Straining: Eine subtile Art von Mobbing 9783666403651, 9783525403655, 9783647403656


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Straining: Eine subtile Art von Mobbing
 9783666403651, 9783525403655, 9783647403656

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Harald Ege

Straining: Eine subtile Art von Mobbing

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Dem Verborgenen

Mit 6 Abbildungen und 23 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40365-6 Umschlagabbildung: Pergame / shutterstock.com © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Straining 1.1 Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Was ist unter Straining zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Zur Erkennungsmethode von Straining . . . . . . . . . . . . . 1.4 Fallbewertung von Straining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Ein weiteres Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 18 30 61 65

2 Straining und Mobbing 2.1 Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zur Feststellung von Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ausnahmen zur Sieben-Parameter-Methode . . . . . . . . . 2.4 Schadensprofil von Mobbing und Straining . . . . . . . . . . 2.5 Ein weiteres Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 73 98 104 111

3 Straining und Stalking 3.1 Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Formen des Stalkings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Anwendung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ein weiteres Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114 121 126 144 146

4 Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz 4.1 Straining und sexuelle Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.2 Straining und Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4.3 Straining und Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4.4 Straining und Glass Ceiling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.5 Straining und Arbeitssucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Inhalt

5 Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

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Einführung

Die Idee zu einem Buch über Straining kam mir vor über zehn Jahren während des Verfassens eines Buches über verschiedene Konflikttypen am Arbeitsplatz. Es folgten andere Bücher und Artikel, diverse internationale Kongresse und unzählige Gutachten, sowohl für die Richter als auch für die Anklage oder Verteidigung. Dabei erscheint es mir seltsam, erst heute über ein Thema zu schreiben, mit welchem ich mich seit einem Jahrzehnt beschäftige und über das ich bereits Etliches geschrieben habe, welches aber dennoch im deutschen Sprachraum gänzlich unbekannt ist. Bisher beschränkte ich mich in meiner Arbeit auf den italienischen Raum, was anhand meiner Bibliografie deutlich wird. In den letzten Jahren verfasste ich dann einige Gutachten für deutsche Patienten. Durch diese Weise ist das Thema Straining auch über die Alpen nach Deutschland gekommen. Doch anfangs stießen diese Gutachten sowohl vonseiten der Rechtsanwälte als auch der Richter auf Unverständnis aufgrund der fehlenden Erfahrung, was Straining eigentlich sei. Die Gegenseite hatte diese Gutachten oft genug herabzusetzen versucht, nicht nur, um die eigene Position durchzusetzen. In den letzten Jahren hat sich die Anzahl deutscher Patienten dennoch kontinuierlich erhöht. Wenn meine Patienten mit einem Gutachten über Straining vor dem Richter oder den Rechtsanwälten stehen und diese es zu widerlegen versuchen, bemerke ich immer wieder, dass dies zuerst einmal gelingen muss und dass nicht schon vorab aufgrund vorgefertigter Meinungen Schlüsse gezogen werden können. In Italien ist von Vorteil, dass prinzipiell bei jedem Zivilprozess (auch und vor allem vor Arbeitsgerichten) Gutachter eingesetzt werden, die über den entstandenen Schaden beraten und urteilen, da ein Richter weder ein Gerichtsmediziner noch ein Gerichtspsychologe ist. In solch einem Fall haben wir damit einen Gerichtsgutachter, der für den Richter den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Einführung

tatsächlichen Schaden beurteilt, einen Gutachter der Anklage und einen Gutachter der Verteidigung. Mit meinen Gutachten habe ich die Möglichkeit, dies auch im deutschen Sprachraum zu etablieren. Doch wie kam es zu der Entwicklung eines Konzepts von Straining? Und vor allem: Worin liegt der Unterschied zum scheinbar allseits bekannten Mobbing? Zu Beginn der 1990er Jahre begann ich mit meiner Arbeit zum Thema Mobbing. Zunächst stützte ich mich auf die gängige Literatur, bis ich nach und nach eigene Definitionen zu entwickeln begann, da ich schon bald eklatante Schwächen an den überlieferten Bildern von Mobbing feststellen musste. Diese neue Sichtweise auf ein »altes« Problem schien so gut anzukommen und zu fruchten, dass bald auch das italienische Parlament und der Senat bei ihren Gesetzesentwürfen ein Auge darauf warfen. Von beiden politischen Institutionen wurde ich dann auch bald als Berater hinzugezogen. Meine Arbeit, die schon bald durch die Massenmedien landesweit bekannt wurde, sprengte schon bald den Rahmen, den ich allein hätte tragen können. Es bot sich daher an, eine Organisation zu gründen (»Associazione Prima«), um die steigende Nachfrage auffangen zu können. Diese wurde im verkehrstechnisch strategisch gelegenen Bologna im Januar 1996 gegründet. Dank der »Associazione Prima« hatte ich mit immer mehr Fällen zu tun, was mir zu einem Plus an Erfahrung und einer Schärfung meiner Menschenkenntnis verhalf. Dies war auch der Hauptunterschied zu den meisten Mobbingexperten, die zwar große Mengen an Fragebögen zur statistischen Erhebung in Umlauf brachten, aber nie einen Patienten vor sich gehabt geschweige denn dessen Problem gelöst zu haben. In diese Zeit fiel auch die Veröffentlichung meines ersten Buches mit dem Titel »Mobbing – Che cos’è il terrore psicologico sul posto di lavoro« (»Mobbing – der psychologische Terror am Arbeitsplatz«, 1996). Es war der erste italienischsprachige Titel zu diesem Thema. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde ich (ebenfalls als Erster in Italien) mit einem Gerichtsgutachten für eine Mobbingklage betraut. Dies hatte dann im Frühjahr 2001 am Arbeitsgericht in Forlì ein Mobbingurteil zur Folge, bei dem der zuständige Richter (Carlo Sorgi) meine Kriterien zur Erkennung von Mobbing übernahm. Dieser Vorfall sollte in vielerlei Hinsicht interessant sein. Als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Einführung9

ich im Jahr 2000 von Richter Sorgi mit diesem Fall betraut wurde, erschien mir das Schreiben von Gutachten spontan als eine Lücke, die in der bisherigen Mobbingforschung überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Darüber gesprochen und gefachsimpelt wurde aber schon seit Jahren in zahlreichen Ländern. Das Problem war neben der Sachlichkeit und Kompetenz schlichtweg die fehlende direkte Auseinandersetzung der meisten sogenannten Mobbingexperten mit dem, worüber sie da eigentlich schrieben. Es ist unglaublich, wie viele Wissenschaftler, Ärzte, Psychologen, Professoren, Soziologen und Rechtswissenschaftler sich heute noch immer in Deutschland mit diesem Thema beschäftigen, immer neue Statistiken veröffentlichen und Bücher darüber schreiben. Die meisten haben nicht ein einziges Gutachten darüber verfasst und haben sich niemals Gedanken darüber gemacht, die Thematik einem Richter zu erläutern und so zu vereinfachen, dass es der Beweisführung dienlich ist. Viele Autoren haben ihre Zeit damit verbracht, noch eine Definition oder Statistik zu veröffentlichen, ohne den Nutzwert zu beachten. Einem Mobbingopfer (oder Strainingopfer) ist es ziemlich egal, ob es statistisch berücksichtigt wird oder nicht. Ihm ist es egal, wie viele andere Männer oder Frauen, wie viele andere seiner Altersklasse mit der gleichen Herkunft und in der gleichen Branche darunter leiden. Der Betroffene will nur eines: Sein Problem lösen und damit dem Leiden ein Ende setzen. All diese Definitionen sind nur dazu geschaffen, ein Problem abzugrenzen, helfen aber dem Richter nicht wirklich, eine Entscheidung zu fällen, da er oftmals einen sehr großen Interpretationsspielraum hat. Dementsprechend stand ich im Jahr 2000 vor der Aufgabe, wie ich nun in objektiver Weise dem Richter aufzeigen kann, ob Mobbing vorliegt oder nicht. Mir kam der Gedanke, ein Parametersystem einzuführen, welches objektiv und für jeden verständlich das Vorhandensein von Mobbing demonstriert oder dementiert. Dieses Parametersystem wird in diesem Buch auf einzelne Konfliktarten angewendet. Es wurde im Jahr 2002 veröffentlicht und »Metodo Ege 2002«1 genannt (Ege-Methode, 2002). Seit jenem Jahr wurden etwa 1

Die komplette Methode (»Metodo Ege«), veröffentlicht unter »La valutazione peritale del danno da Mobbing« beim Verlag Giuffré in Mailand (2002), be-

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Einführung

60 bis 70 % aller italienischen Gerichtsurteile zum Thema Mobbing mithilfe meiner Methode entschieden, da diese dadurch allgemein objektiv und klar zu beweisen waren (oder nicht). In den Folgejahren fiel mir allerdings auf, dass der wichtigste Parameter, der die Frequenz der feindseligen Handlungen betrifft, oft nicht zweifelsfrei festzustellen war oder schlichtweg nicht zutraf. Obwohl in allen Definitionen in den verschiedenen Ländern von »häufigen« oder »systematischen« oder »sich wiederholenden« oder »regelmäßigen« feindseligen Handlungen die Rede war und noch immer ist, trifft diese Eigenschaft eher in der Minderzahl der Mobbingfälle zu. Je mehr Gutachten ich für inzwischen bis zu zwölf Gerichte anfertigte, desto mehr wurde mir bewusst, dass wissenschaftlich betrachtet eigentlich eine große Anzahl von Mobbingfällen nicht als solche zu bezeichnen sind. Nach allen gängigen Mobbing-Definitionen, selbst nach meiner neu entwickelten Methode, ist nur eine Minderzahl von vermeintlichen Fällen auch wirklich als Mobbingfall anzusehen. Dennoch war mir klar, dass die betroffenen Menschen leiden, dass sie mit verschiedenen psychosomatischen Störungen zu kämpfen haben, dass sie Opfer von Diskriminierung und Ungerechtigkeiten waren, aber eben nicht als Mobbingopfer im streng definitorischen Sinne gelten. Infolgedessen war ich bestrebt, dieses Phänomen näher zu untersuchen, handelte es sich doch dabei um ein offensichtliches Konfliktpotenzial, welches zwar keine Anzeichen von systematisch wiederkehrenden feindseligen Aktionen erkennen lässt, aber trotzdem schweres Leid mit psychosomatischen Folgen verursacht. Konfliktforscher verwendeten Mobbing oft als Sammelbegriff, doch lässt sich leicht nachvollziehen, welche Probleme sich daraus vor Gericht ergaben. Diejenigen Richter, die meine Methode anwandten, aber auch andere, die bereits vorhandene Definitionen gebrauchten, konnten die Klage nur zurückweisen, weil der Kläger den Beweis für die wiederkehrenden feindseligen Handlungen schuldig blieb. Für inhaltet nicht nur das Erkennen und die Definition des Konfliktes, sondern auch die Bewertung des daraus folgenden Schadens. Das Buch schließt mit einer Schadenstabelle, welche als erste überhaupt versuchte, den sogenannten existenziellen Schaden zu bewerten.

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Einführung11

die Opfer dieses Phänomens war dies natürlich mehr als frustrierend. Sie litten unter einer konflikthaltigen Arbeitsplatzsituation und/oder unter psychosomatischen Krankheiten, aber hatten keine Möglichkeit, die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr, in irgendeiner Weise darzustellen. Es gab ja nur Stress oder Mobbing als akzeptable Erklärung. Ich begann, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich den Menschen vor mir helfen konnte, die de facto unter einem Konflikt litten. Auf zahlreichen Kongressen und Podiumsdiskussionen stieß ich auf taube Ohren, der theoretische und allumfassende Begriff des Mobbings war so dermaßen verhaftet in den Köpfen, dass ich hier nicht weiter kam. Das Problem wurde nicht ernsthaft erörtert oder man schob die Lösung letztendlich in Richtung der Psychotherapie. Doch das half vor Gericht auch nicht weiter. Dies war die Geburtsstunde des Strainings. Meine Arbeiten konzentrierten sich immer mehr auf die Erforschung dieses Phänomens. Immer öfter hatte ich Patienten, die eigentlich nur unter einigen oder sogar nur einzelnen feindseligen Handlungen gelitten hatten, aber oft schlimmere psychosomatische Symptome aufwiesen als Mobbingopfer. So begann ich, auf der Basis meiner Methode aus dem Jahr 2002 neue Kriterien und Parameter zu erarbeiten, um jenes Phänomen besser erfassen und dies dann auch in meine Tätigkeit als Gutachter einfließen lassen zu können. Im Herbst 2004 gab ich diesem Phänomen den Namen »Straining«. Schon im Frühjahr 2005 wurde ich vom Gericht in Bergamo mit einem Gutachten für einen Fall betraut, welcher (wie die Mehrzahl der Fälle) dem Straining entsprach. Meinem Gutachten folgend erging schließlich das Urteil des Arbeitsgerichts von Bergamo vom 20. Juni 2005, welches weltweit das erste Gerichtsurteil war, bei dem einem Opfer von Straining Schadensersatz zugesprochen wurde. Im Folgenden wurden immer mehr Urteile gefällt, die Opfern von Straining Recht zusprachen.2

2 An dieser Stelle sollten die Urteile des Arbeitsgerichts in Sondrio vom 07. 07. 2007 und vom Arbeitsgericht in Brescia vom 15. 04. 2011 erwähnt werden.

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Einführung

Besondere Erwähnung soll in diesem Zusammenhang finden, dass das oberste italienische Strafgericht (Corte di Cassazione Sez. n. 6 Penale) mit seinem Urteil Nr. 28603 vom 3. Juli 2013 Straining als Tatbestand anerkannte. In nur neun Jahren nach seiner Erstbeschreibung wurde Straining damit offiziell vom obersten Gerichtshof in Rom anerkannt. Das Wort Straining ist inzwischen so weit verbreitet, dass es selbst im Lexikon der italienischen Sprache (Zanichelli, 2014) zu finden ist. Bei diesem Werk handelt es sich um eine komplett neue Publikation, obwohl es sich stark an mein Buch von 2005 anlehnt (»Oltre il Mobbing – Straining, Stalking e altre forme di conflittualità sul posto di lavoro«). Ich werde Straining im gesamten Buchverlauf mit anderen Konfliktformen, die am Arbeitsplatz auftreten können, vergleichen und es davon abgrenzen. Ich werde vor dem Hintergrund des Strainings bekannte und unbekannte Konfliktformen vorstellen. Dieses Buch soll dazu beitragen, Konflikte am Arbeitsplatz besser verstehen und analysieren zu können und damit Betroffenen immer effizienter helfen zu können.

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1 Straining

1.1 Ein Fallbeispiel Für Katrin lief eigentlich alles wie geschmiert. Sie wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, arbeitete später auch dort und hatte erst kürzlich nicht weit von ihren Eltern entfernt eine Eigentumswohnung gekauft. Sie arbeitete zwar in der großen Stadt, aber ihre Wohnung lag etwas außerhalb, sodass sie dem Großstadtverkehr und der Hektik entfliehen konnte. Ihr beruflicher Werdegang war eigentlich fast eine Bilderbuchkarriere. Katrin absolvierte ohne größere Schwierigkeiten einen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengang in der dafür vorgesehenen Mindestzeit. Mit ihren hervorragenden Noten und dem ausgezeichneten Universitätsabschluss hatte sie dann auch keine allzu großen Mühen, eine ihrer Vorstellung entsprechende Arbeitsstelle zu finden. Für die junge Frau war ihr erstes Gehalt gleichbedeutend mit einer Anerkennung als vollwertige Mitarbeiterin. Ihrem Lebenslauf entsprechend bekam sie eine Stelle mit Verantwortung, die sie durch ihr Geschick und ihre Intelligenz schnell ausbaute. Nach nur drei Jahren übertrug man ihr bereits eine eigene Unterabteilung, was für ein Unternehmen dieser Größe (wir sprechen von über 500 Mitarbeitern) eine ausgezeichnete Leistung darstellt. Der Weg ihrer Karriereleiter schien vorgezeichnet, als sie nach nur zwei weiteren Jahren stellvertretende Abteilungsleiterin wurde. Ihr Gehalt stieg entsprechend ihrer Leistungen immer weiter. Sie war glücklich und engagierte sich sehr bei ihrer Arbeit, da sie ja die entsprechenden beruflichen Anerkennungen bekam. Auch im privaten Bereich tat sich viel: Katrin traf Günter, einen Mann in ihrem Alter, der bei einer IT-Firma arbeitete. Sie heirateten und zogen in die von ihnen gekaufte Eigentumswohnung. Nach kurzer Zeit entschloss sich das junge Paar, ein Kind zu bekommen. Katrin

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Straining

gebar 15 Monate nach der Hochzeit einen gesunden Jungen. Arbeit, Mann, Kind, Wohnung – was konnte sich Katrin noch mehr wünschen? Als sie jedoch nach der Mutterschutzzeit wieder an ihre Arbeitsstätte zurückkehrte, war die Ernüchterung groß. Ihr Platz als stellvertretende Abteilungsleiterin war mit einer anderen Person besetzt worden. Ihre Unterabteilung wurde inzwischen von einer Kollegin geführt, die Katrin selbst ausgebildet hatte. Katrin dachte sich, dass dies eben alles noch mit der Schwangerschaftsvertretung zusammenhänge. Sie meldete sich bei der Personalabteilung, um zu erfahren, wo sie denn anfangen solle. Man vertröstete sie mit Ausflüchten. Da die Situation sich in den nächsten Tagen nicht wesentlich änderte, meldete sie sich bei der Direktion. Dort wiederum schien man völlig überrascht zu sein, man »sei ja eine große Familie« und »man lasse niemanden fallen« und deshalb »werde man ihr unverzüglich eine ihrer Qualifikation und Erfahrung entsprechende Stelle zuweisen«. Sie solle sich wieder in der Personalabteilung melden. Genau dies machte Katrin jeden Tag, insgesamt knapp drei Wochen lang. Dann endlich teilte man ihr mit, sie solle in die Finanzbuchhaltung wechseln; einen Bereich, in dem sie noch nie gearbeitet hatte und der rein gar nichts mit ihrer bisherigen Tätigkeit zu tun hatte. Als sie sich dort meldete, wusste niemand etwas von ihrer Versetzung. Im Gegenteil, man sah sie regelrecht als überflüssig an. Man stellte ihr einen wortwörtlich leeren Schreibtisch zur Verfügung, ohne jegliche Arbeitsinstrumente (kein Telefon, kein Computer, nicht mal einen Bleistift). Nach nur einem Tag beschwerte sich Katrin, dass sie weder Arbeit noch Arbeitsaufgaben hätte. Ihr Vorgesetzter ignorierte ihre Beschwerde gänzlich. Am Ende der Woche versuchte sie, einen Termin bei der Direktion zu bekommen, aber »niemand war bereit, sie zu empfangen«. Selbst der Personalleiter ließ sich verneinen. Mit einem Einschreiben an diesen erklärte sie ihre Situation mit der Bitte um Klärung, aber es kam keine Antwort. Sie fühlte sich »wie Luft behandelt« Sie war gezwungen, den kompletten Arbeitstag in vollkommener Untätigkeit zu verbringen. Es wurde ihr verboten, Bücher, Zeitungen oder einen privaten PC an den Arbeitsplatz mitzubringen. Sie versuchte, diese für sie unerträgliche Situation möglichst mit Fassung zu ertragen und durchzuhalten. Sie sagte sich selbst, dass dies vielleicht nur eine vorübergehende Episode sei und man früher oder

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Ein Fallbeispiel15

später ihre Dienste in Anspruch nehmen würde. Es geschah jedoch nichts. Selbst den Mut, den sie sich zusprach, dass es so besser sei, als arbeitslos zu sein, half nicht. Katrin hatte immer stärkere psychosomatische Probleme. Zuerst waren es schlaflose Nächte (»Warum gerade ich?«), dann kamen vegetative Störungen hinzu. Ihre Ängste entwickelten sich soweit, dass sie schon morgens ein Zittern in den Beinen hatte allein bei dem Gedanken, zur Arbeit gehen zu müssen. Durch den fehlenden Appetit ließ sie inzwischen jeden Morgen das Frühstück ausfallen. Parallel dazu begannen auch die Konflikte mit ihrem Mann. Ihr Sexualleben kam zum Erliegen. Ihr Mann fühle sich vernachlässigt. Die Gespräche zwischen Katrin und Günter wurden immer monotoner, da Katrin praktisch nur noch über ihre Arbeit sprach. Unterbrach Günter ihre Arbeitsgeschichten, brauste sie auf, da sie sich vernachlässigt fühlte. So kam es immer öfter und in immer kürzeren Abständen zu Streitereien, bis Günter ihr schließlich ganz offen mit Trennung drohte. Diese gesamte Situation setzte Katrin schwer zu. Ihre Schlafprobleme (sowohl Ein- als auch Durchschlafschwierigkeiten) und ihre ständige Angst ließen es nach diversen Monaten nicht mehr zu, sich an den Arbeitsplatz zu begeben. Katrin erkrankte an einer depressiven reaktiven Angststörung, aufgrund derer sie mehrere Wochen ausfiel. Am Ende der fünfwöchigen Krankheitsphase versuchte sie erneut, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, aber die Tatsache, den ganzen Tag ohne jegliche Arbeitsaufgabe herumsitzen zu müssen, machte ihre Anstrengungen zunichte. Sie kehrte wieder in den Krankenstand zurück. Statt sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen, bekam sie nur zweimal einen Anruf, bei der ihr Vorgesetzter ihr direkt sagte, sie sei »ein Klotz am Bein und solle doch bitte zum Wohle aller die Kündigung einreichen«. Nach knapp elf Monaten in dieser Situation suchte Katrin einen Anwalt auf. Dieser bereitete eine Klageschrift gegen ihren Arbeitgeber vor. Obwohl es bislang in der Bundesrepublik nicht einen Arbeitsgerichtsprozess über diese Art von Thema gab, bei dem die Klägerin ein Gutachten eingereicht hätte, recherchierte ihr Anwalt wohl im Internet und fand die Telefonnummer meiner Praxis in Bologna. Katrin meldete sich bei mir und suchte meine Praxis auf.

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Straining

Als ich Katrin zum ersten Mal traf, fand ich einen Menschen vor, dessen Symptome ich bereits von unzähligen anderen Patienten kannte. Sie bezeichnete sich selbst als »Zombie«, was angesichts ihrer psychisch-physischen Verfassung auch in einer wissenschaftlichen Analyse durchaus als zutreffend übernommen werden konnte. Das Gespräch wurde ihrerseits oftmals durch Weinkrämpfe unterbrochen. Jedes Mal, wenn sie sich an die Arbeitsbedingungen erinnerte, brach sie in Tränen aus. Ihre Stimme versagte. In ihr herrschte vorwiegend ein grundlegendes Gefühl der Enttäuschung, dass all ihre Mühen, Opfer, Jahre des Studiums usw. wertlos waren. Sie dachte auch daran, dass sie nie wieder so eine Arbeit finden würde. Mit den Worten »wer stellt mich denn jetzt noch ein« und »ich bin noch jung, aber schon ein menschliches Wrack« unterstrich sie andere ähnlich lautende Aussagen, die immer in Tränen endeten. Sie befürchtete außerdem, dass ihre noch junge Ehe in die Brüche gehen könnte und dass sie daran schuld sei. Sie erzählte mir, dass ihr Mann ihr anfangs sehr starke moralische Unterstützung gegeben hatte, dies aber mit der Zeit eben nicht mehr konnte. Auch ihrem Kind gegenüber hatte sie ein schlechtes Gewissen und Angst, ihr Sohn könnte ihr nervöses Verhalten übernehmen. Sie sah manchmal in dem Kind den Ursprung all ihrer Probleme (»Warum wollten wir nur ein Kind? Ohne Kind hätte ich eine Bilderbuchkarriere gehabt.«). Wenn sie sich jedoch bei solchen Gedanken ertappte, tat es ihr wiederum leid, was erneut Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit provozierte. Als ich Katrin dann offen ins Gesicht sagte, dass sie meiner fachlichen Meinung nach kein Opfer von Mobbing ist, war ihre Verwunderung deutlich zu spüren. Dabei hatte sie sich doch extra an mich gewandt, um Hilfe für ihr Leiden zu finden! Die Klageschrift, die sie dabei hatte, lautete ebenfalls auf Mobbing, alle, denen sie von ihren Problemen erzählt hatte, sprachen von Mobbing. Und nun sollte es doch kein Mobbing sein? Katrin reagierte wie so viele Patienten vor und nach ihr gekränkt und verärgert, da sie sich als Mobbingopfer sah und ihr Recht auf dieser Ebene einforderte, und nun sollte ihr dies scheinbar genommen werden. Doch meine Aufgabe ist es nicht, einen Patienten zu therapieren, sondern seinen Fall vor Gericht hieb- und stichfest zu belegen, damit nicht der Anwalt und ich, sondern auch der zustän© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Ein Fallbeispiel17

dige Richter ein Fehlverhalten seitens der Vorgesetzten, Kollegen bzw. der Firma feststellen kann. Aufgrund der zahlreichen sich im Umlauf befindenden Definitionen von Mobbing konnte ich Katrin hier nicht sicher einordnen. Ein Gutachten auf Mobbing wäre löchriger gewesen als ein Schweizer Käse. In der Geschichte von Katrin spiegeln sich gewisse Konflikte, die auf eine einzige und stressige Situation hindeuten (wobei man Stress, wie wir später noch sehen werden, auch durch zu wenig Arbeit ausgelöst werden kann) und nicht auf systematische Aktionen, welche ein aktives Verhalten implizieren. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Degradierung sowohl der Arbeitskraft als auch der Person Katrins, das komplette Fehlen von Arbeitsaufgaben, Isolierung, die Wegnahme von Arbeitsinstrumenten nach dem Mutterschutzurlaub und die Versetzung. Nach diesen Maßnahmen richtet sich Katrin in der von ihr beschriebenen Lage ein, aber es kommt zu keinen weiteren aktiven feindseligen Aktionen gegen sie. Trotzdem klagt sie schon bald über psychosomatische Störungen, ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Wie wir sehen, braucht es gar keine Serie an feindseligen Handlungen, um einer Person übel mitzuspielen. Man versetzt das Opfer (wie bei Katrin) in eine Lage des ständigen und permanenten Stresses, egal ob durch Überaktivität oder wie im vorliegenden Fall durch Unteraktivität. Das Opfer kann dadurch schwerwiegende psychosomatische Störungen entwickeln, die bis zu schweren psychophysischen Pathologien reichen können. Auch wenn wir nur wenige Aktionen gegen Katrin feststellen können, sind diese doch so allumfassend, dass sich Katrin täglichen Anfeindungen ausgesetzt sieht. Das Besondere an Katrins Fall war, dass der Arbeitgeber ihr ganz klar mitteilte, dass sie wegen ihrer Schwangerschaft nicht mehr gern in der Firma gesehen werde, da sie durch das Muttersein nicht mehr uneingeschränkt verfügbar sei. Ein solch deutliches Mitteilen der Absichten ist eher selten. Dennoch wird deutlich, dass ein solches Verhalten nur ein Ziel hat: das Entfernen der Person aus der Firma. Zweitens zeigt sich hier auch ein weiteres typisches Verhalten, nämlich dass die Personalleitung meist aktiv involviert ist. Wie sonst lässt es sich erklären, dass man Katrins Position während des Mutterschutzes, von der man wusste, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining

dass sie zurückkehren würde, nicht nur zeitlich begrenzt besetzte? Oder wenigstens rechtzeitig eine adäquate Ersatzposition für sie fand? Zudem lässt sich eindeutig festhalten, dass ein solches Verhalten der Geschäftsleitung einzig Katrin vorbehalten war, da die Firma weder an finanziellen Problemen litt noch andere Kollegen oder Kolleginnen das gleiche Schicksal erlitten. Es ließ sich dennoch nach gängigen Methoden und Definitionen nicht eindeutig feststellen, dass Katrin ein Opfer von Mobbing geworden war. Es war einfach »zu wenig« geschehen. Ein Gutachten, welches Mobbing belegen sollte, auf solch tönerne Füße zu stellen, hätte niemandem weitergeholfen. Ein anderes Konzept musste her, nämlich das des Strainings. Aus dieser Erfordernis heraus wurde die Idee geboren, Organisationskonflikte unter arbeitspsychologischen Gesichtspunkten zu behandeln, die nicht unter den Begriff Mobbing fallen, aber trotzdem stresshaltige, ungerechte und schädliche Arbeitssituationen enthalten, worunter auch Degradierung und Ausgrenzung zählen.

1.2 Was ist unter Straining zu verstehen? Straining kommt vom englischen Verb to strain und bedeutet so viel wie »ziehen, dehnen, belasten, anstrengen, spannen, pressen, beanspruchen«. Unter einem Strainingfall verstehen wir einen Konflikt am Arbeitsplatz, welcher entgegen der geläufigen Definition von Mobbing nicht auf zahlreichen feindseligen Handlungen gegen ein Opfer basiert, sondern bei dem nur wenige Handlungen (oftmals gar nur eine) einen weitreichenden und anhaltend negativen Effekt auf das Arbeits(er)leben des Opfers hat. In zahlreichen Werken der Fachliteratur fällt auf, dass Stress mit einem Spannen und Ziehen gleichgesetzt wird. Gestresste Menschen werden oft als strained persons beschrieben, und stressors oft mit strains. In der Medizin wird das Wort auch als Spannung (Strain als Substantiv), Strapazen oder Zerrung benutzt. Dies brachte mich zu der Frage, warum das Wort Strain nur als Adjektiv oder Hilfswort benutzt wird und nicht als selbstständiger und eigener Begriff. Eine Situation, welche mit Spannungen und Stress einhergeht, mit dem eigenständigen Begriff des Strainings zu bezeichnen, lag nahe. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Was ist unter Straining zu verstehen?19

Dennoch schien die Fachliteratur bisher nicht in diese Richtung zu gehen. Es gab die Begriffe Stress und Mobbing sowie international Bullying.1 Zur Definition des neuen Begriffs Straining bedurfte es praktischer Arbeit mit Patienten und vor allem im Gerichtssaal, um die Ungerechtigkeiten, die den Opfern widerfuhren, zum Ausdruck und zur Beweisführung zu bringen. Obwohl wir im deutschen Sprachgebrauch auf Wörter wie »Degradierung«, »Wegnahme von Arbeitsaufgaben«, »Zuweisung von Aufgaben geringerer Qualität«, »Isolierung«, »Entleerung der Arbeitsinhalte«, »Ausgrenzung«, »Diskriminierung« stoßen, trifft doch keines so zu wie Straining. Diese Wörter beschreiben eine einzelne Tat, aber nicht die Komplexität des Prozesses des Leidens. Aus diesem Grund empfand ich es als notwendig, hier einen neuen Terminus zu etablieren. Ich habe darüber mit meinen Mitarbeitern und Kollegen, die aus der Rechts- und Arbeitsmedizin sowie aus den Rechtswissenschaften kommen, gesprochen. Die zuvor Begrifflichkeiten sind vor allem im juristischen Bereich im Gebrauch, haben aber keinen Bezug zum existenziellen Schaden, der Stigmatisierung und dem Leidensweg des Opfers. Eine psychologische Komponente wurde bisher nicht definiert. Letzten Endes hat die semantische und phonetische Verwandtschaft zwischen Stress und Straining dann den Ausschlag gegeben, dieses Phänomen so neu zu benennen. Die Beziehung zu Stress am Arbeitsplatz wird durch diese Verwandtschaft offensichtlich. Im Gegensatz zu einer Stresssituation findet sich in einer Strainingsituation ein Aggressor (im Folgenden als Strainer bezeichnet), welcher das Opfer in eine erzwungene (also nicht durch die Natur der Arbeit erzeugte) Stresssituation mit langanhaltenden Konsequenzen versetzt. Der beschriebene Zustand, der den Stress erzeugt, kann durch diverse feindselige Handlungen ausgelöst werden. Beim Straining

1

Der Begriff des Bullying ist dabei so unklar gefasst, dass er im Allgemeinen für jegliche Art der feindseligen Handlungen am Arbeitsplatz verwendet wird, während er in anderen Sprachen wie zum Beispiel dem Italienischen und Spanischen den Umstand des Mobbings an Schulen beschreibt.

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liegt oft eine »aktive Passivität«2 vor, eine Isolation durch den Ausschluss des Opfers aus dem Arbeitsalltag: Beispielsweise wird durch das Fehlen von Arbeitsaufgaben oder Arbeitsinstrumenten eine Unterforderung oder durch zu umfangreiche Arbeitsaufgaben oder Arbeitsmengen eine Überforderung des Opfers herbeigeführt. Klassisches Beispiel hierfür ist der Mitarbeiter, welcher an einen einzelnen Schreibtisch am Ende des Flurs verfrachtet oder in eine abgelegene und unliebsame Filiale versetzt wird. Die Heizung im Winter und die Klimaanlage im Sommer sind defekt oder erst gar nicht vorhanden. Wenn wir im nächsten Kapitel beim Thema Mobbing sehen, dass im zweiten Parameter von einer Frequenz von mindestens mehrmals monatlich stattfindenden aktiven feindseligen Handlungen die Rede ist, kann man verstehen, dass eine große Mehrzahl von Arbeitsplatzproblemen bzw. -konflikten nicht unter die Kategorie »Mobbing« fällt, obwohl das Opfer durch die permanente Stresssituation zum Teil schlimmere Gesundheitsschäden als ein Mobbingopfer aufweist. Wenn man nun eine Strainingsituation von außen betrachtet, kann leicht der Eindruck entstehen, dass es sich dabei um eine ganz gewöhnliche Stresssituation handelt. Im Gegensatz zu einer echten Stresssituation können wir jedoch bei Strainingopfern feststellen, dass diese sich generell als Mobbingopfer sehen, die eine absichtliche Diskriminierung durch das Arbeitsumfeld erfahren. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich das Straining wie eine Stresssituation darstellt, bei der das Opfer über- oder unterfordert wird, während es subjektiv vom Opfer als Verfolgung und Ungerechtigkeit empfunden wird. Genau hier zeigt sich der diffuse und unsachgemäße Gebrauch des Wortes Mobbing. Durch inexakte und unzulängliche Bedeutungsinhalte wird alles pauschal als eine Art oder Form von Mobbing gesehen. Dieser Punkt ist die Ursache von vielen ins Leere gelaufenen Gerichtsprozessen. Das Opfer seinerseits glaubt, dass es unter Mobbing leidet und dass ihm so ein 2

Das ist kein Widerspruch. Aktiv passiv zu sein bedeutet, dass ich jemandem antworten oder Auskunft geben könnte, dies aber absichtlich nicht tue. Wir können auch sagen: Die Anfragen, Bitten und Gesuche des Opfers werden nicht aus gesundheitlichen, organisatorischen oder zeitlichen Gründen nicht bearbeitet, sondern aus reinem Kalkül, um das Opfer weiter zu provozieren und es sich noch isolierter fühlen zu lassen.

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zivilrechtlich einklagbarer Schaden zugefügt wurde, während andererseits der Arbeitgeber dem Richter aufzeigt, dass es sich lediglich um einen ganz normalen, allgemeinen und organisatorisch bedingten Stress handelt oder dass das Opfer (der Kläger) nur subjektive Probleme hat. Von welcher Größenordnung sprechen wir heute, wenn wir über Strainingopfer reden? 2005 veröffentlichte ich eine Statistik, die auch heute noch ziemlich genau die Verhältnisse der Verteilung der verschiedenen Konflikte wiedergibt (Abbildung 1). Sie beruht auf der Auswertung von mehr als 5000 Fällen, die wir seit 1996 an der Associazione PRIMA in Bologna bearbeitet haben, während sich die später in diesem Buch aufgezeigten Zahlen auf meine Tätigkeit als Gutachter stützen.

Straining, 60% Mobbing, 20%

Stress, 13%

Arbeitsplatzbezogenes Stalking, 1%

Persönliche Probleme, 6%

Abbildung 1: Die Verteilung der Arbeitsplatzkonflikte in Italien laut Statistik der Associazione PRIMA, Bologna (2005)

Es scheint manchen zu überraschen, aber tatsächlich sind die absolute Mehrzahl der vermeintlichen Mobbingopfer Opfer von Straining. 13 % leiden unter Stress, während 6 % unter etwas leiden, dass man anderen Problemen zuordnen kann, wie Verfolgungswahn, organische Depression, psychische Paranoia oder Ähnlichem. Bei 1 % tritt dagegen eine Verfolgung auf, die über die berufliche Sphäre hinausreicht und später näher beschrieben wird. Nach der »Entdeckung« des Strainings haben sich meine Mitarbeiter und ich in das Archiv © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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der Associazione PRIMA begeben, um alle Vorgänge, die je an der PRIMA bearbeitet wurden, nochmals nach der Parametermethode zu untersuchen. Diese Ergebnisse haben wir im Mai 2005 auf dem XII. Europäischen Arbeits- und Organisationspsychologiekongress in Istanbul vorgestellt. Die Verwunderung, ja teilweise sogar Ungläubigkeit der meisten Kongressteilnehmer war bezeichnend. Doch nun sollte der internationale Siegeszug des Strainings beginnen. Andere Teile unserer Forschungsarbeit präsentierten wir im Juli 2005 während des IX. Europäischen Psychologenkongresses in Granada (Spanien). Außerhalb Europas stellten wir unsere Forschungsarbeiten zum Thema Straining erst im Mai 2014 auf dem II. Internationalen Mobbing- und Bullying-Kongress in Buenos Aires vor. Es lässt sich also sagen, dass circa nur jeder fünfte Patient, der mich in all den Jahren wegen Mobbing am Arbeitsplatz aufgesucht hat, auch wirklich unter Mobbing litt, und dass sich dieses Bild wohl auch in der Zukunft manifestieren wird. Mit anderen Worten: Drei von fünf Patienten sind tatsächlich Opfer von Straining, auch wenn ihnen von Ärzten, Gewerkschaften, Psychologen, Psychiatern oder Rechtsanwälten gesagt wurde, dass es sich um Mobbing handele. Das ist Grund genug, umzudenken und sich näher mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Wenn wir uns meine Gutachten anschauen, die ich in den letzten beiden Jahren verfasst habe, sehen wir einen länderspezifischen Unterschied (Tabelle 1). Tabelle 1: Aufschlüsselung von Gutachtenerstellung nach Konfliktart und nach Herkunftsland Konfliktform

Italien

Deutschland

Österreich

Mobbing

19 (16,1 %)

27 (52,9 %)

7 (87,5 %)

Straining

63 (53,4 %)

24 (47,1 %)

1 (12,5 %)

andere Arten

36 (30,5 %)





Summe

118 (100 %)

51 (100 %)

8 (100 %)

Wie kommen diese Unterschiede zustande? In meiner Praxis hatte und habe ich schlichtweg den Vorteil, viel ergebnisoffener zu arbeiten und sehr unterschiedliche Fälle zu untersuchen, was unter ande© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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ren Forschungsumständen wie etwa per Fragebogen nicht gegeben ist. Zudem ist das Straining aufgrund meiner Arbeit in Italien viel bekannter als in Deutschland und Österreich, was zur Folge hatte, dass mir viele Strainingopfer von Rechtsanwälten übersandt wurden, während man in anderen Ländern noch im Dunkeln tappt. Dadurch wurden mir aus Deutschland und Österreich eher Fälle übermittelt, die klar als Mobbing zu erkennen waren, während unklare Fälle (eben Straining) oftmals nicht weiter verfolgt wurden. Trotzdem hatte ich bei fast der Hälfte der deutschen Gutachten Straining zu analysieren, was die Aussage des Diagramms (Abbildung 1) unterstreicht. Um auf Katrins Fall zurückzukommen: Es ist ziemlich einfach zu erraten, wie die Verteidigung des Arbeitgebers aussehen wird. Man wird die Entwicklung der veränderten familiären Situation und der dadurch bedingten zeitlichen Verfügbarkeit Katrin zuschreiben. Sie wäre weniger belastbar, sie hätte Konflikte mit ihrem Mann, sie sei gestresster durch die kürzeren Schlafphasen in der Nacht (Anspielung auf die Geburt des Kindes), außerdem wäre der psychosomatische Zustand von Katrin auf eine postpartale Depression3 (übrigens auch postnatale Depression genannt) zurückzuführen. Mit anderen Worten: Die Verteidigung wird versuchen, die eventuell festgestellten Schäden an Katrin ihr selbst zuzuschreiben. Falls dies nicht genügt, könnte man dann noch betriebsbedingte Gründe anführen, wie zum Beispiel: Durch eine geringere Nachfrage wäre zur Zeit generell wenig zu tun, oder Katrin hätte sich nach dem Mutterschutz nicht mehr richtig eingliedern können, oder auch, dass ihre Stelle nicht mehr vorhanden sei und ihre Arbeitsaufgaben jetzt eben von anderen Bereichen übernommen worden seien. Nicht zu vergessen, dass 3 »Postpartale Depressionen, also Depressionen, die nach der Geburt eines Kindes auftreten, sind weder in der ICD-10 noch im DSM-IV als eigenständiges Krankheitsbild aufgeführt. Im DSM-IV existiert eine Zusatzcodierung für depressive Störungsbilder ›mit postpartalem Beginn‹, die für den Fall einer innerhalb der ersten vier Wochen nach der Geburt eines Kindes auftretenden Erkrankung vorgesehen ist. Die meisten Autoren sprechen jedoch darüber hinaus auch dann von einer postpartalen Depression, wenn sie bis zu einem Jahr nach einer Entbindung auftritt« (http://web.qualitative-forschung. de/publikationen/postpartale-depressionen/pd-definition.htm, Zugriff am 01. 06. 2014).

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man immer noch das Wort »Rationalisierung« einbringen kann und man Katrin »aus menschlichen Gründen« nicht kündigen wolle (um einer Kündigungsklage vorzubeugen, ist es deshalb besser, dass das Opfer die Konsequenzen zieht und zur Beendigung des Martyriums die Eigenkündigung ausspricht). Nicht selten geschieht dann etwas Überraschendes: Die Anklage selbst gibt der Verteidigung das beste Argument, nämlich das Stichwort Mobbing. Jetzt ist es auf jeden Fall einfacher für die Verteidigung, anhand der gängigen Definitionen zu beweisen, dass die Anschuldigungen vollkommen haltlos seien. Katrin hätte keine systematische feindselige Handlungen erdulden müssen, im Gegenteil: Man hätte sie ja immer in Ruhe gelassen. An dieser Stelle sei vermerkt, dass man mit den Worten »in Ruhe lassen« auch etwas anderes ausdrücken kann, und zwar, dass man jemanden isoliert. Wenn man Mitarbeitern verbietet, mit jemandem zu sprechen oder Kontakt aufzunehmen, wenn man von Weitem signalisiert, dass man nicht angesprochen werden möchte, kann alles mit den Worten »in Ruhe lassen« bezeichnet werden. Statt also einen Arbeitsgerichtsprozess anzustreben, welcher die Degradierung und den damit verbundenen psychologischen Schaden durch Straining zum Hauptpunkt nimmt, wird auf dem unklaren Begriff des Mobbings zurückgegriffen – mit den eben beschriebenen Folgen. Im Falle von Katrin bräuchte sie bei einer Klage bezüglich des Vorliegens von Straining also keine sich ständig wiederholende feindselige Handlungen zu beweisen, sondern einfach nur die intentionale Schaffung einer erzwungenen Stresssituation. Die Darstellung der Diskriminierung würde ebenfalls relativ einfach fallen, da ja ihre Kollegen alle ein Arbeitsfeld und dazugehörende Aufgaben besaßen. Nur gegenüber Katrin wurde sich so verhalten. Nur sie wurde funktionell und kommunikativ isoliert. Nur sie war nicht in den Arbeitsprozess eingebunden. Nur ihr wurden Arbeitsinstrumente und Arbeitsaufgaben entzogen. Nur sie starrte den ganzen Arbeitstag in die Luft und nur bei ihr wurden Anfragen nicht beantwortet. So wäre die Strainingklage nicht nur gerichtlich erfolgreicher, sondern schlichtweg gerechter und wissenschaftlich fundierter. Katrin hätte damit durchaus mehrere Schadensprofile einklagen können, wie den beruflichen Schaden durch die Degradierung (Vermögensschaden, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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da die Arbeitskraft des Arbeitnehmers ja sein Vermögen darstellt, mit dem er Kapital in Form von Lohn erwirtschaftet), den biologischen (gesundheitlich bedingter) Schaden und natürlich den existenziellen Schaden (verringerte Lebensqualität). Der springende Punkt ist nun, die Stressproblematik, die auch Teil einer Strainingsituation ist, von dieser zu trennen, um aufzeigen zu können, dass der Stress ein Symptom, nicht aber die Ursache des Konflikts am Arbeitsplatz ist. Genau hier können ganze Strategien vor Gericht zusammenbrechen, nämlich dann, wenn die Definition der Anklage nicht präzise genug und damit angreifbar ist. Denn das Opfer selbst ist in seinem Problem so verhaftet, dass es den professionellen Blick von außen benötigt. Genau dies ist die Aufgabe eines Gutachters. Um Missverständnisse zu vermeiden, speziell in einem Gerichtsprozess, wird im Folgenden versucht, die drei genannten Begriffe etwas besser zu unterscheiden (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Unterschied zwischen (Arbeits-)Stress, Straining und Mobbing (übersetzt aus Ege, 2005, S. 70) (Arbeits-)Stress = »Unter-Druck«Situation

Straining = Situation von erzwungenem Stress

Mobbing = Konfliktsituation

ausgelöst durch mangelnde Organisation oder die Natur der Arbeit

ausgelöst durch Diskriminierung

ausgelöst durch Verfolgung

Wir können festhalten, dass Stress eine Situation darstellt, die den Betroffenen einen Druck verspüren lässt, egal ob durch Über- oder Unterbeschäftigung. Dadurch, dass die Ursache dieses Drucks nun eine mangelnde Organisation der Arbeit (z. B. eine schlechte Verteilung des Arbeitsaufkommens unter den verschiedenen Personen oder Abteilungen) oder die Natur der Arbeit (es gibt Arbeitsfelder, die aufgrund ihres verdichteten Aufgabenaufkommens und der geforderten Konzentrationsleistung als stressig bezeichnet werden können, wie etwa der Beruf des Unfallchirurgen oder der des Streifenpolizisten) ist, kann man eine Diskriminierung ausschließen, da eben alle im gleichen Maß davon betroffen sind. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Beim Mobbing dagegen sprechen wir von einer Konfliktsituation, weil die ständig wiederkehrenden feindseligen Handlungen Konflikte zwischen Personen am Arbeitsplatz darstellen (egal ob dies nur hierarchisch von oben, durch gleichgestellte Kollegen oder Untergebene geschieht) und der sogenannte Mobber dabei sein Opfer verfolgt (deshalb auch die hohe Anzahl an aktiven Handlungen). Beim Straining dagegen haben wir eine Stresssituation, die nicht von mangelnder Organisation oder der Natur der Arbeit herrührt, sondern die absichtlich geschaffen wird. Aufgrund der Tatsache, dass sich nicht alle Personen am Arbeitsplatz in dieser Lage befinden, kann von Diskriminierung, also der unterschiedlichen Behandlung des Opfers gegenüber anderen, gesprochen werden. Ein wichtiges Merkmal von Straining im Gegensatz zum Mobbing ist die Tatsache, dass die Konfliktsituation weit subtiler und unterschwelliger herbeigeführt wird als beim Mobbing. Während beim Mobbing oft deutlich sichtbare und wortgewaltige Konflikte stattfinden können, geht Straining oft unbeachtet und leise vonstatten. Ein Opfer wird ausgegrenzt, ohne dass dies an die große Glocke gehängt wird. Das Opfer sitzt vielleicht an einem Schreibtisch, an dem niemand vorbeikommt und dem niemand Beachtung schenkt. So merken die meisten Angestellten und Kollegen nicht einmal, dass es ein Opfer von Straining gibt. Dies schlägt sich dann häufig in mangelnder Präsenz von Zeugen im Gerichtsprozess nieder. Mobbing dagegen wird oft von Anschreien, massiver Kritik, Schimpf- und vulgären Worten begleitet, die natürlich die Blicke und Aufmerksamkeit der beteiligten Personen auf sich ziehen. Straining geschieht unbemerkt, lautlos, ja fast sanft. Dem Opfer von Straining ergeht es ähnlich. Es leidet in der Stille, ohne Aufsehen zu erregen, sodass viele Kollegen gar nicht merken, wie betroffen das Opfer wirklich ist. Die folgende Definition des Begriffs Straining wurde im ersten italienischen Straining-Urteil genauso übernommen und fand seitdem wiederholt Zustimmung an verschiedenen Gerichten in ganz Italien:4 4 Das Urteil Nr. 286/15 vom 21. 04. 05, veröffentlicht am 20. 06. 2005 am Gericht von Bergamo, ist als wegweisendes Urteil zu betrachten, da es das erste

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Unter Straining versteht man eine aufgezwungene Stresssituation am Arbeitsplatz, bei der das Opfer wenigstens einer feindseligen Handlung ausgesetzt wurde und von der als Folge eine permanente, andauernde, stressende und negative Konsequenz ausgeht. Das Opfer befindet sich in ständiger Unterlegenheit gegenüber der Person, die Straining ausübt (Strainer). Das Straining wird absichtlich gegenüber einer oder mehreren Personen ausgeübt, aber immer auf diskriminierende Weise (übersetzt aus Ege, 2005, S. 70).

Wie alle Definitionen ist auch diese Definition des Begriffs »Straining« nur dazu formuliert worden, um das Phänomen von anderen Arbeitsplatzkonflikten zu unterscheiden. Ich unterstreiche nochmals, dass eine Definition wenig hilfreich und deshalb nicht für die tägliche Arbeit von Richtern, Rechtsanwälten, Gerichtspsychologen, Gerichtsmedizinern, Personalberatern oder Opfern (die ja selbst auch wissen wollen, von was sie betroffen sind) geeignet ist. Definitionen helfen, ein Sachthema gegenüber anderen Begriffen abzugrenzen. Gleichzeitig sind sie aber sehr interpretationsfähig, was ihre Anwendung im Arbeitsleben erschwert. Wenn wir jetzt allerdings diese Definition von Straining etwas genauer betrachten, fallen uns doch einige Merkmale auf, die wir in unserer Parametermethode wiederfinden. Zunächst einmal sprechen wir hier über den Ort: »am Arbeitsplatz«. Dieses Merkmal teilt das Straining mit dem Mobbing. Wir sprechen hier über ein Phänomen, welches arbeitsplatzbezogen ist. Mit den Worten »aufgezwungene Stresssituation« werden jedoch verschiedene Konzepte angesprochen. Zunächst einmal handelt es sich um eine Situation, in der das Opfer Stress erleidet. Wir reden nicht von Verfolgung oder Psychoterror, sondern von einem erhöhten Stressniveau im Gegensatz zum sonstigen Arbeitsleben. Dabei handelt es sich um Stress, der intensiver ist, als ihn die Kollegen erfahren. Mit anderen Worten: Andere Arbeitnehmer mit den gleichen beruflichen Arbeitsaufgaben und Qualifikationen haben in Urteil war, welches Straining am Arbeitsplatz und seine schädliche Wirkung für das Opfer juristisch anerkannt hatte. Das Urteil kann im Wortlaut unter www.mobbing-prima.it nachgelesen werden.

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der Regel eine geringere Stresssituation zu erdulden als das Opfer. Zum anderen drückt das Wort »aufgezwungen« eine Absicht aus, die unabhängig ist vom normalen Tagesablauf. Es handelt sich um eine Lage, die künstlich erzeugt wird, um jemandem zu schaden. Dieses absichtliche Handeln unterstreicht die diskriminierende und intentionale Charakteristik der strainenden Handlung. Des Weiteren verlangt eine Strainingsituation laut der genannten Definition das Vorhandensein »wenigstens einer feindseligen Handlung«, die »als Folge eine permanente, andauernde, stressende und negative Konsequenz« hat. Das heißt, dass wir hier nicht von einer ständigen Verfolgung mit vielen einzelnen Handlungen ausgehen, die dann ein systematisches Handeln nach Mobbingvorbild wäre, sondern von nur einer einzelnen oder von wenigen aktiven Aktionen. Jetzt könnte man einwenden, dass einzelne Aktionen in jedem normalen Arbeitsverhältnis vorkommen können. Die vorsitzende Richterin des obersten italienischen Gerichtshofes (Corte di Cassazione) äußerte dazu beispielsweise im März 2006, dass der Arbeitnehmer kein Anrecht auf das Paradies hätte. Was im ersten Moment als blasphemische Äußerung erscheint, ist in Wirklichkeit nicht von der Hand zu weisen. Die Richterin sagte, dass der Mensch überall dort, wo er anderen Menschen begegnet, mit Konflikten rechnen muss – auch am Arbeitsplatz. Man kann niemanden wegen eines zwischenmenschlichen Konflikts verklagen. Beim Straining dagegen hat eine oder wenige Handlungen nachhaltige Konsequenzen. Diese müssen direkt und am Arbeitsplatz spürbar sein. Straining muss sich nicht zwangsläufig auf das gesundheitliche Wohlbefinden (fast immer hat ein Konflikt am Arbeitsplatz psychosomatische Auswirkungen, wenn auch nur in sehr beschränkter Weise wie Einschlafprobleme oder Schweißausbrüche) oder andere Lebensfelder außerhalb des Arbeitsplatzes (wie Familienkonflikte nach dem sog. »Doppelmobbing«) auswirken. Unter Straining wird eine permanente Veränderung am Arbeitsplatz verstanden, wie im Fall von Katrin, die ab der feindseligen Handlung nie wieder ihren Arbeitsplatz, ihre Arbeitsinstrumente und ihre Arbeitsaufgaben zugewiesen bekam. Derartige negative Konsequenzen können aus sehr vielen feindseligen Handlungen erwachsen, wie zum Beispiel: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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ȤȤ bei der Versetzung an einen isolierten Ort (permanentes Fehlen von Kontakt mit Kollegen, permanenter Ausschluss von Informationsquellen usw.); ȤȤ Wegnahme oder Qualitätsverringerung der Arbeitsaufgaben (andauerndes Fehlen der tatsächlichen Arbeitsaufgaben und -inhalte, Infragestellen des eigentlichen Berufsbildes usw.); ȤȤ qualitative Überforderung (permanentes Risiko, Fehler zu machen; ständiger Kritik ausgesetzt, da man diesen Arbeitsaufgaben nicht gewachsen ist, usw.); ȤȤ quantitative Überforderung (täglicher Kampf, um das Arbeitspensum zu erfüllen, täglich meist unbezahlte Überstunden usw.) ȤȤ Wegnahme der Arbeitsinstrumente (tägliche Frustration, seine Arbeit nicht erfüllen zu können, permanenter Ausschluss von den Informationsquellen usw.); ȤȤ Wegnahme von beruflichen Chancen (permanenter Ausschluss von Weiterbildungsprogrammen, Verlust der vorgesehenen Beförderung, keine neuen Arbeitsmaterialien wie Softwareupdates usw.) oder ȤȤ Versetzung an einen gesundheitsschädlichen Arbeitsplatz (klimatische Extreme durch nicht funktionierende Klimaanlage oder Heizung, Staub- oder Rauchaufkommen, allergieauslösende Materialien, Giftstoffe, Elektrosmog usw.). Straining verändert das Arbeitsumfeld, die Arbeitsaufgaben, die Arbeitsinhalte und die Arbeit selbst auf lange Sicht. Die ständige Unterlegenheit des Opfers gegenüber dem Strainer ist auch ein Mobbing-Kriterium. Dieses Merkmal wurde übernommen. Ich möchte aber auch hier betonen, dass es sich nicht grundsätzlich um eine hierarchische Unterlegenheit handelt, sondern um die fehlende Fähigkeit und Möglichkeit des Opfers gegenüber seinem Strainer, sich in effizienter Weise den Angriffen zu erwehren. Dies geschieht auf doppelte Weise: Zum einen besitzt das Opfer nach einer gewissen Zeit nicht mehr die Kraft, Konzentration, psychophysischen Fähigkeiten und die Gesundheit im Allgemeinen, um der Situation etwas entgegenzusetzen; zum anderen hat es gar nicht mehr die Möglichkeit, sich wirksam zu wehren, da ihm niemand mehr glaubt oder es so isoliert ist, dass es gar keine Verbündeten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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mehr am Arbeitsplatz finden kann, die es verteidigen oder später als mögliche Zeugen zur Verfügung stehen könnten. Dementsprechend ist es in Gerichtsprozessen oft schwierig, Zeugen zu finden. Wenn wir uns dem letzten Teil der Definition zuwenden, erkennen wir einen ganz wichtigen Faktor, und zwar den der Absicht. Straining wird (übrigens genauso wie Mobbing) mit voller Absicht und in diskriminierender Weise ausgeübt. Wer Straining ausübt, ist sich voll bewusst, dass er seinem Opfer damit schadet. Straining unterscheidet sich vom »normalen« Stress dadurch, dass eine Person oder eine Gruppe von Personen anders behandelt wird bzw. werden als alle anderen Mitarbeiter. Falls sich wie in den Beispielen angeführt eine Stresssituation ergibt, die eine Über- oder Unterforderung für alle Angestellten zur Folge hat, kann nicht mehr von Straining die Rede sein, da ja keine Absicht vorliegt. Man spricht allerdings ebenfalls von Straining, wenn ein Unternehmen einen Unternehmenszweig (absichtlich) stilllegen und die Arbeitnehmer dazu bringen möchte, selbst die Kündigung einzureichen. Generell würde den Mitarbeitern in so einem Fall eine Alternative angeboten werden (entweder Versetzung, anderer Arbeitsbereich oder Kündigung gegen Abfindung), ohne zum Straining greifen zu müssen.

1.3 Zur Erkennungsmethode von Straining Nachdem wir uns mit der Definition des Phänomens Straining befasst haben, wollen wir nun die bereits erwähnte Methode5 näher beleuchten. Diese beruht, ähnlich wie die in diesem Buch zu beschreibenden anderen Arbeitsplatzkonflikte, auf genau sieben Parametern. Diese Art der Konflikterörterung lässt keinen Raum für Interpretationen, da ein Parameter im Gegensatz zu einer Definition nicht interpretierbar ist. Er ist entweder vorhanden oder nicht. Straining (wie übrigens auch alle anderen in diesem Buch beschriebenen Konfliktarten) liegt nur vor, wenn alle Parameter ohne Ausnahme erfüllt sind. Meine Bestrebung mit Einführung dieser Parameter war es, die Fehlerquote bei der Bestimmung der Konfliktart zu minimieren und eine wissen5 Die Methode zur Anerkennung des Arbeitsplatzkonfliktes, die sich auf die sieben Parameter stützt, ist Teil der »Methode Ege« (2002).

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schaftliche Methode zu deren Anerkennung zu etablieren. Die Parametermethode schränkt Interpretationen und Gefühle, subjektive Meinungen und Wahrnehmungen so weit ein, dass man damit mit einer gewissen Objektivität herangehen kann. Anknüpfend daran ist es sowohl für die Anklage einfacher, das Vorhandensein dieses Phänomens zu beweisen (sofern es zutreffen sollte), als auch für die Verteidigung, dass die Vorwürfe haltlos sind (sofern es nicht zutreffen sollte). Wenn wir nun die Parameter Schritt für Schritt durchgehen, werden wir bemerken, dass wir unsere Definition wiederfinden, allerdings mit praktisch anzuwendenden Kriterien. Erster Parameter: Ort (Arbeitsplatz) Bei Straining handelt es sich um einen Arbeitsplatzkonflikt. Man kann also alle Konflikte, die außerhalb des Arbeitsplatzes entstehen, unter dem Gesichtspunkt des Strainings ausschließen. Am Arbeitsplatz finden wir sehr spezielle Beziehungsgeflechte vor. Man kann sich seine Kollegen nicht aussuchen, muss jedoch trotzdem (mit ihnen) arbeiten, um seine Familie ernähren zu können. Das Opfer von Straining hat also einen Arbeitsvertrag, der es an ein spezielles Unternehmen, eine Organisation bindet. Es muss sich um ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis handeln. Kurzfristige Engagements von geringer Dauer (wie Ferienjobs) sind ausgeschlossen. Ein Leiharbeiter, der in einem Arbeitsverhältnis steht, das dem eines Angestellten in seiner Art und Form gleichbedeutend ist, kann diesem Parameter entsprechen. Ein Lehrling dagegen nicht, da er eine Ausbildung absolviert. Mit anderen Worten: Primäres Ziel und Zweck seines Aufenthalts am Arbeitsplatz ist in diesem Falle nicht das ZurVerfügung-Stellen seiner Arbeitskraft gegen Entlohnung, sondern die Lehre dient seiner persönlichen Ausbildung, ähnlich wie ein Schüler oder ein Student, der ein Praktikum absolviert. Zweiter Parameter: Häufigkeit Ich möchte noch einmal auf das Beispiel mit Katrin zurückkommen. Mit welcher Häufigkeit (oftmals auch als »Frequenz« bezeichnet) sieht sie sich feindseligen Handlungen ausgesetzt? Tatsächlich können wir diese an einer Hand abzählen. Es ist eine einzelne Aktion (aktiv!), die mit der Versetzung, der Vorenthaltung von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Arbeitsaufgaben und Arbeitsinstrumenten verbunden ist, also der Degradierung, und wenn man so will, auch dem aktiven Ignorieren ihrer Person. Im Verlauf des Strainings sind – im Gegensatz zum Mobbing – zumeist keine weiteren aktiven Handlungen mehr nachzuweisen. Von Katrins Gesichtspunkt handelt es sich natürlich um eine tägliche Demütigung, ein tägliches »Fertigmachen«. Objektiv betrachtet sind jedoch nur diese eine oder wenige aktive Handlungen verübt worden. Jedes Opfer in der Lage von Katrin hätte in einem Mobbingfragebogen unter der Rubrik »Anzahl der Handlungen« das Kästchen »täglich« angekreuzt. Infolge der weiten Verbreitung solch standardisierter Fragebögen zur Erfassung von Arbeitsplatzkonflikten ist es kaum verwunderlich, dass die augenscheinliche Zahl von Mobbingopfern in den letzten Jahren permanent gestiegen ist. Hier lohnt ein Blick über den Tellerrand hinaus zum Patienten selbst. Wer sich mit den Patienten, den Menschen hinter den Nummern, auseinandersetzt, erkennt, dass diese nicht weiteren Handlungen ausgesetzt sind, sondern nur deren Folgen erdulden. Die meisten vermeintlichen Mobbingopfer, die zu mir in die Praxis kamen, waren in Wirklichkeit Opfer von Straining. Sie hatten meistens, ähnlich wie im Falle von Katrin, eine berufliche Degradierung zu beklagen. Außerdem (und das war selbst für mich überraschend) fiel mir auf, dass in sehr vielen Fällen die Opfer wie auch Katrin zum Nichtstun verurteilt worden waren. Aus irgendeinem Grund wollte man die Opfer auf diese Weise zermürben. Deshalb interessiert uns nicht nur die Häufigkeit der feindseligen Handlungen, sondern auch deren Wirkung auf das Opfer. Dies erklärt dann auch sein psychosomatisches Leiden. Spätestens dann, wenn es zum Gerichtsprozess kommt und jede Handlung bewiesen werden muss, merken viele dieser sogenannten Mobbingexperten, dass für das Opfer mit »täglich« nicht die Häufigkeit der aktiven feindseligen Handlungen gemeint ist, sondern deren Auswirkungen und Folgen, wie sie vom Opfer wahrgenommen werden. Genau das betrifft den zweiten Parameter meiner Methode (Ege, 2002). All dies bedeutet also, dass wir, um Straining attestieren zu können, keine hohe Anzahl an feindseligen Handlungen benötigen. Im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Zur Erkennungsmethode von Straining33

Gegenteil: Es reicht bereits eine einzelne Handlung aus. Wichtig ist beim Straining, dass die Folgen dieser Handlung eine permanente Veränderung für das Opfer am Arbeitsplatz nach sich zieht. Es hat beispielsweise keinen Zugang zu Informationsquellen mehr und darf oder kann nie wieder die Tätigkeiten ausüben, für die es eingestellt wurde oder die es immer bislang tat. Natürlich müssen die Konsequenzen für das Opfer nachweislich negativ sein. Wenn der Arbeitnehmer selbst um eine Versetzung oder Änderung der Arbeitsaufgaben ersucht (z. B. aus gesundheitlichen oder familiären Gründen), kann man dies natürlich niemanden ankreiden. Es gibt vielleicht auch Menschen, die froh sind, dass sie fürs Nichtstun bezahlt werden. Es ist offensichtlich, dass diese Personen keine Straining-Klage einreichen werden. Sind die Folgen einer deutlichen Benachteiligung am Arbeitsplatz jedoch psychische und psychosomatische Beschwerden, handelt es sich um Straining (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Vergleich von verschiedenen feindseligen Handlungen (nach Ege, 2005, S. 74) Handlung

Folgen für das Opfer

Zurechtweisung

Demütigung/zeitweili- gelegentlicher ges Schuldgefühl einzelner Konflikt

Disziplinarverfahren

Unbehagen und Unwohlsein für die Dauer des gesamten Verfahrens

gelegentlicher einzelner Konflikt

gelegentliche Pflicht, degradierende Arbeitsaufgaben auszuüben

Demütigung für die Dauer jeder einzelnen Tätigkeit

gelegentlicher einzelner Konflikt

Entlassung

täglicher Wegfall der Arbeit

abgeschlossener einzelner Konflikt

Zuteilung einer Stelle ohne spezifische Arbeitsaufgaben

permanente Untätigkeit

Straining

Entziehung der zuvor ausgeführten Arbeitsaufgaben

permanente Degradierung

Straining

Zuteilung eines isolier- permanente ten Arbeitsplatzes Beziehungsarmut

Konfliktart

Straining

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Straining

Handlung

Folgen für das Opfer

Konfliktart

Wegnahme der Arbeitsinstrumente

permanente Unmöglichkeit der Arbeitsausübung

Straining

systematische Verbalattacken/ständige Disziplinarverfahren

Unwohlsein und Demütigung bei jedem Ereignis

Mobbing

Verfolgung auch außerhalb des Arbeitsplatzes

ständiges Angstgefühl/ Psychoterror

Stalking

Während wir beim Mobbing also eine ganze Serie von feindseligen Handlungen benötigen, erfordert das Straining ein Ereignis am Arbeitsplatz, welches langfristig negative Folgen für das Opfer hat. Hierzu zählt nicht der sich oft verschlechternde gesundheitliche Zustand. Konflikte am Arbeitsplatz haben fast immer Konsequenzen auf psychischem oder psychosomatischem Niveau, ganz gleich, ob es sich um Straining, Mobbing, Belästigung oder sonst etwas handelt. Man kann die gesundheitlichen Folgen für das Opfer nicht absehen, deshalb ist diese Art von Folge auch keine unbedingte Voraussetzung für Straining. Wenn ein Mensch irgendeine Art von Konflikt durchlebt, ist es sehr wahrscheinlich, dass er körperliche und/oder seelisch aus dem Gleichgewicht gerät. Man darf jedoch nie den Fehler begehen, den Konflikt über den Gesundheitszustand zu definieren. Zahlreiche Gerichtsverfahren sind schon an genau diesem Punkt gescheitert, ab dem der Anwalt die ärztlichen Atteste als Beweise erachtete. Als dauerhafte Veränderung in diesem Sinne gilt natürlich auch nicht die Veränderung der Lebensumstände des Opfers. Auch diese ergeben sich oft zwangsläufig aus einem schweren Konflikt. Dieser sogenannte existenzielle Schaden, der zum Teil auch ein Vermögensschaden sein kann, betrifft das soziale, familiäre und Intimleben, die gesamte Lebens- und Freizeitgestaltung. Veränderungen in diesen Bereichen treten meistens zwangsläufig ein, sind jedoch nicht unbedingt zum Erkennen von Straining erforderlich. Bei einer Kündigung kann sich der Entlassene vielleicht manches Hobby nicht mehr leisten, seine Lebensgefährtin verlässt ihn sogar, ganz zu schweigen von der Unternehmungslust, die im Zuge einer Depression beispielsweise © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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komplett wegfallen kann. Der Entlassene könnte sich sozial isolieren, indem er nicht mehr ausgeht (Kino, Gasthof usw.). Er wird vielleicht seinen Freundeskreis verlieren, seine Lebenslust könnte ebenfalls verloren gehen. Entscheidend für den Strainingnachweis ist wie gesagt die Veränderung am Arbeitsplatz selbst. Das Opfer hatte vor der strainenden Handlung mehr oder weniger normale Arbeitsplatzbedingungen, während sich diese danach langfristig vollkommen anders und zu seinem Nachteil gestalten (Tabelle 4). Tabelle 4: Die Folgen einer dauerhaften Degradierung (nach Ege, 2005, S. 75) Konsequenzen einer dauerhaften Degradierung Das Opfer verfällt in eine Depression, leidet unter Schlaflosigkeit, entwickelt verschiedene psychosomatische Symptome.

biologischer Schaden, nicht entscheidend, um Straining zu erkennen

Das Opfer streitet mit dem Partner, widmet seiner Familie keine Zeit, entscheidet sich für den sozialen Rückzug.

existenzieller Schaden, nicht entscheidend, um Straining zu erkennen

Das Opfer hat nicht mehr die Möglichkeit, früheren Arbeiten nachzugehen.

beruflicher Schaden, möglicher Strainingschaden, entscheidend, um Straining zu erkennen

Ob nun sich durch eine feindselige Handlung gesundheitliche Konsequenzen für das Opfer ergeben, ein sogenannter biologischer Schaden, oder sich die Lebensumstände des Opfers verschlechtern, ein sogenannter existenzieller Schaden, ist davon separat zu betrachten. Es ist nicht unumgänglich, diese Schäden zu berücksichtigen, um einen Fall als Straining zu bezeichnen, da diese auch durch Mobbingverhalten etc. entstanden sein können. Ich möchte hinzufügen, dass eine Veränderung der Arbeitsaufgaben nicht automatisch zur Degradierung führt. Tabelle 5 zeigt auf, welche Arten der Arbeitsaufgabenveränderung es geben kann, welche dann ihrerseits zu einer strainenden Handlung führen können.

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Straining

Tabelle 5: Mögliche Folgen einer Veränderung von Arbeitsaufgaben (nach Ege, 2005, S. 75) Folgen von der Änderung von Arbeitsaufgaben im qualitativen Sinne

Vermehrung

Verminderung

mehr Verantwortung; mehr Arbeiten, die Achtung und Konzentration erfordern; schwierigere Aufgaben, höhere Erwartungen

geringere Aufgabenqualität: monotone, sich wiederholende, zu einfache, wenig sinnvolle, sich mit anderen überlappende Arbeiten

+

im quantitativen Sinne mehr Überstunden, größere Arbeitsmenge mit gleicher Arbeitskraftanzahl, Stress durch Überbeschäftigung



nichts oder fast nichts zu tun; Isolierung; Aufgaben, die sehr viel weniger Zeit beanspruchen, als zur Verfügung steht; Stress durch Unterbeschäftigung

Die im Mobbing-Kapitel näher beschriebene Ausnahme »Stein im Wasser« ähnelt dem Straining sehr, da auch hier eine feindselige Handlung vorliegt, die langfristige Konsequenzen für das Opfer hat. Im Gegensatz zum Straining lassen sich hier noch andere feindselige Handlungen beobachten, die diese eine Handlung stützen oder begleiten. Ich hatte allerdings schon Fälle, die über einen längeren Zeitraum als Straining zu beurteilen waren und viel später erst zum »Stein im Wasser« wurden. Bei der Beurteilung als Gutachter des Gerichts betrachte ich die jetzige Lage des Opfers, das heißt: Leidet das Opfer heute, im Augenblick des Beginns des Gerichtsprozesses, unter Straining, »Stein im Wasser« oder Mobbing, Stalking? Oder simuliert es nur? Die Unterscheidung der Konfliktarten ist von eklatanter Bedeutung für das Opfer, das Gerichtsverfahren und nicht zuletzt für den Gutachter selbst. Dritter Parameter: Dauer Dieser Parameter bezieht sich nicht, wie man vielleicht zunächst vermuten könnte, auf die Dauer der Handlung, sondern auf die Dauer der permanenten Folgen und Auswirkungen. Es wird dabei ab dem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Augenblick gemessen, ab dem die feindselige Handlung ausgeführt wurde. Wie beim Mobbing wird hier ein Zeitraum zu Grunde gelegt, der allgemein in der Medizin, Psychiatrie und Psychologie verwendet wird. Dies ist der in verschiedenen Diagnostikmanualen (z. B. ICD-10 oder DSM-IV) festgehaltene Zeitraum von sechs Monaten. Es wird grundsätzlich unterschieden zwischen Störungen (oder auch Krankheitssymptomen), die bis zu sechs Monate andauern, und denjenigen, die darüber hinaus andauern. Bei denen unter sechs Monaten spricht man von akuten, bei denen über sechs Monaten von chronischen Beschwerden. Wie das Mobbing ist auch das Straining ein chronischer Konflikt – im Gegensatz zu akuten Konflikten wie eine Kritik, ein Streit, eine Meinungsverschiedenheit oder generelle Probleme ohne Folgen oder System. Dieses Kriterium der sechs Monate findet sich daher schon in den ersten Arbeiten von Leymann über das Mobbing (1993) genauso wie in meiner Methode (Ege, 2002). Um diesen Parameter zur Identifizierung von Straining zu erfüllen, muss die Auswirkung der feindseligen Handlung mindestens sechs Monate andauern, denn es gibt auch Handlungen, die nur kurzzeitig negative Folgen für den Arbeitnehmer haben, wie beispielsweise eine Urlaubsvertretung oder der Stress in der Vorweihnachtszeit im Einzelhandel. Um solche Flauten, Stoßzeiten oder außerordentliche Situationen nicht gleich als Straining zu bezeichnen, bietet sich der Parameter bezüglich der Dauer an. Ansonsten wären die Auswirkungen üblicher Geschäftsschwankungen gleich als Straining anzusehen. Und nicht nur dies: Es würde dann natürlich auch die Absicht und damit die Diskriminierung fehlen, da jeder in dieser Situation einen Anstieg der Arbeitsleistung verspüren würde. Sollte der Arbeitgeber es jedoch auch nach Monaten nicht schaffen, dieser Situation entgegenzusteuern, etwa durch Einstellung einer zusätzlichen Arbeitskraft, so kann man durchaus von einer Absicht des Arbeitgebers ausgehen. Stress in der Arbeitswelt kommt vor, davor ist niemand geschützt (egal ob durch Über- oder Unterforderung). Im Gegensatz zur Natur der Arbeit, wo die Arbeitsart in sich Stress beinhaltet, betrifft dieser alle Arbeitnehmer im gleichen Maße. Er ist nicht diskriminierend. Erst wenn absichtlich Stress gegen ein Opfer erzeugt wird, handelt es sich um Straining, und erst ab hier zählt die Dauer. Es kann also © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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durchaus sein, dass ein durch organisatorische Gründe verursachter Stress mit der Zeit abflaut (Ende der Krise, Ende des Booms, Ende der Saison usw.), aber gegenüber dieser dem Opfer weiter ausgeübt wird. In diesem Falle beginnt die Dauer des Strainings erst mit der unterschiedlichen Behandlung des Opfers. Im folgenden Kapitel über Mobbing werden wir die Ausnahme des sogenannten »Quick Mobbing« näher betrachten. Es ist zwar wahr, dass diese Mobbingform zwischen drei und sechs Monaten dauert, jedoch begleiten hier tägliche feindselige Handlungen die permanenten Folgen der Haupthandlung. Straining konzentriert sich von der Definition her auf die langfristigen Folgen für das Opfer, andere wiederkehrende Handlungen kommen nicht vor. »Quick Straining« kann man also ausschließen. Die Folgen der feindseligen Handlung müssen nun einmal anhalten und für wenigstens sechs Monate die Arbeit des Opfers beeinflussen. Vierter Parameter: Typen der feindseligen Handlungen Auch dieser Parameter ist beim Mobbing gegeben. Feindselige Handlungen sind bereits von der einschlägigen Literatur umfassend beschrieben und bewertet worden. In meiner Methode (Ege, 2002) benutze ich die traditionellste und verbreitetste Klassifizierung, nämlich die von Heinz Leymann (1993, S. 33 f.). Nach ihm werden fünf verschiedene Kategorien von feindseligen Handlungen unterschieden, und zwar: a) Angriffe auf die menschlichen Kontakte, b) systematische Isolierung, c) Änderung der Arbeitsaufgaben, d) Angriffe auf das Ansehen und e) Gewalt und Gewaltandrohung. Bei meiner Methode habe ich noch weitere feindselige Angriffe aufgelistet, die sich zumeist auf eigenen Erfahrungen oder Erfahrungen anderer Autoren berufen. Beim Bewerten eines Falles (vor allem bei Mobbing) können die weiteren Items hilfreich sein, um die zuvor genannten Kategorien besser zu verstehen. Hier im Folgenden die Auflistung6 aller feindseligen Handlungen mit der Unterteilung in Kategorien nach Leymann (Tabelle 6):

6 Die Auflistung aller folgenden feindseliger Handlungen findet sich im Anhang des Buchs (Ege, 2002, S. 33 f.).

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Tabelle 6: Feindselige Handlungen mit der Unterteilung in Kategorien nach Leymann (1993) Angriffe auf die menschlichen Kontakte ӹӹ Ihr Vorgesetzter schränkt Ihre Möglichkeit, sich zu äußern, ein. ӹӹ Sie werden ständig unterbrochen. ӹӹ Andere Personen schränken Ihre Möglichkeit, sich zu äußern, ein. Man übt Druck auf folgende Weise auf Sie aus: ӹӹ lautes Anschreien, Ausschimpfen ӹӹ ständige Kritik an Ihrer Arbeit ӹӹ ständige Kritik an Ihrem Privatleben ӹӹ Telefonterror ӹӹ mündliche Drohungen ӹӹ schriftliche Drohungen Ihnen wird der Kontakt auf folgende Weise verweigert: ӹӹ abwertende Blicke oder Gesten mit negativen Inhalt ӹӹ Andeutungen, ohne dass man etwas direkt/direkt ausspricht Systematische Isolierung ӹӹ Man spricht nicht mit Ihnen. ӹӹ Man will von Ihnen nicht angesprochen werden. ӹӹ Sie werden an einem Arbeitsplatz eingesetzt, an dem Sie von den anderen isoliert sind. ӹӹ Den Arbeitskollegen wird verboten, mit Ihnen zu sprechen. ӹӹ Sie werden wie Luft behandelt. Änderung der Arbeitsaufgaben ӹӹ Sie bekommen keine Arbeitsaufgabe zugewiesen, Sie sind ohne Beschäftigung in der Arbeit. ӹӹ Sie bekommen sinnlose Arbeitsaufgaben zugewiesen. ӹӹ Sie werden für gesundheitsgefährdende Arbeitsaufgaben eingesetzt. ӹӹ Sie erhalten Arbeitsaufgaben, die weit unter Ihrem Können liegen. ӹӹ Sie werden ständig zu neuen Arbeitsaufgaben eingeteilt. ӹӹ Sie erhalten demütigende Arbeitsaufgaben.

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Angriffe auf das Ansehen ӹӹ Man spricht hinter Ihrem Rücken schlecht über Sie. ӹӹ Man verbreitet falsche Gerüchte über Sie. ӹӹ Man macht Sie vor anderen lächerlich. ӹӹ Man verdächtigt Sie, psychisch krank zu sein. ӹӹ Man will Sie zu einer psychiatrischen Untersuchung zwingen. ӹӹ Man macht sich über Ihr Schicksal lustig. ӹӹ Man imitiert Ihren Gang, Ihre Stimme und Gesten, um Sie lächerlich zu machen. ӹӹ Man greift Ihre politische oder religiöse Einstellung oder dergleichen an. ӹӹ Man greift Ihr Privatleben an oder macht sich darüber lustig. ӹӹ Man greift Ihre Herkunft an bzw. macht sich darüber lustig. ӹӹ Sie werden gezwungen, Arbeiten auszuführen, die Ihr Selbstbewusstsein verletzen. ӹӹ Man beurteilt Ihre Arbeit in falscher und kränkender Weise. ӹӹ Man stellt Ihre Entscheidungen in Frage. ӹӹ Man ruft Ihnen obszöne Schimpfwörter oder andere entwürdigende Ausdrücke nach. ӹӹ Man macht sexuelle Annäherungen oder sexuelle Angebote in Form von Worten. Gewalt und Gewaltandrohung ӹӹ Sie werden zu Arbeiten gezwungen, die Ihrer Gesundheit schaden. ӹӹ Sie werden trotz Ihres schlechten Gesundheitszustandes zu gesundheitsschädlichen Arbeiten gezwungen. ӹӹ Man droht Ihnen mit körperlicher Gewalt. ӹӹ Man wendet leichtere Gewalt gegen Sie an, um Ihnen zum Beispiel einen Denkzettel zu verpassen. ӹӹ Sie werden körperlich misshandelt. ӹӹ Jemand verursacht Ihnen Kosten, um Ihnen zu schaden. ӹӹ Jemand richtet an Ihrem Heim oder an Ihrem Arbeitsplatz Schaden an. ӹӹ Es kommt Ihnen gegenüber zu sexuellen Handgreiflichkeiten.

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In unserer Methode (Ege, 2002) zur Erkennung des Arbeitskonflikts und dessen Schadensberechnung steht im vierten Parameter die Untersuchung der feindseligen Handlungen an. Wenn wir nun diese Methode auf einen Strainingfall anwenden, so bedeutet das, dass wenigstens eine dieser Kategorien davon betroffen sein muss. Wir erinnern uns, dass es für Straining wenigstens eine einzige oder wenige Handlungen geben sollte, die eine permanente Konsequenz für das Opfer haben. Wenigstens eine Handlung bedeutet, dass diese aus wenigstens einer Kategorie kommt. Um nun dem Gutachter, dem Experten oder dem Richter eine weitere Hilfe zu geben, eine zusätzliche Sicherheit zur Rekonstruktion der Vorfälle, aber auch, um dem Opfer mehr Wahlmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, ist es angebracht, eine weitere Kategorie einzufügen, die nicht Teil der Auflistung von Leymann ist. Diese sogenannten weiteren feindseligen Handlungen zählen nicht in die Bewertung zur Erkennung der Konfliktart, sondern dienen lediglich der Untermauerung (Tabelle 7). Diese Liste beruht größtenteils auf Veröffentlichungen von Mobbingforschern (siehe dazu hauptsächlich Zapf, Knorz u. Kulla, 1996) und eigenen Erfahrungen. Tabelle 7: Weitere feindselige Handlungen Weitere feindselige Handlungen ӹӹ Ihr Computer/Programme/Arbeitsfiles werden manipuliert. ӹӹ Ihre E-Mails werden verfälscht/unbefugt gelesen. ӹӹ Ihr Computer-Passwort wird gelöscht/manipuliert. ӹӹ Ihnen zustehende Entscheidungen werden ohne Ihr Zutun getroffen. ӹӹ Um Sie zu schikanieren, ergehen pedantische Anordnungen selbst für einfache Arbeiten. ӹӹ Ihre Kollegen werden gegen Sie aufgewiegelt. ӹӹ Sie werden ohne die Ihnen zustehende Absprache vor vollendeten Tatsachen gestellt. ӹӹ Ihnen wird der Zugang zu Computer/Internet/E-Mails verwehrt. ӹӹ Sie werden von betrieblichen Feiern oder anderen sozialen Anlässen ausgeschlossen. ӹӹ Es herrscht ein Ihnen gegenüber feindselig gestimmtes Betriebsklima. ӹӹ Man macht sich über Ihr Aussehen lustig.

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Weitere feindselige Handlungen ӹӹ Kollegen weigern sich zur Zusammenarbeit mit Ihnen. ӹӹ Statussymbole werden Ihnen weggenommen (Handy, Firmenwagen usw.). ӹӹ Es herrscht ein permanenter unfreundlicher Umgangston gegenüber Ihnen. ӹӹ Sie werden bei Vorgesetzten angeschwärzt. ӹӹ Sie werden provoziert, um überzureagieren und dann die Folgen zu tragen. ӹӹ Im Betrieb wird eine feindselige Stimmungsmache gegen Sie ausgeübt. ӹӹ Auch jenseits der Arbeit werden Sie beobachtet/kontrolliert. ӹӹ Ihre private Post wird ohne Ihre Zustimmung geöffnet. ӹӹ Ihre Anregungen werden grundsätzlich abgelehnt. ӹӹ Ihr Einfluss- oder Tätigkeitsbereich wird Ihnen entzogen. ӹӹ Sie werden immer für die unangenehmsten Arbeiten eingeteilt. ӹӹ Es wird ein Nachfolger für Ihren Arbeitsplatz beschäftigt/gesucht. ӹӹ Ihnen gegenüber werden arbeitsnotwendige Informationen verschwiegen, um Ihnen Probleme zu bereiten. ӹӹ Sie erhalten absichtlich falsche Informationen, um in Schwierigkeiten zu gelangen. ӹӹ Es hagelt fortwährend unfreundliche Bemerkungen Ihnen gegenüber. ӹӹ Ihnen wird das Recht auf Weiterbildung verwehrt. ӹӹ Sie werden mit Arbeitsaufgaben betraut, die Sie in ständige Abhängigkeit von anderen bringt. ӹӹ Sie werden ständig kontrolliert/überwacht. ӹӹ Ihre mündlichen/schriftlichen Anfragen werden ignoriert. ӹӹ Man lässt Ihnen gegenüber frei seine Launen aus. ӹӹ Ihr Arbeitsplatz wird ohne Vorankündigung geräumt. ӹӹ Sie werden ständige versetzt, bevorzugt in unangenehme Abteilungen. ӹӹ Behauptungen werden erhoben, um Ihrem Image zu schaden. ӹӹ Private Gespräche mit Kollegen sind Ihnen verboten worden. ӹӹ Ihre Arbeitsresultate werden verfälscht, um Ihnen Probleme zu bereiten. ӹӹ Bei Krankschreibungen werden Probleme gemacht/Drohungen ausgesprochen.

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Weitere feindselige Handlungen ӹӹ Unterschriften werden gegen Sie gesammelt. ӹӹ Ihnen nachgeordnete Mitarbeiter weigern sich, Ihren Anweisungen Folge zu leisten. ӹӹ Vorgesetzte/Kollegen verweigern sich absichtlich, bei Erfolgen zu gratulieren. ӹӹ Niemand hilft bei neuen Arbeiten/Tätigkeiten. ӹӹ Sie werden für betriebliche Schwierigkeiten/Fehler der anderen verantwortlich gemacht. ӹӹ Keine Beförderung oder Lohnerhöhung während des Zeitraums, in der dies für andere mit gleicher/geringerer Qualifikation zutrifft.

Wie bereits erwähnt, ist dieser Parameter erfüllt, sobald wenigstens eine feindselige Handlung oder wenige feindselige Handlungen aus wenigstens einer Kategorie vorliegen. Nicht alle Handlungen in den einzelnen Kategorien haben in gleichem Maße langfristig Folgen, viele haben Konsequenzen in psychosomatischen Bereich, jedoch weniger am Arbeitsplatz. In Tabelle 8 sind die fünf Kategorien mit ihrer Wahrscheinlichkeit aufgelistet, in dieser einen Strainingfall vorzufinden. Tabelle 8: Die Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann, angewendet auf das Straining (nach Ege, 2005, S. 79) Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann

Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Strainingsituation handelt

Angriffe auf die menschlichen Kontakte

gering

systematische Isolierung

hoch

Änderung der Arbeitsaufgaben

hoch

Angriffe auf das Ansehen

mittelmäßig

Gewalt und Gewaltandrohung

gering

Was Mobbing betrifft, ist es eigentlich ziemlich unerheblich ist, welche feindseligen Handlungen gegen das Opfer getätigt werden. Es genügt, dass diese Handlungen systematisch ausgeführt werden. Deshalb ist es für die reine Bewertung des Mobbingkonflikts eigentlich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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kaum von Bedeutung, was nun genau vorgefallen ist. Jede einzelne Handlung in den aufgeführten Listen trägt im Sinne des Mobbings zur systematischen Verfolgung des Opfers bei. Beim Straining ist dies nicht der Fall. Hier sind wie gesagt nur die Handlungen in Betracht ziehen, die eine langanhaltende Veränderung der Arbeitsplatzbedingungen nach sich ziehen. Deshalb ist die systematische Isolation und die Änderung der Arbeitsaufgaben naturgemäß eher dem Straining zuzuordnen als beispielsweise Angriffe auf die menschlichen Kontakte. »Degradierung« gehört klar dazu. In der ersten Kategorie »Angriffe auf die menschlichen Kontakte« sind in erster Linie Handlungen enthalten, die provozierend wirken. Tätlichkeiten wie ständiges Unterbrechen wirken sich in dem Augenblick aus, in dem das Opfer tatsächlich unterbrochen wurde, jedoch kaum ein paar Stunden später geschweige denn Tage später. Das Gleiche gilt für das Anbrüllen oder massive Kritik (sowohl an der Arbeit als auch am Privatleben). Diese ruft sehr wahrscheinlich (vielleicht sogar heftige) Emotionsausbrüche beim Opfer hervor, wie beispielsweise Weinen, Krämpfe, Traurigkeit oder im Gegenteil Wut und Aggression (diese psychosomatischen Reaktionen klingen in den allermeisten Fällen kurz danach ab, sofern es nicht zu ständigen Wiederholungen kommt; es ist meistens ein paar Tage ein arousal, das heißt eine erhöhte Sensibilität und Alarmbereitschaft, zu beobachten). In den allermeisten Fällen zielt der Täter genau auf diese Reaktionen ab. Ich provoziere jemanden, um eine Reaktion beim Opfer auszulösen, die ich dann eventuell für meine Zwecke nutzen kann. Das bedeutet jedoch, ich muss, um diese Reaktionen seitens des Opfers jederzeit abrufen zu können, diese Provokationen wiederholen. Wenn dies geschieht, sprechen wir nicht mehr von Straining (da sich dadurch die Arbeitsplatzausgestaltung für das Opfer nicht auf lange Sicht ändert, sondern lediglich eine emotionale Reaktion auf das einzelne Ereignis erfolgt), sondern von systematischen wiederkehrenden feindseligen Handlungen. Dies wird bei Erfüllung aller sieben Parameter als Mobbing bezeichnet (siehe folgendes Kapitel). Auch Telefonterror zielt auf eine einzelne (dann sich wiederholende) Provokation ab, die am Arbeitsplatz Mobbing und im Privatleben Stalking sein könnte. Drohungen schriftlicher oder mündlicher Natur und negative Andeutungen gehen ebenfalls © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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in diese Richtung. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass Handlungen aus dieser Kategorie zu einer Strainingsituation führen, auch wenn die Einschränkung der Möglichkeiten, sich zu äußern, durchaus permanenten Charakter haben kann. Feindselige Handlungen aus der Kategorie »Systematische Isolierung« sind sehr direkt dem Straining zuzuordnen. Diese haben fast immer permanente Konsequenzen für das Opfer. Das Nichtsprechen mit dem Opfer oder der Verbannung an einen räumlich isolierten Arbeitsplatz sind Aktionen, die bleibenden Folgen am Arbeitsplatz haben. Dies trifft auch für einzelne aktive7 Handlungen wie das Wie-Luft-Behandeln oder das Kontaktverbot der Kollegen mit dem Opfer zu. Unter den hier aufgeführten Handlungen sind zudem Aktionen, die andere Kollegen oder Arbeitnehmer in die Strainingstrategie hineinziehen sollen. Eine erfolgreich gegen das Opfer gerichtete Isolierung ist nur dann von Erfolg gekrönt, wenn auch alle daran teilnehmen. »Blockade-« oder »Streikbrecher« sind hier nicht erwünscht. In Strainingfällen (aber auch bei Mobbing) habe ich oft erlebt, dass diejenigen, die sich mit dem Opfer anfreunden bzw. Solidarität zeigen, ebenfalls Opfer feindseliger Handlungen wurden. Die Haltung des Nicht-angesprochen-werden-Wollens könnten wir sowohl als Straininghandlung (es wird dem Opfer von vornherein klar gemacht, dass es mich nicht ansprechen soll) als auch als Mobbinghandlung (jedes Mal, wenn das Opfer versucht, Kontakt aufzunehmen, wird es zurechtgewiesen und ihm wird zu verstehen gegeben, dass man nicht angesprochen werden möchte) begreifen. Ich erinnere mich sehr gut an einen Patienten, der mir erzählte, dass er »der unsichtbare Mann« sei. Im weiteren Verlauf der psychologischen Sitzung wurde deutlich, dass der Patient am Arbeitsplatz tatsächlich komplett ignoriert wurde. Es bewahrheiteten sich all 7 Im Gegensatz zu einer »passiven« Handlung agiert hier ein Mensch bewusst, um jemanden zu schaden. Dies setzt in der Regel eine Planung und Realisierung der Handlung voraus. Eine passive Handlung wäre zum Beispiel das Unterlassen von Hilfe, obwohl erkannt wird, dass dem Kollegen übel mitgespielt wird. Eine passive Handlung kann jedoch aktiv werden, zum Beispiel dann, wenn ein Opfer mich um Hilfe bittet und ich ihm diese absichtlich und in vollem Bewusstsein verweigere.

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diese Dinge, die wir hier beschrieben haben: Die Kollegen wurden mit einbezogen, indem ihnen jeglicher Kontakt zu ihm untersagt wurde; niemand suchte ihn und außerdem wurde ihm ein Arbeitsplatz zugewiesen, der sich hinter einer Biegung des Flures befand, sodass ihn niemand zu Gesicht bekam. All das ging auf eine einzige Handlung (bzw. in mehreren Parallelhandlungen) zurück, es folgten keine weiteren feindseligen Aktionen mehr. Das Opfer einer systematischen Isolierung muss allerdings mit einer ständigen Belastung am Arbeitsplatz leben. Noch typischer für eine Strainingsituation sind Übergriffe aus der Kategorie »Änderung der Arbeitsaufgaben«. Unsere ersten Strainingfälle haben sich durch Aktionen in diesem Bereich ausgezeichnet. Auch unsere Idee, die Definition von Mobbing zu erweitern und den neuen Begriff des Strainings einzuführen, entstand aufgrund von Handlungen und Ereignissen, die dieser Kategorie entsprangen. Ich möchte sogar so weit gehen und behaupten, dass diese Kategorie dem Straining par excellence entspricht. Eine typische Straininghandlung ist gerade das Degradieren. Die feindselige Handlung, »keine Arbeitsaufgabe zugewiesen zu bekommen und ohne Beschäftigung in der Arbeit sein«, ist ein sehr verbreitetes Verhaltensmuster im Straining. Der Stress der Unterbeschäftigung wird gern und häufig angewandt, um dem Opfer die Lust und Freude an der Arbeit zu nehmen und seinen Stolz zu brechen. Ähnlich verhält es sich auch damit, dem Opfer sinnlose Arbeitsaufgaben zuzuweisen. Dies kann mitunter die kuriosesten Blüten treiben, wie etwa das Ordnen von Archiven nach gegenläufigen Gesichtspunkten (zuerst in alphabetischer Reihenfolge, dann in chronologischer Reihenfolge, um dann wieder in alphabetischer Reihenfolge fortzufahren usw.). Vor etlichen Jahren hatte ich sogar einen Fall, bei dem das Opfer angewiesen wurde, das Toilettenpapier zu fotokopieren, nachdem es sagte, dass es nichts mehr zu kopieren gäbe. Der Patient rang während der psychologischen Sitzung mit den Tränen, da er seinen (beruflichen) Stolz komplett verloren hatte und ihm damit die Sinnlosigkeit seiner Anwesenheit vor Augen geführt wurde. Dies könnte man auch dem Item der »demütigenden Arbeitsaufgaben« zuordnen. Einer Degradierung dagegen kommt (natürlich neben dem kompletten Fehlen von Arbeitsaufgaben) am ehesten die Hand© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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lung der Zuweisung von Arbeitsaufgaben entgegen, die weit unter dem Können des Opfers liegen. Neue Arbeitsaufgaben können natürlich stimulierend sein, aber wenn eine solche Änderung ständig geschieht, kann sich das Opfer nicht darauf einstellen. Ein solches Vorgehen ist jedoch eher zu den Mobbingaktivitäten zu zählen, da man von systematischen, sich wiederholenden aktiven Vorgängen ausgehen muss. Das Zuteilen von gesundheitsgefährdenden Arbeitsaufgaben ist eine typische Strainingtätigkeit. Hier müssen wir nicht unbedingt an das Hantieren mit Giftstoffen oder Chemikalien denken. Dies kommt im Normalfall eher selten vor. Vielmehr handelt es sich um Aktionen, bei denen der Arbeitgeber oder der Vorgesetzte sehr gut mit dem gesundheitlichen Zustand des Arbeitnehmers vertraut ist und dem Opfer dadurch genau solche Aufgaben zuteilen kann, die das Opfer eigentlich nicht tun sollte, um seinen gesundheitlichen Zustand nicht weiter zu verschlechtern, zum Beispiel schweres Heben von Ordnern oder ständiges Stehen bei Rückenproblemen. Auch denkbar ist das Zusammenbringen des Opfers mit Stoffen, die bei ihm Allergien auslösen, wie etwa Latexhandschuhe bei einer Ärztin. Ganz zu schweigen von Menschen mit Behinderungen, denen absichtlich Arbeitsaufgaben gegeben werden, die sie aufgrund ihrer Behinderung nicht ausführen können. Ein solches Handeln ist mir in den vielen Jahren meiner Tätigkeit oftmals unter die Augen gekommen, sodass bei Handlungen dieser Kategorie ein Strainingverdacht oft sehr nahe liegt. Betrachten wir dagegen die nächste Kategorie, die der »Angriffe auf das Ansehen«, sind darin sowohl Handlungen mit langanhaltenden Folgen für das Opfer als auch ohne diese enthalten. Gerüchte verbreiten, jemanden hinter dem Rücken schlechtmachen, ihn lächerlich machen, den Verdacht auf psychische Krankheit streuen, ihm eine psychiatrische Untersuchung aufzuzwingen, ihn zu imitieren, seine Einstellungen, Herkunft, sein Privatleben anzugreifen, ihm falsche Beurteilungen auszustellen, ihm sexuelle Angebote zu unterbreiten usw., sind letzten Endes alles feindselige Handlungen, die das Opfer verletzen, jedoch mit oder ohne langfristige Folgen bleiben. Ich kann das Ansehen eines Menschen dauerhaft zerstören, indem ich ein Gerücht in die Welt setze, um den Kollegen zu diffamieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Wenn das Gerücht am Arbeitsplatz die Runde macht, kann es dort permanente Veränderungen nach sich ziehen. Das Opfer wird geächtet, weil es eben dem Gerücht entsprechend verdächtigt wird, und verliert an Einfluss. Es kann sein Ansehen bereits durch ein einziges Wort verlieren und als das »abgestempelt« werden, was der Strainer vorgibt. Dabei ist es irrelevant, ob dies politische, religiöse, gesundheitliche, familiäre, private, berufsbezogene oder sexuelle Themen betrifft. Wenn das (Vor-)Urteil sich erst einmal in den Köpfen der Kollegen eingenistet hat, sind veränderte Arbeitsplatzbedingungen vorprogrammiert (»Wer will denn mit so einem noch zusammenarbeiten?«). Die Folgen für das Opfer können dabei ganz sachlicher Natur sein: Beispielsweise kann es die ihm zustehende Chance auf eine Beförderung verlieren. Zudem ist zu unterscheiden, ob es sich bei der gegen das Opfer gerichteten Aktion um eine einzelne ungezielte Aktion im Sinne eines geschmacklosen Scherzes unter Kollegen (welcher vielleicht das Opfer nicht so sieht) handelt, der nach einem kurzen Gelächter ohne nennenswerte Folgen bleibt, oder nicht. Auch das Zwingen zu Arbeiten, welche unser Selbstwertgefühl verletzen, kann eine einmalige Sache sein (»Die Toiletten sind ekelhaft. Könnten Sie diese bitte heute Nachmittag einmal reinigen?«) oder permanente Folgen haben (»Ab sofort kümmern Sie sich nur noch um die Reinigung der Toiletten.«). Wie die Beispiele belegen, ist immer eine genaue Analyse notwendig, um den Konflikt besser verstehen zu können. Eine unsachgemäße Bewertung des Mitarbeiters ist eine feindselige Handlung, aber verändert dies den Arbeitsplatz permanent oder nicht? (Werden dem Arbeitnehmer jetzt keine verantwortungsvollen Arbeiten mehr anvertraut? Muss er mit Degradierung rechnen? Verliert er seine legitimen Karrierechancen?) Deshalb ist es mittelmäßig wahrscheinlich, dass Handlungen aus dieser Kategorie Straining zugeordnet werden können. In der Kategorie »Gewalt und Gewaltandrohung« befinden sich Handlungen, die sogar strafrechtliche Relevanz haben, beispielsweise jene, in denen das Opfer zu Arbeiten gezwungen wird, die direkt der Gesundheit schaden. Bei anhaltender Zuteilung solcher Arbeiten ist zu erwarten, dass die Folgen dieser Aufgaben nicht nur rein physischer Natur bleiben werden, sondern dass auch der Arbeitsplatz des © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Opfers permanent verändert ist. Es könnte sich also um Straining handeln, während die Drohung oder die Anwendung von körperlicher oder sexueller Gewalt eine einzelne Tätlichkeit ist, die zwar sehr extreme Auswirkungen auf das psychophysische Wohlbefinden des Opfers hat, aber nicht grundsätzlich als Auslöser für Straining gesehen werden kann. In diese Kategorie fällt aber auch das Anrichten von Schäden am Arbeitsplatz, die unter anderem auch Sabotageakte beinhalten können. Arbeitsinstrumente des Opfers können so unbrauchbar gemacht werden damit es seinen Aufgaben nicht weiter nachgehen kann. So ist es beispielsweise schon vorgekommen, dass Patienten davon berichteten, dass ihnen wichtige Computerprogramme derart manipuliert wurden, dass sie am Schluss unbrauchbar waren. Trotz der zum Teil sehr schlimmen Aktionen, die sich in dieser Kategorie befinden, ist es eher unwahrscheinlich, dass diese in einem Fall von Straining von Belang sein können. Fünfter Parameter: Ungleichheit zwischen den Antagonisten Dieser Parameter unterscheidet sich nicht vom fünften des Mobbings. Genau wie beim Mobbing herrscht Chancenungleichheit gegenüber dem Strainer und seinem Opfer. Die Ungleichheit beruht nicht auf hierarchischer Ungleichheit (wenngleich dies beim Straining de facto so ist), sondern auf den Möglichkeiten und Mitteln, die beiden Parteien zur Verfügung stehen. Das Opfer ist seinem Strainer schutzlos ausgeliefert, es kann sich nicht mehr wirksam zur Wehr zu setzen. Das hat zumeist zweierlei Gründe: Zum einen ist das Opfer durch die psychosomatischen Folgen des Strainings so weit angegriffen, dass es die Kraft, Geduld und Konzentration nicht mehr aufbringen kann, um sich zu wehren. Das Opfer ist sprichwörtlich ohnmächtig und verliert mit der Zeit den Mut, sich dagegenzustemmen. Zum anderen ist der Isolierungsprozess am Arbeitsplatz so weit fortgeschritten, dass niemand mehr dem Opfer Glauben schenkt. So wie im Fall von Katrin bleiben dann die Hilferufe und das Ersuchen um Erklärungen meist unbeantwortet. Die Proteste des Opfers laufen fast immer ins Leere. Der Strainer – im Gegensatz zum Mobber – ist fast immer ein Vorgesetzter oder der Arbeitgeber selbst ist. Ein gleichrangiger Kol© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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lege hat schlichtweg nicht die Möglichkeiten, einen anderen derart zu degradieren, ihm Arbeitsaufgaben oder die Arbeitsinstrumente vorzuenthalten. Er kann einen Kollegen nicht an einen isolierten Ort versetzen, da ihm hierzu die Weisungsbefugnis fehlt. Obgleich auch beim Mobbing oft der Vorgesetzte mobbt, ist dies beim Straining fast ausschließlich der Fall. Der Parameter Ungleichgewicht wird im Verlauf dieses arbeitsplatzrelevanten Konflikts immer wirkungsvoller, da die Möglichkeiten der Isolierung durch den Strainer und damit die Ohnmacht des Opfers stetig zunehmen. Sechster Parameter: Verlauf nach Phasen Im Vergleich zum Mobbing fällt dieser Parameter beim Straining deutlich schwächer aus. Dies liegt daran, dass Straining schlichtweg eine stabilere Situation im Sinne eines weniger dynamischen Verlaufs darstellt als Mobbing. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu einer möglichen Entwicklung des Strainingkonflikts selbst, doch fällt diese oft weniger eklatant aus als beim Mobbing. Vergleicht man die Anfangs- und eine fortgeschrittene Phase des Strainings, so ergibt meist ein recht ähnliches Bild, während beim Mobbing doch erhebliche Veränderungen zu beobachten sind. Aufgrund dieser weniger ausgeprägten Dynamik lässt sich die Vermutung anstellen, dass Straining möglicherweise weit häufiger stattfindet als angenommen, es aber schlichtweg nicht als Konflikt wahrgenommen wird. Eine Dynamik des Konflikts ist vor allem bzw. oftmals ausschließlich in den daraus resultierenden psychophysischen Folgen für das Opfer erkennbar, welches gerade durch diese Statik immer mehr zermürbt wird. Durch dieses langsame »Einknicken« des Opfers lässt sich eine Entwicklung des Konflikts erst entscheidend vorantreiben. Im Folgenden (siehe Abbildung 2) soll nun das Phasen-Modell des Strainings vorgestellt werden, welches im Gegensatz zum Phasenmodell des Mobbings nur vier statt sechs Phasen aufweist.

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1 feindselige Handlung

2 arbeitsplatzrelevante Folgen, die als permanent empfunden werden (= Straining) 3 psychophysische Konsequenzen

4 Verlust der Arbeit Abbildung 2: Das Vier-Phasen-Modell des Strainings (Ege, 2005, S. 84)

Erste Phase – Feindselige Handlung: Es dürfte auf der Hand liegen, dass die erste Phase mit der feindseligen Handlung beginnt, die das eigentliche Straining ausmacht. Diese Handlung, siehe vierter Parameter, muss aus einer der fünf Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann (1993) stammen. Diese Phase ist zeitlich beschränkt und umfasst nur die tatsächliche Dauer, um die feindselige Handlung zu realisieren und durchzuführen. Bei Strainingfällen, die sich in öffentlichen Betrieben abspielen, kann sie aus bürokratischen Gründen länger andauern. Wenden wir uns nochmals Katrin zu: In diesem Beispiel besteht die erste Phase des Strainings aus der feindseligen Handlung der Versetzung in die Finanzbuchhaltung. Die Tatsache, dass sie nach der Rückkehr aus dem Mutterschutz zuerst einmal überhaupt keinen Arbeitsplatz zugeteilt bekam, ist eher als Schlamperei oder passives Desinteresse zu werten. Es könnte sich natürlich auch um ein kalt berechnetes Kalkül handeln. Bewertet man diesen Fall als Gutachter, ist dieser Akt nicht sicher als Teil der Strainingstrategie einzustufen, da noch nicht von einer aktiven, absichtsvollen Handlung ausgegangen werden kann. Dies ändert sich dann schlagartig, als Anfragen und Erklärungsgesuche des Opfers absichtlich ignoriert werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Die aktive Handlung bestand letzten Endes in der Zuordnung eines Arbeitsplatzes ohne Arbeitsaufgaben oder Arbeitsinstrumente in der Finanzbuchhaltung. Diese aktive feindselige Handlung hatte dann die langfristigen Folgen, die in der zweiten Phase beschrieben werden. Zweite Phase – Arbeitsplatzrelevante Folgen, die als permanent empfunden werden (= Straining): Gerade diese zweite Phase ist es, die entscheidend zum Erkennen und zum Verständnis dieser Konfliktart beiträgt. Aufgrund der wenig ausgeprägten Dynamik dieses Konflikts lässt sich dieser Phase sogar eine Schlüsselrolle zuordnen, denn hier entscheidet sich, ob es sich tatsächlich um eine permanente Veränderung des Arbeitsplatzes und damit verbunden der Arbeitsbedingungen handelt oder nicht. Ist das Opfer in der ersten Phase dauerhaft in seinen Funktionen beeinträchtigt? Oder handelte es nur um eine einzelne Aktion, die keine weiteren Konsequenzen für das Opfer nach sich zieht und nur eine Tat zum Selbstzweck war? Ist letzteres der Fall, dann haben wir bei der Konfliktanalyse keine zweite Phase und dementsprechend auch keine Strainingsituation vorliegen. Anders sieht es jedoch aus, wenn das Opfer durch die Handlung der ersten Phase unter einem künstlich erzeugten und absichtlich herbeigeführten Stress gesetzt wird. In der dann einsetzenden zweiten Phase wird dem Opfer langsam aber bestimmt bewusst, dass die neuen Arbeitsbedingungen schädigend, benachteiligend und diskriminierend sind. Dem Opfer wird klar, dass diese Situation sich im negativen Sinne stabilisiert und permanent wird. Zurückkommend auf unser Beispiel kann man sagen, dass diese zweite Phase bei Katrin in dem Augenblick erreicht war, als sie in die Finanzbuchhaltung kam und dort ohne Arbeitsaufgaben sowie Arbeitsinstrumente verbleiben musste. Sofort begann Katrin, sich gegen die drohende permanente Situation zu stemmen; sie wollte Erklärungen, vor allem von ihren Vorgesetzten, die jedoch nie für sie erreichbar waren. Sie versuchte zu verstehen, was um sie herum und mit ihr geschah. Erst als sie realisierte, dass niemand sie empfangen wollte, als ihre Bemühungen ins Leere zu laufen schienen, wurde ihr allmählich klar, dass die Lage, in der sie sich inzwischen befand, nicht von kurzer Dauer sein wird. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Hier kommt es natürlich sehr stark auf den Charakter, die Erfahrungen und Persönlichkeit des Opfers an, ab wann es realisiert, dass sich die Situation, die entstanden ist, zu einer dauerhaften zu entwickeln droht. Es gibt Opfer, die lange mit der Illusion leben, es würde schon wieder besser werden, und den oft zu hörenden Beschwichtigungen Glauben schenken. Es gibt aber auch Opfer, die hoffen, sie könnten die Situation aussitzen und dabei auf die eigene (Willens-) Stärke vertrauen. Bei diesen Menschen dauert das Erreichen der dritten Phase (siehe die folgenden Ausführungen) etwas länger, aber früher oder später tritt diese auch hier ein, falls sich die Arbeitsplatzbedingungen nicht grundlegend ändern. Es gibt aber auch Menschen, die sehr sensibel sind und sich der Situation sofort bewusst sind. Sie spüren, dass sie auf einem Abstellgleis stehen. Andere dagegen sind so geschwächt, dass sich sehr bald schon psychosomatische Folgeerscheinungen manifestieren. Diese psychosomatischen Probleme sind noch nicht Teil oder Bedingung dieser zweiten Phase, sondern bereits Teil der dritten Phase. Wir können mit dem Erreichen der zweiten Phase bereits attestieren, dass es sich um Straining handelt (vorausgesetzt natürlich, dass auch die anderen sechs Parameter erfüllt sind), denn genau das Entstehen dieser Phase, der andauernden Konsequenz aus der ersten Phase, nennen wir Straining. Dritte Phase – Psychophysische Konsequenzen: Auf die permanente Veränderung der Arbeitsplatzbedingungen folgt unweigerlich auch eine langsame oder schnelle psychophysische Reaktion. Auch wenn die Opfer noch so sehr dagegen ankämpfen, die Frustration, welches das vorherrschende Gefühl in der zweiten Phase darstellt, schlägt sich irgendwann auf das körperlich-seelische Wohlbefinden nieder. Bei einigen ist die Coping-Fähigkeit ausgeprägter als bei anderen (sie können zunächst besser mit dieser Situation umgehen), bei labileren Menschen tritt diese Phase viel eher ein. Es gibt Reaktionen, die bei allen Menschen ähnlich, wenn nicht gleich sind (Empörung, Ekel, Schock, Trauer usw.), da diese meist kulturell bedingt sind. Die anschließende Somatisierung ist jedoch ein eigenständiger, ganz individueller Prozess. Die ersten psychosomatischen Beschwerden sind in der Regel Ein- und Durchschlafprobleme, Störungen im gastrointestinalen Bereich (Verdauungsprobleme, Bauch- und Magen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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schmerzen usw.), Verstimmungen (z. B. depressives, aggressives, apathisches oder ängstliches Verhalten) und Beeinträchtigungen des Ess- (Appetitlosigkeit, Heißhunger usw.) und Sexualverhaltens (Absinken des Libido, Erektionsstörungen usw.), aber auch Motivationsstörungen, ein schwindendes Selbstwertgefühl bis hin zu sozialer Selbstisolierung. Bei Andauern des Strainings kann davon ausgegangen werden, dass die ursprünglichen Probleme zu wahren und richtigen Störungen reifen (ängstliches Verhalten kann zu einer Angststörung führen, Heißhungerattacken können zu Bulimie, Einschlafprobleme zu einer Schlafstörung, Niedergeschlagenheit und Unlust zu einer schweren Depression führen usw.). Straining hat (genauso wie Mobbing oder Stalking) eine Art Beschleunigerfunktion. Das heißt, dass bereits vorhandene Störungen und Probleme sich infolge des Konflikts verschlimmern können. Wenn jemand bereits vor dem Straining ein ängstliches Gemüt hatte, kann sich dieses Problem im Laufe des Strainings zu einer wahren Angststörung entwickeln, bis hin zu Panikattacken. Während die psychophysischen Folgen beim Mobbing aufgrund der Dynamik des Prozesses in mehrere Phasen aufgeteilt werden können, sind diese beim Straining allesamt in einer Phase vorzufinden, da sie sich aufgrund eines Ereignisses weiterentwickeln. Während beim Mobbing aufgrund der zahlreichen Aktionen ein Fortschreiten der Verschlechterung des Gesundheitszustandes anhand des Konfliktverlaufes festzumachen ist, ist dies bei Straining nicht der Fall, weshalb eine weitere Aufteilung dieser Folgen wie beim Mobbing nur wenig sinnvoll wäre. Auf diese Weise wird dem individuellen Empfinden bzw. der jeweiligen Somatisierung des Opfers Rechnung getragen. Vierte Phase – Verlust der Arbeit: Ein ungehindertes Fortschreiten des Strainingprozesses kann in seiner endgültigen Konsequenz ebenso wie beim Mobbing in der sechsten Phase den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben. Viele Opfer kommen nach einem lange andauernden Straining (wobei die Definition von »lang« in der individuellen Wahrnehmung des Opfers liegt) in eine Lage, in der sie einfach nicht mehr weiterkönnen. Das Opfer greift dann meistens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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zur Notbremse, die sich Kündigung nennt. Oder aber es kommt durch die langen Krankenstände in der dritten Phase zur Entlassung. Ebenso denkbar ist eine durch die gesundheitlichen Folgen bedingte Arbeitsunfähigkeit mit entsprechender Invalidenrente oder eine Frühverrentung mit entsprechenden Renteneinbußen. In den tragischsten Fällen ist es auch schon zur Selbsttötung gekommen. Eine Kündigung ist jedoch nicht für jeden so einfach umsetzbar, sei es aufgrund der nicht immer angenehmen Vorstellung, sich eine neue Arbeit suchen zu müssen, oder schlichtweg aufgrund der finanziellen Lage. Gerade Arbeitnehmer jenseits der 50 und/oder Menschen mit Familie können sich in der heutigen Arbeitswelt nur schwer einen Neustart leisten bzw. bekommen oftmals keine Chance dazu. Infolgedessen beißen sie die Zähne zusammen und versuchen oftmals mithilfe von Stimmungsaufhellern oder Antidepressiva, die Frustration unter Kontrolle zu halten. Dies führt nicht selten zu einem Teufelskreis des Leidens, der sich über Jahre hinziehen kann. Erst wenn beispielsweise die Kinder aus dem Haus sind und damit die Verantwortung für den Nachwuchs wegfällt oder das Rentenalter in so greifbare Nähe gerückt ist, dass man glaubt, nichts mehr zu verlieren zu haben, greifen viele Menschen endlich zur Gegenwehr. Aufgrund dessen ist es durchaus vorstellbar, dass sich viele Strainingfälle in einer früheren Phase bereits von selbst auflösen oder dass Phasen übersprungen werden können, etwa durch eine Kündigung vor dem Manifestieren psychosomatischer Folgen. Wenn sich ein Opfer jedoch professionelle Hilfe sucht, befindet es sich meist in der zweiten oder dritten Phase. Eine Konsultation eines Experten nach der Kündigung ist eher selten. Meist wird in diesen Fällen entweder verdrängt (»Warum mich noch weiter damit beschäftigen?«) oder es wird generelle psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen. Das Phasenmodell des Strainings ist im Gegensatz zu dem des Mobbings zumindest am Anfang deutlich starrer. Sowohl die erste als auch die zweite Phase des Strainings sind in ihrem Vorkommen sowie in ihrer Reihenfolge unabdingbar. Die dritte und vierte Phase hingegen können, wie erläutert, übersprungen bzw. modifiziert werden. Bei der Feststellung von Straining ist es von großer Bedeutung, dass sich das Opfer mindestens in der zweiten Phase befindet. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich – unabhängig von der weiteren Ent© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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wicklung – von Straining sprechen; die dritte Phase dient eher der Schadensbemessung als der genaueren Definition des Falls. Siebter Parameter: Die Verfolgungsabsicht Stellen wir uns die Situation vor, bei der eine Firma in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. Die Aufträge bleiben aus, Arbeit fehlt, die Produktion stockt. In einer solchen Lage wird vermutlich die logische Folge sein, dass alle Mitarbeiter entweder in Kurzarbeit treten oder die Mehrheit die Zeit mit Nichtstun verbringen muss. Die Zeit totschlagen zu müssen, ist sehr belastend. Die Mitarbeiter finden sich in sämtlichen vorhergehenden Parametern wieder, aber es handelt sich nicht um Straining, da der siebte Parameter der Verfolgungsabsicht vonseiten der Vorgesetzten fehlt. In einer solchen Situation sitzen praktisch alle im selben Boot. Niemand wird gesondert zum Nichtstun gezwungen, sondern die Lage erfordert, dass alle sich dieser Situation stellen, vielleicht mit wenigen Ausnahmen (beispielsweise könnte die Marketingabteilung Überstunden machen müssen, um ein neues Verkaufskonzept zur Ankurbelung der Verkäufe zu entwerfen, oder die Entwicklungsabteilung könnte verzweifelt in Schichtarbeit versuchen, ein neues Produkt zu stemmen). Die Mitarbeiter werden nicht gestraint, denn niemand wird zu diesem Stress gezwungen. Straining wird absichtlich angewendet, um jemanden zu schädigen oder zu bestrafen. Bei unserem Beispiel wurde Katrin damit »bestraft«, dass sie sich »erlaubt« hatte, sich in den Mutterschutz zu begeben. Dies ist leider auch heute im 21. Jahrhundert in einer Industrienation wie Deutschland noch eine weiterverbreitete Einstellung. Der Parameter scheint auf dem Papier dem siebten Parameter des Mobbings zu entsprechen. Der große Unterschied ist jedoch, dass beim siebten Parameter des Strainings nur zwei von drei Elementen vorhanden sein müssen, nämlich das sogenannte strategische Ziel, welches durchaus vergleichbar mit demjenigen des Mobbings ist, und das diskriminierende Ziel.

Strategisches Ziel: Was veranlasst einen Menschen dazu, einen anderen zu strainen? Aus welchem Grund sollte der Strainer das Opfer in eine permanente Stresssituation drängen? Dies sind die ersten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Fragen, die sich Opfer von Straining stellen, nachdem sie die Tragweite des Konflikts erkannt haben. Während es durchaus vorkommen kann, dass ein Mensch, der es in seinem Leben bisher einfach nicht anders gelernt hat, mit seinen Mitarbeitern autoritär und herablassend umgeht, handelt es sich bei Straining um ein gezieltes, zweckgebundenes Verhalten einer bestimmten Person gegenüber. Der Strainer (genau wie der Mobber) verfolgt ein klares, abgestecktes Ziel. Diesem Ziel lässt sich eine Motivation unterstellen, die sich allein daraus ergibt, dass er das Opfer zum Nichtstun verurteilt, während dieses weiterhin einen vollen Lohn bezieht, jedoch nicht mehr voll einsatzfähig ist. Die Erklärung ist einleuchtend, obwohl diese erst 2002 genauer analysiert wurde.8 Der Mensch an sich ist ein recht träges Wesen, welches nur minimal instinktgesteuert agiert (das Saugen an der Brust der Mutter beim Säugling stellt hierbei z. B. eine Ausnahme dar). Allem menschlichen Verhalten (außer den wenigen angeborenen Verhaltensweisen) liegt eine Motivation zugrunde – im Gegensatz zu Tieren, deren Verhalten größtenteils von Instinkten geprägt ist. Beispielsweise kann sich die Nächstenliebe oder karitatives Verhalten von Motivation ableiten, dass es ein schönes und befriedigendes Gefühl ist, anderen zu helfen. Ohne Motivation bewegt der Mensch so gut wie nichts. Genau so ist auch unser Konfliktverhalten zu verstehen. Man greift zu Straining (oder andere in den folgenden Kapiteln behandelte Konflikte), weil eine Motivation vorhanden ist. Das Opfer wird in eine Stresssituation mit im schlimmsten Falle psychophysischen Folgen (dritte Phase) gedrängt. Dieses Ziel (strategisches Ziel), das langfristig angelegt ist, stellt die Motivation des Täters dar. Es handelt sich hierbei mehr oder weniger um das gleiche strategische Ziel wie beim Mobbing. Der Inhalt dieses Ziels gestaltet sich jedoch in der Praxis häufig anders, da das strategische Ziel beim Mobbing meist im Ausscheiden des Opfers am Arbeitsplatz besteht, während es beim Straining meist um die Bestrafung oder das Entfernen eines unbequemen oder unerwünschten Arbeitnehmers geht. 8 Und zwar in der Arbeitspsychologie im Rahmen der Mobbingforschung (in Ege, 2002).

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Diese Fälle kommen vor, wenn man sich an einer Person rächen will, weil sie beispielsweise als Zeuge gegen den Arbeitgeber ausgesagt hat, sich gewerkschaftlich betätigt und somit als Bedrohung angesehen wird oder den Vorgesetzten korrigiert und dabei Recht behalten hat; oder das Opfer ist unerwünscht, weil es zum Beispiel nebenberuflich eine höhere Qualifikation eingeholt hat (sog. Feierabendstudium), sich einer politisch entgegengesetzten Partei angeschlossen hat oder (wie im Fall von Katrin) sich entschlossen hat, sich in Mutterschutz und Elternzeit zu begeben und sich dadurch dem Arbeitgeber entzieht und nicht mehr flexibel einsetzbar ist. Vorstellbar – und durchaus schon vorgekommen – ist auch eine Blockade der Karriere, welche der eigenen im Wege stehen könnte. Dies kommt dann vor, wenn ein Mitarbeiter sehr erfolgreich und gut arbeitet und damit den Vorgesetzten in den Schatten zu stellen droht. Man möchte auf dessen Mitarbeit nicht verzichten, der Mitarbeiter darf aber auch keine Karriere machen. So wird dem Opfer häufig belanglose Arbeit (oft nur exekutive und nicht gestalterische Arbeit) gegeben, damit es sich nicht profilieren und keinen offensichtlichen Erfolg einfahren kann. Es gibt natürlich auch ebenso viele Beispiele, die belegen, dass auch Straining angewandt wird, um das Opfer zum Ausscheiden (durch Kündigung oder Entlassung) zu bewegen. Es ist kein so häufiges strategisches Ziel wie beim Mobbing, da nicht durch ständige aktive feindselige Handlungen versucht wird, das Ausscheiden des Opfers zu beschleunigen. Vielmehr versucht man, das Opfer in irgendeiner Weise »einzufrieren« (z. B. durch Isolierung), unabhängig davon, ob es sich um Bestrafung oder Entfernung von der Stelle bzw. Funktion handelt (siehe Tabelle 9). Straining kann auch durch Bossing9 hervorgerufen werden, zum Beispiel, wenn ein Arbeitgeber einen Firmenzweig schließen möchte, aber aus Mangel an Entlassungsmöglichkeiten die dort Beschäftigten in eine Lage versetzt, aus der heraus sie von selbst die Kündigung 9 An und für sich ist Bossing eine Art Mobbing von oben, getätigt von der Geschäftsführung als wirkliche und tatsächliche Firmenpolitik zur Reduzierung des Personals. Zur Vertiefung des Argumentes verweise ich auf die folgenden Textstellen: Ege, 1997, S. 122, und Ege, 2002, S. 19.

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einreichen. Der einzige Unterschied zum Bossing ist tatsächlich nur die Anzahl und Frequenz der feindseligen Handlungen. Nicht selten ist Straining mit einer rechtlichen Änderung der Gesellschaftsform (z. B. von Personengesellschaft zu Kapitalgesellschaft), Privatisierung, Schließung eines Tätigkeitsbereiches, der plötzliche Notwendigkeit der Reduzierung des Personals, dem Verkauf der Gesellschaft oder einem Vorstandwechsel verbunden. Tabelle 9: Strategische Ziele von Straining (zum Teil entnommen aus Ege, 2005, S. 90) strategische Ziele von Straining –– Beseitigung

Das Opfer wird in eine frustrierende Arbeitsplatzlage versetzt (Degradierung, Isolierung, Wegnahme der Arbeitsinstrumente und Mitarbeiter, Untätigkeit usw.) in der Hoffnung, dass es aus Verzweiflung freiwillig kündigt.

–– Entfernung

Das Opfer wird in eine frustrierende Arbeitsplatzlage versetzt (Degradierung, Isolierung, Wegnahme der Arbeitsinstrumente und Mitarbeiter, Untätigkeit usw.), um für jemanden anderen Platz zu schaffen.

–– Bestrafung

Das Opfer wird in eine frustrierende Arbeitsplatzlage versetzt (Degradierung, Isolierung, Wegnahme der Arbeitsinstrumente und Mitarbeiter, Untätigkeit usw.), um sich für etwas zu rächen und/oder um ein Exempel zu statuieren.

–– Blockierung

Das Opfer wird in eine frustrierende Arbeitsplatzlage versetzt (Degradierung, Isolierung, Wegnahme der Arbeitsinstrumente und Mitarbeiter, Untätigkeit usw.), um seine Karriere zu behindern.

Ich möchte an dieser Stelle noch eine Variante ins Blickfeld stellen: die Kombination von Straining und Mobbing. Vor allem dann, wenn das strategische Ziel das Ausscheiden des Mitarbeiters ist und dieser trotz einer frustrierenden Arbeitsplatzsituation nicht freiwillig kündigt, kommt es manchmal dann vor, dass Mobbing zur Verschärfung des Drucks auf das Opfer eingesetzt wird. Wir haben dann in einer solchen Situation eine bestimmte Zeit, in der wir den Konflikt als Straining definieren können, dieser wird jedoch ab einem gewissen Punkt als Mobbing weitergeführt. Im Folgenden soll ein solches Beispiel aus der Praxis aufgeführt werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining

Horst arbeitete seit vielen Jahren für eine norddeutsche Softwarefirma. Er verfügte über sehr gute Qualifikationen und jahrelange Erfahrung auf seinem Gebiet. Kunden wie Mitarbeiter schätzten ihn, da er für nahezu alle Probleme immer eine geschickte Lösung ausarbeiten konnte. So war es nicht verwunderlich, dass er immer mit den kompliziertesten Fällen betraut wurde. Dies ging so lange gut, bis eine Anfrage einer großen amerikanischen Firma ins Haus flatterte. Sein Vorgesetzter, der nicht über die gleichen Computerkenntnisse wie Horst verfügte, schwärzte diesen bei der Firmenleitung an und stellte ihm ein negatives Arbeitszeugnis aus. Dadurch ergatterte sich sein Vorgesetzter diesen prestigeträchtigen Auftrag, während Horst aufgrund seiner negativen Bewertung nur noch operative Aufgaben übertragen wurden. Sein Aufgabenvolumen sank. Er wurde de facto degradiert. Die Firmenleitung jedoch bemerkte, dass sein Vorgesetzter der Aufgabe nicht gewachsen war, und übergab den Auftrag nach einiger Zeit wieder an Horst. Für Horst schien an diesem Punkt die Gerechtigkeit wiederhergestellt zu sein. Sein Vorgesetzter jedoch sah dies als persönliche Beleidigung an und aus Rache begann er nun, Horst regelmäßig zu kritisieren, anzubrüllen und bei der Firmenleitung in ein schlechtes Licht zu rücken. Ferner stachelte er die Kollegen gegen Horst auf. In dieser Situation hatte sich also das Straining (Degradierung, Wegnahme der Arbeitsaufgaben) in Mobbing gewandelt (systematische feindliche Handlungen, aktive Aktionen).

Diskriminierendes Ziel: In diesem Fall ist der Name wirklich Programm. Wie bereits erwähnt, ist ein Strainingverhalten immer diskriminierend (lat.: »discrimino«, trennen, absondern, auslesen). Das Opfer ist dem Strainer auf irgendeine Art negativ aufgefallen, beispielsweise durch seine gute Leistung oder akademische Qualifikationen (beides erregt Neid), durch die Art, sich zu kleiden, durch sexuelle Neigungen, politische oder religiöse Ansichten und Meinungen, durch die Geschlechtszugehörigkeit, durch das Alter oder einfach nur durch Antipathie/Sympathie. Auf jeden Fall unterscheidet es sich von den anderen. Das Opfer wird zum Opfer, weil es in irgendeiner Weise unbequem oder unerwünscht wird. Der Strainer möchte mit seinem Verhalten sein strategisches Ziel erreichen. Das Entscheidende dabei ist, dass das Opfer (oder eine Gruppe von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Fallbewertung von Straining61

Opfern) anders behandelt wird als die Kollegen. Genau dies geschieht beim Straining. Das Opfer von Straining wird ohne Notwendigkeit (also keine wirtschaftlichen, Absatz- oder produktionstechnischen Problemen) in eine Stresssituation gebracht. Man verändert sein Verhalten allein gegenüber dem Opfer. Wenn alle Mitarbeiter von einem Vorgesetzten gleich (schlecht) behandelt werden, so kann man dies durchaus dessen Charakter zuschreiben. Alle sieben Parameter, die erfüllt sein müssen, wenn es sich um Straining handelt, sind nun zusammenfassend in Tabelle 10 aufgeführt. Tabelle 10: Die sieben Parameter zum Erkennen von Straining Parameter zum Erkennen des Strainings

Voraussetzung

1. Ort (Arbeitsplatz)

Der Konflikt muss sich am Arbeitsplatz abspielen.

2. Häufigkeit

Die Folgen der feindseligen Handlung müssen permanent sein.

3. Dauer

Der Konflikt muss wenigstens seit sechs Monaten andauern.

4. Art der Handlung

Die feindseligen Handlungen müssen aus wenigstens einer der fünf Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann stammen.

5. U  ngleichheit zwischen den Antagonisten

Das Opfer befindet sich in einer konstanten Position der Unterlegenheit.

6. Verlauf nach Phasen

Die Ereignisse haben zumindest in die zweite Phase (arbeitsplatzrelevante Folgen, die als permanent empfunden werden) des Vier-Phasen-Modells des Strainings geführt.

7. Verfolgungsabsicht

Man muss ein strategisches und ein diskriminierendes Ziel feststellen können.

1.4 Fallbewertung von Straining Sowohl bei der Bewertung von Straining als auch von Mobbing treffen wir auf eine recht komplexe Prozedur. Wie ein Arzt hat der Gutachter nur die Beschwerden des Patienten vorliegen, anhand derer eine genaue Diagnose erstellt werden muss. Auch wenn es sich bei © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining

einem Arbeitsplatzkonflikt nicht direkt um eine lebensgefährliche Situation wie bei einem Arztbesuch handeln muss, kann eine falsche Diagnose fatale Folgen aufweisen, weshalb sehr akkurat vorgegangen werden muss. Wie bei der ärztlichen Diagnose ist auch bei der Konfliktermittlung oft ein Detail, eine Kleinigkeit ausschlaggebend, ob es sich um den einen oder den anderen Konflikt handelt (oder ob weder der eine noch der andere in Frage kommt). Für die psychologische Behandlung und vor allem für den Aufbau der Klageschrift ist es unumgänglich, dass eine exakte Konfliktanalyse betrieben wird. Nicht selten kommt es vor, dass sich Fälle im Sinne der Symptome beim Patienten sehr ähneln, sich am Ende der eine Fall jedoch als harmloser Streit, der andere als ernsthafter Arbeitskonflikt herausstellt. Diese Analyse kann nur ein erfahrener Arbeitspsychologe leisten. Die korrekte Konfliktanalyse und das entsprechende Gutachten darüber ist insofern wichtig, als dass sich darauf später die Anklage stützt und sich die Beweisführung daran orientiert. Führt bereits der Gutachter eine falsche Konfliktanalyse durch, so hat der Rechtsanwalt größte Schwierigkeiten, das Recht des Klägers vor Gericht durchzusetzen. Ein wohlausgeführtes, fundiertes Gutachten kann dem Anwalt viel Arbeit abnehmen, da es nun an der Verteidigung liegt, dieses zu widerlegen. Dies gilt für Gutachten jeglicher Konfliktarten bzw. generell für Gutachten vor Gericht. Die Fähigkeit und Sensibilität des Gutachters ist entscheidend, auch und vor allem im Hinblick auf die Bestimmung und Erkennung des Schadenprofils. Letzten Endes ist der Unterschied zwischen einer einfachen Stresssituation und Straining ziemlich eindeutig, wenn man die Analyse über die sieben Parameter ausführt. Denn nur durch die Anwendung der sieben Parameter kann man klar und deutlich den Unterschied zwischen Straining und »einfachem« Stress erkennen. Wenn jemand eine große Quantität an Arbeit in geringer Zeit verrichten muss, dann ist das erst einmal ein Grund für Stress und Ursache für psychosomatisches Unbehagen. Ob bei einer psychophysischen Ermüdung Straining mit im Spiel ist, ist dann näher zu erörtern. Es wird jedoch oft der Fehler begangen, die Konfliktart anhand der gesundheitlichen Konsequenzen bestimmen zu wollen. Subjektiv wird der Patient immer von Ungerechtigkeit und feindseligen Handlungen berichten. Dabei lügt er aus seiner Sicht nicht einmal, da er © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Fallbewertung von Straining63

die Situation als solche empfindet. Der Patient ist ehrlich, wenn er behauptet, Opfer von Mobbing zu sein. Von ihm ist keine objektive Analyse der Konfliktart zu erwarten. Oft gehen die Opfer zuerst einmal zu ihrem Hausarzt, da sie unter den gesundheitlichen Beschwerden leiden. Dieser beleuchtet den Fall aus seiner beruflichen Perspektive der Allgemeinmedizin. Die meisten ärztlichen Gutachten, die ich in meiner beruflichen Laufbahn gelesen habe, beschreiben ausführlich die medizinische Seite der Beschwerden. Über die Ursachen und die psychischen Leiden des Patienten werden häufig Hypothesen erstellt, die in einem Rechtsverfahren sogar schädlich sein können. Wie soll im Laufe eines Prozesses »Mobbing« oder »arbeitsplatzrelevanter Stress« als Krankheitsursache nachgewiesen werden? Und wie sollen systematische Anfeindungen am Arbeitsplatz bei Vorliegen von Straining erklärt werden? Besonders »gefährlich« für die Anklage wird es dann, wenn im Gutachten Worte verwendet werden, deren Definition entweder dem Schreiber unbekannt oder die an sich zu schwammig sind, um sie rechtsrelevant einsetzen zu können. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die fehlende Unterscheidung von psychischem und psychologischem Schaden. Einen psychologischen Schaden gibt es nicht, höchstens die psychologische Analyse eines psychischen Schadens. Genau solche Fauxpas müssen vermieden werden, will der Gutachter seine Arbeit vor Gericht unangreifbar machen. Durch die vorgestellten sieben Parameter ist dies erstmals möglich. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass das Wissen um die Arbeitsmethode des Sachverständigen auch für das Verstehen des eigentlichen Konflikts für das Opfer selbst dienlich ist, da es dank dieser Informationen entsprechende Strategien, Lösungs- und Vorbeugemaßnahmen treffen kann. Bisher wurde die Methode Ege (2002) in erster Linie zur Erkennung von Mobbing eingesetzt. Die Verbreitung dieser Methode scheiterte zunächst zum einen an der Sprache, in der sie verfasst wurde, und an der fehlenden Praxis, da es keine Gutachten im deutschen Rechtsraum gab. Ab dem Jahr 2009 habe ich begonnen, auch deutsche Patienten zu betreuen und entsprechende Fachgutachten in deutscher Sprache zu verfassen, die auf dieser Methode basieren. Ursprünglich angewandt für Mobbingfälle entwickelte sich mit der Zeit eine Ahnung der Übertragbarkeit auf andere Konfliktfälle wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining

etwa die des Strainings, für welches es erstmals im Jahr 2005 vor dem Gericht von Bergamo Anwendung fand. Die Vorzüge dieser Methode liegen in seiner klaren Struktur und Nachvollziehbarkeit bzw. Rekonstruierbarkeit, welche vor allem beim wissenschaftlichen Arbeiten von enormer Bedeutung sind und sich vor Gericht bewährt haben. Inzwischen ist diese Methode von den meisten Gerichten Italiens anerkannt worden, und auch die Verbreitung und Akzeptanz dieser Art der Konfliktanalyse in deutschen Gerichtssälen sollte nur eine Frage der Zeit sein. Zudem ist das Wissen über den Konflikt des Strainings noch sehr rudimentär, sodass nicht nur rechtlich, sondern auch wissenschaftlich ein großer Nachholbedarf besteht. Die Anwendung der sieben Parameter ist entscheidend für die Definition und Nachvollziehbarkeit der Analyse des Konflikts, hier sei nochmals auf Tabelle 10 verwiesen. Um die dort aufgeführten sieben Parameter zu erkennen, benutzt man den schon beim Mobbing bewährten Test »LIPT Ege Professional«10 und lädt den Patienten/ Klienten zu psychologische Sitzung(en) bzw. Untersuchungen ein. Damit lässt sich relativ schnell Klarheit schaffen und es kann nicht nur Straining attestiert, sondern andere Konfliktarten können ausgeschlossen werden. Dies ist sowohl wirtschaftlich, emotional als auch zeitlich eine große Ersparnis, da alles innerhalb der gleichen Untersuchung vonstattengeht. Der Patient muss sich also nur einmal der Untersuchung unterziehen, wodurch sowohl die Belastung für den Patienten gering gehalten als auch die Genauigkeit der Analyse durch eine begrenzte Menge an Informationen erleichtert wird. Die psychologischen Sitzungen dienen im Allgemeinen dazu, das Ergebnis des Fragebogens zu überprüfen. Rachegelüste oder Intrigen können so direkt als solche entlarvt werden, da Papier zwar geduldig ist und der Patient fleißig seine Kreuzchen machen kann, um beispielsweise möglichst viel Schadensersatz herauszuschlagen, doch das geschulte Auge des Psychologen wird dies in der darauf10 Dieser findet sich in Ege, 2002. Der Test basiert auf dem »Leymann Inventory of Psychological Terrorism (LIPT)« und wurde von mir verändert und erweitert, um nicht nur Daten für Statistiken sammeln, sondern auch die Erfüllung der sieben Parameter überprüfen und das Schadensprofil erstellen zu können.

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Ein weiteres Fallbeispiel65

folgenden Sitzung schnell durchleuchten. Dies ist auch der Grund, warum die meisten Forschungsarbeiten und Statistiken in diesem Bereich vollkommen unhaltbare Resultate hervorbringen, da oft Rachegelüste oder im Gegenteil die Angst vor den Folgen Umfragen stark beeinträchtigen. Bei dieser neuen Methode ist das Übertragen von subjektiven Gefühlen auf das Ergebnis auf ein Minimum reduziert worden. Deshalb ist es die Aufgabe des Arbeitspsychologen, das Gesamtbild zu verstehen, die nötige Sensibilität für den Patienten zu entwickeln, aber auch subjektive Schilderungen als solche zu erkennen (wie Übertreibungen, Prahlerei, Über- oder Untertreibungen) und den Fragebogen entsprechend abzuändern. Ein besonders probates Mittel in meiner Praxis ist das Stellen ein und derselben Frage in verschiedener Form. In einigen Fällen hilft auch Hypnose, was allerdings vor Gericht nicht mehr verwendet werden kann. Doch der Arbeitspsychologe erhält auf diese Weise einen sehr guten Einblick in den Patienten. All dies dient der Erkennung der sieben Parameter, die im Gegensatz zum Mobbing beim Straining ausnahmslos erfüllt werden müssen, um die Gegenseite (welche auch immer das im jeweiligen Verfahren sein mag) widerlegen zu können; selbstverständlich können Gutachten auch für die Verteidigung erstellt werden, indem man das Vorhandensein der sieben Parameter widerlegt.

1.5 Ein weiteres Fallbeispiel Der folgende Fall stammt aus meinem Buch »Oltre il Mobbing – Straining, Stalking e altre forme di conflittualità sul posto di lavoro« (2005, S. 97 ff.); er hat sich genauso zugetragen und wurde zum ersten anerkannten Strainingfall in der italienischen Rechtsgeschichte. Frau P. arbeitete seit einigen Jahren bei der Firma A. T. GmbH als Angestellte in Teilzeit. Sie war als engagierte, kompetente, eigenverantwortlich arbeitende Mitarbeiterin bekannt, der Job bereitete ihr Freude. Sowohl zu ihren Kollegen als auch zum Firmeninhaber pflegte sie freundschaftliche Beziehungen, man brachte sich gegenseitig Wertschätzung entgegen.

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Straining

Nach dem Verkauf der Firma trat Frau P. als Sprachrohr des durch die unklare Situation verunsicherten Personals auf, indem sie den neuen Firmeninhaber mehrmals und öffentlich um Stellungnahmen zur zukünftigen Unternehmenspolitik bat. Jedes Mal, als dies erfolgte, wurde dieser nervös und verstummte. Dies ging sogar so weit, dass er während einer Versammlung aufstand und die Tür hinter sich zuschlug. Schon bald wurde Frau P. nicht mehr zu Personalversammlungen eingeladen und bemerkte zunehmende Spannungen im Verhältnis zum neuen Vorstand. Nach ein paar Wochen entschied der neue Vorstand, die Aufgabenverteilung in der Firma neu zu überdenken und so faktisch die Tätigkeitsbereiche der Angestellten zu ändern. Von vornherein war klar, dass man Frau P. eine andere Behandlung als den Kolleginnen zugedenken würde. Während diesen Tätigkeiten im Bereich »Koordination« übertragen wurden, betraute man Frau P. mit der neuen Arbeitsaufgabe der »Systemanalyse«. So wurde sie aus ihrem Büro, welches sie immer mit ihren Kolleginnen geteilt hatte, in ein isoliertes Einzelbüro versetzt, welches bislang als Abstellraum für unbenutztes Mobiliar diente. Dieser Raum entbehrte jegliche Arbeitsinstrumente (wie Computer oder Telefon) und wurde nicht bei den Renovierungs- und Erweiterungsmaßnahmen berücksichtigt, die bei anderen Büros vorgenommen wurden. Frau P. erhielt keinerlei Arbeitsaufgaben mehr, sodass sie zur totalen Untätigkeit gezwungen war. Auch nach der späteren Zuteilung eines Computers sowie eines Telefons blieb sie faktisch ohne Aufgaben. Ihr Name verschwand aus dem internen Angestellten-Telefonbuch und ihre Lage wurde bald zum abschreckenden Beispiel für die anderen Beschäftigten, denen es verboten wurde, sie in ihrem Büro zu besuchen. Frau P. war bald sowohl beruflich als auch sozial komplett isoliert. Frau P. nahm ihre Situation zum Anlass, den Vorstand über ihre Lage in Kenntnis zu setzen und sich über die fehlenden Arbeitsaufgaben und die fehlende Instruktion für die (auf dem Papier) neuen Aufgaben zu beschweren. Diese Beschwerde blieb jedoch ohne jegliche Antwort. Frau P. dachte an ihre nicht mehr allzu ferne Rente und versuchte auf diese Weise, die erniedrigende Situation zu ertragen. Dennoch brachte diese Herabwürdigung ihr psychophysisches Gleichgewicht ins Wanken, was wiederum verschiedene Störungen auslöste. Nach

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Ein weiteres Fallbeispiel67

etwa zweieinhalb Jahren erreichte Frau P. das Rentenalter und ging in den Ruhestand. Ihre psychosomatischen Störungen gingen allerdings nicht wesentlich zurück und hatten negative Auswirkungen auf ihr Privat- und Sozialleben. So entschloss sich Frau P., rechtliche Schritte einzuleiten, um einen Schadensersatz für das zu erhalten, was ihr in den letzten Jahren des Berufslebens widerfahren ist. In der Klageschrift forderte der Rechtsanwalt von Frau P. nicht nur eine Entschädigung für den beruflichen Schaden aus der Degradierung, sondern auch für den gesundheitlichen Schaden, der durch das Verhalten, welches er als Mobbing bezeichnete, der Firma entstanden sei.

Unter diesen Voraussetzungen kam der Fall von Frau P. vor das Arbeitsgericht in Bergamo. Ich wurde am Ende des Ermittlungsverfahrens, bei dem sowohl Zeugen der Anklage als auch Zeugen der Verteidigung angehört wurden, vom zuständigen Richter als Gerichtsgutachter hinzugezogen, nachdem er doch erhebliche Zweifel bezüglich des von der Anklage vorgebrachten Mobbingvorwurfs hegte, obwohl der Richter den aus dem Arbeitgeberverhalten resultierenden Schaden anerkannte. Der richterliche Auftrag an mich lautete, die Mobbinghypothese des Falles zu analysieren, die von der Anklage aufgeführten Fakten zu untersuchen und die Höhe und die Natur der eventuellen Schäden der Klägerin durch das Verhalten des Arbeitgebers zu bestimmen. Ich habe daraufhin Frau P. dem bereits erwähnten Test »LIPT Ege Professional« und einer psychologischen Sitzung unterzogen und sie zu ihren Erlebnissen am Arbeitsplatz befragt; zusätzlich integrierte ich weitere psychologische Tests zur persönlichen klinischen Beurteilung; danach überwies ich sie für eine Sitzung zu einem assoziierten Psychiater, welcher ein gerichtsmedizinisches Hilfsgutachten verfasste. Bei der Feststellung, ob es sich um Mobbing handele oder nicht, stellte ich bei der Sieben-Parameter-Analyse fest, dass das Ergebnis negativ war, da zwei Parameter des Mobbings komplett fehlten. Der zweite Parameter, der die Frequenz bzw. Häufigkeit der beklagten feindseligen Handlungen betrifft, konnte objektiv betrachtet nicht festgestellt werden, obwohl die Klägerin beim Test die Häufigkeit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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als »täglich« eingestuft hatte. Dies ging nicht auf Boshaftigkeit der Klägerin zurück, sondern auf die Tatsache, dass sie subjektiv die Lage so wahrgenommen hatte, dass ihr Leiden, ihre Isolation, ihre erzwungene Untätigkeit täglich und konstant waren. Unter Bezugnahme auf die beim Gericht hinterlegten Akten, die Zeugenaussagen und letzten Endes auch auf Basis der Aussagen der Klägerin konnte dabei nur von wenigen tatsächlichen feindseligen Handlungen ausgegangen werden: die Veränderung ihrer Arbeitsaufgaben, der Ausschluss von Weiterbildungsmaßnahmen, die Wegnahme von Arbeitsinstrumenten und -aufgaben, das Kontaktverbot für die Kollegen mit ihr. Diese wenigen Handlungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten und über eine Spanne von zwei Jahren stattfanden, konnten die Mindestforderung des zweiten Mobbingparameters nicht (wenigstens einige Male im Monat) erfüllen. Ich war mir jedoch sicher, dass diese wenigen Handlungen eine ständige, tägliche Konsequenz auf die Arbeitsbedingungen von Frau P. hatten und sie dies genau so empfunden hatte. Diese Tatsache bringt uns nach heutigem Wissensstand automatisch zu der Ansicht, dass es sich bei diesem Konflikt um Straining und nicht um Mobbing handeln muss. Doch auch ein weiterer wichtiger Mobbingparameter fehlte, nämlich der sechste. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist Mobbing ein dynamischer Prozess, Straining hingegen ist nach Erfolgen der Haupthandlung sehr statisch in seinem Verlauf, was die Analyse nach Mobbingphasen schlichtweg unmöglich macht. Bei dieser Entwicklung intensiviert sich der Aspekt der Verfolgung, parallel dazu verschlechtert sich der psychophysische Zustand des Opfers immer mehr. Im Fall von Frau P. dagegen war es mehr als offensichtlich, dass es keinerlei dynamische Entwicklung gab. Die Klägerin gab selbst an, dass nach der Änderung der Arbeitsaufgaben tatsächlich keine weiteren feindseligen Handlungen ihr gegenüber stattgefunden hatten. Der Konflikt hielt sich immer auf dem gleichen Niveau und dessen Beendigung war keine logische Konsequenz des Umgangs mit der Klägerin, sondern erfolgte durch das Erreichen des Rentenalters. Dies wäre so oder so geschehen, auch ohne dass sie solch einen bedauernswerten und erniedrigenden Konflikt hätte durchmachen müssen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Ein weiteres Fallbeispiel69

Während der Analyse stellte sich jedoch dennoch eine entsprechende Verfolgungsabsicht heraus, bei der das strategische Ziel die Vermeidung von Umschulung und Neuqualifizierung von Frau P. aus Kostengründen war (man wollte in sie nicht mehr investieren, da sie ja in zwei Jahren in Rente gehen würde) und das diskriminierende Ziel durch die Tatsache gegeben war, dass offensichtlich nur sie sich in dieser Lage befand. Aus der Sichtweise der Arbeitspsychologie kann diese Situation damit ziemlich eindeutig als Straining gedeutet werden. Aus ärztlicher Sicht konnte eine depressive Angststörung festgestellt werden, die durch die Ereignisse am Arbeitsplatz ausgelöst wurde (reaktiv). Dementsprechend attestierte ich Frau P. in meinem Gerichtsgutachten eine Strainingsituation, die für ein psychischen biologischen Schaden verantwortlich war, den mein psychiatrischer Mitarbeiter diagnostiziert hatte, und für einen existenziellen Schaden, den ich anhand einer von mir entworfenen Tabelle festsetzte, die sich am monetären Schaden bei Mobbing ausrichtet (siehe Anhang in Ege, 2002). Bei der Urteilsverkündung erkannte der Richter des Gerichts von Bergamo die komplette Degradierung von Frau P. an; zusätzlich, auf der Basis meines Gerichtsgutachtens, wies der Richter die Mobbingklage zurück und erkannte dafür die Lage von Frau P. als Straining11 an.

11 Das Urteil Nr. 286/15 vom 21. April 2005 war wie gesagt das erste Urteil, welches Straining am Arbeitsplatz und seine schädliche Wirkung für das Opfer juristisch anerkannte.

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2 Straining und Mobbing

2.1 Ein Fallbeispiel Klaus war seit mehreren Jahren in einem größeren süddeutschen Unternehmen tätig, das in seinem Segment zu den Markführern gehört. Klaus war Betriebswirt und arbeitete für die Abteilung »Verkauf«. Er war verheiratet und hatte einen noch minderjährigen Sohn. Seine Frau hatte sich nach der Geburt des Kindes beruflich zurückgezogen, sodass Klaus der Alleinverdiener der Familie war. Bis zu diesem Zeitpunkt lief eigentlich alles nach Wunsch. Seine Karriere verlief sogar so gut, dass er eines Tages zum Abteilungsleiter für den Verkauf ernannt wurde. Hierbei kamen ihm seine guten Englischkenntnisse zugute, da in dieser Position öfters Auslandaufenthalte vorgesehen waren, vor allem für den Besuch von Fachmessen. Leider war dieses Glück nur von kurzer Dauer. Nach nur circa zehn Monaten hatte Klaus das Gefühl, dass ihm auf der Arbeit ein immer härterer Wind entgegenwehte. Er erkannte jedoch keinerlei Anlass dahinter. Klaus arbeitete wie immer gewissenhaft und genau. Er bemerkte, dass ihn seine Mitarbeiter ohne jegliche Vorankündigung immer häufiger übergingen. Sie nahmen ihre Anweisungen vom Bereichsleiter entgegen und nicht mehr von ihm. Auch ihre Arbeiten lieferten sie direkt bei diesem ab. So kam es, dass er gezwungen war, Zuarbeiten selbst zu erledigen. Selbst seine ihm eigentlich zustehende Sekretärin war immer häufiger in anderen Abteilungen für den Bereichsleiter unterwegs, sodass Klaus öfter das Telefon bedienen und sich selbst um seinen Terminplan kümmern musste. Dies hatte zur Folge, dass Klaus nun immer länger im Büro war, weil er diese organisatorischen Aufgaben nun noch nach Feierabend erledigen musste. Seine Überstunden durfte er nicht abrechnen, sodass er wirtschaftlich keinen Ausgleich für seine Mehrarbeit erhielt. Und es kam noch schlimmer: Durch die

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Ein Fallbeispiel71

zwangsläufig verminderte Zeit, die ihm übrig blieb, um sich um seine Kunden zu kümmern, wurde er jetzt immer öfter zuerst telefonisch, und später auch schriftlich kritisiert. Man warf ihm eine schwächere Arbeitsleistung vor. Warum sich alle so verhielten, blieb ihm schleierhaft, da er auf seine mündlichen Anfragen bei den Mitarbeitern nur ausweichende und auf seine schriftlichen Anfragen vom Vorstand überhaupt keine Antwort erhielt. Im Gegenteil: Die Kritiken nahmen an Häufigkeit und Schärfe zu. Ihm wurden schließlich die Auslandseinsätze gestrichen, von nun an sollte der Bereichsleiter ausländische Partner und Fachmessen übernehmen. Selbst Mitarbeiter, die ihm eigentlich hierarchisch unterstellt waren, erlaubten sich verbale Kritik (»Sie sind zu langsam«, »Sie blockieren den Arbeitsrhythmus«, »kein Wunder, dass das hier nicht vorangeht« usw.). Auf seine Beschwerde über deren Verhalten gab es nur Kritik an seiner Arbeit als Antwort. Klaus wuchs die Situation über den Kopf. Er hatte regelrechte Angststörungen und massive Schlafstörungen. Dies führte dazu, dass er immer häufiger einige Tage im Krankenhaus verbringen musste. Dies alles dauerte knapp ein Jahr, als er wie aus dem Nichts zum Vorstand gerufen wurde, wo man ihm eröffnete, dass sich seine Sekretärin über ihn wegen sexueller Belästigung beschwert hätte. Obwohl es keine Beweise, keine Zeugen, überhaupt nichts gab, was diese Anschuldigungen hätte untermauern können (und somit Aussage gegen Aussage stand), wurde ihm vorgehalten, dass er so nicht zu halten sei. Es sei »unzumutbar, jemanden, der in letzter Zeit so wenig leiste, öfter im Krankenstand sei und auch noch seine Sekretärin sexuell belästige, als Abteilungsleiter in diesem prestigeträchtige Unternehmen zu beschäftigen«. So wurde Klaus kurzerhand in ein abgelegenes Büro als »Key Manager« versetzt. Was ein »Key Manager« zu tun hatte, konnte ihm niemand sagen, da es diese Position bislang gar nicht gab. Fakt war, dass er sich jetzt nur noch um Zuarbeiten kümmern musste, die zuvor in den Zuständigkeitsbereich seiner Mitarbeiter gefallen waren. Da er aber auch nominell nicht mehr Abteilungsleiter des Verkaufs war, hatte er nur noch operative, aber keine taktisch-strategischen Funktionen mehr inne. An die Stelle des Abteilungsleiters des Verkaufs trat nun die Frau eines Vorstandsmitglieds, die zu diesem Zweck eingestellt wurde. Die Häme, der Spott und das Gelächter der Kollegen wurden immer unerträglicher, sodass Klaus frustriert durch seine immer stär-

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Straining und Mobbing

keren Angst- und Depressionszustände in immer längere, zum Teil auch mehrere Wochen anhaltende Krankenstände trat. Nach mehrmonatiger Abwesenheit durch Krankheit beschloss Klaus zu kündigen, da er diese Lage nicht mehr ertragen konnte. Von Beginn der feindseligen Handlungen gegen Klaus bis zu seiner Kündigung dauerte es nur circa dreißig Monate.

Der Fall von Klaus ist ein sehr komplexer und schlimmer Fall von Mobbing. Im Gegensatz zum Straining sind hier intensive feindselige Handlungen und eine ausgeprägte Verfolgungspolitik gegenüber dem Opfer zu beobachten. Wie lässt sich nun die Aussage untermauern, dass Klaus ein Opfer von Mobbing wurde? Wie kann man Mobbing erklären und dessen Beweisführung angehen? Und vor allem: Wie kann man einen solchen Fall vor einem Gericht mit einem Gutachten vertreten? Mobbing ist in Deutschland schon seit ein paar Jahrzehnten bekannt. Ständig erscheinen neue Fachbücher und wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema, sprießen Hilfseinrichtungen und Selbsthilfegruppen für Betroffene aus dem Boden. Es gibt wohl keinen Fernsehsender, bei dem nicht schon über dieses Thema berichtet und diskutiert wurde. Selbst Filme wurden gedreht (»Die lieben Kollegen«, »Monsieur Mobbing« usw.). Über Mobbing herrscht jedoch deshalb nicht mehr Klarheit, sondern im Gegenteil eher Unwissenheit. Es ist wirklich schwierig, selbst für beruflich in diesem Bereich Tätige, den Überblick zu behalten. Im Jahr 2002 entstand in Italien deshalb die Sieben-Parameter-Methode (Ege, 2002), um klare Sachverhalte zu schaffen und eine handfeste Definition zu finden. Ein praktisches Instrument musste her, um die Beweisführung daran ausrichten zu können. Im Folgenden soll die Sieben-Parameter-Methode im Fall von Klaus angewandt werden, um die »Basiskonfliktart«, auf der andere Arbeitsplatzkonflikte aufbauen, kennenzulernen.

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Zur Feststellung von Mobbing73

2.2 Zur Feststellung von Mobbing Klaus war einer der ersten Patienten, der aus Deutschland zu mir in meine Praxis nach Bologna kam. Sein Rechtsanwalt wurde zufällig über das Internet auf mich aufmerksam, und dank seiner Italienischkenntnisse ergab sich für ihn relativ schnell eine klare Idee über eine Zusammenarbeit. Da sich unsere Vereinigung schon seit einigen Jahren mit Arbeitsplatzkonflikten beschäftigt, sollte zunächst einmal festgestellt werden, unter welcher Art von »Stress« Klaus stand: Mobbing, Straining oder einfach nur normaler Arbeitsstress? Klaus wurde dem bereits im vorigen Kapitel erwähnten Test »LIPT Ege Professional« unterzogen und, auf dessen Ergebnis beruhend, einem psychologischen Gespräch. Diese Methode hatte sich bereits in mehreren italienischen Gerichtsverfahren bewährt und wurde auch von zahlreichen italienischen Gerichten in deren Urteilen anerkannt.1 Im Jahre 2002 habe ich eine Definition zu Mobbing veröffentlicht, aus der sich dann auch die Methode der sieben Parameter ableiten lässt. Diese lautet: Mobbing ist ein sich wiederholender, beständiger und dynamischer Konflikt am Arbeitsplatz, bei dem eine oder mehrere Personen durch Handlungen von einem oder mehreren Tätern in vorgesetzter, nachgesetzter oder gleicher Stellung verfolgt werden, um dem Opfer Schäden in verschiedener Art und Höhe beizubringen. Das Opfer befindet sich in einer unterlegener Lage und erleidet langfristig psychosomatische, Beziehungs- und Stimmungsstörungen, die auch zu permanenter psychophysischer Arbeitsunfähigkeit führen können (nach Ege, 2002, S. 39).

Diese Methode, auf der jegliche Erkenntnis zu weiteren Arbeitsplatzkonflikten basiert, beruft sich auf die empirische und objektive Feststellung der sieben Parameter des Mobbings (siehe Tabelle 11). 1

Um nur die ersten zu nennen: zum Beispiel das Urteil des Gerichts in Siena vom 13. 12. 2002, das Urteil des Gerichts in Bari vom 20. 02. 2004, das Urteil des Gerichts in Forlì vom 28. 01. 2005, das Urteil des Gerichts in Agrigent vom 01. 02. 05; alle nachzulesen auf www.mobbing-prima.it.

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Straining und Mobbing

Tabelle 11: Sieben Parameter des Mobbings (nach Ege, 2002, S. 69) Parameter zum Erkennen des Mobbings

Voraussetzung

1. Ort (Arbeitsplatz)

Der Konflikt muss sich am Arbeitsplatz abspielen.

2. Häufigkeit

Feindselige Handlungen müssen wenigstens mehrmals monatlich auftreten (Ausnahme »Stein im Wasser«).

3. Dauer

Der Konflikt muss wenigstens sechs Monate, bei »Quick Mobbing« wenigstens drei Monaten andauern.

4. Art der Handlung

Die feindseligen Handlungen müssen aus wenigstens zwei der fünf Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann stammen (Ausnahme »Quick Mobbing«).

5. U  ngleichheit zwischen den Antagonisten

Das Opfer befindet sich in einer konstanten Position der Unterlegenheit.

6. Verlauf nach Phasen

Die Ereignisse haben zumindest die zweite Phase (Beginn des Mobbings) des SechsPhasen-Modells des Mobbings erreicht.

7. Verfolgungsabsicht

Es muss sowohl ein strategisches als auch konfliktgerichtetes und subjektives Ziel vorhanden sein.

Um diese sieben Parameter zu überprüfen, wird der Patient (wie bei Strainingfällen) dem »LIPT-Ege-Professional«-Test und anschließend einem psychologischen Gespräch unterzogen. Dieses Gespräch ist für den weiteren Erkenntnisprozess unverzichtbar, da so alle Angaben aus dem Test nochmals überprüft werden können und müssen. Zur Erstellung eines Gutachtens füge ich in der Regel noch andere Tests und Gespräche an, um den Schadensumfang besser bemessen zu können. All dies hat eine höhere Objektivität zur Folge, sämtliche Darstellungen des Opfers werden mit Zeugenaussagen und Testergebnissen belegt; damit wird ihre Aussagekraft vor Gericht verstärkt. So lassen sich zudem die subjektiven Empfindungen der Opfer, welche oftmals aus Wut und Enttäuschung bestehen, auf ein Minimum limitieren und die Folgen für das Opfer vor Gericht als konkreten Schaden aufführen. Deshalb ist die Rolle des gerichtlich anerkannten professionellen Mobbingexperten (bzw. Arbeitspsycho© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Zur Feststellung von Mobbing75

logen) so wichtig, speziell wenn es zu rechtlichen Schritten kommen sollte. Im Folgenden sollen die sieben Parameter anhand des Falles von Klaus genauer erörtert werden. Erster Parameter (Ort): Der Konflikt muss sich am Arbeitsplatz abspielen Dieser Parameter fand seine Anwendung bereits im vorigen Kapitel zu Straining und er unterscheidet sich in Klaus’ Fall nicht in seiner Anwendung. Es hört sich fast banal an, aber Mobbing ist nun einmal ein Arbeitsplatzkonflikt. In Deutschland wird Mobbing oft mit anderen Konflikten in Verbindung gebracht (wie Schulmobbing, Cybermobbing usw.), aber das Konzept des Mobbings ist aus den Erfahrungen der Arbeitspsychologie entstanden. Zugegeben, auch Schulkonflikte oder regelmäßiges Beleidigen in sozialen Netzwerken haben Mobbingcharakter, fallen aber nicht in diese Kategorie. Diese Art von Schulkonflikten wird beispielsweise in Italien als »Bullismo« bezeichnet, während sie in Südamerika als »Bullying« bezeichnet werden (Bullying gilt häufig in Europa und Australien als Synonym für Mobbing). Man könnte es vielleicht auch »Schikane« oder »Quälerei« bezeichnen. Das, was als »Cybermobbing« bezeichnet wird, ist nichts anderes als eine Art Stalking, da es sich im Privatbereich abspielt. Mobbing und Straining unterscheiden sich von allen anderen Konflikten darin, dass diese am Arbeitsplatz, und nur dort, stattfinden. Es kam in der Vergangenheit durchaus vor, dass Menschen, die in ihrer Freizeit in einen anhaltenden Konflikt geraten waren, sich Rat und Unterstützung bei Mobbingexperten gesucht haben. Doch das Charakteristische am Konflikt am Arbeitsplatz ist die begrenzte Möglichkeit des Ausweichenkönnens des Opfers; es kann sich seine Kollegen nicht aussuchen, es kann nicht von heute auf morgen den Job wechseln; es kann sich den Anweisungen der Geschäftsleitung nicht widersetzen. Die Opfer von Mobbing, Straining und Co. sind in gewisser Weise gezwungen, sich am Ort des Konflikts aufzuhalten, während man sich im Privatleben meist mit einer gewissen Kraftanstrengung aus der Situation entfernen kann. Arbeit ist in unserer Gesellschaft extrem wichtig. Nachdem wir beim Vorstellen unsere Namen ausgetauscht haben, wird danach meist gleich nach der Arbeit gefragt. Menschen, die keine Arbeit oder © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Mobbing

Probleme bei der Arbeit haben, werden schnell abgewertet. Viele identifizieren sich mit ihrer Arbeit. Arbeiten bedeutet, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein. Durch unsere Arbeit können wir am Konsum teilnehmen. Mit diesem untermauern wir unsere soziale Stellung durch Statussymbole (Villa, Sportwagen, Schmuck, Smartphone, Designerkleidung usw.). Das wiederum verstärkt die Ellenbogenmentalität am Arbeitsplatz, wo dann nicht nur Neid und Eifersucht entstehen, sondern auch der Kampf um den Arbeitsplatz selbst mit immer härteren Bandagen ausgetragen wird. Nicht selten wird zu Mobbing oder Straining gegriffen, wenn sich ein Vorgesetzter dem Rentenalter nähert und die Mitarbeiter sich gegenseitig als Konkurrenten für die bevorstehende Beförderung erleben. Durch die genannten Besonderheiten setzt sich ein Arbeitsplatzkonflikt doch deutlich von den Konflikten in anderen sozialen Umfeldern ab. Mobbing und Straining geschehen unter den besonderen Umständen des Arbeitsplatzes. Der Konflikt, den Klaus erleidet, ist ohne Zweifel auf den Arbeitsplatz bezogen. Dies können wir auf zwei Arten feststellen: zum einen durch den Ausschluss von anderen Konfliktherden wie das Privatleben (er hat eine glückliche Familie, ist Vater und Ehemann ohne finanzielle Sorgen, hat keine nachweisbaren Konflikte mit Nachbarn, es gibt keinen Hinweis auf Schwierigkeiten mit Freunden usw.) und zum anderen durch die direkten konfliktbehafteten Ereignisse am Arbeitsplatz, die zudem in Verbindung mit seinem Gesundheitszustand stehen. Auf diese Weise können wir in seinem Fall problemlos die Präsenz des ersten Parameters attestieren. Zweiter Parameter (Häufigkeit): Feindselige Handlungen müssen wenigstens mehrmals monatlich auftreten Wie wir aus der vorherigen Definition von Mobbing entnehmen konnten, handelt es sich bei Mobbing um einen sich wiederholenden, beständigen und dynamischen Konflikt. Was bedeutet in diesem Zusammenhang »wiederholend«? Wiederholend bedeutet eigentlich nur, dass es sich hierbei um wiederkehrende feindselige Handlungen handelt. Im Gegensatz zu Straining sprechen wir hier jedoch von aktiven Handlungen, nicht von einer andauernden Konsequenz. Aktiv bedeutet, dass die Handlung bewusst geplant und ausgeführt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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wurde. Der Täter (auch Mobber genannt) verliert (Arbeits-)Zeit, um diese Handlungen durchzuführen. Wenn nun also jemand nicht auf meinen Gruß antwortet, dann ist dies nicht als Mobbinghandlung zu werten, da dies keine aktive, sondern eher eine passive Handlung war (die Person hat sich nicht aktiv dafür eingesetzt, mich zu schädigen). Man könnte demjenigen wohl eher eine schlechte Kinderstube bescheinigen. Anders liegt der Fall, wenn der Arbeitskollege alle anderen grüßt, nur das vermeintliche Opfer nicht. In diesem Fall ist die Passivität geplant, da beim Grüßen unterschieden wird. Ebenso ist das systematische Isolieren geplant, da das Nichtgrüßen Teil einer weiterreichenden Strategie ist. So wird letzten Endes auch passives Verhalten aktiv, da man sich aktiv zur Passivität zwingt. Versuchen wir nun, das Wort »systematisch« in praktischere Begriffe zu kleiden. Heinz Leymann, der von vielen als Vater des Mobbings bezeichnet wird, bezeichnete als systematisch eine Frequenz von feindseligen Handlungen von mindestens einmal wöchentlich (vgl. Leymann, 1993, S. 84). Diese Definition hat jedoch seine Schwachstelle darin, dass ein Arbeitnehmer, der über längere Zeit feindseligen Handlungen ausgesetzt ist, sofort aus dieser Definition fällt, sollten die Handlungen einige Wochen nicht mehr stattfinden (etwa durch Krankheit oder Urlaub des Mobbers). Infolgedessen wurde dieser Parameter in der »Methode Ege« (2002) auf »mehrmals monatlich« gesenkt, um auch solchen Fällen Rechnung zu tragen. Zudem gibt es zahlreiche Berufsbilder, in denen das Opfer seinem Täter gar nicht derart regelmäßig begegnen könnte. Wenn wir uns zum Beispiel einen Schichtbetrieb vorstellen, bei dem das Opfer eine Woche lang täglich angegriffen wird, in der folgenden Woche jedoch eine andere Schicht fährt und den Mobber nicht zu Gesicht bekommt, wäre Leymanns Kriterium nicht erfüllt, obwohl jener keine Gelegenheit auslässt, zu mobben. Ebenso ist dies in anderen Berufen vorstellbar, beispielsweise wenn ein Vertreter, der zwei Wochen lang in seinem zugewiesenen Gebiet von Kunde zu Kunde reist, in der Woche, in der er im Büro sitzt, Bestellungen bearbeitet und neue Termine vereinbart, täglich feindseligen Handlungen ausgesetzt ist. Dies sind nur zwei Beispiele, die aufzeigen, wie schnell Menschen mit Konflikten am Arbeitsplatz aus Leymanns Definition herausfallen und nicht mehr als Opfer gelten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Mobbing

In diesem Zusammenhang drängt sich ein anderer wichtiger Aspekt auf, der vor allem beim Straining von eklatanter Wichtigkeit ist: Viele Opfer fühlen sich täglich angegriffen, obwohl dies im Sinne der tatsächlich stattfindenden aktiven Handlungen des Täters nicht der Fall ist. Mit der Entdeckung des Strainings hat dies zu einem neuen Bewusstsein und zu einem Umdenken geführt. Das Opfer von Mobbing muss deshalb durch Zeugen oder Schriftstücke belegen können, dass es mehrmals monatlich angegriffen wurde (zumindest wenn wir rechtliche Schritte unternehmen, bei der Behandlung von psychosomatischen Beschwerden ist eine Beweisführung natürlich unerheblich). Dem Arbeitspsychologen fällt dann die Aufgabe zu, die Angaben des Patienten entsprechend zu überprüfen und eventuell abzuändern. Dieser Parameter ist bei der Mobbinganalyse entscheidend. In der Häufigkeit der feindseligen Handlungen liegt der Hauptunterschied zu Straining oder zu anderen Konflikten. Eine von diesem Parameter abweichende Frequenz wie im Fall der »Stein-im-Wasser«-Ausnahme wird nachfolgend behandelt. Wenn wir nochmals auf die Erlebnisse von Klaus blicken, der im Test eine Häufigkeit von »täglich« angab, können wir tatsächlich eine sehr hohe Frequenz von gegen ihn gerichteten Aktionen feststellen. Kritische Äußerungen über ihn haben sich zu einem nahezu täglichen Ritual entwickelt, während die Wegnahme seiner ursprünglichen Arbeitsaufgaben eine permanente Folge für ihn darstellt. Im Falle von Klaus erwies es sich als angemessen, die Frequenz der feindseligen Handlungen mit »fast täglich« anzugeben. Damit ist das Kriterium des zweiten Parameters bei weitem erfüllt. Nach Überschreiten der Mindestanforderung von »mehrmals monatlich« spielt die tatsächliche Häufigkeit der Handlungen für die Definition im Übrigen keine Rolle mehr, jedoch sehr wohl bei der späteren Berechnung der Schadenshöhe. Dritter Parameter (Dauer): Der Konflikt muss wenigstens seit sechs Monaten andauern Auch dieser Parameter ist in seiner Anwendung identisch zu jenem, welcher bereits beim Straining Anwendung fand. Auch beim Mobbing zählt die Sechs-Monats-Regelung. Dies bedeutet, dass Mobbing © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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wie Straining als chronischer Konflikt behandelt wird und sich dementsprechend von akuten Konflikten abgrenzt. Das Kriterium der sechs Monate wurde eingeführt, um zu vermeiden, dass Schwankungen der Laune oder im Leben der Personen Einfluss auf die Betrachtung nehmen. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass sich negative Ereignisse im (Privat-)Leben eines Menschen, welche nichts mit dem Arbeitsplatz direkt zu tun haben, auch negativ sowohl auf sein Verhalten als auch auf seine Wahrnehmung auswirken können. So wäre zum Beispiel ein Szenario denkbar, in welchem sich der Kollege gerade in Scheidung lebt und sich seinen Kollegen gegenüber entsprechend gereizt gibt; oder er hat Liebeskummer und lässt diesen an anderen aus. Es ist durchaus möglich, dass sich das vermeintliche Opfer in einer schwierigen privaten Lage befindet und deshalb schon bei der kleinsten Kritik empfindlich reagiert. All dies beschränkt sich im Allgemeinen auf eine gewisse Zeit. Das Kriterium der sechs Monate ist daher wichtig, um solche übergangsweise schwierigen Situationen auszuschließen. Wenn sich eine Person jedoch mehr als ein halbes Jahr angegriffen fühlt, kann man von einer gewissen Verfolgungsabsicht ausgehen (pathologische Ursachen einmal ausgeschlossen). Daher spricht man im Zusammenhang mit Mobbing nicht von einer Laune, sondern von aktiven feindseligen Handlungen. Der Täter möchte sein Opfer schädigen und verfolgt es deshalb mit systematischen Aktionen. Dabei ist zu beachten, dass während der gesamten Zeitspanne von mindestens sechs Monaten die Frequenz der feindseligen Handlungen aus dem zweiten Parameter aufrechterhalten werden muss, um Mobbing attestieren zu können. Denn hier greift ansonsten ein bereits erwähntes Problem: Wenn wir uns vorstellen, dass ein Mitarbeiter Opfer einer feindseligen Handlung wird und diese erneut nach circa acht Monaten auftritt, kann aufgrund der Dauer allein nicht von Mobbing ausgegangen werden. Für ein Mobbingverhalten müssen also über die gesamte Zeitspanne (hier also länger als die geforderte Mindestdauer von sechs Monaten) wenigstens »mehrmals monatlich« gegen das Opfer gerichtete Aktionen stattgefunden haben. Nur ab dem Zeitpunkt, ab dem eine solche Häufigkeit zu beobachten ist, kann von Mobbing gesprochen werden. Ansonsten riskiert man, dass auch schon längst zurückliegende einzelne © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Mobbing

Probleme oder Meinungsverschiedenheiten mit einfließen und das Mobbing als endlos dargestellt wird. Es ist wahrlich nicht selten, dass Patienten von jahrzehntelangem Mobbing berichten, da bereits beim Einstellungsgespräch Konflikte wegen Arbeitsaufgaben oder Entlohnung aufgetreten seien. Anhand dieser Beispiele sollte deutlich werden, dass es von unschätzbarer Bedeutung ist, eine gewissenhafte Analyse nach den sieben Parametern vorzunehmen und dass der zweite und dritte Parameter untrennbar miteinander verbunden sind. Einzige Ausnahme hierbei stellt das »Quick Mobbing« mit einer begrenzten Dauer dar; dies wird in diesem Kapitel noch genauer beleuchtet werden. Für den Mobbingexperten bzw. Arbeitspsychologen ist dieses Kriterium des dritten Parameters nicht allzu schwer zu erkennen. Viel schwerer wird es, den eigentlichen Beginn des Mobbings (im Folgenden als »Null-Kondition« bezeichnet) von der ersten Phase des Mobbings unterscheiden zu können. Dies soll beim sechsten Parameter genauer erläutert werden. Doch sei hier bereits festgestellt, dass es oftmals nicht einfach nur genügt, den Beginn der Dauer mit dem Ende der »Null-Kondition« gleichzusetzen. Oft kann es vorkommen, dass die »Null-Kondition« sehr ausgeprägt ist und das Opfer dies schon als Mobbing sieht, oder manchmal wird die erste Phase ganz einfach übersprungen und der Konflikt beginnt direkt in der zweiten Phase. Wichtig ist, dass bei der Analyse die Dauer mit den ersten gezielten Angriffen gegen das Opfer beginnt, die dann auch die im zweiten Parameter vorgesehene Häufigkeit besitzen, da sie ansonsten einen einzelnen Konflikt darstellen würden. Wenden wir uns nochmals unserem Fallbeispiel Klaus zu. Seit Beginn der feindseligen Handlungen bis zur Kündigung sind dreißig Monate vergangen. Damit kann wohl klar die Mindestanforderung des Parameters als erfüllt angesehen werden (sechs Monate). Es gibt durchaus sogenannte Experten, die der Meinung sind, dass eine Dauer über mehrere Jahre bedeute, dass das Opfer sein gegen es gerichtetes Verhalten erdulde. Ich denke jedoch, dass ein Mobbingopfer seine Situation niemals erduldet. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die Opfer oft keine Alternative sehen, ihren Arbeitsplatz aufzugeben, sei es aus finanziellen Gründen oder aus der Verantwortung heraus, die sie im Privatleben zu tragen haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Zur Feststellung von Mobbing81

In solchen Fällen darf es nicht verwundern, dass sich auch Mobbing über viele Jahre erstrecken kann. Das Opfer ist gezwungen, die Zähne zusammenzubeißen, um sich bis zur Rente zu retten. Diese Fälle tauchen in keinerlei Statistik auf. Erst wenn das Opfer aktiv wird und sich rechtlich wehrt, fallen solche Fälle aus dem Raster; geschieht dies nicht, leiden die Opfer im Stillen weiter. Vierter Parameter (Art der Handlung): Die feindseligen Handlungen müssen aus wenigstens zwei der fünf Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann stammen Dieser Parameter verlangt, dass feindselige Handlungen aus mindestens zwei unterschiedlichen Kategorien nach Leymann stattfinden müssen. Die fünf Kategorien (Angriffe auf die menschlichen Kontakte, systematische Isolierung, Änderung der Arbeitsaufgaben, Angriffe auf das Ansehen, Gewalt und Gewaltandrohung), die wir bereits ausführlich im Zusammenhang mit dem vierten Parameter des Strainings behandelt haben, sind auch hier eingebunden. In diesem Zusammenhang bedeutet dies jedoch, dass die Häufigkeit der feindseligen Handlungen (mehrmals monatlich) nicht für jede einzelne Kategorie gilt, sondern für die Gesamtheit der Handlungen, die ihrerseits eben aus mindestens zwei unterschiedlichen Kategorien stammen sollten. Durch diese Sichtweise kann vermieden werden, dass ein einzelner Konflikt (auch mit konstanter Konsequenz, siehe Straining) bereits als Mobbing bezeichnet wird. Es bestünde ansonsten das Risiko, dass das Wort Mobbing als Synonym für jede feindselige Handlung verwendet werden würde. Vielmehr muss sich Mobbing von anderen Konflikten dadurch unterscheiden, dass es eine sehr komplexe Situation darstellt. Dies wird durch die Anzahl der verschiedenen aktiven Handlungen unterstrichen und durch die Tatsache, dass es keine Risikogruppe gibt (d. h., jeder kann unter bestimmten Umständen zum Opfer werden). Tabelle 12 zeigt, mit welcher Frequenz Aktionen von welcher Kategorie bei Mobbing auftreten.

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Straining und Mobbing

Tabelle 12: Die Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann angewendet auf die Häufigkeit bei Mobbing (vgl. Leymann, 1993, S. 23). Kategorien der feindseligen Handlungen nach Leymann

Häufigkeit während einer Mobbingsituation

Angriffe auf die menschlichen Kontakte

häufiges Vorkommen von aktiven Handlungen

systematische Isolierung

seltenes Vorkommen von aktiven Handlungen (eher Konsequenz, siehe Straining)

Änderung der Arbeitsaufgaben

seltenes Vorkommen von aktiven Handlungen (eher Konsequenz, siehe Straining)

Angriffe auf das Ansehen

häufiges Vorkommen von aktiven Handlungen

Gewalt und Gewaltandrohung

seltenes Vorkommen von aktiven Handlungen (Strafrecht!)

Es wird deutlich, dass die meisten Handlungen aus der ersten und der vierten Kategorie stammen, nämlich den Angriffen auf die menschlichen Kontakte sowie Angriffe auf das Ansehen, während die anderen Kategorien entweder eine quantitativ seltene aktive Erscheinung ist (der Arbeitsort sowie die Aufgaben lassen sich schlichtweg nicht beliebig ändern), in ihrer Konsequenz aber permanent sind (wie wir beim Kapitel über Straining gesehen haben) oder – dies besonders bei der fünften Kategorie – selten vorkommen, da Handlungen dieser Ordnung strafrechtlich relevant sein können. Dies bedeutet in der Praxis, dass in den meisten Mobbingfällen mindestens mehrmals monatlich für wenigstens sechs Monate feindselige Handlungen entweder durch Angriffe auf die menschlichen Kontakte oder durch Angriffe auf das Ansehen stattfinden, gleichzeitig, gemischt, einzeln, zusammen, sich abwechselnd oder hintereinander. Oft werden noch andere Aktionen mit Schädigungsabsicht durchgeführt (siehe Ausnahme »Stein im Wasser«). Die Frequenz der Handlungen bezieht sich dabei auf alle Handlungen jeglicher Kategorie. Wie im vierten Parameter des Strainings gibt es auch hier eine (nicht vollwertige) Kategorie der weiteren feindseligen Handlungen, um eventuell andere Kategorienzuordnungen zu bestätigen oder zu widerlegen. Die Nennung einer Handlung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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aus diesem Bereich ist nur im Zusammenhang mit den anderen Kategorien wirksam. Im Fall von Klaus können wir vier Kategorien ausmachen. Wir finden Angriffe auf die menschlichen Kontakte (das ständige Üben von Kritik ihm gegenüber), systematische Isolierung (er wird ignoriert, indem seine Anfragen unbeantwortet bleiben), Änderung der Arbeitsaufgaben (Klaus darf keine Auslandsgeschäfte mehr abwickeln und muss Zuarbeiten selbst erledigen) und Angriffe auf das Ansehen (Vorwürfe wegen sexueller Belästigung). Damit ist das Kriterium von feindseligen Handlungen aus mindestens zwei Kategorien bei weitem erfüllt. Es sind sowohl Handlungen beobachtbar, die systematisch und oft auftreten, als auch Aktionen, aus denen sich eine ständige Folge ergibt. Fünfter Parameter (Ungleichheit zwischen den Anta­ gonisten): Das Opfer befindet sich in einer konstanten Position der Unterlegenheit Dieses Kriterium entspricht dem des Strainings. Das Mobbingopfer hat wie das Strainingopfer nicht mehr die gleichen Möglichkeiten, sich wirksam gegen den Mobber zu verteidigen. Genau wie beim Straining wird ein Mobbingopfer stigmatisiert. Dies wiederum bedeutet, dass niemand mehr mit dem Opfer zusammenarbeiten will. Das Opfer wird ganz einfach isoliert, meistens sozial, aber manchmal auch physisch. Die Opfer von Mobbing werden in Unternehmen oft als Verlierer eingestuft und von vielen als solche gesehen, weshalb sie sich von diesem fernhalten und dadurch das Verhalten des Mobbers durchaus unterstützen. Dabei ergeben sich oftmals regelrecht Allianzen unter Kollegen, sodass es selten bei nur einem Mobber bleibt. Für das Opfer erfüllt sich dieser Parameter dann auf jeden Fall in dieser Weise: Entweder findet es niemanden, der ihm hilft, der seinen Beschwerden nachgeht, der seine Anfragen bearbeitet, oder aber das Opfer ist bereits so stark psychisch angeschlagen, dass es nicht mehr die Kraft hat, gegen das ihm angetane Unrecht anzukämpfen. Die Frustration, die sich mit der Zeit im Opfer aufbaut, schwächt es mit der Zeit so sehr, dass es sich irgendwann nicht mehr zur Wehr setzen kann. Etwas Ähnliches ist auch Klaus in unserem Beispiel geschehen. Er hat die Mitarbeiter auf ihr Verhalten angesprochen, doch diese © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Mobbing

gaben immer nur ausweichende Antworten, während der Vorstand überhaupt nicht reagierte. Ihm wurde ein neues, abgelegenes Büro zugeteilt, ihm wurde praktisch die Sekretärin weggenommen, ebenso die Mitarbeiter, um ihm dann noch eine frei erfundene Position als »Key Manager« zuzuweisen. All dies geschah, ohne dass Klaus irgendetwas daran hätte ändern können. Das Kriterium der mindestens zwei Kategorien ist hier nicht nur erfüllt, sondern bei weitem übererfüllt. Sechster Parameter (Verlauf nach Phasen): Die Ereignisse haben zumindest die zweite Phase (Beginn des Mobbings) des Sechs-Phasen Modells des Mobbings erreicht Wir erinnern uns: In der Definition des Mobbings haben wir von einer Situation in ständiger Entwicklung gesprochen. Dies bedeutet, dass wir es hier mit einem dynamischen Prozess zu tun haben und nicht mit einer statischen Situation. Man kann von einer Entwicklung sprechen, die bis zur Kündigung eskalieren kann. Im Gegensatz zu Leymann, der ein Vier-Phasen-Modell entwickelt hat (vgl. Leymann, 1993, S. 59), ist das Sechs-Phasen-Modell etwas engmaschiger und dementsprechend anwendungsfreundlicher im Hinblick auf den Einsatz im professionellen Bereich. Das Modell wurde erstmals 1997 (Ege, 1997) veröffentlicht und im ersten Mobbingverfahren überhaupt vom Gericht in Forlì im Urteil vom 15. 03. 2001 angewendet. Sowohl bezüglich des erstmaligen, richterlich angeordneten Einsatzes eines Gutachters während eines Mobbingprozesses als auch bei der Urteilsfindung spielte das Modell eine derart wichtige Rolle, dass ich es in meiner Methode zur Bestimmung der Konfliktart und der Schadenshöhe als festen Bestandteil der Parameter bestimmte (Ege, 2002) – auch, um die Dynamik des Mobbingprozesses und die Tragik des Opfers zu dokumentieren. Darauf folgende Urteile, welche sich ebenfalls auf diese Methode beriefen, unterstrichen den Erfolg dieses Konzepts. Die Phasen sollen in Abbildung 3 dargestellt werden.

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1 zielgerichteter Konflikt 2 Beginn des Mobbings 3 erste psychosomatische Symptome 4 Fehler und Übertretungen seitens der Personalverwaltung

Null-Kondition

5 Verschlechterung des psycho­ physischen Gesundheitszustandes des Opfers 6 Verlust des Arbeitsplatzes Abbildung 3: Das italienische Sechs-Phasen-Modell des Mobbings (aus Ege, 1997, S. 48)

Zur Bewertung eines Falles als Mobbing und zur Feststellung des Vorhandenseins des sechsten Parameters sollte sich dieser bereits mindestens in der zweiten Phase befinden. Warum? Die Antwort ist einfach: In der Definition wird von einer Dynamik gesprochen, von welcher man natürlich nach einer Phase noch nicht sprechen kann. Zudem ist die Null-Kondition eine Bedingung, die die Präsenz von Unzufriedenheit und einem generellen Konfliktpotenzial und keine Phase für sich darstellt. Dementsprechend reden wir hier von einem Sechs-Phasen-Modell. In der Null-Kondition haben wir weder Täter noch Opfer. In der Methode Ege (2002) habe ich deshalb das Erreichen der zweiten Phase als Mindestanforderung dieses Parameters festgelegt. Wenn wir uns allerdings dem Zeitfaktor widmen (dritter Parameter: Dauer) müssen wir vom Beginn der gezielten feindseli© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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gen Handlungen (also vom Beginn der ersten Phase) ausgehen. Das bedeutet, dass die Bemessungsgrundlage des dritten Parameters (Dauer) der Beginn der ersten Phase ist, während erst das Erreichen der zweiten Phase das Kriterium der Entwicklung im Sinne dieses sechsten Parameters erfüllt. Die Null-Kondition wird zwar in der Bewertung nicht berücksichtigt (weder im dritten noch im sechsten Parameter), da dieser keine gezielten feindseligen Handlungen enthält, doch ist sie zum besseren Verständnis des vorliegenden Falles unabdingbar, da sie sozusagen den Schlüssel zum Verhalten darstellt. Wenden wir uns deshalb den einzelnen Phasen zu und versuchen, diese anhand der Erlebnisse von Klaus zu analysieren. Null-Kondition Diese »Vorphase« kann durchaus als »Nährboden des Mobbings« bezeichnet werden. Bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass Mobbing in dieser Vorphase entsteht und daraus erwächst. Die Null-Kondition ist von einer allgemeinen Unzufriedenheit geprägt. Klassische Null-Konditionen finden wir beispielsweise in Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten vor, in denen niemand weiß, wer der Nächste ist, der entlassen werden soll. Hier kämpft jeder gegen jeden, um seinen eigenen Arbeitsplatz zu erhalten. Andere klassische Situationen sind beispielsweise Umstrukturierungen. In diesen Fällen braucht es eine gewisse Zeit, bis die Kollegen sich an den neuen Führungsstil oder an die veränderte Organisationsstruktur gewöhnen. Auch Stresssituationen können zur Null-Kondition gehören, da die Kollegen konfliktanfälliger sind als unter normalen Bedingungen. Die Menschen reagieren unter Arbeits- oder Zeitdruck angespannter, sodass aus kleinen Verstimmungen sehr leicht Konflikte entstehen können, die so vielleicht gar nicht vorgesehen waren. In unserem Fall sehen wir, dass Klaus ungefähr zehn Monate lang der Null-Kondition ausgesetzt war. Wir können zwar keine offenen Konflikte, keine Streitszenen beobachten, aber das, was nach dieser Zeitspanne geschah, war wohl eine Folge davon. Klaus’ Aufstieg auf der Karriereleiter war wie so oft im Leben mit Neid und Eifersucht verbunden. Die neue Situation musste sich erst noch einspielen, weshalb es zu Vergleichen mit seinem Vorgänger kommen konnte. Für Klaus blieb dies alles unsichtbar. Er spürte nicht, dass seine neue © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Stellung Gräben schaffte. Deshalb war er auch vom Ausbruch des offenen Konflikts überrascht. Die Umstrukturierung und seine Beförderung waren der Nährboden für das kommende Mobbing. Deshalb stellte diese Zeit trotz eines fehlenden offenen Konflikts die Null-Kondition dar. Erste Phase: Zielgerichteter Konflikt In dieser ersten Phase des Mobbings werden nun alle Probleme, die zufällig auftreten, einer Zielperson oder Zielgruppe zugeschrieben. Im Gegensatz zur Null-Kondition erkennen wir hier eindeutig, dass wir keine »Jeder-gegen-jeden«-Situation mehr haben, sondern dass zielgerichtet immer das gleiche Opfer adressiert wird. In der NullKondition treten Konflikte auf, wo einmal eine Person, später eine andere Person das Nachsehen hat (so wie es bei einer Konfliktlage ohne Verfolgungsabsicht zu beobachten ist). In dieser ersten Phase jedoch erkennt auch der Laie (oder eventuelle Zeugen oder Mitarbeiter), dass es immer die gleiche(n) Person(en) ist (sind), die die negativen Konsequenzen der Konflikte auf sich nehmen muss (müssen). Wir können bereits zu diesem Zeitpunkt feststellen, dass sich ein Sündenbock herauskristallisiert hat. Dieser muss immer die Verantwortung tragen, egal ob schuldig oder nicht. Egal ob der Lieferant mit Verspätung liefert, ob die Produktion stockt oder der Kunde sich beschwert, Schuld hat immer das Opfer. Bei Klaus können wir diese erste Phase daran erkennen, dass er von seinen unterstellten Mitarbeitern immer häufiger hintergangen wurde. Selbst seine Sekretärin stand ihm immer seltener zur Verfügung. Deshalb sah er sich gezwungen, Zuarbeiten immer öfter selbst zu erledigen – mit der logischen Konsequenz, immer länger im Büro sein und unbezahlte Überstunden in Kauf nehmen zu müssen. Zweite Phase: Beginn des Mobbings In der zweiten Phase wird der Konflikt absichtlich gesucht und konstruiert. Während dieser in der ersten Phase eher zufällig entsteht und dem Opfer dann in die Schuhe geschoben wird, wird der Konflikt in der zweiten Phase konkret geplant und realisiert. Das sieht in der Praxis so aus, dass jetzt die Ware absichtlich nicht bestellt wird, sodass der Lieferant zu spät liefert, um es dann dem Opfer anhängen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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zu können. Oder man manipuliert den Produktionsprozess, sodass dieser ins Stocken gerät, bzw. das Endprodukt, damit sich der Kunde beschwert und man dem Opfer dadurch eines auswischen kann. Während in der ersten Phase etwas zufällig geschehen muss, damit man das Opfer belasten kann, wird es in der zweiten Phase gezielt systematisch bekämpft. Im Fall von Klaus beginnt die zweite Phase ab dem Zeitpunkt, in welchem diese Kriterien greifen: Seine Arbeitsleistung, die zwangsläufig nach der ersten Phase abnehmen musste, da er ja immer mehr Arbeiten seiner nachgeordneten Mitarbeiter übernehmen musste, fällt allen auf, sowohl Kollegen als auch Vorgesetzten. Seine Nachfragen bleiben unbeantwortet. In solch einer Lage ist es für denjenigen, der diesen Fall zu analysieren hat, durchaus naheliegend anzunehmen, dass die erste Phase nur dazu diente, um die zweite Phase zu erreichen. Mit anderen Worten: Klaus wurde seiner Mitarbeiter beraubt, um ihn dazu zu zwingen, immer weniger Zeit in seine eigentlichen Tätigkeiten investieren zu können. Dadurch entstand die zweite Phase im vorliegenden Fall nicht zufällig, sondern war geplant und konsequente Folge. Man wollte mit der ersten Phase seine Arbeitsleistung absenken, damit man ihn in der zweiten Phase gnadenlos kritisieren konnte. Dritte Phase: Erste psychosomatische Symptome Bei plötzlichen negativen Veränderungen am Arbeitsplatz, die mit den genannten Kategorien nach Leymann einhergehen, ist es nicht verwunderlich, wenn die Menschen, gegen die sich feindliche Handlungen richten, aus dem Gleichgewicht geraten. Ein plötzliches, permanentes und für das Opfer nicht nachvollziehbares Angreifen und Kritisieren von allen Seiten ohne Chance zur Gegenwehr und Rückhalt bei Kollegen und Vorgesetzten geht an niemandem spurlos vorbei. Das Opfer versteht diese neue Lage schlichtweg nicht, da es sich keiner Schuld bewusst ist. Es fühlt sich verfolgt und ungerecht behandelt. Dementsprechend kann es seine psychophysische Stabilität nicht mehr aufrechterhalten und spürt nun deutlich gesundheitliche Einbußen. Diese sind meistens in der Sphäre des Schlafes (Einschlaf- oder Durchschlafprobleme), des gastrointestinalen Bereichs (Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, Durchfall oder Verstopfung) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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oder der Laune (depressive, ängstliche, aggressive oder apathische Stimmungslage) zu finden. Charakteristisch für diese Phase sind kleinere Arbeitsausfälle aus gesundheitlichen Gründen, die oftmals nur wenige Tage andauern. Man sollte hier nicht nur über psychosomatische Auswirkungen auf das Opfer reden, sondern auch über die sozialen Folgen. Meistens spürt die Familie eine negative Wandlung des gemobbten Familienmitglieds. Während man anfangs noch versucht, dem Opfer zu helfen, tritt mit der Zeit eine Frustration und Unzufriedenheit ein, die sich durch eine gewisse Selbstverteidigung zum Erhalt der Integrität der Familie auszeichnen und bis zum Gegenangriff führen kann. Manchmal kommt es zur schrittweisen Isolierung des Opfers (damit es die Familie nicht gefährden kann) – bis hin zur Trennung und Scheidung. Dieses Phänomen bezeichnen wir dann als doppeltes Mobbing (»Doppio-Mobbing«), welches durch den beschriebenen Verlauf charakterisiert ist (zu Beginn Verständnis der Familie – Unmut, Interessensverlust und Vertrauensverlust – am Ende Abweisung/Zurückweisung des Opfers selbst).2 In unserem Fall erkennen wir die dritte Phase an den Schlaf- und Angststörungen, die Klaus seiner Aussage nach ab diesem Zeitpunkt plagen. Die Tatsache, dass er sich immer wieder für vereinzelte Tage in den Krankenstand begeben musste, ist typisch für das Erreichen dieser Phase. Vierte Phase: Fehler und Übertretungen seitens der Personalverwaltung Nach den ersten Krankenständen des Opfers in der dritten Phase sollte nun auch die Personalverwaltung oder die Unternehmensführung mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Oft ist es so, dass sich der Konflikt bis zum Erreichen der dritten Phasen innerhalb der vier Wände des Büros des Opfers abspielt. Kollegen aus anderen Abteilungen bekommen in den meisten Fällen von dem Konflikt bis dahin gar nichts mit. Erst durch die immer häufiger werdende Abwesenheit des Opfers aufgrund von Krankheit bemerkt das Umfeld, dass etwas nicht in Ordnung ist. Das Opfer hat vielleicht in zwanzig Arbeits2

Das Phänomen des doppelten Mobbings wird in den folgenden Texten näher beschrieben: Ege, 1997, S. 97, und Ege, 2002, S. 49, 92, 112.

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jahren nicht einen einzigen Tag gefehlt und plötzlich fehlt es immer öfter. Dies weckt erstmals das Interesse der Unternehmensführung. Dabei kommt es oft vor, dass der Weg des geringsten Widerstands gewählt wird und dem Opfer die alleinige Schuld gegeben wird, statt sich konkret mit dem Problem auseinanderzusetzen. Oftmals werden die Kollegen befragt und häufig entsteht das Bild, das Opfer sei »psychisch krank«, welches in der heutigen Zeit eine sehr schnell herbeigezogene Erklärung ist. Schon hat eine Stigmatisierung des Opfers stattgefunden, welche über den Konflikt zwischen Mobber und Mobbingopfer hinausgeht. Denn nun tritt auch nicht selten der Fall ein, dass die Personalverwaltung oder gar die Unternehmensleitung selbst aktiv gegen das Opfer vorgeht, zum Beispiel durch disziplinarische Maßnahmen wie Abmahnung, Versetzung oder Änderungskündigung. Im Fall von Klaus liegt die vierte Phase exakt dann vor, als er vom Vorstand mit der Anschuldigung einer angeblichen sexuellen Belästigung konfrontiert wird und in dessen Konsequenz er nun eine bis dato nicht existierende Stelle als »Key Manager« zugewiesen bekommt. Dies alles sind Taten, die nicht mehr auf einen einzelnen Mobber zurückzuführen sind (es sei denn, er ist Personal- oder Firmenchef), sondern nur von oben durchgeführt werden können. Klaus ist nicht nur in seinem Arbeitsumfeld unerwünscht, sondern jetzt auch offiziell durch die Unternehmensleitung zur Persona non grata abgestempelt worden. Eine derartige Anschuldigung macht natürlich eine Weiterbeschäftigung unter den bisherigen Bedingungen unmöglich, was die Unternehmensleitung zum Anlass nimmt, ihn aufs Abstellgleis zu stellen. Das Mobbing geht trotzdem unvermindert weiter, er ist dem Spott der anderen hilflos ausgeliefert, sein »Versagen« wurde durch die personelle Maßnahme quasi offiziell gemacht. Fünfte Phase: Verschlechterung des psychophysischen Gesundheitszustandes des Opfers Versetzen wir uns nochmals in die Lage des Opfers. Bis zum Beginn des Konflikts hat es ganz normal gearbeitet, ist gern zur Arbeit gekommen und hat viel investiert (die meisten Opfer waren bei Beginn des Konflikts bzw. davor auf der Karriereleiter auf dem Weg © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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nach oben), hat sich engagiert und sein Bestes gegeben. Plötzlich sind alle Anstrengungen, die es unternommen hat, umsonst gewesen. Jetzt wird es mit offiziellen Briefen so eingedeckt, dass nicht nur eine Enttäuschung oder Frustration bleibt: Seine Welt bricht regelrecht zusammen. Es sieht sich als Opfer eines Komplotts, einer Verschwörung. Es versteht die Welt nicht mehr. Dementsprechend leidet auch sein Gesundheitszustand. Infolgedessen kommt es zu immer längeren krankheitsbedingten Abwesenheiten, welche die fünfte Phase kennzeichnen. Dies kann über Wochen oder Monate gehen. Das Opfer ist nicht mehr arbeitsfähig, seine psychosomatischen Beschwerden werden zu chronischen Dauerzuständen. Die nun häufig auftretenden Konzentrationsstörungen sind Ursache für weitere Fehler am Arbeitsplatz, so dass das Opfer immer unsicherer wird und sich letzten Endes aus Furcht sowohl vor neuen feindseligen Handlungen als auch den Konsequenzen daraus nicht mehr an den Arbeitsplatz traut. Bei Klaus gestaltete diese Situation nicht viel anders als eben beschrieben. Die Häme, der Spott und das Gelächter waren unerträglich, aber die Gewissheit, »abserviert« zu werden, vollkommen unhaltbare Anschuldigungen über sich ergehen lassen zu müssen und letzten Endes in eine beruflich vollkommen unbefriedigende und absolut erniedrigende Position gedrängt geworden zu sein, waren ein gelebtes Trauma.3 Die Angst- und Depressionszustände nahmen eine chronische Form an und zwangen ihn zu langen Abwesenheiten am Arbeitsplatz. Sie dauerten monatelang an. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes sind charakteristisch für diese Phase. Sechste Phase: Verlust des Arbeitsplatzes Man kann seinen Arbeitsplatz auf vielerlei Art verlieren. In dieser Phase reden wir allerdings nicht von dem generellen Verlust des Arbeitsplatzes, sondern vom Verlust des Arbeitsplatzes als Folge 3

Dies ist nicht mit der Posttraumatischen Belastungsstörung zu verwechseln, wie dies oft fälschlicherweise geschieht, da beim Mobbing das Kriterium A der DSM-IV-Diagnostik nicht erfüllt ist (drohender Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen) (siehe dazu Sass, Wittchen u. Zaudig, 2003).

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der vorangehenden Phasen. Die Schließung einer Firma oder eine betriebsbedingte Kündigung aufgrund fehlender Arbeitsaufträge hat rein gar nichts mit dieser Phase zu tun. Diese Phase steht für das Ende einer Leidensgeschichte. Dies kann in verschiedener Weise erfolgen, etwa durch Eigenkündigung (das Opfer hält es nicht mehr aus), Arbeitgeberkündigung (durch Überschreitung der maximalen Krankheitstage aus der fünften Phase oder durch Disziplinarverfahren als Folge irgendeiner Anschuldigung), Vorruhestand, ständige Arbeitsunfähigkeit (psychophysische Einschränkungen als Folge des Mobbings) oder (in den dramatischsten Fällen) durch Selbstmord oder Mord. So kam bereits vor, dass ich nicht mehr das Mobbingopfer selbst, sondern nur noch sein Tagebuch zu Gesicht bekam, nachdem es sich selbst getötet hatte. In seinen Aufzeichnungen konnte der Verlauf des Gedankens bis hin zur Selbsttötung sehr gut nachvollzogen werden. Einmal wurde ich in das Gefängnis von Modena gerufen, in dem ein Mann saß, der seinen Vorgesetzten nach sechs Jahren Mobbing erschossen hatte, nachdem dieser ihm eröffnet hatte, dass er bei der nächsten Entlassungswelle ganz oben auf der Liste stehe. Im Fall von Klaus war eigentlich zu erwarten gewesen, dass die Anschuldigungen bezüglich der sexuellen Belästigung dazu dienen würden, ihm ein Disziplinarverfahren anzuhängen und ihm schließlich kündigen zu können. Doch schien dieser Schritt dazu zu dienen, Klaus noch weiter zu zermürben, auf dass er schließlich selbst kündigen möge, was am Ende auch von Erfolg gekrönt war. Während der fünften Phase wurde ihm bewusst, dass er sich und seiner Gesundheit, aber auch seiner Familie, diese Situation nicht länger antun konnte. So beschritt er den Weg der Eigenkündigung, da er schlichtweg nicht mehr in der Lage war, dem Druck noch weiter standzuhalten. Auch wenn er sich infolge dieses Schrittes endlich befreit fühlte, war er leider auch zum Zeitpunkt der Unterhaltung arbeitslos. Das vorgestellte Modell ist im Gegensatz zum Vier-Phasen-Modell des Strainings sehr flexibel. Das bedeutet, dass nicht alle, ich würde sogar sagen nur eine kleine Anzahl von Fällen, all diese Phasen durchlaufen. In der Praxis ist es meistens so, dass eine oder zwei Phasen übersprungen werden, dass der Konflikt erst in einer anderen Phase beginnt oder dass dieser früher endet. Wir haben Fälle, bei © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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denen die Null-Kondition fehlt, bei anderen dagegen beginnt das Mobbing direkt ab der zweiten Phase, bei einigen Opfern fehlt die dritte Phase, da diese offensichtlich keine psychosomatischen Probleme nach der zweiten Phase hatten, bei anderen steigerte sich die dritte Phase direkt in die fünfte Phase. Es gab Patienten, die nach der vierten Phase kündigten oder bereits in der dritten Phase über die Abfindung verhandelten. Jeder, der unter Mobbing leidet, befindet sich jedoch in einer dieser sechs Phasen. Wir können bei jeder Mobbingdiagnose sagen, welche Phase der Patient gerade durchlebt. Dies ist vor allem unter dem zivilrechtlichen Aspekt nicht unerheblich, da wir unsere Schadensbemessung bei einem Straining- oder Mobbinggutachten wie unter anderem auch auf Basis der erreichten Phase festsetzen. Dazu muss das Opfer mindestens die zweite Phase erreicht haben, um die Situation von täglich vorkommenden Konflikten zu unterscheiden und die Stigmatisierung verdeutlichen zu können. Siebter Parameter (Verfolgungsabsicht): Es muss sowohl ein strategisches als auch konfliktgerichtetes und subjektives Ziel vorhanden sein Vor Einführung dieses Parameters in der Methode Ege (2002) galten auch jene Fälle als Mobbing, denen keine Verfolgungsabsicht zugrunde lag. Zur Verdeutlichung dient folgendes Beispiel: Ein Mitarbeiter arbeitet in einem Büro, welches er sich mit einem Kollegen mit schlechten Manieren teilen muss. Dieser benutzt gern Schimpfwörter, Flüche, ja sogar vulgäre Ausdrücke – und das mit einer aufbrausenden lauten Stimme. Denkbar wäre auch, dass dieser Mitarbeiter seine Kollegen nie aussprechen lässt und ständig das Wort an sich reißt. Mit den bis hierher genannten Parametern ließe sich Mobbing unterstellen. Es lassen sich Aktionen aus verschiedenen Kategorien beobachten (Angriffe auf menschliche Kontakte, Angriffe auf das Ansehen, vielleicht auch Isolierung), das belastende Verhalten kann sich über lange Zeiträume erstrecken, die Handlungen finden täglich statt, Schauplatz ist der Arbeitsplatz, das Opfer hat nicht die Möglichkeit (Stimmenvolumen), sich wirksam zu verteidigen, und berichtet bereits von ersten psychosomatischen Problemen. Also sind die ersten sechs Parameter erfüllt. Ebenso verhält es sich mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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einem autoritären Vorgesetzten. Dieser lässt vielleicht ebenfalls die Mitarbeiter nicht ausreden, kritisiert sie bei jeder Gelegenheit, behandelt andere mit herablassendem Ton, und dies über Jahre hinweg, sodass auch die Mitarbeiter psychosomatische Störungen erleiden (schlaflose Nächte, Zittern und Appetitlosigkeit schon am Morgen vor Angst, was heute geschehen wird); die Mitarbeiter haben nicht die Möglichkeit, dem Vorgesetzten auch nur ansatzweise ihre Anliegen vorzubringen. Auch hier lassen sich wieder die bisherigen sechs Parameter feststellen und auch hier fehlt wieder der siebte Parameter. Viele Menschen verhalten sich nicht immer korrekt, auch am Arbeitsplatz. Die allermeisten tun dies nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil sie es nicht anders gewohnt sind. Der gefürchtete Vorgesetzte wurde vielleicht zum Beispiel von seinen Eltern auf autoritäre Weise erzogen. Er hat es nicht anders gelernt. So wie seine Mitarbeiter dies am Arbeitsplatz zu spüren bekommen, so bekommen es seine Familie, seine Nachbarn, seine Freunde, der Autohändler usw. zu spüren. Aber: Er diskriminiert niemanden, alle, die mit ihm zu tun haben, sind davon betroffen. Er behandelt alle gleich (autoritär), weil es seinem generellen Verhalten entspricht. Er zielt mit seinem Verhalten nicht auf ein bestimmtes Opfer. Das Gleiche geschieht im Fall des Kollegen mit den schlechten Manieren. Dieser benutzt vulgäre Ausdrücke nicht gegen eine bestimmte Person, sondern gegen jeden, der ihm begegnet. Er behandelt seine Kollegen genauso wie seine Frau, seine Kinder, die Nachbarn, den Bankangestellten, den Bäcker usw. Es ist verwerflich, andere würdelos zu behandeln, aber es handelt sich nicht um Diskriminierung. Dieser Kollege plant seine Aktionen nicht, er will niemandem damit schaden oder sich für etwas rächen. Wie beim Straining steckt auch hinter jeder Mobbinghandlung eine Motivation. Man mobbt (oder straint) und verfolgt damit ein bestimmtes Ziel. Man hat einen Grund dazu, man will damit etwas erreichen. Niemand mobbt einfach aus der Laune heraus, auch wenn launenhaftes Verhalten gegenüber Kollegen durchaus denkbar ist. Mit den zuvor genannten sechs Parametern (vor allem bezüglich der Dauer) lässt sich ein solches Verhalten als Mobbingverhalten ausklammern. Es findet sich immer eine Strategie und eine Verfolgungsabsicht hinter Mobbingverhalten, auch wenn die Erfahrung zeigt, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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dass viele Täter im Nachhinein überrascht, wenn nicht gar geschockt sind über das Ausmaß des von ihnen angerichteten Schadens. Mobben ja, um ein Ziel damit zu verfolgen, aber dass das Opfer dabei oft seine Gesundheit ruiniert, ist den wenigsten Mobbern bewusst (zumindest nicht während des Mobbings selbst). Wie eingangs bereits erwähnt, bedeutet Verfolgungsabsicht beim Mobbing, dass sowohl ein strategisches als auch ein konfliktgerichtetes und ein subjektives Ziel ersichtlich sind. Unter einem strategischen Ziel versteht man in der Regel genau das Gleiche wie beim Straining. Es handelt sich um das Ziel, welches auf langfristige Weise erreicht werden soll. Ein Klassiker unter den strategischen (Mobbing-)Zielen ist die Entfernung des Opfers vom Arbeitsplatz, welches auf die schon genannten Weisen erfolgen kann (Kündigung, Entlassung, Vorruhestand, Erwerbsminderungsrente usw.). Der Mobber begeht all seine feindseligen Handlungen nur zu einem Zweck, und zwar um das strategische Ziel zu erreichen. Er behandelt andere Mitarbeiter anders als das Opfer, da er ja an dieser Stelle etwas erreichen will. Er differenziert also seine Handlungsweise. Mit dem strategischen Ziel ist die Absicht verbunden, das Mobbing zu beginnen und auch weiterzuführen. Im Falle von Klaus war es anfangs schleierhaft, was wohl der strategische Grund für das Mobbing gewesen sein könnte. Zuerst wurde er befördert, um dann so lange gemobbt zu werden, bis er diese Stelle wieder verlor. In solchen Fällen wie dem von Klaus ist es ratsam, nachzuprüfen, wer von der vierten Phase am meisten profitiert. Mit dieser Überlegung lässt sich der siebte Parameter am leichtesten fassen. Wenn in Betrachtung gezogen wird, dass die Stelle des Abteilungsleiters (also die Stelle, aus der Klaus herausgemobbt wurde) nicht auf dem Stellenmarkt ausgeschrieben und auch nicht zu internen Bewerbungen aufgerufen wurde, sondern dass sie direkt einer bisher im Unternehmen nicht aufgetretenen Dame zugesagt wurde, welche sich nicht einmal beworben hatte, so muss hier einfach festgestellt werden, dass ihr der Posten regelrecht zugeschanzt wurde. Zudem wurde ja nicht einmal der Schein einer Ausschreibung der Stelle gewahrt, was die gesamte Sache noch suspekter macht. Genau das war letzten Endes das strategische Ziel: Man musste Platz schaffen für die Frau eines Vorstandsmitglieds. Warum aber Klaus? Ganz einfach: Klaus hatte keine »Beziehungen« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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zu höheren Hierarchiestufen und er war derjenige Abteilungsleiter, der diese Stelle am kürzesten innehatte. Die massive Kritik an ihm, das Entziehen von Mitarbeitern und Arbeitsaufgaben hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. So entschied man sich offensichtlich, ihn durch die Anklage der sexuellen Belästigung von der Stelle als Abteilungsleiter zu entfernen, um diese dann besagter Dame geben zu können. Während das strategische Ziel das langfristig zu erreichende Ziel darstellt, ist das konfliktgerichtete Ziel in der Regel das kurzfristige. Was kann man mit welcher feindseligen Handlung kurzfristig erreichen? Nun, beispielsweise eine Provokation, und die entsprechenden Reaktionen stellen bereits ein kurzfristiges Ziel dar. Der Mobber möchte, dass sich das Opfer jetzt gleich seine Konzentration und Contenance verliert. Denkbar wäre etwa eine Provokation mit Schimpfwörtern oder falschen Aussagen über das Opfer. Im konfliktgerichteten Ziel ist das hic et nunc, das Hier und Jetzt, wichtig, weil man in diesem Augenblick einen sichtbaren Erfolg verbuchen möchte. Im Fall von Klaus besteht das kurzfristige Ziel in der sozialen Isolation (ausweichende oder fehlende Antworten) und in der Kritik, später auch im Spott und Gelächter. Klaus wird dadurch provoziert, er soll in diesem Moment spüren, dass er vollkommen auf sich allein gestellt ist und vor allem, dass niemand (nicht einmal seine nachgeordneten Mitarbeiter) vor ihm Respekt hat. Er soll in diesem Moment zur Verzweiflung gebracht werden (um dann später das strategische Ziel zu erreichen). Man spielt mit ihm Katz und Maus, um ihn zu irritieren, zu isolieren und zu desorientieren. So verliert Klaus immer mehr an Kraft und Konzentration und letzten Endes auch seine Lust an der Arbeit. Das subjektive Ziel dagegen geht Hand in Hand mit dem konfliktgerichteten Ziel. Ohne eine diese Komponente des Mobbings gäbe es wohl auch keine psychosomatischen Folgen bei den Opfern. Dies wird daran deutlich, dass eine objektive (d. h. konstruktive) Kritik im Normalfall keine Emotionen auslöst, eine subjektive (d. h. emotionale) Kritik hingegen schon. Wenn beispielsweise ein Arbeiter statt fünfzig Stück eines Produkts nur zwanzig herstellt, dann hätte eine sachliche Feststellung keine emotionalen Auswirkungen. Man würde etwa sagen: »du hast heute dreißig Stück zu wenig produziert« oder © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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»heute hast du nur zwanzig Stück produziert«, und jeder könnte die produzierten Stücke nachzählen – das wäre objektiv. Wenn man nun aber subjektive Kritik verwenden würde wie »du bist ein Faulpelz« oder Ähnliches, dann wird nicht die Tagesleistung des Arbeiters kritisiert, sondern der Arbeiter selbst. Er ist »faul« und das bedeutet, dass alles, was er bis jetzt produziert hat, plötzlich nichts mehr wert ist. Die Person wird auf diese Weise erniedrigt. Und genau dies geschieht beim Mobbing. Das Gefühl der Wertlosigkeit erfasst viele Mobbingopfer, gerade durch das subjektive Ziel der Schaffung von Emotionen und der psychosomatischen Konsequenzen. Im Falle von Klaus war dies nicht anders. Er fühlte sich wertlos durch das Fehlen (ohne objektiven Grund) der Mitarbeit der Nachgeordneten, der Sekretärin und des Schweigens der Vorgesetzten. Die sich immer mehr abzeichnenden Kritik an ihm, die vor allem auf veränderten organisatorischen Voraussetzungen beruhte (weniger Zeit für seine Arbeit durch mehr Zuarbeit, die er selbst zu erledigen hatte), sind subjektiv, da ihm objektiv nicht die Zeit gegeben wurde, sich um seine eigentliche Arbeit zu kümmern. Hervorstechendes Beispiel der subjektiven Anschuldigungen ist die Anklage wegen sexueller Belästigung – ohne Beweise, Zeugen oder Anhörungen. Dem strategischen Ziel kam man mit diesem Schritt um einiges näher. Um den siebten Parameter zu erfüllen, müssen alle drei Ziele vorliegen. Das subjektive und das konfliktgerichtete Ziel sind relativ klar aufzuzeigen, während sich das strategische Ziel häufig erst im Nachhinein herauskristallisiert.4 Kein Mobber wird jemals zugeben, dass er gemobbt hat, und erst recht nicht, aus welchem Grund er dies tat. Dementsprechend widmen wir uns der tatsächlichen oder der vermutlichen vierten Phase der Frage, wer bei Ausscheiden des Opfers der Nutznießer ist. So lässt sich das strategische Ziel häufig aufdecken. 4 In vereinzelten Fällen ist dieses Ziel jedoch schon vor der ersten Phase erkennbar, wenn sich beispielsweise das spätere Opfer in irgendeiner Art mit seinen Vorgesetzten oder gar der Geschäftsleitung angelegt hat, etwa durch ein Klageverfahren oder eine für das Unternehmen unangenehme Enthüllung.

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2.3 Ausnahmen zur Sieben-Parameter-Methode »Stein im Wasser« Als ich Sonja, eine attraktive, intelligente Frau Anfang fünfzig, das erste Mal traf, hatte ich einen Menschen vor mir, der von der Gemütsverfassung her eher zwanzig Jahre älter erschien. Sonja arbeitete für ein Unternehmen des Öffentlichen Dienstes und hatte die Zuliefererverwaltung in ihrer Verantwortung. Soweit lief eigentlich alles gut, sie hatte keine großen Karriereziele mehr im Sinn und die Familienplanung war aus biologischen Gründen ebenfalls abgeschlossen. Das Einzige, was sich in ihrem Leben schon bald ändern würde, war die zu erwartende Geburt eines Enkels, auf welchen sie sich innig freute. Da sie mit Zulieferern zu tun hatte, geschah es häufig, dass diese sich wegen bürokratischen Fragen an sie wandten. So kam es vor, dass einige Zulieferer sie zwischenzeitlich gut kannten und auch persönliche Themen zur Sprache kamen. Eines Tages geschah es, dass sie sich wohl sehr intensiv mit einem Zulieferer über politische Themen unterhielt. Der Zulieferer, der anscheinend andere Ansichten als Sonja hatte, schwärzte sie bei ihrem Behördenleiter an. Da der Arbeitgeber von Sonja dem Öffentlichen Dienst angehörte und der wiederum von gewählten politischen Ämtern abhing, die im Übrigen aktuell nicht der Partei angehörten, mit der Sonja sympathisierte, kam diese Information überhaupt nicht gelegen. Sonja wurde zwei Tage nach dem politischen Meinungsaustausch mit dem Zulieferer zu ihrem Vorgesetzten gerufen, der sie zur Rede stellte. Sonja verweigerte die Aussage, nicht nur weil sie wusste, dass ihr Vorgesetzter ihre politische Gesinnung nicht teilte, sondern auch, weil sie der Ansicht war, dass ihre persönlichen Ansichten und Meinungen nicht Gegenstand von Diskussionen mit dem Vorgesetzten sein sollten. Dieser, gestärkt durch die Verweigerung der Aussage, wertete Sonja als politische Gegnerin (obwohl sie ja kein politisches Amt innehatte sondern Angestellte war) und in Absprache mit dem Behördenleiter versetzte dieser Sonja kurzerhand an einen Schalter für Bürgerfragen. Nicht nur, dass diese Arbeit sehr viel Stress mit sich bringt, sie wurde zudem praktisch ihrer gesamten beruflichen Kompetenzen beraubt, die sie sich in vielen Jahren angeeignet hatte. Diese waren am Schalter nicht mehr gefragt. Damit nicht genug: Ihre früheren Kollegen hänselten sie, da sie die Einzige mit dieser Berufserfahrung am

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Schalter war, während eine andere Angestellte am Nebenschalter erst vor wenigen Monaten eingestellt worden war. Sie wurde zum Gespött der Mitarbeiter. Kollegen stellten sich manchmal in die Reihe vor ihrem Schalter, nur um mit ihr ihre Späße zu treiben. Oft fand sich Sonja in Tränen aufgelöst. Wenn sie sich an andere wenden wollte, wurde ihr schon von weitem mit abwertenden Gesten und Kopfschütteln klar gemacht, dass niemand mit ihr sprechen will. Nachts litt sie unter immer schlimmeren Schlafproblemen und ihr Angstzustand wich immer mehr einem »Sich-terrorisiert-Fühlen«. Nachdem ihr Gesuch, wieder zurück in ihr Büro versetzt zu werden, ohne Begründung abgelehnt wurde, suchte Sonja einen Psychiater auf, der ihr einen depressiven Angstzustand bescheinigte und ihr dementsprechend eine Therapie mit Psychopharmaka verordnete. Sonja trat nun in einen mehrmonatigen Krankenstand ein. Am Ende dieses Krankenstandes wurde sie wieder an den Schalter gesetzt. Erst nach einem Schreiben ihres Anwalts kam sie wieder in ihr altes Büro zurück.

Im Augenblick der Bewertung zeigten sich bei Sonja nach wie vor starke depressive Neigungen und vereinzelte Angsterscheinungen, wenn sie über ihr Erlebtes sprach. Sie fühlte sich innerlich leer, ihr gesamtes Privatleben litt, da sie keine Hobbys oder soziale Aktivitäten mehr verfolgte. Sonja war (immer noch) ein gebrochener Mensch. Sonja hat während des Konflikts verschiedene feindselige Handlungen über sich ergehen lassen müssen. Diese sind: ȤȤ Arbeitsaufgaben, die weit unter ihrem Können liegen (Änderung der Arbeitsaufgaben); ȤȤ demütigende Arbeitsaufgaben (Änderung der Arbeitsaufgaben); ȤȤ abwertende Blicke oder Gesten mit negativem Inhalt (Angriffe auf die menschlichen Kontakte); ȤȤ man will nicht von ihr angesprochen werden (systematische Isolierung); ȤȤ man macht sie vor anderen lächerlich (Angriffe auf das Ansehen); ȤȤ man greift ihre politische Einstellung an (Angriffe auf das Ansehen). Einige dieser Handlungen wurden direkt von der Leitung verübt (Versetzung und entsprechende neue Arbeitsaufgaben), andere dagegen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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von den Kollegen (abwertende Blicke oder Gesten, man will nicht von ihr angesprochen werden, man macht sie vor anderen lächerlich) oder von Vorgesetzten (man greift ihre politische Einstellung an). Wenn wir den Fall näher analysieren, werden wir feststellen, dass das Mobbing seitens des Arbeitgebers entstanden ist (dies wird auch Bossing genannt, engl. the boss = der Chef). Sonja wurde aufgrund ihrer politischen Meinung, die nicht der der Behörde entsprach, als »unbequem« eingestuft. Der Arbeitgeber des Öffentlichen Dienstes hatte ihr gegenüber nur eine Versetzung und das Zuordnen von neuen Arbeitsaufgaben angeordnet – also lediglich zwei Handlungen, die natürlich keine dem Mobbing zuzuordnende Frequenz beinhalten. Die Handlungen der Kollegen erfolgten dagegen bei weitem häufiger und regelmäßiger. Diese Aktionen sind allerdings nur eine Art »Beilage« zur eigentlichen Strategie des Arbeitgebers. Die Kollegen haben keine Verfolgungsabsicht, so wie der Arbeitgeber in diesem Fall. Die Frage muss deshalb lauten: Warum haben die Kollegen Sonja so übel mitgespielt? Hat sie sich so stark verändert? Ist sie von heute auf morgen plötzlich unbeliebt? Im Sinne des siebten Parameters (Verfolgungsabsicht) muss gesagt werden, dass der Mobber von Sonja wohl ganz eindeutig der Arbeitgeber war (in seinen Augen war sie ja schließlich in Ungnade gefallen und musste daher von ihrer Stelle entfernt werden). Die aktiven Handlungen des Mobbers erfüllen jedoch nicht die erforderliche Frequenz. Sollte Sonja also die ganze Zeit gelitten haben wie ein Mobbingopfer, ohne eines zu sein? Bei der Analyse des Falles lassen sich einige Kennzeichen von Mobbing erkennen. Sonja ist tatsächlich Opfer von Mobbing, jedoch nicht im klassischen Sinne. Sonjas Fall stellt eine von zwei Ausnahmen beim Mobbing dar, nämlich die Version des »Steins im Wasser«. Mit dieser Ausnahme lässt sich ein Mobbinggeschehen auch bei Fehlen des zweiten Parameters unter bestimmten Umständen erklären. In meinem Buch »La valutazione peritale del danno da Mobbing« (2002) habe ich definiert, dass »die Ausnahme, die auf eine Situation zurückzuführen ist, die man als ›Stein im Wasser‹ bezeichnet, zutrifft, wenn folgende Punkte erfüllt sind: 1. wenn eine einzelne tragende feindselige Handlung vorhanden ist, deren Folgen für die Person täglich und ›intern‹ [also am © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Arbeitsplatz] auch nach dem eigentlichen Abschluss der Handlung zum Tragen kommen; 2. wenn die ursprüngliche Handlung von mindestens zwei weiteren feindseligen Handlungen einer anderen Kategorie als die der ursprünglichen Handlung begleitet oder/und gefolgt wird; 3. die begleitenden Handlungen – wie dies in der Regel vorkommt – von anderen Aggressoren verübt werden (typischerweise von den Kollegen); 4. diese begleitenden Handlungen eine Häufigkeit von wenigstens mehrmals monatlich haben.« Die sogenannte tragende Handlung war natürlich in Sonjas Fall die Versetzung an den Schalter, die nicht nur eine Isolierung mit sich brachte, sondern auch eine dauernde Stresssituation und eine berufliche Degradierung. Diese Handlung wurde von der Führungsetage bzw. den Vorgesetzten durchgeführt (Kategorie: Änderung der Arbeitsaufgaben), welche langfristige Konsequenzen für Sonja hatte. Bis hierher scheint es sich bei diesem Fall um eine typische Strainingsituation zu handeln. Aber wie bei einem Stein, der ins Wasser geworfen wird, bleibt auch oft am Arbeitsplatz selten eine Handlung ohne Folgen seitens der anderen Anwesenden. Im Falle von Sonja sind diese Wellen, also Konsequenzen, die sich wie das Wasser vom Stein wegbewegen, die begleitenden Sticheleien und Hänseleien der Kollegen, die anderen Kategorien angehören (wie: Angriffe auf die menschlichen Kontakte, systematische Isolierung und Angriffe auf das Ansehen). Aufgrund dieser Feststellungen kann die Lage von Sonja als Mobbing definiert werden und zum Zwecke einer Bewertung werden die Parameter für die Ausnahme des »Steins im Wasser« herangezogen, das heißt eine permanente Folge mindestens einer feindseligen Handlung (wie beim Straining) ab dem Moment, wo diese von weiteren negativen Handlungen einer anderen Kategorie begleitet werden (Ege, 2002, S. 77 ff.). Quick Mobbing Wolfgang wurde schon in der Schule oft isoliert, weil er in den Augen seiner Mitschüler ein »Streber« war. Das ließ ihn jedoch immer kalt, da

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er schon seit jeher ergebnisorientiert war. Für ihn zählte nur der Erfolg; was die anderen über ihn dachten, war ihm egal. Das ging so weit, dass er sogar stolz auf die Hänseleien der Mitschüler war, die seiner Ansicht nach nur neidisch auf ihn waren, denn: »Neid muss man sich erarbeiten, Mitleid bekommt man gratis«. Der Erfolg in Form von guten Schulnoten gab ihm Recht, sodass er der ganze Stolz seiner Eltern war. Als er nach dem Abitur Politikwissenschaft auf einer renommierten mitteldeutschen Universität studierte, fiel ihm das Lernen weiterhin leicht, weil ihm der Erfolg, der daraus resultierte, gefiel. Wenn andere Studenten am Abend ausgingen oder Feste feierten, war er allein in seinem Zimmer im Studentenwohnheim und lernte. Er hatte zwar keinen übermäßigen Wissensdurst und außerhalb der zu studierenden Materien kaum Interessen, aber das, was er zu lernen hatte, beherrschte er. Mit sehr gutem Universitätsabschluss bewarb er sich bei einem Dienstleistungsbetrieb und wurde aufgrund seines Notendurchschnittes anderen Bewerbern vorgezogen. Ihm wurde bereits nach kurzer Beschäftigungszeit Verantwortung in der Verwaltungsabteilung übertragen, da er sehr präzise, genau und schnell arbeitete. Dass er Daten rasch auswendig lernte, hatte sich dabei als großer Vorteil erwiesen. Sein rascher Aufstieg zog jedoch den Neid der schon länger beschäftigten Kollegen nach sich, die sich durch Wolfgang in ihrer eigenen Karriere bedroht fühlten, denn je besser und schneller Wolfgang seine Arbeit schaffte, desto langsamer schienen seine Kollegen zu arbeiten. Als der Betriebsleiter, der die Arbeit von Wolfgang schätzte, ein Verhältnis mit einer Kollegin von Wolfgang hatte, gelang es dieser, den Betriebsleiter für ihre Sache einzunehmen. So wurde Wolfgang von einem Tag auf den anderen von der Verwaltungsabteilung in die Produktionsabteilung versetzt. Sein Arbeitsfeld betraf nun die Organisation, Vorbereitung, bürokratischen Zuarbeiten und Abfertigung der Außendienstmitarbeiter – also Arbeiten des Außendienstes, mit denen er nicht vertraut war, da seine bisherigen Tätigkeiten vor allem die innerbetriebliche Organisation des Unternehmens betroffen hatten. Die Kollegin hatte außerdem in der Abteilung bereits Stimmung gegen ihn gemacht und behauptet, dass Wolfgang jemand sei, der seine Kollegen schlecht mache und beim Vorgesetzten anschwärze. Die Außendienstmitarbeiter hatten unter sich ein sehr gutes kollegiales Verhältnis und verschworen sich zu einer Gemeinschaft gegen Wolfgang. Bei jeder Gelegenheit wurde

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ihm zum einen »Laufburschentätigkeiten« zugeteilt: »Ich habe etwas vergessen, hol es mir bitte«, »Mach mir mal die Tür auf, ich habe beide Hände voll«, »Fotokopiere das doch mal«, »Mach mir doch mal einen Kaffee«. Zum anderen musste er sich bei jeder Tätigkeit Kritik anhören: »Geht das nicht schneller?«, »Hast du keine Manieren?«, »Wo hast du das abgelegt? Bei dem Chaos bei dir kein Wunder dass man nichts findet«, »Was heißt hier ich? Du musst das machen!« »Wofür bekommst du eigentlich dein Geld?«Schließlich wurde er nicht nur mit ihn herabsetzenden, vulgären Ausdrücken zum Trottel abgestempelt, sondern sogar dem offenen Verdacht der Homosexualität ausgesetzt. Die täglichen Angriffe belasteten Wolfgang schwer. Als er sich nach seiner Versetzung von der Verwaltung in die Produktion bei mir in der Praxis einfand, um mir unter Tränen seine Geschichte zu erzählen, litt er unter Schlafstörungen, die große Angst und Übermüdung zur Folge hatten. Er war bereits entschlossen, zu kündigen, was er dann nur vier Monate nach seiner Versetzung auch tat.

Da im dritten Parameter von einer Mindestdauer von sechs Monaten die Rede ist, scheint Wolfgangs Kündigung nach nur vier Monaten einerseits darauf hinzudeuten, dass hier eventuell ein anderer Konflikt als Mobbing vorzuherrschen scheint. Andererseits weist gerade diese frühzeitige Kündigung auf eine extrem starke Verbitterung und eine intensive Konfliktsituation hin. In den seiner Kündigung vorausgehenden vier Monaten hat Wolfgang feindselige Handlungen von mindestens drei Kategorien erdulden müssen: (1) ständige Kritik an seiner Arbeit (siehe Kategorie »Angriffe auf die menschlichen Kontakte«), (2) Arbeitsaufgaben, die weit unter seinem Können liegen und demütigend sind (siehe Kategorie »Änderung der Arbeitsaufgaben«), (3) die Verbreitung falscher Gerüchte über ihn, eine kränkende und falsche Beurteilung seiner Arbeit, obszöne Schimpfwörter und andere entwürdigende Ausdrücke (siehe Kategorie »Angriffe auf das Ansehen«). Es lässt sich bei Wolfgang somit ein außergewöhnlich intensiver Konflikt, den eine starke Frequenz und ein starker Schädigungswillen charakterisieren, feststellen. Wir können zudem sagen, dass praktisch alle feindseligen Handlungen mit täglicher Wiederholung vorkommen. Seinen Anfang nahm der Konflikt, als Kollegen aufgrund von Neid oder aus der Angst heraus, gegenüber Wolfgang schlecht dazu© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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stehen, sich wünschten, dass er aus ihrer Verwaltungsabteilung in eine andere Abteilung versetzt würde. Das wurde durch das Verhältnis einer Kollegin mit dem Betriebsleiter möglich. Da diese Versetzung der Kollegin zur Lösung der Situation noch nicht auszureichen schien, hatte sie rechtzeitig in der neuen Abteilung für schlechte Stimmung gegen Wolfgang gesorgt. Die ungewöhnlich starke Intensität und Auswahl an feindseligen Handlungen, die aus mindestens drei Kategorien stammen und mit einer Frequenz von »täglich« geschehen, sind die Voraussetzung dafür, dass wir hier vom sogenannten »Quick Mobbing« sprechen können (siehe Ege, 2002, S. 56). Es handelt sich um einen spezifischen Fall von Mobbing, bei dem es scheint, dass die vorangehenden Entwicklungsstufen übergangen werden und der Konflikt in seiner ganzen Gewalt plötzlich regelrecht zu explodieren scheint. Wir finden in solch einem Konflikt eine derartige Intensität und Verfolgungskraft vor, dass man Mobbing attestieren kann, obwohl die geforderte Mindestdauer von sechs Monaten noch nicht erreicht wurde. Quick Mobbing wird in einem Zeitraum zwischen drei und sechs Monaten angesiedelt. In dieser kurzen Zeit muss die Intensität und Verfolgungskraft des Konflikts mit feindseligen Handlungen aus mindestens drei Kategorien (das heißt mit einer Vielzahl an aktiven negativen Aktionen sowohl unter qualitativem als auch unter quantitativem Aspekt) und mit einer täglichen Frequenz verbunden sein, um die Situation als Quick Mobbing zu definieren. Weil der Konflikt von Wolfgang all diese Zuschreibungen aufweist, kann man Wolfgang als Opfer des Mobbings bezeichnen.

2.4 Schadensprofil von Mobbing und Straining Was ist überhaupt ein Schaden? Ein Schaden »ist jeder materielle oder immaterielle Nachteil, den eine Person oder Sache durch ein Ereignis erleidet. Die Begriffe Schädigung und Beschädigung stehen dabei sowohl für das Zufügen beziehungsweise Erleiden eines Schadens wie auch synonym für den Schaden selbst« (Wahrig digital – Deutsches Wörterbuch, 2005). Der Mobbing- oder Strainingexperte bzw. der Gutachter hat mit der Konfliktbestimmung einen wichtigen Teil der Arbeit vollbracht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Er entscheidet daher in meiner Methode zunächst anhand der sieben Parameter, um welche Konfliktart es sich handelt. Dies ist der erste, wichtige von drei Schritten, aus denen meine Methode zusammengesetzt ist. Die Aufgabe des Gutachters ist nicht nur, zu verstehen und zu analysieren, ob es sich um einen Konflikt handelt und wenn ja, um was für einen (also den Kläger als Opfer oder Simulanten zu erkennen), sondern auch den aus einem Konflikt resultierenden Schaden festzustellen. Ein zu ersetzender Schaden (und eine damit verbundene Schadensersatzklage) ist ein sehr komplexes Thema, besonders, wenn der Kläger Opfer von Mobbing und Straining geworden ist. Es existieren je nach Beurteilung und Entstehung verschiedene Schäden. Es ist daher unumgänglich, einen kurzen Abriss der verschiedenen Schadensarten in der deutschen Jurisdiktion aufzuzeigen. Grundsätzlich ist zunächst einmal zwischen materiellem Vermögensschaden und immateriellem Schaden zu unterscheiden: »Ein Vermögensschaden liegt vor, wenn der tatsächliche Wert des (in Geld messbaren) Vermögens des Geschädigten geringer ist als vor dem schädigenden Ereignis. Dazu zählt [sic] auch entgangener Gewinn, Nutzungsausfall und Verdienstausfall« (valuenet, 2000a). »Ein immaterieller Schaden ist dagegen ein Schaden, der nicht Vermögensschaden ist. Einen Schadensersatz für immaterielle Schäden wird laut § 253 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nur in im Gesetz ausdrücklich genannten Ausnahmefällen gewährt. Entsprechende Ansprüche bestehen: ȤȤ bei Verletzung des Körpers, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung (Schmerzensgeld), § 253 Absatz 2 BGB ȤȤ bei Verletzung Verbots der geschlechtsspezifischen Benachteiligung durch Arbeitgeber, § 611a Absatz 2 BGB ȤȤ bei Pauschalreisen für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit, § 651f Absatz 2 BGB ȤȤ bei schuldhafter Urheberrechtsverletzung, § 97 Absatz 2 UrhG ȤȤ bei Kürzung der Verpflegung für die Schiffsbesatzung, § 40 Absatz 3 SeemannsG ȤȤ für unberechtigte Inhaftierung, § 7 Absatz 3 StrEG5

5 Sämtliche deutsche Bundesgesetze sind nachzulesen unter gesetze (2014).

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Daneben gewährt der Bundesgerichtshof (BGH) in ständiger Rechtsprechung immateriellen Schadensersatz (Schmerzensgeld) auch bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, wenn es sich um einen besonders schwerwiegenden Eingriff handelt und die Beeinträchtigung des Verletzten nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann« (valuenet, 2000b). Dass zwischen einzelnen Vermögensschäden und Nichtvermögensschäden (immateriellen Schäden) wie dem Schaden an Gesundheit (biologischer Schaden, ärztlicher Kompetenz unterliegender Schaden) und Existenz (existenzieller Schaden, psychologischer Kompetenz unterliegender Schaden) zu unterscheiden ist, wurde vom obersten italienischen Gerichtshof bestätigt. Sowohl Mobbing als auch Straining stellen einen äußerst anstrengenden und zeitlich andauernden Konflikt dar, dessen schädliche Effizienz ausreichend und angemessen ist, dem Opfer auch unter psychologischen und existenziellen Gesichtspunkten Schaden zuzufügen. Im Hinblick auf das psychologische Profil des Opfers schafft eine Situation des Mobbings oder des Strainings ein Unbehagen von schwerwiegendem existenziellem Ausmaß, wodurch dem Opfer ein Schaden zugefügt wird, der immateriell und somit also kein Vermögensschaden ist und dennoch einer ordnungsgemäßen Entschädigung bedarf (Persönlichkeitsrechtsverletzung). Der professionelle (berufliche) Schaden dagegen (wie Degradierung, fehlende Fortbildung, fehlende Praxis durch fehlende Arbeitsaufgaben oder Arbeitsinstrumente, entgangene Lohnerhöhung durch fehlende Beförderung usw.) kann sowohl ein Vermögensschaden (Berechnung der Lohnunterschiede, Wert von fehlenden Boni, Wert von fehlenden Zuschlägen, Wert von fehlenden Produktionsbeteiligungen usw.) als auch ein Nichtvermögensschaden (Rufschädigung, Verletzung der Würde des Arbeitnehmers, Verlust von beruflichen Chancen usw.) sein. Wir müssen uns diesbezüglich allerdings vor Augen halten, dass das immaterielle Vermögen eines Arbeitnehmers seine Arbeitsleistung darstellt, mit welcher es ihm erst möglich ist, materielles Vermögen zu schaffen. Der biologische Schaden ist der Schaden, der bleibende oder zeitlich beschränkte Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes des Opfers zur Folge hat, die vom Mobbing oder Straining ausge© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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löst werden. Beim biologischen Schaden werden auch die Wahrscheinlichkeit, Statistik und der Krankheitsverlauf berücksichtigt, um herauszufinden, inwiefern der klinische Aspekt mit dem Mobbing oder Straining in Zusammenhang steht. Es gibt sogar Referenzen, die belegen, wie sich Herzkrankheiten und auch Krebstumore durch Stresseinwirkung negativ entwickeln können (siehe exemplarisch das Standardwerk von Bottaccioli, 2005). So kann inzwischen bei vielen Krankheiten nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen werden, dass diese durch Stress (wie er unter anderem auch durch Mobbing oder Straining entstehen kann) ausgelöst werden oder sich durch Stress verschlimmern. Nicht umsonst brauchen Patienten zum Genesungsprozess Ruhe. Es gibt aber auch Krankheitsbilder, die denen, die durch Mobbing oder Straining verursacht werden können, sehr ähnlich sehen, als deren Ursache Mobbing oder Straining jedoch ausgeschlossen werden können. Ein Beispiel hierfür ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD = Post Traumatic Stress Disorder), deren Ursache nur ein außerordentlich extremes Erlebnis sein kann, das die Assistenz oder Bedrohung von Tod sowie eine schwere Verletzung oder Bedrohung der körperlichen Integrität zum Kriterium hat, und deren Konsequenzen dennoch oft mit der posttraumatischen Verbitterungsstörung (PTED = Post Traumatic Embitterment Disorder) verwechselt werden. Die posttraumatische Verbitterungsstörung ist bei fast allen Mobbing- und Strainingopfern anzutreffen, während das oben genannte Kriterium für eine posttraumatische Belastungsstörung sich nicht bei ihnen findet. Eine Aussage über den nichtmateriellen Schaden kann nur aufgrund von einer eingehenden psychologischen Untersuchung unter Zuhilfenahme von verschiedenen Tests und psychologischen Unterredungen gemacht werden. Unter dem existenziellen Aspekt versteht man eine objektive (und nicht emotionelle oder gefühlsmäßige) Veränderung der Beziehungen, Gewohnheiten usw., die den Patienten zu einer Umgestaltung seiner Lebensentscheidungen und der Verwirklichung seiner Person zwingt (siehe Cendon, 2001). Diese Schadensart ist sowohl im italienischen Recht (Cassazione, SS.UU., n. 6572, 2006, siehe cassazione, 2006) als auch sinngemäß im österreichischen Gesetz (§ 107a, StGB), dort als eine »unzumutbare Beeinträchtigung der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Mobbing

Lebensführung« bezeichnet (siehe jusline, 2014), und im deutschen Recht bekannt ‒ im deutschen Recht (siehe gesetze, 2014) als ein Schaden, der die »Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt«, (§ 238 StGB), beschrieben bzw. als ein »Schaden, der nicht Vermögensschaden ist« (§ 15 AGG). Ein existenzieller Schaden bedeutet eine Beeinträchtigung der Persönlichkeit oder anders gesagt: eine Beeinträchtigung der Aktivitäten, die zur Realisierung der Person beitragen. Laut Patrizia Ziviz kann man diese Aktivitäten in vier Untergruppen einteilen: 1. Aktivitäten biologischen Charakters (Nahrungsaufnahme, Nachtruhe), 2. Liebes- und Familienbeziehungen, 3. soziale Beziehungen und Tätigkeiten in den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Vereinsleben und Religion, 4. sportliche Aktivitäten, Freizeit und Vergnügen (vgl. Ziviz, 2001). Eine Bewertung der Situation aus existenzieller Sicht kann nur vorgenommen werden, wenn alle vier von Ziviz aufgeführten Aktivitäts-Bereiche berücksichtigt werden: Dies geschieht durch einen speziell von mir entwickelten, psychologischen Test, den Test »Exist 10«, der in den Bereichen Gesundheit, Beziehungen in und mit der Familie, Gewohnheiten, Lebensart und -weise, Ansehen und Arbeit besonderes Augenmerk auf die negativen Veränderungen als Folge des erlebten Traumas richtet. Die Ergebnisse des Tests »Exist 10« sind bereits in mehrere Gerichtsgutachten eingeflossen und von den entsprechenden Gerichten anerkannt worden. Wenn wir uns nun den Schäden zuwenden, die ein Mobbingoder Strainingopfer zu erleiden hat, sind diese relativ klar aufzuschlüsseln: Einerseits handelt es sich um professionelle/berufliche Schäden. Hierzu gehört, dass das Opfer degradiert wird, umgesetzt wird, ihm die Arbeitsaufgaben und/oder die Arbeitsinstrumenten genommen werden, ihm die Karriereleiter vorenthalten wird, es ausgeschlossen wird oder es auf andere Weise im beruflichen Umfeld verletzt wird. Andererseits erleidet das Mobbing- oder Strainingopfer biologische Schäden. Hierunter fallen alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen, also auch pathologische Auswirkungen und psychische © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Störungen, die durch den Arbeitsplatzkonflikt entstanden sind. In Bezug auf die biologischen Schäden ist es nicht ausreichend, nur den Schadensumfang zu bemessen, es muss auch die sogenannte Schadensfähigkeit einer Situation beachtet werden, die sich aus der Beziehung zwischen der Arbeitsplatzsituation und der Krankheit ergibt. Bisher ging es um Schäden, die durch Mobbing oder Straining entstehen können, dies aber nicht zwangsläufig tun. Es gibt aber auch einen Schaden, der fest und unabhängig von den jeweiligen Umständen an das Mobbing und das Straining gebunden ist. Er entsteht direkt im Zusammenhang damit, dass sich eine ungerechte und persönlichkeitsverletzende Lage gebildet hat, die wir Mobbing oder Straining nennen. Ich habe den Schaden, den die Situation des Mobbings an sich bereits darstellt, daher Mobbingschaden (Straining inbegriffen) genannt. Dieser Schaden ist zu den vorhandenen weiteren Schäden hinzuzuaddieren. Die »Methode Ege« wurde auch entwickelt, um den Mobbingschaden zu finden und damit dem Opfer gerecht zu werden, das nun einen konkreten Schaden einklagen kann. Gleichzeitig kann auf diese Art aber auch das Gegenteil bewiesen werden, nämlich dass gar kein Mobbingschaden besteht, und somit können spekulative Schadensersatzklagen, die unter anderem auf Rache beruhen, schon im Keim erstickt werden. Kommen wir noch einmal auf die Aufschlüsselung der Schäden zurück: Welche von all den genannten Schäden hat ein Opfer von Mobbing oder Straining? Wie bereits aufgelistet einerseits professionelle/berufliche und andererseits biologische Schäden und zudem, wie soeben ausgeführt, auf jeden Fall einen sogenannten Mobbingschaden. Dieser fällt unter die Kategorie der existenziellen Schäden. Es gibt zudem Leiden, die durch Mobbing und Straining entstehen, welche nicht am Firmenausgang zurückbleiben, sondern sich bis in den Alltag hinein auswirken können. Es ist nicht nur der Verlust beruflicher Chancen, der Arbeitsinstrumente, des Büros, der Arbeitsaufgaben oder der Professionalität. Es ist eine unvermeidliche und untrennbare Konsequenz eines solchen Konflikts, dass dieser auch in die »Außenwelt« des Privatlebens getragen wird, wo das Konfliktpotenzial des Arbeitsplatzes in das der Familie übergehen kann (wir erinnern uns an das Doppelmobbing). Häufig © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Mobbing

haben die Opfer keine Zeit oder Geduld mehr, sich um die Kinder zu kümmern, der sexuelle Appetit erlischt meist vollkommen. Letztendlich führt das Konfliktpotenzial zu einer sozialen Isolation, da sich die Opfer schlichtweg nicht mehr in der Lage fühlen, sich mit Freunden zu treffen und mit diesen etwas zu unternehmen. Sämtliche Interessen kommen zum Stillstand, da die gesamte Kraft im Konflikt verloren gegangen ist. Hobbys wird nicht mehr nachgegangen, Sport nicht mehr ausgeübt, die Lust zu verreisen schwindet, es lässt sich ein regelrechter Stillstand des privaten Lebens feststellen. Die Opfer sind wie erstarrt und kraftlos. Somit wird klar, dass der Schaden nicht gleichbedeutend mit gesundheitlichen und finanziellen Einbußen infolge des Konflikts ist, sondern schon allein dadurch gegeben ist, dass der Mensch und sein Leben nicht mehr das Gleiche sind wie zuvor. Man stelle sich nur den Schaden vor, der dadurch entsteht, dass ein Elternteil keine Kraft und Zeit mehr für seine Kinder hat oder dass Beziehungen zerbrechen, da ein Aufeinandereingehen nicht mehr möglich ist. Diese Schäden sind viel höher einzuschätzen als ein großer Teil der daraus resultierenden Pathologien. Den Schaden als einen solchen anzuerkennen und ihm den nötigen Platz und Raum in einem Gutachten einzuräumen, ist einer der Hauptgründe, welcher für die »Methode Ege« spricht. Denn eine Gesellschaft bzw. eine Rechtsprechung, die sich nur mit den sichtbaren, direkt nachweisbaren Schäden befasst, nämlich den finanziellen und gesundheitlichen, wird sich über kurz oder lang selbst schaden. Die Tatsache, dass in Deutschland eine Klagefrist von zwei Monaten gilt, führt vor Augen, wie das nicht direkt sichtbare und nachweisbare Leiden des Einzelnen missachtet wird. Denn wie schnell kann von einem Opfer erwartet werden, dass es zu der (Selbst-)Einsicht gelangt, dass ihm Unrecht geschieht und es einen lebenseinschneidenden Schaden erfährt? Opfer von Mobbing brauchen Zeit, Geduld und vor allem das Einfühlungsvermögen und die Kompetenz derjenigen, die dafür da sind, sie zu beschützen und zu vertreten. Mit der »Methode Ege« und dem darin integrierten Mobbingschaden gelingt es erstmals, das Opfer als Ganzes wahrzunehmen, mit seinem ganzen Leben und in seiner ganzen Verwundbarkeit, nicht nur mit seiner Arbeitskraft und seinem Kontostand. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Ein weiteres Fallbeispiel111

2.5 Ein weiteres Fallbeispiel Claudia, eine Ärztin, tat in einem mittelgroßen Kreiskrankenhaus ihren Dienst. Sie war verantwortlich für die Abteilung Forschung und Entwicklung. Als ich sie 2013 traf, erzählte sie mir, dass sie ihre Arbeit immer sehr professionell und kompetent ausübe und dabei mit anderen Einrichtungen, Instituten und Einrichtungen zusammenarbeite. Claudias Probleme hatten im November 2011 begonnen, als sie einen neuen Vorgesetzten bekommen hatte. Diesen beschrieb mir Claudia als sehr autoritär und wenig gesprächsbereit. Er habe die Meinung, dass die Meinung des Vorgesetzten (also seine) nie zur Diskussion stehen dürfe, auch wenn objektive Argumente ihr entgegenstehen würden, da dies eine fehlende Anerkennung gegenüber seinem Ansehen und damit ein fehlender Respekt gegenüber der Hierarchie sei. Der neue Vorgesetzte hatte von Anfang an ein spannungsgeladenes Verhältnis zu Claudia entwickelt, welches im Januar 2012 in einen offenen Konflikt ausgeartet war, als Claudia – innerhalb ihrer beruflichen Kompetenz und Autonomie – ein technisches Gutachten verfasst hatte, welches de facto ein äußerst teures Therapieverfahren blockiert hatte. Ab diesem Augenblick hatte der Vorgesetzte verschiedene verleumderische und das Opfer isolierende Maßnahmen in Gang gesetzt, wie beispielsweise das kategorische Ablehnen ihrer Vorschläge, offene Kritik an ihrer Arbeit auch vor Außenstehenden, Schmälern ihrer beruflichen Position, Provozieren von Verspätungen und anhaltenden Schwierigkeiten bei der Ausführung ihrer Arbeit. Claudia war weder zu Treffen noch zu Versammlungen eingeladen worden; auch die Teilnahme an Kongressen war ihr verweigert worden. Im Februar 2012 hatte der Vorgesetzte beispielsweise ohne jegliche vorherige Vorankündigung einen Mitarbeiter aus ihrem Team abgezogen, um damit einen objektiven Schaden an ihrer Arbeit und ihrem Image zu verursachen. Durch dieses feindselige Verhalten des Vorgesetzten hatten sich bei Claudia mit der Zeit psychosomatische Störungen entwickelt, welche sie anfangs autonom zu bekämpfen versucht hatte, ohne Fachärzte oder Psychologen zu Rate zu ziehen und ohne in den Krankenstand zu treten. Im Juni 2012 hatte Claudia schließlich das Gespräch mit ihrem Vorgesetzten gesucht, um die geschaffene Situation zu klären und das feindselige Verhalten ihr gegenüber zu verstehen. Das Gespräch,

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Straining und Mobbing

an dem auch der Verwaltungsleiter des Krankenhauses teilgenommen hatte, hatte immer mehr die Form eines Streitgesprächs angenommen und mit der Drohung seitens des Vorgesetzten geendet, Claudias Arbeitsvertrag aufzulösen. Claudia berichtete mir, dass ihr Vorgesetzter bereits am nächsten Tag in der Verwaltung eine Kopie ihres Arbeitsvertrages und weitere Informationen über sie angefordert und sie gleichzeitig mit dem Instrument der »dringenden Dispositionen« in nicht ihren Arbeitsaufgaben entsprechenden Aktivitäten eingebunden habe. Im August hatte dann eine Strategie der beruflichen Degradierung und Entleerung begonnen, indem die Arbeitsaufgaben von Claudia einem Kollegen von ihr zugeteilt worden waren. Gleichzeitig hatte sich Claudia mit der Kreisverwaltung zusammengesetzt, um dieser von ihren Problemen und dem Verhalten des Vorgesetzten zu berichten. Trotz anfänglicher Solidaritätsbekundungen hatten diese sich aber bald von der Konfliktsituation distanziert. Ab Oktober 2012 hatten sich die Folgen des Unbehagens am Arbeitsplatz derart verstärkt, dass Claudia sich gezwungen gesehen hatte, einen Psychiater aufzusuchen. Dieser hatte die Diagnose einer depressiven Angststörung gestellt, sie krankgeschrieben und ihr eine Therapie mit Psychopharmaka verschrieben. Während ihrer Abwesenheit war die Strategie ihrer Entfernung aus dem Kreiskrankenhaus weiter vorangetrieben worden (es waren beispielsweise Treffen und Versammlungen zu Themen, die Claudias Kompetenz betrafen, organisiert worden, ohne dass sie informiert worden war). Dies hatte dann im November 2012 in der Anordnung des Vorgesetzten gegipfelt, ihre Abteilung zu schließen und ihren Arbeitsvertrag neu zu definieren.

Bei unserem Treffen Anfang 2013 war Claudia immer noch wegen einer Anpassungsstörung mit Angstsymptomen krankgeschrieben. Auf Bitten von Claudia wurde ein Gutachten über ihre Situation und Lage verfasst. Sie wurde dem »LIPT Ege Professional«-Test unterzogen, es folgte ein psychologisches Gespräch und alle weiteren Maßnahmen, die die »Methode Ege« verlangt. Am Ende stellte sich ganz deutlich heraus, dass Claudia ein Opfer von Mobbing war, und zwar einer Mobbingstrategie von oben, ausgeführt durch eine einzige Person in einer ihr übergeordneten Position. Bei der Analyse fan© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Ein weiteres Fallbeispiel113

den sich feindselige Handlungen aus drei Kategorien: aus Kategorie eins ‒ »Angriffe auf die menschlichen Kontakte«, aus Kategorie drei – »Änderung der Arbeitsaufgaben« und aus Kategorie vier ‒ »Angriffe auf das Ansehen«, die mit einer Häufigkeit von »mehrmals monatlich« stattfanden. Was die Dauer des Mobbings betrifft, hat Claudia zwar im Test eine Konfliktdauer von »sechs bis zwölf Monaten« angegeben (die Zeit von Januar 2012 zum Zeitpunkt des von ihr blockierten Therapieverfahrens, bis zum Oktober 2012, als sie in den Krankenstand trat), aber da wir als Teil des Sechs-Phasen-Modells auch die Zeit der Krankschreibung hinzuzählen müssen, ergab sich als Dauer, die als Bewertungsgrundlage zugrunde gelegt wurde, letztendlich ein Zeitraum von »ein bis zwei Jahren«. Der psychologischexistenzielle Schaden konnte als »ernst« eingestuft werden. Claudia befand sich in der fünften Phase unseres Sechs-Phasen-Modells. Der Psychiater, den Claudia besucht hatte, hatte die oben genannten Beschwerden festgestellt, die reaktiv waren, das heißt als Folge und Reaktion auf einen äußeren Stimuli, das Mobbing am Arbeitsplatz, anzusehen waren und den dazugehörenden biologischen Schaden aufwiesen. Das strategische Ziel der Verfolgungsabsicht war nicht schwer auszumachen: Rache, weil Claudia das Projekt des teuren Therapieverfahrens blockiert hatte.

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3 Straining und Stalking

3.1 Ein Fallbeispiel Susanne hatte Peter ursprünglich geheiratet, weil er ihr Traummann zu sein schien. Mit der Zeit musste sie jedoch feststellen, dass er sich immer mehr von ihr fortentwickelte und sie immer weniger für ihn empfand. Nach zwei Jahren trennte sie sich von ihrem Mann, weil sie die ständigen Meinungsverschiedenheiten und seine Person nicht mehr ertrug. Susanne fand bald einen neuen Lebenspartner, mit dem sie einen Sohn bekam. Sie lebten in einer anderen Stadt als ihr Exmann Peter, da der neue Lebenspartner dort eine schöne und geräumige Wohnung besaß und Susanne begann, ihrer früheren Tätigkeit nachzugehen. Dies ging solange gut, bis Peter eines Tages begann, Susanne anzurufen. Er konnte sich nicht mit der neuen Situation abfinden, weshalb er den Entschluss gefasst hatte, Susanne wieder zur Rückkehr zu bewegen. Er rief sie zuerst sporadisch, später dann mehrmals täglich unter der ihm bekannten Handynummer an. Als es Susanne zu viel wurde, sagte sie, dass sie sich durch ihn belästigt fühle und er sie nicht mehr anrufen solle. Als Peter trotzdem weiter anrief, änderte sie ihre Telefonnummer. Rasend vor Wut, weil er sie nun nicht mehr erreichen konnte, suchte Peter Kollegen an Susannes Arbeitsplatz auf und gelangte unter einem Vorwand an ihre neue Adresse. Er sandte ihr verschiedene Geschenke zu (Blumen, intime Bekleidung, Fotos usw.). Es kam jetzt auch vor, dass er sie zuhause aufsuchte, an der Eingangstüre wartete und sie auf dem Weg von und zur Arbeit mit dem Auto verfolgte. Susanne erlebte diese Situation als Verfolgte und einen Albtraum, sie fühlte sich dementsprechend verängstigt und terrorisiert. Die Gewissheit, keinen sicheren Zufluchtsort zu haben, da Peter ständig und überall präsent war, gab ihr ein Gefühl der Ohnmacht. Selbst einfachste Dinge

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Ein Fallbeispiel115

im täglichen Leben gelangen ihr nicht mehr. Sie schreckte bei jedem Telefonklingeln zusammen, hatte Angst, aus dem Haus zu gehen, und auf offener Straße drehte sie sich ständig um. Nach circa einem Jahr beschloss Susanne, mich um Hilfe zu ersuchen. Sie rief mich unter dem Deckmantel der Anonymität an, den sie unbedingt wahren wollte, und bat mich um Rat, da sie glaubte, es handele sich in ihrem Fall um ein sehr spezielles Mobbing. Aufgrund der sieben Parameter konnte Mobbing jedoch von vornherein ausgeschlossen werden. Ich konnte ihr nur dazu raten, ihren Ex-Gatten anzuzeigen und gleichzeitig ihren Arzt aufzusuchen, um sich wegen ihrer psychosomatischen Beschwerden behandeln zu lassen.

Schon beim Betrachten des ersten Parameters wird klar, dass der Fall von Susanne weder mit Mobbing noch mit Straining zu tun hat, da der Konflikt nicht am Arbeitsplatz stattfindet. Es muss also eine neue Definition für einen Konflikt geschaffen werden, der nicht am Arbeitsplatz stattfindet, dem jedoch ähnliche Motive unterstellt werden können. Hierfür wurde der Begriff des »Stalking« entwickelt. Das englische Wort »to stalk« kommt aus der Sprache der Jäger und bedeutet so viel wie »pirschen, heranschleichen«, seit ein paar Jahren auch »belästigen« (siehe Leo, 2006‒2014). Der Jägerbegriff beschreibt bereits sehr gut, wie das gesamte Verfolgungsverhalten des Stalkers aussieht. Er (oder sie) geht auf die Pirsch (»to go stalking«), lauert seinem Opfer auf, späht es aus, um seinen Tagesablauf zu erfahren und zu wissen, wo und wie er es verfolgen kann. Das Opfer empfindet dieses Verhalten als Belästigung oder begegnet ihm mit Angst. Die Folge kann ein großes Durcheinander in der Psyche des Opfers sein, das zu Umwälzungen in psychologischen und praktischen Bereichen führen kann. In Deutschland ist das Wort »Stalking« inzwischen gleichbedeutend mit Verfolgung, Belästigung und Bedrohung. Ebenso wie bei Mobbing und Straining handelt es sich hier um ein gezieltes Verhalten und nicht um eine Krankheit. Wir haben es also nicht mit einem medizinischen Begriff zu tun, auch wenn medizinisch-psychologische Diagnosen in den letzten Jahren bei der Analyse von Stalkingfällen immer häufiger eine Rolle spielten, sei es aufgrund einer mentalen Störung seitens des Stalkers, sei es aufgrund der Beeinträch© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

tigung des psychophysischen Gleichgewichts des Opfers, bis hin zu pathologischen Auswirkungen auf dessen psychophysische Stabilität. Straining, Mobbing, Stalking – dies alles sind Verhaltensarten, die es schon immer gegeben hat, die aber erst seit kurzem theoretisiert und durch die »Zuteilung« eines Begriffs konkretisiert worden sind. Erstmals wurden derartig verfolgende Verhaltensweisen in den USA näher beschrieben und erforscht. Einer der ersten Theoretiker, welcher sich des Phänomens des Stalkings angenommen hat, war J. Reid Meloy (1998), welcher Stalking als »das beabsichtigte, böswillige und wiederholte Verfolgen und Belästigen einer Person, das deren Sicherheit bedroht« definierte (Übersetzung aus Bettermann u. Feenders, 2004, S. 4). Im gleichen Jahr, in dem das Buch von Meloy veröffentlicht wurde, wurde eine Art Richtlinie (»Model Anti-Stalking Code«) für die Gesetze der einzelnen Staaten vom U. S. Department of Justice verabschiedet, welche einen Tatbestand für Stalking durch folgende Punkte vorsieht: ȤȤ Verhaltensweisen, die aus wiederholter körperlicher Nähe (Verfolgen) und/oder fortwährenden Bedrohungen bestehen, ȤȤ die mindestens zweimal vorgekommen sind, ȤȤ die explizite wie auch implizite Drohungen mit einschließen, ȤȤ die gegen eine Person oder deren Familienmitglieder gerichtet sind und ȤȤ die bei dem Opfer und/oder dessen Familie starke Furcht hervorrufen (vgl. Bettermann u. Feenders, 2004, S. 4). Im Jahre 2002 wurde Stalking in Deutschland als ein Verhalten definiert, welches das Verhalten einer anderen Person einschränkt oder beeinflusst, vom Opfer als unerwünscht oder belästigend empfunden wird und Angst, Sorge oder Panik auslöst (Voß u. Hoffmann, 2002). Die Zentrale Geschäftsstelle der polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes gab 2002 ein Infoblatt zum Thema Stalking mit Fakten und Tipps heraus. In diesem heißt es: »›Stalking‹ […] bezeichnet das wiederholte Verfolgen und penetrante Belästigen oder Terrorisieren einer Person gegen deren Willen. Der ›Stalker‹ […] handelt oft aus einer Wahnidee oder Zwangsvorstellung. Durch Auflauern, Beobachtung, Verfolgung und Ausforschung, durch belästigende Telefonanrufe (auch SMS oder E-Mails) bis hin © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Ein Fallbeispiel117

zum Telefonterror oder durch Brief- und Geschenksendungen (also so genannte ›Liebesbeweise‹) versucht er Macht und Kontrolle über sein Opfer auszuüben – oft auch in bedrohender Weise« (zit. nach Ritter-Witsch, 2004, S. 200). In Italien wurde Stalking als »das gesamte wiederholende und eindringende Verhalten der Beobachtung und Kontrolle, der Versuch der Kontaktaufnahme und Kommunikation gegenüber einem Opfer, welches durch diese Aufmerksamkeit und dieses Verhalten belästigt oder alarmiert wird« definiert (siehe Curci, Galeazzi u. Secchi, 2003, S. 11, eigene Übersetzung). Erfahrungswerte mit Stalking berichten von überdurchschnittlich vielen männlichen Stalkern und überdurchschnittlich vielen weiblichen Opfern. Meist kennen sich der Stalker und sein Opfer, zu großen Prozentsätzen führten sie zuvor eine Liebesbeziehung miteinander. Oft ist dem eigentlichen Stalkingverhalten häusliche Gewalt vorausgegangen. Es kommt auch vor, dass der Stalker die Hilfe von ahnungslosen Unbeteiligten in Anspruch nimmt, um seine Verfolgung noch präziser und umfangreicher werden zu lassen, beispielsweise Kollegen, Familienmitglieder, Ärzte oder Nachbarn mit einer List (indem er sich z. B. als andere Person ausgibt, sich verkleidet usw.) ausfragt oder unter falschem Namen Dinge bestellt, ein Stromabonnement abbestellt und Ähnliches. Nicht selten geschieht es, dass auch Familienmitglieder (des Opfers) in das Stalking mit hineingezogen werden. Ein englischer Beitrag (Mullen, Pathé u. Purcell, 2000) unterscheidet zwischen fünf verschiedenen Arten von Stalkern: ȤȤ der Gekränkte, der in erster Linie auf Rache für eine tatsächliche oder eingebildete Ungerechtigkeit aus ist, die ihm widerfahren ist, und Handlungen vornimmt, die das Opfer hauptsächlich erschrecken oder ihm schaden sollen, ȤȤ der Abgewiesene, der den ehemaligen Partner, der ihn verlassen hat oder im Begriff ist, dies zu tun, verfolgt, um sich mit diesem zu versöhnen, sich an diesem zu rächen oder um alles beides durch ein typisches ambivalentes Verhalten zu tun, ȤȤ der Zuneigung Suchende, der hauptsächlich durch seine Einsamkeit und Suche nach Freunden oder Liebe (nicht unbedingt sexueller Art) getrieben wird, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

ȤȤ der unzulängliche Verehrer, der unfähig ist, eine befriedigende Beziehung mit Personen des anderen Geschlechts zu führen, sich aber wie ein Macho aufführt, Frauen als Objekte ansieht und denkt, es stehe ihm alles zu, was er wolle, ȤȤ der Jäger, dem es einzig und allein um eine sexuelle Beziehung mit dem Opfer geht und der auch vor Straftaten von sexueller Belästigung bis Vergewaltigung nicht zurückschreckt (in Bezug auf die Stalker-Typisierung vgl. auch Bedetti, 2005; Ferraris, 2001). Wir können in erster Linie zwei Hauptinteressen des Stalkers ausmachen, die sich auf die Mittel, Strategien und Methoden, die er während des Stalkings benutzt, auswirken. Wenn der Stalker ein negatives Interesse verfolgt, dann wird er meist von Rachegefühlen getrieben, welche sich durch eine Erfahrung entwickelt haben, die er als ungerecht, verletzend oder als Niederlage empfunden hat. Dies kommt sehr häufig unter Ex-Partnern vor, wenn der Stalker sich als Verlierer gegenüber seinem ehemaligen Partner sieht und eifersüchtig auf dessen neue Beziehung ist. Bei unserem Fallbeispiel wollte Peter nicht anerkennen, dass sich Susanne ein neues Leben geschaffen hatte. Doch haben wir dieses negative Interesse auch in unzähligen anderen Fällen, so im Fall des (Ex-)Patienten eines Arztes oder Psychologen, der sich unzulänglich behandelt fühlt (und dem Arzt oder Psychologen Straftaten vorwirft oder ihm mit solchen droht), im Fall des Angeklagten, der sich vom Rechtsanwalt oder Richter ungerecht behandelt fühlt, im Fall des Autofahrers, der es dem Polizeibeamten »heimzahlen« möchte, weil dieser ihm einen Strafzettel verpasst hat, oder im Fall des ExAngestellten, der die Kündigung seines ehemaligen Arbeitgebers rächen möchte. Handlungen, die dem negativen Interesse entspringen, sind beispielsweise Störungen, Belästigungen, Drohungen, Beschädigungen, Gewaltanwendung (auch gegenüber Dingen, Familienmitgliedern oder Haustieren des Opfers). Wir können ganz allgemein sagen, dass dem Stalker jedes Mittel recht ist, um sein Opfer zu schädigen. Falls der Stalker jedoch von einem positiven Interesse getrieben ist, versucht er, von seinem Opfer Aufmerksamkeit zu erfahren oder eine solche wiederzugewinnen. Er könnte verliebt oder davon beses© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Ein Fallbeispiel119

sen sein, eine (unterbrochene) Beziehung (wieder) zu erlangen. Es könnte sich aber auch um sehr spezifische Aufmerksamkeiten handeln: Ein Arbeitsloser könnte versuchen, mit allen Mitteln seinem ehemaligen Arbeitgeber seine Fähigkeiten und sein Können unter Beweis zu stellen oder durch Geschenke und Lob wieder sein Vertrauen zurückzugewinnen. Die Handlungen des Stalkers sind scheinbar freundlich gegenüber seinem Opfer (Liebesbriefe, Gedichte, Geschenke usw.), aber dennoch Belästigungen, da sie vom Opfer unerwünscht sind. Es ist wichtig, dass das Opfer unmissverständlich klarstellt, dass das Verhalten des anderen nicht gewünscht ist: zum einen, da sonst der Stalker in gutem Willen denken könnte, das Opfer wäre einverstanden, und zum anderen und vor allem deshalb, weil der Verehrer erst dann zum Stalker wird. Oft hört dieser auch dann nicht mit der Verfolgung auf, ganz im Gegenteil, er intensiviert seine Bemühungen noch. In dieser Phase kann es vorkommen, dass das positive Interesse in negatives Interesse umschlägt. Genau dies ist auch Susanne aus dem Fallbeispiel passiert. Nachdem sie Peter klargemacht hatte, dass sie seine Anrufe als Belästigung empfinde, und schließlich sogar die Telefonnummer geändert hatte, schlug das ursprüngliche Verhalten von Peter, welches ausschließlich aus Telefonaten bestanden hatte, in negatives, Susanne verfolgendes Verhalten um. Unabhängig davon, welches Interesse den Stalker letztendlich zu seinem Verhalten motiviert, entwickelt dieser ein intensives emotionales Verhältnis zu seinem Opfer ‒ ob dies nun als Liebe, Fanatismus, Hass oder Rache zu bezeichnen ist, spielt am Ende keine entscheidende Rolle. Es lässt sich in jedem Falle ebenso wie beim Mobbing und Straining feststellen, dass eine konkrete Motivation hinter dem Verhalten steckt, die durch starke Emotionen ausgelöst wurde. Damit lässt sich die Ansicht, dass es sich bei Stalking um ein pathologisches Problem handelt, zumindest teilweise entkräften. Es gibt zwar inzwischen auch in Deutschland die Möglichkeit, gegen Stalking zu klagen, doch wird eine Anzeige von den Opfern oftmals so lange wie möglich hinausgezögert oder ganz vermieden. Zum einen ist es dem Opfer peinlich, von jemandem, den es einmal geliebt hat, derart verfolgt zu werden. Zum anderen hüllt sich das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

Opfer oftmals in Schweigen, um nicht mit Tatsachen, die derart unangenehm sind, an die Öffentlichkeit treten zu müssen. Ich habe allerdings umgekehrt auch Fälle erlebt, bei denen ein normaler Informationsaustausch aus Rache als Stalking angezeigt wurde (beispielsweise nach Abbruch der Beziehungen). Deshalb ist es immer wichtig, dass das Opfer klar und deutlich seine Missbilligung gegenüber weiteren Kontakten äußert, sodass alles weitere negative Verhalten als Stalking eingestuft werden kann. Auf diese Weise lässt sich vermeiden, dass jegliche negative Kommunikation als Stalking vor Gericht landet. In Deutschland gibt es mit der Erweiterung des § 238 StGB (Nachstellung) einen »Stalking-Paragraphen«, denn dort heißt es: »(1) Wer einen Menschen unbefugt belästigt, indem er beharrlich seine räumliche Nähe aufsucht unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu ihm herzustellen versucht unter missbräuchlicher Verwendung von dessen personenbezogenen Daten Bestellungen von Waren oder Dienstleistungen für ihn aufgibt oder Dritte veranlasst, mit diesem Kontakt aufzunehmen, ihn mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit seiner selbst oder einer ihm nahe stehenden [sic] Person bedroht, oder eine andere vergleichbare Handlung vornimmt und dadurch seine Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter das Opfer, einen Angehörigen des Opfers oder einen anderen dem Opfer nahe stehenden [sic] Menschen durch die Tat in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt. (3) Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers, eines Angehörigen des Opfers oder eines anderen dem Opfer nahe stehenden [sic] Menschen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. (4) In den Fällen des Absatzes 1 wird die Tat nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Formen des Stalkings121

besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält« (gegenstalking, o. J.). Durch die Medien ist das öffentliche Interesse am Thema Stalking stetig gewachsen, da recht häufig Personen wie bekannte Schauspieler oder Musiker Opfer von Stalking werden. In den USA haben sich auf diesem Hintergrund mittlerweile bereits Filme wie »Play misty for me« von Clint Eastwood (1971), »Duel« von Steven Spielberg (1971), »Fatal attraction« von Adrian Lyne (1987) oder »Sleep tight« von Jaume Balaguero (2011) des Themas Stalking angenommen.

3.2 Formen des Stalkings Emotionales Stalking (Emotional Stalking) Wenn über Stalking gesprochen wird, dann ist damit fast immer das emotionale Stalking gemeint. Auch im oben angeführten Fallbeispiel litt Susanne unter einem emotionalen Stalking. Diese Art des Stalkings ist nicht nur die am weitesten verbreitete, durch sie wurde die Stalkingforschung zudem erst ins Leben gerufen. Die Stalker beim emotionalen Stalking sind Ex-Ehemänner und -frauen, Ex-Partner, Ex-Verlobte, Ex-Geliebte usw. Es sind Menschen, die mit ihrem Opfer ein Verhältnis hatten, welches beendet wurde, meist vom Opfer selbst, oder sich eine Liebesbeziehung zu einem Opfer wünschen würden, das diesen Wunsch jedoch nicht erwidert (dass jemand, der eine Beziehung beendet, dem anderen nachstellt, passiert dagegen eher selten, lediglich wenn dieser sich nicht als »Täter« sieht und das Ende der Beziehung rückgängig machen will). Der Stalker akzeptiert im Falle des emotionalen Stalkings das Ende der Beziehung oder das Nichtentstehen einer gewünschten Beziehung nicht und versucht mit allen Mitteln, das Opfer wieder (oder erstmalig) zu einer Beziehung mit ihm zu überzeugen. Grundlage des emotionalen Stalkings ist also immer eine mit starken Emotionen verbundene Beziehungsgeschichte. Wenn alle »normalen« Verhaltensweisen, die eine Beziehung (wieder-)herstellen sollen, gescheitert sind, treten die Verhaltensweisen ins Stadium des Stalkings ein, um sich so am Opfer für die Trennung oder das Nichtentstehen einer Beziehung zu rächen und es für seine Zurückweisung zu strafen. Der von Emotionen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

getriebene Stalker ist unfähig, eine Ablehnung zu akzeptieren, und überzeugt, dass seine Handlungen das Opfer zur Kehrtwende und zum Umdenken bringen. Damit wird der Stalker zum Gekränkten, der in erster Linie auf Rache für eine tatsächliche oder eingebildete Ungerechtigkeit aus ist, die ihm widerfahren ist, und Handlungen begeht, die das Opfer erschrecken oder schaden sollen. Ein emotionaler Stalker kann von fast allen bereits genannten Stalker-Charakteren verkörpert werden (kann also der Abgewiesene, der Zuneigung Suchende, der unzulängliche Verehrer, der Jäger sein) und wie beschrieben sowohl von einem negativen Interesse (das Opfer wegen der Ablehnung bestrafen) als auch von einem positiven Interesse (Annäherung, Wiederaufnahme von Beziehung) geleitet werden. Der eigentliche Zündfunken des emotionalen Stalkers ist entweder eine Wehmut und ein Bedauern demgegenüber, was er verloren hat (man gibt den Dingen oft erst dann einen Wert, wenn sie einem fehlen), meist mit dem Gefühl der persönlichen Genugtuung und Selbstbestätigung verbunden, oder ein Gefühl der Rache, des Hasses und der Eifersucht. Wie bereits beschrieben koexistieren diese Gefühle und wechseln einander ab, was sich dann in einem doppeldeutigen und paradoxen Verhaltensmuster niederschlägt (beispielsweise kann auf Morddrohungen das Versenden von teuren Geschenken folgen). Star Stalking Die Nachstellung einer Person des öffentlichen Interesses, eines sogenannten »Stars«, wird als »Star Stalking« bezeichnet. Denken wir einmal zurück an die Zeiten der Beatles, welche keinen Schritt machen konnten, ohne von zahlreichen, meist jungen weiblichen Fans regelrecht belagert zu werden. Nicht zufällig prägte sich in dieser Zeit der Begriff der »Beatlemanie«, die den Wahnsinn, mit welchem sich manche Fans an ihre Idole klammern, sehr gut beschreibt. In neuerer Zeit haben sich ähnliche Szenen auch um andere Pop-Idole abgespielt, beispielsweise um Michael Jackson, Tokio Hotel oder Justin Bieber. Auch im Film über die Konzerttournee der schwedischen Popgruppe ABBA in Australien im März 1976 (Hallström, 1977) erhält man einen mehr als bedrängenden Einblick in das Leben von Stars, welche ihre Freiheit gegen Beliebtheit eingetauscht haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Formen des Stalkings123

Im Fall dieser schwedischen Gruppe leidet eine der Sängerinnen bis heute an Angstzuständen, welche sich durch die ständige Verfolgung der Fans, inzwischen Star Stalking genannt, entwickelten. Star Stalking betrifft Menschen, die »im Rampenlicht« stehen, wie Schauspieler, Athleten und Sportler, Politiker, Sänger (auch solche, die noch nicht besonders lange oder erfolgreich im Showbusiness teilnehmen wie etwa Castingshow-Teilnehmer), oder Menschen, die durch das Kino oder die Massenmedien bekannt wurden. Das Stalking geschieht hier vorwiegend durch fanatische Anhänger, auf den Erfolg Eifersüchtige oder auf andere Weise zur Feindschaft gegen »Stars« getriebene Menschen (beispielsweise zur Feindschaft gegen den Sportler, der das entscheidende Tor am letzten Spieltag gegen den geliebten Fußballklub erzielt und dadurch den Abstieg besiegelt hat). Inzwischen ist das Star Stalking sehr verbreitet; Opfer wie die Popsängerin Madonna, Regisseur Steven Spielberg, die ehemalige Tennisspielerin Monica Seles oder Fernsehstar Michelle Hunziker sind keine Ausnahmen mehr. Die verbreitetesten Stalker-Charaktere sind der Zuneigung Suchende und der unzulängliche Verehrer ‒ beides Charaktere, die auf der Suche nach einem idealisierten Verhältnis mit dem Objekt ihrer Begierde sind, das nicht zu realisieren ist. Allgemein gesprochen besitzt der Star Stalker ein positives Interesse an seinem Opfer. Dieses Interesse zeichnet sich durch übertriebenes, ja zwanghaftes Anhimmeln, extreme Bewunderung oder Verehrung aus, Verhaltensweisen, die dazu führen, dass der Star Stalker Objekte, Bilder und Erinnerungen von seinem Idol sammelt und sich eventuell am Ende sogar mit dem Idol identifiziert. Der Star Stalker verehrt sein Idol in einer krankhaften Weise, erkenntlich daran, dass er alles über sein Idol weiß: wo es sich aufhält, was es macht, wie es sich bewegt, was ihm gefällt, was es gern tut, wie es sein Privatleben führt und wo er ihm begegnen kann. Er passt sich schließlich in seinem Aussehen an sein Opfer an, trägt die gleiche Kleidung sowie Frisur und verhält sich zunehmend auf die gleiche Weise. Der Star Stalker versucht, in die Nähe seines Idols zu kommen und ihm so oft wie möglich zu begegnen, um in irgendeiner Weise eine Anerkennung von ihm zu erhalten. Natürlich ist es auch möglich, dass der Star Stalker ein negatives Interesse an seinem Opfer entwickelt, welches sich in Eifersucht, Neid, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

Hass oder dem Wunsch, den Erfolg des Stars zu zerstören, ausdrückt. Ein Beispiel hierfür bietet die ehemalige Tennisspielerin Monica Seles, die Steffi Graf vom Platz der Weltranglistenersten stieß und kurze Zeit später Opfer eines Star-Stalker-Anschlages auf ihr Leben wurde. Auch Konkurrenzdenken kommt öfters als Motiv beim Star Stalking vor. Ein Star Stalker mit negativem Interesse kann sein Opfer körperlich attackieren oder sogar ermorden (ein trauriges Beispiel hierfür ist der Mord an John Lennon). Viele Stars lassen sich ihre Wohnsitze zu regelrechten Festungen ausbauen, um sich vor Star Stalkern und deren Verfolgung zu schützen. Arbeitsplatzbezogenes Stalking (Workplace Stalking) Beim arbeitsplatzbezogenem Stalking stellt sich die Frage, inwiefern sich dieses vom Mobbing und Straining unterscheidet. Bisher bestand das Unterscheidungskriterium zwischen Stalking und Mobbing bzw. zwischen Stalking und Straining darin, dass Stalking im Privatleben des Opfers stattfindet, während Mobbing und Stalking am Arbeitsplatz zu finden sind. Während Mobbing und Straining bereits ausführlich in der Literatur und in den Massenmedien erörtert worden sind, trifft dies auf Stalking nicht zu. So erfasst die Untergliederung in emotionales Stalking und Star Stalking nicht alle Phänomene, die als Stalking zu bezeichnen sind. Es gibt nämlich Fälle des Stalkings, das heißt des Verfolgens und Belästigens eines Opfers in dessen Privatraum, denen als Motivation ein Konflikt am Arbeitsplatz zugrunde liegt, für diese habe ich den Begriff arbeitsplatzbezogenes Stalking geschaffen: »Arbeitsplatzbezogenes Stalking beschreibt eine Art des Stalkings, bei der sich die Verfolgungshandlungen im Privatleben des Opfers abspielen, aber die Motivation für diese am Arbeitsplatz entstanden ist, wo der Stalker unter einer Konfliktsituation litt und die Verfolgung oder das Mobbing entweder ebenfalls bereits realisiert hat oder sich gewünscht hat, sie zu realisieren« (Ege, 2005, S. 109, eigene Übersetzung).

Es gibt Arbeitsplatzkonflikte, bei denen der Angreifer (besser gesagt, der Möchtegern-Angreifer) ganz einfach nicht die Möglichkeit hat, Straining oder Mobbing zu realisieren. Er hat weder die Stellung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Formen des Stalkings125

noch die Mittel, um dies zu tun. Vorstellbar wäre hier ein nachgeordneter, rangniedrigerer Mitarbeiter, der es seinem autoritären und strengen Vorgesetzten »einmal so richtig zeigen« möchte und sich für dessen Verhalten rächen möchte. Es gibt jedoch zu viele Zeugen und eine zu große Angst vor den negativen Folgen am Arbeitsplatz. Deshalb könnte der Mitarbeiter sich dazu entschließen, sich in einem Gebiet zu rächen, das ihm weniger gefährlich erscheint, nämlich im Privatleben der Zielperson. In Fällen wie diesem geht das arbeitsplatzbezogene Stalking aus einem Konflikt hervor, der am Arbeitsplatz weder durch Mobbing noch durch Straining wie gewünscht ausgetragen werden konnte. In anderen Fällen ist ein Arbeitsplatzkonflikt bereits im Gange und hat wie gewünscht zu Straining, Mobbing oder Ähnlichem geführt. Hier kann es geschehen, dass das arbeitsplatzbezogene Stalking zusätzlich stattfindet, parallel zum Mobbing bzw. Straining oder auch dem Mobbing bzw. Straining folgend. Werden arbeitsplatzbezogenes Stalking und Mobbing bzw. Straining parallel betrieben, möchte der Stalker dem Mobbing mehr Nachdruck verleihen, um das Opfer beispielsweise zur Kündigung oder zu etwas anderem zu bewegen. Wird das arbeitsplatzbezogene Stalking im Anschluss an das Mobbing bzw. Straining betrieben, ist das meistens ein Zeichen dafür, dass das Mobbing oder Straining am Arbeitsplatz nicht gewirkt hat und deshalb nun eine neue Phase der Verfolgung beginnt, um das strategische Ziel (siehe siebter Parameter: die Verfolgungsabsicht) zu erreichen. Es gibt auch Fälle, in denen ein Opfer des Mobbings oder Strainings das arbeitsplatzbezogene Stalking aus Rache betreibt, um dem Mobber/Strainer in seinem Privatleben das zurückzuzahlen, was es selbst am Arbeitsplatz durchlebt hat. Auch wenn zum Beispiel ein ehemaliger Angestellter, der entlassen wurde, glaubt, sich durch Stalking bei seinem ehemaligen Arbeitgeber rächen zu können, handelt es sich um ein arbeitsplatzbezogenes Stalking. Es lässt sich also feststellen, dass in der Anfangsphase des arbeitsplatzbezogenen Stalkings in der Regel die gleiche Verfolgungsabsicht vorherrscht wie beim Mobbing und Straining. Das arbeitsplatzbezogene Stalking kann somit als Weiterführung des Mobbings oder Strainings angesehen werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

Es ist auch vorstellbar, dass der Stalker weitermacht, obwohl das strategische Ziel des Mobbings oder Strainings erreicht worden ist. In diesem Fall hat der Stalker sein eigentliches Ziel aus den Augen verloren und das Stalking ist zum Selbstläufer geworden. Am Ende steht eventuell nur noch die Verfolgung an sich im Vordergrund. Je weiter das arbeitsplatzbezogene Stalking sich vom eigentlichen Arbeitsplatzkonflikt entfernt, desto weiter entfernt es sich auch vom ursprünglichen strategischen Ziel des Mobbings/Strainings. Das Stalking wird in dieser Phase immer pathologischer (im Sinne von verbissener und zerstörerischer), mit dem einzigen Ziel, dem Opfer keine Chance zu lassen und dessen Leben zu zerstören. Dies ist der Grund, warum bei arbeitsplatzbezogenem Stalking immer ein negatives Interesse seitens des Stalkers besteht. Der typische arbeitsplatzbezogene Stalker ist der Gekränkte.

3.3 Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode Ebenso wie das Mobbing und Straining kann auch das Stalking mit unserer Sieben-Parameter-Methode erkannt und definiert werden. Es müssen nur zur notwendigen Absetzung vom Mobbing und Straining einige Veränderungen in den einzelnen Parametern vorgenommen werden. Im Folgenden werden die sieben Parameter des Stalkings im Einzelnen beschrieben. Erster Parameter: Ort Stalking gilt als ein Phänomen, welches das Privatleben des Opfers betrifft, sowohl bei der Verfolgung seitens eines Ex-Partners oder eines zurückgewiesenen Liebhabers (emotionales Stalking) als auch im Hinblick auf den Fanatismus, der gegenüber einer öffentlichen Persönlichkeit (Star Stalking) auftritt. Auf diesem Hintergrund der Privatsphäre wurde der Begriff Stalking Synonym für jegliche Art von totaler Verfolgung, die das Opfer überall trifft, wo es sich gerade befindet (auf der Straße, zu Hause, im Fitnesscenter, bei Freunden usw.). Darüber hinaus besteht durchaus die Möglichkeit, dass das Opfer auch am Arbeitsplatz telefonisch verfolgt wird. Wie ausgeführt habe © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode127

ich den Stalkerdefinitionen der einschlägigen Literatur, die sich bislang auf Stalker beschränken, die aufgrund einer positiven (Liebe, Bewunderung) oder negativen emotionalen Beziehung (Rache, Neid, Eifersucht) ihr Opfer verfolgen, das arbeitsplatzbezogene Stalking hinzugefügt. Im Fall des arbeitsplatzbezogenen Stalkings ist allerdings nur die Motivation des Stalkings auf das Arbeitsumfeld bezogen, die feindseligen Handlungen geschehen im privaten Bereich des Opfers. Wenn die Verfolgung ausschließlich am Arbeitsplatz stattfinden würde, hätten wir es mit Mobbing oder Straining zu tun. In Tabelle 13 sind die auf den Ort bezogenen Merkmale der drei unterschiedenen Stalkingformen emotionales Stalking, Star Stalking und arbeitsplatzbezogenes Stalking überblicksartig zusammengefasst. Tabelle 13: Der Ort des Stalkings (vgl. Ege, 2005, S. 112) Stalkingform

Arbeitsplatz des Opfers

Privatleben des Opfers

emotionales Stalking (durch private Konflikte motiviert)

seltene, nur gelegentliche Verfolgung bei der Arbeit

ständige Verfolgung

Star Stalking (durch extreme Bewunderung motiviert)

der Stalker kann am Arbeitsplatz seines Opfers als Fan erscheinen (beispielsweise während eines öffentlichen Auftrittes des Stars), tritt dabei aber nur selten in Aktion

ständige Verfolgung

arbeitsplatzbezogenes Stalking (durch Konflikte der Arbeitssituation motiviert)

der Stalker betreibt bereits Mobbing oder Straining am Arbeitsplatz oder wünschte, er könnte es betreiben

ständige Verfolgung

Die Tabelle verdeutlicht, dass die kontinuierliche und bedrängende Verfolgung, egal welcher Art das Stalking ist, sich vor allem im Privatleben abspielt. Man kann sagen, dass ein Großteil der feindseligen Handlungen des Stalkings direkt bei der Wohnung des Opfers oder in Wohnungsnähe stattfinden. Der Stalker ist räumlich nie weit von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

seinem Opfer entfernt und bemüht sich tendenziell in das Haus, den Garten oder sogar ins Schlafzimmer des Opfers einzudringen. Auch bei einer negativen Absicht kann davon ausgegangen werden, dass es die Wohnung des Opfers ist, in der der Stalker versucht, die meisten Schäden anzurichten. Selbst Telefonanrufe und Briefe (unabhängig davon, ob Liebes-, Hass- oder Drohbriefe) sind fast ausschließlich an die Privatadresse gerichtet. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Warum ausgerechnet zu Hause? Zuallererst gibt es dafür einen ganz einfachen und offensichtlichen Grund: Die Wohnung des Opfers ist dessen Hauptreferenzpunkt. Es ist der ideale Ort, weil ein Lebensmittelpunkt, an welchem man dem Opfer auflauern, dessen Spuren aufnehmen, es erwarten und beobachten kann. Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund: Das Haus (oder die Wohnung) ist ein Symbol der Intimsphäre, in welche der Stalker mit aller Macht einzudringen versucht. Selbstverständlich ist auch der Arbeitsplatz ein hervorragender Ort, an welchem man das Opfer erreichen kann, hat aber nicht die gleiche Symbolwirkung und Intimität wie die private Wohnung des Opfers. Zweiter Parameter: Häufigkeit Wie beim Straining und Mobbing ist auch beim Stalking die Analyse der Häufigkeit für den Gutachter nicht gerade eine einfache Angelegenheit, da sich das Opfer aufgrund der Natur des Konflikts unter dauerhafter Verfolgung sieht. Klar ist, dass eine einzige Belästigung noch kein Stalking darstellen kann. Es ist eine Belästigung, nicht mehr und nicht weniger. Die bereits zitierte (siehe Bettermann u. Feenders, 2004, S. 4) amerikanische Richtlinie vom U. S. Department of Justice für Stalking (»Model Anti-Stalking Code«) verlangt ausdrücklich mindestens zwei belästigende Handlungen (hierbei muss das Opfer dem Täter gegenüber allerdings klar zum Ausdruck gebracht haben, dass es sich belästigt fühlt, um mögliche Missverständnisse auszuräumen). Im deutschen Recht (§ 238 StGB) sind Frequenz und Häufigkeit der Belästigungen mit der Bezeichnung »beharrlich« hingegen ungenau angegeben, wobei »beharrlich« auch hier eine einzelne Handlung ausschließt. Bei den das Stalking betreffenden Gesetzen in Großbritannien, Kanada und Australien findet sich ebenfalls als Hauptforderung die Wiederholung der Belästigung wieder. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode129

Wichtiger noch als verschiedene Gesetze hinsichtlich ihrer Angaben zu untersuchen ist die Tatsache, dass in dem Wort »Verfolgung« das Wort »folgen« enthalten ist. Und »folgen« bedeutet, dass man jemanden hinterhergeht, was auf systematische Aktivitäten schließen lässt. Ebenso wie beim Mobbing können auch beim Stalking wiederholte feindselige Handlungen und ein systematisches Vorgehen ausgemacht werden. Dennoch lässt sich allein mit dieser Einsicht keine Aussage über die tatsächliche Frequenz treffen. So absurd das klingen mag: Durch eine derartige Definition wären zwei Handlungen mit einem Abstand von mehreren Monaten ebenfalls als Stalking zu werten. Um im Hinblick auf die Häufigkeit ein genaueres Bild zu bekommen, hilft ein Blick auf die bisherigen Erfahrungen mit Stalking. In der bislang größten Forschungsarbeit der Technischen Universität Darmstadt zu Stalking, der Darmstädter Stalking-Studie (DSS), wurden von 2001 bis 2003 über 551 Opfer mithilfe des Internets befragt. Hans-Georg W. Voß, der Projektleiter, veröffentlichte die Daten zu dieser Studie ‒ Tabelle 14 zeigt, zu welchen Ergebnissen er im Punkt »Häufigkeit« gekommen ist. Tabelle 14: Häufigkeit der Stalkinghandlungen nach der Darmstädter Stalking-Studie (vgl. Voß, 2004) Häufigkeit der Stalkinghandlungen: einige Male

Anteil in Prozent 4%

mehrmals im Monat

12 %

mehrmals in der Woche

27 %

täglich

12 %

mehrmals täglich

45 %

In der Studie von Voß lässt sich etwas sehr Wichtiges erkennen: Fast die Hälfte aller Stalkingfälle (45 %) sind durch Aktionen charakterisiert, die mehrmals täglich stattfinden. Die daraus ableitbare Vorstellung, dass der Stalker die Stunden, vielleicht sogar die Minuten zählt, um seinem Opfer wieder nachstellen zu können, lässt darauf schließen, dass der psychologische Druck auf das Opfer permanent und allgegenwärtig sein muss. Bedenkt man zusätzlich die 12 % der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

täglichen Angriffe, kommt man insgesamt auf 57 % Stalkingopfer, die gemäß der Darmstädter Studie mindestens einmal täglich oder mehrmals täglich feindseligen Handlungen ausgesetzt sind. Das ist umso alarmierender, da laut Studie drei von fünf Opfern jeden Tag zum Teil mehrmals dem Psychoterror des Stalkings ausgesetzt sind. Ein Viertel der Befragten (27 %) haben wöchentliche Angriffe zu erleiden. 84 % der Opfer leiden also mindestens wöchentlich unter der Verfolgung ihres Stalkers. Aus den Ergebnissen der Darmstädter Studie lässt sich demnach schließen, dass eine Häufigkeit von feindseligen Handlungen von mindestens einer wöchentlichen Frequenz Stalking definiert. Belästigungen können aus einer Handlung bestehen und entsprechend rechtlich geahndet werden, doch Stalking braucht eine gewisse Frequenz, um als solches gelten zu können. Ebenso entscheidend ist die Sicht auf Stalking aus juristischer oder aus psychologischer Sicht. Unter dem juristischen Standpunkt ist vor allem das Tatmotiv wichtig, während unter dem psychologischen Aspekt in erster Linie der konstante psychische Druck durch die hohe Abfolge von Handlungen hervorzuheben ist. Genau hier greift die zentrale Frage der Psychologie: Handelt es sich nur um eine einzelne Aktion oder lässt sich ein systematisches Handeln erkennen? Dementsprechend entwickeln sich die psychophysischen Folgen des Opfers. Daher ist die Häufigkeit für das Modell Ege von entscheidender Bedeutung. Für den amerikanischen Gesetzgeber gilt gemäß dem »Model Anti-Stalking Code« des U. S. Department of Justice hingegen lediglich, eine wiederholende Handlung auf der Grundlage von mindestens zwei Handlungen zu bestrafen (siehe Bettermann u. Feenders, 2004, S. 4). Der amerikanische Gesetzgeber verurteilt ein Verhalten also schneller als mein Modell als Stalking. Unter dem psychologischen Aspekt muss zunächst beachtet werden, ob das Opfer sich klar mit einem Nein gegen das Verhalten ausgesprochen hat, das heißt, ob die Handlungen tatsächlich unerwünscht sind, dann muss die Häufigkeit der Handlungen beachtet werden, was aus psychologischer Sicht unabhängig von der juristischen Ansichtsweise wegen des permanenten Verfolgungsdrucks, der auf das Opfer aufgrund der Frequenz ausgeübt wird, äußerst wichtig ist. Daraufhin kann das Verhalten erst als Stalking angesehen werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode131

Dritter Parameter: Dauer Die Bedeutung der Dauer von Stalking wurde bisher außen vor gelassen. Es ist tatsächlich schwer, eine Dauer festzulegen, da jede wiederholte, unerwünschte Handlung bereits als Stalking angesehen werden kann. Aus psychologischer Sicht ist vorstellbar, dass der Stalker mit starken Emotionen an seine Sache herangeht (etwa das Zurückgewinnen der Ex-Freundin über Wochen), und vom menschlichen Standpunkt aus gesehen ist es zudem durchaus verständlich, dass er um seine Familie oder Liebe kämpft. Ist es nicht nachvollziehbar, dass ein Mensch, von dem sich jemand, der ihm sehr nahesteht, unerwartet trennt, erst einmal versucht, zu retten, was noch zu retten ist? Bei der Betrachtung des Verhaltens eines Stalkers muss immer auch auf den »Täter« geachtet werden. Menschen reagieren unterschiedlich, wenn sie emotional werden; der eine reagiert gelassen oder kontrolliert, ein anderer »dreht durch« oder fängt an zu betteln. Wie beim Mobbing und Straining bietet sich daher auch beim Stalking die Begrenzung auf eine Zeitspanne an, bei deren Überschreitung ein emotionales Verhalten als pathologisch angesehen werden kann. Die Begrenzung auf eine bestimmte Zeitspanne ist zum Beispiel sinnvoll, um auszuschließen, dass zwei kurz aufeinanderfolgende Wutausbrüche als Stalking definiert werden. Schafft es ein Autofahrer beispielsweise nicht, an einer grünen Ampel rechtzeitig loszufahren, und wird deshalb vom Hintermann beschimpft, kann der vordere Autofahrer nervös werden und seinen Motor ganz abwürgen. Bedenkt sein Hintermann ihn nun mit noch wüsteren Beschimpfungen, wäre dies nach amerikanischem Recht schon als Stalking aufzufassen, auch wenn die beiden Personen in keinerlei emotionalem Verhältnis zueinander ständen und weder vorher noch nachher wieder etwas miteinander zu tun hätten. Das Fehlen eines Zeitrahmens begünstigt solche verwirrenden Fälle wie den des Autofahrers. Wenn wir nochmals auf die Darmstädter Studie von Voß zurückgreifen, so besagt diese, dass Stalking zwischen einem Monat und dreißig Jahren andauern könne, aber im Durchschnitt etwa 28 Monate anhalte (also praktisch zwei und ein Drittel Jahre) und nur 24 % aller Stalkingfälle länger als ein Jahr fortbeständen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

Beim Mobbing konnte als Zeitkriterium auf die sechs Monate zurückgegriffen werde, die die Grenze zwischen akut und chronisch kennzeichnen. Der große Unterschied gegenüber dem Stalking ist jedoch, dass das Opfer eine Zufluchtsstätte in Form der heimischen Wohnung hat, wo es vor Angriffen geschützt ist und mit den Familienmitgliedern auch über andere Themen reden kann. Dieser Unterschied gilt auch dann, wenn man die negativen Konsequenzen des Mobbings auf die Privat- und Familiensphäre (wie sie beispielsweise beim Doppelmobbing bestehen, siehe Kapitel zwei) mitbedenkt. Da beim Stalking das gesamte Privatleben in den Verfolgungsprozess mit einbezogen wird, vermag die eigene Wohnung keinerlei Zufluchtsstätte mehr zu bieten ‒ ganz im Gegenteil, denn wie weiter oben beschrieben, ist gerade sie der Hauptreferenzpunkt des Stalkers. Indem Stalking keine Belästigung von außen darstellt, sondern in die Privatsphäre eindringt und damit in das Verhalten des Opfers selbst, empfindet das Opfer die Verfolgung als total. Häufig schweigen die Opfer, weil sie befürchten, peinliche private Details auszuplaudern bzw. weil ihnen das Verhalten des Täters peinlich ist. Ein Zeitraum von sechs Monaten kann aufgrund des umfassenden Leidens des Stalkingopfers als zu lange erachtet werden. Ein kurzer Rückblick auf das Quick Mobbing ist hinsichtlich einer Festlegung der Dauer des Stalkings hilfreich. Der permanent hohe Verfolgungsdruck ist durchaus mit dem des Quick Mobbings vergleichbar, sodass auch dessen Zeitraum von drei Monaten übernommen werden kann. Wenn wir nun das Kriterium der Dauer von drei Monaten (dritter Parameter) mit dem Kriterium der Häufigkeit von mindestens einmal wöchentlich (zweiter Parameter) multiplizieren, ergibt sich daraus, dass mindestens zwölf feindselige, unerwünschte und belästigende Handlungen benötigt werden, um von Stalking zu sprechen. Das bedeutet: Eine Anzahl von zwölf Handlungen ist akzeptabel, um eine permanente Verfolgung zu attestieren. Vierter Parameter: Art der Handlung Die Kriterien des vierten Parameters des Mobbings bzw. Strainings können aufgrund des Umfangs und des veränderten Ortes des Stalkings nicht direkt übernommen werden. Die Kategorien von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode133

Leymann (1993) werden hinfällig, sodass neue Kategorien ausgearbeitet werden müssen, um dem Umfang der feindseligen Handlungen Rechnung zu tragen. Es gibt eine italienische Studie von Curci, Galeazzi und Secchi (2003), die sich mit den Formen des Stalkings beschäftigt. Derzufolge finden sich vor allem folgende Handlungen beim Stalking: ȤȤ bei 75 % der Fälle direkter, bei 65 % telefonischer Kontakt, ȤȤ zu 57,5 % warten die Stalker an dem vom Opfer besuchten Orten, ȤȤ in 32,5 % der Fälle werden Briefe versandt, ȤȤ 20 % beschädigen das Eigentum des Opfers, ȤȤ in 15 % der Fälle werden Klatschgeschichten über das Opfer verbreitet, ȤȤ 12,5 % überwachen ihre Opfer und ȤȤ 10 % versenden Geschenke. Bei 22,5 % der Fälle waren direkte Drohungen Teil des Stalkings, die in 10 % der Fälle gegen Familienmitglieder gerichtet waren. In 7,5 % der untersuchten Fälle wurde körperliche Gewalt ausgeübt, während in 65 % der Fälle mindestens drei verschiedene Methoden der Belästigung angewandt wurden. Leider sind die Informationen der Studie in Bezug auf die einzelnen Stalkingaktionen nicht genauer ausgeführt. Meistens sind die Aktionen eng an die Beziehung zwischen Opfer und Stalker gebunden. Zudem basiert die Studie auf Gesprächen mit Patienten psychiatrischer Einrichtungen, sodass diesem Aspekt ein entsprechender Schwerpunkt eingeräumt wird. Um umfangreichere und präzisere Handlungsarten zu erhalten, bietet sich erneut die Studie von Voß (2004) an. Tabelle 15 führt die Stalkingaktionen der von Voß geleiteten Darmstädter Studie auf. Tabelle 15: Stalkinghandlungen nach der Darmstädter Stalking-Studie (Voß, 2004) Stalkinghandlungen

prozentualer Anteil (Mehrfachnennungen möglich)

Telefonanrufe

85 %

Herumtreiben in der Nähe

68 %

über Dritte

65 %

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Straining und Stalking

Stalkinghandlungen

prozentualer Anteil (Mehrfachnennungen möglich)

im Umfeld nach Zielperson fragen

55 %

vor Haustür stehen

54 %

Briefe

50 %

SMS

47 %

nachlaufen

44 %

unerwünschte Geschenke

43 %

wortloses Dasitzen/Dastehen

39 %

Nachrichten an Autotür oder Haustür

35 %

E-Mails

35 %

Verfolgen mit Auto

35 %

Beschädigung von Eigentum

26 %

Eindringen in Wohnung

18 %

schockierende Dinge verschicken

13 %

Dienstleistungen im Namen der Zielperson

10 %

Die Psychologin Rebecca Löbmann (2002) unterscheidet dagegen zwei unterschiedliche Intensitätsstufen der Verfolgung. Ihr zufolge existiert ein belästigendes Stalking, welches Handlungen vorsieht, die weniger schwerwiegend für das Opfer sind (wie Telefonanrufe, Briefe, Auflauern und Verfolgen) und ein gewaltsames Stalking mit schwerwiegenden und schlimmen Folgen für das Opfer (wie verbale Beleidigungen, Gewaltandrohungen, körperliche und sexuelle Gewalt). Besonders interessant hierbei ist die Unterscheidung der Handlungen nicht nach der Schwere der Handlungen, sondern nach deren Wirkung aus Sicht des Opfers. Allerdings muss in diesem Zusammenhang beachtet werden, dass Menschen aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmung Handlungen auch unterschiedlich deuten. Es lässt sich daher nicht »von außen« bewerten, wie schlimm Handlungen für das Opfer sind. Das Opfer empfindet immer in subjektiver Weise. Genauso verhält es sich mit dem Mobbing, welches kulturell bedingt empfunden wird, sodass eine Handlung in einem gewissen kulturellen Umfeld toleriert wird oder gar als normal bezeichnet wird, während dieselbe Handlung in einem anderen kulturellen Umfeld als erniedrigend angesehen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode135

wird. So konnten unterschiedliche Arten des Mobbingempfindens zwischen Nord- und Südeuropa aufgezeigt werden – ein Phänomen, das als Kulturmobbing bezeichnet wird (siehe Ege, 1997). Alle vorhandenen Studien, Überlegungen, Forschungsarbeiten und Theorieansätze berücksichtigen bei der Einstufung der Stalkinghandlungen einen wichtigen Faktor nicht, und zwar den der subjektiven Wahrnehmung des Opfers. Für die professionelle Beurteilung ist es enorm wichtig, inwieweit eine Handlung vom Opfer als Belästigung oder als Verfolgung wahrgenommen wird. Deshalb bietet sich der Rückgriff auf das allgemeinere Konzept von Karin Wieners und Hildegard Hellbernd an (2000), welches fünf verschiedene Kategorien von Gewalt unterscheidet (siehe Tabelle 16). Tabelle 16: Die fünf Kategorien der Gewalthandlungen nach Wieners und Hellbernd (2000) physische Gewalt

gewaltsame Handlungen, die einen körperlichen Kontakt darstellen: Schläge, Stöße, Nutzung von Waffen oder stumpfen Gegenständen, Würgen, körperliche Zwänge, verschiedene Aggressionen mit zum Teil auch tödlichen Folgen für das Opfer

sexuelle Gewalt

gewaltsame Handlungen mit sexuellem Ziel oder Inhalt: sexuelle Belästigungen, Vergewaltigung, Zwang oder Ausbeutung von Prostitution

psychologische gewaltsame Handlungen, die intensive negative GeGewalt fühle auslösen wie Angst oder Panik: Gewaltandrohung gegenüber dem Opfer oder dessen Kindern, Beleidigungen, Erniedrigungen, Verhalten oder Reden, die Schuldgefühle auslösen, Zwang oder Verminderung der Grundbedürfnisse wirtschaftliche Gewalt

gewaltsame Handlungen, die darauf abzielen, den Zugang zu wirtschaftlichen Quellen zu be- oder verhindern: Arbeitsverbot oder Zwang zur Arbeit, Wegnahme der Möglichkeiten, mit denen sich eine wirtschaftliche Unabhängigkeit schaffen lässt

soziale Gewalt

gewaltsame Handlungen, die die sozialen Kontakte des Opfers schädigen: Versuch (meistens von Männern), die Opfer (meistens Frauen) sozial zu isolieren, zum Beispiel durch ein Vetorecht oder durch verschiedene Kontrollformen wie ein Kontaktverbot zu Familie, Freunden, Kollegen usw.

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Straining und Stalking

Von allen Ansätzen, die feindselige Handlungen beschreiben, kommt die Klassifizierung der Gewaltaktionen nach Wieners und Hellbernd (2000) dem Bestreben, die Stalkinghandlungen möglichst objektiv zu erfassen und zu analysieren, am Nächsten. Deshalb muss zur Erfüllung des Parameters »Art der Handlung« mindestens eine Handlung festgestellt werden, die aus einer der fünf Kategorien der Gewalthandlungen von Wieners und Hellbernd stammt. Fünfter Parameter: Ungleichheit zwischen den Antagonisten Vor einiger Zeit wurde ich zu einem Fall hinzugezogen, bei dem eine Frau ihren Arzt des Stalkings bezichtigte, da dieser andauernd SMS an sie geschrieben habe. Bei genauerer Nachforschung stellte sich jedoch heraus, dass der SMS-Verkehr von beiden Seiten erfolgt war und die Patientin zu keinem Zeitpunkt artikuliert hatte, dass sie sich von ihrem Arzt belästigt fühle. Deshalb handelte es sich nicht um Stalking, sondern um einen gegenseitig akzeptierten Kommunikationsaustausch. Beim Stalking dagegen haben wir die gleiche Basis wie beim Straining und beim Mobbing: einen sehr großen Unterschied der Möglichkeiten und Fähigkeiten zwischen Täter und Opfer. Beim Stalking ist dieser Unterschied sogar noch offensichtlicher als beim Straining oder Mobbing: Der Stalker kann nach Belieben den Ort, wo, oder die Zeit, wann er sein Opfer belästigt und verfolgt, wählen. Dementsprechend hat das Opfer überhaupt keine Möglichkeit, sich auf die Belästigung vorzubereiten (z. B. mit verbaler Selbstverteidigung). Der Stalker hat auch die Möglichkeit, sein Opfer mit zeitlichem oder räumlichem Abstand zu verfolgen, ohne sich körperlich in der Nähe des Opfers aufhalten zu müssen. Er kann einen Brief senden, den das Opfer erst am nächsten Tag erhält, oder mit einem Anruf aus großer Ferne sein Opfer erreichen. Wenn die Anrufe anonym sind, weiß das Opfer zuweilen nicht einmal, wer ihm übel mitspielen will. So muss auch im Stalking eine ständige Unterlegenheit des Opfers gegenüber seinem Stalker erkennbar sein. Sechster Parameter: Verlauf nach Phasen Wie jeder Konflikt hat auch das Stalking seine Eigenheiten und wie bei jedem Konflikt spielt sich auch bei ihm eine gewisse Instabilität ab, das heißt, der Konflikt ist nicht fest und stabil, sondern ent© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode137

wickelt sich und hat eine Eigendynamik. Stalking beginnt niemals zufällig, verändert sich mit der Zeit und durchlebt wie das Straining und das Mobbing einzelne Phasen. Diese sind aufeinanderfolgend und vorhersehbar, was wiederum ermöglicht, ein theoretisches Modell zu entwickeln. Im Gegensatz zum Mobbing, bei dem wir ein Sechs-Phasen-Modell anwenden, benutzen wir beim Stalking wie beim Straining ein Modell, welches auf vier Phasen beruht (siehe Abbildung 4). 1 konfliktbehaftete Beziehung 2 ständige Verfolgung (Stalking) 3 psychophysische Folgen für das Opfer 4 Endkonfrontation Abbildung 4: Das Vier-Phasen-Stalking-Modell nach Ege (2005, S. 125)

Erste Phase – Konfliktbehaftete Beziehung: Stalking beginnt nicht zufällig, sondern ist immer begründet, das heißt, es besteht immer eine Verfolgungsabsicht. Durchweg findet sich zu Beginn eine emotionale, konfliktbehaftete Beziehung zwischen dem Stalker und seinem Opfer. Meistens handelt es sich dabei um eine Beziehung, die (im Allgemeinen vom Opfer) aus irgendeinem Grund beendet wurde, oder um eine Beziehung, die vom Stalker sehr stark ersehnt, aber vom Opfer abgelehnt wurde. Auf jeden Fall kennt der Stalker sein Opfer sehr gut, entweder durch die vorherige Beziehung (klassischer Fall beim emotionalen Stalking) oder weil der Stalker so viel an Informationen wie nur möglich über sein Opfer sammelt (wenn beispielsweise am Anfang keine direkte Beziehung zwischen Stalker und Opfer besteht, wie beim Star Stalking). Beim arbeitsplatzbezogenen Stalking besteht die konfliktbehaftete Beziehung durch den tatsäch© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

lich vorhandenen oder gewünschten Arbeitsplatzkonflikt. Der Stalker kennt sein Opfer durch die aktuelle oder ehemalige Arbeitsbeziehung. Zweite Phase – Ständige Verfolgung (Stalking): Die zweite Phase kann als direkte Folge von der ersten Phase angesehen werden. Der Stalker sieht eine Störung der konfliktbehafteten Beziehung aus der ersten Phase: Die Ablehnung des Opfers (typisch beim emotionalen Stalking), seine Unzugänglichkeit (typisch beim Star Stalking) oder die Unmöglichkeit, es wirkungsvoll zu treffen (beim arbeitsplatzbezogenen Stalking), bringen dem Stalker Frustration. Er erlebt die Situation als ungerecht und als Benachteiligung. Er sieht in seiner Unfähigkeit eine Art Niederlage, die es zu vergelten gilt. Nicht selten sieht sich der Stalker selbst als Opfer, was seinen Wunsch nach Rache weiter nährt. Wenn sich dann am Ende all die intensiven Emotionen, die sich im Gehirn des Stalkers angesammelt haben, in feindseligen Handlungen, die den bereits beschriebenen Parametern entsprechen (also mindestens wöchentliche Angriffe über eine Dauer von mindestens drei Monaten), entladen, repräsentiert dies die zweite Phase des Modells: das tatsächliche Verfolgen. Beim arbeitsplatzbezogenen Stalking läuft das anders ab, wenn der Stalker bereits schon als Mobber fungiert, da er ja schon eine Verfolgung am Arbeitsplatz ausübt, mit der dieser entsprechenden Verfolgungsabsicht und Subjektivität. Hier tritt ein Wendepunkt ein, wenn der Täter seine Mobbingstrategie als gescheitert und damit als unwirksam einstuft. An diesem Punkt hat er die Wahl, ob er aufgibt oder den Konflikt infolge seiner Hass- und Rachegefühle auf eine andere Ebene trägt und zum Stalking werden lässt. Dritte Phase – Psychophysische Folgen für das Opfer: Die dritte Phase ist vergleichbar mit den dritten Phasen des Mobbing- und Strainingmodells. Sie (d. h. psychophysisches Unbehagen) ist sehr typisch für alle drei Konfliktformen. Auch die Symptome des Stalkingopfers sind absolut vergleichbar mit denen von Mobbing- und Strainingopfern. Um dies zu verstehen, reicht es bereits, nur einige wenige psychosomatische Beschwerden aufzuzählen, wie etwa Schlaflosigkeit, Angstgefühle, Furcht, Appetitverlust, nervöse Bulimie, Reizbarkeit, soziale Zurückgezogenheit, Verlust des Selbstvertrauens usw. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode139

Es beginnt in der Regel mit einzelnen Alarmsignalen, die der Körper aussendet, wenn durch den aufgebauten Druck die Grenzen des Erträglichen überschritten werden. Die Möglichkeit der Genesung ist proportional zur Dauer der Verfolgung, was heißt: Je kürzer die Verfolgung andauert, desto schneller und wahrscheinlicher ist die Genesung. Im Gegensatz dazu ist bei längerem Andauern des Stalkings die Gefahr eines chronischen Verlaufs oder sogar das Entstehen von Pathologien wahrscheinlich. Beim arbeitsplatzbezogenen Stalking führt die dritte Phase generell relativ schnell zu ernsten und schlimmen Gesundheitsproblemen, da das Opfer oft bereits schon länger unter Mobbing oder Straining litt. In diesem Fall werden die Leidensdauer des Stalkings und die Leidensdauer des Mobbings oder des Arbeitskonflikts addiert. Vierte Phase – Endkonfrontation: Leider nimmt Stalking immer wieder einmal ein tragisches Ende. Ein Blick auf verschiedene Filme zu diesem Thema genügt. Mit der Zeit kann der Stalker tatsächlich gefährlich werden, da er eine solche Frustration aufbaut, dass seine Angriffe immer fanatischer, intensiver, feindseliger und radikaler werden. Auch das Opfer kann solch ein Wutpotenzial aufbauen, dass es in seiner Verzweiflung Rachegelüste gegen den Stalker entwickelt. Zum Glück ist eine physische Konfrontation jedoch relativ selten, so dass die vierte Phase meistens durch eine Strafanzeige oder einen Gerichtsprozess charakterisiert ist. Bei der Betrachtung der vier Phasen fällt auf, dass sich die erste Phase vorrangig im Kopf des Täters abspielt, da sich in diesem erst mit der Zeit ein Plan und die entsprechenden Gefühle entwickeln. Erst in der zweiten Phase realisiert er das für das Opfer spürbare Stalking. Deshalb kann die Bewertung eines Falles als Stalking erst in Betracht gezogen werden, wenn dieser mindestens die zweite Phase erreicht hat. Siebter Parameter: Verfolgungsabsicht Beim Stalking ist die Verfolgungsabsicht weit weniger untergliedert als beim Mobbing oder Straining. Bei einem Stalker kommen überhaupt nur zwei Ziele infrage: entweder ein affektives oder ein destruktives Ziel (siehe Tabelle 17). Beim affektiven Ziel versucht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

der Stalker, eine unterbrochene Beziehung wieder aufzunehmen oder eine Anerkennung oder Beachtung zu erhalten. Er akzeptiert keine Ablehnung. Beim destruktiven Ziel dagegen möchte der Stalker Rache oder Bestrafung des Opfers für ein von ihm empfundenes Unrecht. Die Verfolgungsabsicht ist deshalb nur durch die Präsenz von einem der zwei genannten Ziele gegeben. Tabelle 17: Ziel des Stalkers (vgl. Ege, 2005, S. 128) affektives Ziel

destruktives Ziel

–– Wiederaufnahme einer unterbrochenen sentimentalen Beziehung (emotionales Stalking)

–– Bestrafung des Opfers für ein empfundenes Unrecht (emotionales Stalking)

–– eine besondere Aufmerksamkeit erhalten (emotionales Stalking)

–– das Opfer von einer neuen Beziehung/Familie entfernen (emotionales Stalking)

–– Anerkennung von einer berühmten Person erhalten (Star Stalking) –– sich mit einem Idol identifizieren (Star Stalking) –– Suche oder Erhalt des Vertrauens/der Sympathie des Arbeitgebers oder des Vorgesetzten, um eine Beförderung/einen Arbeitsplatz/einen Bonus/ein Projekt/eine Arbeit usw. zu bekommen (arbeitsplatzbezogenes Stalking)

–– Zerstörung einer berühmten Person aus Neid (Star Stalking) –– eine Verfolgung realisieren, die am Arbeitsplatz nicht möglich war (arbeitsplatzbezogenes Stalking) –– Rache für ein Disziplinarverfahren/eine Entlassung/ eine Degradierung/Mobbing oder Straining am Arbeitsplatz (arbeitsplatzbezogenes Stalking) –– Verfolgung eines Ziels, das durch vorangegangenes Mobbing nicht erreicht wurde (arbeitsplatz­ bezogenes Stalking)

Die Verfolgungsabsicht beim Stalking ist im Allgemeinen sehr viel einfacher und direkter festzustellen als beim Mobbing oder Straining. Deshalb sind auch die Ermittlungen in diesen Fällen einfacher. Das Opfer kennt seinen Stalker meistens und weiß dementsprechend, was dieser von ihm will, entweder aufgrund einer direkten Kommunikation oder aufgrund eines Erahnens. Der Stalker hinterlässt durch seine Nachrichten und seine Telefonate klare Zeichen, was seine Absichten sind. Oft spürt der Stalker eines affektiven Ziels © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode141

nicht einmal, dass er jemanden belästigt oder verfolgt, und glaubt sich im Recht. Deshalb zeigt er auch ganz offen, was er beabsichtigt. Bei einem negativen Ziel hat der Stalker dagegen ein komplettes Bewusstsein von den Auswirkungen seiner Handlungen, da er genau weiß, was seinem Opfer schadet und wie er ihm Schaden beibringen kann ‒ auch wenn er immer von dem Gedanken geleitet ist, dass seine Racheaktionen gerecht seien. Dies sehen wir häufig im arbeitsplatzbezogenen Stalking, bei dem der Stalker absichtlich mit seinen Handlungen einen Psychoterror auslösen möchte, den er nicht mit dem Mobbing oder Straining erreicht hat, bzw. eine Rache oder einen Konflikt ausführen möchte, die er nicht am Arbeitsplatz betreiben konnte. In Tabelle 18 sind zusammenfassend alle sieben Parameter, die für Stalking sprechen, aufgeführt. Tabelle 18: Die sieben Parameter zum Erkennen von Stalking Parameter

Voraussetzung zum Erkennen des Stalkings

1. Ort

Der Konflikt spielt sich überall ab, aber es darf nie die Verfolgung in der Privatsphäre des Opfers fehlen.

2. Häufigkeit

Die feindseligen Handlungen müssen wenigstens wöchentlich geschehen.

3. Dauer

Die Verfolgung muss wenigstens seit drei Monaten andauern.

4. Art der Handlung

Die feindseligen Handlungen müssen aus wenigstens einer der fünf Kategorien der Gewalt stammen.

5. Ungleichheit zwischen den Antagonisten

Das Opfer befindet sich in einer konstanten Position der Unterlegenheit.

6. Verlauf nach Phasen

Die Ereignisse haben zumindest die zweite Phase (ständige Verfolgung) des Vier-Phasen Modells des Stalkings erreicht.

7. Verfolgungsabsicht

Es muss immer ein affektives oder destruktives Ziel vorhanden sein.

Tabelle 19 stellt die drei Stalkingformen gegenüber und fasst die bisherigen Betrachtungen in einem Überblick zusammen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

Tabelle 19: Gegenüberstellung der drei Stalkingformen (vgl. Ege, 2005, S. 130)1 emotionales Stalking

Star Stalking

Stalker-Typ1

der Abgewiesene der Zuneigung Suchende der unzulängliche Verehrer der Jäger

der Gekränkte der Zuneigung Suchende der unzulängliche Verehrer

Opfer

Ex-Partner, ExFreunde, Nachbarn, Verwandte, Ärzte, Psychologen, Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte

öffentlich bekannte Personen des Sports, der Unterhaltungsindustrie oder der Politik

Kollegen oder ehemalige Kollegen, Vorgesetzte, Nachfolger, Untergebene, (Ex-)Arbeitgeber

Motive des Stalkers

Annäherung/ Liebesbeweis/ Rache

Annäherung/sich mit dem Star identifizieren/ Zerstörung des eigenen Idols

Vervollständigen eines Arbeitsplatzkonflikts, der schon im Gange ist/Verwirklichung eines Konflikts, der am Arbeitsplatz nicht stattfindet/ Rache für eine Ungerechtigkeit/Wiederherstellung eines unterbrochenen Arbeits- oder Vertrauensverhältnisses

Ziel des Stalkers

Wiederherstellung der Beziehung, Trennung von einer neuen Beziehung, etwas bekommen/erhalten (Geld, Liebe), bestrafen

Anerkennung vom Idol bekommen, so wie er/ sie sein wollen, Zerstörung des Idols

Privatleben des Opfers zerstören/den Verursacher einer negativen Handlung bestrafen, Wiedererlangung des Vertrauens am Arbeitsplatz

1

arbeitsplatzbezogenes Stalking

Siehe die Typenunterteilung von Mullen, Pathé und Purcell (2000).

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Feststellung von Stalking durch die Sieben-Parameter-Methode143

emotionales Stalking

Star Stalking

arbeitsplatzbezogenes Stalking

Handlungen Anrufe, Geschendes Stalkers ke, Nachrichten, Hinterhergehen/ Hinterherfahren, Drohungen, Gewalt

Hinterhergehen/ Hinterherfahren, Versuche der Kontaktaufnahme, Anrufe, Diebstahl von Dingen, die dem Opfer gehören

Kontrollieren, Anrufe, Hinterhergehen/Hinterherfahren, Drohungen, Handlungen, um zu erschrecken

Bewusstseinsniveau des Stalkers gegenüber seinen Handlungen

nicht vorhanden: der Stalker begeht seine Handlungen, ohne sich des Verfolgungs- und Belästigungscharakters bewusst zu sein

voll bewusst: der Stalker realisiert seine Handlungen und begeht sie vorsätzlich

nicht vorhanden, wenn es um die Kontaktaufnahme, um ein affektives Ziel geht: der Stalker ist sich der Belästigung nicht bewusst voll bewusst, wenn es um Rache, ein destruktives Ziel geht: der Stalker verfolgt sein Opfer vorsätzlich

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Straining und Stalking

3.4 Die Anwendung in der Praxis Wie beim Straining und Mobbing lässt sich auch beim Stalking die Sieben-Parameter-Methode empirisch anwenden, um festzustellen, ob die Voraussetzungen für Stalking, die im Vorhandensein jedes einzelnen Parameters besteht, gegeben ist oder nicht. An der Fallgeschichte von Susanne, die dieses Kapitel einleitete, lässt sich anhand der Parameter feststellen, warum ihr Leiden als Stalking bezeichnet werden kann. Erster Parameter: Ort Der Konflikt spielte sich in der Privatsphäre von Susanne ab, da Peter sie zu Hause anrief, ihr Geschenke nach Hause sandte und auf sie an der Eingangstür zur Wohnung wartete. Der erste Parameter ist damit gegeben. Zweiter Parameter: Häufigkeit Peter rief Susanne zum Teil mehrmals täglich an, sandte ihr ständig Geschenke und suchte sie auch zu Hause auf. Die Mindestanforderung von wöchentlicher Häufigkeit, die der zweite Parameter verlangt, ist also ebenfalls gegeben. Dritter Parameter: Dauer Susanne suchte sich professionelle Hilfe, nachdem Peter sie bereits über ein Jahr verfolgte. Die Mindestdauer von wenigstens drei Monaten ist hier bei weitem überschritten und der dritte Parameter somit erfüllt. Vierter Parameter: Art der Handlung Der Telefonterror, das Senden von Geschenken und das Verfolgen auf der Straße übten eine psychologische Gewalt aus, die eine der fünf Kategorien der Gewalt darstellt. Somit ist auch der vierte Parameter vorhanden. Fünfter Parameter: Ungleichheit zwischen den Antagonisten Susanne hatte nicht die Möglichkeit und später auch nicht mehr die Kraft, Peter Paroli zu bieten. Dementsprechend kann davon ausge© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Die Anwendung in der Praxis145

gangen werden, dass sich Susanne in einer konstanten Position der Unterlegenheit befand, wie vom fünften Parameter gefordert. Sechster Parameter: Verlauf nach Phasen Susanne hatte bereits erhebliche psychosomatische Symptome. Ihre Angstgefühle begleiteten sie überall hin, sodass ihr Alltag erheblich beeinträchtigt war. Dem Vier-Phasen-Modell zufolge befand sich der Fall daher in der dritten Phase. Er erfüllte somit den sechsten Parameter, da dessen Mindestanforderung besagt, dass sich der Konflikt mindestens in der zweiten Phase befinden muss. Siebter Parameter: Verfolgungsabsicht Es lässt sich ein klares affektives Ziel in dem Versuch von Peter, Susanne wieder für sich zu gewinnen und dementsprechend zu überzeugen, erkennen. Aus diesem Grund kann bestätigt werden, dass eine Verfolgungsabsicht und damit der siebte Parameter vorhanden ist. Parameterauswertung zum Erkennen von Stalking Da bei Susanne wie aufgezeigt alle sieben Parameter des Stalkings vorhanden sind, kann ihr Fall als Stalking bezeichnet, beurteilt und belangt werden. War es in Susannes Fall nicht aber von vornherein offensichtlich, dass es sich um Stalking handelt? Das heißt: Ist es wirklich grundsätzlich nötig, zur Feststellung des Tatbestandes Stalking eine derartig genaue Methode anzuwenden? Stalking stellt oft ein zweischneidiges Schwert dar, da das Opfer, wenn es beginnt, sich zu wehren, dem Risiko unterliegt, ebenfalls zum Täter zu werden. Wie bei sexueller Gewalt kann der Schuldige auch beim Stalking behaupten, er sei provoziert worden oder das Opfer habe mitgespielt. Die Behauptung, dass der Kläger unter Verfolgungswahn leide, erscheint naheliegend und ist nicht immer einfach oder eindeutig zu widerlegen. Die Angeklagten können nicht einfach nur deshalb als Täter abgestempelt werden, weil sie auf der Anklagebank sitzen. Es gibt nicht wenige Menschen, die glauben, dass der Nachbar sie beobachte oder beschatte, andere sind überzeugt, dass der Arzt oder Therapeut sie belästigt habe. Um Tätern und Opfern prinzipiell gerecht zu werden und zum Teil recht kom© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

pliziert gelagerte Fälle zu beurteilen, ist eine wissenschaftliche, empirische und klare Methode, die allen Fällen zugrunde gelegt werden kann, unverzichtbar. Eine sichere Deutung des Stalkings hilft auch der Staatsanwaltschaft, Klagen, die Belästigungen oder Drohungen betreffen, bewerten zu können. So kann beispielsweise das Tatmotiv einfacher erörtert werden oder es können Verminderungen oder Erschwerungen in Betracht gezogen werden. Mit der Parameter-Methodik ist gewährleistet, dass ein subjektiver Vorgang objektiv erfasst und nachvollzogen werden kann.

3.5 Ein weiteres Fallbeispiel Markus, Familienvater von zwei Kindern (Tochter und Sohn), arbeitet bei einem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes. Im Verwaltungsbereich hat er eine sichere Stelle. Da er Volkswirt ist und als Einziger einen Hochschulabschluss besitzt, hat er auch als Einziger in seiner Abteilung das Potenzial, Karriere zu machen. Markus ist jedoch kein Karrieremensch. Er hat sich ein Einfamilienhaus für seine Familie geleistet und wohnt zufrieden in der Nähe einer nordrhein-westfälischen Großstadt. Aber genau dieses kleine Glück, das unbeschwert wirkt, hat den Neid zweier Kollegen geweckt, die sich weniger glücklich schätzen als Markus. Als die Stelle eines in Kürze in Rente gehenden Vorgesetzten neu besetzt werden sollte, sahen die zwei Kollegen Markus aufgrund seiner Ausbildung plötzlich als Feind an. Die zwei Kollegen versuchten nun, den Ruf von Markus zu schädigen, indem sie seine Arbeitsergebnisse manipulierten. Damit nicht genug: Seine Arbeit wurde immer häufiger sabotiert. Die durch die Sabotage entstandenen Ergebnisse und Fehler dienten dazu, seinen Ruf weiter zu zerstören. Das Mobbing am Arbeitsplatz nahm Markus nach einigen Monaten in seinem vollen Umfang wahr. Obwohl nach circa zehn Monaten eine externe Person eingestellt wurde, um den in Rente gegangenen Vorgesetzten zu ersetzen und Markus gar nicht berücksichtigt worden war, brach das Mobbing nicht ab. Die zwei Kollegen hatten sich inzwischen so auf Markus »eingeschossen«, dass sie gar nicht mehr anders konnten als weitermachen. Ihre Beziehung zu Markus war derart vergiftet, dass es keine kollegiale

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Ein weiteres Fallbeispiel147

Atmosphäre mehr geben konnte. Markus spürte die psychosomatischen Auswirkungen des Mobbings immer stärker: Schlaflosigkeit und Gereiztheit waren zu chronischen Begleitern geworden. Die beiden Kollegen waren sowohl aufgrund des Hochschulabschlusses von Markus, der ihrer Karriere dauerhaft im Wege zu stehen schien, als auch aufgrund der unkollegialen Atmosphäre, die sie selbst ja ursprünglich erzeugt hatten, zunehmend der Überzeugung, dass Markus gehen sollte. Die Lage verschärfte und verlagerte sich, als die Kollegen von Mobbern zu Stalkern wurden. Da Markus nicht kündigte, sandten ihm die beiden Kollegen anonyme Briefe mit Drohungen und Ankündigungen von Gefahren, wenn er nicht den Wohnort und die Arbeit wechseln würde. Da Markus immer noch nicht ging, setzten die Kollegen nach mehreren Monaten auf Telefonterror (mehrmals täglich stumme Anrufe, auch nachts). Später riefen sie im gleichen Stil auch am Arbeitsplatz von Markus’ Frau an. In seinen vor dem Haus geparkten Wagen wurden mit einem spitzen Gegenstand vulgäre Wörter in die Fahrzeugtüren geritzt. Als Markus die Telefonnummer geändert hatte, fanden die beiden Kollegen dank ihrer Beziehungen zur Personalabteilung die neue Nummer schnell heraus. Markus geriet immer mehr in ein depressives Angstsyndrom mit vereinzelten Panikattacken, Schlaflosigkeit, Verdauungsproblemen und sexuellen Störungen. Er musste immer häufiger in den Krankenstand treten und dementsprechend sank auch seine Produktivität am Arbeitsplatz. Als direkte Folge der durch die Aktionen der Kollegen entstandenen Situation lebte auch seine Familie in ständiger Angst.

Markus glaubte, ein Mobbingopfer zu sein. Dies war er zunächst auch, und zwar solange, bis das Mobbing der Kollegen zum Stalking wurde. Mit Mobbing hatten die zwei Kollegen Markus’ Ruf am Arbeitsplatz geschädigt. Sie hatten zwar eine wirksame Strategie entwickelt, um seinen Arbeitsplatz für Markus in eine Hölle zu verwandeln, waren jedoch nicht zum gewünschten Ziel gelangt: Markus’ Kündigung. Deshalb geriet der Konflikt auf eine neue Ebene, die die Familie mit hineinzog. Typisch für diese Art des Konflikts ist das ohnmächtige Zuschauen des Opfers, wenn sich der Konflikt vom Mobbing zum Stalking ausweitet. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und Stalking

Es ist offensichtlich, dass es sich hier um arbeitsplatzbezogenes Stalking handelt. Markus berichtete, dass die Situation, solange er »nur« Mobbing habe erdulden müssen, in gewisser Weise zu handhaben gewesen sei, da er zu Hause bei der Familie einen gewissen Ruhepol gefunden habe. Seitdem er jedoch durch das Stalking keinen Rückzugsort mehr habe, setze ihm die Lage zu. Genau ab dem Moment, in dem das Mobbing zum Stalking wurde, spürte Markus die psychosomatischen Folgen. Während er sich am Arbeitsplatz auf die zu erwartenden Attacken in gewisser Weise hatte vorbereiten können, war er den feindseligen Handlungen im Privatleben schutzlos ausgeliefert. Denn der Stalker agiert immer unvorhersehbar und involviert zudem die Familie des Opfers, sodass das Opfer nicht nur auf Attacken gegen sich selbst, sondern auch gegen die Familie gefasst sein muss, worauf es sich schwer vorbereiten kann. Die zwei Kollegen sind aufgrund des Tatbestandes nicht nur Stalker, sondern auch Mobber. Sie haben dem Mobbing am Arbeitsplatz ein Stalking im Privatleben von Markus folgen lassen.

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4 Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Dieses Kapitel wirft nach der genaueren Analyse von Straining, Mobbing und arbeitsplatzbezogenem Stalking einen Blick auf weitere Konflikte am Arbeitsplatz, die aufgrund der bisherigen, weitgehend ungenauen Definitionen häufig mit Mobbing, Straining oder arbeitsplatzbezogenem Stalking verwechselt werden. Durch die erarbeiteten und aufgezeigten Kriterien und Parameter der »Methode Ege« wird schnell deutlich, welche Konflikte nicht in die Kategorien Mobbing, Straining und arbeitsplatzbezogenes Stalking fallen. Eine falsche Bezeichnung und Bewertung einer Lage können zum einen auf Unwissenheit, was genau Mobbing sei, beruhen, zum anderen können sie darauf zurückzuführen sein, dass das Auslegungsfeld, um ein vermeintliches Opfer des Mobbings zu bestimmen, sehr weit ist. Beides, Unwissenheit und ein zu weites Auslegungsfeld, hängt jedoch damit zusammen, dass die Ansichten und Definitionen in Bezug auf Mobbing bis zur Einführung der Sieben-Parameter-Methode sehr ungenau und weitläufig waren. Ein Szenario, das leicht mit Straining verwechselt werden kann, tritt ein, wenn jemand beispielsweise aufgrund von Krankheits- oder Urlaubsvertretung degradierende Aufgaben ausführen muss. Im ersten Moment ließe sich hier Straining vermuten, doch nach Hinzuziehen der Sieben-Parameter-Methode wird schnell klar, dass dies nicht der Fall ist. Allein der Zeitfaktor hebelt die Definition hier aus. Es kann sich schlicht um ein organisatorisches Problem handeln, das nichts mit dem Betreffenden an sich zu tun hat. Natürlich ist auch denkbar, dass ein Mitarbeiter für ein unerwünschtes Verhalten eine kurzzeitige »Bestrafung« erhält, wenn er zum Beispiel einen Tag lang Kaffee kochen muss. Doch auch in diesem Fall greift unsere Methode nicht. Beide Beispiele stellen Probleme dar, die andere Lösungen als Straining verlangen, da sie auf anderen Ursachen basieren. Es © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

handelt sich um Beispiele für eine Degradierung, nicht für Straining. Wenn jemand, der auf diese Weise degradiert wird, versuchen würde, eine Klage wegen Straining oder Mobbing zu initialisieren, wäre diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt (und dementsprechend eine Verschwendung von Geld und Zeit). Wenn die Parameter eines der in den vorangegangenen Kapiteln erläuterten Konflikte nicht erfüllt sind, sollten die einzelnen Handlungen für sich betrachtet und beurteilt werden, zumindest solange, bis nicht weitere Handlungen vorliegen, die beispielsweise die Anfangsphase von Mobbing vermuten lassen. Es ist nicht nur für Gutachter und Experten unumgänglich, zu beachten, dass jede Konfliktart ihren eigenen Namen hat. Ein Husten ist nun mal kein Schnupfen und umgekehrt. Oft liegt in der Bezeichnung des Problems schon ein Teil seiner Lösung. Wie in der Medizin ist auch in der Arbeitspsychologie die richtige Diagnose unumgänglich, um den Weg zur Besserung zu finden, da die Therapie nur eine logische Folge der Diagnose sein kann. Deshalb ist ein Experte, der sich mit Konflikten in Organisationen beschäftigt, so wichtig.

4.1 Straining und sexuelle Belästigung Fallbeispiel 1 Während der sogenannten Rushhour ist es in überfüllten Straßenbahnen unvermeidbar, mit anderen Fahrgästen in körperlichen Kontakt zu geraten. Der Belästiger nutzt genau diese Situation aus, um zu berühren, zu streicheln oder anzufassen. Oft merkt das Opfer gar nichts davon. Nur wenn die Berührung handgreiflicher wird, löst sie eine Protestreaktion aus. Dieses Phänomen führt so weit, dass beispielsweise in Japan Planungen im Gang sind, in der U-Bahn Wagen nur für Frauen zur Verfügung zu stellen. Fallbeispiel 2 Ein Mädchen, welches im Stadtpark spazieren geht, wird von einer Gruppe Jugendlicher belästigt. Der Umgangston ist derb und dementsprechend fallen auch sehr vulgäre Wörter. Das Mädchen, welches sich von den Sprüchen gedemütigt fühlt, versucht, so schnell wie möglich

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Straining und sexuelle Belästigung151

wieder aus dem Stadtpark zu gelangen. Die Wortwahl der Jugendlichen hat in ihr Wut und Angst ausgelöst. Fallbeispiel 3 Eine junge Frau kleidet sich auch am Arbeitsplatz gern körperbetont. Dies verleitet einen Kollegen dazu, sie unentwegt anzustarren, heimlich oder ganz offen, ständig über sie zu witzeln, Geschichten über ihr angebliches Liebesleben zu erzählen und ironische Kommentare abzugeben. Die junge Frau fühlt sich beschämt, sprachlos, wütend und nervös. Obwohl sie deshalb ihren Kleidungsstil verändert, bleiben die Reaktionen des Kollegen bestehen.

Diese drei Beispiele, die für unseren Zweck absichtlich vereinfacht wurden, haben eines gemeinsam: Sie sind auf das gleiche Phänomen zurückzuführen, das der sexuellen Belästigung. Es spielt dabei keine Rolle, ob das Opfer psychosomatische Schäden davonträgt, ob es körperlich berührt wird oder ob der Belästiger mentale Störungen hat. Sexuelle Belästigungen werden häufig von Vorurteilen begleitet. Zwei klassische Vorurteile, die sich nicht unbedingt so in der Wirklichkeit abspielen müssen, sind, dass der Belästiger immer ein Mann ist und immer von sexuellen Triebgedanken geleitet wird. Zwar ist es recht selten, dass ein Mann von einer Frau sexuell belästigt wird, doch kommt es durchaus vor, dass männliche Patienten in meiner Praxis auftauchen und erzählen, sie würden beispielsweise von ihrer Arbeitgeberin sexuell belästigt. Das größte Problem in solch einem Fall ist, dass die Männer keinen Anwalt finden, der ihr Recht vertritt, da sie aufgrund der bestehenden Vorurteile kaum eine Chance vor Gericht haben. Im Film »Disclosure« von Barry Levinson (1994) wird genau diese Situation geschildert: Ein Mann wird von seiner Vorgesetzten sexuell belästigt. Als er auf ihre sexuellen Annäherungen abweisend reagiert, kehrt die Vorgesetzte den Tatbestand dem Vorurteil entsprechend einfach um und bezichtigt ihn, den Mann, der sexuellen Belästigung. In dem Film sagt die Rechtsanwältin des Angeklagten: »Sexuelle Belästigung hat nichts mit Sex zu tun, sondern ist ein Ausdruck der Macht.« Meiner Erfahrung nach handelt es sich bei sexueller Belästigung jedoch nicht nur um einen Ausdruck von Macht. Fast immer ist die Libido (der Sexualtrieb) mit im Spiel, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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wenn es um solch ein Verhalten geht. Ist dies nicht der Fall, haben wir es mit einem anderen Konflikt zu tun, beispielsweise mit dem sexuellen Mobbing,1 bei dem im siebten Parameter als Ziel die Verfolgungsabsicht anstelle eines von der Libido gesteuerten Verhaltens steht. Das bedeutet, dass die feindseligen Handlungen zwar sexueller Art sind, aber nicht, um eine vom sexuellen Trieb gesteuerte Befriedigung zu erreichen, sondern um das vom Mobbing vorgegebene Ziel zu erlangen (also dem Opfer Schaden zuzufügen, das Opfer zu belästigen, dem Opfer Unbehagen zu schaffen, den Ruf des Opfers zu schädigen usw.). Es gibt darüber hinaus äußerst seltene Fälle von sexuellem Straining, bei denen das Opfer am Arbeitsplatz eine einzige auf Sexualität beruhende Handlung mit einem anhaltenden negativen Effekt erleidet (wie beispielsweise das Anbringen pornografischer Bilder im Büro hinter dem Opfer). Mit dem Ausdruck »sexuelle Belästigung« beschreibt man ein schädigendes Verhalten mit sexuellen Absichten, welches von einer oder mehreren Personen gegenüber einem Opfer verübt wird, das dieses Verhalten offenkundig ablehnt und dies klar zu verstehen gibt. Eine sexuelle Belästigung schließt auch ein auf Sexualität beruhendes Verhalten ein, das in einem unpassenden Zusammenhang stattfindet (Ege, 2005, S. 140).

Bei einer sexuellen Belästigung geht es also gemäß Definition um eine aktive, das heißt weder passive noch durch das Umfeld bedingte Handlung, die für das Opfer schädigend und von diesem unerwünscht ist. Am Anfang steht immer eine Annäherung, zunächst gekennzeichnet durch zurückhaltendes Verhalten, um das Vertrauen und die Sympathie des Opfers zu gewinnen. Dabei unterscheidet sich das Verhalten zuerst nicht von dem eines ganz normalen Verehrers. Erst wenn das (zukünftige) Opfer den »Anwärter« ablehnt, ändert sich dessen Verhalten schlagartig. Ab dem Augenblick, in dem das Opfer sein Missfallen geäußert hat, kann man berechtigterweise von 1 Nähere Informationen zu sexuellem Mobbing siehe Ege, 1997, S. 93, und Ege, 2002, S. 21.

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Belästigung sprechen. Der Belästiger wird nun immer aufdringlicher und beharrlicher, drängt sich immer mehr auf. Oft verliert das ursprüngliche Ziel an Bedeutung gegenüber den Rachegelüsten für die Ablehnung, die der Belästiger meistens persönlich nimmt und die sein Verhalten nun häufig verstärkt leiten (auch wenn das Triebverhalten weiter im Vordergrund steht). Wie beim Stalking lässt sich die Grenze, ab der die sexuelle Belästigung beginnt, somit an dem Zeitpunkt festmachen, an dem das zukünftige Opfer seine Ablehnung kundtut. Das Opfer ist erst dann Opfer, wenn es zu erkennen gegeben hat, dass es Handlungen erleidet, die es nicht wünscht. Erst durch die negative Wahrnehmung wird das Buhlen um die Gunst und jegliches weitere drängende Verhalten zur Belästigung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nur nicht erlaubtes Verhalten eine Belästigung darstellen kann. Nur das Opfer kann bestimmen, ob etwas erwünscht oder unerwünscht ist, und muss dies offen und deutlich kundtun (besonders wichtig ist dies im Hinblick auf ein eventuelles gerichtliches Nachspiel), um so zu verhindern, dass der Verehrer eine ausbleibende Reaktion als Zustimmung deuten könnte. Denn es ist durchaus auch denkbar, dass es zuerst zu einvernehmlichen Handlungen kommt und der Verehrer plötzlich damit erpresst wird, dass man gar nicht einverstanden gewesen sei ‒ ein Verhalten, das zumeist aus Rache geschieht. Zur oben genannten Definition gehört, dass das auf Sexualität beruhende Verhalten in einem unpassenden Zusammenhang stattfinden kann. Dies betrifft all jene Situationen, bei denen eine sexuelle Belästigung urplötzlich und überraschend auftritt, ohne dem Opfer die Zeit zu lassen, das Verhalten zurückweisen zu können. Ein Beispiel hierfür ist die scheinbar zufällige Berührung im überfüllten Straßenbahnwagen. In derartigen Situationen ist der Zusammenhang selbst, in dem die Handlung sich ereignet, unpassend. Aus diesem Grund kann auch der Arbeitsplatz als unpassender Zusammenhang bezeichnet werden. In den diesem Unterkapitel vorangestellten drei Fallbeispielen werden zwei unterschiedliche Kategorien von sexueller Belästigung gezeigt: eine körperliche sexuelle Belästigung (im ersten Fallbeispiel) und eine psychologische sexuelle Belästigung (im zweiten und dritten Fallbeispiel). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Eine komplett andere Sache stellt die sexuelle Gewalt dar, die in einer zu Ende geführten sexuellen Belästigung zum Tragen kommen kann. Das einzige Ziel des Aggressors besteht in der Befriedigung der Libido ‒ ein Ziel, das er verfolgt, ohne sich des psychophysischen Schadens, den er verursacht, bewusst zu werden (unabhängig davon, ob er das Opfer kennt oder nicht). Er schreckt auch vor Drohungen und Verbalattacken nicht zurück. Das Opfer wird meist erniedrigt und verletzt, sehr oft traumatisiert und steht oft unter Schock. Es benötigt meist professionelle Hilfe (Psychologe, Psychiater), um sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. In Tabelle 20 werden die beiden Kategorien psychologische sexuelle Belästigung und körperliche sexuelle Belästigung der sexuellen Gewalt gegenübergestellt. Tabelle 20: Vergleich zwischen sexueller Belästigung und sexueller Gewalt (vgl. Ege, 2005, S. 142) psychologische sexuelle Belästigung

körperliche sexuelle Belästigung

sexuelle Gewalt

Verhalten des Täters

belustigtunerzogen

unerzogenaggressiv

aggressivgewalttätig

Verhaltensausrichtung des Täters

verbale und nonverbale Kommunikation

nichtsexueller körperlicher Kontakt

sexueller körperlicher Kontakt

Handlungsarten

Witze, Andeutungen, vulgäre Gesten und Worte, Zeigen von pornografischem Material, Exhibitionismus

verstecktes Streifen oder Berühren des Körpers (nicht zwangsläufig auch der Geschlechtsorgane) des Opfers

(versuchte) Vergewaltigung, Schlagen, Beschimpfen, Drohen

Folgen für das Opfer

Ärger, Verbitterung, Ekel

Ekel, emotionaler Schock, starke negative Emotionen

Trauma, Schock, psychische Störungen, posttraumatische Belastungsstörung

Ziel des Täters

indirekte sexuel- direkte oder inle Befriedigung direkte sexuelle Befriedigung

direkte sexuelle Befriedigung, Geschlechts­ verkehr

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Es ist allerdings wichtig zu unterstreichen, dass durch die gesellschaftliche Ächtung sexueller Belästigung dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet wird. So wird zum Beispiel immer wieder einmal einer Person eine angebliche sexuelle Belästigung unterstellt, um dieser zu schaden und selbst einen Vorteil aus diesem Schaden zu ziehen (etwa um eine Gehaltserhöhung zu erpressen, eine schnelle Scheidung mit hohen Alimenten durchzusetzen oder den Ex-Partner im gesellschaftlichen Ansehen zu ruinieren). Der Angeklagte kann dabei alles verlieren, nicht nur seinen Besitz (um die Prozesskosten zu bezahlen), sondern auch sein Ansehen und seine Glaubwürdigkeit, was bedeuten kann, dass sich Familie und Freunde von ihm abwenden und der Betroffene seinen Job einbüßt. Nicht selten wählen der sexuellen Belästigung bezichtigte Menschen den Freitod, weil sie ihr Leben nicht mehr als lebenswert erachten, da ihnen immer und überall ein Stempel aufgedrückt wird und sie nicht mehr Fuß fassen können. Daher ist es wichtig, als Experte zwischen einer Unterstellung und einem tatsächlich nachweisbaren Tatbestand unterscheiden zu können, um mögliche Manipulationen bereits im Vorfeld ausschalten zu können. Psychologische sexuelle Belästigung Die Besonderheit dieser Form der Belästigung liegt in der Tatsache, dass wir keinen körperlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer haben. Psychologische sexuelle Belästigung bedeutet in erster Linie verbale und nonverbale Handlungen wie Sprüche oder Witze mit obszönen Inhalten, Kommentare zur Kleidung des Opfers, Andeutungen oder Verbreiten von Klatschgeschichten über das Intimleben oder sexuelle Vorlieben, vulgäre Gesten oder Sprache, aggressive Ausdrücke, die auf Vorurteilen beruhen (»du hast dich hochgeschlafen«, »Mädchen mit Miniröcken zielen es nur darauf ab«). Seltener dagegen sind das Zeigen von pornografischem Material oder der Genitalien. Da es sich meist um banales Geschehen handelt, wird es oft weder vom Täter noch vom Opfer als psychologische sexuelle Belästigung wahrgenommen. Umgekehrt lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass eine derartige sexuelle Belästigung weitaus häufiger vorkommt als bislang bekannt. Stellen wir uns folgendes Beispiel vor: In einem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Großraumbüro wird unter den männlichen Kollegen zum Leidwesen einer Kollegin ein »schmutziger Witz« erzählt. Im Normalfall wird diese Kollegin dann sagen, dass sie diese Art von Witzen nicht komisch finde und man sie unterlassen solle, was dann auch geschieht. Stellen wir uns dagegen vor, dass die Kollegen diesen Hinweis nicht verstanden haben und an den darauffolgenden Tagen immer wieder einen Witz dieser Art erzählen. Ohne es wahrzunehmen, betreiben sie eine sexuelle Belästigung. Die Kollegen denken, dass sie nur scherzen würden und unschuldig seien, doch de facto handelt es sich um eine psychologische sexuelle Belästigung. Das Beispiel der schmutzigen Witze zeigt zudem eine Vorliebe der psychologischen sexuellen Belästiger: den Arbeitsplatz. Am Arbeitsplatz ist das Opfer während der gesamten Arbeitszeit gezwungen, in der Nähe des Belästigers zu bleiben, und dieser kann sich seinerseits hinter den anderen verstecken mit der Ausrede, dass er doch nur sympathisch wirken wolle. Er ist sich seiner Tat oft nicht einmal bewusst. Wie alle sexuellen Belästiger bezweckt auch der psychologische Belästiger eine sexuelle Befriedigung, allerdings sehr indirekt. Er zielt nicht auf Geschlechtsverkehr ab oder darauf, mit seinem Opfer auszugehen. Auch wenn er damit vielleicht nur vor den Kollegen punkten wollte, handelt es sich im Unterbewusstsein doch um ein sexuelles Triebverhalten. Dass dieses Verhalten oft vor Dritten ausgeführt wird, zeigt umso deutlicher, dass es von keinerlei Schuldbewusstsein begleitet wird. Das Opfer von psychologischer sexueller Belästigung fühlt sich häufig belästigt, empört und erschöpft. Es kommt auch oftmals zu Ekel- oder Ohnmachtsgefühlen. Es gibt darüber hinaus aggressivere Reaktionen des Opfers wie Zorn oder Wut, speziell am Arbeitsplatz, wo das unerwünschte sexuelle Verhalten störend sein kann und Verlegenheit beim Opfer auslöst. Bei stetiger Fortsetzung ist die Belästigung ein bedeutender Stressor für das Opfer und nicht weniger schwerwiegend als andere anhaltende Stressoren. Das wiederum hat Folgen für das psychophysische Gleichgewicht, die sich in psychosomatischen Störungen wie Schlafstörungen, Verdauungsproblemen, Stimmungsschwankungen, Angststörungen und Störungen im Sexualbereich zeigen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Körperliche sexuelle Belästigung Wie der Name schon besagt, handelt es sich bei körperlichen sexuellen Belästigungen um einen körperlichen Kontakt, den der Belästiger zu seinem Opfer sucht. Im Gegensatz zur psychologischen sexuellen Belästigung genügt es dem Belästiger nicht, zweideutige Scherze zu machen, sondern er verfolgt einen sehr viel direkteren Weg zum Opfer. Es kann der körperlichen sexuellen Belästigung eine psychologische sexuelle Belästigung vorausgegangen sein; so kommt es vor, dass der psychologische sexuelle Belästiger aufgrund einer Ablehnung zu einer körperlichen Belästigung übergeht. Es geschieht sehr selten, dass die körperliche sexuelle Belästigung öffentlich stattfindet. Der Täter passt entweder auf, dass er nicht gesehen wird, oder er lässt die Belästigung als zufällige Berührung erscheinen. Deshalb ist die körperliche Belästigung am Arbeitsplatz weniger verbreitet als die psychologische. Die meistverbreiteten Handlungen der körperlichen sexuellen Belästigung sind das zufällige Berühren oder Streicheln eines Körperteils (hauptsächlich in der Menschenmenge, betroffen sind nicht unbedingt Geschlechtsteile), Grapschen, vorgeblich harmlos gemeinte Gesten mit Körperkontakt (Umarmen, um zu gratulieren; Rückenstreicheln, um jemanden moralisch aufzupäppeln; einen Klaps auf den Hintern als Scherz usw.). Die Folgen für das Opfer sind in der Regel entweder ebenso schlimm wie bei anhaltender psychologischer sexueller Belästigung oder gar schlimmer. Der Belästigte reagiert oft mit Ungläubigkeit bis hin zum emotionalen Schock, was auch langfristige Folgen für ihn haben kann (sich z. B. dauerhaft auf sein Verhalten oder sein Selbstwertgefühl auswirken kann). Für viele Menschen stellt ein körperlicher Kontakt ein Tabu dar. Eine Überschreitung dieses Tabus bedeutet nicht selten, dass das Opfer sich in seiner körperlichen Unversehrtheit, Freiheit oder Würde verletzt fühlt. Sexuelle Gewalt Sexuelle Gewalt ist nicht nur das Opfer betreffend, sondern auch strafrechtlich weitaus schwerwiegender als sexuelle Belästigung. Sie setzt in der Regel voraus, dass der Täter sein Opfer zum körperlichen Kontakt bis hin zum Geschlechtsverkehr zwingt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Am Arbeitsplatz geschehen Vergewaltigungen oder Vergewaltigungsversuche recht selten. Der Grund hierfür ist profan: Der Täter möchte nicht erkannt, bei der Tat nicht beobachtet werden. Auf der Arbeitsstätte ist dies selten möglich. Deshalb kommt es hauptsächlich im Freien und in der Nacht zu (versuchten) Vergewaltigungen. Es kommt vor, dass der Täter sein Opfer bereits kennt und seine Tat entsprechend plant. Das ist für das Opfer in vielen Fällen besonders schlimm ‒ so in Fällen von sexuellen Übergriffen innerhalb der Familie, oftmals in den eigenen vier Wänden. Meist wählt der Sexualtäter das Opfer jedoch zufällig aus (es befand sich sozusagen zur falschen Zeit am falschen Ort). In vielen Fällen zeigt das Opfer die Vergewaltigung aus Scham nicht an, weshalb von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Das Verhalten des Täters ist in jedem Fall aggressiv und gewaltsam. Sein einziges Ziel ist es, dem Opfer eine unerwünschte sexuelle Handlung aufzuzwingen. Dem Täter ist dabei meistens bewusst, dass er eine kriminelle Handlung begeht. Deshalb ergreift er gewöhnlich mit Bedacht Vorsichtsmaßnahmen (wie Spurenverwischen, Alibikonstruktionen, nächtliche Aktionen usw.). Es gibt jedoch auch krankhafte Triebtäter, denen ein Unrechtsbewusstsein fehlt, oder Täter, die unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen stehen. Das Opfer einer Vergewaltigung hat sehr viel dramatischere Folgen zu erdulden als das einer sexuellen Belästigung. Neben psychischen Störungen kann es einen traumatischen Schock bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung erleiden, deren Folgen oft sehr langfristig, wenn nicht sogar permanent sind.

4.2 Straining und Stress Fallbeispiel 1 Dieter arbeitete in der Verwaltung eines IT-Unternehmens. Seine Karriere verlief für ihn lange zufriedenstellend. Er hatte (wie auch seine Kollegen) die anstehenden Beförderungen und Gehaltserhöhungen durchlaufen. Es war zwar nicht das, was man eine steile Karriere nennen würde, aber ein Vorankommen in kleinen Schritten. Nach über zehnjähriger Firmenzugehörigkeit wurde das Unternehmen an einen neuen Besitzer, eine ausländische Holdinggesellschaft,

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verkauft, die das Unternehmen, in dem Dieter beschäftigt war, in ihre Holding-Organisation eingliedern wollte. Die Vorstellungen des neuen Eigentümers waren recht eindeutig: Rationalisierung und Einsparung. Allerdings haperte es bei der Durchführung deutlich, sodass ein entsprechendes Chaos in der Firma herrschte. Jeder hatte das Ziel vor Augen, doch keiner kannte den Weg, auch die neuen Manager nicht. Es gab auch kein neues Organigramm, sodass niemand, einschließlich Dieter, so recht wusste, wohin er jetzt gehörte. Jeder musste mehr oder weniger alles abarbeiten, was eben im Moment anfiel. Von Dieters bisherigen Verwaltungsaufgaben blieb nicht viel übrig, da viele Dinge jetzt in die Zentralverwaltung ausgelagert wurden. Vom neuen, von der Holdinggesellschaft entsandten Direktor wurden Angestellte, deren vorheriges Tätigkeitsfeld wegfiel, ins Lager oder in andere Filialen entsandt. So wurde Dieter kurzfristig zum Fotokopieren abgestellt, um umfangreiche Ordner aus dem Archiv zu vervielfältigen. Im Anschluss musste er Teile des Archivs neu dokumentieren, später dann in die Telefonzentrale, um Kundenwünsche entgegenzunehmen usw. So wechselte Dieter ständig seinen Wirkungskreis. Diese Situation dauerte fast ein Dreivierteljahr an, bis man ihm und einigen ebenso betroffenen Kollegen anbot, einen geringer dotierten Arbeitsvertrag zu akzeptieren oder zu kündigen. Da für Dieter weder die eine noch die andere Option akzeptabel war, lehnte er wie viele seiner Kollegen ab. Die Kollegen, die akzeptierten, wurden in andere Unternehmen der Gruppe weitervermittelt. Dieter blieb hingegen unverändert der Planlosigkeit, was seine Tätigkeiten betraf, ausgesetzt. Er hielt schließlich den Belastungen nicht mehr stand und entwickelte immer mehr psychosomatische Störungen. Seine Anfragen, sich wieder seinen verwaltungstechnischen Aufgaben widmen zu dürfen, wurden immer mit dem gleichen Satz quittiert: neuer Arbeitsvertrag oder Kündigung. Dies brachte Dieter in eine derart schwere Krise, dass er eine depressive Angststörung erlitt, die zu immer längeren Krankheitsständen führte.

Bei Dieters Leidensgeschichte stellt sich sogleich die Frage, wie der erlebte Konflikt zu definieren ist. Nach der Sieben-ParameterMethode können sowohl Mobbing als auch Stalking oder sexuelle Belästigung ausgeschlossen werden, da eine Verfolgungsabsicht als Ursprung des Konflikts ausgeschlossen werden kann. Straining © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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dagegen scheint eher zuzutreffen, aber wir haben keine Diskriminierung, da sich alle übernommenen Angestellten des Unternehmens in der gleichen Lage wie Dieter befinden. Die Antwort auf die Frage ist gut in einen umgangssprachlichen Begriff zu fassen: Dieter leidet unter dem Stress, der sich nach der Veräußerung des Unternehmens gebildet hat. Stress ist kein Konflikt, auch keine Verfolgung. In den 1970er Jahren bezeichnete Stress Phänomene, die mit dem Wissen über Mobbing, das inzwischen besteht, als solches gedeutet werden. Da Stress gerade im Hinblick auf die beschriebenen Arbeitsplatzkonflikte des Mobbings, Strainings und Stalkings sehr verbreitet ist und es sich im Fallbeispiel Dieters um ein arbeitsplatzbezogenes2 Problem handelt, das gern mit Mobbing oder Straining verwechselt wird, wird das Phänomen Stress im Folgenden genauer in den Blick genommen. Stress ist nichts anderes als eine problematische Lage, die durch einen negativen Stimulus ‒ einen Stressor ‒ ausgelöst wird und bei dem unser Organismus und unsere Psyche versuchen, dagegen anzukämpfen. Es gibt zahlreiche Fachliteratur zum Thema Stress. Im Rahmen dieses Buches können lediglich die Hauptcharakteristiken des Stresses erörtert werden. Dabei konzentriere ich mich in erster Linie auf die arbeitsplatzrelevanten Auseinandersetzungen mit dem Begriff Stress in der einschlägigen Literatur. Janke und Wolffgramm (1995) sprechen über Stress als ein »psychosomatisches Ereignis, welches sich von seiner Stärke und/ oder Dauer von einer normalen intraindividuellen Situation (sog. Homöostase oder Gleichgewicht) unterscheidet und welche von gewissen äußeren oder inneren Reizen ausgelöst wird (Stressor)« (S. 294). Mit einfachen Worten ausgedrückt: Alles beginnt mit einem Reiz, unabhängig ob intern oder extern, welcher das psychologische Gleichgewicht stört. Das Gehirn reagiert mit dem Versuch, das Gleichgewicht wieder herzustellen, und leitet sozusagen wei2 Stress wird meistens mit dem Arbeitsplatz assoziiert, kommt aber auch in anderen Lebensbereichen vor, beispielsweise im Familienleben, in der Partnerschaft, im Freizeitbereich.

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tere Schritte ein. In einer ersten Bewertung versucht es, den Auslöser für die Gleichgewichtsstörung zu identifizieren. Wird dieser als Bedrohung eingeschätzt, befinden wir uns in einer Stresssituation. Aufgrund dieser leitet das Gehirn eine zweite Bewertung ein, bei der es alle Lösungsmöglichkeiten durchgeht und diejenige auswählt, die ihm als die beste erscheint. Dieser Prozess wird auch Coping genannt. Laut Lazarus (1967) gibt es zwei Copingstrategien: die emotionale (sich vom Problem entfernen, es ignorieren, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken, lügen usw.) und diejenige, die direkt an das Problem gebunden ist (wie eine aktive Änderung der Lage). Allerdings wirkt sich Stress nicht immer nur negativ aus. Er kann auch äußerst hilfreich sein. So trägt er dazu bei, konzentrierter, der Situation angemessener, produktiver und besser zu handeln. Dieser »positive Stress« wird in der Psychologie als Eustress bezeichnet und stellt auf organisatorischem Niveau eine unersetzliche Quelle dar. Deshalb wird in der Psychologie zwischen Eustress und Disstress unterschieden. Dabei bezeichnet Eustress (die Vorsilbe »eu-« beinhaltet im Griechischen gut, schön, heilend) alle positiven Einflüsse, die der Stress auf unser Verhalten haben kann (wie beispielsweise die Konzentrationssteigerung oder die Steigerung der Arbeitsleistung), während Disstress (die Vorsilbe »dys-« beinhaltet im Griechischen un-, miss-, übel-, schlecht-) die negativen Folgen des Stresses beschreibt (wie Müdigkeit, depressive Stimmungslaune, Gereiztheit, Schlafprobleme, Herz- und Atemstörungen usw.; bezüglich der Unterscheidung von Eu- und Disstress vgl. Michel u. Novak, 2001, S. 94). Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort Stress hingegen immer negativ verstanden, also als Synonym für Disstress. Die Schwierigkeiten entstehen in der Regel eigentlich nur, wenn das Stressniveau zu hoch ist, die Stresssituation über einen zu langen Zeitraum andauert, sich zu viele Stressoren bilden oder sich die Copingstrategie als nicht wirksam erweist. Gravierende Folgen für das psychophysische Gleichgewicht der Person sind bei längerem Andauern so gut wie unvermeidlich. Die Auswirkungen auf den Organismus können dabei unmittelbar oder mittel- bzw. langfristig sein und sich auf den Körper, die Wahrnehmung, das individuelle oder soziale Verhalten auswirken (siehe Tabelle 21). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Tabelle 21: Negative Folgen von Stress (vgl. Bertelsmann Lexikon Psychologie, 1995, S. 474) negative Auswirkungen des Stresses

kurzfristig

mittel- und langfristig

auf den Körper

beschleunigter Herzschlag, erhöhter Blutdruck, Adrenalinausstoß (»Stresshormon«)

verschiedene psychosomatische Störungen (Bluthochdruck, Herz- und Herzkranzprobleme, Migräne, Störungen des Verdauungsapparates usw.)

auf die Wahrnehmung

Spannung, Frustration, Wut, Müdigkeit, Hoffnungslosigkeit

Unzufriedenheit, Enttäuschung, sozialer Rückzug, Depression

auf das individuelle Verhalten

Entwicklung von AbLeistungsschwankunhängigkeiten (Nikotin, gen, KonzentrationsAlkohol, Arzneien usw.) abfall, Anstieg der Fehlerquote, geringere Reaktionsfähigkeit und Beeinträchtigung motorischer Fähigkeiten

auf das Sozialverhalten

erhöhtes Konflikt- und Streitverhalten, Aggressivität, soziale Isolation, Tendenz, sich mit der Situation abzufinden

Durch die genauere Betrachtung der Folgen des (Dis-)Stresses wird deren Ähnlichkeit mit den Folgen, mit denen Opfer von Mobbing, Straining und Stalking zu tun haben, besonders deutlich. Das unterstreicht die Tatsache, dass die in den vorherigen Kapiteln untersuchten Konfliktarten mit Formen des Stresses gleichzusetzen sind – jedenfalls was die negativen Auswirkungen auf den Körper und das Verhalten betrifft. Straining, Mobbing oder Stalking sind nichts anderes als Stressoren, das heißt Auslöser für die jeweils aufgeführten negativen Folgen, die die Opfer erleiden. Dadurch, dass die Stressoren bei Straining, Mobbing oder Stalking jedoch sehr viel stärker sind als in anderen Stresssituationen, sind auch die Folgen schwerwiegender und die Lösungen komplizierter. Die Wirkung entspricht jedoch derjenigen, die in der Stressforschung beschrieben wird. Das heißt also: Straining, Mobbing oder Stalking sind zwar selbst kein Stress, können diesen aber auslösen, indem sie als Stressoren agieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Straining und Stress163

Man darf niemals den Fehler machen, die Schwere des Stressors nur von den Folgen abzuleiten. Bei den Folgen spielen sehr viele Faktoren mit, beispielsweise der Charakter der Person, sein Wahrnehmungsvermögen oder seine Urteilsfähigkeit. Auf ein und denselben Stressor kann die eine Person mit Offenheit, Ruhe und Gelassenheit reagieren und sich dementsprechend eine Coping­ strategie zurechtlegen, die das Problem direkt angeht, während eine andere Person sehr emotional reagiert und im Chaos versinkt. Für den einen stellt ein Umstand ein schwerwiegendes Problem dar, was für den anderen lediglich eine Banalität ist. Es sei an dieser Stelle nochmals an das erinnert, was bereits im Kapitel über Stalking und jenem über sexuelle Belästigung betont wurde: Ein Verhalten wird erst dadurch zur Belästigung, dass es vom Opfer als eine solche empfunden wird. Jeder, der an Stress am Arbeitsplatz denkt, hat eine Überbeschäftigung im Kopf. Dies ist eine sehr geläufige Vorstellung von Stress. Wer am Arbeitsplatz mit Zeitdruck oder einer übermäßigen Arbeitsmenge konfrontiert wird, der gerät tatsächlich in Stress. Stellen wir uns vor, dass wir in einer bestimmten Zeit eine Arbeit fertigstellen müssten (etwa bei einer Prüfung an der Universität), bei der man zu lange über einer Aufgabe brüten müsste; dass wir am Arbeitsplatz mehrere Arbeitsaufgaben gleichzeitig zu erledigen hätten oder dass wir vor einem Problem ständen, dessen Lösung wir nicht wüssten. Klassisches Beispiel ist der Angestellte, der hinter einem riesigen Berg von Unterlagen an seinem Schreibtisch verzweifelt. All dies sind Beispiele von Stresssituationen, die auf Überbeschäftigung zurückzuführen sind. Es gibt aber auch Stress, der durch Unterbeschäftigung ausgelöst wird. Dieser kommt beispielsweise beim Straining vor, wenn jemand in eine Lage versetzt wird, in der er gezwungen wird, nichts zu tun, zum Beispiel weil ihm Arbeitsaufgaben oder -instrumente weggenommen wurden oder weil er von den Kommunikationskanälen abgeschnitten wurde. Auch ein Zuwenig an Arbeit, die fehlende Anforderung kann Stress auslösen. Wir fühlen uns dann nicht ausgefüllt, so wie ein Auto, bei dem der Motor zwar funktioniert, die Gänge jedoch nicht. Der Motor kann im Standgas genauso heiß laufen wie bei zu hoher Drehzahl. Auch wenn dies paradox erschei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

nen mag, ist diese Art von Stress den meisten Personalabteilungen bekannt. Sie wissen, dass ein Arbeitnehmer, der nicht ausgelastet ist, leicht zu depressiver Laune neigt, sich nutzlos oder vergeudet fühlt und nicht einmal das Wenige schafft, das er zu leisten hätte. Dieser Arbeitnehmer ist gestresst. Stress durch Unterbeschäftigung tritt oft bei Arbeitslosen auf sowie bei Menschen, die monotone oder zu einfache Arbeitsaufgaben zu erledigen haben, die ihre Kreativität im Beruf nicht ausleben können, die keine Verantwortung übernehmen können, obwohl sie dies gern täten, die wirtschaftlich von anderen abhängig sind, die degradiert wurden oder deren Karriere in irgendeiner Weise blockiert ist. Stress als Folge von einer Degradierung ist sehr verbreitet, und zwar unabhängig davon, ob die Degradierung ein Teil von Straining oder Mobbing ist oder nicht. Es sollte zwischen zwei Arten von arbeitsplatzbezogenem Stress unterschieden werden: Stress, der mit der Natur der Arbeit zusammenhängt, und organisatorischer Stress. Die erste Art Stress finden wir bei Berufen vor, die stressig sind, entweder aufgrund der Verantwortung, die sie mit sich bringen (Busfahrer, Chirurg, Flugzeugpilot, Bankangestellter am Kassenschalter, Polizeibeamter usw.), oder durch die Ausrichtung der Arbeit (saisonale Höhepunkte mit Extraarbeit, Arbeit in schwierigen Situationen, gefährliche Arbeiten, Leistungsdruck usw.). Die zweite Stressart entsteht durch organisatorische Probleme, zum Beispiel durch ungünstig gestaltete Arbeitsabläufe. So kann eine schlechte Arbeitsverteilung zu Stress führen (in dem einen Büro müssen alle Überstunden machen und im Büro nebenan hat man nichts zu tun) oder auch, dass nicht genügend Pausen, schlechte Arbeitszeiten oder Schichten vorgesehen sind, dass die Arbeitsaufgaben zu leicht, zu kompliziert oder zu gefährlich sind, dass die erforderte Leistung nicht den realen Bedingungen entspricht, dass keine Schulung für die geforderten Arbeitsaufgaben erfolgt ist oder dass zu wenig Personal vorhanden ist. Wie bereits erwähnt, hängt das Stressniveau auch sehr stark vom Charakter des Betroffenen ab und nicht nur vom Stressor. Wenn in einem Betrieb durch wirtschaftliche Schwierigkeiten Kurzarbeit angesagt ist, kann dies für einen ambitionierten, auf Karriere ausgerichteten Arbeitnehmer eine stressige Angelegenheit sein, während © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Straining und Stress165

sein Kollege vielleicht ganz froh darüber ist, etwas mehr Freizeit zur Verfügung zu haben. Außerdem gibt es Ereignisse im Leben, die ein gewisses Stressniveau besitzen. Holmes und Rahe (1967) haben eine Liste von 43 Lebensereignissen mit Stresspotenzial, das heißt von Stressoren, erstellt, deren Stressniveau sie für die jeweils betroffene Person festgelegt haben (Social Readjustment Rating Scale, siehe Tabelle 22). Tabelle 22: Die Social Readjustment Rating Scale von Holmes und Rahe (1967) Tod des Ehepartners

100

Scheidung

73

Ehetrennung

65

Gefängnisaufenthalt

63

Tod eines nahen Verwandten

63

Unfall oder Krankheit

53

Hochzeit

50

Verlust der Arbeit

47

Versöhnung mit dem Partner

45

Pensionierung

45

Krankheit eines nahen Verwandten

44

Schwangerschaft

40

sexuelle Probleme

39

Geburt eines Sohnes/einer Tochter

39

Änderung der Arbeitsaufgaben/Position

39

finanzielle Schwierigkeiten

38

Tod eines Freundes

37

neues Arbeitsumfeld

36

Vermehrung von Streit in der Familie

35

Kredit oder hohe Schulden

31

rechtliches Vorgehen wegen Schulden

30

Änderung der Arbeitsverantwortung

29

Söhne/Töchter ziehen aus

29

Schwierigkeiten mit Verwandten

29

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Außerordentliches persönliches Ergebnis

28

Ehepartner beginnt zu arbeiten oder beendet sein Arbeitsverhältnis 26 Beginn oder Ende der Schule

26

Änderung der Lebensbedingungen

25

Änderung der persönlichen Gewohnheiten

24

Schwierigkeiten mit einem Vorgesetzten

23

Änderung der Arbeitszeiten und -bedingungen

20

Umzug

20

Schulwechsel

20

Änderung der Freizeittätigkeiten

19

Änderung der religiösen Tätigkeiten

19

Vermehrung oder Verminderung der sozialen Tätigkeiten

18

Kredit oder mittelmäßige Schulden

17

Vermehrung oder Verminderung der Stunden des Schlafes

16

Veränderung der Häufigkeit der Familienkontakte

15

Veränderung der Ernährungsgewohnheiten

15

Urlaub

13

Weihnachten

12

geringe Gesetzesverstöße

11

Die Social Readjustment Rating Scale von Holmes und Rahe (1967) zeigt, dass der Verlust der Arbeit und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit ein sehr hohes Stresspotenzial enthalten, das nur wenig unter dem von traumatischen Ereignissen wie dem Tod eines Verwandten oder dem von eigenen Gesundheitsproblemen liegt (vgl. Tabelle 22). Dies unterstreicht einmal mehr den hohen gesellschaftlichen Stellenwert der Arbeit und die soziale Ausgrenzung von denjenigen, die diese verlieren. Auch Rentner sehen sich potenziell einer ähnlichen Situation gegenüber wie Arbeitslose, aber im Gegensatz zum Arbeitslosen weiß der Rentner, was ihn erwartet, er kann sich darauf vorbereiten. Vor allem muss er sich keine neue Arbeit suchen und fällt wirtschaftlich nicht ins Bodenlose, da er Rente bezieht (wenn auch häufig eine kleine). In der Liste von Holmes und Rahe (1967) findet sich der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Straining und Stress167

Ruhestand dennoch unter den Stressoren, und zwar nur leicht unter dem Verlust des Arbeitsplatzes; sie sehen den Ruhestand als einen Stressor vergleichbar mit Ereignissen wie einer Schwangerschaft oder der Krankheit eines nahen Verwandten an. Mittelmäßiger Stress wird laut der Stressorenliste bei einer Veränderung der Arbeitsaufgaben oder -stellung, aber auch bei einer Degradierung wie beim Straining ausgelöst, dessen Stressniveau etwas höher liegt als der Beginn einer neuen beruflichen Tätigkeit oder eine Änderung der Verantwortung. Etwas weniger Stress, der aber immer noch auf einem mittelmäßigen Niveau angesiedelt ist, ergibt sich bei Schwierigkeiten mit einem Vorgesetzten, eine Situation, wie sie sich oft beim Mobbing einstellt. Als weniger stressig erweisen sich dagegen das Ändern der Arbeitsbedingungen oder -zeiten. Wie wir sehen, stammt die Stressorenauswertung von Holmes und Rahe bereits aus dem Jahre 1967 und bezieht sich somit nicht auf aktuelle Verhältnisse. Dennoch kann sie weiterhin als ein wichtiger Beitrag zur objektiven Bewertung des Stresses, speziell desjenigen am Arbeitsplatz, angesehen werden. Der Hauptunterschied zwischen Stress auf der einen und Mobbing und Straining auf der anderen Seite liegt vor allem darin, dass mit Stress zusammenhängende Konflikte verallgemeinerbar sind, das heißt nicht nur eine Person betreffen, sondern zum Beispiel eine veränderte Situation am Arbeitsplatz, die sich allgemein auf alle Mitarbeiter auswirkt. Am zu Beginn dieses Unterkapitels beschriebenen Fallbeispiel von Dieter (Fallbeispiel 1) wurde deutlich, dass sich viele in derselben Situation wie Dieter befanden. Dieters Konflikt ist verbreitet, kommt vor allem in Betrieben mit finanziellen Schwierigkeiten oder strukturellen Veränderungen oder bei Besitzwechsel häufig vor. Alle sitzen im gleichen Boot, das heißt, jeder verspürt den gleichen Druck. Genau darin unterscheiden sich die Situation Dieters und ein allgemeiner Stress am Arbeitsplatz von solchen Konflikten, bei denen es sich um eine Diskriminierung und Verfolgung eines einzelnen Opfers handelt.

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Fallbeispiel 2 Hans-Peter ist ein Organisationstalent. Er arbeitet präzise, rasch und kann sich und andere optimal organisieren. Aus diesem Grund wurde er relativ schnell zuerst Verantwortlicher des Büros, dann der Abteilung und später des gesamten Bereichs. Hans-Peter arbeitet immer sehr viel, aber es macht ihm Spaß, da er ja die entsprechenden Leistungen erbringt und dementsprechend auch Erfolg hat. Trotz dieser Menge an Arbeit gelingt es Hans-Peter, sich immer etwas Zeit für die Familie oder die Freizeit zu reservieren. Auch nach den Beförderungen schafft er alles in der vorgegebenen Zeit, ohne übertrieben Überstunden in Anspruch zu nehmen. Er verzichtet nun auf die Kaffeepausen, geht zum Mittagessen nicht mehr nach Hause, sondern isst am Arbeitsplatz. Auch Kurzurlaube sind ihm nicht mehr möglich. Trotz allem gelingt es ihm, weder seine Familie noch seine Hobbys zu vernachlässigen. Er fühlt sich ausgelastet, aber nicht überlastet, ist zufrieden, weil seine Arbeit ihm Befriedigung verschafft und er sie liebt.

Durch die Karriere verlor Hans-Peter zwar seine Kurzurlaube und seine Kaffeepausen, aber letzten Endes konnte er das Mehr an Arbeit durch die gewachsene Verantwortung relativ gut wegstecken. Zudem musste er weder übermäßige Überstunden noch Einbußen im Freizeit- oder Familienbereich hinnehmen. Deshalb hatte Hans-Peter einen relativ »leichten« Stress zu verkraften, das heißt, dass dieser ihm keine größeren Schwierigkeiten bereitete und somit für ihn kaum vorhanden war. Bei einem tatsächlich für ihn und seine Gesundheit vorhandenen Stress hätte er ganz andere und schwerwiegende Folgen zu tragen gehabt. Er musste durch den Mehraufwand zwar auf kleine Dinge verzichten, aber die wichtigen Dinge in seinem Leben wie Freizeit oder Familie gingen weiter ihren gewohnten Gang. Ich habe 2005 dieses Phänomen, bei welchem eine Person zwar voll ausgelastet, aber nicht belastet ist, Cramming genannt, welches vom englischen Verb »to cram« abgeleitet ist und so viel wie »füllen« oder »vollstopfen« bedeutet (Ege, 2005). Vergleichbar wäre dieser Zustand etwa mit einem Aufzug, welcher mit einer Maximalbelastung von 1.000 Kilogramm arbeitet. Wird er von niemandem benutzt, ist er unnütz. Wird er regelmäßig mit einer Last von circa 900 Kilogramm benutzt, kann man von einer guten Auslastung spre© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Straining und Stress169

chen. Eine Belastung von knapp 1.000 Kilogramm hingegen kommt dem, was wir zuvor als »Cramming« bezeichnet haben, am nächsten, nämlich einer sehr guten Auslastung im erträglichen Bereich, auch bei dauerhafter Auslastung. Der Fahrstuhl ist sehr gut belastet, aber nicht zu sehr. Wird hingegen die 1.000-Kilogramm-Marke dauerhaft überschritten, so droht rasche Materialermüdung bis hin zum Kaputtgehen des Aufzugs wegen Überlastung. Beim Aufzug können die Stahlseile reißen, beim dauerhaft überlasteten Arbeitnehmer leidet die Gesundheit. Der ideale Arbeitsplatz ist derjenige, der den Arbeitnehmer qualitativ und quantitativ so einbettet, dass dies seiner Leistungsfähigkeit, Erfahrung und Ausbildung entspricht. Wird dieses Gleichgewicht qualitativ und/oder quantitativ in die eine oder andere Richtung verschoben (Erhöhung oder Verminderung), so wird nicht sofort ein Stressniveau erreicht, sondern eine Art Vorphase des Stresses, welche einem Anreiz entspricht, der sich aber innerhalb der Toleranzgrenzen bewegt und dem sich die betroffene Person problemlos anpassen kann. Als quantitatives Beispiel könnte hier eine Arbeitsperiode aufgeführt werden, bei der weniger Arbeit anfällt und die sehr angenehm sein kann, speziell unter dem Gesichtspunkt einer Regenerierung der Arbeitskraft; das kann allerdings auch auf eine Periode einer übermäßigen Arbeitsphase zutreffen, die eine Motivations- und Energiespritze sein kann. Hierbei kann man etwa an die Verteilung von Arbeitsaufgaben unter Kollegen denken, die dazu führt, dass der einzelne Kollege immer wieder einmal abschalten kann, oder auch daran, dass die Möglichkeit, sich einer schwierigen Arbeitsaufgabe zu stellen, als Herausforderung an die eigenen Fähigkeiten, sich zu zeigen und zu entwickeln, wahrgenommen werden kann. Je weiter sich eine derartige Situation jedoch davon, nur eine kurze Periode darzustellen, entfernt, desto weiter rücken wir in den Stressbereich vor (bei negativen Folgen in den Disstress, bei positiven Folgen in den Eustress). Cramming darf dagegen nicht mit diesen Stressarten verwechselt werden, da es eine andere Situation beschreibt. Abbildung 5 zeigt die Unterschiede genauer auf.

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

Schwelle des Crammings

Schwelle des Stresses

+ Arbeitsqualität

− Cramming

idealer Arbeitsplatz

Stress

Arbeitsquantität

+



Abbildung 5: Cramming und Stress im Vergleich (vgl. Ege, 2005, S. 157)

An einem idealen Arbeitsplatz gibt es sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Bereich weder zu viel noch zu wenig Arbeit. Sobald dieses Gleichgewicht gestört ist, wird zunächst die Schwelle zum Cramming überschritten, bei dem man mehr beansprucht wird, aber die Situation noch immer unter Kontrolle hat und sie somit tolerierbar ist. Geht die Beanspruchung und die Kontrollierbarkeit jedoch darüber hinaus, ist die Schwelle zum Stress und mit dieser der Anfang zum Unbehagen erreicht. Ein Arbeitnehmer, der täglich etwas mehr oder weniger zu tun hat, als es seinen Fähigkeiten oder seinem Können entspricht, ist demnach nicht gestresst, sondern gecrammt. Dies gilt auch für diejenigen, die hin und wieder über oder unter ihrer Qualifikation arbeiten, ohne davon Schaden zu nehmen oder unter den Folgen zu leiden.

4.3 Straining und Burnout Als Filialleiter besitzt Joachim nicht nur weitreichende Kompetenzen, sondern hat auch eine große Verantwortung aufgrund der hohen Geldsummen, mit denen er hantieren muss. Dadurch liegen automatisch weitreichende und wichtige Entscheidungen in seiner Hand. Es ist nachvollziehbar, dass man mit so viel Verantwortung und Entscheidungsgewalt gegenüber anderen Personen manchmal unsensibler und härter reagiert. Joachim ist permanenter Anspannung ausgesetzt, welche auch sein Freundeskreis und seine Familie, insbesondere seine Ehefrau

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Straining und Burnout171

Rebekka, zu spüren bekommen. Rebekka bemerkt, wie die Kommunikation mit ihrem Mann immer spärlicher wird. Das Intimleben der beiden kommt zu Erliegen. Erst nach über einem halben Jahr wird Joachim sich der Situation bewusst und sucht einen Arzt auf. Bei diesem Arztbesuch hört er zum ersten Mal von dem Wort »Burnout«. Er kann sich die Situation nicht erklären, da es für ihn normal erscheint, zu versuchen, um jeden Preis den maximalen Gewinn herauszuholen und er sich sicher ist, dass dies das Beste sowohl für sich selbst als auch für die Familie ist.

Wenn sich beim Durchlesen des Beispiels die Frage aufdrängen mag, warum Joachim so lange mit dem Arztbesuch gewartet und die Anzeichen für seinen Burnout nicht erkannt hat, muss festgestellt werden, dass es ein weitverbreitetes Ziel in der westlichen Leistungsgesellschaft ist, dass allein Geldverdienen und Karriere wichtig seien und der gesundheitliche Aspekt vernachlässigt werden könne oder sogar sollte. Der emotionale Aspekt sowie die psychischen und physischen Bedürfnisse werden zunehmend in dem Bestreben hinten angestellt, dass der Mensch wie ein Roboter zu funktionieren habe. Die bei weitem wichtigeren sozialen und emotionalen Erfordernisse werden zunehmend abgeschaltet. Doch dieses Verleugnen der menschlichen Psyche und Natur fordert irgendwann seinen Tribut – wie bei Joachim. Dann geschieht es, dass man wie dieser den Kontakt zu sich selbst und seinen Nächsten verliert und schließlich dem Burnout-Syndrom erliegt. Wie beim Stress handelt es sich auch beim Burnout nicht um eine Konfliktart, sondern um eine psychophysische Folge einer unangenehmen oder konfliktbehafteten Situation. Es dreht sich dabei um ein Syndrom der emotionalen Erschöpfung. Übersetzt werden kann der Begriff mit der Beschreibung »ausgebrannt sein«, doch hat sich die Bezeichnung »Burnout« in den letzten Jahren immer mehr eingebürgert. Die psychologische Definition des Burnouts (manchmal auch Burn-out) ist relativ jung und stammt von der Amerikanerin Christina Maslach (1982). Diese entwickelte einen psychologischen Test und Kriterien zur Bemessung des Phänomens Burnout, das sogenannte Maslach Burnout Inventory (MBI). Später hat Maslach zudem den Kerncharakter des Burnouts herausgearbeitet: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

»Burnout kommt nicht von einer genetischen Veranlagung zur Reizbarkeit, zur Depression oder zur Schwäche im Allgemeinen. Es wird nicht durch ein individuelles Scheitern oder normalen Ehrgeiz verursacht. Es ist kein Persönlichkeitsfehler oder klinisches Syndrom. Es ist ein arbeitsplatzbezogenes Problem« (Maslach u. Leiter, 1997, S. 34, eigene Übersetzung). Auf Basis dieser Definition kann festgehalten werden, dass Burnout die Folge eines Problems am Arbeitsplatz ist, wie es auch bei Straining und Mobbing auftreten kann, aber im Gegensatz zu den beiden Konfliktarten beschreibt Burnout eine individuelle Reaktion (Verhalten, Gefühle usw.) auf das Problem. Diese Reaktion wird daher auch als ein Syndrom bezeichnet, welches vom Stress herrührt. Whiton Stewart Paine war derjenige, der im selben Jahr, in dem Maslach den Begriff Burnout einführte, vom »Burnout Stress Syndrom« sprach und es als »ein Knäuel von Gefühlen und Verhaltensweisen, die gewöhnlich in sehr stressigen oder frustrierenden Arbeitssituationen auftreten« (S. 6), charakterisierte. Diese Sichtweise verrät einen typisch psychologischen Ansatz: Das Hauptaugenmerk ist stärker auf die Person als auf das Arbeitsumfeld gerichtet. Mit einem Blick auf die Items des MBI-Tests von Christina Maslach (1982) in Tabelle 23 wird deutlich, dass das Burnout-Syndrom im Wesentlichen eine emotionale Erschöpfung darstellt. Burnout und Stress werden häufig mit Konflikten am Arbeitsplatz verwechselt. Straining und Mobbing können zu Burnout führen, sind aber nicht das Gleiche, sondern Auslöser bzw. mögliche Folge. Wir haben zum einen beim Straining bzw. Mobbing einen durch Handlungen anderer verursachten Konflikt am Arbeitsplatz und zum anderen beim Burnout eine individuelle Ebene, die sich auf die emotionale Verfassung der Person bezieht. Die italienische Psychologin Manuela Donis (2002) schrieb, dass Mobbing und Burnout zwei verschiedene Bedingungen sind, die eine gemeinsame Basis in Form des Stresses besitzen, und dass die ständigen Frustrationen vom Mobbing (dazu zählen auch die vom Straining und arbeitsplatzbezogenen Stalking) zum Burnout führen können (S. 39, eigene Übersetzung). Auf der anderen Seite ist es durchaus vorstellbar, dass eine Person, die unter dem Burnout-Syndrom leidet, durch ihre gemin© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Straining und Burnout173

Tabelle 23: Die Burnout-Skala nach Maslach (1982, S. 32, eigene Übersetzung) Skala der Entpersonalisierung

Skala der persönlichen Verwirklichung (umgekehrte Bewertung)

die BurnoutSkala nach Maslach (MBI)

Skala der emotionalen Erschöpfung

exemplarische Aussagen

ӹӹ Ich spüre, dass die Arbeit mich emotional abnutzt.

Häufigkeitsschema

ӹӹ starker Burn- ӹӹ starker Burnout: mehrmals out: einmal monatlich monatlich oder häufiger oder häufiger

ӹӹ starker Burnout: seltener als einmal wöchentlich

ӹӹ leichter Burn- ӹӹ leichter Burnout: mehrmals out: ein- oder jährlich oder zweimal häufiger jährlich oder seltener

ӹӹ leichter Burnout: mehrmals wöchentlich oder täglich

ӹӹ Seit ich dieser ӹӹ Emotionalen Arbeit nachProblemen gehe, spüre begegne ich ich, dass ich am Arbeitsweniger sensiplatz sehr bel gegenüber ruhig. ӹӹ Den ganzen anderen bin. Tag mit andeӹӹ Ich fühle, dass ren zu arbeiich das Leben ӹӹ Ich fürchte, ten löst in mir der anderen dass die eine starke, durch meine Arbeit mich nervöse SpanArbeit positiv emotional nung aus. beeinflusse. abstumpft.

derte Arbeitsleistung im Arbeitsumfeld »aneckt«, zum Beispiel durch Fehler, die aufgrund ihrer verminderten Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit entstehen, oder dass sie durch ihre Nervosität, die sie mit auf die Arbeit bringt, Spannungen im gesamten Team erzeugt. Dies kann dazu führen, dass Kollegen in ihrer Arbeit gebremst oder gar behindert werden. Das kann wiederum zu weiteren Spannungen führen. Die Vorstellung, dass Kollegen oder die Unternehmensleitung aufgrund dieser Spannungen versuchen könnten, die Person mit Mobbing oder Straining aus ihrem Arbeitsumfeld zu entfernen, ist da nicht abwegig. In diesem Sinne kann Burnout also nicht nur Folge, sondern auch Auslöser für Straining oder Mobbing sein. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

4.4 Straining und Glass Ceiling Karin ist eine Betriebswirtin mit exzellentem Abschluss. Man bot ihr sogar eine Stelle zur Promotion an, aber sie bevorzugte, ihre finanziellen Träume zu verwirklichen, und suchte sich einen Job. Den fand sie auch in einem mittelständischen Betrieb mit unglaublichen Aufstiegschancen. Die ersten Etappen ihrer Karriere nahm sie zügig und fand sich nach nur vier Jahren Betriebszugehörigkeit als Abteilungsleiterin wieder. In diesem mittleren Managementbereich war sie nicht die erste Frau, sondern bereits die dritte. Die anderen beiden Abteilungsleiterinnen nahmen ihre Positionen schon seit geraumer Zeit ein. Karin dachte sich dabei nichts und arbeitete wie immer energisch und zielstrebig. Mit den Jahren sah sie, dass andere Mitarbeiter in den Aufsichtsrat oder in die Geschäftsführung aufgenommen wurden, aber weder sie noch die beiden Kolleginnen dabei je berücksichtigt wurden. Daraufhin forderte sie eine schriftliche Erklärung, warum ein männlicher Kollege, der noch vor kurzem ihr nachgeordneter Mitarbeiter war, sich plötzlich in der Firmenleitung befand. Sie bekam keine Antwort darauf. Tatsache war, dass sie mit den Jahren nicht nur die Erfahrung für eine höhere Stellung erworben, sondern auch die Qualifikation dazu hatte, aber dennoch weiterhin auf ihrer Abteilungsleiterposition festsaß, genau wie die beiden anderen Kolleginnen. Gleichzeitig musste sie mit ansehen, dass nachgeordnete männliche Kollegen sie regelmäßig im Organigramm überholten. Sie fühlte sich gemobbt.

Nach der genauen Betrachtung im zweiten Kapitel dürfte klar sein, dass es sich in diesem Fall nicht um Mobbing handelt. Karin war Opfer eines Systems, welches auch ihre beiden Kolleginnen erfasste. Sie steckte in einer Ordnung fest, welche man als gläserne Decke bezeichnet. Die gläserne Decke, besser bekannt unter ihrem englischen Namen »Glass Ceiling«, scheint auf den ersten Blick eine Diskriminierungsmaßnahme zu sein, doch bei genauerem Hinschauen erkennt man, dass es sich um ein kulturell und gesellschaftliche verwurzeltes Problem handelt. Christiane Funken (2005), Professorin am Institut für Soziologie der TU Berlin, beschreibt dieses Phänomen wie folgt: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Straining und Glass Ceiling175

»Mit glass ceiling sind all die subtilen, nicht oder kaum wahrnehmbaren Mechanismen gemeint, die verhindern, dass Frauen Einzug in die Chefetagen halten. Glass ceiling bezeichnet also die für Frauen kaum durchdringbare Decke zwischen dem mittleren und oberen Management. Die gläserne Decke ist – wie die Metapher bereits sagt – unsichtbar und gerade deshalb sehr effektiv. Häufig können Frauen keinen konkreten Grund benennen, warum ihnen der nächste Schritt auf der Karriereleiter misslingt oder verwehrt bleibt. Zu beobachten ist lediglich, dass männliche Kollegen auf dem Weg nach oben erfolgreicher sind, ohne immer bessere Leistungen oder mehr Engagement zu zeigen« (S. 1). Als Voraussetzung für Glass Ceiling haben David A. Cotter, Joan M. Hermsen, Seth Ovadia und Reece Vanneman (2001) vier zwingende Kriterien ausgemacht (vgl. S. 655–681): 1. Eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern oder Ethnien kann nicht durch andere arbeitsbezogene Eigenschaften der Beschäftigten erklärt werden. 2. Die Ungleichheit ist auf höheren Ebenen der Karriereleiter größer als auf den unteren. 3. Die Ungleichheit bezieht sich auf die Aufstiegschancen und nicht bloß auf den Anteil von Frauen oder ethnischen Minderheiten auf höheren Ebenen. 4. Die Ungleichheit nimmt im Laufe der Karriere zu. Die Tatsache, dass sich deutsche Politiker seit Jahren mit der Einführung einer Frauenquote beschäftigen, unterstreicht deutlich die Präsenz des Phänomens Glass Ceiling. Bei den vier Kriterien von Cotter et al. (2001) fällt besonders auf, dass dieses Phänomen nicht nur auf Frauen zutrifft, sondern auch auf ethnische Minderheiten. Vorstellbar wäre zudem, dass die Beschränkung von Führungspositionen aufgrund anderer gemeinsamer Merkmale von Minderheiten wie etwa der sexuellen Orientierung oder politischen Gesinnung zustande kommt. Im Hinblick auf den Schwerpunkt dieses Buches stellt sich die Frage, ob es sich bei Glass Ceiling um einen Konflikt am Arbeitsplatz handelt. Dies kann im engeren Sinne nicht bejaht werden. Vielmehr ist es eine Regel, ein ungeschriebenes Gesetz, dass Frauen in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

gewissen Unternehmen nicht nach ganz oben an die Karrierespitze gelangen. Es ergibt sich aber erst ein Konflikt, wenn sich die betroffene Person dagegen wehrt, sich auflehnt, die Ungerechtigkeit an den Pranger stellt. Falls dies geschieht, könnte die betroffene Person tatsächlich einem Arbeitsplatzkonflikt wie dem Straining oder dem Mobbing ausgesetzt sein, da sie dann als jemand angesehen würde, der Probleme bereitet. Oft wird in Deutschland das Glass Ceiling auch mit dem Argument verharmlost, die betroffene Person habe nicht das berühmte »Vitamin B« (also Beziehungen). Es ist nachvollziehbar, dass eine Person mit Beziehungen deutlich leichter Karriere macht, unabhängig ob diese nun männlich oder weiblich, jung oder alt, qualifiziert oder nicht, dick oder dünn, groß oder klein ist. Im Gegenzug sollte klar sein, dass Personen ohne Beziehungen deutlich schwerer Karriere machen können. Deshalb muss bei der Betrachtung des Glass Ceiling-Phänomens auf Personen geschaut werden, die die gleichen Voraussetzungen haben (also gleich gute oder schlechte Beziehungen). Dabei tritt schnell ein Vorurteil zutage: In einer hauptsächlich von der Männerwelt geprägten Unternehmensphilosophie gilt, dass Männer und Frauen nicht die gleichen Voraussetzungen hätten, weil Frauen früher oder später aus Gründen wie Babypause, Stillzeiten und Kindererziehung dem Arbeitgeber nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen würden. Dieses Vorurteil geht sogar so weit, dass Frauen ihrem Lebenslauf bei der Bewerbung ein ärztliches Attest über ihre Sterilisation beifügen. Glass Ceiling kann durchaus als eine abgeleitete Form des Strainings angesehen werden. Wie beim Straining wird auch beim Glass Ceiling ein Opfer (oder in diesem Falle vielmehr eine Gruppe von Opfern) in eine Situation gebracht, die permanente Folgen für das Opfer bringen. Es gibt jedoch kleine Unterschiede zum Straining. Zum einen handelt es sich um eine kollektive Diskriminierungsform (gegen alle Frauen, gegen alle Ausländer usw.), zum anderen geht dem keine feindselige Handlung (wie in der ersten Phase des Strainingmodells) voraus, die dann permanente Folgen hat. Deshalb können wir das Glass Ceiling als engen Verwandten des Strainings ansehen, dürfen es aber nicht damit verwechseln. Vergessen werden darf diesbezüglich jedoch nicht, dass es sich dennoch um einen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Straining und Arbeitssucht177

Konflikt am Arbeitsplatz handelt, wenn auch ohne große Szenen, feindselige Handlungen oder Streitereien – der Konflikt ähnelt eher einem kalten Krieg.

4.5 Straining und Arbeitssucht Solange Thomas, ein gelernter Rechtsanwalt, in der juristischen Abteilung eines Großunternehmens arbeitete, hatte er seine festen Arbeitszeiten. Er war nicht unglücklich, aber alle juristischen Angelegenheiten des Unternehmens waren für ihn irgendwie ohne Anreiz, denn egal, ob er positive oder negative Ergebnisse vor Gericht einfuhr, sein Gehalt blieb immer auf dem gleichen Level. So entschied sich Thomas eines Tages, selbstständig zu werden. Am Anfang schien das Projekt zum Scheitern verurteilt, da die Kanzleimiete und der Lohn der Sekretärin ihn in eine nicht gerade angenehme Schuldenlage zwangen. Zudem beschäftigte er sich zunächst nur mit kleinen juristischen Angelegenheiten im Familien- und Freundeskreis. Doch mit der Zeit steigerten sich die Nachfragen. Dies ging sogar so weit, dass das Großunternehmen, bei dem Thomas angestellt gewesen war, juristische Tätigkeiten zunehmend auslagerte und ihm übertrug. Die Kanzlei von Thomas wuchs immer weiter. Thomas war natürlich stolz auf die Entwicklung und freute sich über das erheblich angestiegene Einkommen. Er konnte und wollte keine Arbeit ablehnen, die Hauptsache für ihn waren seine steigenden Einnahmen. Durch das Mehr an Aufträgen war er nun gezwungen, immer mehr Arbeiten nach Hause mitzunehmen. Während die Familie vor dem Fernseher saß, saß Thomas bis spät in die Nacht vor dem Computer. Arbeitswochen mit sechzig und mehr Stunden waren keine Ausnahme, sondern die Regel. Wenn er zu Hause ein Gespräch begann, drehte sich alles nur noch um seine Arbeit. So hatte er mit seiner Frau und den Kindern immer weniger Kontakt. Dass er innerhalb seiner Familie immer mehr als Fremder angesehen wurde, wurde ihm überhaupt nicht bewusst.

Thomas ist nur einer von vielen Karrieremenschen, bei denen nur Arbeit und Verdienst im Mittelpunkt stehen. Sie hängen an der Arbeit wie ein Drogenabhängiger an seiner Droge. Sie können nicht mehr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

abschalten und entfremden sich immer mehr von ihrem üblichen sozialen Umfeld. Hauptsächlich in den USA ist dies zu einem richtigen sozialen Problem geworden, sodass viele Forschungsarbeiten der Arbeitspsychologie darüber berichten. So wurden die englischen Wörter »work« (Arbeit) und »alcoholism« (Alkoholismus) zum Neologismus »workaholism« (alternativ wird manchmal auch der Ausdruck »work addiction« verwendet), was so viel bedeutet wie »Arbeitsabhängigkeit«. Ein Workaholic, also ein Arbeitsabhängiger wie Thomas in unserem Beispiel, lebt nur im Einklang mit seiner »Droge«, also seiner Arbeit. Er missbraucht seine Arbeit genauso, wie man alkoholische Getränke oder andere Rauschmittel missbraucht: Man nimmt sie in immer größeren Mengen zu sich, bis man davon abhängig wird. Man kann nie genug bekommen, das Leben reduziert sich auf den Konsum der Droge »Arbeit«. Für Thomas ist diese das einzige Lebenswerte, das Einzige, was ihm vom Leben übrig bleibt. Er lebt nur noch, um zu arbeiten, nicht umgekehrt, wie es üblich ist. Das einzige Ziel und der einzige Wunsch heißen Arbeit. Arbeit schleicht sich überall ein, sowohl in die Familienbeziehungen als auch in die sozialen Kontakte. Wer zum Sklaven der Arbeit wird, kann diese nicht mehr von seinem Privatleben unterscheiden. So geschieht es, dass die Arbeit alle Bereiche des Lebens umfasst: die Abende, Sonntage, Ferien, Freizeitaktivitäten, die Treffen mit Freunden, das Shopping am Nachmittag mit der Ehefrau, das Begleiten der Kinder in die Schule usw. Ohne es zu spüren, wird die Personalität aufgezehrt. Die Engländer Terry Looker und Olga Gregson (1997) haben Forschungsarbeiten mit Kindern von Arbeitsabhängigen durchgeführt und erschreckende Resultate zutage gefördert: Die Kinder wurden gebeten, ihre Situation zu beschreiben. Ein Kind erzählte, dass es sich wie am Flughafen fühle und auf die Rückkehr des Vaters warte, aber diesen nicht kenne und jeden frage, ob er sein Vater sei. Ein anderes Kind malte eine Tischszene beim Abendessen, bei dem der Stuhl des Vaters leer blieb. Looker und Gregson haben in ihrer Forschungsarbeit ein paar typische Verhaltensmuster eines Workaholics beschrieben: ȤȤ bringt oft am Abend Arbeit mit nach Hause; ȤȤ denkt häufig an Probleme, die mit seiner Arbeit zusammenhängen, während er zu Hause ist; © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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ȤȤ arbeitet freiwillig viele Stunden am Tag; ȤȤ die mit seiner Arbeit verbundenen Probleme bestimmen die Anzahl der Stunden, die er schläft; ȤȤ Freunde und Familienmitglieder beschweren sich, dass es ihm an Zeit für sie mangelt und er zu wenig Zeit mit ihnen verbringt; ȤȤ hat Probleme, abzuschalten und nicht an die Arbeit zu denken; ȤȤ hat Schwierigkeiten, Anfragen/Notwendigkeiten, die Arbeit betreffend, abzulehnen; ȤȤ hat Probleme, seine Arbeit zu delegieren; ȤȤ sein Selbstwertgefühl hängt in erster Linie vom Arbeitsergebnis ab. Schaut man sich die Verhaltensmuster an, fragt man sich, was dahintersteckt. Ist es Zwang, ein Konflikt, die Opferrolle oder Verfolgung? Ist der Workaholic ein Opfer der Situation, in welcher er sich befindet? Oder hat er sich selbst entschieden, so zu leben? Im ersten Augenblick erscheint dies als logisch. Zu verlockend sind Karriere, Reichtum, Wohlstand, Erfolg und Statussymbole. Unsere Gesellschaft lässt uns glauben, all dies seien moralische Werte, sodass wir uns von ihnen angezogen fühlen und von ihnen träumen. Es gibt aber auch Fälle, bei denen die Menschen zu mörderischen Arbeitsrhythmen gezwungen werden. Mir berichtete eine Patientin, dass sie zum Feierabend an der Stempeluhr abstempeln musste, aber im Anschluss unter der Drohung, sie würde sonst entlassen werden, noch einige Überstunden ableisten musste. Diese Menschen sind zu »Sklaven« der Arbeit geworden und glauben ihrerseits, dass sie unter Mobbing leiden. Tatsächlich ist dies eine Form von Straining, obwohl oft gar keine Diskriminierung zugrunde liegt (da ja alle quasi als moderne »Sklaven« behandelt werden). Häufig haben Menschen wie meine Patientin Angst, das, was von ihnen an Mehrarbeit verlangt wird, anzuzeigen, da sie um ihre Arbeit bangen müssen. Viele Workaholics haben die Lösung ihres Problems in der eigenen Hand, aber es wird zu einer Art Routine, ein Mechanismus, der mit Ausreden, Lügen (auch sich selbst gegenüber), guten Vorsätzen und Versprechen gekennzeichnet ist. Der Workaholic möchte sich weiter so stressen. In Japan gibt es daher sogar schon Unternehmen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Straining und weitere Problemsituationen am Arbeitsplatz

bei denen Überstunden verboten sind und die Arbeitnehmer in den Urlaub gezwungen werden, weil sie nicht gehen möchten. Das Thema Arbeitssucht wurde in dieses Buch hineingenommen, weil es sich um eine Verfolgungsform handelt. Das Opfer wird nicht von Kollegen oder Vorgesetzten verfolgt, sondern von der Arbeit. Dies verursacht eine schlimme Stresssituation, die bis zum Burnout oder anderen Erschöpfungsformen (physische, nervliche usw.) führen kann. Der Workaholic ist ein Opfer seiner selbst, da er ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr die Freiheit des Auswählens hat. Er arbeitet immer mehr und ist nicht mehr in der Lage oder gewillt, zu verlangsamen. Wenn er dann gezwungen wird, loszulassen (beispielsweise wenn er in Rente geht, wenn er krank wird, nach einem Unfall, nach einer Entlassung usw.) fällt er nicht selten in eine tiefe Depression.

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Dieses Buch zielt in zwei Richtungen: Zum einen soll hier Berufstätigen, die sich fachlich mit dem Thema Mobbing auseinandersetzen wollen und müssen (wie etwa Rechtsanwälte, Ärzte, Psychiater, Psychologen, Gewerkschaftsmitarbeiter, Personalmanager, Firmenchefs usw.) eine Methodik gezeigt werden, um nicht nur den klassischen Mobbingfall als solchen zu erkennen und definieren, sondern auch die anderen Konfliktarten, welche am Arbeitsplatz stattfinden können, entlarven zu können. Aber auch den Betroffenen solcher Konflikte soll einerseits aufgezeigt werden, dass nicht jeder Konflikt am Arbeitsplatz gleich Mobbing ist, und andererseits, dass bisher nicht näher benennbare Konflikte endlich einen Namen und sie als Opfer damit eine Diagnose bekommen. Zum anderen soll mit diesem Buch mit den weit gefassten und ungenauen Definitionen von Mobbing aufgeräumt werden, die nicht nur unter Psychologen und Psychiatern gebräuchlich sind, sondern auch in (deutschen) Arbeitsgerichtsprozessen. Viel zu häufig wird ein Konflikt oder sogar schon ein Unbehagen eines Arbeitnehmers am Arbeitsplatz gleich als Mobbing definiert, ohne aufgrund einer fehlenden Methodik genauer anführen zu können, was genau diesen Konflikt eigentlich zu Mobbing macht. So mancher Leser wird nach der Lektüre dieses Buches erstaunt feststellen müssen, dass ein vorliegender Konflikt gar kein Mobbing ist bzw. keiner der genannten Konflikte auf seinen Fall zutrifft. Das Problem der bisherigen Forschung liegt wohl vor allem darin, dass die Autoren der Studien meist keinerlei Kontakt zu Menschen haben und hatten, die wirklich unter Mobbing zu leiden haben. Auch bei vielen Gerichtsurteilen zeigten sich diese konzeptionellen Schwächen in der Beweisführung. Dieses Buch vertritt weder den Anspruch auf Vollständigkeit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Schlussfolgerungen und Ausblick

noch auf Vollkommenheit. Doch mit Sicherheit kann es einen entscheidenden Beitrag zur bisherigen und weiteren Forschung zum Thema Mobbing leisten: indem es aufzeigt, wie das Problem, wann ein Konflikt als Mobbing anzusehen ist, durch eine Methodik objektiviert werden kann. Erst dadurch wird klar, dass es nicht nur Mobbing gibt, sondern eine Vielzahl verschiedener Probleme und Konflikte. Wie es im Leben nicht nur Schwarz und Weiß gibt, so sind auch die genannten Konflikte am Arbeitsplatz in verschiedene Schattierungen aufspaltbar, wobei Straining im Gesamtbild der mengenmäßige Löwenanteil zukommt und es somit statistisch viel häufiger als Mobbing anzutreffen ist. Das bisherige Problem bestand jedoch darin, dass aufgrund der fehlenden feindseligen Handlungen sowie aufgrund der bestehenden Definition Strainingopfer nicht als Mobbingopfer behandelt werden konnten und daher nicht nur vor Gericht keinerlei Rückhalt fanden. Die Aufspaltung in verschiedene exakt zu bestimmende Konfliktarten und die Methodik, um diese zu analysieren, sind sicherlich bei gerichtlichen Verfahren nicht nur hilfreich, sondern notwendig. Andererseits würde man riskieren, dass alles über den »Mobbing-Kamm« geschert würde. Man braucht deshalb klare Regeln und Parameter, um das eine vom anderen abgrenzen zu können. Der Richter ist kein Arbeitspsychologe, sondern ein Rechtswissenschaftler. Deshalb muss ein Gutachten klare Konzepte mit eindeutigen Parametern enthalten. Eine umfassende Betreuung eines Mobbingopfers bedeutet, dass die Fachgebiete Arbeitspsychologie, Medizin und Rechtswissenschaft zusammenwirken und ein Gesamtbild ergeben, dass von keiner Seite anfechtbar ist. Das Kind beim richtigen Namen zu nennen (Arbeitskonflikt) bedeutet nicht nur Überschneidungspunkte zwischen Arbeits- und Rechtspsychologie, sondern auch zwischen Psychologie und Rechtswissenschaft, zwischen Theorie und Praxis zu finden. Mit der in diesem Buch vorgestellten Sieben-Parameter-Methode kann man wissenschaftlich genau, das heißt jederzeit an anderen Orten mit anderen Personen reproduzierbar und im höchsten Maße objektiv (die einzelnen Parameter müssen belegbar sein) jedem Richter mit einem Gutachten erklären, warum im aktuellen Fall Straining, Mobbing, Stalking usw. vorliegt oder warum dies nicht der Fall ist © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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(beispielsweise bei falschen Vorwürfen oder Verleumdung) und es sich zum Beispiel um persönliche Probleme handelt. Es sollte aber auch klar sein, dass es Fälle gibt, bei denen man am Arbeitsplatz oder rechtlich tatsächlich nichts machen kann. In diesen Fällen ist es dann oft hilfreich, medizinische oder psychologische Therapien einzuleiten, um eine Linderung zu erwirken. Vorstellbar wären auch verhaltenstechnische Maßnahmen (etwa psychologische Sitzungen, Kurse über verbale Selbstverteidigung usw.), um Besserungen zu erzielen (ich persönlich erarbeite mit meinen Patienten eine Art »emotionalen Schutzmantel«). Natürlich sollte den Patienten bzw. Klienten von vornherein klar gemacht werden, wann und warum sich rechtliche Schritte nicht lohnen, um ihnen Enttäuschungen und unnötig verlängertes Leiden zu ersparen. Ein besonderer Fall tritt dann ein, wenn zwar von den Erzählungen des Patienten her von einem Mobbing- oder Strainingfall ausgegangen werden kann, es aber weder Zeugen noch Beweise für feindselige Handlungen gegen das Opfer gibt und der Fall damit juristisch nicht durchsetzbar ist. Es ist Aufgabe des Rechtsanwalts, Beweise und Zeugen zu prüfen (Vorhandensein, Glaubwürdigkeit usw.), aber häufig kann man bereits bei der Konfliktanalyse dem Patienten empfehlen, sich weitere rechtliche Schritte und damit Zeit und Geld zu sparen. Selbst wenn jemand Opfer der zuvor genannten Konfliktarten sein sollte, ohne Zeugen und/oder Beweise kann auch der beste Rechtsanwalt oder Gutachter den Fall vor dem Richter nicht glaubwürdig vertreten. Oft sind die Patienten zudem in ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit bzw. Rache derart fixiert auf eine juristische Aktion, dass sie außer Acht lassen, dass auch die Verteidigung nicht untätig bleibt: Diese wird natürlich die Gutachten anzweifeln, gegenteilige Schilderungen hervorbringen und alles hinterfragen, sodass der Kläger einem enormen psychophysischen Stress ausgesetzt ist, der oftmals dem Stress des Klagegegenstandes in nichts nachsteht. Arbeitskonflikte, ja die Arbeitsverhältnisse, die beruflichen Bedingungen und Wirklichkeiten selbst, verändern sich ständig. Heute leben wir vom Tele-Arbeitsplatz (beispielsweise bei einer Heimarbeit über Internet, die Textbearbeitungen über E-Mail abliefert usw.) bis hin zum Callcenter in einer komplett anderen Arbeitswelt als noch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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Schlussfolgerungen und Ausblick

vor wenigen Jahren. Nicht nur die Anforderungen an den einzelnen Arbeitnehmer haben sich geändert (wie die an die Sekretärin, die früher der Stenografie kundig sein musste und heute Fremdsprachen beherrschen sollte). Zudem stehen die Arbeitnehmer heute nicht mehr in einem solch starken Loyalitätsverhältnis zu ihren Arbeitgebern wie noch im letzten Jahrhundert, da diese im Vergleich zu früher viel öfter wechseln, die Menschen mobiler sind und man damit auch einmal »über den Tellerrand schaut«. Während man früher von der Lehre bis zur Rente in einem Betrieb tätig war und sich dem Arbeitgeber entsprechend verbunden fühlte, ist man heute aufgrund von finanziellen, familiären oder auch schlichtweg angebotsbedingten Möglichkeiten deutlich flexibler und oftmals auch weniger tolerant einem Job und seinen Bedingungen gegenüber. Da Arbeit ein ständiger Entwicklungsprozess ist, kann und will dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit im Hinblick auf die Konfliktrealität erheben. Es sind stattdessen exemplarisch einige der existierenden Konfliktarten am Arbeitsplatz genauer erörtert worden. Den Schwerpunkt im Umfeld der Arbeitskonflikte bildet im Moment Straining, aber in Zukunft wäre es durchaus vorstellbar, dass sich ganz andere Konflikte entwickeln (wie beispielsweise Cybermobbing bei internetabhängigen Berufen usw.). Bei der Betrachtung dieses Themas wird schnell klar, dass die Forschung in diesem Bereich gerade erst begonnen hat. Darum möchte dieses Buch sich vor allem als ein Startschuss für einen neuen Blick auf die Konflikte im beruflichen Raum erweisen. Um einen solchen Blick zu ermöglichen, wurden einige Hauptkonfliktarten den Arbeitsplatz betreffend aufgezeigt, beginnend beim Straining bis hin zum Mobbing und arbeitsplatzbezogenem Stalking. Unabhängig von der Konfliktdefinition, die oft entscheidend ist beim gerichtlichen Verfahren, verursachen alle in diesem Buch aufgeführten Konfliktarten sowohl gesundheitlichen (psychosomatischen) als auch beruflichen und existenziellen Schaden. Allerdings kann auch die Überzeugung, Opfer eines Konflikts zu sein, zu psychophysischen Schäden führen. Deshalb ist es wichtig zu unterstreichen, dass der Gesundheitszustand eines Menschen allein noch nicht automatisch das Indiz ist, um einen bestimmten Konflikt auszumachen. Die Zusammenhänge, die auf einen Konflikt hindeuten, sollten genau © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

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analysiert werden, damit man die eventuelle Konfliktart methodisch klar bestimmen kann. Die Frage, ob die genannten Konflikte nicht im Grunde alle miteinander zusammenhängen, lässt sich nicht eindeutig mit Nein beantworten. In den meisten Fällen gibt es tatsächlich einzelne Phasen und Erscheinungen, die eher einer anderen Konfliktart zuzuordnen wären. Es gibt in vielen Fällen eine Intensivierung des Konflikts (hauptsächlich wenn das Opfer noch nicht gekündigt hat) oder in einigen wenigen Fällen eine Entspannungsphase (zum Beispiel wenn der Täter ermahnt wurde). Es ist durchaus möglich, alle Konflikte auf eine gemeinsame Kurve zu setzen, die ihre unterschiedlichen Intensitäten als Unterscheidungskriterium verdeutlicht. Die Intensität ist, wie in den einzelnen Kapiteln gezeigt wurde, in erster Linie durch die Stärke der Verfolgung gegeben, also des Gefühls, dass jemand einem »im Nacken sitzt«, und der Häufigkeit, mit der dieses Gefühl auftritt. Die größte Verfolgungsintensität am Arbeitsplatz hat dabei eindeutig das arbeitsplatzbezogene Stalking, da bei diesem das Fehlen eines »sicheren Verstecks« besonders schwer wiegt und das Opfer theoretisch 24 Stunden am Tag eventuellen feindseligen Handlungen ausgesetzt ist. Nachfolgend kann man sicher das Mobbing nennen, bei dem das Opfer zwar regelmäßigen feindseligen Handlungen ausgesetzt ist, aber diese nur auf Arbeitsplatz und -zeit beschränkt sind (außer wenn es zum Doppelmobbing kommt). Das Straining ist wahrscheinlich der frustrationsintensivste Konflikt von allen, der jedoch nicht sehr verfolgungsintensiv ist, da feindselige Handlungen nur in ganz geringer Anzahl vorkommen und am Ende Stress steht, der oft arbeitsbedingt ist und aus diesem Grund keine Verfolgungsintensität besitzt. So lassen sich arbeitsplatzbedingtes Stalking, Mobbing, Straining und Stress abschließend auf einem Kontinuum darstellen, wie es Abbildung 6 zeigt.

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Schlussfolgerungen und Ausblick

Stalking

Mobbing

Straining

Stress

gering

Verfolgungsqualität

hoch

Abbildung 6: Das Eskalationsmodell des Arbeitsplatzkonflikts (aus Ege, 2005, S. 170)

Wir können die Hypothese aufstellen, dass der Arbeitsplatzkonflikt nach dem in Abbildung 6 dargestellten Modell eskalieren kann, indem er sich von Stufe zu Stufe in seiner Verfolgungsqualität intensiviert. Auf diese Weise kann, hat der Strainer sein Ziel nicht erreicht, eine Strainingsituation zu Mobbing werden, und der Strainer kann im weiteren Verlauf der Entwicklung Angriffe auf das Privatleben des Opfers ausüben, hat er dann immer noch nicht sein Ziel erreicht, geht er schließlich zu Stalking über. Es ist umgekehrt auch möglich, dass aus Mobbing Straining werden könnte. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn der Mobber sich beobachtet fühlt. Die Hypothese macht deutlich, dass die Erforschung der Arbeitsplatzkonflikte, um die es in diesem Buch geht, fortschreitet und neue Erkenntnisse zutage fördert. Die Forschung zu Mobbing, Straining, Stalking und zu mit diesen zusammenhängenden Konfliktarten und Problemen am Arbeitsplatz steht erst an ihrem Anfang. Lassen wir uns überraschen, aber nicht entmutigen. Wir stehen sozusagen mitten in einem Getreidefeld, unser Brot finden wir hier noch nicht. Wir müssen, um zu unserem Brot zu kommen, zuerst einmal das Getreide ernten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403655 — ISBN E-Book: 9783647403656

Dank Ich möchte mich herzlichst bei Claudia und Holger bedanken, die selbstlos mit Rat und Tat zur Verfügung standen, um mir dieses Werk zu ermöglichen. Ein Dankeschön auch an meine Frau und meine Kinder, die meine beschränkte Freizeit mit ihnen erduldeten und mich anspornten.

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