den Kampf und die Rückkehr Gysbreghts mit seinem zu Tode verwundeten Bruder Arend. Gysbreght möchte Badeloch und die Kinder zur Flucht bewegen, um sie in Sicherheit zu bringen. Er selber aber will bis zuletzt auf dem Kampfplatz bleiben. Badeloch ist jedoch fest entschlossen, sich nicht vom Platz zu rühren und sich nicht von ihrem Mann zu trennen. Sie will mit ihrem Mann in den Kampf gehen und dann sterben: Besteime slechs een zwaerd, ick ben bereid te vechten, Te sterven aen de zy von mijnen vromen man. (V, v. 1722) Besorge mir ein Schwert, ich bin bereit zu kämpfen, zu sterben an der Seite meines frommen Mannes. Und als Gysbreght sie mit der Bemerkung, sie habe ein Frauenherz, zurückweist, antwortet sie stolz, daß einst Frauen ebenso kämpften wie Männer28; auch seine Mutter sei eine stolze Heldin gewesen und habe Ysselstein verteidigt. Nun findet Gysbreght kein Argument mehr. Nur eines bleibt ihm: an ihren Gehorsam zu appellieren, den sie ihm schuldet. Erst das verschlägt: Badeloch ist bereit, mit den Kindern zu gehen. Es erscheint ein Bote des Himmels, Raphael, und verhilft Gysbreght und Badeloch zur schnellen Entscheidung. Verteidigung sei vergebens, 27 28
Vgl. meine Analyse der Maeghden in Künstler, Grübler und Rebellen, Bern 1967. Das ist wahrscheinlich eine Anspielung auf die Germania des Tacitus, die seit Mitte des 16. Jhs. zum Bildungsgut der Deutschen und Holländer gehörte.
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Die Gattin, Geliebte,
Verlobte
sie mögen ihr angestammtes Erbe verlassen, denn ihre Heimatstadt sei verwüstet. In dreihundert Jahren werde Amsterdam schöner und stärker wiederauferstehen. Jetzt sollen Gysbreght und die Seinen in Preußen, in der Nähe der polnischen Grenze, eine neue Heimat suchen. Polen war nämlich damals, unter Wladislaus IV., ein friedliebendes Land, eine Zuflucht für alle, die ihre Heimat — wie z.B. Schlesien, das vom Krieg überzogen wurde, — verlassen mußten. So wurde König Wladislaus IV. von Opitz, Dach und auch Vondel als Friedensfürst gefeiert29. Raphael verspricht, Gysbreght und seine Familie in die neue Heimat zu geleiten, so wie er einst Tobias den Jüngeren und seine junge Braut Sarah in die Heimat zurückgeführt hat30. Gysbreght fügt sich dem Willen Gottes, der durch Raphaels Mund zu ihm spricht. Der Gedanke des Erzengels, daß sich Gysbreght und Badeloch eine neue Heimat suchen müssen, ist einer der am modernsten anmutenden des ganzen Stücks. Das gilt sowohl für die Zeit Vondels wie auch für heute. Raphael will wohl sagen, man dürfe sich nicht sklavisch an die alte Scholle klammern, wenn sie durch Krieg oder irgendeinen anderen Kataklysmus nicht mehr bewohnbar ist. So verlassen Gysbreght und Badeloch ihre alte Heimat. So hatten Vondels Eltern und viele andere ihre Heimatstadt aus konfessionellen Gründen verlassen müssen. Gysbreght und Badeloch gehen nach Einsicht in das Unabwendbare freiwillig, sie wollen nicht den Verbleib in Amsterdam erzwingen. Sie fügen sich ohne Murren in das Schicksal, das ihnen — ganz unabhängig von ihrem eigenen Willen — auferlegt wurde. Raphael ist ein großer, menschlicher Lehrer; auch im Buch Tobias ist er es. Die Zukunftsvision Raphaels am Ende des Stücks gehört zu den wesentlichen Eigentümlichkeiten Vondelscher Kunst. Solche Visionen eröffneten weite Horizonte und brachten jenes „déborder" in die Dichtung, das Jean Rousset als charakteristisches Merkmal der Barockkunst herausstellte31. So sieht man in Gysbreght von Aemstel zum Schluß große, weite holländische Landschaften und blühende Städte vor sich. Man kann so auch die Verbindung zwischen einst und der Zeit, in der man lebt,
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Die drei Gedichte habe ich abgedruckt in Die Gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen, Wien 1972. Die Geschichte von Raphael und den beiden Tobias war im 17. Jahrhundert sehr verbreitet. Sie entstammte dem apokryphen Buch Tobias. Die Jesuiten des deutschen Sprachgebiets führten mehrere Tobias-Stücke auf. Zwei Periochen davon habe ich abgedruckt in Das Jesuitendrama, Eine Periochenedition, Texte und Kommentare, Bd.
I.
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Jean Rousset, La Littérature
de Tage baroque en France.
Badeloch in Vondels „Gysbreght van Aemstel"
23
herstellen, vom verwüsteten Amsterdam von einst und der herrlichen Stadt von 1637 und der heutigen. Versuchen wir zu präzisieren, zu welchem Typus von Ehefrauen Badeloch gehört. Es gibt eine Stelle, in der sie — im Gysbreght van Aemstel — ihr Verhältnis zu ihrem Mann und ihren Kindern klar definiert. Der folgende Dialog steht im fünften Akt: Gysbreght Zult ghy dan oirzaeck zijn dat beide uw kindern sneven? Badeloch v. 1702 Ick zou om eenen man wel bey mijn kinders geven. Gysbreght Beweeght uw kroost u niet, dit jongsken kleen en teer? Badeloch Niet luttel, maer mijn man beweeghtme noch al meer. Veenerich Wat schreitghe moeder lief? zijt ghy bedroeft om vader? Badeloch v. 1706 Om vader schrey ick, kind, en u en ons te gader. Gysbreght Uw moeder keert zieh niet aen u noch uwe smart. Badeloch Met smarte baerde ick't kind, en droegh het onder 't hart. Mijn man is 't harte seif, 'k heb zonder hem geen leven, v. 1710 'k Zal u, om lief noch leedt, bezwijcken noch begeven. 'k Beloofde u hou en trouw te blijven tot de dood. (V, v. 1702-1711) Gysbreght Willst du die Ursache sein, daß deine Kinder sterben? Badeloch Ich würde um einen Mann die beiden Kinder geben. Gysbreght Rühren dich die Kinder nicht, dieser Knabe klein und zart? Badeloch Nicht wenig, aber mein Mann rührt mich noch viel mehr. Veenerich Warum weinst du, liebe Mutter, bist du traurig um Vaters willen?
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte Badeloch U m Vater weine ich, K i n d , und um euch und uns zusammen. Gysbreght Deine Mutter kümmert sich nicht um dich und deine Schmerzen. Badeloch Mit Schmerzen hab ich dieses K i n d geboren und trug es unterm Herzen. Mein Mann ist das Herz selber, ohne ihn kann ich nicht leben. Nie werde ich dich aus Lieb oder Leid verleugnen noch verlassen. Ich habe versprochen, dir treu zu bleiben bis in den Tod.
Badeloch liebt also ihre Kinder sehr, aber viel mehr liebt sie ihren Mann. E r ist ihr ein und alles, der wesentlichste K e r n und größte Inhalt ihres Lebens; die Kinder stehen nur an zweiter Stelle. E r ist ihr Herz und ihre Seele; ohne ihn wird ihr Leben sinnlos. N u r ihm gilt ihre Treue bis in den Tod. Badeloch ist eine in sich geschlossene, aus einem G u ß geformte, eindrucksvolle Frauengestalt. Sie vereinigt sehr große Eigenschaften miteinander: Zärtlichkeit und Gefühlswärme, Einfühlungstalent und Sensibilität, Intuition und Ahnungsvermögen; sie verbindet ihren eigenen starken Willen mit Gehorsam zu ihrem Mann und heroische Entschlußfähigkeit mit Einsicht in die Notwendigkeit des Unabänderlichen. Sie wirkt vorbildlich und nachahmenswert, ist die Idealfigur holländischer Weiblichkeit. War bei der Besprechung Imogens nur einmal von Troja die Rede, als darauf hingewiesen wurde 3 2 , daß die sagenhafte Tochter Cymbelines mit Brut, einem Nachkommen der Trojaner verheiratet war, so ist hier in Gysbreght van Aemstel Troja dem Dichter stets gegenwärtig: Zahlreich sind die Anspielungen auf Troja in Vondels Stück, v o m Seepferd an, wie er das Schiff der Haarlemer nennt, die in Amsterdam eindringen, um sofort das Bild Trojas und des trojanischen Pferdes vor dem geistigen A u g e des Zuschauers erstehen zu lassen, bis hin zum Schluß, w o Gysbreght mit den Seinen in eine neue Heimat zieht, wodurch ihm eine lange, mühevolle Reise auferlegt wird, genau wie Aeneas sehr lange unterwegs war und vieles zu bestehen hatte, bevor er die ihm v o n den fata bestimmte neue Heimat in Latium fand und dort endlich zur Ruhe kam. Die Zerstörung Amsterdams, die in dem Stück eingehend geschildert wird, der Brand der Stadt und das ganze Zerstörungswerk der Eindringlinge erinnern genau an die Zerstörung Trojas durch die Grie-
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Vgl. im vorliegenden Buch S. 29.
Andromaque in Racines Tragödie
„Andromaque"
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chen, die Vergil im II. Buch der Aeneis geschildert hatte33. Das bedeutet, daß Vondel den direkten, nachvollziehbaren Anschluß an die klassische Tradition suchte und sich als Nachfahr Vergils, als ein Vergilius alter, verstanden wissen wollte. Gleichzeitig schmeichelte er dem Amsterdamer Publikum von damals. Der wichtigste Vergleichspunkt zwischen Cymbeline und Gysbreght van Aemstel ist ein anderer. In der Vorrede zu seinem Trauerspiel, die an Hugo Grotius34 gerichtet ist, betont Vondel, daß er beabsichtige, hier ein Stück Nationalgeschichte auf die Bühne zu bringen, wie es Vergil in seiner Aeneis, Tasso im Befreiten Jerusalem, Ronsard in seiner Franciade, 't Hooft in seinem Geraerdt van Velsen getan hatten. Der unerhörte Erfolg des Trauerspiels, das seine Uraufführung in der Amsterdamer Schauburg 163735 erlebte, beweist, daß er mit seiner Themenwahl einen ausgezeichneten Griff getan hatte. Das Stück war überdies glänzend aufgebaut, es enthielt viel Spannung und eine Reihe nationaler Charaktere, die Rembrandt36 hätte malen können37. c) Andromaque in Racines Tragödie Andromaque (1667) Ist Posthumus Leonatus, der Gatte Imogens, in Cymbeline nur selten sichtbar und greifbar, erhält Gysbreght van Aemstel in Vondels Stück bereits ein deutliches Profil, so ist in Andromaque Pyrrhus die überragende männliche Persönlichkeit, die auch noch den heutigen Leser mitreißt. Alle übrigen Figuren verblassen ihm gegenüber, sogar die ihn maßlos liebende Hermione. Racine hat in einer Reihe von Versen angedeutet, wie er Pyrrhus sah und wollte, daß er vom Zuschauer verstanden wird: als unabhängiger Geist, der einen Schlußstrich setzen möchte unter die lange Geschichte des griechisch-troischen Antagonismus, der langen Kämpfe, des Völkerhasses und Völkermordes. Er will Andromaque heiraten, was auch die Griechen, die von ihrer anti-troischen Befangenheit nicht loskommen können, auch dazu sagen mögen. Und ganz entrüstet ist er, der große Geist, über das Ansinnen der Griechen, den Sohn 33
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Vgl. Alfred Hermann, Joost van den Vondels Gijsbreght van Aemstel in seinem Verhältnis %um £weiten Buch Vergib Aeneis, Diss. Leipzig 1928. Vondel lernte Grotius 1631 in Amsterdam kennen und blieb später mit ihm in Briefverkehr. Faktisch war dies am 3. Jan. 1638. Dies als hommage für G-s Hellinga, eine Anspielung auf sein schönes Buch über Vondel und Rembrandt. Der Gysbreght ist abgedruckt in Bd. III der Werken van Vondel, Amsterdam 1929, S. 530-600.
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Die Gattin,
Geliebte,
Verlobte
Hektors, den kleinen Astyanax, den Pyrrhus gefangenhält, aufzuopfern in der Befürchtung, er könne später einmal den Tod des Vaters rächen. An Oreste gewandt, sagt er: On craint, qu'avec Hector Troye un jour ne renaisse: Son Fils peut me ravir le jour que je lui laisse: Seigneur, tant de prudence entraisne trop de soin. Je ne sçay point prévoir les malheurs de si loin. (I, v. 193-196) 3 8 Nun soll mit Hektors Sohn einst Troja neu Erblüh'n, — er droht den Tod mir, dem ich ihn Entzog? Wie viel Gefahren Eure Klugheit Euch zeigt! Mich schreckt so fernes Unheil nicht. Pyrrhus weiß sehr wohl, daß sein Zorn gegen die Besiegten maßlos war, aber nun ist er verraucht, seine Grausamkeit darf nicht über seinen Zorn hinausgehen, das wäre unmenschlich. Er gibt Orest — und nicht nur Orest — eine Lehre der Menschlichkeit: Mon courroux aux Vaincus ne fut que trop sévère, Mais que ma Cruauté survive à ma Colère? Que malgré la pitié dont je me sens saisir, Dans le sang d'un Enfant je me baigne à loisir? Non, Seigneur. Que les Grecs cherchent quelque autre Proye, Qu'ils poursuivent ailleurs ce qui reste de Troye, De mes inimitiez le cours est achevé, L'Epire sauvera ce que Troye a sauvé. (I, v. 213-200) Mein Zorn verraucht, soll meine Grausamkeit Ihn überleben? Soll ich trotz des Mitleid's, Das mich erfüllt, in eines Kindes Blut Gemächlich baden? Nein, Orest, es mögen Die Griechen sich ein andres Opfer suchen; Sie mögen anderswo, was etwa noch Von Troja blieb, verfolgen, — meine Feindschaft Hat ausgelebt: was Troja's Fall verschont, Das wird Epirus retten. So entschieden, kategorisch und jede Widerrede, jegliches Gegenargument von vornherein ausschließend die Rede des Pyrrhus im Gespräch 38
Zitiert wird nach der Ausgabe von R.C. Knight und H.T. Barnwell, Librairie Droz, Genf 1977; Übersetzung von Dora von Gagern, Wien 1884.
Andromaque in Racines Tragödie
„Andromaque"
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mit Orest gewesen war, so sanft und mild, so warm und menschlich wird er in seinem Zwiegespräch mit Andromaque (I, iv). Die griechische Menschlichkeit, von der Racine als Kenner dieser Kultur und Literatur39 so viel wußte — sie kommt hier in einer Weise zu Wort, die bis zu einem gewissen Grade den Thoas in Goethes Iphigenie vorwegnimmt. Sollten die Griechen mit einer Flotte von tausend Schiffen kommen und den Tod ihres Sohnes fordern — würde er ihm, koste es auch sein Leben, zu Hilfe eilen. Er setzt alles aufs Spiel — für Andromaque. Allerdings erwartet er etwas von ihr: „un regard moins sévère" (v. 290). Und ganz zart formuliert er seine Hoffnung: En combattant pour vous, me sera-t-il permis De ne vous point compter parmy mes Ennemis? (I, iv, v. 295-296) Sag' mir, wirst Du dann Mit einem Blick der Liebe mich belohnen? Vom Griechenvolk gehaßt, von allen Seiten Bedroht, muß ich auch Dich als Feindin sehn? Als Andromaque ihn drängen möchte, dennoch seine frühere Braut Hermione zu heiraten, ist er im tiefsten verletzt. Es ist geradezu eine Zumutung für ihn, denn er hat sich nun endgültig für Andromaque entschieden. Als er jedoch sieht, daß seine Lage hoffnungslos ist, ist auch seine Geduld, seine Langmut, seine Zärtlichkeit zu Ende. Er wird versuchen, sie zu hassen. Vorläufig wenigstens. Andromaque gehört zu den absolut monogamen Frauen, denen der Gedanke an einen anderen Mann völlig unerträglich ist. Sie wird, sollte sie auch noch fünfzig Jahre leben, dem Andenken Hektors ewig treu bleiben. In allen Akten dieser Tragödie ist Hektor stets gegenwärtig, bleibt er der unsichtbare Held des Trauerspiels40. Er lebt in einer Weise in Andromaque, daß sie in allen kritischen Situationen an sein Grab geht, um ihn zu befragen, wie sie sich verhalten solle. So tragen alle ihre Entschlüsse die Signatur Hektors, sind als Emanation seines Wesens zu verstehen. Solche Beziehungen zu Gräbern und Toten haben in der 39
40
Über Racines Verhältnis zu Griechenland vgl. R.C. Knight, Racine et la Grèce, Neudruck Paris, Nizet 1974. Ich glaube nicht wie Jacques Schérer, daß Hektor erst von Anfang des vierten Aktes an „un personnage fort important du drame" wird, weil er ihr dann ihr künftiges Verhalten diktiert. Er ist von Anfang an „un personnage fort important", sonst hätte seine Empfehlung kein Gewicht. Jacques Schérer, Racine et¡ou la Cérémonie, Presses Universitaires de France 1982, S. 186.
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Die Gattin, Geliebte,
Verlobte
Literatur eine lange Tradition. Von Shakespeare über K l o p s t o c k zur Romantik ließen sich viele Beispiele nennen. So hat Racine hier seiner Andromaque ein großes Motiv der Weltliteratur einverleibt. D u r c h dieses Motiv verbindet unsere Tragödie Transzendenz und Immanenz, und ihre offene F o r m — vage Andeutung des A u s g a n g s — weist sie als Meisterwerk des Barock aus 4 1 . Hektor ist aber auch der unsichtbare Gegenspieler des Pyrrhus, des Sohnes des Achilles, der Hektor tötete. Andromaque will ihren und Hektors Sohn Astyanax retten, damit er weiterlebe und der Stamm des Priamus, das Andenken der Troer in ihm erhalten bleibe. Keinen Augenblick denkt sie daran, ihn zu einem Rächer Hektors zu erziehen. Die Liebe zu ihrem Sohn ist das zweite Kennzeichen ihrer klassischen Stilisierung. Diese Liebe ist um so stärker, als Astyanax sie an Hektor erinnert: in all seinen Zügen, seinem Lächeln, seinen Bewegungen. Sie ist bereit, eine Scheinehe mit Pyrrhus einzugehen, um auf diese Weise ihren Sohn zu bewahren. Sie hat tiefes Vertrauen zu Pyrrhus und ist überzeugt, daß er auch nach ihrem Tode weiterhin die Vaterstelle in seinem Leben einnehmen wird. Dieses Vertrauen ehrt sie. Später, nachdem Pyrrhus am Altar meuchelmörderisch getötet worden war, nimmt sie die Pflichten einer liebenden Witwe auf sich und ordnet ein ehrenvolles Begräbnis für ihn ab; sie bleibt ihm im tiefsten dankbar für seinen Willen, den kleinen Astyanax zu retten. Und wir wissen — zumindest durch Antigone — was ein Begräbnis für einen Griechen bedeutete, und so ehrt sie ihn, wie es einem griechischen Mann zukommt. In ihren Gesprächen mit Pyrrhus legt sie eine bewundernswerte Würde an den Tag. Sie ist immer taktvoll und bewahrt in jedem ihrer Worte Maß. Wenn man von nationalen Stereotypen ausgeht, ist sie die Griechin und Hermione 4 2 , die von den Furien der Eifersucht Getriebene, die Barbarin. D e n Gegensatz der beiden Frauen hat Racine hervorragend herausgearbeitet. E r hat in all seinen Bühnenwerken Kontrastfiguren geschaffen; das gibt ihnen die Spannung, die durch die Musik der Sprache noch eindringlicher gemacht wird. Wie es Racine versteht, von einer scheinbar alltäglichen Familientragödie ausgehend, immer weitere Kreise zu ziehen und eine große Menschheitstragödie daraus zu machen, nämlich die des zu überwindenden Völkerhasses, der durch die Beschränktheit nationalistischer G r u p p e n trotz
41 42
Ich spiele hier auf Wölfflins „offene Form" an sowie auf das „déborder" Jean Roussets. Zu Hermione und ihren Göttern vgl. Maurice Delcroix, Le sacré dans les Tragédies profanes de Racine, S. 30 — 31.
Andromaque in Racines Tragödie
„Andromaque"
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des besten Willens einiger Großen dennoch nicht überwunden wird 43 — das ist so große Kunst, daß ich dieser Konzeption nichts Vergleichbares im 17. Jahrhundert zur Seite zu stellen wüßte. Andromaque hätte — ihrer Veranlagung nach — die ebenbürtige Partnerin des Pyrrhus werden können, aber sie wurzelte zu tief in althergebrachten Anschauungen ihres Volkes, sie gehörte noch ganz der Ära des Patriarchats an, sie konnte sich von den ererbten und anerzogenen Vorstellungen nicht lösen. Deshalb rechnen wir sie ganz zum Typus der klassischen Ehefrau, wie wir ihn z.B. in der Bibel finden. Ein einziges Mal demütigt sich Andromaque in diesem Stück. Natürlich tut sie dabei ihrer Natur Zwang an, aber sie tut es um ihres Sohnes willen. Sie bittet ihre Rivalin Hermione, sich bei Pyrrhus dafür einzusetzen, daß Astyanax an einem Ort versteckt wird, wo ihm keine Gefahr droht. Sie selber, Andromaque, habe sich im Trojanischen Krieg bei ihrem Gatten Hektor für Hermione verwendet, als die Troer ihre Mutter Helena bedrohten. Aber es ist nicht gut, wenn man seiner Natur Gewalt antut: Andromaque erreicht gar nichts. Die trockene Redeweise Hermiones zeigt ihre Kälte, ihre vollkommene Gleichgültigkeit fremdem Leid gegenüber. Aber was erwartet man auch von der Tochter Helenas? (Sc. III, iv). In Sz. III, vi stehen Pyrrhus und Andromaque nebeneinander, aber Andromaque wagt nicht, ihn anzuschauen. Sie verbirgt ihre Blicke vor ihm. Sie ist völlig verunsichert, sie ist nicht mehr die selbstbewußte, stolze, königliche Frau. Sie ist gedemütigt worden: Pyrrhus hat seine 43
In dieser Richtung gehen die Erörterungen Roland Barthes' Sur Racine, Paris, Editions du Seuil 1963. Ich zähle sie zu den bedeutendsten Entdeckungen der Racine-Forschung neuerer Zeit. Die vita nuova, von der Roland Barthes spricht, ist eben die, daß man den alten Haß und den Vendetta-Gedanken auslöscht und einen Neubeginn initiiert. Sind wir nicht Zeugen einer solchen Kehrtwende, eines solchen Neubeginns? Die spätere Racine-Forschung hat Roland Barthes entweder mißverstanden oder seine These ignoriert. Sehr allgemein sagt z.B. Jacques Schérer „le poids du passé sur ses personnages est lourd" (S. 184), was viel zu allgemein ist. Denn für Pyrrhus ist die Vergangenheit etwas ganz anderes als für Andromaque. Er hat sie mitgestaltet und trägt Schuld an ihr, sie aber hat sie erlitten. Von ihm erwartet man eine Geste der Wiedergutmachung, sie aber kann diese Geste annehmen oder zurückweisen, weil es für ihr entsetzliches Leid und ihre schmerzlichen Verluste überhaupt keine Wiedergutmachung geben kann. Ob dies nun tatsächlich Racines Gedanke war oder nicht, ist schwer auszumachen, aber dieser Gedanke wäre seiner absolut würdig. Daß Racine jedoch immer wieder zu neuen und fruchtbaren Ansätzen der Interpretation Anlaß gibt, spricht für seine die Zeiten überdauernde Größe. Eléonore Zimmermann spricht in La Liberté et le destin dans le théâtre de Jean Racine, Stanford French and Italian Studies 24, Anma Libri 1982 ebenfalls zu allgemein von „le passé". Sie zitiert Roland Barthes und schreibt: „Le passé est prison, il est joug, il empêche le développement de la personnalité, il s'oppose à toute croissance" (S. 30 — 31). Aber das ist viel zu vage und trifft nicht ins Schwarze.
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Die Gattin, Geliebte,
Verlobte
Drohung wahrgemacht und will Hermione heiraten44. Erst als Pyrrhus laut und vernehmlich verkündet, daß er Astyanax den Griechen ausliefern wolle, bricht Andromaque das unerträgliche Schweigen. Ob er denn nach so vielen Freundschaftsbeweisen kein Mitleid mehr mit ihr habe? Er habe doch zuvor für sie so vielen Gefahren getrotzt! Pyrrhus J'étais aveugle alors, mes yeux se sont ouverts. Sa grâce à vos désirs pouvoit être accordée. Mais vous ne l'avez pas seulement demandée. C'en est fait. (Sc. III, vi, v. 908-911) Damals war ich blind, — Jetzt bin ich — leider — sehend. Gnade könnt' ich Damals gewähren, — hast Du nur darum Gebeten? Jetzt ist es zu spät! Also, Pyrrhus wollte gebeten werden, sie aber war zu stolz dazu. Das sei ihr Fehler gewesen. Andromaque möchte sich herausreden, ihren Stolz entschuldigen. Aber Pyrrhus glaubt ihr nicht. Er fühlt ihren Haß: Sie will seiner Liebe nichts zu danken haben45. Dennoch versucht sie noch einmal, sein Mitleid zu erregen. Sie habe sich glücklich gepriesen, in sein Land gekommen zu sein, habe gehofft, das Gefängnis des Astyanax werde sein Asyl werden. So sei auch Priamus von Achill geehrt worden. Von ihm, Pyrrhus, habe sie noch mehr erwartet: Sie habe Pyrrhus für großmütig gehalten. Es bleibe ihr nur noch die Hoffnung, im Grab mit Hektor vereint zu sein (III, vi, v. 911—947). Aber Pyrrhus bringt es nicht fertig, ewig zu zürnen, ewig zu hassen. In Sz. III, vii beginnt er ein neues Gespräch mit ihr. Und wieder wendet sie sich von ihm ab! Mais Madame, du moins tournez vers moi lez yeux. Pourquoy me forcez-vous vous-même à vous trahir? Au nom de vostre fils, cessons de nous haïr. A le sauver enfin, c'est moy qui vous convie. Faut-il que mes soupirs vous demandent sa vie? 44
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Daß Pyrrhus wankelmütig ist, ja in seiner Situation — als Grieche, der eine Troerin liebt und heiraten will — wankelmütig sein muß, hat natürlich die Forschung längst erkannt. Von solchen und ähnlichen Formulierungen ausgehend, hatte Jacques Scherer gewiß recht, Andromaque als Tragödie des Hasses zu definieren. „La haine est partout dans Andromaque", sagt er (S. 111).
Andromaque
in Racines
Tragödie
„Andromaque"
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Faut-il qu'en sa faveur j'embrasse vos genoux? Pour la dernière fois, sauvez-le, sauvez-vous. (III, vii, v. 952-960) Wende Deinen Blick nicht ab, Andromache, nur Ein Mal sieh mich an, Ob ich ein strenger Richter bin, ein Feind, Der tun will, was Dich schmerzt. Warum zwingst Du, Du selbst zur Feindschaft mich? Laß unsern Haß Uns enden! Denk' an Deinen Sohn! Muß ich Dich jetzt beschwören, ihn zu retten, ich Mit Tränen um sein Leben betteln, — ich Für ihn Dein Knie umfassen? Rette ihn, Und rette Dich! Nach diesen eindringlichen Worten, aus denen seine so lange zurückgehaltene Liebe noch einmal spricht, wird er genauso bestimmt und unwiderruflich wie in Sz. I, ii, wo er Orest seinen unumstößlichen Entschluß mitteilt, Astyanax nicht auszuliefern. Er teilt Andromaque seinen Entschluß mit, Hermione zu entsagen, Andromaque zu heiraten, aber sie muß sich entscheiden, sofort, bevor es zu spät ist (III, viii, v. 963 — 96Ö)46. Aber Mais ce n'est plus, Madame, une offre à dédaigner. Je vous le dis, il faut périr, ou régner. Mon cœur, désespéré d'un an d'ingratitude, Ne peut plus de son sort souffrir l'incertitude. C'est craindre, menasser, & gémir trop long-temps. Je meurs, si je vous pers, mais je meurs, si j'attens. (III, vii, v. 967-972) Ich biete Dir's Zum letzten Mal. Es gibt nicht and're Wahl: Herrsch' oder stirb! Mein Herz will länger nicht Die Qual der Ungewißheit dulden. Fürchten, Bitten und droh'n — verzweifeln, — viel zu lang schon Ertrug ich's. Sterben muß ich ohne Dich, — Auch — wenn Du so mir nah' bist. Das tiefe Gefühl der Zusammengehörigkeit mit ihrem toten Gatten Hektor kommt in dem Gespräch mit ihrer Vertrauten Cephise besonders 46
Auf diesem ständigen Auf und Ab beruht die große Spannung der Tragödie und wohl auch ihr ungeheurer Erfolg.
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
stark zum Ausdruck. In dieser achten Szene des III. Akts schwillt die Gefühlsstärke Andromaques immer mehr an, immer deutlicher werden die Konturen des Hektor-Bildes in ihrer Erinnerung, sie hört ihn zu sich sprechen, sie sieht ihn vor sich, wie er sie beschwört, dem Sohn zu zeigen, wie sehr sie Hektor liebte. Als sie sich das alles vorstellt, beschließt sie, ihren Sohn unweigerlich zu erhalten. Aber die Hermione-Orest-Partei hat anders geplant. Vor dem Traualtar im Tempel wird Pyrrhus von einer Schar rachlüsterner Griechen ermordet. Racine ist bemüht, das Schicksal Andromaques und ihres Sohns im dunkeln zu lassen47. Er läßt es leise ahnen, den Zuschauer im stillen um beide trauern. Wahrscheinlich war dies die dramaturgische Entsprechung seines geheimnisvollen poetischen Ausdrucksmittels: des Schweigens mitten in einer Szene, in einem Gespräch. Hinzu kommt, daß es Racine wahrscheinlich zu sehr aufgewühlt hätte, den Tod seiner geliebten und mit Zärtlichkeit und größter Sensibilität nachgeschaffenen Heldin darzustellen oder ihn in einem Bericht schildern zu lassen48. 2. Selbstbewußte — Selbständig handelnde Ehefrauen Hermione in Shakespeares The Winter's Tale (1611) In der Shakespeare-Forschung wird Hermione — abgesehen von ihrer Rückkehr zum Leben im fünften Akt — gegenüber Perdita sehr vernachlässigt. Häufig wird sie zusammen mit Leontes als traurige Winterfigur abgetan. Die meisten Shakespeare-Forscher — E. M. W. Tillyard, G. Wilson Knight bis hin zu den Forschern der späten siebziger Jahre — wie Robert Speaight — sind von Perdita geradezu entzückt49. 47
Hier nun scheiden sich die Geister. Die optimistische Interpretation, daß Andromaque nach dem Tod des Pyrrhus als gute Königin herrscht — und Roland Barthes formuliert überdies: „Andromaque prend expressément la relève de Pyrrhus" (S. 86) — scheint dem tragischen Tenor des Stücks und auch der Überlieferung zuwiderzulaufen. Diese optimistische These übernimmt Eléonore Zimmermann (S. 30).
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Man denke nur an Kleists verzweifelten Ausruf gleich nach der Vollendung der Penthesilea-. „Sie ist tot, sie ist tot!". E.M.W. Tillyard schreibt in Shakespeare's Last Plays (London 1938): „Perdita ... is one of Shakespeare's richest characters; at once a symbol and a human being. She is the play's main symbol of the powers of creation" (S. 187, Neudruck). Mit Florizel zusammen bedeutet sie den Beginn eines „new life" (S. 188). G . Wilson Knight zeigt, wie hier der Mythos v o n Proserpina und ihrer Tochter lebendig wird: „You might call Perdita herself a seed sowed in winter and flowering in summer" The Crown of Life,
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Hermione in Shakespeares
„The Winter's Tale"
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Dennoch ist Hermione die interessanteste Figur dieses Stücks50. Sonst würde sie gar nicht verdienen, nach sechzehn Jahren noch einmal zu neuem Leben zurückzukehren, denn so etwas galt seit eh und je als ein Zeichen besonderer Gnade. Sie hat außerdem als Mutter der vielgerühmten Perdita Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und Hochachtung. Nur Tillyard hat in einem einzigen Satz auf diese evidente Tatsache hingewiesen51. Vor allem aber ist Hermione interessant, weil sie eine Würde und einen weiblichen Stolz an der Tag legt wie nur wenige Frauen der Epoche, die uns in diesem Buch beschäftigen. In Sz. I, ii wird dieser Stolz noch nicht erkennbar. Da erscheint Hermione anfangs als liebende und geliebte Gattin des Königs von Sizilien Leontes, dem sie in allen Punkten zu Willen ist, auch dann, wenn eine leise innere Stimme ihr von einer übertriebenen Willfahrigkeit abraten
London 1948, Neudruck S. 195). Er stellt insbesondere Perditas royalty heraus. In diesem Zusammenhang zitiert er Florizels Verse aus dem IV. Akt: Each your doing, So singular in each particular, Crowns what you are doing in the present deeds That all your acts are queens. (IV, iv, v. 143 ff.) All dein Tun und Wirken, So auserlesen im Gewöhnlichsten, Krönt all dein Handeln, wie du's eben tust, Daß Königin ist jeglich Walten. Robert Speaight spricht in Shakespeare The man and his achievement (London 1977) von der „sane and life-enhancing sensuality of Florizel and Perdita ..." „Perdita is giving her flowers to Florizel, longs for him to be 'quick and in mine arms'. Her language, as she distributes them to the other girls at the feast, has the frankness and fearlessness of innocence! and yours, and yours That wear upon your virgin branches yet Your maidenheads growing ...
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(IV, iv, v. 1 1 4 - 1 1 6 ) und eur', und eure, Die ihr noch tragt auf jungfräulichem Zweig Die Mädchenknospe. — Perdita, one feels, would have followed Romeo to Mantua, since she has no hesitation in following Florizel to Sicily" (S. 350). Zum Glück stellt ein anderer Forscher fest, daß „Hermione the central character of the play" ist (Kenneth Muir, Shakespeare's Comic Sequence, Liverpool 1979, S. 171). E.M.W. Tillyard bemerkt (wie oben) „She is Hermione's true daughter and prolongs in herself those regenerative processes which in her mother have suffered a temporary eclipse" (S. 190).
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
möchte. Als Leontes seinen Jugendfreund Polixenes, den König von Böhmen, auffordert, länger zu bleiben, sagt dieser kategorisch „Nein!". Auf Wunsch des Leontes tritt dann Hermione mit derselben Bitte an ihn heran, und er sagt „Ja!". Hier liegt der Keim der Eifersucht des Leontes, die sich mit unerhörter Schnelligkeit in ihn hineinfrißt und weiter in ihm wuchert. Während Hermione mit dem wie durch Zauber festgehaltenen Polixenes in den Garten geht, hat der Zuschauer ein ungutes Gefühl. Bald kehren Hermione und Polixenes — strahlend vor Freude und Zufriedenheit — an den sizilianischen Hof zurück. Aber nun ist gleich „der Teufel los". Leontes hat eine Art Wahnsinnsanfall. Es ist wie der plötzliche Ausbruch eines Vulkans, dessen Lava unaufhaltsam auf Hermione niederströmt. Hermiones Größe, ihre Frauenwürde, tritt jedoch erst im dritten Akt klar zutage. Leontes, ihr Ehegatte, der vor rasender Eifersucht außer sich geraten ist, hat sie kurz nach der Geburt ihres zweiten Kindes zu einem Verhör herausgefordert, das sie im tiefsten empört hat. Sie erweist sich jetzt als klüger, reifer und im Kern gesünder als ihr Mann. Solche Ehen, an denen der Wurm der blinden Eifersucht nagt, sind von Tragik überschattet. Shakespeare hat bekanntlich mehr solcher Ehen auf die Bühne gebracht; ihn interessierte die Entstehung der Eifersucht, ihre Überwindung — oder auch ihre tragischen Folgen. Hermione hält ihre Verteidigungsrede vor ihrem Mann, den Justizbeamten und den Lords des Hofes. Man hört sie ruhig an, ohne ihr ins Wort zu fallen. Sie spricht gelassen, logisch und überzeugend, wenn sie auch durchblicken läßt, wie tief verletzt sie ist. Sie beginnt mit den Worten „Ich bin unschuldig!" Da wird ihre Stimme weich: Sie erinnert Leontes an ihr früheres Zusammenleben und hält ihm ihre Keuschheit, Wahrhaftigkeit und Treue vor Augen. Dann nimmt jedoch ihre Stimme einen zornigen Klang an; sie klagt Leontes an: v. 37
v. 45 v. 36
For behold me, A fellow of the royal bed, which owe A moiety of the throne, a great king's daughter, The mother to a hopeful prince, here Standing To prate and talk for life and honour 'fore Who please to come and hear. For life, I prize it As I weigh grief (which I would spare): for honour, 'Tis a derivative from me to mine, And onlv that I stand for. ' (III, ii, v. 3 7 - 4 5 ) Schau mich doch an, die Genossin deines königlichen Betts, der das halbe Königreich gehört,
Hermione in Shakespeares „The Winter's Tale"
v. 44
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mich, die Tochter eines großen Königs, die Mutter eines hoffnungsvollen Sohnes, die du herholtest, damit sie um ihr Leben und ihre Ehre bettle vor Menschen, die beliebig kommen und zuhören können. Das Leben ist mir eine schwere Last, auf die ich gern verzichte, aber die Ehre gehört mir, und nur um sie geht es mir.
Dann appelliert Hermione an Leontes' Gewissen. Sie erinnert ihn an die Zeit, bevor Polixenes an den sizilianischen Hof kam, an Leontes' Liebe und Verehrung für sie. Was sie sich habe zuschulden kommen lassen, daß er sie zu diesem Verhör zwingt? Sie habe nie die Schranken der Ehre überschritten. Dann spricht sie von Polixenes. Sie liebt ihn, wie es ihm gebührt. Es sei eine Liebe gewesen, die er ihr selber aufgetragen hat. Ohne diese Liebe wäre sie undankbar und ungehorsam gegen ihn gewesen (III, ii, v. 63-68). Jedoch weiß Leontes den würdigen Ton Hermiones nicht einzuschätzen. Er hat kein Organ für ihre edle Lauterkeit. Anstatt einzulenken, greift er sie jetzt frontal an: v. 83
v. 89 v. 91
v. 83
91
Leontes You had a bastard by Polixenes, And I but dream'd it! As you were past all shame ... so past all truth, ... for as Thy brat hath been cast out, like to itself, No father owning it ... so thou Shalt feel, our justice; in whose easiest passage Look for no less than death. (Ill, ii, v. 8 3 - 8 9 , v. 91) Leontes Du hast einen Bastard mit Polixenes gezeugt. Du hast die Grenzen aller Scham überschritten ... Genau wie dein Kind ausgesetzt und sich selbst überlassen wurde, da es keinen Vater hatte, so sollst auch du meine Gerechtigkeit fühlen, erwarte nichts Geringeres als den Tod.
Aber Hermione scheint bereits resigniert zu sein. Es bewegt sie nichts mehr. Es ist, als habe sie einen undurchdringlichen Panzer um sich gelegt.
36 v. 91
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Hermione Sir, spare your threats: The bug which you would fright me with, I seek. To me can life be no commodity! The crown and comfort of my life, your favour, I so give lost, for I do feel it gone, But know not how it went. (Ill, ii, v. 9 1 - 9 6 ) Hermione Hör auf, mir zu drohen. Für mich ist das Leben wertlos geworden. Die Krone und den Reiz meines Lebens, Deine Gunst gebe ich verloren. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich dies alles verlor.
Dann zählt sie auf — und in jedes der Worte mischt sich Bitternis — was man ihr alles genommen hat: Man hat sie von ihrem Sohn getrennt, als habe sie eine ansteckende Krankheit. Ihr jüngstes Kind hat man ihrer Brust entzogen und es um seine Milch gebracht. An allen öffentlichen Plätzen werde sie zur Hure erklärt. Weiterzuleben bringe ihr keinen Segen. Sie fürchtet den Tod nicht. Es geht ihr nicht um ihr Leben, sondern um ihre Ehre v. 113
v. 116
But what your jealousies awake, I tell you 'Tis rigour and not law. Your honours all, I do refer me to the Oracle: Apollo be my judge! Aber was du aus Eifersucht an mir tust, ist Gewalt, nicht Gesetz. Ich unterziehe mich dem Orakel. Möge Apollo mein Richter sein!
Sie hat erkannt, wieviel Haß ihr aus den Augen des Leontes entgegenblitzt, wieviel Zerstörungswut. Sie scheint ein Aufflackern des atavistischen Hasses von Mann zu Frau zu ahnen. Sie hat kein Vertrauen mehr zu irdischem Urteil. Der Richterspruch Apollos entspricht in den Bühnenstücken, die wir aus jener Zeit kennen, in etwa der Feuerprobe, durch die die des Ehebruchs angeklagten Frauen ihre Unschuld beweisen sollten. Auch nachdem das Orakel Hermione für unschuldig erklärt hat, zweifelt der reichlich starrsinnige Leontes noch immer an dessen Wahrheit. Da aber wird er von den Göttern geschlagen: Er erhält die Nachricht
Hermione in Shakespeares „The Winter's Tale"
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von dem plötzlichen Tod des Mamillius, seines und Hermiones Sohnes. Jetzt erst begreift er, daß ihn Apollo für seine rasende Eifersucht und sein Mißtrauen hat strafen wollen. v. 146
Leontes Apollo's angry, and the heavens themselves Do strike at my injustice. Apollo zürnt mir, und die Himmel werfen den Strahl auf meine Schuld.
Da fällt Hermione in Ohnmacht. Nun folgen, wie erwartet, Reue und Buße des Leontes. Aber sie kommen zu spät. Wie Pauline mitteilt, hat Hermione die zahlreichen Schicksalsschläge nicht überlebt. Mit Entsetzen verkündet Pauline, die Freundin des Königshauses, den plötzlichen Tod der jungen Königin. Aber vielleicht ist es nur ein Scheintod? Davon ist jedoch vorläufig noch mit keinem Wort die Rede. Hermione hat die brutale Anklage des Leontes im tiefsten getroffen. Darauf konnte sie nicht gefaßt sein, das war schlimmer als ein Kataklysmus, der plötzlich über ein Land hereinbricht. Sie sah keine Rettung, keine Möglichkeit, Leontes von ihrer Unschuld zu überzeugen. In solch einer Lage konnten nur die Götter helfen, und Apollo, der Sonnengott, der Gott des Lichts und somit der Wahrheit, hilft ihr. Aber was sie durch Leontes gelitten hatte, war zu viel für sie gewesen. Sie hatte zwar die Kraft und den Mut aufgebracht, herbeizueilen und den Anklägern Rede und Antwort zu stehen, aber sie zerbricht daran. Über das Erwachen Hermiones zu neuem Leben ist noch einiges zu sagen. Man hat darüber schon sehr viel und sehr verschieden geschrieben. So z.B. brachte Frances Yates die Wiedererweckung Hermiones in Zusammenhang mit der Magie des Hermes Trismegistos, auf die ihrer Meinung nach Shakespeare anzuspielen scheint52. Denn Shakespeare kannte den gott-erschaffenden Passus im Asclepius des Hermes Trismegistos. Sie fügt erläuternd hinzu: „The return of Hermetic or ,Egyptian' magical religion involves, in the Hermetic texts and in Giordano Bruno's interpretation of them, the return of moral law, the banishment of vice, the renewal of all good things, a holy and most solemn restoration of nature herself." 53 Unzweifelhaft stimmt gerade dieser Satz zu Hermiones nun beginnender vita nuova. Man könnte jedoch den Ausführungen Frances Yates' eine allgemeine Bemerkung hinzufügen, durch die das Ganze vor einem breiteren Hinter52 53
Frances A. Yates, Shakespeare's Last Plays, London 1975, S. 90 f. Ebenda S. 91.
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Die Gattin, Geliebte,
Verlobte
grund erscheint. Ich glaube, daß der Wiederbelebungsgedanke, die Rückkehr zum Leben, im 17. Jahrhundert überhaupt in der Luft lag. Davon legen die zahlreichen Ephesini-Stücke der Jesuiten ein beredtes Zeugnis ab54. Die Legende über die Auferstehung der Brüder von Ephesus wird in die Zeit Theodosius' des Jüngern gelegt. Damals nämlich begann man am Dogma von der Auferstehung des Fleisches nach dem Tod zu zweifeln. Die Stücke der Jesuiten dienten der Affirmation dieses Dogmas. Ich glaube, man könnte für die Auferstehung Hermiones noch andere Gründe anführen. Oben wurde betont, daß Leontes nicht zweifelte, Apoll habe ihn für seine krankhafte Eifersucht strafen wollen. Warum aber wird Hermione bestraft; oder wird sie womöglich gar nicht bestraft, sondern ist selber die Strafende? Ich glaube, daß Hermione mit Hilfe ihrer Mitwisserin und Helferin Pauline die sechzehn Jahre eines genügsamen Lebens in einer Art klösterlicher Abgeschiedenheit auf sich genommen hat, um Leontes für seine Erbärmlichkeit und Grausamkeit hart zu strafen. Man hat den Eindruck, daß sie sich zu diesem Leben entschloß, um sich für alle von den eifersüchtigen männlichen Tyrannen gequälten Frauen in diesem einen Fall zu rächen. Sie selber gewöhnte sich schnell an ein einfaches, klösterliches Leben, das anscheinend ihrem bislang verborgenen Einfachheitsund Askese-Ideal entsprach und das dann Perdita irgendwie fortsetzte, als sie das einfache Leben ihrer Schäfer teilte. Erst als Hermione wußte, daß Perdita unterdessen reif für die Ehe geworden war, wollte sie wieder in Erscheinung und in Aktion treten. Ich glaube auch, daß sie volle sechzehn Jahre brauchte, um durch Gebete und Meditationen den letzten Rest ihres Grolls gegen Leontes zu überwinden. Shakespeare wollte — so scheint es mir —, daß das Publikum die Wiedererweckung Hermiones zum Leben als eine Art Wunder nachvollzog, während Hermione selber genau wußte, daß es sich um eine vita nuova handelte, in die sie nunmehr eintreten würde. Jetzt, nachdem sie den Groll gegen Leontes innerlich überwunden hat, wird ihr auch das schönste Geschenk zuteil, nämlich die verloren geglaubte Perdita, an deren Freude sie nun — nach so langer Entbehrung — wird teilnehmen dürfen. Die zahlreichen Facetten der Hermione-Figur sind erstaunlich und bewundernswert; sie vereinigen sich alle zusammen in den Lobgesang auf Hermione, die schönste und abgerundetste Frauengestalt Shakespeares. 54
Vgl. dazu meinen Abdruck einiger Periochen von Ephesini-Dramen in Das Jesuitendrama, Eine Periochen-Edition, Texte und Kommentare, Bd. II, München 1982 und meine Kommentare zu diesen Periochen im gleichen Band.
Hermione in Shakespeares „The Winter's Tale"
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Und noch eins: Es gab im 17. Jahrhundert sehr viele Stücke, in denen der vermeintliche Ehebruch der Frau das Zentralproblem war. Vergleichen wir die Haltung der Frauen auf der englischen Bühne mit den spanischen Frauen im spanischen Theater in ähnlicher Lage 55 . Es liegt auf der Hand, daß sich die Frauen hier und da in zwei verschiedenen Welten bewegen. Nur in England, nur in einem Stück von Shakespeare oder einem seiner großen Zeitgenossen kann die Frau dem Mann gegenüber so viel Hoheit manifestieren. Die spanischen Frauen hatten nicht einmal die Möglichkeit, sich in so souveräner Weise zu verteidigen und dabei — zumindest zwischen den Zeilen — ihren Ehegatten anzuklagen. Bevor sie den Mund zur Selbstverteidigung öffnen konnten, war es bereits um sie geschehen. Im Gegensatz aber zu den zahlreichen Stücken über den Ehebruch der Frau wollte Shakespeare eben dieses Thema nicht zur Achse seines „problem play" machen. Denn das hätte nicht seiner Auffassung von Liebe, Treue und Ehe, hätte nicht seiner Beziehung zur Frau entsprochen. So fügt er dem ersten Teil, dem „traurigen Winterstück", einen zweiten Teil hinzu, ein Frühlingsstück, wo alles wieder gutgemacht wird, was zuvor zerstört wurde, wo das Wintereis schmilzt und die Frühlingsluft weht 56 . Erst so und erst dadurch wird The Winter's Tale ein wahrhaft Shakespearesches Bühnenwerk, denn nichts war ihm unerträglicher als die Banalität alltäglicher Familienzwiste. Welch wunderbaren Ausweg hat er da gefunden! Die Bedeutung, die man zur Zeit der Aufführung von The Winter's Tale (1611) der bevorstehenden Hochzeit von Prinzessin Elisabeth mit Friedrich V. von der Pfalz beimaß (1611 — 1612), worüber Frances Yates an mehreren Stellen ihres erhellenden Buches Shakespeare's hast Plays — A New Approach — an mehreren Stellen spricht 57 , wird noch besonders hervorgehoben durch die Tatsache, daß Polixenes, durch den die große Eifersucht ausgelöst wird, ein König von Böhmen und sein Sohn Florizel ein Prinz von Böhmen ist, der Perdita heiratet, die hier als Symbolfigur der Prinzessin Elisabeth zu verstehen ist. Die geographischen Ungenauigkeiten (z.B. Böhmen liegt am Meer) dienen möglicherweise der Verfremdung 58 , hingegen legt Shakespeare auf historische Identifizierbarkeit gro55
56 57 58
S. dazu die in „Leiden und Leidenschaft" (in Teil III des vorliegenden Buches) besprochenen spanischen Dramen. Vgl. dazu Kenneth Muir, wie oben, S. 173. Vgl. dazu Frances Yates, S. 9, 3 1 - 3 5 , 52, 53, 58 und S. 98, 99. Ähnlich faßt Kenneth Muir — er beruft sich auf S.I. Bethell — diese Art geographischer Ungenauigkeiten als eine Art Verfremdung auf (S. 172). Anders sieht Frances Yates die tschechische Küste, an der ein Meeressturm ausbricht. Sie bezieht den Sturm auf den Dreißigjährigen Krieg, der in Böhmen ausbrach (S. 98). Das hat zwar auf den
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Die Gattin,
Geliebte,
Verlobte
ßen Wert, wie uns schon die Analyse von Cjmbeline gelehrt hat. Die Verquickung von Historie und Romanze in den letzten Stücken Shakespeares ist eine Genietat, die in dieser vollendet transparenten Form nicht ihresgleichen hat. Es versteht sich von selbst, daß hier nicht alle Autoren zitiert werden können, die sich mit der Wiederbelebung Hermiones befaßt haben. Aber auf einen Punkt möchte ich aufmerksam machen, der ein wesentliches Moment dieses ganzen Fragenkomplexes enthält. Die Reaktion auf die Wiederbelebung Hermiones ist eine ganz andere beim Zuschauer als beim Leser 59 . Der Leser nimmt sie ziemlich gleichgültig, bzw. ungläubig auf, während der Zuschauer den Augenblick, da Hermione vom Piedestal hinuntersteigt und immer lebendiger wird, mit tiefster Bewegung miterlebt, als sei er Zeuge eines Wunders. Allerdings ist das hier nur eine Randglosse, da uns andere Fragen mehr interessieren. Was mir persönlich — außer der energischen und mutigen Anklage des Leontes durch Hermione — das Wichtigste und Schönste in diesem Wintermärchen scheint, ist, daß es unmerklich und Schritt für Schritt zu einem Frühlingsmärchen wird. Die verloren geglaubte Perdita wird wiedergefunden und heiratet den Sohn des Polixenes, der völlig ungewollt die verderbenbringende Eifersucht des Leontes erweckt hatte. Hermione erwacht zu einem neuen Leben wie Proserpina, und der ewige Wechsel von Tod und Leben, Winter und Frühjahr, Haß und Liebe, Zorn und Versöhnung wird hier in einer Weise zu lebendiger Anschauung gebracht, daß ich im ganzen Werk Shakespeares nichts Schöneres für den ewigen Wechsel, der unser Leben beherrscht, zu finden wüßte.
3. Die Geliebte Cleopatra in Shakespeares Antony and Cleopatra (1607) Die Frauen, von denen im folgenden die Rede sein wird, sind nicht so fest an ihren Lebensgefährten oder den Mann ihrer Wahl gekettet wie Imogen, Badeloch und Andromaque. Sie teilen zwar sein Leben oder möchten es teilen oder haben es früher geteilt. Sie sind aber nicht „Frauen an seiner Seite", sondern leben selbständig und einem inneren Gesetz
59
ersten Blick etwas Bestechendes, aber Shakespeare ist zwei Jahre vor Ausbruch dieses Krieges gestorben. Yates sieht darin etwas seltsam Prophetisches (S. 98). Sehr interessant sind die Erörterungen über den Unterschied von Leser und Zuschauer bei Kenneth Muir, wie oben S. 168—170.
Cleopatra in Shakespeares „Antony and Cleopatra"
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folgend nach ihrem eigenen Rhythmus und Konzept. Manchmal möchten sie den Mann auf ihre Seite ziehen und versuchen es; manchmal gelingt dies gut, manchmal mißlingt es, dann kehren sie entweder zerknirscht zurück oder aber sie gehen — möglichst für immer. Diese Frauen sind — von unserem modernen Standpunkt aus — die interessantesten, fesselndsten, auch wenn ihre Selbständigkeitsversuche scheitern. Nicht das Scheitern entscheidet über die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit einer Frau (ähnlich sieht Lohenstein später diese Problematik), sondern das „strebende Bemühen", der ehrgeizige Wille, selber ihr Leben zu gestalten. Nicht von allen Frauen, die einem in diesem Zusammenhang in den Sinn kommen, wird hier die Rede sein; manche von ihnen — und keineswegs die unbedeutendsten — habe ich einem anderen Kapitel zugewiesen, wie etwa dem Kapitel „Machtverlangen und Machtverzicht" oder dem Kapitel „Die Frau im B e r u f . Über Shakespeares Cleopatra ist so viel geschrieben worden, daß es müßig ist, sich die verschiedenen Deutungen oder Beleuchtungen vor Augen zu führen. Es soll hier nur auf drei Aspekte der Cleopatra-Gestalt hingewiesen werden, die ihr unveräußerliches Eigentum, ihre unleugbare differentia
specifica
sind.
Es darf bei der Analyse Cleopatras nicht übersehen werden, daß die Cleopatra von Akt IV, Sz. xiii —xv an und in Akt V eine ganz andere ist als die der ersten Akte. In diesen ist sie viel kapriziöser, koketter, ja frivoler als in den letzten Szenen des vierten Aktes und im fünften, der ihr ganz gehört. Die Wandlung, die der Zuschauer an ihr wahrnimmt, ist keine „Entwicklung", sondern sie beruht auf der Erkenntnis, daß der Mensch immer wieder wandelbar ist, daß es im Menschen nichts Beständiges gibt. In diesem Zusammenhang hat Robert Speaight mit vollem Recht auf die Bedeutung des Wassers für Cleopatra hingewiesen: „For she also is fluid ... Water is a prime constituent of the play's cosmic décor" 60 . Die Verschiedenheit zwischen der Cleopatra des ersten und der des zweiten Teils läßt sich daraus erklären, daß die ägyptische Königin vor der Schlacht bei Actium viel glücklicher, unbeschwerter und leichtsinniger sein darf als danach und daß sie, durch alles, was sie verschuldet und erlebt hat, gereift ist und nun eine andere werden muß-. Nunmehr muß sie das große und schwere Schicksal, das ihr auferlegt wird, mit Größe tragen und beweisen, daß sie von den Ptolemäern abstammt und eine große Königin ist.
60
Vgl. Robert Speaight, S. 310.
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Die Gattin,
Geliebte,
Verlobte
Die Schlacht hei Actium Durch die Schlacht bei Actium kristallisiert sich die Liebe zwischen Antony und Cleopatra zu einer echten Partnerschaft. Als Präludium dieser Partnerschaft kann man die Verse des Rollentausches aus Akt II ansehen: That time! O times! I laugh'd him out of patience and that night I laugh'd him into patience, and next morn, Ere the ninth hour, I drunk him to his bed: Then put my tires and mantles on him, whilst I wore his sword Philippan. (Act II, Sc. v, v. 1 8 - 2 3 ) Jene Zeit! O Zeiten! Ich lacht' ihn aus der Ruh; dieselbe Nacht Lacht' ich ihn in die Ruh; den nächsten Morgen Noch vor neun Uhr trank ich ihn auf sein Lager, Tat meinen Mantel ihm und Schleier um, Und ich derweil trug sein Philippisch Schwert. Die Anspielung auf Omphale und Herkules, den Ahnherrn Antonys, ist deutlich. Darauf macht auch der Herausgeber der Arden Shakespeare Edition, M.R. Ridley, aufmerksam 61 . Die von Octavius Caesar mit Mißfallen beobachtete Partnerschaft von Antony und Cleopatra führt schließlich zur Teilnahme der ägyptischen Königin an der Schlacht bei Actium. Der Krieg sei gegen sie erklärt, sie müsse deshalb persönlich daran teilnehmen. In Akt III, Sz. vii sagt sie zu Enobarbus: If not denounc'd against us, why should not we Be there in person? (Ill, vii, v. 5 - 6 ) Warum — rechtfert'ge dich — warum nicht zog' ich Mit ihm ins Feld? Und später verkündet sie noch entschiedener: A charge we bear i' the war, And as the president of my kingdom will Appear there for a man. (Ill, vii, v. 1 6 - 1 8 ) 61
The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, Antony and Cleopatra, Edited by M.R. Ridley, London 1976, S. 68.
Cleopatra in Shakespeares „Antony and Cleopatra"
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Unser ist der Krieg, und als der Vorstand meines Reichs Streit' ich in ihm als Mann. Die Partnerschaft geht so weit, daß Antony sich nach Cleopatras Entschluß, zur See zu kämpfen, ebenfalls für die Seeschlacht entscheidet. Dies ist für alle um so erstaunlicher, als ja fast jeder für den Landkrieg ist, in dem Antony ein unüberwindlicher Kämpfer und immer Sieger war. In der zehnten Szene hört man bereits den Lärm der Seeschlacht. Bald berichtet Scarus, ein Freund Antonys, darüber. Kopfschüttelnd erzählt er von der Flucht Cleopatras und ihrer Segelschiffe. Aus seinen Worten spricht Verachtung; Enobarbus ist entsetzt. Daß Antony nach Cleopatra die Flucht ergriff, findet Scarus beschämend. I never saw an action of such shame; Experience, manhood, honour, ne'er before Did violate so itself. (III, viii, v. 2 2 - 2 4 ) Noch nimmer sah ich eine Tat so schändlich; Erfahrung, Mannheit, Ehre hat noch nie Sich selber so vernichtet. Scarus und Enobarbus reagieren wie gesunde, starke Männer, wie Soldaten. Keiner kommt auf den Gedanken, daß man — trotz allem — mit Cleopatra Mitleid haben müsse. Sie hatte sich, wie die meisten heroischen Frauen, die damals auf der Bühne erschienen (und wohl auch die anderen, die ihr Leben zu tragen und zu ertragen hatten), viel zu viel zugemutet, hatte etwas auf sich genommen, was sie nicht zu tragen vermochte. Deshalb ist sie für unsere Untersuchungen so aufschlußreich, so weiterweisend: Cleopatra hatte plötzlich Angst bekommen, eine entsetzliche Angst vor den Verfolgern, dem Meer, dem Tod62. Antony folgt ihr auf der Flucht, seine Seele ist an ihre Ruder gefesselt. Er sagt später: Egypt, thou knew'st too well, My heart was to thy rudder tied by the strings, And thou shouldst tow me after. (III, ix, v. 5 6 - 5 8 ) 62
Lily Campbell hat in ihrem Buch Shakespeare's Tragic Heroes (Erstdruck 1930, Neudruck London 1978) in dem Kapitel „Macbeth, A Study of Fear" auf die Bedeutung der Angst in Macbeth hingewiesen. Das Wort „Ambition" kommt dreimal in Macbeth vor, das Wort „Fear" 42mal. Aber auch Cleopatra und andere Helden Shakespeares kannten die Angst.
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Die Gattin, Geliebte,
Verlobte
Wußtest du nicht, Ägypten, Mein Herz sei an dein Steuer fest gebunden Und daß du nach mich rissest? Cleopatra verhält sich in dieser Szene, in der Antony ihr Vorwürfe macht, sehr würdig 63 . („O whither hast thou led me, Egypt? See,/ How I convey my shame out of thine eyes,/ By looking back what I have left behind/ Stroy'd in dishonour," v. 51—54) (Oh, wohin brachtst du mich, Ägypten? Sieh, Wie ich die Schmacht entziehe deinem Auge Und seh' zurück auf das, was ich verließ, Zerstört in Schande!). Sie bittet ihn flehend um Verzeihung: „Forgive my fearful sails! I little thought you would have follo'd" (v. 53 — 55): Sie formuliert hier zaghaft, was die andern, die Männer, dachten: wie konnte er ihr nur folgen? Diese Szene endet mit einem Versöhnungskuß. Wir finden hier ein vollkommenes Gemälde dieser Partnerschaft. Sie wurde zuerst ganz deutlich in dem gemeinsamen Entschluß, zur See zu kämpfen, dann in der gemeinsamen Flucht und Niederlage. Die kurze Euphorie wird zerstört durch das verhängnisvolle Intermezzo mit dem Boten des Augustus, hier Thidias, sonst aber meist Thyreus genannt. Das Gespräch des Thidias mit Cleopatra ist oft beleuchtet worden. Den einen erscheint hier Cleopatra als Verräterin 64 Antonys, den andern als Diplomatin, die ihre wahren Absichten verbirgt. Nimmt man jedoch die Partnerschaft von Cleopatra und Antony ernst, kann auf keinen Fall die Rede von Verrat sein. Cleopatra ist zu sehr Königin eines großen Reichs, zu sehr Partnerin Antonys, um sich so tief zu erniedrigen. Sie spielt, wie oft im Leben, Komödie, um zu retten, was noch zu retten ist. Wenn sie zu Thidias sagt: I kiss his conquering hand: tell him, I am prompt To lay my crown at's feet, and there to kneel: Tell him, from his all-obeying breath I hear The doom of Egypt. (Ill, xiii, v. 7 5 - 7 8 ) In diesem Kampfe küss' ich Durch dich die Hand des Siegers; meine Krön' Leg' ich zu Füßen ihm, und wolle kniend
63 64
Angela Pitt spricht mehrmals von Cleopatras royal dignity. S. 38, S. 42 zweimal. So bemerkt Speaight: „Antony, twice betrayed by Cleopatra in the middle of the battle, and hearing the false news of her death, bungles his own suicide" (S. 317).
Cleopatra in Shakespeares „Antony and Cleopatra"
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Von seinem mächt'gen Hauch Ägyptens Schicksal Vernehmen. (deutsch: III, xi, v. 7 8 - 8 2 ) Dann will sie Octavius Caesar beruhigen, will verhindern, daß er gereizt oder verunsichert wird. Deshalb dürfen uns die Worte des Enobarbus: „Sir, sir, thou art so leaky/ That we/ must leave thee to thy sinking for/ Thy dearest quit thee" (v. 63 — 65) nicht als Wegweiser einer Interpretation der Handlungsweise Cleopatras dienen. Enobarbus ist zu plump 65 , um das subtile Spiel Cleopatras zu fassen, eben ein Soldat. Antony hat ihn in der zweiten Szene des II. Akts dementsprechend zurechtgewiesen: Thou art a soldier only, speak no more ... You wrong this presence, therefore speak no more ... (II, ii, v. 107 u. 109) Du bist nur ganz Soldat, drum sprich nicht mehr. Du kränkst den würd'gen Kreis, drum sprich nicht mehr. Der Auftritt, in dem der Bote des Octavius Caesar Cleopatra die Hand küßt — ein Handkuß, der Antony geradezu rasend macht und für den Thidias geprügelt wird (III, xiii) — enthüllt den überaus gereizten Zustand, in dem sich Antony nach Actium befindet. Er steigert sich immer mehr in eine seiner unwürdige Wut hinein, beleidigt in nichtswürdiger Weise die geliebte Frau: I found you as a morsel, cold upon Dead Caesar's trencher: nay, you were a fragment Of Gnaeus Pompey's, besides what hotter hours, Unregister'd in vulgar fame, you have Luxuriously pick'd out ... (Ill, xiii, v. 1 1 6 - 1 2 0 ) Ich fand Euch, einen kaltgewordnen Bissen Auf Cäsars Teller, ja ein Überbleibsel Gnejus Pompejus'; andrer heißer Stunden Gedenk' ich nicht, die Eure Lust sich auflas. Cleopatra reagiert nicht gemein auf die gemeinen Worte Antonys. Sie ist Antony menschlich weit überlegen, die Ägypterin dem Römer 66 . Sie 65
66
Nur seine schöne Rede über Cleopatra auf dem Cydnus und sein Freitod können uns mit ihm versöhnen. Sehr zu Recht betont Speaight: „There is no confrontation of right and wrong in Antony and Cleopatra as there is in Macbeth, there is only a confrontation of Rome and Egypt" (S. 310).
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benimmt sich sehr würdig, aus ihrer kurzen Frage hört man nur leise Bitternis heraus: „Wherefore is this?" (III, xiii, v. 122). Nachdem Antony seinen Zorn an Thidias gekühlt hat, wird er zusehends sanfter, ruhiger. Cleopatras großartige Rede, in der sie ihre Todesbereitschaft kundtut und ihr ganzes Geschlecht ausgelöscht und unbegraben sehen will, ringt Antony die Worte ab: „I am satisfied." Noch einmal ist er bereit, den Kampf mit Octavius Caesar aufzunehmen. Er und sein Schwert sollen in Blut getaucht werden und so die Erwähnung in der Chronik durch ihre Taten verdienen. In Sz. IV, viii hören wir von dem glücklichen Ausgang der Schlacht bei Alexandria. Trunken vor stolzer Seligkeit umarmt Antony Cleopatra: My nightingale, We have beat them to their beds. What, girl though grey Do something mingle with our younger brown, yet ha'we A brain that nourishes our nerves, and can Get goal for goal of youth. Behold this man, Commend unto his lips thy favouring hand: Kiss it, my warrior: he hath fought to-day As if a god in hate of mankind had Destroy'd in such a shape. (Act IV, viii, v. 1 8 - 2 0 ) O Nachtigall, Wir schlugen sie zu Bett! Ha, Kind! Ob Grau Sich etwas mengt ins junge Braun; doch blieb uns Ein Hirn, das unsre Nerven nährt, den Preis Und Kampf der Jugend abgewinnt. Schau diesen, Reich seinen Lippen deine Götterhand; Küß sie, mein Krieger: der hat heut gefochten, Als ob ein Gott, dem Menschenvolk verderblich, In der Gestalt es würgte. Aber nach diesem glanzvollen Höhepunkt erlebt Antony seine letzte Niederlage: "All is lost" (Akt IV, Sz. vii, v. 10). Das ist der Augenblick, von dem an Antony beginnt, fast täglich tiefer zu sinken, gemeiner, unmenschlicher, rücksichtsloser zu werden. Mit Recht hat Angela Pitt auf seine deterioration aufmerksam gemacht67, während man bei Cleopatra nichts dergleichen bemerken könne, im Gegenteil, sie werde immer
67
Angela Pitt, S. 43.
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nobler, edler 68 . So ist es in der Tat. Sie reinigt sich immer mehr von allen Schlacken, ihm aber gelingt nichts mehr. Und er gibt sich immer schlimmer. Als ihm klar ist, daß die Schlacht verloren ist (IV, xii, v. 10), schiebt er die Niederlage Cleopatra in die Schuhe: "This foul Egyptian hath betrayed me" (IV, Sc. xii, v. 10). Triple-turn'd whore, 'tis thou Hast sold me to this novice, and my heart Makes only wars on thee ... Betray'd I am. O this false soul of Egypt! this grave charm, Whose eye beck'd forth my wars, and call'd them Whose bosom was my crownet, my chief end, Like a right gipsy, that at fast and loose Beguil'd me, to the very heart of loss. (Act IV, xii, v. 1 3 - 1 5 ; v. 2 4 - 2 8 ) Dreifache Hure! Du hast dem Knaben mich verkauft. Mein Herz Führt Krieg mit dir allein. Ich bin verkauft! O falsch ägyptisch Herz! o tiefer Zauber! Du winkt'st mein Heer zum Krieg, du zogst es heim; Dein Busen war mein Diadem, mein Ziel, Und du, ein echt Zigeunerweib, betrogst mich Beim falschen Spiel um meinen ganzen Einsatz! Das Wort betrayed spricht er zweimal aus. Er schämt sich nicht. Und die Forschung — sogar Speaight69 und Angela Pitt 70 — glauben es ihm. Auch in ihren Augen hat ihn Cleopatra betrogen. Aber das stimmt doch gar nicht. Es sind die Worte des Marc Anton und nicht die Gedanken Shakespeares. Als dann Cleopatra eintritt, wird seine Liebe zum Haß. Erbarmungslos wünscht er, sie Cäsar auszuliefern, sie möge seinen Triumph schmücken, unter dem Geschrei der Plebs möge sie seinem Wagen folgen, sie, der schlimmste Schandfleck ihres Geschlechts. Und Octavia möge mit ihren Nägeln ihr Gesicht pflügen. Ein wahrhaft liebevolles Bild! Da verläßt Cleopatra den Raum. Und immer barbarischer erscheint der Römer Antonius, immer mehr wird er von seiner Wut, seinem Zorn beherrscht: 68 69 70
Ebenda. Vgl. Anm. 5. Und Angela Pitt, S. 40, 41. Dennoch ist Angela Pitt vorsichtiger, behutsamer in ihren Formulierungen.
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
The witch shall die: To the young Roman boy she hath sold me, and I fall Under this plot: she die for't. (Act IV, xii, v. 4 7 - 4 9 ) Tod der Zaub'rin! Dem Buben Roms gab sie mich preis; ich falle Durch diesen Trug: drum Tod ihr! Cleopatras fingierter
Selbstmord
Als Cleopatra den stündlich anwachsenden Haß Antonys immer genauer beobachtet, beginnt sie, für seinen Verstand zu fürchten. Sie hält ihn bald für wahnsinniger als Ajax, der sich das Leben nahm, als er nicht die Rüstung des Achilles bekam. Sie möchte die Liebe Antonys, die sie verloren glaubte — und sie hatte ja genug Beweise dafür —, um jeden Preis wiedergewinnen. Sie wußte, daß sie ohne seine Liebe nicht weiterleben konnte. Sie meinte, Antony würde wieder der alte werden, wenn er um sie, Cleopatra, bangte. So begab sie sich in ihre Gruft, um einen Selbstmord vorzuspiegeln. Das einzige Ziel dieses fingierten Selbstmords ist die Wiedergewinnung des Herzens ihres geliebten Lebensgefährten, ihres Partners in Glück und Elend. Ihre Gefühle und ihr Denken sind eindeutig, kristallklar. Sie ist weit entfernt von Lohensteins CleopatraFigur, die den Selbstmord nur vorspiegelt, um Antonius in den Selbstmord zu treiben und dann — mit Augustus — herrschen zu können. Der Shakespeareschen Cleopatra haftet nichts Gemeines an, sie kennt keine Hintergedanken, sie verfolgt nur das Ziel der Wiedergewinnung seiner Liebe: All for Love! Durch Cleopatras für echt gehaltenen Selbstmord kommt Antony wieder zur Besinnung. Der Eunuch Mardian gibt ihm eine erschütternde Schilderung ihres Todes. „The Last she spoke/ Was ,Antony, most noble Antony'!" (IV, xiv, v. 29/30). Antony gesteht seinem jungen Freund Eros, daß er sterben wolle. Nach dem Tode Cleopatras habe er in solcher Unehre gelebt, daß die Götter seine Niedrigkeit verachten. Er verflucht sich selber, nicht den Mut zu haben, sich umzubringen, den Mut einer Frau, den Cleopatras. Als er Eros bittet, ihn zu töten, verweigert er dieses und tötet sich selbst. So gibt er Antony ein Beispiel. Aber Antony ist nicht so geschickt wie Eros; darauf beruht u.a. seine deterioratiom er braucht Hilfe, um zu sterben. Nichts zeigt, wie tief er gesunken ist, wie eben dies. Bald erfahrt Antony jedoch, daß Cleopatra noch lebt. Da läßt er sich in ihre Gruft tragen und gleitet mit fremder Männer Hilfe in ihre Arme.
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Robert Speaight scheint darin eine Art Triumph zu sehen71. Es liegt alles im Auge des Beschauers: ich sehe darin vielmehr eine groteske Wirkung: „Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas!" In Cleopatras Gruft spricht er noch einmal von sich selber. In dieser Rede Antonys erreicht seine Hjbris ihren Höhepunkt. Er nennt sich den größten, den edelsten Fürsten der Welt; es ist eine Selbst-Apotheose. Er weiß, daß er keines niedrigen, gemeinen Todes stirbt. Nicht feige wird er gestorben sein, sondern als ein Römer, von einem Römer tapfer besiegt. (Akt IV, Sz. xv, v. 54—58). Etwas erinnert diese Rede eines Römers an eine andere Römerrede vor seinem Tode: an die Julius Caesars, in der er sich mit dem Nordpolstern vergleicht 72 . Beim Tode Antonys spricht Cleopatra eine sehr poetische, von ihrem Schmerz durchzitterte Sprache. „The crown of the earth doth melt" (v. 83) und „And there is nothing left remarkable/Beneath the visiting moon" (v. 87—88). Aber diese Poesie kostet sie zu viel: Sie fallt in Ohnmacht. Als sie daraus erwacht, hält sie noch eine Rede. Es ist ein Gegenstück zu den letzten Worten Antonys. Darauf hat in letzter Zeit Angela Pitt aufmerksam gemacht 73 . Wie auch sonst im Leben — im Verlauf des ganzen Stücks — stehen sie bei allen Äußerungen, Empfindungen und Bewegungen in einer geheimen Korrespondenz miteinander. Es ist wie eine Wiederaufnahme des Motivs: war er traurig, war ich fröhlich, war er fröhlich, war ich traurig, oder auch des anfangs zitierten: „I wore his sword Philippan". Cleopatras Tod In ihrer Abschiedsrede vergleicht sie sich mit einem Milchmädchen, das die niedrigsten Arbeiten verrichtet. Sie stellt die Werte unseres Lebens in Frage: „All's but naught" (v. 78), weil Antony sie verlassen hat. Als sie ihren Tod nahen fühlt, denkt sie nur noch an ein römisches Begräbnis Antonys. Vor ihrem Tod (Ende des vierten Aktes) hatte sie sich die Frage gestellt, ob man seinem Leben vorzeitig ein Ende setzen dürfe:
71
72 73
„Antony is brought to her in the monument and hoisted up into her arms. It is f r o m this nadir of catastrophe that Antony and Cleopatra ... must be hoisted f r o m one kind of failure to another kind of success — so that we wonder whether the play ought to be called a tragedy at all, whether it ought not rather to be called a triumph" (Speaight, S. 117). Shakespeare, Julius Caesar. Angela Pitt, S. 3 8 - 4 1 .
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Verlobte
then is it sin, To rush into the secret house of death, Ere death dare come to us? (Act IV, xv, v. 8 0 - 8 2 ) Ist's denn Sünde, Zu stürmen ins geheime Haus des Todes, Eh Tod zu uns sich wagt? Es war eine christliche Frage. So versteht es Shakespeare, christliche Fragen mitten in ein römisch-ägyptisches Stück fast am Rande einzuführen — und zwar längst vor Cymbeline. Daß der Selbstmord — praktisch und theoretisch — eine solche Rolle in diesem Stück spielt, ist wahrscheinlich ein Signum temporis. M.C. Bradbrook hat darauf hingewiesen, daß „Roman suicide as a mode of selfaffirmation was among the most popular conventions of the Jacobean stage ... discussions on the ethics of suicide proceeded ..." 74 . Im fünften Akt erfährt Cleopatra von Dolabella, daß Octavius Caesar sie im Triumph aufführen wolle (V, ii, v. 109—110). Die Feigen, die man ihr in einem Korb bringt, sind das erste Dingsymbol ihres Todes. Nun weiß sie: My resolution's plac'd, and I have nothing Of woman in me: now from head to foot I am marble-constant: now the fleeting moon No planet is of mine. (v. 2 3 8 - 2 4 1 ) Mein Entschluß wanket nicht; nichts fühl' ich mehr Vom Weib in mir: von Kopf zu Fuß ganz bin ich Nun marmorfest; der unbeständ'ge Mond Ist mein Planet nicht mehr. Und vierzig Verse weiter unten sagt sie — endlich! — Husband, I come: 75 Now to that name my courage prove my title! (v. 2 8 9 - 2 9 0 ) Gemahl, ich komme: Jetzt schafft mein Mut ein Recht mir zu dem Titel! 74
75
M.C. Bradbrook: The Living Monument: Shakespeare and the theatre of his time. Cambridge, University Press 1977, S. 182. Daß sie im Augenblick ihres Todes das Wort „husband" endlich ausspricht, ist der stärkste Beweis für ihre innige Bindung an Antony, für eine Partnerschaft, die im Tod ihre höchste Erfüllung findet.
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Die Schlange an ihrer Brust beschwört das Bild des von ihr gestillten Säuglings herauf: As sweet as balm, as soft as air, as gentle. (v. 310) Noch einmal ruft sie Antonys Namen, möchte noch etwas sagen, aber es geht nicht mehr. Sie hat ihr Leben ausgehaucht. Es war notwendig, das Auf und Ab der Beziehung von Antony und Cleopatra genau nachzuzeichnen. So wurde klar, daß Cleopatra von der Schlacht bei Actium an immer die gleiche bleibt: Sie braust niemals auf, macht Antony keine Vorwürfe, keine Szenen, sie ist und bleibt die große Liebende, Verstehende, immer Vergebende. Antony ist geradezu unausstehlich mit seinem ständigen Aufbrausen, seinen Vorwürfen, Schuldzuweisungen. Wieder halten sich beide auf diese Weise die Waage oder besser: die Balance. Das entspricht dem Ausgleich ihrer Stimmungen, von dem früher einmal die Rede war, dem Stimmungsgleichgewicht zwischen ihnen, das ihre Harmonie in paradoxer Weise spiegelt: Ist er fröhlich, ist sie traurig, und umgekehrt. So erzeugen sie gemeinsam — auch wenn sie getrennt sind — den Grundklang der Welt, der eine Mischung ist aus Fröhlichkeit und Trauer, wie Shakespeares Bühnenwerke überhaupt. So erweist sich — trotz mancher heftigen Zusammenstöße — die Partnerschaft von Antony und Cleopatra als eine absolute; denn jene Kurzschlüsse werden sofort wieder beseitigt durch die überwältigende Seelengröße Cleopatras, die alles verzeiht, alles vergißt und auslöscht. Das kann Cleopatra nur, weil sie von einer Liebe durchströmt ist, die all diese Störungen mit Leichtigkeit absorbiert und in ein Nichts auflöst. Antony ist ein typischer Mann, ein typischer Krieger, ein selbstsicherer römischer Heros, überaus selbstbewußt: Er war der größte, der edelste, sagt er kurz vor seinem Tod. Cleopatra aber ist ganz untypisch, sie überragt alle Frauen, keine kann ihr das Wasser reichen, weder auf der Bühne, noch im Leben selber. Sie mutet uns ganz modern an, schon wegen der „infinite variety" des ersten Teils, die im zweiten Teil zu einer wunderbaren Einheit verschmilzt, die nur noch den Grundton strahlender Helligkeit und des alles überflutenden Lichts in uns hinterläßt. So steht sie zuletzt völlig geläutert vor uns da, wir vergessen ihren Übermut (des ersten Teils), ihr Verlangen nach Erfolg und Bewunderung der großen Männer ihrer Zeit, ihr Geltungsbedürfnis, den Kult ihrer eigenen Person, den wir bei der Beschreibung des Enobarbus — Cleopatra auf dem Cydnus — so tief empfanden, und es bleibt uns nur jenes „kniet nieder und betet an" übrig, das Enobarbus vor Cäsar Augustus empfunden hatte.
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Die Gattin, Geliebte,
Verlobte
4. Die Verlobte Viriate in Corneilles Sertorius (1662) Corneilles Sertorius gehört zu den großen Römerhelden wie Horace, Pompée, Cinna, Nicomède 76 . Der Dichter entnimmt den Stoff den Vitae Parallelae Plutarchs, in denen Sertorius ein besonderes Kapitel gewidmet ist 77 . Aber im Text Plutarchs ist von keiner Frau die Rede, nur die Liebe des Sertorius zu seiner Mutter wird betont. So mußte Corneille die Frauen frei erfinden. Über Viriate sagt er selber: „(Viriate) est une pure idée de mon esprit, mais qui ne laisse pas d'avoir aussi quelque fondement dans l'histoire ... Je ne la pouvais faire sortir d'un sang plus considérable que celui de Viriatus, dont je lui fais porter le nom, le plus grand homme que l'Espagne ait opposé aux Romains, et le dernier qui leur ait fait tête dans ces provinces avant Sertorius." 78 Die Dichter des 17. Jahrhunderts, die für ein höfisches Publikum schrieben, zu dem viele vornehme und gebildete Frauen gehörten, mußten anziehende und interessante weibliche Figuren auf die Bühne bringen, anregende und aufregende Frauenrollen schaffen, wenn ihre Stücke gefallen sollten. Denn gefallen — plaire — ist das große Modewort im Frankreich des 17. Jahrhunderts, und ein Dichter, der nicht gefiel, fiel einfach durch. Sertorius selber gehört zu den anziehendsten und besten Männerfiguren Corneilles, man möchte ihn neben Sévère in Polyeucte und auch neben den Cid stellen — trotz des Altersunterschiedes! Der Feldherr Sertorius mußte schon deshalb Corneille reizen, weil die Urteile der Historiker über ihn widersprüchlich sind, wie auch heutzutage die Urteile in ähnlichen Fällen und Situationen sehr verschieden ausfallen. Für die einen war Sertorius ein Vaterlandsverräter (bei Livius und Appian), ein Wort, das man auch heute in den Fällen gebraucht, wenn ein Mensch es vorzieht, in einem anderen Lande zu leben als in seinem Vaterland; andere heben seine Vaterlandsliebe und Heimatsehnsucht hervor (Sallust, Plutarch). Für die einen war er grausam, tyrannisch und wollüstig (Appian), für die andern milde und menschlich (Sallust, Plutarch). Plutarch geht auf Sallust zurück, dessen Sertorius-Verehrung er teilt und übernimmt. 76
77
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Vgl. Joseph Marthan, Le vieillard amoureux dans Pauvre cornélienne, Paris, Ni2et 1979: „Corneille retourne avec Sertorius à sa terre d'élection." Plutarch, Vitae parallelae, die Ubersetzung von Jacques Amyot dieses Textes findet man in der Edition von Jeanne Streicher, Genf 1959, S. 77 — 102. Pierre Corneille, Sertorius Tragédie, Edition critique publiée par Jeanne Streicher, Genève 1959, Librairie Droz: Darin „Au Lecteur", S. 1 und 2.
Viriate in Corneilles
„Sertorius"
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Corneille beabsichtigt nicht, eine Synthese aus den widersprüchlichen Meinungen herzustellen oder einen Sertorius nach eignem Konzept zu schaffen. Er übernimmt fast in allen Zügen und Einzelheiten das Bild Plutarchs, das so gut zu seiner eigenen Auffassung des römischen Heroismus paßt79. Dieses Bild gibt ihm auch die Möglichkeit, eindeutig und unwiderruflich Partei zu ergreifen für einen Mann, der so ganz nach seinem Herzen war. In der Tragödie Corneilles kann wegen der Regel der Einheit der Zeit nur ein kurzer Lebensabschnitt seines Heros vergegenwärtigt werden. Daß diese Forderung der drei Einheiten Corneille sehr beeinträchtigte, betont er oft genug. Er sagt es auch in der Zuschrift „Au Lecteur", wo er von der „incommodité de la règle" spricht. So kann der Dichter nur den letzten Lebensabschnitt des Feldherrn auf die Bühne bringen, den letzten, weil er unbedingt seinen tragisch-grausamen Tod in sein Bühnenwerk miteinbeziehen wollte. In diesem Stück steht Sertorius im Zenith seines Ruhms, seiner Beliebtheit. Von seinem Heer bewundert, geliebt und verehrt, von den Frauen begehrt — was konnte er mehr verlangen? Eigentlich gar nichts, und dennoch hätte er sich innigst gewünscht, daß die Neider und Mißgünstigen aus seinem Leben verschwinden. Denn die Neider wollen sein Verderben. Sie können nicht ruhig mitansehen, daß er von Stufe zu Stufe höher steigt. Corneille haßt die Neider aus tiefster Seele. Hatten nicht sie ihm das Leben in den letzten Jahren vergällt? Das Glück, die Fortuna, war ihm nicht wohlgesinnt. Auch Plutarch hatte dies von Sertorius gesagt 80 . Fortuna zog Männer wie Sulla und Pompejus vor, aber die MariusMenschen, zu denen Sertorius gehörte, liebte sie nicht, tolerierte sie nur für kurze Zeit. Wir richten nun unseren Scheinwerfer auf Viriate. Man wird zugeben müssen, daß sie am Anfang — in Akt II — eine recht banale Frau ist. Sie liebt Sertorius leidenschaftlich und will ihn um jeden Preis besitzen; ein Leben ohne ihn, ja überhaupt ohne einen Mann an ihrer Seite ist ihr unvorstellbar. Ihr ist der ganze zweite Akt gewidmet, so wie der erste Aristie, der verstoßenen Frau des Pompejus, gewidmet war. Sie liebt Sertorius so, wie die Corneilleschen Frauen lieben: Sie hat Hochachtung und Bewunderung für ihn: J'aime en Sertorius ce grand art de la guerre Qui soutient un banni contre toute la terre; 79 80
Hier hat wohl der Begriff „römischer Barockheroismus" seine Wurzel. Er sagte dies nicht expressis verbis, aber die Schilderung der perfiden Verschwörung gegen Sertorius läßt den Gedanken Plutarchs erraten.
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Die Gattin, Geliebte, Verlobte
J'aime en lui ces cheveux tout couverts de lauriers, Ce front qui fait trembler les plus braves guerriers, Ce bras qui semble avoir la victoire en partage. (II, i)
In Sertorius liebe ich diese große Kriegskunst, Die einen Verbannten verteidigt gegen die ganze Welt; Ich liebe in ihm die mit Lorbeern bedeckten Haare, Die Stirn, die die tapfersten Krieger zittern macht, Den Arm, dem der Sieg zuzukommen scheint. Als sie ihre Vertraute Thamire an das Alter des Sertorius81, an den vielleicht bald eintretenden Tod des geliebten Mannes erinnert, sagt sie stolz, und es klingt wie eine Prophezeiung: Jouissons, en dépit de l'envie, Des restes glorieux de son illustre vie: Sa mort me laissera pour ma protection La splendeur de son ombre et l'éclat de son nom. (ebd.) Freuen wir uns trotz allen Neids Der ruhmreichen Reste seines glanzvollen Lebens: Sein Tod hinterläßt mir zu meinem Schutz Die Leuchtkraft seines Schattens und den Klang seines Namens. In der nächsten, der zweiten Szene des zweiten Aktes stehen sich Sertorius und Viriate gegenüber. Viriate gesteht ihm, daß sie einen Römer heiraten möchte, unbedingt. Das wäre ihr Schutz, der Schutz ihres Landes, Lusitaniens, des heutigen Portugal. Als nun Sertorius einen jungen Römer vorschlagen will, wartet sie unruhig auf seinen Namen und hofft, Sertorius werde sich selber nennen. Aber das wäre viel zu viel Glück für sie, zu viel, um es tragen zu können. Sertorius lobt ihn — wohl gegen seine eigene Uberzeugung: De toute votre Espagne il a gagné l'estime Libéral, intrépide, affable, magnanime, Enfin, c'est Perpenna sur qui vous emportez ... (II, ii, 510-511) Er hat die Hochachtung ganz Spaniens gewonnen, Freigebig, unerschrocken, liebenswürdig, großherzig; Kurz, es ist Perpenna, den Sie besiegen ... 81
Das Alter des Sertorius ist der rote Faden, der das Stück durchzieht.
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Sie hatte den Namen des Sertorius erwartet und gesteht es. Sie ist wie vom Donner gerührt, als sie den Namen Perpennas hört. Mais certes le détour est un peu surprenant. Vous donnez une Reine à vostre Lieutenant! (v. 515-516) Fürwahr, dieser Umweg überrascht mich ein wenig Sie geben Ihrem Leutnant eine Königin! Je veux bien un Romain, mais je veux qu'il commande ... (v. 526) Ich will zwar einen Römer, doch einen, der befiehlt ... Doch bald wird Viriate, aber auch Sertorius diese Komödie zu viel; Sertorius entschlüpft ein Wort, das Viriate sofort auffangt: Sertorius Je parle pour un autre, et toutefois ... Hélas! Si vous sçaviez ... Viriate Seigneur, que faut-il que je sçache? Et quel est le secret que ce soupir me cache? Sertorius Ce soupir redoublé ... Viriate N'achevez point, allez, Je vous obéiray plus que vous ne voulez. (II, iii, v. 668-672) Sertorius Ich spreche für einen andern, jedoch ... Ach! Wenn Sie wüßten ... Viriate Mein Herr, was soll ich wissen? Und welches Geheimnis verbirgt dieser Seufzer? Sertorius Dieser doppelte Seufzer ... Viriate Vollenden Sie Ihren Satz nicht, Ich werde Ihnen besser gehorchen, als Sie es wünschen.
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Die Pünktchen, die die Rede des Sertorius unterbrechen, verraten dem Leser seine unausgesprochenen Gedanken. Der Zuschauer wird hellhörig durch das plötzliche Schweigen mitten im Satz; Viriate versteht jedoch sofort die geheimen Gedanken des geliebten Mannes. Zu ihrer Vertrauten sagt sie in der folgenden Szene L'apparence t'abuse: il m'aime au fond de l'âme82. (II, iii, v. 674) Der Schein trügt dich: er liebt mich aus tiefster Seele. Akt III gehört Pompejus: zuerst ein politisches Gespräch zwischen Pompejus und Sertorius, danach eine Versöhnungsszene zwischen Pompejus und seiner früheren Frau Aristie. Pompejus versucht, Sertorius für Rom wiederzugewinnen; dabei appelliert er an seine Heimatliebe: Il est doux de revoir les murs de la Patrie. C'est elle par ma voix, Seigneur, qui vous en prie, C'est Rome. (III, i, v. 925-927) Es ist süß, die Mauern seiner Vaterstadt wiederzusehen Rom ist es, das Euch durch meine Stimme darum bittet ... Aber für Sertorius ist „Rom nicht mehr Rom." Ces murs, dont le destin fut autrefois si beau, N'en sont que la prison, ou plustost le tombeau ... Et comme autour de moy j'ay tous ses vrais appuis, Rome n'est plus dans Rome, elle est toute où je suis. (III, i, v. 931-932; 935-936) Die Mauern, deren Schicksal einst so schön war, Sind nur noch sein Gefängnis oder vielmehr sein Grab ... 82
Man muß sich die Frage stellen, wie es kommt, daß der herbe Corneille Frauenrollen geschaffen hat, die so ungeheuer anziehend und mitreißend sind, wie die der Viriate? War es aus Sehnsucht nach Liebe, nach einer Frau überhaupt, nach der Du Pare im besonderen? Oder war es aus der Erkenntnis heraus, daß die Liebe f ü r ihn nicht mehr zugänglich ist (er war 56 Jahre alt, als er Sertorius schrieb), daß es für die Liebe zu spät ist? War also die Schaffung der Viriate ein Ersatz für ein Liebeserlebnis? Zu dieser Frage hat Joseph Marthan in überzeugender Weise Stellung genommen. Er hat dabei auf die Spätliebe Corneilles zu der Du Pare hingewiesen (S. 123 — 127). Vgl. auch André Chagny, Marquise du Pare, Paris, La Nef 1 9 6 1 , chap. III, S. 38 — 57.
Viriate in Corneilles
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Und da all seine Stützen um mich versammelt sind, Ist Rom nicht mehr in Rom, es ist ganz dort, wo ich bin. Sertorius rät zur Versöhnung, zur Vereinigung der Pompejuspartei mit der seinen. Aber Pompejus kann sich nicht vorstellen, daß er unter Sertorius dienen könnte.. Sertorius wäre es zufrieden, ein Leutnant des Pompejus zu sein. Jedoch strebt dieser etwas ganz anderes an: nämlich die Versöhnung mit Sulla, und das kommt für Sertorius nicht in Frage 83 . Im vierten Akt begegnen sich Sertorius und Viriate von neuem. Aber das Gespräch liegt unter dem „Erwartungshorizont" des Zuschauers. Es ist mehr ein Aneinander-Vorbeireden als ein Einander-Entgegenkommen. Manche Wendungen lassen allerdings die bisher verborgene Liebe des Sertorius erraten. Viriate L'hymen où je m'apprête (avec Perpenna) est pour vous une gêne! Vous m'en parlez enfin comme si vous m'aimiez! Sertorius Souffrez, après ce mot, que je meure à vos pieds. J'y veux bien immoler tout mon bonheur au vôtre, Mais je ne vous puis voir entre les bras d'un autre, Et c'est assez vous dire à quelle extrémité Me réduit un amour que j'ay mal écouté. (IV, ii, v. 1254-1260) Viriate Die Hochzeit, auf die ich mich vorbereite (mit Perpenna), ist Ihnen nicht recht! Sie sprechen davon so, als liebten Sie mich! Sertorius Dulden Sie nach diesem Wort, daß ich zu Ihren Füßen sterbe. Ich werde gern mein ganzes Glück dem Ihren opfern, Aber ich kann Sie nicht in den Armen eines anderen sehen, Und das zeigt Ihnen, daß eine Liebe, Auf die ich schlecht gehört, mich zum Äußersten treibt. Erst jetzt erklärt Sertorius, warum er Viriate seine Liebe bisher nicht gestanden hat. Und nun wagt er auch die Frage, die ihm seit langem auf der Zunge brennt: 83
Der alternde Sertorius wird von Marthan minütiös analysiert (S. 91 —106), worauf ich hier verweisen möchte.
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Verlobte
Aimez-vous Perpenna? (v. 1283) Lieben Sie
Perpenna?84
Die Antwort ist so corneillisch, wie sie nur sein kann. Sie hat weder Liebe noch Haß für Perpenna und ebensowenig für Sertorius. Gewiß ist das eine Lüge, denn sie liebt Sertorius aus tiefster Seele, aber sie ist zu stolz, es ihm zu gestehen, da er selber so zurückhaltend ist. Als sie früher einmal habe durchblicken lassen, daß sie ihn gern als ihren Gatten sähe, spielte die Liebe, wie sie behauptet, überhaupt keine Rolle, sondern nur la gloire, la gloire, das große Corneillesche Wort! Et la part que tantost vous aviez dans mon âme Fut un don de ma gloire, et non pas de ma flame. Je n'en ay point pour lu y, je n'en eus point pour vous, Je ne veux point d'amant, mais je veux un espoux, Mais je veux un Héros, qui par son Hyménée Sçache eslever si haut le Trône où je suis née, Qu'il puisse de l'Espagne estre l'heureux soutien, Et laisser de vrais Rois de mon sang et du sien. (IV, ii, v. 1285-1292) Und der Anteil, den Sie einst an meiner Seele hatten, War eine Gabe meines Ruhms, und nicht meiner Flamme. Ich habe keine für ihn, habe keine für Sie, Ich will keinen Geliebten, ich will einen Gatten. Ich will jedoch einen Helden, der durch seine Hochzeit Den Thron, auf dem ich geboren wurde, so hoch emporhebt, Daß er die glückliche Stütze Spaniens werden könnte Und wahre Könige aus meinem und seinem Blut hinterläßt. Viriate gibt also ihrem Heiratswunsch eine politische Motivation. Und ihre Rede ist keine Lüge, bei ihr stimmen Gefühl und politischer Wille zusammen85, wie so oft bei Corneille. Aber ohne Liebe könnte sie nicht 84
85
Diese Szene ist von der Kritik sehr verschieden beurteilt worden. Manche CorneilleForscher haben sie kritisiert, weil sie zu der eigentlichen Sertorius-Problematik nichts Wesentliches beitrage. In den siebziger Jahren hat Gordon Pocock eine ausgezeichnete Analyse dieser Szene gegeben und ihre politische Relevanz herausgearbeitet (Gordon Pocock, Corneille and Racine, Cambridge University Press 1973, S. 121 — 126). Marthan formuliert es so: „Viriate ... lie et fond les deux thèmes (le thème sentimental et le thème politique)" S. 90. André Stegmann bemerkt in JJHéroïsme cornélien, Tome II, Paris, Armand Colin 1968, S. 319: „Pour elle (Viriate) aussi amour et devoir politique coïncident."
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heiraten wollen, ohne Liebe könnte sie Sertorius die halb-verdeckten Avancen nicht machen. Trotz allem spielt sie hier bewußt ihre Gefühle herunter, um Sertorius zu provozieren, zum Bekenntnis seiner Liebe zu bringen; daher ihre bange Frage: M'aimez-vous? (IV, ii, v. 1298) Lieben Sie mich? Der ungeduldige Zuschauer, jedenfalls aber die ungeduldige Zuschauerin erwartet eine ganz andere Reaktion des Sertorius als die ihm dargebotene. Er müßte, so meint gewiß der Zuschauer, Viriate zu Füßen fallen oder sich in ihre Arme stürzen. Aber er tut es nicht. Er zögert, er hat Hemmungen, verlangt einen Aufschub. Das ist natürlich Viriate unerträglich. Er verlangt zu viel von ihr, zu viel Geduld, zu viel Verständnis für seine Lage. Und endlich legt sie ihre Karten bloß: Sie will gar nicht in Rom herrschen, sondern in Spanien. Was geht sie Rom überhaupt an? Qu'ay-je à faire dans Rome? et pourquoy, je vous prie ... (IV, ii, v. 1357) Was hab ich in Rom zu tun, wozu, ich bitte Sie ... Sie ist in einer Weise gereizt, daß sie Rom, die Heimat ihres Geliebten, beleidigt und seine Gefühle kränkt. Sie habe mehr für ihn getan als Rom, denn sie habe ihm in ihrem Land eine Zuflucht86 gegeben und beabsichtige, ihn zu einem großen König zu machen: Pour moy, d'un grand Romain je veux faire un grand Roy, Vous, s'il y faut périr, périssez avec moy, C'est gloire de se perdre en servant ce qu'on aime. (IV, ii, v. 1383-1386) Was mich betrifft, will ich aus einem großen Römer einen großen König machen, Und wenn es unterzugehen gilt, gehen Sie mit mir unter, Es ist Ruhm, sein Leben zu verlieren, wenn man der geliebten Person dient. Aber noch einmal begehrt der Zögernde, Unentschlossene Aufschub; Viriate ist dieser Zögerungen müde: 86
Sulla hatte ihn in die Verbannung geschickt, und auch vorher war ihr Verhältnis sehr gespannt.
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Je suis reine; et qui sait porter une couronne, Quand il a prononcé, n'aime pas qu'on raisonne. Je vay penser à moy, vous penserez à vous. (IV, ii, v. 1293-1295) Ich bin Königin; und wer eine Krone zu tragen weiß, Liebt es nicht, daß man hin und her redet, wenn er einmal entschieden hat. Ich werde an mich denken, und denken Sie an sich. Man sieht: hier prallen zwei verschiedene politische Konzeptionen und Ziele aufeinander. Sertorius strebt einen modus vivendi mit Rom an, Viriate liegt nicht daran, sie will in Lusitanien herrschen und dieses Reich mit Hilfe des Sertorius groß und mächtig machen. Das sind zwei völlig unvereinbare Zielsetzungen. Viriate hatte Sertorius mißverstanden. Indem sie dem Verbannten ihr Land als Zufluchtsort und als Möglichkeit seiner politischen und militärischen Erfüllung anbot, wollte sie auch gleichzeitig einen Partner gewinnen, einen Mann an ihrer Seite, der ihr helfen könnte, zu regieren und eine große Rolle zu spielen. Seine Zurückhaltung Viriate gegenüber kommt daher, daß er Viriates Wünsche und Ziele längst erkannt hat und nicht gewillt ist, dieses politische Spiel mitzuspielen. Wenn auch verbannt, bleibt er Römer und will es bleiben. Von „Vaterlandsverrat" kann keine Rede sein. Nur möchte er noch einige Siege mehr zu verzeichnen haben, um von den Römern reumütig zurückgerufen zu werden. Aber das Schicksal — das fatum, wie es bei Vergil heißt —, hat es anders gewollt. Der fünfte Akt beginnt freudig: Sulla hat abgedankt, Aristie kann zu ihrem Gatten Pompejus zurückkehren. Aber mitten in diese freudige Stimmung fallt die Nachricht, daß Sertorius tot ist. Perpenna und seine Mitverschworenen haben ihn bei einem Gastmahl umgebracht. Das ist historisch und nicht nur durch Plutarch, sondern auch durch alle anderen Historiker verbürgt, also keine Erfindung Corneilles. Als Perpenna nach diesem Verbrechen auf der Bühne erscheint, benimmt er sich herausfordernd. Er gibt Viriate zu verstehen, daß Sertorius gar nicht der rechte Mann für sie war, er aber, Perpenna, derjenige ist, den sie brauche: C'éstoit un grand guerrier mais dont le sang ny l'âge Ne pouvaient avec vous faire un digne assemblage, Et malgré ces défauts, ce qui vous en plaisait, C'estoit sa Dignité qui vous tirannisoit, Le nom de Général vous le rendoit aimable. A vos Rois, à moy-mesme il estoit préférable,
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Vous vous éblouissiez du Titre et de l'Employ Et je viens vous offrir et l'un et l'autre en moy ... (V, iv, v. 1705-1712) Das war ein großer Krieger, aber weder sein Blut noch sein Alter Machten aus Ihnen beiden ein würdiges Paar. Und trotz dieser Fehler war es seine Würde, Die Sie tyrannisierte und Ihnen gefiel. Der Titel eines Generals machte ihn liebenswert, Ihren Königen und mir selbst zogen Sie ihn vor, Sie waren geblendet von seinem Titel und Beruf, Und ich komme, um Ihnen beides in mir anzubieten ... Viriate antwortet sehr würdig, doch auch von oben herab. Sie betont, daß Sertorius sein bester Freund war, der sich für ihn geopfert hat. Sie findet nur Worte der Verachtung für diesen perfiden Meuchelmord. Wenn er sie heiratete, wäre sie in jedem Augenblick Herrin über sein Schicksal. Sie behandelt ihn überdies mit bitterer Ironie: Seigneur, voilà l'effet de ma reconnaissance. Du reste, ma personne est en vostre puissance: Vous estes maistre icy, commandez, disposez, Et recevez enfin ma main, si vous l'osez. (V, iv, v. 1785-1788) Dies ist, mein Herr, die Wirkung meiner Dankbarkeit. Im übrigen ist meine Person in Ihrer Macht: Sie sind hier Herr, befehlen Sie, verfügen Sie, Und empfangen Sie schließlich meine Hand, wenn Sie es wagen ... Die folgende Szene (V, vi) zeigt uns Pompejus in seiner ganzen menschlichen Größe. Er hört sich vorerst die Erklärungen Perpennas an und nimmt die Briefe in Empfang, die für Sertorius bestimmt waren. Aber er liest sie nicht, sind sie doch nicht an ihn gerichtet; er verbrennt sie öffentlich87. Er überantwortet Perpenna einem Tribunen. Die nächste und vorletzte Szene (V, vii) gibt Viriate noch einmal die Möglichkeit, sich in ihrer heroischen Größe zu zeigen. Sie gibt den Kampf gegen Rom auf und nimmt den Frieden an, den ihr Pompejus 87
Diese Verbrennung der Briefe hat Plutarch eingehend geschildert. War sie in diesem Stück eine Reminiszenz an die Jesuitendramen, die Corneille früher gesehen hatte, in denen gefälschte Briefe, aufgrund deren Verfolgungen und Mord angeordnet wurden, eine große Rolle spielten?
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anbietet. Da sie niemanden sieht, der ihrer würdig wäre, verzichtet sie sowohl auf den Krieg wie auf eine Eheschließung. Dennoch will sie auf die Ehre ihres angestammten Thrones nicht verzichten. Wenn es ihr vergönnt ist, ohne Schande und ohne Ehegatten zu regieren, will sie nur Rom oder ihn, Pompejus, als Erben anerkennen. Pompejus verspricht ihr jedoch einen ehrenhaften Frieden. Viriate Moy, j'accepte la Paix que vous m'avez offerte. C'est tout ce que je puis, Seigneur, après ma perte, Elle est irréparable, et comme je ne voy Ni Chefs dignes de vous, ni Rois dignes de moy, Je renonce à la guerre ainsi qu'à l'Hymenée; Mais j'aime encor l'honneur du Trône où je suis née ... (V, vii, v. 1889-1894) Viriate Ich nehme den Frieden an, den Sie mir anbieten. Das ist alles, was ich vermag, mein Herr, nach meinem Verlust, Der unersetzlich ist. Und da ich weder einen Chef sehe, Der Ihrer würdig ist, noch Könige, die meiner würdig wären, Verzichte ich auf den Krieg und auch auf die Ehe, Aber noch immer liebe ich die Ehre des Throns, wo ich geboren wurde. Größe der Frauen — das ist es, was Viriate im letzten Akt demonstriert. War sie in Akt II noch eine typische kleine Frau gewesen, die sich das Leben ohne den „Mann an ihrer Seite" nicht vorstellen konnte, so wächst sie durch den Tod des Sertorius über sich selbst hinaus, wird zur modernen selbständigen Frau, die ihre Aufgaben ganz allein bewältigen kann und will. Zweifellos war die Liebe, solange Sertorius lebte, ein erstrebenswertes Gut für sie, aber nicht jede Liebe, nicht jeder Mann. Es ist im übrigen auch erlaubt zu fragen, ob sie, auch wenn Sertorius weitergelebt hätte, ein harmonisches Paar geworden wären. Denn seine Rom-Verbundenheit und ihre Ablehnung römischer Politik und Haltung waren unvereinbar, solange Viriate ihre Einstellung zu Rom nicht änderte. Corneille ist ein politischer Dichter ersten Ranges, der zwar den Regungen des Herzens Rechnung trug, bei dem jedoch die Politik in letzter Instanz über alles entscheidet, sei es durch das selbständige Handeln der Acteure der Geschichte oder auch durch die unsichtbare Hand des Schicksals, das alles in die — irgendwie — vorgezeichneten Bahnen lenkt. Viriate unter die selbständigen, modern wirkenden Ehefrauen zu rechnen, mag manchem gewagt erscheinen, um so mehr, als sie Sertorius
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tatsächlich nicht geheiratet hat. Ich verstehe unter diesem Begriff ihren großen unabhängigen Geist, der versuchte, nach dem Tode des geliebten Mannes das ihr vorschwebende Herrscherideal zu verwirklichen, für das ihr Sertorius — ihr potentieller Gatte — das Muster geliefert hatte. So bleibt sie im Geiste, trotz der ursprünglichen politischen Divergenzen — die ihm zugeordnete Frau, wenn auch die Ehe nur virtuell, nicht real vollzogen wurde. Sie wird seine Nachfolgerin, die Vollstreckerin seines Willens, denn sie überwindet ihren Haß gegen Rom und bringt — auf Initiative des Pompejus — den langersehnten Frieden Spaniens mit Rom zustande. In dem Punkt, den ich soeben zur Sprache brachte, scheiden sich allerdings die Geister. So z.B. will Joseph Marthan von alledem nichts wissen, die meisten Corneille-Forscher hüllen sich darüber in Schweigen. Marthan interessiert sich ausschließlich für die männlichen Heroen des Sertorius, ihre politischen Aufgaben und Gefühle. So taucht Viriate bei Marthans Überlegungen über den Tod des Sertorius kaum auf, und wenn, dann nur, um sofort beiseite geschoben zu werden. „Le choc ... de la mort de Sertorius la Confronte brusquement à la vérité de son amour, met en déroute la rationalisation politique de cet amour et en expose toute la vanité: elle se sent soudain esseulée, transie d'affliction et de désolation. La reine s'efface complètement. Désormais elle „renonce à la guerre ainsi qu'à l'hyménée" (v. 1893), elle veut „régner sans honte et sans époux" (v. 1899) ... Mais ce régne auquel elle aspire n'en a que l'apparence: elle opère un retrait volontaire du monde qui correspond à la sortie conventuelle d'Angélique dans la Place Royale. Elle n'est plus qu'une effigie cérémonielle accrochée au souvenir de son amant et attend la mort et ce faisant coupe toute lignée. Cette lassitude du monde qui la gagne préfigure celle de Suréna ..." 88 . Marthan zufolge zieht sich Viriate nach dem Tod des Sertorius einfach zurück. Kann man so etwas einer 88
Mit der Auffassung Marthans bin ich keineswegs einverstanden. Viel näher kommt Gordon Pocock meiner Vorstellung von der politischen Viriate. Pocock schreibt: „In the first two thirds of the play she appears Sertorius' main ally, to whom he is properly grateful. But in Act IV she suddenly reveals what has been only hinted before: she cares nothing for Rome and the republic, and her sole aim is to consolidate her kingdom, which the republic (the .liberty' für which Sertorius is fighting) will enslave. To achieve her aim, she deliberately aims to descredit Sertorius in the eyes of his countrymen." Obwohl ich diesen letzten Satz nicht glaube, nicht akzeptieren kann, hat dennoch das folgende wieder Bestand: „In Act V, Scene i, Corneille underlines this element in his theme by making Viriate expose more clearly than ever that she has been making use of Sertorius, and that she is fiercely hostile to Rome." Darauf folgen die Verse: „J'ai fait venir exprès Sertorius d'Afrique/ Pour sauver mes Etats d'un pouvoir tyrannique."
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Viriate überhaupt zumuten? Ich glaube vielmehr, daß sie, die so klarumrissene politische Ziele hatte, sich auch nach dem Tod des geliebten Mannes nicht zur Ruhe setzen wird. Sie wird ihre politischen Aufgaben ergreifen und ausführen. Ohne Krieg, dies bedeutet nicht Tatenlosigkeit: ohne Mann: nicht Zurückgezogenheit, und ohne Schande bedeutet bestimmt: ehrenvoll und würdig. Sie ist keine trauernde Witwe wie Andromaque 89 , sondern eine trauernde Frau, die in ihrem eigenen politischen Handeln ihre Erfüllung sieht. So kann sie dem Mann, den ihr das Schicksal nimmt und ihr nicht als Ehegatten gegönnt hat, dennoch innerlich treu bleiben durch ihre versöhnliche Beziehung zu Rom, sie kann so sein Andenken in höchsten Ehren halten. Von dieser Seite gesehen, ist das Stück fast ein Loblied auf die unerfüllte Liebe.
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Vgl. meine Andromaque-Analyse in diesem Buch.
II. Erzwungene Ehen1 — ein Intermezzo a) The Taming of the Shrew (1594) von Shakespeare b) All's well that ends well (1604/05) von Shakespeare c) Le mariage forcé (1664) von Molière
Damit sich der Leser nicht langweilt und nicht gezwungen wird, sich der Reihe nach mit schwerwiegenden Eheproblemen zu befassen, soll ihm in diesem Intermezzo eine Reihe von Fällen vorgeführt werden, wo entweder sie oder er aus welchen Gründen auch immer zur Ehe gezwungen wird. Die in diesen Komödien dargestellten Situationen sollen zeigen, wie fragwürdig der Zwang zur Ehe ist, wie grotesk manchmal und wie lächerlich. Hier und da wird jedoch auch klar, daß die kluge, in die Ehe hineinmanövrierte Frau dennoch einen Ausweg findet, um ihr Ich und ihr Selbstbewußtsein zu retten, während der Mann, der wider Willen und Neigung in die Ehe hineinschlittert, sein Gesicht nicht wahren kann und am Ende dasteht wie ein armer Tropf, dem man sein Ich zerstört hat und dessen Leben in andere Bahnen gelenkt wurde als die, die seiner Natur gemäß gewesen wären. Während die erste Komödie, Der Widerspenstigen Zähmung, viele Szenen und Effekte hat, gleicht die zweite vielmehr einer Komiko-Tragödie. Den größten Witz legt Molière in Le Mariage forcé an den Tag. Es ist ein Lustspiel, in dem beide Teile, Mann und Frau, den kürzeren ziehen, ein Stück voller komischer Bühneneffekte und auch literarischer Anspielungen, wie etwa das nicht zustande gekommene Duell, wie die Rolle des Bruders, der die Familie und den Familienstolz repräsentiert, und wie schließlich die zum Erstaunen ähnliche Auffassung der Ehe von Dorimène und Sganarelle. Jeder will sich ins Ehejoch spannen lassen, um seine Freiheit zu erobern und zu genießen.
1
Über erzwungene Ehen vgl. Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500- 1800, New York, Harper and Row, 1977.
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Erzwungene Ehen — ein
Intermetgo
a) Shakespeares The Taming of the Shrerv (1594) Daß Polarität2 ein Grundprinzip der Welt ist, hatte Shakespeare erkannt, als er begann, seine Stücke zu schreiben. Polarität bestimmt sein frühes, reifes und spätes Schaffen. Bald führt sie zu tragischen Entwicklungen, bald zu relativ hoffnungsvollen Ausblicken. Am meisten fesselte den Dichter die Polarität der Geschlechter. Er betrachtete sie von ferne und machte sie zur Grundlage seiner Dramaturgie. Als Musterbeispiel möge uns hier Romeo and Juliet dienen: die beiden Liebenden Romeo und Juliet, die Montagues und die Capulets, die Eltern und die junge Generation, das große Fest bei den Capulets, bei dem die Spannung beginnt, sich zusehends steigert, bis sich endlich alle Spannungen im frühen Tod der Liebenden lösen. Kurz danach erscheint The Taming of the Shrew: Ein junger Mann, Petruchio, hat es sich in den Kopf gesetzt, ein Mädchen, das fast von jedem abgelehnt wird, zu gewinnen, ihre Natur und ihre Beziehungen zur Umwelt zu verändern, ihre Widerspenstigkeit zu zähmen, ihre Sprödigkeit zu überwinden, aus dem störrischen Geschöpf eine normale, gesunde Frau zu machen, wie sie ihm vorschwebte, eine Frau also, die ihm zu Willen sei; dann werde er sie zur Ehe zwingen. Er will sie bändigen, sie, ein unabhängiges, freies Wesen mit ihren eigenen Vorstellungen von Selbstverwirklichung. Petruchio erdenkt eine besondere Strategie, um sie sich gefügig zu machen: er ärgert und neckt sie, erniedrigt und demütigt sie, um an sein Ziel zu kommen. Er klammert gewisse Methoden aus, die andere Männer mit Vorliebe anwenden: sexuelle Aggressivität 3 , Drohungen oder Versprechungen. Kate möchte ihrer eigenwilligen, spröden Natur treu bleiben, aber es kommt anders. Die Männer mischen sich ein, verwehren es ihr: zuerst der Vater, dann Petruchio, der Bräutigam. Der Vater erfindet eine jener komplizierten Formeln, die Shakespeare hier und da zu Hilfe rief, um die Dinge zu komplizieren und mit Spannung zu laden, damit sie später durch noch kompliziertere Mittel gelöst werden können. Die Formel des Vaters lautet hier: Er wird seine schönere, musische und anziehende blonde4 Tochter Bianca erst dann zur Ehe freigeben, wenn seine ältere, 2
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4
Über Polarität vgl. Hermann Riefstahl „Existentialität als Kultur-Prinzip" (Mannheim, Verlag der Humboldt-Gesellschaft, 1980), S. 1 3 3 - 1 3 9 , und „Ontische Strukturen" (Mannheim, im gleichen Verlag, 1983), S. 19 — 51. S. Irene Dash, Wooing, Wedding