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German Pages [211] Year 2020
Meiner
Carlos Spoerhase / Steffen Siegel / Nikolaus Wegmann (Hg.)
Ästhetik der Skalierung Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte
Gefördert von der VolkswagenStiftung
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN eBook 978-3-7873-3882-5 Sonderheft 18 · ISSN 1439-5886 · ISBN 978-3-7873-3815-3 Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©
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Carlos Spoerhase Skalierung. Ein ästhetischer Grundbegriff der Gegenwart ...........................
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Gesa zur Nieden Potenzierte Formen des größten Miniaturisten der Musik. Skalierungen in der Rezeptionsgeschichte Richard Wagners ......................
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Isa Wortelkamp Close Reading und Distant Reading als Methoden der Tanzwissenschaft ...
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Nicola Glaubitz Lang oder überlang? Zu Ästhetik und Pragmatik komplexer anglophoner Langromane der Gegenwart ........................................................................
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Benjamin Krautter, Marcus Willand Close, Distant, Scalable. Skalierende Textpraktiken in der Literaturwissenschaft und den Digital Humanities .......................................
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Andrew Fisher Der fotografi sche Maßstab ..........................................................................
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Steffen Siegel Jeff Wall und das Politische. Zur Gegenwart des fotografi schen Großtableaus .........................................
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Marc Ries Figurationen der Schrift im öffentlichen Raum. Jenny Holzers infame Kunst der Skalierung ................................................ 135 Claudia Tittel Monumentale Filmbilder im öffentlichen Raum. Übergänge und Konvergenzen zwischen Film, Architektur und Stadtraum in Doug Aitkens Videoinstallation sleepwalkers ............................................
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Lilian Haberer Rewind | Downscale. Künstlerische Verfahren zum ›armen Bild‹ ...............
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Inhalt
Veronica Peselmann Die Handhabung dynamischer Skalierungen. Mikro- und Makrogeschichte in Julie Chens Miniatur-Künstlerbuch »Memento« (2012) .......... 187 Jens-Christian Rabe Pointierte Skalierung .................................................................................. 203
Sk alierung Ein ästhetischer Grundbegriff der Gegenwart Carlos Spoerhase
Was ist Skalierung? In jüngerer Zeit wird diese Frage auff allend häufig gestellt.1 Der theoretische Physiker Geoff rey West beantwortet diese Frage in seiner jüngst erschienenen Monografie »Scale« auf 480 Seiten.2 Skalierung ist für West die fundamentale Frage danach, wie ein beliebiges System auf die Veränderungen seiner Größe reagiert. Diese fundamentale Frage zieht eine Vielzahl abgeleiteter Problemstellungen nach sich: wie diejenige nach den ökonomischen Effekten von Größenveränderungen, nach der temporalen Dimension von Größentransformationen in Wachstumsprozessen, nach den intrinsischen Grenzen von Vergrößerung oder Verkleinerung und nach der Skaleninvarianz bestimmter Systemeigenschaften. Nicht alle, die sich gegenwärtig mit Fragen der Skalierung befassen, teilen die übersteigerten Erklärungsansprüche von West, der in Skalierungsregularitäten einen Universalschlüssel für alle Wachstumsphänomene gefunden zu haben glaubt. In den Geisteswissenschaften richtet sich das systematische Interesse an Skalierungsproblemen vielmehr auf klarer defi nierte Gegenstandsbereiche – wobei im Folgenden vor allem diejenigen Bereiche fokussiert werden, die sich mit ästhetischen Skalierungsproblemen auseinandersetzen. * Skalierung steht in den Geisteswissenschaften, die sich mit ästhetischen Fragestellungen befassen, erstens für eine methodische Herausforderung. Das methodische Problem der Skalierung stellt sich sowohl auf einer geografi schen als auch auf einer chronologischen Ebene: Die historische Forschung reicht nunmehr von der Mikrogeschichte eines Dorfes bis zur Makrogeschichte des gesamten PlaneVgl. Scale in Literature and Culture, hg. von Michael Tavel Clarke und David Wittenberg, Cham 2017; On Scaling Space, Numbers, Time and Energy, hg. von Florian Dombois und Julie Harboe, Zürich 2017; Size Matters! (De-Growth) of the 21st Century Art Museum, hg. von Beatrix Ruf und John Slice, London 2017; vgl. auch Carlos Spoerhase und Nikolaus Wegmann: Skalieren, in: Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, hg. von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann, Bd. 2, Wien, Weimar und Köln 2018, S. 412–424. 2 Vgl. Geoff rey West: Scale. The Universal Laws of Growth, Innovation, Sustainability, and the Pace of Life in Organisms, Cities, Economies, and Companies, New York 2017; vgl. auch die deutsche Übersetzung Geoff rey West: Scale: Die universalen Gesetze des Lebens von Organismen, Städten und Unternehmen, München 2019; vgl. zur Skalierung von politischen Gemeinwesen jüngst auch Scaling Identities. Nationalism and Territoriality, hg. von Guntram H. Herb und David H. Kaplan, Lanham u. a. 2018. 1
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ten, von der Mikrogeschichte eines Tages bis zur Makrogeschichte der gesamten Menschheit ( ja selbst darüber hinaus). Auch im Kontext einer historischen Beschäftigung mit den Künsten ist es zu einer gewissen Verunsicherung hinsichtlich der Untersuchungsskalen gekommen. Auff ällig ist, dass zuletzt auch im Bereich der Geschichte der Künste die ›Hochskalierung‹ der Historiografie massiv an Attraktivität gewonnen hat – »global history«, »big history« und »deep history« fi nden auch hier zunehmend Resonanz. Beobachten lässt sich zudem, dass bislang bevorzugte mittlere geografi sche und chronologische Skalen im Rahmen dieser Amplifi kation an Plausibilität verlieren. Während die Grundskala zum Beispiel literaturhistorischer Beobachtung lange der moderne Nationalstaat war, wird nunmehr nach einer globalen Literaturgeschichte verlangt, die sich von den frühesten antiken Literaturen bis in die unmittelbare Gegenwart erstreckt. Die Grundtendenz zur Skalenamplifi kation besagt: je größer die gewählte chronologische und geografi sche Skala, desto besser. Die methodische ›Hochskalierung‹ kann gegenwärtig als ein internationaler disziplinübergreifender Trend beschrieben werden, der von der »Big Bang Art History«, die Ulrich Pfi sterer im »Merkur« diskutiert hat, bis zur »Makroanalyse« in der Literaturwissenschaft reicht.3 In unterschiedlichen Disziplinen lässt sich eine methodische Verunsicherung hinsichtlich des Größenzuschnitts ihrer Gegenstandsbereiche beobachten. Hier würde ein transdisziplinärer Vergleich die aktuelle wissenschaftstheoretische und -historische Diskussion sicherlich voranbringen: Lässt sich erkennen, dass bestimmte Disziplinen bestimmte Größenordnungen methodisch präferieren? Kann man innerhalb von bestimmten akademischen Fächern Skalenkonjunkturen beschreiben? Was sind die Voraussetzungen, die zu einer Privilegierung der größeren Skalen führen? Wie sich etwa anhand der Literaturwissenschaft erkennen lässt, sind diese Voraussetzungen vielf ältig. In der Literaturwissenschaft hat sich dieser Trend ausgehend von drei Forschungsprogrammen herausgebildet: den Bemühungen um eine sozialhistorische Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes der Literaturgeschichte, die Bemühungen um eine grundlegende Globalisierung der Literaturhistorie und schließlich die aktuellen Bemühungen um eine Digitalisierung der Literaturwissenschaft. Die mit dem Instrumentarium der »Digital Humanities« operierende methodische Hochskalierung soll erlauben, die nicht eingelösten Versprechen sowohl der Sozialgeschichte der Literatur als auch der Weltliteraturgeschichte einzulösen. Sehr programmatisch ist diese Ausweitung der Größenordnungen der Literaturwissenschaft von Franco Moretti eingefordert worden: In seinem Essay über »Die Schlachtbank der Literatur« schreibt er, dass die Literaturwissenschaft bislang nicht mehr als ein halbes Prozent der Romane des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis genom-
Vgl. Ulrich Pfi sterer: Big Bang Art History, in: Merkur 71 (2017) H. 5, S. 95–101; Matthew L. Jockers: Macroanalysis. Digital Methods and Literary History, Urbana und Chicago u. a. 2013. 3
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men habe.4 Das seien etwa 200 Werke. Der große Rest sei von der akademischen Literaturgeschichte dem Vergessen anheimgegeben worden. Das methodische Problem der quantitativen Größenordnung, mit dem sich eine literaturhistorische Forschung abmüht, die zehntausende Romane zu ihrem epistemischen Objekt machen möchte, hat Moretti später als Herausforderung des »distant reading« charakterisiert. Gegen die Herausforderungen, die sich in der Bildwissenschaft angesichts der aktuellen massenweisen Bildproduktion und -konsumption ergeben, fallen die literaturwissenschaftlichen Skalierungsprobleme von Moretti allerdings fast überschaubar aus. Während Moretti noch danach fragt, wie man 40.000 Romane lesen könne, nennen andere bereits siebenstellige Bücherzahlen;5 und Medienwissenschaftler wie Lev Manovich fragen nach den methodischen Voraussetzungen eines Vergleichs von 1.000.000 Bildern.6 Diese Skalen-Amplifi kation im Hinblick auf den Gesamtumfang der berücksichtigten Texte und Bilder geht jedoch interessanterweise mit der Erneuerung des Interesses für das Kleine einher. Morettis methodische Metapher der »Distanz« (»distant reading«) erweist sich deshalb als problematisch. Die Fokusverschiebung von dem einzelnen Werk als Leitgröße der Literaturwissenschaft zu einem umfangreichen Korpus literarischer Textproduktion führt nämlich auch zu einer Aufmerksamkeitssteigerung für mikrologische Elemente der Literatur. Die SkalenAmplifi kation, die mit »distant reading« gemeint ist, rückt also auch die Valenz des Einzelwortes oder den spezifi schen Wert einzelner Satzstrukturen wieder in den Vordergrund. Die methodische Skalenamplifi kation kann deshalb, genau genommen, sowohl in einer Makroanalyse als auch in einer Mikroanalyse münden. Das Lesen auf Distanz erweist sich aus dieser Perspektive weniger als eine Präferenz für Großskaliges denn als eine grundsätzliche Distanzierung von den literaturwissenschaftlichen Meso-Skalen, das heißt von etablierten Beobachtungshaltungen, die ihre Gegenstände auf einer ›mittleren‹ Größenskala situieren. Das Lesen auf Distanz erweist sich mithin als eine Verfremdung des literarischen Gegenstandes durch die Umgehung des werkförmigen Textes zum Zweck der Untersuchung des bislang marginalisierten Infratextuellen oder Supratextuellen. Dies hervorzuheben, ist deshalb wichtig, weil nur auf diese Weise deutlich wird, dass die Skalierungsproblematik, die im Zentrum der Diskussionen über die Digital Humanities steht, nicht auf die Problematik der Quantifi zierung reduziert werden kann. Es geht nicht einfach nur darum, nun weitaus mehr Texte lesen oder Bilder Vgl. Franco Moretti: Die Schlachtbank der Literatur [2000], in: Franco Moretti: Distant Reading, Konstanz 2016, S. 63–86. 5 Vgl. zur mittlerweile häufi g repetierten Rhetorik der Hochskalierung bereits den kritischen Hinweis von Tanya Clement, Sara Steger, John Unsworth und Kirsten Uszkalo: How Not to Read a Million Books, Oktober 2018, http://people.virginia.edu/~jmu2m/hownot2read.html, Zugriff: 17.03.2019; vgl. auch die skeptischen Beobachtungen bei Nan Z. Da: The Computational Case against Computational Literary Studies, in: Critical Inquiry 45 (2019), S. 601–639. 6 Vgl. Lev Manovich: How to Compare One Million Images?, in: Understanding Digital Humanities, hg. von David M. Berry, Houndmills und Basingstoke u. a. 2012, S. 249–278. 4
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vergleichen zu wollen, und sich deshalb maschineller Unterstützung und statistischer Verfahren bedienen zu müssen. Es geht vielmehr darum, dass dieses maschinelle »Mehrlesen« in eine umfassendere Theorie und Praxis eingebettet ist, die auf eine fundamentale Problematisierung der etablierten Größenordnungen der Literatur- und Bildwissenschaften hinauslaufen. Die Frage, wie die Geisteswissenschaften ihre Forschungsprobleme dimensionieren und wie sie ihre Fragestellungen mengenmäßig, temporal und räumlich skalieren, entscheidet darüber, welche Merkmale sie an ihren Untersuchungsgegenständen überhaupt erfassen, beobachten, beschreiben, deuten und bewerten können. * Neben diese methodologische Herausforderung tritt bei der Beschäftigung mit ästhetischen Artefakten zweitens eine stärker gegenstandsorientierte Problemstellung: Wie beeinflusst die Größe eines Kunstwerks seine Produktion, Zirkulation, Rezeption und Wirksamkeit? Hier geht es um die Skalierung der ästhetischen Objekte selbst: Welchen Unterschied macht es, ob Friedrich Schillers »Wallenstein« in vier oder in zehn Stunden aufgeführt wird?7 Was verändert sich dadurch, dass Manet ein großes Bildformat für eine ›kleine‹, das heißt untergeordnete Bildgattung wählt – und somit eine provokante skalare Unstimmigkeit zwischen Format und Gattung bzw. Sujet herstellt?8 Welche ästhetischen Effekte haben Umfangsobergrenzen zum Beispiel in sozialen Medien? Wie beeinflusst der Umfang eines Romans die an ihn herangetragenen Lektürestrategien und Textumgangspraktiken? Solche Fragen sind in der Ästhetik bisher nicht systematisch gestellt worden. Vielleicht auch, weil sie außerästhetisch anmuten: als müsste die Beschäftigung mit der Skalierung des Kunstwerks unvermeidlich an dessen ästhetischen Eigenheiten vorbeigehen. So kommen auch E. M. Forsters berühmte Vorlesungen über die »Ansichten des Romans« recht hemdsärmelig daher, wenn er seine Romandefi nition mit einer Größenangabe verbindet: Ein Roman sei »jedes fi ktionale Prosawerk mit mehr als 50.0000 Wörtern«.9 Je nach persönlicher Disposition mag diese Größenangabe eher Bewunderung oder Unwohlsein hervorrufen: Bewunderung, weil Forster an einer zentralen Stelle seiner Gattungspoetik ohne jede Entschuldigungsgeste skaliert und die präzise Mengenangabe eine ganz eigene intellektuelle Souveränität ausstrahlt; oder aber Unwohlsein, weil diese Form der Größenbestimmung im Reich der Poetik deplatziert anmutet und sich schwer beurteilen lässt, ob die willkürlich wirkende Mengenangabe als Zeichen eines weltläufigen Pragmatismus oder eines engstirnigen Dogmatismus gedeutet werden soll. Gehen derartige Größenangaben nicht am Kern der Sache vorbei? 7 Vgl. Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018, Kapitel 6. 8 Vgl. Pierre Bourdieu: Manet. Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998–2000 [2013], Berlin 2015, S. 45–46. 9 E. M. Forster: Aspects of the Novel [1927], London 2005, S. 25.
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Die intellektuelle Verlegenheit, die sich angesichts dieser Größenbestimmung des Romans einstellt, darf aber nicht als idiosynkratische Irritation missverstanden werden. Die Verlegenheit verweist vielmehr auf das Insistieren eines fundamentalen ästhetischen Problems, das bisher keine anspruchsvolle und umfassende Reflexion erfahren hat: das Problem der Größenordnung von Kunstwerken. Es mangelt bislang an einem ausgefeilten Vokabular, mit dem wir Phänomene ästhetischer Skalierung angemessen erfassen können. Mit welchem Begriff soll man den programmatisch umfangreichen Roman der Modernen charakterisieren? Vladimir Nabokov behilft sich in seinen poetologischen Vorlesungen aus Mangel an besseren Alternativen mit der Bezeichnung »fette« Romane. Romane wie James Joyces »Ulysses«, Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu« oder Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« sind für Nabokov ohne ihre Umfangsambitionen nicht angemessen zu verstehen. Für Nabokov ist der voluminöse Textumfang diesen Werken keineswegs äußerlich, sondern vielmehr eng mit dem ästhetischen Ideal einer literarischen Welthaltigkeit verknüpft. Der »fette« Roman der Moderne, der enzyklopädisch die gesamte Welt oder synekdochisch einen exemplarischen Weltausschnitt mit einer epischen Geste noch einmal zu erfassen versucht, muss auch selbst umfangreich sein.10 »Fett« sind aber nicht nur Romane der ›klassischen‹ Moderne: Kanonische Romane des 19. Jahrhunderts sind häufig ebenfalls sehr umfangreich und nicht selten weit umfangreicher. Schließlich qualifi zieren sich auch für den Ehrentitel der »Great American Novel« in der Gegenwart nur umfangreiche Romane. Nicht zufällig fi nden sich in den jüngeren dicken Wälzern von Jonathan Franzen oder Paul Auster ausführliche Reflexionen über die herausgehobene kulturelle Signifi kanz »fetter« Romane. Obwohl der Umfang von literarischen Werken für Schriftsteller, Literaturkritikerinnen, Literaturwissenschaftler und Leserinnen eine alltägliche Beobachtungsgröße ist, fehlt es bislang an einer differenzierten Begriffl ichkeit, um diese Beobachtungen anspruchsvoll artikulieren zu können. Die Beschreibung, Deutung und Bewertung der Größe eines Kunstwerks erfolgt deshalb weitgehend intuitiv, metaphorisch und schamhaft. Für theoretische Scham besteht allerdings kein Anlass. Bereits an den europäischen Ursprüngen poetologischer Reflexion lässt sich ein feines Sensorium für die Skalierung des Kunstwerks beobachten: In seiner »Poetik« diskutiert Aristoteles die Frage des Umfangs und der Länge des Dramas. Obwohl einige Aspekte der dramatischen Umfangsbetrachtung von Aristoteles weiterhin strittig sind, besteht in der philologischen Diskussion doch weitgehend Einigkeit über den folgenden Punkt: Für Aristoteles ist wichtig, dass die Länge des Dramas nicht ein Maß übersteigt, das das Vergegenwärtigen und Memorieren der Totalität des Stücks durch die Zuschauer vereiteln könnte. Die dramatische Umfangsobergrenze ergibt sich Vgl. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne, Göttingen 2016, S. 51–61. 10
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also daraus, »dass die Zusammengehörigkeit der Teile zu einem Ganzen gut überschaubar sein bzw. gut im Gedächtnis zu behalten sein muss.«11 Aus dieser Perspektive erweist sich ein ästhetisches Werk als zu umfangreich, sobald die Vergegenwärtigungskraft und das Erinnerungsvermögen der Rezipienten nicht mehr in der Lage sind, das Drama als ein integriertes Ganzes zu handhaben. Die Frage des poetischen Übermaßes wird hier direkt an die Leistungskraft der relevanten kognitiven Kapazitäten gekoppelt. Die ästhetischen Umfangsgrenzen verlaufen genau dort, wo von einer Überforderung der menschlichen Vermögen ausgegangen werden kann. In einer Theorie der Künste, die Skalierungsfragen ernstnimmt, müsste »Überforderung« als eine zentrale ästhetische Kategorie in den Blick gelangen. Eine systematische Berücksichtigung von Phänomenen und Problemen der Überforderung ließe auch deutlich hervortreten, dass die Skalierungsproblematik nicht nur eine strukturorientierte, sondern auch eine wirkungsorientierte Ästhetik betriff t: Skalierungen machen nicht nur etwas mit den Werken, sondern machen auch etwas mit dem Publikum, das diese Werke handhabt. Überlange Inszenierungen wie der zehn Stunden dauernde Schiller’sche »Wallenstein« von Peter Stein oder die siebenstündige Langfassung des Jelinek’schen »Sportstücks« von Einar Schleef fordern die Vermögen der Zuschauer offensiv heraus: Die Überforderungsästhetik dieser Inszenierungen, die sich in den Musikdramen Richard Wagners vorgeprägt fi ndet, ergibt sich aus einer spezifi schen Skalierungsstrategie. Skalierung ist auch eine fundamentale Repräsentationskategorie: Ein Ausgangsobjekt soll in einer anderen Größenordnung so dargestellt werden, dass bestimmte Merkmale und Eigenheiten des Ausgangsobjekts auch in dem reskalierten Zielobjekt erhalten bleiben. Eine Ausdifferenzierung der verschiedenen Repräsentationsmodi, die im Forschungsfeld der Skalierung berücksichtigt werden müssen, steht allerdings noch aus: Überall dort, wo im Rahmen von Verfahren der Projektion, Darstellung, Simulation, Modellierung und Reproduktion die Umwandlung eines Ausgangsobjekts in ein reskaliertes Zielobjekt stattfi ndet, stellt sich etwa die Frage nach dem maßstäblichen Verhältnis von den Ausgangsgrößen zu den Zielgrößen. Hierbei handelt es sich um ebenso allgemeine wie grundlegende medientheoretische Probleme, die sich nicht auf die Repräsentationsmodi und Reproduktionstypen in den Künsten beschränken lassen. Gleichwohl lassen sich diese Probleme sehr gut in den verschiedenen Künsten beobachten. Blickt man etwa auf die Literatur, so lässt sich das Repräsentationsproblem der Skalierung zum Beispiel im Bereich einer Erzähltheorie verorten, die das Verhältnis von narrativer Darstellung und narrativ Dargestelltem untersucht. Diese Dimension der Skalierung ist bislang wohl am systematischsten im Kontext der Relationierung von Erzählzeit und erzählter Zeit theoretisiert worden. Jeder Erzählakt erweist sich so gesehen als ein Reskalierungsakt, der die erzählte Zeit im Medium der Erzählzeit wiedergibt – und sich narrativer Verfahren der Ver11
Aristoteles: Poetik, übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 364.
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dichtung und der Ausdehnung bedient. Eine weitere Dimension der Skalierung wird neuerdings verstärkt im Rahmen der Erforschung von textuellen Epitomisierungsprozessen thematisiert. Die in der gesamten Textkultur seit der Antike beobachtbaren Verfahren der Verkürzung von Textumf ängen und der textuellen Komprimierung von Wissensbeständen gehorchen einer Reskalierungslogik, die es noch umfassender zu rekonstruieren gilt. Eine skalierungssensible Betrachtung des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit hat bis heute ebenso wenig stattgefunden wie eine an Skalierungsfragen orientierte Erfassung des Verhältnisses von Ausgangswerken und gekürzten bzw. komprimierten Zielwerken (Epitomen). Überdies lässt sich keine literaturtheoretische Reflexion ausmachen, ob und wie diese und andere Reskalierungsakte mit systematischen Verzerrungen einhergehen – wie sie seit längerem in der theoretischen Geografie, aber auch in der Medientheorie diskutiert werden. Hier besteht ein großer Reflexionsbedarf seitens der ästhetischen Theoriebildung. * Skalierung ist ein Schlüsselproblem der Geisteswissenschaften, die sich mit den Künsten befassen. Weshalb ist man ihm bislang ausgewichen? Vielleicht ist es gerade der Offensichtlichkeit dieses Problems geschuldet, dass es an einer systematischen Behandlung von Skalierungsfragen im Bereich der Ästhetik fehlt. Aufgrund dieses Mangels an systematischer Reflexion könnte es hilfreich sein, ausgehend von den vorigen Überlegungen einen Problemkatalog zu formulieren, der die Fragen auff ührt, die sich in der bisherigen Reflexion über Skalierung als besonders dringend erwiesen haben. Es handelt sich um sieben Fragenkomplexe, die als Leitlinien für eine Erschließung dieses Forschungsfelds dienen können und vor allem die ästhetischen und hermeneutischen Dimensionen der Skalierung betreffen. Was sind erstens die Maßeinheiten der Skalierung? Was wären etwa die Einheiten, in denen man den Umfang von literarischen Werken bemessen sollte: Kapitel, Akte, Szenen, Strophen, Verse? Oder Bände, Bogen, Blätter, Seiten? Oder Zeilen, Wörter, Zeichen, Anschläge? Oder Lektürestunden? Vermessen lässt sich bei ästhetischen Artefakten Unterschiedliches. Bleibt man beim Beispiel der Literatur, so lässt sich der materielle Text vermessen, der sich etwa in dicken Foliobänden oder schmalen Taschenbüchern realisiert; oder der abstrakte Text mit einem bestimmten Umfang an Buchstaben; oder der rezipierte Text als realisierte Lektürezeit. Hier kommt die Frage auf, wie die gewählten Maßeinheiten die Beobachtung des Gegenstandes beeinflussen, und die Frage, welche Größen von Kunstwerken sich möglicherweise einer Messung vollständig entziehen. Was genau ist zweitens damit gemeint, wenn man von »großen« oder »kleinen« ästhetischen Artefakten spricht? So müsste geklärt werden, wie sich die Zuschreibungen von »groß« und »klein« zu den Zuschreibungen von »komplex« und »einfach« verhalten. Nicht nur in der Literaturwissenschaft lässt sich beobachten, dass dort, wo von »kleinen« Formen gesprochen wird, nicht selten auch »einfache« Formen gemeint sind. Wie verhält sich aber die Skalierung von Größe zu der Ska-
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lierung von Komplexität? Zudem stellt sich auch die Frage nach der fundamental normativ-ethischen Aufl adung von Größenzuschreibungen: »Groß« und »klein« sind häufig Wertausdrücke. Inwiefern fi nden unter dem Vorzeichen rein quantitativer Bestimmung nicht häufig auch qualitative Wertungsakte statt? Besteht mithin die Gefahr, dass eine wissenschaftliche Rekonstruktion, die Ausdrücke wie »groß« und »klein« in ihrem Analyserepertoire verwendet, mehr oder weniger implizit Wertungen vornimmt? Wie soll man drittens aus einer methodischen Perspektive die Skalierungsprozesse konzeptualisieren? Soll man sich Skalierungsprozesse als graduelle oder kategoriale, mithin als feingestufte oder sprunghafte vorstellen? Skalierungsbegriffe wie »mikro«, »meso« und »makro« oder »global«, »national«, »regional« und »lokal« legen eher kategoriale Differenzierungen nahe. Die Skalierungsmetapher der Einstellungsgröße, wie sie etwa aus der Filmanalyse vertraut ist, also das sich zwischen »Totale« und »Close-Up« öffnende Spektrum, impliziert hingegen eine graduelle Differenzierung. Hier stellt sich dann auch die Frage, wie die »Granularität« der eigenen Beobachtungsmodelle theoretisch ausbuchstabiert werden sollte. Wie sind in diesem Zusammenhang die Metaphern einzuordnen, die häufig für Skalierungsphänomene verwendet werden: So handelt es sich bei Begriffen wie »close reading« und »distant reading« um Metaphern, die ein fundamentales methodisches Skalierungsproblem in dem bildlichen Repertoire unterschiedlicher Entfernungen zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt einzufangen versuchen. Zentrale methodische Problemstellungen werden hier faktisch mit der visuell-technischen Metapher des »Zooms« umschrieben, die zweifellos als eine der modernen Leitmetaphern der Reflexion über Skalierung rekonstruiert werden muss.12 Wie sollte man viertens den Skalenpluralismus, der unsere Gegenwart prägt, medientheoretisch beschreiben? Die meisten Kunstwerke und ihre Reproduktionen sind uns heute in einer Vielzahl von Skalierungen zugänglich. Die Weiterverbreitung und Zirkulation von ästhetischen Artefakten geht häufig mit Reskalierungsarbeit einher. Hier wäre zu klären, ob bestimmte Verfahren wie zum Beispiel miniaturisierende Reskalierungen die Zirkulation von kulturellen Produktionen in der aktuellen digitalen Populärkultur steigern. Zudem sind viele ästhetische Artefakte sowohl aufgrund der unüberschaubaren Vielfalt von digitalen Rezeptionsoberfl ächen als auch aufgrund der Reskalierungsaffi nität dieser Benutzeroberflächen mittlerweile einer permanenten Reskalierung ausgesetzt. Derartige Vorgänge des Reskalierens werfen aus ästhetischer Perspektive das Problem der ästhetischen Formkonstanz über Größenwechsel hinweg auf: Geht jede Reskalierung notwendigerweise mit einem umfassenden ästhetischen Formverlust einher?13 Oder lassen 12 Vgl. die Problematisierung bei Bruno Latour: L’Anti-Zoom, in: Olafur Eliasson: Contact, Paris 2014, S. 122–125. 13 Vgl. Jacob Burckhardt: Format und Bild [1886], in: Jacob Burckhardt: Vorträge, 1870–1892. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Maurizio Ghelardi und Susanne Mü ller unter Mitarbeit von Reinhard Bernauer, Mü nchen und Basel 2003, S. 506–516.
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sich Merkmale von ästhetischen Objekten ausmachen, die auf Reskalierungsarbeit kaum reagieren, vielleicht sogar skaleninvariant sind? Hier ist davon auszugehen, dass sich die diversen Künste hinsichtlich dieser Reskalierungsphänomene unterschiedlich verhalten. Nicht minder zentral ist in diesem Zusammenhang das Problem, ob Reskalierungsarbeit durch eine Veränderung quantitativer Größen einen qualitativen Kategoriensprung herbeiführen kann, das heißt, ob sich durch eine quantitative Veränderung der Größen und Maße der gesamte qualitative ›Aggregatzustand‹ des ästhetischen Artefakts transformieren kann. Wenn bisher meist die Größenverhältnisse der Kunstwerke selbst im Zentrum gestanden haben, so wird angesichts der geschilderten permanenten kulturellen Reskalierungsarbeit in den Künsten der Gegenwart fünftens die Frage relevant, ob man nicht den Fokus von den ästhetischen Objekten auf die Praktiken der Veränderungen von Größenverhältnissen verschieben sollte. Die oben geschilderte Fokussierung des Skalenpluralismus würde die Größe von Kunstwerken weniger als Objekteigenschaft denn als eine soziale Medienpraxis rekonstruieren, die bestimmten materiellen, technischen, infrastrukturellen, institutionellen und intellektuellen Restriktionen unterliegt. Es würde dann weniger um »Großes« und »Kleines« in der Kunst gehen als um die künstlerischen Verfahren des Vergrößerns und des Verkleinerns. Eine derartige praxeologische Perspektive würde dann auch nahelegen, Skalierungsverfahren immer in bereichsspezifi schen Praxiszusammenhängen zu situieren: Die Tatsache etwa, dass sich, wie Moretti insistiert, bestimmte Merkmale der literaturgeschichtlichen Evolution nur auf ganz großen Skalen angemessen historisch-philologisch rekonstruieren lassen, bedeutet keineswegs, dass diese Skalen auch für eine angemessene ästhetische Rezeption maßgeblich sein müssten. Hier ist eher davon auszugehen, dass unterschiedlichen Praxisformen auch unterschiedlich skalierte Beobachtungsobjekte entsprechen. Diese Fokussierung von sozialen Reskalierungspraktiken birgt auch sechstens die Möglichkeit, die ästhetischen und epistemischen Effekte von Skalierungen näher in den Blick zu nehmen. Möglicherweise lässt sich aus dieser Sicht Ästhetisierung selbst als ein Skalierungseffekt rekonstruieren. So ist etwa bereits im Rahmen der Fotogeschichte gezeigt worden, dass der Kunstmarkt die Fotografie erst in dem Moment zu einer vollends ästhetisch validen Ausdrucksform werden lässt, in dem eine Formatvergrößerung der Fotografie zum tafelbildanalogen Ausstellungsobjekt stattfi ndet. Darüber hinaus lässt sich im Bereich der »Appropriation Art« beobachten, dass Ästhetisierungsprozesse mit Reskalierungsstrategien häufig Hand in Hand gehen. Mithin ist die selbstreflexiv ausgestellte Skalierung von Kunstwerken zu einer zentralen ästhetischen Strategie geworden. Aber nicht allein die Ästhetisierung, sondern auch die ›Epistemisierung‹ von Artefakten verdient eine skalierungssensible praxeologische Rekonstruktion. Artefakte müssen nämlich nicht selten erst in eine bestimmte Größenordnung übertragen werden, um für die wissenschaftliche Bearbeitung handhabbar zu werden. Die Überführung von Artefakten in epistemische Objekte, die z. B. in wissenschaftlichen Katalogen, Ausgaben und Studien verzeichnet, verglichen und zitiert werden können, setzt häufi g eine massive
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Reskalierungsarbeit voraus. So könnte man pointiert sagen: keine Vergleichbarkeit innerhalb akademischer Arbeit ohne vorgelagerte Reskalierungsarbeit. Sowohl aus der Perspektive alltäglicher Rezeption als auch aus der Perspektive der wissenschaftlichen Deutung von Kunstwerken stellt sich siebtens die Frage, auf welcher Ebene der Granularität sich ästhetisches Handeln konstituiert. Anders gefasst: Auf welcher Ebene der Granularität der Beobachtung von kreativen Prozessen und Produkten fi nden wir menschliche »agency«? In welchen Skalensektoren lässt sich künstlerische Intentionalität verorten, das heißt, auf welchen Größenordnungen können Künstlerinnen überhaupt Gestaltungsabsichten zugeschrieben werden? Die Frage der Verortung der menschlichen »agency« wirft schließlich auch die zentrale Frage auf, welche Rolle der Mensch und ›seine‹ spezifischen Maße für die Frage der Skalierung spielen. Sollen wir davon ausgehen, dass alle Skalen anthroponom ausgerichtet sind? Dieser Aspekt ist häufig als Ausgangspunkt von Analyse wie Kritik von Kunstwerken verwendet worden: So ist es in der Architekturkritik geradezu ein Topos, vom Verlust des menschlichen Bezugsmaßes in der modernen Baukunst zu sprechen. Nur wenn man dieses Grundproblem der Anthroponomie der Skalierung in den Wissenschaften, die sich mit den Künsten befassen, und in den Künsten selbst fokussiert, lassen sich Kunstwerke verstehen, die wie zum Beispiel Andreas Gurskys Fotografien nicht nur großformatig sind, sondern programmatisch auch Perspektiven entwerfen, die allen menschlichen Maßen spotten und die damit eine Skalierungsstrategie forcierter Überforderung betreiben – wobei seit den postmodernen Debatten über das Erhabene in den modernen Künsten die Diskussion über die Skalierung von Kunstwerken aus der philosophischen Ästhetik nicht mehr wegzudenken ist. Nur wer diese anthropologische Dimension der Skalierung im Blick hat, wird auch die dezidiert anti-anthropozentrische Pointe von Morettis Methodenpolemik verstehen, die darauf hinausläuft, dass man die von und für Menschen produzierte Literatur nur angemessen verstehen kann, wenn man eine größere Textmenge analysiert, als ein Mensch innerhalb seiner Lebenszeit je selbst wird lesen können. Diese gleichsam ultrahumane Defi nition des Gegenstandes der ›Humanities‹ wirft deshalb die grundlegende Frage auf, ob der Mensch überhaupt noch das Maß aller ästhetischen Dinge ist. * Die Frage nach der Skalierung ist nichts anderes als die grundlegende Frage danach, wie ein beliebiger Bezugsgegenstand auf die Veränderungen seiner Größe reagiert. Die vorangehenden Überlegungen sind ein Plädoyer dafür, dass die Skalierungsfrage zu einer festen Reflexionsgröße in unserem fundamentalen Theorierepertoire werden sollte. Diese Frage ist so grundlegend, dass sie sich sogar auf die Monografie von Geoff rey West anwenden lässt. In einem gut 15-minütigen TED-Talk hat West bereits 2011 seine Theorie der Skalierung präsentiert. Ein halbes Jahrzehnt später folgt darauf die 480-seitige Monografie. Die Reskalierung des kurzen YouTube-
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Videos zu einer dicken Nonfiction-Monografie beeindruckt fraglos. Wie aber hat das von West propagierte System »Theorie der Skalierung« auf die massive Veränderung seiner Größe reagiert? Blickt man in den umfangreichen Band, kann man extensive anekdotische Einschübe zu wissenschaftlichen Entdeckungen und ausführliche biografi sche Abrisse zu Wissenschaftlern ausmachen. Es handelt sich dabei nicht um tragende Teile der Theorie, sondern um eingehängte Einschübe und dilatorische Digressionen. Vielleicht ist der TED-Talk also gar nicht der komprimierte Buch-Trailer der umfangreichen Monografie, sondern vielmehr das dicke Buch die homöopathische Verdünnung des konzisen TED-Talks? Hier wird ersichtlich, dass nicht nur bei der Beschreibung ästhetischer und intellektueller Artefakte viel von der unterstellten Laufrichtung der kulturellen Reskalierungsprozesse abhängt; auch bei der Bewertung der Artefakte spielt die Laufrichtung dieser Prozesse häufig eine wichtige Rolle.
Potenzierte Formen des grössten Miniaturisten der Musik Skalierungen in der Rezeptionsgeschichte Richard Wagners Gesa zur Nieden
1. Skalieren im »Wagner-Universum«: Wagner als Exzess Um den Sachverhalten auf die Spur zu kommen, die sich in Bezug auf Wagners Musik und die damit zusammenhängenden musikwissenschaftlichen Forschungen als Skalierung im Sinne vom Umgang mit Größenordnungen und der Reflexion auf Messbarkeit beziehungsweise die Vermessung von Musiktheaterstücken fassen lassen könnten, ist es erhellend, mit dem Beispiel einer offensiven NichtSkalierung zu beginnen: »Wagneruniversum« heißt das Kompendium des Fluglotsen und Wagner-Liebhabers Frank Schönenborn, mit dem er 2016 und 2018 eine kommentierte Aufl istung aller Tonaufnahmen von Wagners »Werkverwirklichungen« vorlegte.1 Seine Zusammenstellung erfüllt zwar alle Bedingungen für eine auf Vollständigkeit bedachte, zeitlich umfassende Arbeit, indem neben den unterschiedlichen Tonträgern und Medien (»Schellack, Vinyl, CD, DVD, Radio, TV, Internet«) auch inoffi zielle Aufnahmen berücksichtigt werden. Gleichzeitig weist die Aufstellung, im Gegensatz zu mancher Rezension,2 keinerlei Reflexion über die Größenordnung des Unterfangens auf, die für den ersten Band bereits ein Durchhören der ca. 500 Mitschnitte erforderte. Auch die Abstufungen der qualitativen Einschätzungen zum sängerischen Durchhaltevermögen oder zur interpretatorischen Nuancierung, die in den kurzen Kommentaren zu jeder Aufnahme festgehalten werden, werden trotz der Existenz eines extra darauf ausgerichteten Einführungskapitels nicht weiter hinterfragt. Lediglich die Monotonie der verwendeten Bewertungsstufen scheint dem Autor Sorgen zu machen: »Bestimmte Worte werden auch immer wieder auftauchen. Wiederholungen lassen sich kaum vermeiden, denn es gibt für ›gut‹, ›sehr gut‹, ›ausgezeichnet‹, ›exzellent‹ und ›hervorragend‹ nur eine begrenzte Bandbreite von Alternativen.«3
Frank Schönenborn: Wagneruniversum auf Schellack, Vinyl, CD, DVD, Radio, TV, Internet I: Der Fliegende Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Würzburg 2016. 2018 erschien der 2. Band mit Kommentaren zu Der Ring des Nibelungen: Rheingold, Die Walküre, Sieg fried, Die Götterdämmerung. 2 hot: 117 Tage am Stück Richard Wagner hören, in: Hamburger Abendblatt (21.08.2018), https:// www.abendblatt.de/kultur-live/article215138229/117-Tage-am-Stueck-Wagner-hoeren.html, Zugriff: 06.09.2018. 3 Schönenborn: Wagneruniversum auf Schellack [Anm. 1], Seite 17. 1
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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Zusammen mit der mit einem Augenzwinkern geäußerten Tatsache, dass Wagnerianer »– in aller Bescheidenheit natürlich – einfach Recht haben«,4 verweist die ›Alternativlosigkeit‹ der ausgesuchten Bewertungen zunächst auf eine implizite Skalierung des »Universums der existierenden Wagneraufnahmen« 5 mittels traditioneller, aber vor allem wohl stillschweigender Übereinkünfte zu musikalischen Interpretationen und ästhetischen Wertungen.6 Gleichzeitig schärft eine solch aktive Nicht-Erklärung der eigenen Skalierung die Autorität des Bewertenden, der sich während der Aufstellung seiner kommentierten Listen keinerlei Problemen zu stellen hat – darunter schon gar nicht den ideologischen Vorbehalten in Bezug auf die kulturhistorische Größe Richard Wagners, die sich in der Länge seines Werkes oder der Fülle der vorliegenden Interpretationen spiegeln könnte. Im Gegenteil können die verwendeten Adjektive wohl nur von langjährigen Einwohnern des »Wagneruniversums« verstanden und mit Bedeutung gefüllt werden; man bleibt also in seiner spezifi schen musikrezeptorischen Praxis gewissermaßen unter sich.7 Dieses Beispiel einer offensiven Nicht-Reflexion der eigenen Skalierung erlaubt nicht nur einen ersten Blick auf die gegenwärtigen kulturhistorischen und musiksoziologischen Zusammenhänge, die bei der Größenordnung von Richard Wagner und seinen Musikdramen ins Spiel kommen. Es rückt zudem die Unterscheidung unreflektierter Skalierungen, die es in der wissenschaftlichen wie populären Wagner-Rezeption in Hülle und Fülle gibt,8 von gezielten und auf Messbarkeit angelegten (Neu-)Skalierungen der von Wagner geschaffenen Werke ins Zentrum der Betrachtung. Neuskalierungen Wagners, das wird im Folgenden zu zeigen sein, liegen vor allem in Momenten vor, in denen ein mehr oder weniger Ebd., 17 f. Ebd., 8. 6 In der Tat empfiehlt Schönenborn zur Wahrung der Objektivität das »Blindhören« analog zum »Testen von Wein«, ebd., 13. 7 »Die folgenden Besprechungen sind lediglich die konsolidierten Einschätzungen einiger passionierter Wagnerianer mit unterschiedlichen persönlichen Vorlieben […]«, ebd., 18. Aufgrund der von Schönenborn angegebenen Bewertungsskala, deren Tiefpunkt ein »gut« zu sein scheint, lässt sich festhalten, dass die alleinige Tatsache, an einer Produktion von Wagner-Werken beteiligt zu sein, in den Augen des Autors bereits ein gehobenes Prädikat verdient. 8 Die messtechnisch nicht weiter reflektierten, sondern relational gedachten Abstufungen von Musik werden zum Beispiel in Studien zur Dynamik Richard Wagners deutlich, vgl. z. B. Jens Malte Fischer: Die Kunst des tönenden Schweigens. Herbert von Karajan und Richard Wagner, in: Herbert von Karajan 1908–1989. Der Dirigent im Lichte einer Geschichte der musikalischen Interpretation, hg. von Lars E. Laubold und Jürg Stenzl, Salzburg, Wien und München 2008, 54. Zu Wagners Dynamik und ihren »Rückstufungen« vgl. Egon Voss: Wagner auff ühren, in: Der Raum Bayreuth. Ein Auftrag aus der Zukunft, hg. von Wolfgang Storch, Frankfurt/M. 2002, 128–144. Imogen Fellinger weist auf den zeitgenössischen Dynamikbegriff hin, der eng mit dem Erhabenen verbunden war und somit den Akzent nicht auf die Abstufung, sondern auf die »als sich beherrschende, in sich sichere Kraft von besonders erhabener Wirkung« setzte. Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache, Wien 1843, 248/1, zit. nach Imogen Fellinger: Bemerkungen zur Dynamik Richard Wagners, in: Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1970, 160. 4 5
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abgeschlossenes, auf Wagner zentriertes »Wagneruniversum« mit anderen »Universen« konfrontiert oder verglichen wird. Sie sind also nicht nur in sich relational, sondern stehen auch in Relation zu etwas Äußerem.9 Insofern lässt sich in Bezug auf reflexive Skalierungen von Richard Wagners Musik bereits festhalten: Wer aktiv skaliert, denkt zwar nicht unbedingt groß, aber zumindest über den eigenen Tellerrand hinweg. Gezielte, in ihren Messverfahren zurückzuverfolgende Skalierungen entstehen dementsprechend an musikhistorisch oder -kulturell relevanten Scharnierstellen, an denen es mit Exzessen umzugehen gilt, die innerhalb einzelner Felder jeweils unterschiedlich eingestuft werden. Insofern sind diese Skalierungen, wie in anderen künstlerischen Bereichen sicherlich auch, zumeist eng mit dem Gefühl der Nicht-Skalierbarkeit verbunden, das sich ergibt, wenn implizit gesetzte Maßstäbe nicht mehr funktionieren. In der Wagner-Rezeption gibt es vor allem zwei »Universen« beziehungsweise Diskurse, in denen in bestimmten Momenten beim Umgang mit Wagners Musik explizit mit Skalierungen gearbeitet wird, das heißt, in denen Skalierungen nicht nur als implizite Maßstäbe vorhanden sind, sondern aktiv neu hervorgebracht werden. Dies ist vor allem bei Wagner-Interpretinnen und -Interpreten der Fall, spielt aber ausgehend von der bis heute gleichermaßen rezipierten wie kritisierten Abhandlung Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner des Wagner-Liebhabers Alfred Lorenz von 1924–1933 (vier Bände) auch in der Wissenschaft eine große Rolle.10 Lorenz’ schematische Einteilungen der Musikdramen Wagners mittels taktanzahlmäßig skalierter Formen brachte dabei nicht nur weitere Reflexionen auf messbare Längenverhältnisse in Wagners Musiktheaterkompositionen hervor, sondern gleich ein ganzes Diskursnetzwerk, das sich über die einzelnen »Universen« hinweg zwischen Befürwortern und Ablehnern Richard Wagners sowie zwischen Wissenschaft und Musikpraxis gleichermaßen aufspannt. Dies ist umso erstaunlicher, als dass Richard Wagners Musikdramen in der Musikgeschichtsschreibung auf den ersten Blick seltsam unskaliert erscheinen. Der 9 Einen relational arbeitenden, aber die Binnenskalierung nicht weiter reflektierenden Ansatz zur Erforschung der Wagner-Rezeption verfolgt Stephan Mösch, der sich mit verschiedenen Inszenierungsstrategien und dem intermedialen Einsatz digitaler Techniken in Wagner-Inszenierungen beschäftigt. Stephan Mösch: Beschleunigung und Entschleunigung als Paradigmen der Wagner-Rezeption?, in: Richard Wagner. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, hg. von Helmut Loos, Leipzig 2013, 279–286, (= Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung, Sonderband). 10 Zur Rezeption von Alfred Lorenz vgl. William Kinderman: The Institute of Musicology at the Ludwig Maximilian University during National Socialism: the Career of the Wagner Scholar Alfred Lorenz, in: Music & Politics 11/1 (2017), 15: »The overestimation of Lorenz’s work has roots in the close-knit German nationalist circles described above, but a prominent British author like Gerald Abraham, writing in 1938, praised Lorenz’s contribution as ›masterful‹ and as ›great analy tical work‹ (A Hundred Years of Music [London: Fuckworth, 1955; fi rst published 1938], 121, 128). In his chapter from 1999 on ›Wagners Kompositionstechnik‹ in his edited book Richard Wagner. Konstrukteur der Moderne, Claus-Steffen Mahnkopf writes that ›Lorenz’s large studies… are a milestone of research on Wagner’s music and remain unsurpassed.‹ (›Lorenz’ grosse Abhandlungen… sind ein Meilenstein der Forschung zu Wagners Musik und bis heute uneingeholt.‹) (p. 166).«
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Länge von Wagners Musikdramen, darunter vor allem der Ring-Tetralogie und der philosophisch-ästhetischen Schriften des Komponisten, scheint die musikwissenschaftliche Forschung selten erlegen – zumindest wird der Umfang fast nirgends aktiv reflektiert und binnendifferenziert.11 Dies mag daran liegen, dass die Operngeschichte des späten 19. Jahrhunderts und darüber hinaus zahlreiche »große« Werke aufzuweisen hat, von der von Giacomo Meyerbeer und Gioachino Rossini bedienten Gattung der Grand opéra über Hector Berlioz’ zweiteiliges »poème lyrique« Les Troyens (1856–1858) bis hin zu Sergej Prokofjews vierstündiger Oper in 5 Akten beziehungsweise 13 Bildern Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1941–1943, zwischen 1946 und 1952 mehrfach revidiert), Bernd Alois Zimmermanns Oper in 4 Akten Die Soldaten (1957–1865) und Olivier Messiaens »scènes franciscaines« Saint François d’Assise (1975–1983). Diese oft als »Mammutwerke« bezeichneten Opern zeigen jedoch bereits, wie vielseitig der Begriff der »Größe« in der Opernhistoriographie umschrieben und angewendet wird, zumal überwältigende Szenographien, die Anzahl der Darstellerinnen und Darsteller, der umfassende ideelle beziehungsweise ideologische Impetus sowie die herausragende Wirkungsgeschichte der Werke neben ihrer Länge und der damit verbundenen kompositorischen wie sängerischen Anstrengungen die »Größe« dieser Musiktheaterstücke ausmachen.12 Ein solch inklusiver Größenbegriff scheint auch die Grundlage dafür zu sein, dass musikalische beziehungsweise musikhistorische Größe in der Musikgeschichte oft in Anlehnung an »große Werke« zu erlangen versucht oder auch zurückgewiesen wird. Hierbei kommt Richard Wagners Opernzyklus Der Ring des Nibelungen eine herausgehobene Stellung zu, wobei die retrospektiven Wagner-Referenzen jeweils wiederum ganz unterschiedliche Parameter der Größe akzentuieren, indem sie vom siebentägigen Musiktragödien-Zyklus Homerische Welt (UA Dresden, 1896–1903) des weniger bekannten Komponisten August Bungert bis hin zu Karlheinz Stockhausens unter anderem von Thomas Manns (und Theodor W. Adornos) Doktor Faustus inspiriertem Opernzyklus LICHT (1977–2003) reichen.13 Umgekehrt zu diesen musikhistorisch vielschichtigen Betrachtungen der Größe, mit deren Hilfe vor allem komplexe kulturhistorische und intermediale Zusammenhänge erhellt werden können, fi nden sich rein an der Länge von Wagners Musikdramen orientierte Größenbetrachtungen eher in auff ührungspraktischen Studien wieder. Hier führt die Reflexion der Größe zu Skalierungsversuchen im 11 Ganz anders dagegen die Literatur über Wagner, die Claus-Steffen Mahnkopf zufolge jedoch nur einen verschwindend geringen Anteil an Auseinandersetzungen mit Wagners Musik aufweist, vgl. Claus-Steffen Mahnkopf: Richard Wagner. Konstrukteur der Moderne, Stuttgart 1999, 159. 12 Zur Grand opéra vgl. neuerdings Carolin Bahr: Grand Opéra an deutschen Hoftheatern (18301848): Studien zu Akteuren, Praktiken und Auff ührungsgestalten, Würzburg 2016 (= Musik – Kultur – Geschichte 5). 13 Christoph Hust: August Bungert und sein Musiktragödien-Zyklus Homerische Welt, in: FriedrichKiel-Studien 3 (1999), 119–146; Magdalena Zorn: Stockhausen unterwegs zu Wagner. Eine Studie zu den musikalisch-theologischen Ideen in Karlheinz Stockhausens Opernzyklus LICHT (1977–2003), Hofheim 2016.
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Hinblick auf einen geeigneten Umgang mit Wagners Musik. In den auff ührungspraktischen Studien geht es darum, die physisch und kognitiv anspruchsvoll langen Werke Richard Wagners als Sängerin, Sänger oder Dirigent (seltener als Dirigentin) angemessen aufzuführen. Der Dirigent Peter Schneider fasste seine Erfahrungen mit Wagners Mammutwerken im Jahr 2002 unter dem Titel »Climbing Mount Everest. On Conducting Die Meistersinger« zusammen.14 Im selben Band reflektiert Dietrich Fischer-Dieskau über die Anforderungen der Rolle des Hans Sachs mit den Worten: »Vocal mastery of such a gigantic role is thus a question of economy, which a young singer must fi rst gradually develop. Indeed, each new attempt at singing the part entails a new adjustment to the vocal requirements. Above all this calls for a scaling-down towards the lyrical, which Sachs so often requires. This, really, is the Gordian Knot for a higher baritone: that he constantly has to operate in a register which per se is too low, and which goes against the physiological reality.«15 Auch der Bassbariton Theo Adam bemüht in seiner autobiographischen Rekonstruktion der Einstudierung des Hans Sachs Beschreibungen der Messbarkeit, Relationalität beziehungsweise Vergleichbarkeit und des stufenartigen Vorgehens – und streikt zunächst im Angesicht des rein längentechnischen Exzesses, den seine »Abmessungen« der Rolle deutlich machen.16 Umgekehrt zu diesen Versuchen einer Herunterskalierung von Stimmgabe und sängerischem Ausdruck im Hinblick auf eine interpretatorisch und zeitlich unbegrenzte Flexibilität begegnet der Dirigent Christian Thielemann der Herausforderung seines ersten Bayreuther Rings mit einem »klug kalkulierten, architektonischen musikalischen Auf bau«, innerhalb dessen sich die einzelnen Stücke des Rings als Versatzstücke einer größeren Form charakterisieren lassen: »Das Rheingold muß eigentlich als gigantische Ouvertüre betrachtet und auch so dirigiert werden«.17 Zielpunkt dieser Hochskalierung ist eine gefühlvolle Wiedergabe des Stücks trotz der höchsten Anstrengung, die der Ring erfordert: »Man muß sich vor allem auch überlegen, wie man sich die Kräfte einteilt. Und wie wir wissen, sind die Sommer in Bayreuth heiß, und der Ring besteht bekanntlich aus mehreren nicht ganz kurzen Stücken. Man hat mich schon gewarnt – und es ist mir ja auch nicht vollständig unbekannt –, daß der erste RingSommer bei einer Neuinszenierung immer höllisch anstrengend ist. Daher muß Peter Schneider: »Climbing Mount Everest«: On Conducting Die Meistersinger, in: Wagner’s »Meistersinger«. Performance, History, Representation, hg. von Nicholas Vaszonyi, Rochester/NY 2003, 23–38. 15 Dietrich Fischer-Dieskau: Richard Wagner’s Cobbler Poet, in: Wagner’s »Meistersinger«. Performance, History, Representation, ed. by Nicholas Vaszonyi, Rochester/NY 2003, 52. 16 »Heute habe ich die Partie erst einmal ›abgemessen‹. Alle Noten und Worte, die Hans Sachs zu singen hat, wurden im Klavierauszug blau unterstrichen. […] Der Blaustift ist dabei erheblich kürzer geworden, und ich stelle fest, daß der Sachs ein ›Bandwurm ohne Ende‹ ist. Also klappe ich den Auszug geräuschvoll zu und stöhne: Das lerne ich nie! Sage es und stelle die Noten im Regal unter ›Wagner‹ wieder ab. Aus!«, Theo Adam: Seht, hier ist Tinte, Feder, Papier… Aus der Werkstatt eines Sängers, Berlin (Ost) 1980, 57 f. 17 Interview »Im ersten Jahr ist das natürlich ein Wagnis!« Christian Thielemann im Gespräch mit Dieter Borchmeyer und Sven Friedrich, in: wagnerspectrum 1 (2006), 182. 14
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man schon zuvor einen Rahmen abstecken, in dem man dann das Gefühl spielen lassen kann. Ich bin ja nicht unbedingt zuerst der Kopfmensch, aber es kommt darauf an, das Gefühl schon von Anfang an in geordnete, strukturierte Bahnen zu lenken.«18 Während hier schon festzuhalten ist, dass die Reflexion auf die Länge von Wagners Musikdramen beziehungsweise seiner Tetralogie gleichermaßen zu Herunter- als auch zu Hochskalierungen des musikalischen Materials im Hinblick auf seine Bewältigung durch Auff ührende wie Rezipient *innen herausfordert, gründen Thielemanns Skalierungen zur Bewältigung des Werks mittels eines »architektonischen Auf baus« auf Alfred Lorenz’ zwischen 1924 und 1933 erschienener Abhandlung Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner. Der Wagner-Adept Lorenz wurde von seinen Kritikern oft als in seinen Analysen zu verkopft bewertet, da er die angesetzten Formen wie die Bar-Form oder Bogenform im musikalischen Text allerorten wiederentdeckte, unter anderem indem er sie zu »potenzierten Formen« ausbaute.19 Auf diese Weise gedachte Lorenz, den Vorwurf der Formlosigkeit zu entkräften, mit dem Wagners Musikdramen um die Jahrhundertwende ausgehend von seinem Begriff der »unendlichen Melodie« regelmäßig konfrontiert wurden.20 Wagner gelte, so Lorenz, vielen als »Zerstörer« der Form, der Melodie und der harmonischen Gesetze, und gerade diese Eigenschaft mache für viele seine »Größe« aus.21 Zugleich wandte Alfred Lorenz sich gegen die werkhermeneutische Einseitigkeit der durch Hans von Wolzogen etablierten »Leitfadenliteratur« in bloßer Listenform:22 »So wichtig also für das Verständnis des Wagnerschen Kunstwerkes die Aufdeckung der Beziehungen zwischen dramatischen Beweggründen und musikalischen Motiven war, vom musikalischen Standpunkte aus sind die Leitmotive doch nichts, als kleine Steine, durch deren Zusammensetzung erst die Wunderbauten der Wagnerschen Musik entstehen, und nimmermehr werden wir die kolossale Wirkung dieser musikalischen Dome auf beinahe drei Generationen erklären können, wenn wir nicht ihre auftürmende Konstruktion ins Auge fassen,
Ebd., 181. Vgl. William Kinderman: Wagner’s Parsifal, New York 2013, 4 f., (= Studies in Musical Genesis, Structure, and Interpretation). 20 Vgl. dazu Stefan Kunze: Über Melodiebegriff und musikalischen Bau in Wagners Musikdrama dargestellt an Beispielen aus »Holländer« und »Ring«, in: Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1970, 111. 21 Alfred Lorenz: Der Musikalische Aufbau des Bühnenfestspieles Der Ring des Nibelungen (1924), Tutzing 1966, 3. 22 Auf das Wort »Leitfadenliteratur« geht Lorenz am Ende seiner Abhandlung zum Ring des Nibelungen ein: »Das ist die Frage nach der großen Architektonik des Kunstwerkes: denn es genügt zur Erkenntnis der Musik durchaus nicht das, was die Leitfadenliteratur gewonnen hat, daß man wisse, welche Themen wiederkehren und was diese in bezug auf die Dichtung bedeuten, Sondern [sic!] die Hauptsache ist, zu überschauen, was durch die Gruppierung dieser Motive, durch ihre Zusammenfügung und Verarbeitung, durch ihre gegenseitige Spannung und Entspannung für musikalische Wirkungen erzielt werden.«, ebd., 295. 18 19
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sondern immer nur bei der Betrachtung des Materials, mag dasselbe noch so edler Marmor sein, stehen bleiben.« 23 Das Vorkommen von Skalierungen und Nicht-Skalierungen von Richard Wagners Musik, dies wird in allen hier präsentierten Beispielen deutlich, hängt sowohl von den quantitativen und qualitativen Vergleichsmöglichkeiten als auch von einer Zentrierung auf Richard Wagner und seine Werke ab. Darüber hinaus haben Skalierungen Wagners immer mit Überschreitungen, Übertreibungen und Exzessen zu tun, wobei zwischen der Eindämmung und der Produktion von Exzessen durch Skalierungsversuche zumeist eine enge Wechselwirkung besteht: Die Freiheit der Form bedingt einen Übereifer des Skalierens, die unförmigen Melodien werden mittels Skalierung zu kolossalen Domen, gigantische Ouvertüren führen zu einer Nuancierung des Gefühls. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die musikwissenschaftliche Forschung seit Alfred Lorenz’ Abhandlung zur Form in Richard Wagners Werken mit den genannten Exzessen innerhalb von Skalierungsprozessen umgegangen ist und welche wissenschaftlichen wie musikpraktischen Diskurse dadurch befördert wurden.
2. Das Geheimnis der (potenzierten) Formen bei Richard Wagner Entgegen der oben konstatierten, allgemein nicht sehr ausgeprägten Reflexionen über die Messbarkeit von Musik mittels Skalierungen in der musikhistorischen Forschungsliteratur ranken sich um Alfred Lorenz’ Abhandlung zur Form bei Richard Wagner zahlreiche Erwähnungen der Länge der Wagner’schen Werke, die sich zu Vorhaltungen der »Längen« in Wagners Musikdramen auswachsen. Dieser Längen-Diskurs ist unmittelbar mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Kompositionsweisen und musiktheoretischen Grundlagen der Romantik verbunden und fi ndet seinen Anfang bei Friedrich Nietzsches Wagner-Kritik, in der er Wagners Werken »eine Schrecken einflössende Länge in Zuständen« vorwarf, gepaart mit dem »Grosse[n]«, »Erhabene[n]«, »Gigantische[n]«, »was die Massen bewegt«.24 Nietzsches Kritik in Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem von 1888 wurde um die Jahrhundertwende vom Wiener Musikwissenschaftler Guido Adler aufgegriffen, der Wagner aufgrund seiner »Weitschweifi gkeit« und seines nur »in Extremen« bewegenden Künstlercharakters dem »ultraromantischen« zuordnete.25 Parallel dazu entstand um den Begründer des Leipziger musikwissenschaftlichen Seminars, Hugo Riemann, eine musikpsychologisch informierte Auseinandersetzung mit der unter anderem von Wagner erneuerten Tonalität. Riemann defi nierte die musikalische Skala in der 5. Aufl age seines 1882 erstmals publizierEbd., 9. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, in: Kritische Studienausgabe [im Folgenden KSA] 6, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 21988, 24, 29 f. 25 Guido Adler: Richard Wagner. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Wien, Leipzig 1904, 142, 341 f. 23 24
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ten und dann immer wieder neu aufgelegten Musik-Lexikons, an der auch Guido Adler mitgewirkt hatte, als »Tonalität«, bei der »nicht der Umfang das Maßgebende für die Bedeutung [ist], sondern der Klang, in dessen Sinne die Skala verstanden wird, und der durch die Harmonie ausgeprägt ist, mit welcher die Skala auftritt«.26 Damit legte er eine der Grundlagen für Ernst Kurths Auseinandersetzung mit Wagner, die der Schüler Guido Adlers 1923 unter dem Titel Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan« publizierte. Kurth ging anhand des Beispiels von Wagners Tristan und Isolde dem »heißen Expansionsbedürfnis der Romantik« nach, in dem »der Weitungsdrang allenthalben übermächtig anschwillt und die harmonische Entwicklung zu unruhigem, stoßweisem, elementar ungebändigtem Ausfluten aufwellte. Das Wachstum der Harmonik wuchert nach allen Seiten wild hinaus. Klangsinnliche wie energetische Momente erfahren gewaltig vergrößerte Auswirkungen.« Gleichzeitig erweiterte Kurth Riemanns Perspektiv-Verschiebung vom quantitativen Moment des Umfangs der Skalen auf ihre klanglichen Qualitäten um das Denken in größer angelegten Formen. Denn um die »vergrößerten Auswirkungen« der »klangsinnlichen […] Momente« zu erfassen, müsse man die »tonalen Zusammenhänge« nicht in »Einzelwendungen« verfolgen, sondern »in größeren Abständen [abstecken]. […] Es liegt nichts anderes als ein Wachstum der einfachen Kadenzverhältnisse zu größeren Proportionen vor, indem die einzelnen ursprünglichen Akkorde einer Kadenz zu Kerngebilden werden, um die sich ganze Klanggruppen entfalten.« 27 Sowohl bei Ernst Kurth als auch bei Guido Adler ist eine ausgeprägte Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche zu erkennen. Adler erkennt in seinen Vorlesungen dabei sowohl Nietzsches frühe Affi rmation von Wagners Kompositionsweise als auch deren spätere Kritik an, die er an einigen Stellen als einen »nicht unberechtigten Angriff […]« zitiert.28 Ernst Kurth hebt in seiner Tristan-Analyse hingegen an mehreren Stellen auf den Begriff der Kraft ab, den auch Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872 nutzte, unter anderem um das Zusammenwirken apollinischer und dionysischer Kräfte in Wagners Tristan und Isolde zu erklären.29 Während beide Musikforscher somit auf Nietzsche rekurrieren, um die Wahrnehmung von Einheiten in Wagners Musik wenn nicht abschließend empirisch, dann zumindest philosophisch zu erklären, stützen sich sowohl Adler als auch Kurth auch in musikhistorischer Hinsicht auf Nietzsche. In der Tat scheinen beide auf Nietzsches Einstufung Wagners als décadent in seiner Schrift Der Fall Wagner von 1888 zu reagieren, indem sie die Entwicklung der roHugo Riemann: Art. »Tonleiter«, in: Musik-Lexikon. Fünfte, vollständig umgearbeitete Aufl age, hg. von Hugo Riemann, Leipzig 1900, 1151. Das Lemma »Skala« verweist auf das Lemma »Tonleiter«, ebd., 1058. 27 Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan«, Berlin 1923 (Nachdruck Hildesheim 1968), 315–317. 28 Adler: Richard Wagner [Anm. 25], 45, 317. 29 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: KSA 1, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, 136 f. 26
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mantischen Harmonie und Tonalität als »Zerfall« oder »Zerlegung« beschreiben.30 Nietzsche hatte in Der Fall Wagner erklärt: »Genug! Genug! Man wird, fürchte ich, zu deutlich nur unter meinen heitern Strichen die sinistre Wirklichkeit wiedererkannt haben – das Bild eines Verfalls der Kunst, eines Verfalls auch der Künstler. […] Man versteht nichts von Wagner, so lange man in ihm nur ein Naturspiel, eine Willkür und Laune, eine Zufälligkeit sieht. Er war kein ›lückenhaftes‹, kein ›verunglücktes‹, kein ›contradiktorisches‹ Genie, wie man wohl gesagt hat. Wagner war etwas Vollkommenes, ein typischer décadent, bei dem jeder ›freier Wille‹ fehlt, jeder Zug Nothwendigkeit hat. […] Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. –« 31 An dieser Stelle sind kurz die Dialektik und auch die Technisierung hervorzuheben, die Nietzsches Wagner-Kritik von 1888 zugrundeliegen: Nietzsche setzt zwar unmissverständlich bei der Länge der Wagner’schen Werke an (»Fünf Stunden Sitzen: erste Etappe der Heiligkeit!«)32 , um vom generellen Vorwurf der »Langeweile« aus die Länge der in Musik gesetzten Empfi ndungen zu kritisieren.33 Vor allem bezeichnet er Richard Wagner aber als »unsern grössten Miniaturisten der Musik«, dessen Kunst uns als erstes ein »Vergrößerungsglas« anbietet, um die »Erfi ndung des Kleinsten« und die »Ausdichtung des Détails« nachzuvollziehen.34 Auf diese Weise expliziert Nietzsche sowohl sein Argument der Größenhaftigkeit und des Gigantischen, auf das Wagner seiner Ansicht nach zielte, als auch das der höchst künstlich-technischen Umsetzung – und auch Rezeption, zumal die technischen Instrumente des Vergrößerungsglases und des Mikroskops ihm zum Beispiel für eine Skalierung der Nah- und Fernsicht auf die von Wagner mikroskopisch gesetzten und von den Wagnerianern akribisch zu erahnenden groß angelegten Motive zu dienen scheinen.35 Genau diese Verknüpfung von Dialektik und Technisierung bei Nietzsche scheint im Folgenden eine Reaktion hervorgebracht zu haben, innerhalb derer sich die empirische Musikforschung in dialektischer Weise mit der von Nietzsche als höchst künstlich beschriebenen Form bei Richard Wagner beschäftigte. Ernst Kurth zum Beispiel verband Nietzsches Kraft-Begriff mit einer Regelhaftigkeit »[…] die klassischen Formen erfahren eine Zerlegung, eine Zersetzung bei einer ungeheuren Bereicherung ihrer äußeren Machtmittel.«, Adler: Richard Wagner [Anm. 25], 12. 31 Nietzsche: Der Fall Wagner [Anm. 24], 26 f. 32 Ebd., 13. 33 »Dies Athem-Anhalten des Wagnerischen Pathos, dies Nicht-mehr-loslassen-Wollen eines extremen Gefühls, diese Schrecken einflössende Länge in Zuständen, wo der Augenblick schon erwürgen will! - -«, ebd., 30. Zum Vorwurf der Langeweile gegenüber Wagners Musikdramen vgl. Wilhelm Tappert: Wörterbuch der Unhöflichkeit. Richard Wagner im Spiegel der zeitgenössischen Kritik (1903), München 1967, 63–65. 34 Nietzsche: Der Fall Wagner [Anm. 24], 28. 35 »Man nehme irgend einen ›Knoten‹ Wagner’s unter das Mikroskop – man wird dabei zu lachen haben, das verspreche ich.« Ebd., 33. »Sie [die Jünglinge, GzN] hören ein Zittern, wie in seiner Kunst die grossen Symbole aus vernebelter Ferne mit sanftem Donner laut werden […]«, ebd., 37. 30
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des »deutlich greif bare[n] Zerfall[s] der tonalen Zentralisierung«, um es als »merkwürdig technische[s] Prinzip« zu beschreiben.36 In musikhistorischen Forschungen führte Nietzsches Technisierung hingegen zu einer starken Ausprägung des empirischen Moments der Messbarkeit. Fast zeitgleich mit Kurth legte der Dirigent und Musikforscher Alfred Lorenz im ersten Band seiner Reihe Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner zum Ring des Nibelungen eine vollständig »gerechnete« musikalische Analyse vor, mit der Nietzsches Technisierungs-Vorwurf auf eine wissenschaftlich-messbare Grundlage zurückzuführen versucht wird, um sie auf diese Weise zu neutralisieren. In der Tat handelt es sich bei Lorenz’ Analyse weniger um eine Studie der dialektischen Funktionsweise von Wagners Musik, sondern um den Versuch einer Transformation von Nietzsches Wagner-Kritik in einen umfassenden Formbegriff Wagners unter Einbezug weiterer, durchaus verschiedener zeitgenössischer Wagner-Interpretationen. Bereits im ersten von vier Bänden seiner Publikation unter dem Titel Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner von 1924 legte Lorenz aufbauend auf Kurths Darstellung der erweiterten romantischen Tonalität eine Formanalyse des gesamten Ring des Nibelungen vor. Die Grundlage seiner Analyse leitete Lorenz dabei aus seiner eigenen Interpretation des von Richard Wagner erwähnten Begriff s der »dichterisch-musikalischen Periode« ab.37 Indem Lorenz sowohl eine Skalierung des Werks nach »Perioden« vornahm, das heißt nach Zäsuren, an denen sich aufgrund des wechselnden musikdramatischen Ausdrucks auch die Tonalität beziehungsweise die von ihm sogenannte »Haupttonart« änderte,38 als er auch den Nachweis grundlegender Bogen-, Bar- und Rondoformen anstrebte, nach denen die Perioden in sich und untereinander strukturiert seien, verband auch er wie der Wagner-kritische Friedrich Nietzsche längentechnische Elemente mit dem Aspekt der Größenwirkung. Diese Verknüpfung äußert sich bei Lorenz in der Aufstellung der periodischen, bar- oder rondoförmigen Perioden, deren Umfänge durch die jeweilige Taktanzahl festgehalten werden. Besonders regelmäßige Formen werden von Lorenz dann in Orientierung an Jacob Burckhardts Einstufung griechischer Dramen als giebelförmig graphisch dargestellt, wobei sich Lorenz vor allem für die Symmetrie der Giebelform interessiert.39 Tatsächlich sind die taktmäßig anzeigbaren Längen der Formen ihm nur Mittel zum Zweck: Er wird nicht müde zu betonen, dass »auch die absolute Länge der Formen [gleichgültig ist]. Es kommt nur auf das Verhältnis der Teile an und neben den winzigen Baren, die bei der Themenaufstellung […] nachgewiesen wurden, werden wir im Schlußabsatz Bare von geradezu ungeheuren Dimensionen kennen »Das merkwürdige technische Prinzip, das hier zugrundeliegt, ist ein deutlich greif barer Zerfall der tonalen Zentralisierung, aber ein Zerfall, der sich nicht regellos vollzieht, sondern gleichfalls als vorgezeichnete Weitung der Tonalitätsverhältnisse […]«, Kurth: Romantische Harmonik [Anm. 27], 322. 37 Lorenz: Der Musikalische Aufbau [Anm. 21], 17–20. 38 Ebd., 21 f. 39 Ebd., 137. 36
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lernen.«40 Stattdessen stützt er sich auf Hugo Riemanns Harmonielehre und auf Ernst Kurths eher physikalisch gedachte »Potenzierung der Klangfortschreitungen«,41 um sich im Verlauf seiner Analyse ganz auf großfl ächige regelmäßige Formen zu verlegen, die er unter anderem in »potenzierten Formen« sieht, also in Bogen-, Barund Rondoformen, die wiederum selbst aus dergleichen Formen im Kleinformat zusammengesetzt sind.42 Am Ende seiner Schrift und im Bayreuther Festspielführer von 1924 erklärte er gar den gesamten Vorabend des Bühnenfestspiels beziehungsweise das Rheingold zu einem einzigen »VOLLKOMMENEN BOGEN […]«.43 Auch diese architektonisch-malerisch gedachten, aber durchaus auch aus den empirischen Reflexionen zu akustischen Wellenbewegungen hergeleiteten Formen zeichnen sich nicht unbedingt durch die perfekte taktmäßig messbare Deckungsgleichheit ihrer Teile aus.44 Die Einheitlichkeit der Form entsteht dem gleichermaßen auff ührungspraktisch als auch musikforschend denkenden Lorenz zufolge, der seine Analysen »durch meine praktische Tätigkeit am Dirigentenpult« erleichtert sah,45 viel eher durch die Spannungsverhältnisse ihrer Einzelteile sowie durch die Verdichtung der angegebenen Tempi und der durch die Tonalität gewährleisteten Form zu einem übergreifenden atmenden Rhythmus.46 Diese Überlagerungen verdeutlichen die auch für Lorenz nicht einseitig erklärbare beziehungsweise herleitbare Erscheinung, dass Wagners Werke als Einheiten beziehungsweise, Guido Adler folgend, als organisch gewachsene Formen wahrgenommen werden können.47 Den Hauptpunkt seiner Untersuchung fasst Lorenz ganz am Ende seines ersten Bandes der Reihe Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner noch einmal zusammen: »Dies ist das Geheimnis der ungeheuren Wirkung des Wagnerschen Kunstwerkes auf unsere und die vorige Generation. Nicht die Zerstörung der alten Regeln hat die Menschheit gefesselt – so etwas kann erschrecken oder momentan verblüffen Ebd., 148. Vgl. auch ebd., 150 oder 160. Ebd., 15 f. 42 Ebd., 190 ff . 43 Ebd., 281 [Großbuchstaben im Original]; Alfred Lorenz: Über die musikalische Form von Richard Wagners Meisterwerken (1924), in: Richard Wagner. Das Betroff ensein der Nachwelt. Beiträge zur Wirkungsgeschichte, hg. von Dietrich Mack, Darmstadt 1984, 87. 44 Lorenz: Der Musikalische Aufbau [Anm. 21], 121–123. 45 Ebd., 10. 46 »Die zusammenfassende Wirkung des Rhythmus aber, die darin besteht, daß durch größere Strecken eines Musikstückes eine einheitliche Taktart und ein festgehaltenes Tempo erfühlt wird, muß man sich näher ansehen, weil oft die Meinung besteht, als wäre auch darin Wagner zerstörend vorgegangen und weil viele neuere Tonsetzer glauben, man könnte bei fortwährend wechselndem Tempo und bei bis zur Unkenntlichkeit verzerrtem Rhythmus eine Wirkung ausüben. Ein Mitschwingen in der Seele des Empfangenden aber ist doch nur möglich – die Analogie mit der Erscheinung des Mittönens gleichgestimmter Saiten liegt auf der Hand – wenn der Rhythmus des Musikstückes deutlich ist und eine gewisse Zeit anhält, so daß das rhythmische Empfi nden des Zuhörers sich darnach einstellen kann.«, ebd., 56. 47 Zum Organischen bei Guido Adler vgl. Barbara Boisits: Historisch/systematisch/ethnologisch: die (Un-)Ordnung der musikalischen Wissenschaft gestern und heute, in: Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, hg. von Michele Calella und Nikolaus Urbanek, Stuttgart 2013, 45. 40 41
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– sondern die unerbittliche Folgerichtigkeit im Auf bau. Die formale Gliederung, die Form, die dasselbe ist wie der Rhythmus des Dramas, das sind die Kräfte, die dem Hörer unbewußt, diese Bezauberung ausübten.« 48 Bereits die Anspielung auf den Begriff der »Kraft« verdeutlicht, dass sich Lorenz hier explizit gegen Friedrich Nietzsches Interpretationsansätze der Werke Richard Wagners wendet, denn Lorenz schreibt kurz zuvor: »Noch weniger läßt sich die älteste, durchaus noch nicht ausgestorbene Anschauung vom Musikdrama aufrecht erhalten, als sei alles nur ein regelloses dionysisches Chaos, in dem die Musik bloß durch Ertönenlassen der sinnvoll dazu gehörigen ›Leitmotive‹ einen schrankenlosen dramatischen Vorgang begleite.«49 Während Lorenz entgegen Guido Adler auf Nietzsches Schrift Der Fall Wagner überhaupt nicht eingeht, zeigen sich in seinen Umdeutungen von Adlers Thesen des Organischen bei Richard Wagner dennoch auch klare Anleihen bei Friedrich Nietzsche. Nietzsche dient ihm dabei zum einen als weitere Erklärungsgrundlage für die wahrnehmungstechnische Funktionsweise von Wagners Musik. Adlers Metapher für natürliche Einheitlichkeit wird durch Lorenz zum Beispiel mittels einer Parallele zu Nietzsches »gleichnissartige[m] Traumbild« in einen organischen Bau umgedeutet, das laut Nietzsche die »Einheit mit dem innersten Grunde der Welt […] offenbart«:50 »Ich zweifle nicht, dass ein Genie wie Wagner die Kraft hatte, nicht nur das Rheingold, sondern sogar den ganzen Ring in einen Moment zu konzentrieren. Alles, was in so einem Augenblick zusammenklingt, ist organisch zusammengehörig und die ›Wahrtraumdeuterei‹ besteht eben darin, diese Potenz auseinander zu legen. Bekanntlich fi nden ja die längsten Träume im kurzen Augenblick des Erwachens statt. […] da nur das, was damals in ihm enthalten war, wirklich organisch zum Kunstwerke gehört (alles muß aus ihm hergeleitet werden, soll das Werk ›aus einem Guß‹ bleiben […].« 51 Zum anderen nutzt Lorenz Nietzsches Begriffl ichkeiten der décadence bei Richard Wagner als gleichsam rhetorisches Mittel zur Abstufung derjenigen Perioden, die aus seinem neuen Formbegriff herausfielen. Der Begriff des Zerfalls, den Lorenz hier übernimmt, setzt diese Perioden zwar als minderwertige, umrisshafte Erscheinungen von den inhaltlich aufgeladenen Perioden ab. Gleichzeitig deutet der Begriff jedoch auch den ehemals vorhandenen Rahmen dieser aus unzähligen Kleinteilen zusammengesetzten Perioden an: »Von der ganzen Menge unserer Perioden sind nur 16 übrig geblieben, welche in viele kleine Atemzüge, die nacheinander folgen, zerfallen, ohne daß man eine einheitliche größere Formung dieser Teile feststellen könnte. Indessen ist auch von diesen wieder eine Anzahl doch durch an- und auslautende gleiche Motive, wenn auch nur schwach, eingerahmt, und können nur deshalb nicht der analogen Bogenform mit gegliedertem Mittelsatz unterstellt werden, weil diese umrahmenden Teile zu kurz sind, 48 49 50 51
Lorenz: Der Musikalische Aufbau [Anm. 21], 297 f. Ebd., 297. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [Anm. 29], 31, 44. Lorenz: Der Musikalische Aufbau [Anm. 21], 292 f.
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um ihnen das Gewicht zweier Hauptsätze zuweisen zu können. Dennoch wird durch solchen Rahmen eine Art Einheitlichkeit hergestellt.« 52 In Bezug auf Guido Adler konnte Lorenz mit dem Rückgriff auf Nietzsches Begriff der décadence sowohl dessen Auseinandersetzung mit der Form in Richard Wagners Musikdramen honorieren, als er dieses Lob gleichzeitig auch mit der Einschränkung verband, dass Adler in seiner Analyse zum Teil überkommene Formvorstellungen angesetzt hatte (»Das ganze Musikdrama Wagners ist also nach Adler doch eine verkappte Oper mit schönen Nummern!«).53 Stattdessen strebte Lorenz eine neue Defi nition der Form an; für ihn war »die echte Form nichts anderes […] als gestalteter Ausdruck«.54 Zusammenfassend lässt sich Lorenz’ auf Messbarkeit rekurrierende Skalierung von Wagners Tetralogie als Transformation von Friedrich Nietzsches und auch Adlers Wagner-Kritik ins Positive lesen. Die Skalierung, die Lorenz mit messbaren Taktanzahlen herstellt, wäre damit eine Steigerung der Nietzsche-Kritik zum Zweck ihrer musikhistorischen Vereinnahmung durch Angleichung an die musiktheoretischen Ansätze der Zeit (insbesondere Kurth, Riemann und Adler); lediglich der dennoch positive Abgleich mit Nietzsches Begriff der décadence verrät auch hier eine gewisse Dialektik im Sinne des Umgangs mit der philosophischen Kritik am »Universum« Wagners auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses. Denn insgesamt argumentiert der Skalierende klar aus dem eigenen Wagner-Universum der Größe heraus, das Nietzsche bei Wagner in seinen späteren Jahren so ablehnte, indem ihm unter anderem das Wagner-Universum als Konzept der Romantik so negativ aufstieß: »Was Goethe über Wagner gedacht haben würde? – Goethe hat sich einmal die Frage vorgelegt, was die Gefahr sei, die über allen Romantikern schwebe: das Romantiker-Verhängniss. Seine Antwort ist: ›am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken.‹ Kürzer: Parsifal - -.« 55 Tatsächlich verband sich Lorenz’ Orientierung am Wagner-Universum nur wenig später – im vierten Band des Geheimnisses der Form zu Parsifal von 1933 – immer weiter mit einer klar nachzuverfolgenden nationalsozialistischen Ideologie.56 Nicht zuletzt deshalb ist festzuhalten, dass Skalierungen zwar immer im Abgleich mit anderen ›Universen‹ entstehen und damit insbesondere auf den Vorwurf des Exzessiven reagieren, dass sie als Instrument in Transformierungsprozessen dieser Universen aber selbst oft zu maßlosen Steigerungen führen.
Ebd., 253. Ebd., 308 f., hier: 309. 54 Ebd., 297. 55 Nietzsche: Der Fall Wagner [Anm. 24], 19. Auch Guido Adler, der Nietzsches Zitat in seinen Vorlesungen übernimmt, stufte Wagners Hang zur Heiligkeit und vor allem zur damit verbundenen Askese als übertrieben ein, vgl. Adler: Richard Wagner [Anm. 25], 317. 56 Kinderman: Wagner’s Parsifal [Anm. 19], 24–26. 52
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3. Mit und nach Lorenz skalieren: Ein Musikwissenschaftler-Problem Alfred Lorenz’ Skalierungen zur Dokumentation einer groß angelegten Formierung von Wagners Musik erfuhren zwei umfangreiche Rezeptionen – in Theodor W. Adornos Versuch über Wagner (1937–1938, das Lorenz gewidmete Kapitel wurde für seine Erstpublikation von 1952 noch einmal revidiert)57 und in zahlreichen Aufsätzen von Carl Dahlhaus zur Form in Richard Wagners Musikdramen (die hier herangezogenen Aufsätze stammen aus den Jahren 1965 bis 1972).58 Diese Auseinandersetzungen haben das Denken über Wagners Formbegriff in der Nachkriegszeit entscheidend geprägt, hinterließen in Bezug auf Dahlhaus’ Umgang mit Lorenz jedoch gleichzeitig eine große Ratlosigkeit. Diese Ratlosigkeit liegt dabei nicht etwa an der mangelhaften Nachvollziehbarkeit von Dahlhaus’ Plädoyer für die musikalische Prosa als zentrales Gestaltungsmittel von Wagners Musikdramen, das er mit seiner Kritik an Lorenz’ architektonischer Denkweise verband, sondern an der Tatsache, dass Dahlhaus Lorenz’ Errungenschaft einer nicht skalierbaren, das heißt nicht umrissartigen, sondern qualitativ-musikalischen Form nicht anerkannte, um stattdessen mit einer eigenen klassischen Skalierung aufzuwarten.59 Diese äußert sich darin, dass Dahlhaus Lorenz’ Interpretation der »dichterischmusikalischen Periode« bei Wagner mittels des zeitgenössischen Periodenbegriffs von Adolf Bernhard Marx kritisierte, der sich wiederum durch eine überschaubare, mittelgroße Regelmäßigkeit seiner taktmäßigen Anteile auszeichnete: »Wagners Beschreibung erinnert an ein Kapitel über ›innere Erweiterungen der Periode‹ in der Kompositionslehre von Marx; die Melodie, die Marx analysiert, ist 22 Takte 57 Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner, in: Gesammelte Schriften 13, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 2012, 9. 58 Carl Dahlhaus: 19. Jahrhundert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2004, 274–332 und 477–485, (= Gesammelte Schriften Bd. 7). 59 Richard Klein beurteilt das »Ausmaß und die Heftigkeit« von Dahlhaus’ Texten zu Lorenz als »heute fast rätselhaft« und empfi ndet Dahlhaus’ kritische Ausrichtung verwundert als »Negation des Lorenzschen Ansatzes in toto«. Richard Klein: Carl Dahlhaus oder Die Musikwissenschaft im Clinch mit dem Musiktheater, in: Richard Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis des Musiktheaters, hg. von Johanna Dombois und Richard Klein, Stuttgart 2012, 73. Tobias Janz geht dagegen richtigerweise von einer »Pluralität differenzierter Ansätze« bei Dahlhaus aus, von denen einige auch tradierte, regelmäßige Formen mit einbeziehen, die Dahlhaus jedoch musikdramaturgisch aufgeladen wissen will, vgl. Tobias Janz: Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners Ring des Nibelungen, Würzburg 2006, 148, darüber hinaus vgl. auch 332. An anderen Stellen haben Lorenz’ Formbeschreibungen zu einer Reflexion über die nicht immer ersichtliche Notwendigkeit geführt, der Form überhaupt nachzuspüren beziehungsweise zu Versuchen, zwischen einer formalen und poetischen Sichtweise zu vermitteln. Vgl. v.a. die Arbeiten von Christian Thorau, z. B. Motivtechnik, kompositorische Syntax und Form, in: Wagner Handbuch, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel 2012, 236–245; Christian Thorau: Wagner’s Form, Chéreau’s Scene, Large’s Cuts: Analytical Dialogues between Music, Theater, and Video, in: Music Theater as Global Culture. Wagner’s Legacy Today, hg. von Anno Mungen, Nicholas Vazsonyi, Julie Hubbert, Ivana Rentsch und Arne Stollberg, Würzburg 2017, 419–443, (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater 25); und Janz: Klangdramaturgie [Anm. 59], sowie Christian Berger: Beyond Reason. Wagner contra Nietzsche, Oakland/California 2017, v.a. 49–61.
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lang und umfaßt, nicht anders als Wagners Modell, verschiedene Tonarten, g-Moll, d-Moll und F-Dur. Und die Vermutung, daß Wagner den Ausdruck ›erweiterte Periode‹ so meinte, wie er um 1850 verstanden werden mußte, dürfte näher liegen als die Hypothese, daß er an Formen dachte, die sich über Hunderte von Takten erstrecken.« 60 Indem Dahlhaus den von Lorenz für die Periode akzeptierten Umfang, die er als ›extrem‹ empfand,61 auf ein Klein- bis Mittelmaß herunterskaliert, gewinnt er mit der historisch-zeitgenössischen Begriffsdefi nition durch Marx ein klassisches Element hinzu, das im Kontrast der Teilmomente einer Periode – im obigen Zitat durch die unterschiedlichen Tonarten angedeutet – besteht. Mit diesem Schritt liegen Dahlhaus zwei Erklärungen offen, mit denen sich die Wahrnehmbarkeit der kompositorischen Ästhetik Wagners durch die Zuhörer *innen und seine musikhistorische Rolle als Vorreiter der Moderne begründen lässt. Denn gerade die Überschaubarkeit der musikalisch-motivischen Entwicklungen machen in ihrer Filigranität die Ästhetik von Wagners Musik zwischen Mozart und Schönberg aus. Auf diese Komponisten stützt sich Dahlhaus in seiner Lorenz-Kritik an zahlreichen Stellen, um die Wichtigkeit der dramatischen Aufl adung gegenüber eines rein schematischen Formdenkens geltend zu machen.62 Dahlhaus entwirft in Bezug auf Wagner dementsprechend eine ›Romantik‹, die von ihren klassischen und modernen Rändern her gedacht wird. Dass er das »ultraromantische« zu umgehen gedenkt, zeigen seine Ausführungen zu Guido Adlers Thesen und zu Ernst Kurth, mit denen er sich am Rande seiner Argumentation auseinandersetzt. Insbesondere Ernst Kurths Herangehensweise reduziert Dahlhaus in seiner Diskussion entgegen Kurths Erweiterung des Analyseradius auf große Zusammenhänge auf die kleinste Ebene, und zwar diejenige der Zusammenhänge, die aus Harmonien und Motiven selbst entstehen. Hierbei kommt er auch Lorenz’ Denkweise entscheidend nah, zum Beispiel indem Dahlhaus sich für eine »rhythmische und melodische Angleichung« der Motive zwecks ihrer Bezugsbildung ausspricht, nur dass Dahlhaus vom Kleinen aus denkt, Lorenz von der übergreifenden Ebene allumfassender Formen.63 In der Tat gibt es gute Gründe dafür, dass Dahlhaus ebenso wie Lorenz nach einer Transformation der Wagner-Kritik Nietzsches ins Positive strebte. Nietzsche wird an zwei Punkten der hier herangezogenen Aufsätze angesprochen, einmal in Carl Dahlhaus: Wagners Begriff der ›dichterisch-musikalischen Periode, in: Dahlhaus: 19. Jahrhundert [Anm. 58], 275. 61 »Die Perioden, die Lorenz voneinander abgrenzt, erstrecken sich im allgemeinen über 100, im Extrem über 840 Takte.«, ebd., 274. 62 »Im Gegensatz zu Lorenz betonte Schönberg in seinen Analysen, deren Methode durch Schönbergs Schüler überliefert wurde, die melodisch-diastematischen Zusammenhänge, nicht die rhythmischen Korrespondenzen. Gemessen an dem Verfahren der entwickelnden Variation, das gleichsam die Logik des musikalischen Diskurses darstellt, ist nach Schönberg das räumlichsymmetrische Moment eine sekundäre Eigenschaft der Form oder sogar ein Rückstand musikalischer Primitivität.«, Carl Dahlhaus: Formprinzipien in Wagners »Ring des Nibelungen«, in: Dahlhaus: 19. Jahrhundert [Anm. 58], 287, vgl. auch 316, 321. 63 Ebd., 319, vgl. auch 276. 60
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Bezug auf seinen Vorwurf der »Schauspielerei« in Wagners Musik64 und einmal in Bezug auf seinen Vorwurf, Wagner sei ein »Miniaturist«: »Wesentlicher als die Gruppierungen der Motive sind deren Verknüpfungen, die oft unscheinbar sein mögen, sich aber zu einem Gesamteindruck von musikalischer Geschlossenheit summieren, der sich auch dann aufdrängt, wenn man die Gründe, auf denen er beruht, nicht durchschaut. Zur Demonstration des Verfahrens genügt es, aus den ungezählten Beziehungen, die Wagner zwischen den Motiven herstellt, ein einziges Moment, das der Diminution oder Augmentation, herauszugreifen. Die Häufung des Phänomens legt es nahe, von einem Zug zur Methode zu sprechen, der von Pedanterie nicht frei ist; der musikalische Kartonmaler ist zugleich ein Miniaturist (a=T. 171–172; b=T. 214–216; c=T. 237–238 und T. 248–249; d=T. 247, T. 270; T. 315 und T. 320–321; e= T. 340–341 und T. 344–346).« 65 Solcherlei Skalierungen, und dann noch anhand von Buchstabenschemata, die Dahlhaus an Lorenz so missfielen,66 lassen die Leser *in mit einer gewissen Perplexität gegenüber Dahlhaus’ Argumentation zurück.67 Die Skalierungen anhand von Buchstaben und Taktanzahlen sind an einigen Stellen bereits als Mittel für Dahlhaus’ Explizierung eines fachspezifi schen musikwissenschaftlichen Denkens erklärt worden,68 lassen sich aber auch vor dem Hintergrund erhellen, dass es Dahlhaus in seiner Auseinandersetzung mit Lorenz wohl gar nicht so sehr um Lorenz selbst ging, sondern viel eher noch um Theodor W. Adornos auf Nietzsche gründende und in der Vorkriegszeit verfasste Wagner-Kritik. Denn mit dem »Kartonmaler«, dem Dahlhaus hier eine positive miniaturistische Arbeitsweise zuschreibt, ist Adorno angesprochen, der die Ausführung Wagners mit dem Kompositionsprozess seiner Werke gleichgesetzt hatte, mit den Worten »Die Riesenkartons seiner Opern werden durch die Schlagvorstellung aufgeteilt«.69 An eine weitere Skalierung, die Dahlhaus vornimmt, um die entwickelnde Variation als zentrales Moment der musikalischen Prosa Wagners zu verdeutlichen, schließt sich direkt eine Kritik an Adornos Negierung symphonischer Prinzipien und an seinem Begriff der »Geste« bei Wagner an.70 »[…] vom Theater zu sagen, daß es Theater sei, ist eher eine Tautologie als ein Verdikt. Und Wagners Musik wird nicht dadurch geschmälert, daß man sie als agierende, gestische Musik empfi ndet. Die ›dramatisch-musikalische Form‹ ist primär Vorgang und Handlung, nicht ruhendes, abgeschlossenes Gebilde.«, ebd., 326. 65 Ebd., 320 f. 66 »Lorenz ist in dem Vorurteil befangen, daß eine musikalische Form, um plastisch zu sein, einem einfachen Buchstabenschema entsprechen müsse […].«, ebd., 293. 67 Vgl. Arnold Whittalls Zusammenfassung der Ausführungen Stephen MacClatchies zu Dahlhaus’ Rezeption von Alfred Lorenz. McClatchie hielt u. a. fest, dass »Dahlhaus obscures or minimizes the large-scale structural techniques and symmetries in Wagner’s music«. Arnold Whittall: Criticism and analysis: current perspectives, in: The Cambridge Companion to Wagner, ed. by Thomas S. Grey, Cambridge 2008, 281 f. 68 Klein: Carl Dahlhaus oder Die Musikwissenschaft [Anm. 59], 79. 69 Adorno: Versuch über Wagner [Anm. 57], 30. 70 Dahlhaus: Formprinzipien in Wagners »Ring« [Anm. 62], 318. 64
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In seinem Versuch über Wagner hatte Adorno – selbst an keiner Stelle so offensiv wie Dahlhaus skalierend, sondern sich allenfalls über Lorenz’ »Akribie«, »graphisches Spiel« und Analysen mokierend, die sich »nicht zufällig […] auf Tabellen eintragen [lassen]« 71 – Alfred Lorenz’ Analyseansatz als Symptom für Wagners Größe im ästhetischen Apparat gelesen.72 Indem Adorno die Herangehensweise des ehemaligen Dirigenten Lorenz über den atmenden Rhythmus als Grundlage übernahm, um dann die von Lorenz entdeckten architektonischen Barformen als abstrakte Schemata und bloße »Gedächtnisstützen« des Musikpraktikers abzuqualifi zieren,73 dokumentierte Adorno rein tektonisch und nicht quantitativ seine These, dass Wagners Musik selbst leer und undialektisch angelegt sei. Denn allein schon Wagners effektvolle Nutzung tradierter musikalischer Gattungen als Bühnenmusiken (»Tuschs, Signale und Fanfaren«, an anderer Stelle auch das »Ritornell«)74, die selbst im Kleinen durch ständige Wiederholung mittels Steigerungen suggerierender Sequenzen zu bloßen Gesten erstarrten, deren Ausdruck mangels einer Verankerung in einer Form »unwahrhaftig« und zur reinen »Tautologie« werde,75 sind für Adorno der Beweis, »daß es in der Kleinform bei Wagner in Wahrheit nichts zu analysieren gibt«.76 Die aus der Formlosigkeit Wagners und der mangelnden Dialektik der stetig wiederholten Motive entstehenden »Wagnerschen Längen« und »Geschwätzigkeit« existieren für Adorno – nichts anderes zeigt für ihn die Analyse durch Lorenz – dabei auch im Großen, das heißt in den gedächtnisfunktionalen Barformen, deren Stollen und Abgesang »nach dem Schema a-a-b« den Ausdruck der innerhalb dieser Form wiederholten Geste gleich wieder zurücknehmen und darüber hinaus ein gesellschaftlich totalitäres Denkmuster Wagners spiegeln.77 Adornos tektonische Gedächtnisstützen, die von kleinen, massentauglichen Formen als farblich-orchestrale Punkte durchsetzt scheinen, lassen sich darüber hinaus mit Nietzsches Bild von Wagner als Aff rescomaler in Verbindung bringen.78 Diese Analogie mit der Malerei wird bei Adorno im Hinblick auf die Wahrnehmung der Musik Wagners durch das gegenüber Wagners »vielstündigen Monstrewerke[n]« »dekonzentrierte« Publikum zu einem impressionistischen Bild hochstilisiert, das lediglich aus der Ferne wahrgenommen werden wolle. Während sich Adorno daAdorno: Versuch über Wagner [Anm. 57], 39. Eine aktive Skalierung zur Verdeutlichung von Wagners sich in seinem Bayreuther Festspielhaus manifestierender kapitalistischer Ausrichtung fi ndet sich bei Gerd Rienäcker, der sie noch in der DDR ausarbeitete: Gerd Rienäcker: Richard Wagner. Nachdenken über sein »Gewebe«, Berlin 2001, 246–248. 72 Adorno: Versuch über Wagner [Anm. 57], 33. 73 Ebd., 31. 74 Ebd., 31, 33. 75 Ebd., 35. 76 Ebd., 39. 77 Ebd., 35–38. 78 »Das ist zur Überredung von Massen erfunden, davor springt Unsereins wie vor einem allzufrechen Aff resco zurück. Was geht uns die agaçante Brutalität der Tannhäuser-Ouvertüre an? Oder der Circus Walküre?«, Nietzsche: Der Fall Wagner [Anm. 24], 28. 71
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mit auf eine Aussage des Schönberg-Interpreten Eduard Steuermann stützt, um sogleich hinzuzufügen, dass damit ja wohl auch ein Nicht-so-genau-Hinhören impliziert sei, dient ihm die Analogie zur impressionistischen Malerei als Grundlage, dass die Musik Wagners nur mittels eines kapellmeisterlich ausgeführten »Hämmerns« und »Tosen« beim Publikum ankäme.79 Dahlhaus entgegnet diesem Argument einer lärmenden Musik auf zweierlei Weise: Zum einen spricht er sich für den Einbezug tradierter Formen wie der Lied-, Sonaten- oder Rondoform in Wagners Musikdramen nicht als Normen, sondern als Gerüste aus, womit er einen Begriff der frühen impressionistischen Malerei anbringt, der es ihm erlaubt, die farbliche Gestaltung statt der Form zu akzentuieren.80 Zum anderen unterstreicht er aber gerade das Eindringen der Wagner’schen Musik auf den Hörer, »statt sich in einem Abstand zu halten, in dem sie als tektonische Form, als tönende Architektur auff aßbar wäre.« Genau dieses Eindringen funktioniert laut Dahlhaus bei Wagner mittels der »Kunst des Überganges« (Brief Wagners an Mathilde Wesendonck vom 29. Oktober 1859), der »Vermittlung zwischen kontrastierenden Themen oder Motivkomplexen«. In dieser Hinsicht geht es Dahlhaus also sowohl um eine umfassende Wirkung der Musik Wagners, als auch um eine ausgeklügelte, dramatisch-variationsreiche Kompositionstechnik, die Nietzsche bei Wagner noch verneint hatte und die Dahlhaus zufolge eine ganz eigene musikalische Sprache statt ein Hämmern und Tosen ergab.81 Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass Dahlhaus seine sehr schemenhaft erscheinenden, nach Buchstaben und Taktanzahlen gegliederten Skalierungen kleiner Formteile bei Wagner gerade aus dem Grund anbrachte, um die von ihm so Adorno: Versuch über Wagner [Anm. 57], 29. Dahlhaus: Formprinzipien in Wagners »Ring« [Anm. 62], 311. Zu Cézanne und dem Impressionismus in der Musik vgl. Kerstin Thomas: Zwischen Bild und Musik: Farbe und Stimmung in den Bildern von Paul Cézanne, in: Intermedialität von Bild und Musik, hg. von Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann, Gregor Wedekind und Martin Zenck, Paderborn 2018, 323–348 und Gesa zur Nieden: Konstruktion und Empfindung im Medium der Musik am Beispiel von Claude Debussys Préludes I, in: ebd., 349–357. Eine Ausformulierung der Formanalysen von Alfred Lorenz als Indikatoren für von Wagner geplante Gerüste, die dann frei von innen heraus auskonstruiert werden, fi ndet sich bei Daniel Coren, der sich auf Carl Dahlhaus stützt: Darin Coren: Inspiration and Calculation in the Genesis of Wagner’s Siegfried, in: Studies in Musicology in Honor of Otto E. Albrecht, ed. by John Walter Hill, Kassel 1980, 286 f. Auch Rudolf Stephan verfolgt in seinen sich von Alfred Lorenz absetzenden Wagner-Analysen einen gerüsthaften Formbegriff; »Form« ist laut Stephan für Wagner »grundsätzlich sowohl sinnvoller als auch sinnloser Auskomposition f ähig«, und die »Riesendramen« erhalten vor allem durch »Beziehungen, die die formalen Attraktionszentren aneinander binden […] ihre formale Geschlossenheit«, Rudolph Stephan: Gibt es ein Geheimnis der Form bei Richard Wagner?, in: Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1970, 9, 14. 81 Dahlhaus: Formprinzipien in Wagners »Ring« [Anm. 62], 326 f. Zum Verhältnis von Technik und Sprache in Dahlhaus’ Defi nition der »dichterisch-musikalischen Periode« vgl. auch Werner Breig: Wagners Begriff der »dichterisch-musikalischen Periode«, in: »Schlagen Sie die Kraft der Refl exion nicht zu gering an«. Beiträge zu Richard Wagners Denken, Werk und Wirken, hg. von Klaus Döge, Christa Jost und Peter Jost, Mainz 2002, 158. 79
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kritisierte Statik der Analysen von Lorenz in eine stetige Entwicklung zu transformieren, die zugleich auf der Linie seines eigenen Musikbegriff s lag. Bei dieser Transformation bildeten jedoch nicht Lorenz, sondern Nietzsche und Adorno den Zielpunkt der Kritik, auf deren Ebene philosophisch-ästhetischer Denkweisen sich Dahlhaus zwar ebenso anzusiedeln, aber – wie schon im Verhältnis Lorenz zu Nietzsche – in das Universum des Fachs Musikwissenschaft zu überführen gedachte. Nicht zuletzt deshalb ist von Nietzsches Kraft-Begriff bei Dahlhaus wenig zu lesen; vor dem Hintergrund einer streng musikkompositorischen Erklärung der Funktionsweise von Wagners Werken wird dieser nicht mehr gebraucht. Insgesamt erscheinen Dahlhaus’ effektiv hervorgebrachte Skalierungen somit als gängiges rhetorisches Element einer Auseinandersetzung mit Extremen (hier dem Vorwurf der Formlosigkeit Wagners durch Nietzsche und Adorno). Mit einer skalierenden Minimierung von Lorenz’ tektonisch-gigantischen Formen, denen er vorwarf, sie entbehrten jeglicher Reflexion ihrer Größenordnungen, schaff t er es zwar, seine eigene Skalierung ganz in die Dimension des Plastischen und nicht des sich gigantisch Auftürmenden wie noch bei Lorenz zu heben.82 Dies erreicht er nicht zuletzt durch eine musikhistorische Kontextualisierung über Wagner hinaus, innerhalb derer er Lorenz’ »Verwirrung der Größenordnungen« 83 auf die Marx’schen Perioden einstampft, und damit eine Nachvollziehbarkeit durch den Hörer und gewissermaßen eine Dialektisierung der Perioden durch miteinander kontrastierende Perioden erreicht.84 Dennoch steht Dahlhaus auch bis heute der Vorwurf entgegen, er habe sich nie an eine umfängliche Analyse der Musikdramen Wagners gewagt und sei im Kleinteiligen verblieben.85 Auch diese Transformation einer Skalierung führte also zu einer Steigerung, hier im Hinblick auf eine totale Minituarisierung. Dahlhaus’ Augenmerk auf dem Kleinteiligen wurde nur deshalb nicht zum Exzess, da sie von ihm stetig musikhistorisch, also über Wagner hinausgehend kontextualisiert und auch konzeptionell gedacht wurde: Durch seine eige»Die Gleichgültigkeit gegenüber der Größenordnung, auf die sich ein Formbegriff bezieht, ist charakteristisch für das analytische Verfahren, mit dem Lorenz zu zeigen versuchte, daß der Ring als musikalische Architektur zu begreifen sei. Dieselben Formprinzipien, die im einzelnen herrschen, sollen auch über weite Strecken wirksam sein, ohne daß es notwendig wäre, die Begriffe zu modifi zieren, wenn sie von kurzen Phrasen auf ganze Szene übertragen werden. Die Frage, ob jedes der Schemata, mit denen Lorenz operiert, in jeder Größenordnung denselben Sinn habe, wird nicht einmal gestellt; das Fragwürdigste wird behandelt, als sei es selbstverständlich.« Dahlhaus: Formprinzipien in Wagners »Ring« [Anm. 62], 296. 83 Ebd., 310. 84 Eine weitere Festigung des Moments der Nachvollziehbarkeit fi ndet sich bei Egon Voss’ Auseinandersetzung mit Alfred Lorenz, in der Dahlhaus’ Thesen noch einmal stark gestützt und Lorenz’ eigene Einschränkungen dabei nicht mehr weiter beachtet werden: Egon Voss: Noch einmal: Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner (am Beispiel des Rings des Nibelungen), in: Egon Voss: »Wagner und kein Ende«. Betrachtungen und Studien, Zürich und Mainz 1996, 169–184. Diese eher kleinteilige Analyseebene brachte Dahlhaus wiederum die Kritik ein, die Entwicklung zwischen den Perioden nicht beachtet zu haben, vgl. Thomas S. Grey: Wagner’s musical prose. Texts and contexts, Cambridge 1995, 210. 85 Klein: Carl Dahlhaus oder Die Musikwissenschaft [Anm. 59], 73 f. 82
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Gesa zur Nieden
nen Skalierungen festigte Dahlhaus nicht nur seine eigene Disziplin, die ihm zufolge als ästhetisch-philosophisch inspirierte Musikhistoriographie aufgestellt sein sollte, sondern ebenfalls sein Konzept der für ihn bereits um 1890 beginnenden Moderne als Neuentwicklung der Form aus dem Detail heraus. 86 Abschließend lässt sich konstatieren, dass es nicht von ungef ähr scheint, dass Nietzsches und Adornos Reflexionen über die »Längen« in Richard Wagners Werken Angebote für Skalierungen machten, die bereitwillig angenommen wurden, und dass die Ausarbeitungen dieser Skalierungen zumeist auf sehr differenzierte Art und Weise unterschiedlichste Ansätze der Wagner-Interpretation miteinander zu vereinen suchten. Die hier dargestellte Realisierung und der Umgang mit Skalierungen der Musik Wagners scheint auf einer interdisziplinären wissenschaftlichen Diskursebene das zu affi rmieren, was Christoph Menke kunstästhetisch in Bezug auf Wagners Werke konstatiert: Menke zufolge zeichnen sich Wagners musikdramatische Kompositionen durch den imminenten Zusammenhang von Experiment und Institution aus. Während die Wissenschaft bis heute noch keinen abschließenden Königsweg für die Erklärung des einheitlichen Moments gefunden hat, das Wagners Musik bei einer Vielzahl von Rezipient *innen und vor allem auch Musikpraktiker *innen hervorruft, macht die wissenschaftliche Auf klärung dieses Problems bis heute klar, dass Skalierungen immer im Bewusstsein der Gegenkraft des je a nderen entstehen und hier als Mittel für gesteigerte Pointierungen der eigenen Extreme genutzt werden können. Das »Zu viel! Zu viel!« Tannhäusers im Venusberg, das Christoph Menke als sein Bewusstsein dafür interpretierte, dass nur der stetige Wechsel zwischen den Extremen des »Übermaßes an Liebe« und der »Ordnung der Gesellschaft« ihm ein Handeln in Freiheit ermöglichen würde (»Wechsel bedeutet Unterschied, Abfolge und Maß. Im Wechsel sind die Extreme nicht mehr ›übergroß‹, sondern mittelgroß (oder -klein), nicht mehr unmäßig, sondern maßvoll […]«), wird dabei nicht eingelöst, denn nur selten wechseln die Wagner-Akteure zwischen den »Welten« hin und her.87 Aber vielleicht sind solche Wechsel, die in der Kunst des Singens offene Fragen produzieren, ja auch die Sache der Wissenschaft nicht – und oft auch wohl nicht der musikalischen Interpretation im Wagner-Universum.
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Whittall: Criticism and analysis [Anm. 67], 186 f. Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, 95, 100 f.
Close R eading und Distant R eading als M ethoden der Tanzwissenschaft Isa Wortelkamp
Aus nächster Nähe betrachtet, wird die Beschaffenheit des fotografi schen Materials sichtbar. Die altersbedingten Verfärbungen und Kerbungen auf dem Papier, Kratzer und Knicke, die auf die Spuren der Handhabung verweisen. Bild um Bild entnehme ich den Umschlägen, was sich mit den behandschuhten Händen umständlich gestaltet. Tänzer für Tänzer erscheint auf den Fotografien des modernen Tanzes, die den Gegenstand meiner Forschung bilden. Sie sind neben anderen ikonografi schen, skripturalen und fi lmischen Quellen sowie mündlichen und körperlichen Überlieferungen eine wesentliche Grundlage zur theoretischen und ästhetischen Reflexion der Tanzwissenschaft, die sich mit dem Tanz auf einen Gegenstand bezieht, der per se kein materielles Artefakt hinterlässt. Der Untersuchungszeitraum des Forschungsprojekts – 1900 bis 1930 – bringt es mit sich, dass ein Teil der Sichtung im Archiv stattfi ndet. Mit jeder Tanzfotografie zeigt sich mir auch die Paradoxie, die mit ihrem Phänomen einhergeht: die auf Dauer stillgestellte Bewegung im Bild. Dort, wo das Bild ist, ist die Bewegung immer schon entgangen und zeigt sich einzig im und als Moment der Übertragung. Im Blick auf die im Bild still gestellte Bewegung schwankt mein Auge zwischen der materiellen Präsenz des fotografi schen Mediums und des Tanzes in absentia. Die körperliche Anwesenheit der Tanzenden ist in der Fotografie gleichsam niedergelegt. Nicht nur ihr Tanz ist vergangen, auch sie sind es, wodurch sich der Eindruck einer anhaltend angehaltenen Bewegung verstärkt: der immer in Landung befi ndliche Sprung, die nie enden wollende Drehung, das Schreiten im Vollzug. Eine weitere Paradoxie betriff t eine medienästhetische Besonderheit der Fotografie, die sich im Motiv des Tanzes ganz auf den Körper bezieht: die Miniaturisierung. Die Übertragung der Bewegung in die zeitliche und räumliche Rahmung des Bildes schließt auch die des tanzenden Körpers in die Maße der Fotografie ein. Je länger und je näher ich die Fotografien betrachte, desto mehr geraten die Maßstäbe des Bildes jedoch in Vergessenheit. Ich sehe den Körper, der getanzt hat und dessen Bewegung sich in der Fotografie vergegenwärtigt. Die Miniaturisierung der Körper im Bild der Fotografie ist gleichzeitig eine wesentliche Voraussetzung für ihre Reproduktion in unterschiedlichen Erscheinungsformen und -kontexten. Tanzfotografien begegnen uns, auch außerhalb des Archivs, in zahlreichen tanzwissenschaftlichen Publikationen, in Zeitschriften und Internetportalen. Das einzelne Erscheinungsbild der Fotografie ist dabei abhängig von ihrer Reproduktion als historischer oder aktueller Abzug, als künstlerisch auf bereitetes Unikat, als Abdruck in zeitgenössischen Büchern, Katalogen und deren Digitalisaten in Online-Datenbanken. Gestapelt in Kartons, gesammelt in Mappen und
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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Alben, gedruckt oder digitalisiert in Arrangements, Sequenzen und Serien erfordert die Sichtung der Tanzfotografien den Nachvollzug ihrer performativen Handhabung in ihrem medialen Kontext. Ihre unterschiedlichen Erscheinungskontexte und -formen wirken sich auf die Art und Weise der Betrachtung der Fotografie als Forschungsgegenstand der Tanzwissenschaft aus, die ich in Anlehnung an die literaturwissenschaftlichen Ansätze des close und distant reading näher beschreiben möchte. Sie dienen hier als methodischer Zugang für eine tanzwissenschaftliche Betrachtung von Fotografie. Die Wahrnehmung des Tanzes als Lektüre zu verstehen, rekurriert auf die Zeit, aus der auch die ersten Fotografien von Tänzern in Bewegung stammen. Stéphane Mallarmé spricht mit Blick auf Loïe Fuller, die als Schlüsselfigur des modernen Tanzes und seiner Fotografie gelten kann, von einer »écriture corporelle«1. Er liest die kontinuierlichen Bewegungen der von Stoff bahnen umhüllten Tänzerin als eine Schrift, die sich im Wechselspiel von Stoff und Licht in Raum und Zeit transformiert.2 Im Rekurs auf Mallarmé entwirft Gabriele Brandstetter ihren Zugang einer »Tanz-Lektüre«, der »die wahrnehmungs- und wirkungsästhetische Seite der wechselnden Konfigurationen« 3 des Tanzes in den Blick rückt.4 Die tanzwissenschaftliche Lektüre bezieht sich dabei auf die zu analysierenden Dokumente des modernen Tanzes wie theoretische und ästhetische Schriften, Notationen, Rezensionen, Filme und Fotografien. Die Begriffe des close und distant reading ermöglichen, die Lektüre der Tanzfotografie hinsichtlich ihrer Beziehung zum Betrachter zu reflektieren. Sie ist, wie aus der einführenden Szene deutlich werden konnte, wesentlich durch die mediale Differenz von Bild und Bewegung bestimmt, die den Betrachter in immer wieder andere Beziehung zum Gegenstand setzt. Wenn im Folgenden von close und distant reading die Rede ist, dann zielen diese Begriffe auf eine Lektüre als Modus der Wahrnehmung, der sich als relationaler Prozess zwischen fotografischem Dokument und forschendem Blick entwickelt. Das close reading kann dabei bereits als eine Formel für eine detaillierte und differenzierte Beschreibung betrachtet werden, die Vgl. Stéphane Mallarmé: Divigations, in: Œuvres complètes, hg. von Henri Mondor und George Jean-Aubry, Paris 1945, 307–312. Zu Loïe Fullers Tanz und ihrer Wirkung auf Mallarmé vgl. auch Gabriele Brandstetter und Brygida Ochaim: Loïe Fuller. Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau, Freiburg i.Br. 1989, 202–223. 2 Als Sinnbild des Flüchtigen wird Fuller neben der Literatur zur Inspiration vieler zeitgenössischer Künstler aus dem Bereich der Malerei, der Grafi k, der Bildenden Kunst, der Fotografie und wenig später dem Film zum Symbol eines in die Moderne des 20. Jahrhunderts weisenden Kunstbegriff s. Vgl. Brandstetter und Ochaim: Loïe Fuller [Anm. 1], 202–223. 3 Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfi guren der Anvantgarde, Frankfurt/M. 1995, 21. 4 Einen anderen Zugang verfolgen die von Susan Leigh Foster geprägten Begriff e »reading dancing« und »reading choreography«, die auf Grundlage eines semiotisch-strukturalistischen Verständnisses den Tanz als zu entzifferndes Zeichensystem untersucht. Susan Foster: Reading Dancing: Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, London 1986, XX. 1
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stellenweise auch in der Tanzwissenschaft Verwendung fi ndet. Anders als diese aus der formalistisch orientierten Literaturkritik stammende Methode des New Criticism 5 bezieht sich der von Franco Moretti geprägte Begriff distant reading auf eine überblicksartige Analyse größerer Textmengen, deren digitale Zugänglichkeit wesentliche Bedingung und Voraussetzung dieser Lesart ist.6 Ebenso wie in der Literaturwissenschaft erhebt sich die Frage nach dem ›angemessenen Abstand‹ in der tanzwissenschaftlichen Forschung im Umgang mit der Fotografie vor dem Hintergrund einer gewachsenen Verfügbarkeit digitalisierter Bildquellen. Mehr denn je sind Tanzfotografien über digitale Bildarchive, kommerzielle Bilderdienste bis hin zur Google-Bildersuche zugänglich und prägen in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen unser Bild des Tanzes. Dabei erscheint die digitalisierte Tanzfotografie häufig aus dem ursprünglichen Zusammenhang isoliert, variiert in Größe, Ausschnitt, Format und Auflösung, die die Sichtbarkeit der digitalisierten Fotografie immer wieder neu defi nieren und kontextualisieren. Die Sichtung erfolgt dabei am Bildschirm des Rechners, der sowohl eine Übersicht über die vorhandenen Exemplare als auch die Nahsicht des zu untersuchenden Digitalisats ermöglicht. In meiner Forschung zur frühen Tanzfotografie ist das Digitalisat – also die Umwandlung eines analogen Objekts in das Raster eines Farb- oder Graustufenbildes – nicht selten das, was von einem Archivbesuch bleibt und am heimischen Rechner der weiteren Betrachtung dient. Der Blick, der sich im Archiv der Fotografie nähert, um die Darstellung von Bewegung im Bild und als Bild zu begreifen, ist mit dem Digitalisat mit einer Sichtbarkeit konfrontiert, die den Körper des Betrachters – sein Auge und seine Hände – auf der einen Seite vom Objekt entfernt. Auf der anderen Seite lässt die Vergrößerung des Digitalisats am Computer – per Mausklick – eine, wie ich meine, ›unmögliche‹ Nähe zu. Denn wie im Blick auf das Bild, entzieht sich mir der Grund der Fotografie, schlägt die Struktur ihrer Körnung in das Raster unzähliger Bildelemente um.7 Im Folgenden möchte ich die unterschiedlichen Erscheinungsformen und -kontexte der Tanzfotografie in ihren Konsequenzen für eine (tanz-) historiografi sche Lektüre befragen. Sie bestimmen das Bildsehen als einen zwischen Nähe und Ferne oszillierenden Prozess, der sowohl auf die analoge als auch die digitalisierte Fotografie zu beziehen ist und den ich anhand von sieben Sichtungen vorstellen werde. Als Beispiel dienen mir die Fotografien von Adolf de Meyer zur Choreographie L’Après-midi d’un Faune von Vaslav Nijinsky, die am 29. Mai 1912 in Paris Premiere hatte. Die insgesamt dreißig Aufnahmen entstanden wenige Wochen später, im Juni und Juli 1912, im Londoner Studio des Fotografen und sind 1914 als Serie in dem von Paul Iribe herausgegebenen Buch Le Prélude à L’Après-midi d’un Faune in Paris erschienen.8 Vgl. hierzu Ullrich Halfmann: Der amerikanische »New Criticism«, Frankfurt/M. 1971, 40. Vgl. Franko Moretti: Distant Reading, Konstanz 2016. 7 Vgl. hierzu Steffen Siegel: Fotografi sche Detailbetrachtung: analog/digital, in: Belichtungen. Zur fotografi schen Gegenwart, hg. von Steffen Siegel, München 2014, 23–37. 8 Eine umfangreiche Aufarbeitung des choreografi schen und fotografi schen Materials bietet 5 6
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Die Fotografien de Meyers sind ein bedeutendes Dokument der Tanzforschung, bezeugen sie doch eine Choreographie, die als Wendepunkt in der Geschichte des modernen Tanzes gilt. Sie ist die erste Choreographie Nijinskys, der zur Zeit ihrer Entstehung bereits als Tänzer der Ballets Russes bekannt ist und mit seinem Erstlingswerk sogleich einen Skandal auslöst. Der Skandal besteht zum einen in einer Bewegungssprache, die in der eckigen und geometrischen Formung, der seitlichen Ausrichtung des Körpers sowie der parallel ausgerichteten Beinstellung einen radikalen Bruch zum fl ießenden Stil des klassischen Ballettkanons darstellt. Zum anderen bietet der Inhalt Anlass zur Empörung: die erotischen Phantasien eines wollüstigen Fauns, der am Nachmittag davon träumt, Nymphen zu verführen, und der schließlich am Ende auf dem von ihm ergatterten Schleier der Nymphe zum Erliegen kommt – in einem angedeuteten sexuellen Höhepunkt. Über ihre Bedeutung für die Tanzgeschichtsschreibung hinaus stehen die Aufnahmen des Faune exemplarisch für eine Ästhetik der modernen Tanzfotografie. Sie ist mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in einem kulturhistorischen und medientechnischen Kontext situiert, in dem die Verbindung von Bild und Bewegung sowohl im Tanz wie in der Fotografie künstlerisch und medial reflektiert wird. Im Tanz orientieren sich Körper- und Bewegungskonzepte an Gemälden und Skulpturen der bildenden Kunst oder wird das Bild auf der Bühne etwa in der Form des Tableaux vivants in Szene gesetzt.9 In der Fotografie tritt, befördert durch die fototechnischen und -ästhetischen Entwicklungen der Momentfotografie Ende der achtziger Jahre, die Bewegung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. In Anlehnung an die künstlerischen Darstellungsprinzipien der impressionistischen Malerei prägt um 1900 innerhalb der sogenannten piktorialistischen Fotografie die Wahrnehmung des Fotografen das Bild von Bewegung.10 Von der medialen Reflexion von Bild und Bewegung in Tanz und Fotografie zeugen zahlreiche Aufnahmen von Tänzerinnen und Tänzern der Moderne. Sie dienen dabei häufig Werbezwecken oder folgen einem künstlerischen Interesse der Fotografen und Fotografi nnen an dem Motiv der tänzerischen Bewegung. Mit der Verlagerung des Interesses des modernen Tanzes auf die freie Gestaltung der Bewegung tritt für die Fotografie, die bis dahin vorwiegend mit der Darstellung der Pose in der Ballett- und Schauspielfotografie befasst war, verstärkt die Flüchtigkeit in den Fokus, die fotografi sch in Szene gesetzt wird. Eine Inszenierung, die vorwiegend im Fotoatelier stattfi ndet, in dem die meisten Aufnahmen entstehen: ein Tanz vor der und für die Kamera. Die Tatsache, dass die Bewegungen der Tänzer Jean-Michel Nectoux: Nachmittag eines Fauns. Dokumentation einer legendären Choreographie, München 1989. 9 Vgl. Gabriele Brandstetter: Die Inszenierung der Fläche. Ornament und Relief im Theaterkonzept der Ballets Russes, in: Spiegelungen. Die Ballets Russes und die Künste, hg. von Claudia Jeschke, Ursel Berger und Birgit Zeidler, Berlin 1997, 147–164 (= Documenta choreologica, Theatralia 8). 10 Vgl. Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, 137–169; Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografi e I: 1839–1912, München 1980, 21 f.
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(nach-)gestellt sind, hat dabei jedoch nicht zwangsläufig zur Folge, dass sie auch in der Bewegung still gestellt sind, wie sich an zahlreichen Aufnahmen von in Bewegung begriffenen Tänzerinnen und Tänzern belegen lässt. Die Fotografien des Faune unterscheiden sich in ihrem posenhaften Charakter von den Fotografien der Schwünge, Drehungen und Sprünge des modernen Tanzes. Bewegung stellt sich hier weniger im Motiv als in seiner Reihung als Serie dar, durch die die Wahrnehmung des Bildes selbst als Bewegung in Erscheinung tritt.
Sieben Annäherungen an Adolf de Meyers Fotografi en zur Choreographie »L’Après-midi d’un Faune« von Vaslav Nijinsky Overhead-Projektion Erstmals begegnete ich den Fotografien des Faune im Juni 1997 in meinem Studium auf der Probebühne des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. In einem Seminar der Tanzhistorikerin Claudia Jeschke zum Thema Rekonstruktion wurden sie als Overheadfolie auf eine weiße Leinwand projiziert. Sie dienten uns damals als Übung der Rekonstruktion des Tanzes, die wir anhand der Fotografien erprobten. In der Black Box des Instituts wirken die in der für die Overheadprojektion typischen Verzerrung wiedergegebenen Fotografien nahezu gespenstisch. Vergrößert und leuchtend werden sie zum Vorbild einer Verkörperung, die wie eine Verlebendigung der im Bild stillgestellten Tänzer anmutet. Mehr als die Serie habe ich einzelne Bilder in Erinnerung, die wir in der gemeinsamen Übung in Bewegung übertragen. Dabei folgen wir einer von Jeschke entwickelten bewegungsanalytischen Methode, die es uns erlauben soll, von den in den Fotografien fi xierten Posen kinetische Prozesse und motorische Aktivitäten abzuleiten.11 Anhand des körperlichen Nachvollzugs treffen wir Aussagen darüber, welche muskulären Partien aktiv, welche inaktiv sind, welche Sektoren und Regionen eines Körpers mobilisiert werden und welche nicht. Über die Analyse soll sich die Wirkung der für eine Bewegung relevanten Regionen, zentralen Positionen und Artikulationen eines Körpers genauer erfassen lassen. Deutlich werden in der Arbeit mit dem fotografi schen Material zum Faune jene Prinzipien, die die Ästhetik der Choreographie ausgemacht haben müssen: das Thema der Winkel, das für eine eckige und geometrische Formung der Bewegung sorgt; das Thema der Fläche und damit verbunden das der Torsion und Isolation sowie die parallele Ausrichtung der Beine. Die Übertragung der Bilder in Bewegung erfordert eine körperliche Annäherung – ein close reading des fotografierten Körpers. Immer wieder nehme ich die Pose des Fauns ein. Ich verdrehe meinen Oberkörper, winkle meine Arme und Claudia Jeschke: Tanz als BewegungsText: Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910–1965), Tübingen 1999. 11
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Abb. 1: Adolf de Meyer, Kollotypie 18,2 × 14,8 cm, in: Le Prélude à l’aprèsmidi d’un faune, hg. von Paul Iribe, Paris 1914, Pl. XIII, Musée d’Orsay, Paris.
Hände ab und versuche auf diese Art zu schreiten. Der Blick folgt der Bewegungsrichtung. Die Fersen setzen zuerst auf. Am Ende komme ich zum Knien (Abb. 1). In der körperlichen Annäherung öff net sich zugleich der Abstand zwischen dem Bild und der Bewegung, zeigt sich die mediale Differenz zwischen Tanz und Fotografie. Mein Körper tritt in Relation zu dem in der Fotografie dargestellten Tänzer, dessen Bewegung ich in Zeit und Raum meiner Gegenwart übertrage. Anders als im Studio des Fotografen, in dem die Bewegung für die Kamera (re-)konstruiert wird, erfolgt der Weg dabei umgekehrt: Die mit der Fotografie einhergehende Miniaturisierung des menschlichen Körpers – der Körper Nijinskys – wird in der Rekonstruktion aufgehoben und in die Maße eines anderen (meines) Körpers übersetzt.
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Bilder einer Auff ührung In der Rekonstruktion des L’Aprés-midi d’un Faune, die ich am 8. Mai 2004 im Royal Opera House in London zu sehen bekomme, bilden die Fotografien de Meyers einen zentralen Bezugspunkt. Sie dienen Jeschke, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Ann-Hutchinson Guest die Choreographie Ende der 1980er Jahre erarbeitet, als Vergleich mit der zwischen 1914 und 1915 verfassten Notation von Nijinsky, um die Übereinstimmung der Notation mit der Choreographie zu belegen.12 Die Fotografien werden dabei zum validierenden Dokument der Tanzschrift, der in der Tanzforschung gegenüber den ikonografi schen Quellen ein höherer Status zukommt. Gegenüber der systematisierenden Notation und schriftlichen Reflexion werden die Perspektive des Fotografen und seine gestalterische Einflussnahme auf den abgebildeten Tanz sowie seine Sistierung im fi xierten Medium nicht selten als Beeinträchtigung der Quelle wahrgenommen.13 Außer Rückschlüssen auf die Bewegung lassen die Fotografien Aussagen über die Kostüme zu, zu denen zusätzlich Skizzen und Malereien sowie Aufzeichnungen des Choreographen und von Zeitzeugen existieren. Die Rekonstruktion ermöglicht ein Wiedersehen mit einer Auff ührung, die ich bislang nur aus ihren Bildern kenne. Meine Wahrnehmung des Tanzes erhebt sich vor dem Hintergrund der Erinnerung an die Fotografien. Die Posen der fotografierten Tänzer kehren in der Choreographie wieder, reihen sich wie bewegte Bilder aneinander. Vor der nah zur Bühnenrampe aufgespannten Kulisse, einem Gemälde von Léon Bakst, wirken die Tänzer wie ein Teil des Bildes, in das sich ihre fl ächig ausgerichteten Körper wie in ein Relief einfügen. Die Bewegung entfernt den Tanz vom Bild und hält das Auge an, ihr zu folgen, ohne stillzustehen. Die Dauer der Betrachtung ist begrenzt durch die Dauer der Auff ührung; die Zeitlichkeit der Wahrnehmung auf die Zeitlichkeit der Bewegung. Anders als in der Fotografie vollzieht sich die Wahrnehmung aus der Distanz – ein distant reading, das dem komplexen Geschehen von simultanen Ereignissen folgt, ohne sie anzuhalten, ohne sie anhaltend zu betrachten. Die Selektion eines Momentes, die Fokussierung eines Details geschehen im performativen Prozess – passieren im Zustand einer »gleichschwebenden Aufmerksamkeit«.14 Nijinskys tanzschriftliche Partitur zu L‘Àprès-Midi d‘un Faune ist 1915 in Budapest entstanden. Handschriftliches Manuskript, London: British Museum. Vgl. hierzu Anne Hutchinson Guest und Claudia Jeschke: Nijinsky’s Faune Restored, Philadelphia 1991. Neben den Fotografien de Meyers werden auch die von Auguste Bert und Karl Struss behandelt. Letzterer machte die Aufnahmen 1916 in den USA, während die De Meyers und Berts kurz nach der Premiere des Faune entstanden. 13 Vgl. hierzu grundlegende Schriften der Tanzforschung wie Sibylle Dahms: Tanz, Stuttgart 2001, 9f; Janet Adshead-Lansdale und June Layson: Dance History. An Introduction, London 1994, 3–31. 14 Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912), in: Studienausgabe. Ergänzungsband, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt/M. 2000, 196–180, hier: 171 (= Schriften zur Behandlungstechnik). 12
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Ich wähle aus, lasse den Blick schweifen oder verweile dort, wo meine Aufmerksamkeit erregt wird. Für mich ist es das Zittern des Tänzers Viacheslav Samodurovs, der an diesem Abend die Rolle des Fauns tanzt. 100 Jahre nach Nijinsky. Im Zittern scheint – nun aus der Entfernung – jene körperliche Differenz auf, die – zuvor aus nächster Nähe – mit der Rekonstruktion des Tanzes einherging: die Übertragung von Bewegung in andere Körper, die ihren eigenen Maßen und Gesetzen folgen. Im Blick auf die Statur und Proportion des Tänzers des Royal Opera House werden abermals die Fotografien Nijinskys präsent, legen sich über meine Wahrnehmung des Tanzes. In Erinnerung tritt damit auch ein Mythos des Tänzers, der für die (Sprung-) Kraft und Ausmaße seiner Oberschenkel bekannt war. Eine Fotografie, die diese Sprungkraft belegen würde, existiert jedoch nicht.
Video im Internetportal YouTube Am 10. Juni 2011 sehe ich den Sprung des Fauns in einem Film, der ebenso wenig wie die Fotografie des Sprungs in der Tanzforschung bekannt ist. Von daher rühren auch die Kommentare, die sich zu dem Video mit dem Titel Nijinski-l’après-midi d’un faune-191215 im Internetportal YouTube fi nden: »He’s alive!«. Etwa drei Minuten dauert die fi lmische Darstellung einzelner Szenen der Choreographie. Aufgrund der Materialität mutet der Film wie ein Fundstück an – wie ein bislang im Verborgenen ruhender Streifen alternden Zelluloids. »He’s alive!« – Der Eindruck der Verlebendigung erhebt sich vor dem Hintergrund eines medien- und kulturhistorischen Wissens, nach dem bis zum heutigen Tage kein Film der Choreographie bekannt geworden ist. Es sei, als würde man Atlantis aus dem Meer aufsteigen sehen, so der Kommentar in einem Artikel des New Yorker Magazine von Joan Acocella.16 Dieser Vergleich triff t die Wahrnehmung der fi lmischen Bilder insofern, als durch sie etwas in Bewegung versetzt wird, was bislang nur in fotografi schen Bildern sichtbar war. Der Film taucht auf in einem Kontext, in dem allseits verfügbar Filme abruf bar sind, die teils privaten, teils kommerziellen Quellen entstammen. Hier fi nden sich Film- und Fernsehausschnitte, Musikvideos sowie selbstgedrehte Video-Clips, die Benutzer kostenlos verbreiten, ansehen und herunterladen können. Ein Ort für Entdecker – und für Forscher. Nicht umsonst ist YouTube zum Fundus für tanz- und theaterwissenschaftliche Recherchen von historischen und zeitgenössischen Aufzeichnungen avanciert. Die genaue Herkunft und Entstehung des Filmes bleiben jedoch offen. Der Autor, dessen Name, Christian Comte, unter dem Titel angegeben ist, ist ein französischer Maler und bildender Künstler, der sich mit der Darstellung von Tänzern und Tänzerinnen befasst hat. Er nennt seinen Beitrag in seinem Profi l »fi lmisches https://www.youtube.com/watch?v=Vxs8MrPZUIg, Zugriff: 25.07.2018. Joan Acocella: Fool’s Gold Dept. The Faun, June 29 (2009); http://www.newyorker.com/ talk/2009/06/29/090629ta_talk_acocella, Zugriff: 25.07.2018. 15 16
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Fragment« und spricht von einer »verrückten Legende«, der zufolge Filme des tanzenden Nijinsky überlebt haben sollen. Die Reaktionen auf das Erscheinen des Beitrags von Comte im Netz reichen von Zweifeln an der Echtheit der fi lmischen Aufnahmen: »I think this video is not real but I love it« bis hin zu tiefer Dankbarkeit – »Thank you for all these videos, you bring Nijinski to life ... thank you, thank you, thank you.«17 Die Tanzkritikerin Joan Acocella schreibt in ihrem Artikel die euphorischen Reaktionen auf den Beitrag von Comte jenen Verehrern Nijinskys zu, die in ihm weniger den Tänzer und Choreographen als die Ikone eines missverstanden Künstlers, eines verrückten Genies oder heiligen Homosexuellen sehen. Sie schreibt: »People will take just about anything they can get of him. They want gold, but fool’s gold is O.K., too.«18 Nicht umsonst wird von den Besuchern der Seite gebeten, diese Charade zu stoppen, welche die Tanzbegeisterten für kurze Zeit hoffen lässt, Nijinsky lebendig zu sehen.19
Abb. 2: Still aus dem Video Nijinski-l’après-midi d’un faune-1912 von Christian Comte (2011).
Der Eindruck der Lebendigkeit ist der computergestützten Bildbearbeitung der Photographien de Meyers zu verdanken, die Comte selbst in seinem Studio in Cannes durchführte. Auf seiner Internetseite fi nden sich Hinweise auf weitere fi lmische Animationen, denen auch historische Gemälde zur Vorlage liegen.20 Kein 17 Folgende Zitate sind dem Kommentarfeld von YouTube entnommen; http://www.youtube.com/user/christiancomte, Zugriff: 25.07.2018. 18 Acocella: Fool’s Gold Dept [Anm. 15]. 19 Ebd. 20 http://www.christiancomte.fr/, Zugriff: 25.07.2018. Neben den fi lmischen Fragmenten
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Film, sondern animierte digitalisierte Fotografien, die durch ein computergeneriertes Verfahren des Morphings bearbeitet wurden, in dem durch lineare Interpolationen, die Position jedes Punktes im Quellbild in die neue Position des Zielbildes überführt wird. Auf diese Weise bewegt und belebt der Animationskünstler Comte zahlreiche Tänzerfotografien, indem er Beine und Arme hebt, einen Kopf dreht und die Lücken der einzelnen Einstellungen mit schwarzen oder weißen Überblendungen füllt (Abb. 2). Es sind jene Lücken, die in der Tanzgeschichtsschreibung durch Verfahren der Rekonstruktion von Bewegungsbildern ergänzt oder überbrückt werden sollen. Comte führt der Forschung diese Sehnsucht der Verlebendigung vor Augen, indem er den Glauben an die Fotografie als Zugang zur Wirklichkeit fi lmisch in Szene setzt und in die Irre führt. Die diff usen Szenen und amorphen Formen verweisen auf die Materialität der animierten Bilder. Sie verunsichern das Sehen und unterlaufen eine vermeintliche Gewissheit, die der Fotografie aufgrund ihrer referenziellen Funktion als Wissensobjekt der Tanzgeschichte immer wieder zugeschrieben wird. Diese Gewissheit, mit der Comte in seinem Video spielt, erfährt im Falle der Fotografien des Faune eine weitere Verunsicherung, will man sie in ihrem ursprünglichen Publikationskontext betrachten.
Bildtafeln Am 27. November 2014 besuche ich das Musée d’Orsay in Paris, um die Fotografien, die in dem bereits genannten Buch Le Prélude à L’Après-midi d’un Faune enthalten sein sollen, zu sichten.21 Die Reise erfolgt im Zuge des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes Bilder von Bewegung – Tanzfotografi e 1900–1920, das ich gemeinsam mit meinen Kollegen Tessa Jahn und Eike Wittrock von 2012 bis 2014 durchführte. Statt eines Buches reicht man uns jedoch drei Kartons mit jeweils zehn schwarzen Bildtafeln, auf denen die im Verhältnis kleinen Aufnahmen (die Größen variieren zwischen ca. 17 × 14, 23 × 16 und 10 × 23 cm), rosafarben gerahmt, befestigt sind. Die großformatigen Tafeln (etwa im DIN A2Format) verleihen den Bildern geradezu musealen Charakter, wenngleich sie nicht für uns ausgestellt, sondern Stück für Stück den Kartons zu entnehmen sind. Tafel für Tafel betrachten wir und legen sie nach der Sichtung – um die Ordnung zu erhalten – umgewendet auf dem Tisch ab. Das Wenden ist aufwendig und gestattet auf dem uns zu Verfügung stehenden Platz weder eine Zusammenschau der Bilder noch eine unmittelbare Abfolge, wie sie durch das Blättern von Buchseiten möglich zum Faune existieren mittlerweile Videos zu weiteren Choreographien der Ballets Russes wie Le Roi Candaule, Le Pavillon d’Armide, L’Oiseau d’Or, Le Festin, La Danse Siamoise, Sheherazade, Les Orientales, Carnaval, Le Spectre de la rose, Petrouchka, Le Dieu bleu oder Till Eulenspiegel. 21 Eine umfangreiche Aufarbeitung des choreografi schen und fotografi schen Materials bietet Jean-Michel Nectoux: Nachmittag eines Fauns. Dokumentation einer legendären Choreographie, München 1989.
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wäre. Einzig die überaus feinen, nahezu transparenten Bildträger verweisen auf den ursprünglichen Publikationskontext. Es handelt sich um sogenannte Kollotypien, Lichtdrucke, die sich besonders für die Reproduktion von Fotografien und ihre Publikation in größerer Aufl age eignen. Auf der feinen Textur werden die retuschierten Flächen und Konturen der Körper sichtbar. Sie wurden zur Zeit ihrer Entstehung, so ist den Forschungen zu den Fotografien de Meyers zu entnehmen,22 in Form von Schraff uren auf den Negativen und mutmaßlich auf einzelnen Abzügen vorgenommen, die dann wieder fotografiert wurden, um die Reproduktion der Tafeln im Gummidruck-Verfahren zu ermöglichen. Die auf sehr feines Papier gedruckten Blätter wurden dann an den Rändern zu verschiedenen Formaten zurechtgeschnitten, die der Künstler für jede Tafel angab, und damit die Entscheidung für den letztendlich gültigen Bildausschnitt traf.23 Die Fotografien zeigen den Faun und die Nymphen in verschiedenen Posen verharrend, nur wenige sind in Bewegung begriffen wie im Schreiten oder in einer Balance. Vorherrschend sind Ansichten von Händen und Armen, Vorderund Rückseiten, teils ausschnitthaft gerahmt, wodurch die Körper fragmentiert erscheinen. Die Fotografien der Fragmente reihen sich im Wechsel von Körperansichten von Nah- und Fernaufnahmen neben Portraits, Einzel- und Gruppenbildern, in denen Korrespondenzen zwischen den Körpern und ihren Gliedmaßen entstehen. In den verschiedenen Ansichten und Ausschnitten des Körpers
Abb. 3: Adolf de Meyer, Kollotypie 24,1 × 21,8 cm, in: Le Prélude à l’après-midi d’un faune, hg. von Paul Iribe, Paris 1914, Pl. XIV, Musée d’Orsay, Paris. 22 23
Vgl. ebd., 58. Vgl. ebd.
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Abb. 4: Adolf de Meyer, Kollotypie 28,6 × 13 cm, in: Le Prélude à l’après-midi d’un faune, hg. von Paul Iribe, Paris 1914, Pl. XV, Musée d’Orsay, Paris.
Abb. 5 : Adolf de Meyer, Kollotypie 28,6 × 14 cm, in: Le Prélude à l’après-midi d’un faune, hg. von Paul Iribe, Paris 1914, Pl. XVI, Musée d’Orsay, Paris.
erscheint Skalierung als eine der Serie immanente Darstellungsstrategie des Fotografen (Abb. 3–5). Die Darstellung der Figuren und der malerische Hintergrund verleihen den Fotografien einen bildhaften Charakter und lenken meinen Blick auf die Fläche des Bildträgers. Die Stoffe der Schleier und Kleider der Nymphen heben sich konturiert und differenziert von dem eher diff usen und heterogenen malerischen Hintergrund ab, der zahlreiche Retuschen aufweist. Mit dem Blick aus nächster Nähe tritt die Materialität der Fotografie hervor. Mein Blick wechselt – springt – zwischen Fotografie und Fotografiertem zwischen den Grenzen von Körper, Haut und Stoff und der strukturierten Körnung des Papiers. Je länger und je näher ich die Kollotypien betrachte, desto unwirklicher erscheint, was sie zeigen. Es ist, als würde durch die Transparenz der Stoffe die Materialität der Fotografie aufscheinen, meinen Blick immer wieder an ihre Existenz erinnern. Mit ihr relativiert sich der referenzielle Charakter, und die Fotografie tritt in ihrer eigenen ästhetisch gestalteten Bildlichkeit hervor. In der Ansicht der auf den Bildtafeln angebrachten Kollotypien kommt es zu einer Verunsicherung des Sehens und dem Entzug sichtbarer Gewissheit. Es scheint, als hätte ich im Blick auf die Fotografie eine Grenze überschritten, an der, wie Steffen Siegel im Blick
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auf das Phänomen der Bildauflösung hervorhebt, »die materiellen Bedingungen des Fotografi schen sichtbare Dominanz« 24 gewinnen: »An eine solche Grenze der Auflösung des Bildes zu gelangen und diese zu übertreten, bedeutet, Bildbetrachtung als eine Passage des Sehens einzurichten.«25 In dieser Passage des Sehens changiert der Blick zwischen Fotografie und Fotografiertem, passiert – an der Grenze von Sicht- und Unsichtbarkeit, im unentwegten Übergang. Das durch die Auflösung des Bildes ausgelöste Schwanken des Sehens führt zu einer Rückversicherung im Wiedersehen und -erkennen des Abbildes: »Solche Akte der Revision sind Versuche, die Übertretung der internen Grenze der Auflösung, mindestens vorläufig rückgängig zu machen. Fotografien fordern eine Praxis des Sehens heraus, die von der Gewissheit eines visuellen Datums zur Ungewissheit einer amorphen Form führt. Je weiter sich der Blick auf die Fotografie ihrer Oberfl äche annähert, je größer der Maßstab des ins Auge genommenen Ausschnitts hierbei wird, umso mehr löst sich die formale Ordnung mimetischer Referenzialität auf, um schließlich zuletzt in einen Zustand der Entropie überzugehen.« 26
Mikrofi lm Die Recherche im Musée d’Orsay kann als eine solche Revision in der Passage des Sehens verstanden werden – in der mein Wissen um das Objekt nahezu in Vergessenheit rückt: die Einbindung der Fotografien in das 1914 von Paul Iribe veröffentlichte Buch Le Prélude à l’Après-midi d’un Faune. Am nächsten Tag unternehmen wir einen erneuten Anlauf, um Fotografien im Kontext ihrer Publikation zu sichten, die sich in der Bibliothèque-Musée de l’Opéra befi nden soll. Die Sichtung kann nicht stattfi nden. Auf unsere Anfrage hin breitet sich unter den Bibliothekaren Unruhe aus. Sie halten Rücksprache und richten uns aus, dass das Album nicht zugänglich ist. »Vous avez touché le Gral!« 27. Stattdessen reicht man uns eine Dose mit einem Mikrofi lm, den wir im Bibliothekssaal auf einem Rollfi lmlesegerät sichten. Bei diesem Modell erfolgt die Projektion der schwarz-weiß abfotografierten Seiten des Albums von oben auf eine weiße Fläche. In die Sicht auf das Material treten Kratzer, die teils der Projektionsfl äche, teils den Gebrauchsspuren des Mikrofi lms entspringen und das Medium der Aufzeichnung und die Apparatur ihrer Vermittlung präsent halten. Dazu trägt auch die etwa auf das doppelte Maß vergrößerte Projektion der Reproduktion des Albums bei, das in der Höhe 192 und in der Länge 294 mm betragen soll.28 Steffen Siegel: Ich sehe was, was du nicht siehst. Zur Aufl ösung des Bildes, in: Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft, Bd. 58/2 (2013), 177–202, hier: 201. 25 Ebd., 196. 26 Ebd. 27 »Sie haben den Gral berührt!« [Übersetzt von Isa Wortkamp]. 28 Vgl. dazu Angaben auf der Homepage des Musée d’Orsay: http://www.musee-orsay.fr/fr/ collections/catalogue-des-oeuvres/notice.html, Zugriff: 25.07.2018. 24
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Im Licht der Projektion erhalten die Buchseiten, die sich durch eine Taste fortbewegen lassen, einen immateriellen Charakter. Das Gesichtete ist ebenso ungreifbar wie flüchtig. Die begrenzte Dauer der Sichtung veranlasst uns zu einem Notat, in dem wir die Reihenfolge der Seiten festhalten: Der Titelseite mit dem Porträt Nijinskys folgen insgesamt 46 Seiten, auf denen Abbildungen weiterer Mitglieder der Ballets Russes, die 30 Kollotypien zur Choreographie des Faune sowie der Abdruck einer Kostümskizze von Léon Bakst zu sehen sind.29 Die Serie ist interpoliert mit Textseiten von August Rodin, Jacques-Emile Blanche und Jean Cocteau, die kurze Betrachtungen zur Choreographie, zu Nijinsky und zum modernen Tanz im Allgemeinen enthalten. Die Seiten sind, wie den Rändern in der Projektion des Mikrofi lms zu entnehmen, auf einem kleineren Papierformat abgedruckt, was sie optisch zusätzlich von den Bildseiten abhebt. All das ist nur zu ahnen, ebenso wie die Materialität des Buchs, seine papierne Beschaffenheit und grafi sche Gestaltung. Dass wir das Buch nicht zu sehen bekommen, liegt, wie wir auf unsere erneute Anfrage hin erfahren, an seiner Seltenheit. Das in der Bibliothèque-Musée de l’Opéra auf bewahrte Exemplar ist eines von sechs, die überhaupt noch existieren. Der Rest der ursprünglich einmal 1.000 Exemplare, die für den Druck vorgesehen waren, sollen mit einem Schiff untergegangen sein, mit dem de Meyer bei seiner Auswanderung 1914 die Bücher von Paris nach New York nachschicken ließ. 30 Zweifel daran kommen durch die unglücklichen zeitlichen Umstände auf: Das Druckdatum war der 15. August 1914, am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg, worauf hin die de Meyers umgehend Paris verließen. Es ist zu vermuten, dass die Edition in diesem Umfang nie realisiert wurde – oder aber sie wurde vernichtet, was durch die Aussage von de Meyer an Stieglitz im Jahre 1940 untermauert wird, er habe alles, was überflüssig war, zerstört, vor allem seine fotografi sche Arbeit: »Like you—I have in 1935 destroyed all that was superfluous, it seemed to me a burden … all my photographic work especially … what is left … is due to fortunate incidents … some of my work being elsewhere. I tell people … I had a fi re in the house I had my studio in … all was destroyed. They would not understand … I should have waited … .« 31 Angesichts dieser Aussage ist auch der Status des Mikrofi lms ungewiss, mutet wie eine letzte Spur des Buchs an, das in Flammen aufging, auf dem Grund des Meeres liegt – oder, wie im Magazin der Bibliothèque-Musée de l’Opéra, gut vor den Blicken der Forschenden verborgen.
Le Prélude à l’Après-midi d’un Faune, hg. von Paul Iribe, Paris 1914 [unpaginiert]. Vgl. Sotheby’s: New York Photographs May 4, 1988. 31 Adolph de Meyer and Alfred Stieglitz Correspondence. Alfred Stieglitz Archive, Collection of American Literature, Beinecke Rare Book Room and Manuscript Library at Yale University, New Haven, Conn. 29
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Buch Im Rahmen meiner jüngsten Forschungsarbeit unternehme ich am 21. Februar 2018 einen erneuten Anlauf, um das Exemplar in der Bibliothèque-Musée de l’Opéra in Paris zu sichten. Bevor ich es sehen kann, ist es erforderlich, schriftlich darzulegen, weshalb der Mikrofi lm, auf den ich zunächst erneut verwiesen werde, für meine Forschungen nicht ausreichend ist. Ich argumentiere mit der spezifi schen Materialität des Mediums, der Stoffl ichkeit des Papiers und der Farbigkeit der Abbildungen. Als ich das Buch – »den heiligen Gral« – endlich zu sehen bekomme, bin ich nahezu enttäuscht. Bereits der Einband hat den Charakter jener nachträglich gebundenen Bücher von Bibliotheken, die sie in ihrer äußeren Erscheinungsform und Beschaffenheit vereinheitlichen. Anstelle eines roten Lederrückens mit Goldschnitt-Beschriftung, die – wie im Auktionskatalog von Sotheby’s beschrieben – das Buch haben sollte,32 ist auf dem braunen Kunstlederrücken ein Schild mit der Inventarnummer aufgeklebt. Das mir aus dem Mikrofi lm in Erinnerung gebliebene Titelbild mit dem Kopf des Fauns ist mit einer Klebung auf dem Buchdeckel angebracht. Erst beim Öff nen zeigt sich das Alter des Buches. Gleich zu Beginn fi ndet sich ein Vermerk zu der 1998 vorgenommen Restaurierung. Die Seiten sind stellenweise vergilbt und weisen Wasserschäden auf, die teils auch die Abbildungen betreffen. Ihre Rückseiten drücken sich je nach Bildgröße in unterschiedlichen rechteckigen Formaten auf den gegenüberliegenden Seiten ab, zwischen die zum Schutz nachträglich Blätter gelegt wurden. Die ebenfalls nachträglich vorgenommene, meist durchgehende Fixierung der Kollotypien mit Klebstoff nimmt ihnen die papierne Leichtigkeit, die sie auf den Bildtafeln vermittelten. Seite um Seite begegnen mir die Bilder in der ›festen Einbindung‹ in das Buch, die eine Ordnung der Sichtung vorgibt, die sich nur durch das Vor- und Zurückblättern verändern ließe. Nicht ich blättere, sondern eine Mitarbeiterin der Bibliothek. Ich schaue ihr über die Schultern und bitte sie, immer wieder anzuhalten. Auf meinen Wunsch hin kann ich einzelne Kollotypien mit der Lupe betrachten. Auf der feinen Textur werden neben den mir bereits bekannten retuschierten Flächen und Konturen der Körper auch die Ausbesserungen sichtbar, die mutmaßlich im Zuge der Restaurierung vorgenommen wurden. In der auf eine Stunde begrenzten Sichtung blättert die Bibliothekarin das Buch zweimal für mich durch. Die Sichtung aus der Ferne distanziert meinen Akt der Lektüre von ihrem Gegenstand, dem Buch als Artefakt, das den medialen Rahmen für die fotografi sche Serie bildet. Die (Ein-)Bindung in das Buch bestimmt die Reihenfolge der Bilder, die durch den Leser meist in eine Richtung nachvollzogen wird. Das Umdrehen der Seiten wird dabei Teil eines Bildsehens, das, wie David Ganz und Felix Thürlemann herausstellen, »auf einen erinnernden Sehmodus hin angelegt [ist], der jedes
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Vgl. Sotheby’s: New York Photographs May 4, 1988.
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Bild auf ein jeweils unsichtbares, verdecktes Bild bezieht.« 33 Der körperliche Zugang – die Berührung und das Blättern der Seiten – ist dabei grundlegend für das Verständnis der seriellen Bildkomposition: »Die Bildanlage übersteigt das unmittelbar Abgebildete, sie erfasst auch die ›körperliche‹ Gegenständlichkeit des Buches und die performative Nutzung des Buches, schließlich auch den Betrachter: Erst im performativen Mitwirken des Betrachters kommt die angelegte Gesamtheit des Bildgeschehens zustande.« 34 Was ich in der Sichtung nur imaginär nachvollziehen kann, prägt die ästhetische Logik der Serie de Meyers im Kontext der Publikation: Sie ist auf eine (Fort-) Bewegung der Bilder hin angelegt. Im Blättern der Seiten entsteht ein zeitlicher und räumlicher Abstand zwischen den Bildern, durch den das Sehen zu einem erinnernden Sehen wird. Wie die einzelne Bewegung nicht zu erfassen ist, zeigt sich auch hier das einzelne Bild stets im Zusammenhang mehrerer Bilder, die wiederum in Beziehung zu den Texten und der grafi schen Gestaltung des Buches stehen. Die Wahrnehmung der Bilder ist wie die der Bewegung an das Vergessen gebunden, entsteht und vergeht – Seite um Seite.
Digitalisat Auf den Seiten der Recherche-Portale, die meine Sichtungen begleiten, ergibt sich eine andere Ordnung der Fotografien. Hier sind sie aus ihrem Publikationskontext isoliert und meist als plurale Form arrangiert. Die Anordnung mehrerer Bilder auf einer Seite ermöglicht die Übersicht über den Bestand und erleichtert den Zugang zum Material. Wie auf der Seite der Réunion des Musées nationaux et du Grand Palais 35 zu sehen, kommt es dabei zu neuen und anderen Ordnungen des Sehens, die der Logik der digitalen Präsentation und Speicherung folgen. Oder aber auch kommerziellen Zwecken: Auf der Seite der New York Public Library 36 habe ich die Möglichkeit, die Fotografie in der Auflösung von 300 oder 750 dpi herunterzuladen, oder aber gegen Entgeld als ›Originalscan‹ für 100 US-Dollar oder als Art Print zu bestellen. Hier variieren die Preise je nachdem, ob ich das Foto gerahmt, aufgespannt, als Poster oder Leinwand erwerben möchte. Das Buch, in dem die Fotografien erschienen sind, liegt bis auf weiteres nicht digitalisiert vor. Seine Sichtung liegt auch für mich schon eine Weile zurück und ist selbst durch diese und andere Präsentationen des Bildmaterials überschrieben. Zur Vorbereitung auf meinen Vortrag auf der Tagung »Ästhetik der Skalierung«, die vom 8. bis 9. Juni 2017 in David Ganz und Felix Thürlemann: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder, Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, hg. von David Ganz u. a., Berlin 2010, 7–39, hier: 20. 34 Wolfgang Christian Schneider: Geschlossene Bücher – off ene Bücher. Das Öff nen von Sinnräumen im Schließen der Codices, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), 561–592, hier: 562. 35 https://www.photo.rmn.fr, Zugriff : 25.07.2018. 36 https://digitalcollections.nypl.org, 12.04.2018, Zugriff : 25.07.2018. 33
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Abb. 6 und 7: Adolf de Meyer, Kollotypie 17,1 × 9,4 cm, in: Le Prélude à l’après-midi d’un faune, hg. von Paul Iribe, Paris 1914, Pl. XX, Musée d’Orsay, Paris.
Essen stattfi ndet und der diesem Beitrag vorausgeht, besuche ich das Online-Portal der Bildagentur BPK – Bildportal der Kultureinrichtungen 37, um eine der Abbildungen für die Präsentation auszuwählen und die Bildrechte zu erwerben. Auf der Seite sind die dreißig digitalisierten und miniaturisierten Fotografien in Dreierreihen angeordnet, von denen die letzten fünf erst über das Anklicken des Pfeils zur nächsten Seite sichtbar werden. Die Reihenfolge ist für mich undurchsichtig und entspricht nicht der in der Publikation enthaltenen Serie de Meyers. Wenn man eine Abbildung anklickt, erscheint sie mit den dazugehörigen Bildangaben in 37
https://www.bpk-bildagentur.de/shop, Zugriff: 25.07.2018.
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vergrößerter Form am Rand. Im Bild eingefügt ist das Wasserzeichen mit den in drei Quadraten angeordneten Buchstaben »B«, »P«, »K« für die Agentur (Abb. 6). Als ich die Bilddatei auf meinem Laptop öff ne, sind die Zeichen verschwunden. Auf meinem Bildschirm betrachte ich die Aufnahme einer der sieben Nymphen, denen der Faun an dem besagten Nachmittag nachstellt. Es ist eine der wenigen Momente einer Bewegung im Vollzug. Ein Balance-Akt auf einem Bein auf halber Spitze, während das Spielbein leicht nach hinten abgewinkelt ist. Der Körper steht seitlich, während der Torso zur Kamera ausgerichtet ist. Wieder eine Torsion. Die Arme sind – wie in die Fläche eines Bildes eingepasst – seitlich vom Körper abgewinkelt mit den Handfl ächen zum Betrachter gewandt. Die Figur steht klar abgegrenzt vor dem malerischen Hintergrund. Vom Haar an scheint die Schärfe zu dem transparent wirkenden Kleid hin abzunehmen. Die retuschierten Flächen lassen die Konturen der Arme deutlicher hervortreten, während der nach hinten gehobene Fuß nahezu verschwommen wirkt, was den Eindruck der Bewegung verstärkt. Die ebenfalls retuschierte Kontur des Fußes hebt sich vor der diff us wirkenden Malerei ab. Seine Haut wird unter dem Stoff des Kleides sichtbar, auf dem ein Muster mit schwarzen Karrees gedruckt ist. Wie im Archiv versuche ich mich in die Fotografie zu versenken und alles andere, die Spiegelung auf meinem schwarz umrandeten Bildschirm ebenso wie den Blick aus dem Fenster an meinem heimischen Schreibtisch, auszublenden. Im Blick auf die digitalisierte Fotografie re-konstruiere ich somit nicht die Bewegung der Körper, sondern die Bewegung meines Blicks und setze sie in ein Verhältnis zu der digitalisierten Sichtbarkeit der Fotografie. Wieder durchdringt mein Blick die Schichten der Sichtbarkeit: Vom Druck auf dem Kleid zur Textur seines Stoffes nehme ich die Fläche der Haut und des Hintergrundes wahr, die durch das Kleid schimmert. Die Fokussierung der Details führt mich abermals auf den Grund des Bildes, dorthin, wo die körnige Struktur des analogen Bildes in das Raster der digitalen Bildelemente umschlägt. In verschiedenen Farbtönen verweisen die Pixel auf die medialen Bedingungen des digitalisierten Bildes. Je näher ich ihm rücke, desto ferner erscheint mir seine ›Wirklichkeit‹ und die des Tanzes. Die Auflösung des Bildes kommt einer Auflösung des Körpers gleich, dessen referenzieller Bezug zur Fotografie im Raster der Bildelemente verschwindet (Abb. 7).
Nach den Sichtungen Im Modus der Skalierung vollzieht sich abermals ein Sprung. Das ins Extrem getriebene close reading kippt an jener Stelle in ein distant reading, an der sich mir der Grund der Sichtbarkeit entzieht. Es birgt in sich das Potential, Fotografie – analog oder digital – in ihrer medialen und materiellen Beschaffenheit zu betrachten, unter deren Bedingungen die hier vorgestellten Sichtungen stattfanden. Sie ist konstitutiv für die Wahrnehmung der Fotografie als tanzwissenschaftlichen Forschungsgegenstand, der sich insbesondere durch die Interferenz von Bild und Be-
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Abb. 7: Detail aus Abb. 6, Vergrößerung am Computerbildschirm.
wegung auszeichnet. Die Präsenz der Fotografie und des fotografierten Körpers erzeugt eine Wahrnehmung aus der Nähe, die im nächsten Moment die Entfernung zur Zeit und zum Raum der im Bild still gestellten Bewegung markiert. 38 Diese Grenze zeigt sich in der Rekonstruktion der Tanzfotografie in der physischen Differenz zum medial vermittelten – verkleinerten – Körper von Tanzendem und Fotografiertem; in der Erinnerung an Fotografien, die der Wahrnehmung des Tanzes vorausgehen und sie überschreiben; in der Verunsicherung der Gewissheit über die materielle und mediale Präsenz der Fotografie in ihren diversen Erscheinungsbildern als Projektion, Video, Mikrofi lm, Reproduktion in einem Buch oder Digitalisat im Internet. Es ist eine Grenze, die zu erkunden sich lohnt – sie zu überspringen auch. Abb. 1, 3–6: © bpk. Vgl. zur Beziehung von Nähe und Distanz Peter Geimer, der hinsichtlich der Idee der »Emanation des Referenten« bei Roland Barthes schreibt: »Die Fotografie bewirkt demnach eine Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, Gegenwart und Entzogenheit. Zunächst erzeugt sie eine Verbindung zum realen Objekt, dessen Licht sie auff ängt. Das dabei entstandene Bild wird hier gleichsam übersprungen, als bestehe ein direktes Kontinuum zwischen dem Objekt und dem Blick, der es ›berührt‹.« Peter Geimer: Theorien der Fotografi e. Zur Einführung, Hamburg 2009, 34 f. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt 1989, 13. 38
Lang oder überlang? Zu Ästhetik und Pragmatik komplexer anglophoner Langromane der Gegenwart Nicola Glaubitz
1. Lang oder zu lang? »Books are too long,«1 überschrieb 1943 der amerikanische Dichter und Kritiker Malcolm Cowley eine Rezension und sprach (vielleicht pro domo) von Rezensenten, die zu wenig Zeit zum sorgfältigen Lesen immer längerer Romane hätten. Vertrauter klingen allerdings Schlagzeilen wie diese: »Internet spells end of long, complex literature.« 2 Der Independent zitierte hier 2014 den britischen Autor Tim Parks, der beklagte, immer weniger Menschen brächten im Zeitalter digitaler Zerstreuung und immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen die Energie auf, ›substanzielle‹ – das heißt lange, komplexe – Romane über ›Tage, Wochen, Monate‹ hinweg sorgfältig zu lesen und ihren vielfältigen Verweisen zu folgen.3 Auch für seinen Kollegen Will Self stand dem Roman ein nahes Ende bevor angesichts einer »active resistance to difficulty in all its aesthetic manifestations«4. Ein Jahrzehnt zuvor hatte Sven Birkert prophezeit, mit der Bereitschaft zur konzentrierten Lektüre gehe der Sinn für zeitliche Kontinuität und für die Einheit des Subjekts verloren.5 Diese Beobachtungen und ihre kulturkritische Rahmung mit einer Diagnose zunehmender Beschleunigung und massenkultureller Zerstreuung sind nicht neu.6 Schon in der Medienökologie des 19. Jahrhunderts schätzt Franco Moretti die Überlebenschancen von Langformen in Literatur und (Musik)Drama als gering ein, da sie außerhalb universitärer Kreise ohnehin ungelesen blieben.7 1 Malcolm Cowley: Books are too long, in: The New Republic (29.03.1943), 417–418, hier: 417. Dieser Aufsatz ist im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms 1688 Ästhetische Eigenzeiten entstanden. 2 Adam Lusher: Internet spells end of long, complex literature, says author Tim Parks, in: The Independent online (15.06.2014), http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/books/news/ internet, Zugriff: 19.06.2014. 3 Tim Parks: Reading – The Struggle, in: New York Review of Books Blog (10.06.2014), http:// www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2014/jun/10/reading-struggle/ (17.06.2014), Zugriff : 08.05.2015. 4 Will Self: The novel is dead (this time it’s for real), in: The Guardian online (02.05.2014), http:// www.theguardian.com/books/2014/may/02/will-self-novel-dead/ (03.05.2014), Zugriff : 08.05.2015. 5 Sven Birkert: The Gutenberg Elegies. The Fate of Reading in an Electronic Age, Boston und London 1994, 20. 6 Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005, 71–83. 7 Franco Moretti: Modern Epic: The World System from Goethe to García Márquez, London 1996,
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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Diese Befunde ergänzen die These einer beschleunigten, immer aggressiver um immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen werbenden Medienlandschaft so gut, dass eigentlich nur zwei Dinge stutzig machen. Erstens: ›Maximalistische‹ Romane haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer unscharf, aber wiedererkennbar konturierten Gattung konsolidiert und sich in der US-amerikanischen Literatur, mit Autoren wie Roberto Bolaño, Gabriel García Márquez und Salman Rushdie aber auch in der Weltliteratur fest etabliert.8 Zweitens passt die Popularität langer komplexer Romane nicht ins Bild allgemeiner Verkürzung und Verfl achung. Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973) – ein von Autoren wie Kritikern als stilbildend anerkannter, komplexer Langroman – war ein Bestseller, und die Liste der außerakademischen Einrichtungen, die ihn im kulturellen Gedächtnis verankerten, ist lang: »an author society, a scholarly journal devoted to his work, and one of the classiest of author websites […] complete with wikis for all novels, links to the proliferating worldwide industry of Pynchon studies, and an intermittent blog […] Since 1987 if not before, marathon readings of Gravity’s Rainbow have been staged at Princeton, Brown, UCLA, and elsewhere. In 2006 it became the fi rst U.S. meganovel, so far as I know, to be treated to a start-to-fi nish series of visuals, Zak Smith’s Pictures Showing What Happens on Each Page of Thomas Pynchon’s ›Gravity’s Rainbow‹.« 9 Neben dem Bloomsday, der seit den 1990er Jahren weltweit am 16. Juni die Geschehnisse in James Joyces Ulysses (1922) mit Spielszenen und Kneipentouren in Echtzeit nachempfi ndet,10 gibt auch die Beliebtheit von Herman Melvilles MobyDick zu denken. Dieser enzyklopädische Roman gibt eine Steilvorlage für akademische Lesegruppen, Vorleseprojekte im Radio und Marathonlesungen ab und wurde erst kürzlich wieder als 24-Stunden-Live-Lesung im Zoologischen Museum Kiel aufgeführt. David Foster Wallaces Infinite Jest (1996), im Original 1.079 Seiten lang, inspirierte 2009 die Online-Lesegruppe Infinite Summer, an der sich über drei Monate hinweg etwa 1.500 Leserinnen und Leser mit Kommentaren beteiligten. Die deutsche Übersetzung wurde 2016 und 2017 von fast ebenso vielen Amateursprecherinnen und -sprechern als kollektives Hörbuchprojekt eingelesen. Im Vergleich zu den Leserzahlen, die lange populäre Romane wie Harry Potter oder Lord of the Rings auf bieten, mögen solche Beispiele unbedeutend sein. Sie zeigen aber dennoch, dass lange komplexe Romane keineswegs nur in Elfenbeintür4; vgl. zu ähnlichen Einschätzungen Edward Mendelson: Encyclopedic Narrative: From Dante To Pynchon, in: Modern Language Notes 91.6 (1976), 1267–1275, hier: 1268; Tom LeClair: The Art of Excess. Mastery in Contemporary Fiction. Urbana und Chicago 1989, 4. 8 Stefano Ercolino: The Maximalist Novel. From Thomas Pynchon’s Gravity’s Rainbow to Roberto Bolaño’s 2666, New York und London 2014, 9. 9 Lawrence Buell: The Dream of the Great American Novel, Harvard 2014, 452; Kathleen Fitzpatrick verweist zusätzlich auf Lesegruppen zu Gravity’s Rainbow, die sich auf Emaillisten organisieren: Kathleen Fitzpatrick: Infinite Summer: Reading, Empathy, and the Social Network, in: The Legacy of David Foster Wallace, Iowa City 2012, 182–207, hier: 193; vgl. zum Bestsellerstatus Pynchons auch Tom Perrin: The Aesthetics of Middlebrow Fiction. Popular US Novels, Modernism, and Form, 1945–1975, New York 2015, 114. 10 Aleida Assmann: Joyces Dublin, in: Orte der Literatur, Göttingen 2003, 294–309.
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men studiert werden, und sie zeigen, dass Lesende bereit sind, freiwillig viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Vergegenwärtigt man sich, wieviel zusätzliche Zeit beispielsweise die Teilnehmenden an Infinite Summer über die Lektüre von Infinite Jest hinaus auf sich nehmen mussten, um zumindest einen Teil der Essays und Kommentare auf den Onlineforen zu lesen und selbst solche zu verfassen, dann scheint das Ende einer ausdauernden Beschäftigung mit langen komplexen Texten nicht unbedingt in Sicht. Warum hält sich trotzdem der Eindruck, Langromane in der Tradition der Moderne seien unlesbar und ungelesen? Und wie gelingt es ihnen, trotzdem Leser zu fi nden? Ich werde mich diesen Fragen über eine »Rekonstruktion von Skalensemantiken«11 nähern, die Carlos Spoerhase als eine der Voraussetzungen für eine ›Philologie des Formats‹ und das heißt auch der langen Form betrachtet. Die Länge von Romanen ist, wie auch Stefano Ercolino beobachtet, keine neutrale, bloß quantitativ bestimmbare Größe: Sie birgt einerseits hohes ästhetisches Potential für ambitionierte Experimente und Innovationen, andererseits stellt der Umfang eines Buches einen Attraktionswert dar, der Langromane auf dem Buchmarkt in prestigeträchtige Konsumobjekte umwandelt.12 Auch wenn sich weder die Attraktionen des Formats und die Qualitäten des Ästhetischen noch die Zielgruppen langer komplexer Romane sauber voneinander trennen lassen – hier die Leser/Kenner eines Textes, dort die mutmaßlich nichtlesenden Konsumenten/Bewunderer eines Objekts –, ist die stark normative Aufl adung der Länge von langen, komplexen Romanen und ihrer Lektüre unbestreitbar. Um die Semantik und die Funktion dieser normativen Besetzung freizulegen, eignet sich der Begriff der Skalierung.13 Skalierung ist ein Prozess und eine Praktik, die das Finden und Anwenden von Größen- und Maßverhältnissen, das Relationieren von Vergleichsgrößen und das Abschätzen des Verhältnisses von Qualität und Quantität umfasst. Wenn man über Länge spricht, spricht man nie über eine Gegebenheit, denn etwas ist lang immer im Verhältnis zu etwas anderem. Skalierung ist daher ein Suchbegriff, der an sich wenig erklärt, aber auf Erklärungsbedürftiges aufmerksam macht – wie etwa auf die vermeintlich einfache Bezeichnung ›Länge‹. Die Schwierigkeit, die Länge des Langromans deskriptiv und formalästhetisch einzuholen (darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein), und die starke Fokussierung der Literaturkritik auf die ›großen‹, bedeutenden Thematiken und die epistemologische Satisfaktionsfähigkeit komplexer Langromane deutet darauf hin, dass dieses Subgenre des Romans Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830. Göttingen 2018, 668. 12 Ercolino: The Maximalist Novel [Anm. 8], 19. 13 Der Begriff scale kursiert seit einiger Zeit in der englischsprachigen Diskussion, vgl. Michael Tavel Clarke und David Wittenberg: Introduction, in: Scale in Literature and Culture, London 2017, 1–32. Größenverhältnisse und -maßstäbe sind im Kontext des Anthropozäns und des Posthumanismus’ wieder auf Interesse gestoßen, aber auch im Zusammenhang mit großen Datenmengen und ihrer Bewältigung, vgl. James English und Ted Underwood: Shifting Scales. Between Literature and Social Science, in: Modern Language Quarterly, 77.3 (2016), 277–295. 11
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die Grenze zwischen Länge und Überlänge austestet, nicht zwischen Großem und Kleinem.14 Wenn man von Überlänge und dem Maßlosen spricht, bewegt man sich auf dem Gebiet der Erhabenheitsästhetik. Deren Problembezug ist nicht so sehr das Anwenden, sondern das (Wieder)Finden von Maßstäben sowohl affektiver als auch kognitiver Art. Komplexe Langromane im 20. Jahrhundert scheinen daran anzuschließen, denn ein, wenn nicht das zentrale Bezugsproblem dieser Texte ist die Skalierung des Verhältnisses von informationeller Quantität und Qualität.15 Don DeLillos Underworld (1997) und David Foster Wallaces Infinite Jest (1996), die ich (neben dem Infinite Summer-Projekt) diskutieren werde, sind keine Ausnahmen. Dennoch fügen sie sich weder in ihren Skalierungsfiguren noch in der expliziten Addressierung des Problems von Zerstreuung und Langeweile in den Rahmen des Erhabenen. Diese Aspekte – und Praktiken der Skalierung langer Lektüre – lassen sich mit Sianne Ngais Begriff des Blöd-Erhabenen oder Stuplimen16 erschließen.
2. Skalierung, deskriptiv: Wann ist ein Roman lang? Länge wird in der Diskussion um eine Gattung, die Größen- und Längenbegriffe im Namen führt, kaum näher analysiert. Seit dem 19. Jahrhundert kursieren Begriffe wie ›großer amerikanischer Roman‹17, ›enzyklopädischer Roman‹, ›epischer Roman‹, ›modernes Epos‹, ›Mega-Roman‹, ›maximalistischer Roman‹ oder ›langer moderner Roman‹. Dass ein gewisser Textumfang die Voraussetzung für 14 Ich konzentriere mich hier auf Langromane, die weitaus kleiner sind als Textprojekte wie Richard Grossmans Breeze Avenue (drei Millionen Seiten). Wie Bradley Fest richtig beobachtet, lassen sich solche Projekte nicht mehr im Rahmen einer Ästhetik, das heißt unter Rekurs auf Wahrnehmen und Lesen thematisieren, sondern legen von vornherein andere Herangehensweisen als das Lesen nahe. Komplexe Langromane von etwa 1000 Seiten hingegen können die Frage der vollständigen Lesbarkeit und Verstehbarkeit noch spannungsreich offenhalten, reflektieren und bearbeiten, vgl. Bradley Fest: Toward a Theory of the Megatext: Speculative Criticism and Richard Grossman’s Breeze Avenue Working Paper, in: Scale in Literature and Culture, London 2017, 253– 280. 15 LeClair: Art of Excess [Anm. 7], 6: »These novels are also about the size and scale of contemporary experience: how mulitplicity and magnitude create new relations and new proportions among persons and entities, how quantity affects quality, how massiveness is related to mastery. The novels are themselves long, large, and dense.« 16 Sianne Ngai: Ugly Feelings, Harvard 2004. 17 John DeForest: The Great American Novel, in: The Nation, 09.01.1868, 28 f.; Mendelson: Encyclopedic Narrative [Anm. 7]; Theodore L. Steinberg: Twentieth Century Epic Novels, Newark 2005; Moretti: Modern Epic [Anm. 7]; Frederick R. Karl: American Fictions: 1940–1980. A Comprehensive History and Critical Evaluation, New York 1983; Ercolino: The Maximalist Novel [Anm. 8]; Scott McCracken und Jo Winning: The Long Modernist Novel: An Introduction, in: Modernist Cultures 10.3 (2015), 269–281. Ich verwende den Sammelbegriff ›komplexer Langroman‹, wenn ich moderne und nachmoderne Varianten meine, und konzentriere mich in diesem Beitrag auf amerikanische Beispiele.
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ästhetisch-formale Variationsbreite, Experimentalität, Vielstimmigkeit, epistemologische Tiefgründigkeit, sozialgeschichtliche Bandbreite und thematische Umfassendheit ist, gilt als ausgemacht18 – wie sich aber der Umfang eines Langromans bestimmen und gar mit ›Größe‹ in anderen Hinsichten in Beziehung setzen lässt, ist weitgehend unklar. Wann ist ein Roman lang – und wann ist er zu lang? Die Lesezeit gibt, wie Kevin Kopelson zu Marcel Prousts À la recherche du temps perdu ausführt, keinen Maßstab ab – sie bestimme sich immer als rein subjektives oder situatives Verhältnis von Textlänge und Lese- oder sogar Lebenszeit.19 Tatsächlich geben Bücher anders als Filme oder Theaterauff ührungen keinen Zeitrahmen für ihre Rezeption vor und bieten mit narrativen Strukturen oder Kapiteleinteilungen lediglich Orientierungspunkte an. Wörter- oder Seitenzahlen sind ein naheliegender, aber in der Diskussion gleichfalls nur vage bestimmter Standard. E.M. Forsters Diktum, ein Roman sei ein Prosatext von 50.000 Wörtern Länge, Malcolm Cowleys Aussage zur Standardlänge eines Romans von 250 Seiten, die (erst!) mit 700-Seiten-Werken überschritten werde, oder Ercolinos Korpus ›maximalistischer‹ Romane mit Exemplaren, deren Umfang sich am oberen Ende einer Skala zwischen 400 und 1.200 Seiten bewegt, bleiben ungefähre Einschätzungen.20 Die Langromane, die für Kritiker und Autoren komplexer Langromane genrekonstitutiv waren – Melville, Joyce, Proust, Mann, Musil, García Márquez, Pynchon, Bolaño –, sind, bei allen Ungenauigkeiten, die eine Seitenzählung mit sich bringt, ebenfalls in diesem Spektrum angesiedelt. Eine Überprüfung von Durchschnittslängen auf dem Buchmarkt wäre hier ein erster Ausgangspunkt für eine ernsthafte ›Philologie des Formats‹, wie sie Carlos Spoerhase vorschlägt:: einer Rekonstruktion des Zusammenwirkens materialer, ökonomischer, sozialer, ästhetischer und normativer Bedingungen, unter denen lange Romane entstehen und gelesen werden.21 Für Joyces Ulysses hat sich beispielsweise herausgestellt, dass die Länge derjenigen Kapitel zunimmt, die Joyce nicht mehr unter Umfangs- und Abgabedruck für The Little Review schrieb.22 Formalästhetische Kriterien wie Proportion und Struktur scheinen in Diskussionen um lange Romane kaum zu greifen. Wenn Henry James Tolstois Krieg und Frieden oder George Eliots Romane als »loose baggy monsters« verspottet und Malcolm Cowley in seiner Rezension entschiedene Straff ungen und die Exekution der Hälfte der Figuren fordert,23 geschieht dies vor dem Hintergrund einer Poetik, die Geschlossenheit, das harmonische Zusammenspiel aller Teile und Vgl. Ercolino: The Maximalist Novel [Anm. 8], 71. Kevin Kopelson: Finishing Proust, in: The Iowa Review 31.2 (2001), 119–142, hier: 136. 20 Vgl. Edgar Morgan Forster: Ansichten des Romans (1927), Berlin und Frankfurt/M. 1949, 13; Cowley: Books are too long [Anm. 1], 417; Ercolino: The Maximalist Novel [Anm. 8], 19. 21 Spoerhase: Das Format der Literatur [Anm. 11], 669. 22 Vgl. Eric Bulson: Ulysses by Numbers, in: Representations 127 (2014), 1–32. 23 Henry James: Preface to The Tragic Muse, in: The Art of the Novel 84, Cowley: Books are too long [Anm. 1], 417. 18 19
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klassische Strenge fordert – jedes Detail, jede Figur soll eine Funktion im Ganzen haben. Diesem Ideal werden selbst kürzere Exemplare der Gattung Roman nicht gerecht, da sie sich durch die Kombination und Inkorporation anderer Gattungen, Diskurse und Schreibweisen auszeichnet.24 Auch Groß- oder Langromane von Melvilles Moby-Dick (1851) über Joyces Ulysses zu William Gaddis’ The Recognitions (1955) oder Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973) sind einer uneinheitlichen bricolage- und Refunktionalisierungsästhetik verpfl ichtet.25 Die Langromane der Moderne – und nach der Moderne – verzichten in der Regel auf die plotbasierten und seriellen Erzählmuster, die der lange realistische Roman im 19. Jahrhundert ausgebildet hat. Stattdessen fi nden sich Formelemente wie die Reihung, Aggregation und Akkumulation kleinerer Einheiten – von Motiven, Symbolen, Wörtern und Sätzen hin zu Absätzen und kurzen Kapiteln. Matthew Bernstein beobachtet: »The modernist masterpiece shuttles continuously between a totalizing project it intermittently recognizes as inaccessible […] and a contradictory attentiveness to the particular moment and the purely local, contingent realization.« 26 Das Oszillieren zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem identifi ziert Ercolino als Hauptmerkmal des nachmodernen maximalistischen Romans, der bereits durch intertextuelle Bezüge Anschluss an den Modernismus sucht und eine Ansammlung solitärer Werke zu einer Gruppe oder gar Gattung zusammenfasst. Er ist geprägt durch Spannungsverhältnisse zwischen formaler Offenheit und Geschlossenheit, Vollständigkeitsanspruch des enzyklopädischen Programms und textueller Unvollständigkeit, dissonanter und integrierter Vielstimmigkeit, traditionalistischen und experimentellen Momenten, Chaos und Ordnung.27 Am Beispiel des langen komplexen ›Systemromans‹ der 1970er und 1980er Jahre (mit Autoren wie Thomas Pynchon und Ursula LeGuin) veranschaulicht Tom LeClair mit stärkerem Nachdruck, dass diese Merkmale auf Exzess und Grenzüberschreitung hinauslaufen: Systemromane beeindrucken, überfordern und verwirren Leser strategisch mit Umfang, Lesedauer, Informationsdichte und Verweisungsvielfalt, kybernetischen und systemtheoretischen Modellen emergenter Ordnung und sprachlicher Virtuositiät, um schlussendlich das Übermaß an Komplexität moderner sozialer Systeme und ihre ›exzessiven‹ Machtansprüche sichtbar zu machen.28 Länge (auch im Sinne von Umfang) wird in diesen Untersuchungen als Bedingung der Möglichkeit solcher Strukturmerkmale betrachtet: Ercolino folgt Bertram E. Jessup in der Einschätzung, dass ein längerer Text mehr Raum für VaMcKeon charakterisiert Romane als »a contradictory amalgam of inconsistent elements«, Michael McKeon: The Origins of the English Novel, 1600–1740, Baltimore 1987, 21; vgl. Walter L. Reed: Problems with a Poetics of the Novel, in: Towards a Poetics of Fiction, Bloomington and London 1977, 62–74, hier: 63 f., 67. 25 Moretti: Modern Epic [Anm. 7], 21. 26 Michael André Bernstein: Making Modernist Masterpieces, in: Modernism/Modernity 5.3 (1998), 1–15, hier: 13. 27 Ercolino, The Maximalist Novel [Anm. 8], xiii–xiv. 28 LeClair: The Art of Excess [Anm. 7], 20. 24
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riationen und Strukturentwicklung bietet und die Grundvoraussetzung für eine gewisse Variationsbreite eines experimentell-innovativen Schreibprogramms sei.29 LeClair argumentiert ähnlich: Pynchons Gravity’s Rainbow, William Gaddis’ JR (1975) oder Ursula LeGuins Always Coming Home (1985) schöpften die Möglichkeiten ihres Mediums (Sprache und Buch) vollständig aus, um auch thematisch das große Ganze anzuzielen.30 Die Unschlüssigkeit, mit der diese Überlegungen in der Literaturkritik aufgegriffen werden, und die Tatsache, dass Jessup seine These eines direkten Zusammenhangs von Qualität und Quantität an Werken der bildenden Kunst und an Musikstücken erläutert, ist meiner Ansicht nach kein Zufall: Es handelt sich bei langen Texten um ästhetische Objekte, deren Form nicht unmittelbar wahrgenommen und deren Sinngefüge nicht dimensionierbar ist. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Länge von Romanen eher als semantisch vieldeutige ›Größe‹ bestimmt wird.
3. Skalierung, normativ: Warum ist ein Langroman immer zu lang und niemals lang genug? Epos und Enzyklopädie sind die Vorbilder, an denen lange komplexe Romane gemessen und regelmäßig für unzulänglich befunden werden. Edward Mendelson formuliert 1976 im Grunde eine Soll- und keine Ist-Vorstellung, wenn er schreibt, enzyklopädische Romane zeichneten sich durch die Darstellung der »full range of knowledge and beliefs of a national culture« 31 aus, und dasselbe gilt für Theodore Steinbergs Charakterisierung des epischen Romans als Darstellung einer historischen Zäsur, die für das Selbstverständnis einer Gesellschaft oder Gemeinschaft prägend ist.32 Dieser normative Rahmen prägt auch den ›großen amerikanischen Roman‹, eine Bezeichnung, die niemals nur deskriptiv ist, sondern neben ihrer wertenden Funktion auch als regulative Idee und Aspirationsvorlage für Autorinnen und Autoren fungiert. Nicht zufällig erleben diese Vorstellungen im Zeitalter der Nationalliteraturen und Nationalstaaten eine Hochkonjunktur. Der Romanschriftsteller John DeForest führte den Ausdruck ›Great American Novel‹ in einem Essay von 1868 ein, um einen vorläufigen Ersatz für ein amerikanisches Nationalepos in Versform zu skizzieren. Angesichts der noch zu jungen und unbewährten amerikanischen Demokratie sei die Zeit für ein Versepos noch nicht reif, doch DeForest fordert seine Landsleute auf, sich zumindest um Bertram E. Jessup: Aesthetic Size, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 9.1 (1950), 31–38, hier: 31; Ercolino: The Maximalist Novel [Anm. 8], 21. Ercolino diskutiert Jessup nicht ausführlich, vgl. dazu Michael Bell: Towards a definition of the ›long modernist novel‹, in: Modernist Cultures 10.3 (2015), 282–298, hier: 297; Winning McCracken: The Long Modernist Novel [Anm. 17], 274. 30 LeClair: The Art of Excess [Anm. 7], 2. 31 Mendelson: Encyclopedic Narrative [Anm. 7], 1269. 32 Vgl. Steinberg: Twentieth Century Epic Novels [Anm. 17], 29. 29
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ein Äquivalent zu europäischen Gesellschaftspanoramen von Balzac, Thackeray und Trollope zu bemühen.33 Den großen amerikanischen Roman umreißt DeForest auch als Kompromiss zwischen zeitlosem Werk und ephemerer Tagespresse, wenn er ihn auf die Gegenwartsdiagnostik verpfl ichtet.34 Damit ist diesem Genre ein historisches Verfallsdatum eingeschrieben, das es für Fortsetzungen öff net. Jedes einzelne Exemplar kann nicht nur aktueller sein als das letzte, sondern es auch ästhetisch überbieten,35 zugleich ist aber eine Kanonisierung aufgrund ästhetischformaler oder thematischer Merkmale nicht ausgeschlossen. Kritiker und (überwiegend männliche) Schriftsteller griffen DeForests Idee begierig auf, und die thematisch und formal unbestimmte Leitvorstellung fi ndet sich noch im ›MegaRoman‹ der 1950er und 1960er Jahre. Trotz moderner und postmoderner Distanzierungs- und Ironisierungssignale ist er Frederick Karl zufolge noch immer von einem amerikanischen Pioniergeist getragen, der sich nun auf Wissen (»frontiers of knowledge« 36) richtet. Langromane wenden sich nun bevorzugt naturwissenschaftlichen Epistemologien und technologischen Innovationen zu. Nicht nur thematische Breite, schriftstellerische Qualität und Exemplarität wurden von großen amerikanischen Romanen erwartet, sondern auch ein entsprechender Umfang: »a GAN cannot be tiny.« 37 Komplexe Langromane haben sich als offene, unvollständige Form auch unabhängig von der Leitvorstellung des ›großen amerikanischen Romans‹ entwickelt: Der Langroman der Moderne entsteht in den 1920er Jahren in verschiedenen europäischen Ländern und konsolidiert sich dann durch intertextuelle Vernetzung.38 In Europa stellt Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks eine Aspirationsvorlage dar, aber auch eine kaum spezifi zierte Vorstellung von ›Meisterwerken‹ – ohne dass ein Konsens oder eine Poetologie gefunden worden wäre, der oder die eindeutig bestimmt hätten, worauf die Repräsentativität und Exemplarität von ›großen Werken‹ beruhe.39 Franco Moretti charakterisiert daher das ›moderne Epos‹ als Ansammlung ›fehlerhafter Meisterstücke‹: Dramen (wie Goethes Faust II), Musikdramen (wie das Gesamtkunstwerk Der Ring des Nibelungen) und Romane wie Melvilles Moby-Dick, Musils Mann ohne Eigenschaften und Joyces Ulysses sind Welt-Epen, die globale Dimensionen thematisieren, ihre Totalitäts- und Verbindlichkeitssansprüche jedoch nicht einlösen können.40 Ebenfalls von einem Vgl. DeForest: The Great American Novel [Anm.17], 28. Der ›große amerikanische Roman‹ sollte ein breites soziales, geographisches und kulturelles Panorama beschreiben und entscheidende Episoden der amerikanischen Geschichte (Kapitalismus, Immigration, Expansionismus) oder wichtige US-amerikanische Institutionen wie Demokratie und Individualismus reflektieren. Vgl. Buell: Great American Novel [Anm. 9], 29. 34 Vgl. DeForest: The Great American Novel [Anm. 17], 29. 35 Vgl. Buell: Great American Novel [Anm. 9], 30, 45. 36 Vgl. Karl: American Fictions [Anm. 17], 162. 37 Buell: Great American Novel [Anm. 9], 29. 38 Winning, McCracken: The Long Modernist Novel [Anm. 17], 271. 39 Bernstein: Making Modernist Masterpieces [Anm. 26], 7. 40 Moretti: Modern Epic [Anm. 7], 2, 5. 33
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marxistischen Standpunkt her argumentiert Fredric Jameson, moderne Romane seien einer ›Ästhetik des Scheiterns‹ verpfl ichtet – einer Kapitulation ästhetischer Form vor der Aufgabe, Welt oder zumindest Gesellschaft zu repräsentieren.41 Auch der postmoderne Systemroman verfügt, so Tom LeClair, zwar durch seine ästhetische Umarbeitung von chaos- und systemtheoretischen Modellen des emergenten Ordnungsauf baus über eine Möglichkeit, von der kleinsten Einheit der Information ausgehend auch das Allergrößte zu erfassen und auf einer gleitenden Skala – »something like the old microcosm-macrocosm conception of the world«42 – zu verorten. Doch auch diese Romane können Ganzheit immer nur als Synekdoche und für einen begrenzten historischen Moment darstellen. Das Dilemma der Literaturkritik, das sich hier abzeichnet, lässt sich so formulieren: Jedes einzelne Exemplar des episch-enzyklopädischen Romans präsentiert notwendigerweise einen Ausschnitt aus einem (Welt)Ganzen und fällt damit hinter die Ansprüche zurück. Der Langroman ist nie lang genug. Zugleich kann sich aber auch jedes einzelne Exemplar aufgrund seines Umfangs und der ›Größe‹, die durch den Rekurs auf das Epische und das Enzyklopädische signalisiert wird, nicht als eindeutige Geste im Sinne Adornos inszenieren – als Bekräftigung der These, dass das Ganze das Unwahre ist.43 Der Langroman ist also in diesem Sinne immer zu lang. Denn auch eine literarische Form hat historisch sedimentierte Bedeutung, und die »ambiguous relationship between maximalist narrative forms and power«44 lässt sich kaum vereindeutigen. So produziert die Kategorie des Episch-Enzyklopädischen in der Literaturkritik und für diejenigen Autorinnen und Autoren, die diese Form wählen, entweder Dauerenttäuschungen oder den Verdacht, die ›große Erzählung‹ allzu affirmativ anzugehen. Die auffällig kontinuierliche historische Stabilisierung dieser Paradoxie in der Literatur und im Diskurs der Literaturkritik könnte aber durchaus eine wichtige Funktion haben: Sie stellt einen Verhandlungsrahmen bereit, innerhalb dessen die in der Moderne problematischen, aber dennoch nicht zu umgehenden Kategorien der Totalität und der Ganzheit angesprochen werden können, ohne sie jemals festlegen zu müssen.45
4. Skalierung, ästhetisch: Wie beschreibt man die Maßlosigkeit langer Romane? Die normativen Erwartungen an komplexe Langromane im Hinblick auf Wissensbestände, Epistemologien und historisch-soziale Diagnosef ähigkeiten verbinden sich in der Kritik, wie schon angedeutet, mit hohen Erwartungen an die ästhetiVgl. Fredric Jameson: The Modernist Papers, London 2007, 7. LeClair: The Art of Excess [Anm. 7], 11. 43 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia – Refl exionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1980, 55. 44 Ercolino: The Maximalist Novel [Anm. 8], 6 [meine Hervorhebung]. 45 So lassen sich die Überlegungen in Armin Nassehi: Geschlossenheit und Off enheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2003, 200–218, verstehen. 41
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sche Gestaltung. Für den per definitionem formlosen Roman und insbesondere den modernen Roman stehen aber bestenfalls Negativfolien als Vergleichsmaßstab zur Verfügung (›konventioneller Realismus‹), die ihrerseits vielgestaltig sind. Umberto Ecos Konzept der ›offenen Form‹ könnte hier den Blickwinkel auf die Text-LeserRelation erweitern: Neben dem abgeschlossen vorliegenden Text oder Werk wäre auch seine Öff nung für unterschiedliche Rezeptionsakte zu berücksichtigen, vor allem wenn die Gestaltung von ästhetischen Angeboten eine solche Mitwirkung von Rezipienten einkalkuliert oder sogar einfordert.46 Aber fi nden komplexe Langromane überhaupt Leser? Für Moretti ist das modernen Epos durch Länge und Langweiligkeit defi niert und daher »virtually unread«47. Sein Prestige und sogar seine Existenz beruhe einzig auf literaturwissenschaftlicher Rezeption – was nicht nur von Moretti als Problem wahrgenommen wird.48 Literatur lässt sich kaum unabhängig von Interpretations- und Lesegemeinschaften vorstellen – 49, das heißt außerhalb kommunikativ vermittelter und bisweilen neu ausgehandelter Wissenshorizonte, Lese- und Imaginationspraktiken. Um die Länge des komplexen Langromans und die lange Lektüre hat sich allerdings eine Konfi guration von Singularisierungspraktiken herausgebildet, die diesen Sachverhalt abschattet.50 Die Annahme, jede Lektüre, jeder Lesende und jeder Text sei einzigartig und unvergleichlich – oder gehöre zumindest einer exklusiven, aber nicht institutionell selektierten Gemeinschaft an – prägt weite Teile der Diskussion. Tom LeClairs Studie über die ›Kunst des Exzesses‹ im postmodernen Systemroman etwa stellt das Lesen und Schreiben von komplexen Langromanen als wechselseitigen Ermächtigungsprozess für einige wenige Personen und Texte dar. So wie heroische Autoren die handwerkliche Herausforderung meistern, der gegenwärtigen Welt gerecht zu werden und die Leser zu ›bezwingen‹ suchen, so winkt auch Lesern die Gewissheit, den Text (und durch seine epistemologischen Kategorien hindurch die Welt) intellektuell ›gemeistert‹ zu haben.51 Als Widerpart einer Ermächtigung des Lesers wird der lange, komplexe Text zur selektiUmberto Eco: Das off ene Kunstwerk (1962), Frankfurt/M. 2006, 14 f., 30 f. Moretti: Modern Epic [Anm. 7], 4. 48 Mendelson: Encyclopedic Narrative [Anm. 7], 1978, 1268, 1274. 49 Vgl. Stanley Fish: Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities, Cambridge 1980. Wie Tony Bennett zeigt, lassen sich literarische Texte nicht aus ihren »reading formations« herauslösen, vgl. Tony Bennett: Determinations of Readings and their Texts, in: The Journal of the Midwest Modern Language Association 18,1 (1985), 1–16, hier: 10, 12. 50 Zum Begriff der Singularisierung vgl. Igor Kopytoff : The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process, in: The Social Life of Things – Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, 64–91 und Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, 11, 15 f. Beide untersuchen die sozialen und kulturellen Prozesse und Kontexte, die Objekte durch Zuschreibung zu einzigartigen Dinge stilisieren. Reckwitz’ Beobachtung, die 1970er und 1980er Jahre markierten einen deutlichen Trend weg von der Standardisierung hin zur Singularisierung kultureller Güter auch außerhalb des Kunstsystems, f ällt in den USA mit dem Entstehen ›postmoderner Bestseller‹ (wie Pynchons Gravity’s Rainbow, 1973) zusammen. 51 LeClair: The Art of Excess [Anm. 7], 3, 27 f. 46 47
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ven, intellektuellen Herausforderung stilisiert, der Überforderte von Hartnäckigen trennt. Matthew Bernstein beobachtet das Zusammenspiel von werkpolitischen und poetologischen Entscheidungen differenzierter als Inklusions- und Exklusionsstrategie. Ezra Pounds Cantos und James Joyces Ulysses, aber auch andere Langformen der Moderne generieren, so Bernstein, jeweils völlig neue und idiosynkratische Interpretationskontexte und ästhetische Maßstäbe. Die Anspielungen, Zitate, Parodien und Pastiches bei Pound und Joyce zu verstehen, hilft beispielsweise bei der Lektüre von Gertrude Steins The Making of Americans nicht weiter. Für Joyce lässt sich darin eine bewusste Strategie nachweisen: Er wünschte sich Leser, die ihr ganzes Leben der Lektüre seiner Werke widmen, und behauptete, Ulysses so angelegt zu haben, dass der Roman Literaturwissenschaftler über Jahrzehnte hinweg beschäftigen werde.52 Das Spurenlegen für potentielle Exegeten geht, folgt man Bernstein, über Leserlenkung hinaus und wird zur Leserdisziplinierung oder sogar zur Kundenbindung: Die Funktion der Anspielungen in Pounds Cantos und in Joyces Romanen sei, Zirkel von Schülern, Eingeweihten und Wissenden zu bilden und dennoch die Furcht aufrechtzuerhalten, durch Nichtverstehen ausgeschlossen zu bleiben: »It is as though the effort to acquire even a preliminary interpretative competence with any particular work encourages a self-protective, mutually confi rming consumer loyalty to a product in which both artist and audience have already heavily invested. The Absolute Artist now requires something like an Abject Reader whose devotion to the modernist masterpiece is both self-abnegating and all-consuming.« 53 Eine kunstreligiöse Verehrung von Meisterwerken und die bürgerliche Wertschätzung von Fleiß und Mühe beim Lesen wie beim Verfassen komplexer Werke tritt, wie Bernstein kritisch bemerkt, hier an die Stelle der Wertschätzung intrinsischer ästhetischer Kriterien.54 Diese Überlegungen könnten erklären, warum komplexe Langromane offenbar besonders anfällig für akademische Interpretationsgemeinschaften sind, denn sowohl die Singularisierung und Monumentalisierung von literarischen Werken als auch die Aspirationsvorlagen des selbstlosen, gewissenhaften Exegeten und des intellektuellen Helden mit Durchblick auf das Ganze stoßen hier ja durchaus auf Akzeptanz. Solche habituellen Voraussetzungen literaturwissenschaftlichen Arbeitens und ihre poetologischen Widerlager freizulegen und einem kritischen Blick zu unterziehen, ist notwendig und legitim, gerade im Hinblick auf Genderfragen.55 Doch die Attraktivität komplexer Langromane für James Joyce, zit. in Richard Ellman: James Joyce, New York 1983, 521. Bernstein: Making Modernist Masterpieces [Anm. 26], 4, 12; vgl. Perrin: The Aesthetics of Middlebrow Fiction [Anm. 9], 115–129. Perrin liest die Motivik des Sadomasochismus in Pynchons Gravity’s Rainbow als Allegorie auf eine zugleich selbstquälerische und voyeuristisch-selbstermächtigende Lesehaltung. 54 Bernstein: Making Modernist Masterpieces [Anm. 26], 11. 55 Vgl. Meg Wolitzer: Second Shelf: On the Rules of Literary Fiction for Men and Women, in: New York Times Book Review online (30.03.2012) [unpaginiert]. 52
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nichtakademische Lesende ist damit nicht erklärt. Außerdem führt der Verweis auf ›intrinsische‹ Qualitäten, die ›aus sich selbst heraus‹ verstanden und gewürdigt werden müssten, nur wieder zurück zu den Problemen, eine Ästhetik des langen, offenen Textes zu formulieren. Einen Ansatzpunkt für dieses Vorhaben bietet neben Ecos Konzept des offenen Kunstwerks die Frage nach der Länge als Funktion von Lesezeit. Die Frage, wie die (gefühlt) lange Lesezeit durch Textmerkmale strukturiert wird, scheint für moderne und postmoderne Romane auf eine einfache Beobachtung hinauszulaufen: (so gut wie) gar nicht. Ob man es mit einer prinzipiell durchschaubaren Komplexität oder aber mit Redundanz zu tun hat und ob Lesende herausgefordert oder absichtlich überfordert werden, ist möglicherweise erst zu entscheiden, wenn man Gestaltungsprinzipien wie Bewusstseinsstrom, Listen, Motive, Symbole, essayistische Einlassungen, Serie, Permutation, Montage, Fraktal oder Tornado als (oft auch miteinander kombinierte) Muster identifiziert hat. Selbst dann stoßen Lesende zum Beispiel bei Joyce auf Passagen, bei denen Michael Bell 56 zufolge unklar ist, ob es sich nicht um ›junk‹, Informationsmüll also, handelt. Das kontinuierliche, durch Retention und Protention strukturierte Lesen fällt dabei oft schwer. Zu Gertrude Steins seriell und permutativ konstruiertem Roman The Making of Americans bemerkt Lawrence Buell: »The impossibility of holding 925 pages of such process writing in mind becomes clear after the fi rst fi fty.« 57 Überforderung, Abbruch der Lektüre, Auslassen oder Überf liegen werden tendenziell einer zu ungeduldigen oder oberf lächlichen Lesehaltung zugerechnet.58 Die amerikanische Kritikerin Sianne Ngai unternimmt allerdings den Versuch, solche Reaktionen als ästhetischen Effekt zu beschreiben. Ihr Hauptbeispiel ist nicht zufällig The Making of Americans. An Steins Roman, aber auch an der Prosa Samuel Becketts und James Joyces zeigt sie, wie die weitgehende Reduzierung narrativer Strukturierung die logisch-thematische Nachvollziehbarkeit und die Orientierung in der Erzählzeit und der erzählten Zeit erschwert, kurz: ein flüssiges Lesetempo unmöglich macht.59 Solche Zusammenhänge zwischen Textstruktur und -gestalt sind in der Leseforschung60 schon länger bekannt, fi nden aber selten Eingang in die Literaturästhetik. Für Ngais Ästhetikkonzeption ist die Verfremdung der Zeitstruktur, wie sie die Alltagssprache vorgibt und realistische Prosa aufnimmt, von zentraler Bedeutung. Der andere zentrale Aspekt sind ugly feelings, gemischte, uneindeutige und zeitlich langandauernde Gefühlslagen, die in traditionellen Ästhe-
Bell: Towards a definition of the ›long modernist novels‹ [Anm. 29], 286. Buell: Great American Novel [Anm. 9], 40. 58 LeClair: The Art of Excess [Anm. 7], 15, 20. Le Clair betont mehrmals, nur auf den ersten Blick sei der ›overload‹ an Informationen in Systemromanen verwirrend und langweilig – die richtige Lesehaltung führe zu ›intellectual mastery‹ von Informationsfülle. 59 Ngai: Ugly Feelings [Anm. 16], 256. 60 Vgl. Werner Graf: Leseverstehen komplexer Texte, in: Lesen – ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2015, 185–205. 56 57
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tiken bislang wenig Berücksichtigung fanden und eher als Stimmungen angesprochen wurden.61 Ngai identifi ziert die Verlangsamung des Lesetempos bei komplexen, langen Prosatexten und das Gefühl von Langeweile, Erschöpfung und Überforderung als das Stuplime. Dieses Kofferwort aus stupide und sublim ist eine zeitgenössische Variante des Erhabenen und schließt an eben die Kategorie an, die traditionell für Phänomene und Erfahrungen von Überwältigung, Maßlosigkeit und Transgression zur Verfügung stand und insbesondere in ihrer postmodernen Version bei Jean-François Lyotard einen Zeitindex trägt. Die plötzliche, ereignishafte und ehrfurchtgebietende, mit Schrecken verbundene Überwältigung, die Edmund Burke beschrieb, stellt sich in Ngais literarischen Referenztexten nicht ein – wohl aber ein Bewusstsein für das ›schlechthin Vorhandene‹ und das bloße »es geschieht«,62 das Lyotard als Merkmal erhabener Erfahrung verzeichnet. Ngai möchte das Stuplime durchaus als Erfahrung des Alltäglichen konzipieren, es aber nicht als ergreifende Präsenzerfahrung verstanden wissen. Die Erfahrung frustrierender Langsamkeit (etwa der Lektüre) und einer kognitiven Überforderung führt weder zu einer Transzendenz- noch zu einer mystischen Immanenzerfahrung, sondern zu einem unguten Gefühl.63 In der existenz- und kunstphilosophischen Diskussion ist die vermeintlich banale Langeweile bereits aus ganz ähnlichen Überlegungen heraus auf Interesse gestoßen: Elizabeth Goodstein hält Langeweile für eine modernetypische Erfahrung von Sinn- und Transzendenzverlust, die mit skeptischer Dauerref lexion und kognitiver Überforderung einhergeht.64 Für Peter Osborne ist Langeweile eine außergewöhnliche, da absolute Zeit- und Immanenzerfahrung, die eine eigene Ästhetik hervorbringt.65 Die Zähigkeit, Ziellosigkeit und frustrierende Endlosigkeit des Verstehensprozesses spiegelt sich Ngai zufolge in Motiven und Themenkomplexen vieler moderner und nachmoderner Romane: Transzendenz oder auch nur Überraschung ist vom Alltäglichen, Ordinären und Schmutzigen bei Joyce, von rein numerischquantitativ registrierten menschlichen Eigenschaften und Schicksalen bei Stein oder den tragikomischen körperlichen Gebrechen und Gelüsten der räumlich eingekapselten Figuren Becketts nicht zu erwarten. Die fl auen Gefühle und das peinliche, laue Vergnügen an Momenten des Slapsticks und des Blödsinns kennzeichnet Ngai als affektive Dimension des Stuplimen, die nichts mit der Ehrfurcht und Ernsthaftigkeit des Erhabenen zu tun hat. Das Stuplime versetzt Lesende zudem in
Ngai: Ugly Feelings [Anm. 16], 7, 10, 13. Jean-François Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 38, 424 (1984), 151–164, hier: 64. 63 Ngai: Ugly Feelings [Anm. 16], 256, 263. 64 Elizabeth S. Goodstein: Experience without Qualities. Boredom and Modernity, Stanford 2005, 6, 18 f., 34, 98. 65 Peter Osborne: Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art. London und New York 2013, 176, 179, 184. 61
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ganz andere Größenverhältnisse als etwa das Erhabene, wie es Kant beschreibt 66: »Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.« Das Gefühl des Erhabenen stellt sich ein, wenn der »Maßstab der Sinne« 67 überschritten wird durch etwas, das weder sinnlich wahrgenommen noch vorgestellt, sondern nur als ›schlechthin Großes‹ ohne Vergleichsmaßstab gedacht werden kann. Als Dynamisch-Erhabenes versichert dieses Gefühl den von ihm Ergriffenen wieder seiner Überlegenheit als Vernunftwesen, das über einen »nicht-sinnlichen Maßstab« 68 verfügt. Die Zeiterfahrung des Stuplimen hingegen geht mit der desorientierenden Abwesenheit von Maß und Vergleich einher und ist daher eher ein Steckenbleiben in der Erfahrung des Maßlosen. Dass die Figuren in David Foster Wallaces nachgelassenem Roman The Pale King, der sich zentral mit Langeweile auseinandersetzt, ausgerechnet in einem steckengebliebenen Aufzug in der Steuerbehörde über kosmische Zeitdimensionen nachdenken, das aber schnell wieder aufgeben, ist möglicherweise bereits ein Hinweis auf die stuplime Ästhetik dieses Autors.
5. Skalierung, arbiträr: Wie liest man einen stuplimen Langroman zu Ende? Die grundlegende Verunsicherung über Maße menschlicher Erfahrung ist ein Grundproblem dreier Langromane, die zwischen Mitte der 1990er und Mitte der 2000er Jahre auf die Tradition und insbesondere auf die stuplime Ästhetik des komplexen Langromans reflektieren.69 Müll und Informationsüberschuss, über das menschliche Fassungsvermögen hinausgehende Zeiträume und die unzureichenden bis kontraproduktiven Maßstäbe, die institutionell umso vehementer durchgesetzt werden, sind das Thema in David Foster Wallaces Infinite Jest (1996) und The Pale King (2011) sowie in Don DeLillos Underworld (1997). Das anthropologische Maß der Zeiterfahrung erklärt eine Figur in Underworld zum einzig relevanten: »we were the only crucial clocks, our minds and bodies.« 70 Diese Überlegung greift deutlich zu kurz angesichts der Zeitspannen, die der Zerfall von Nuklearabfällen und das Lagern von Giftmüll erfordert – Probleme, mit denen sich der Protagonist Nick Shay als Manager eines Müllbeseitigungsuntenehmens auseinandersetzen muss. Mit Dimensionen macht es sich auch ein Verschwörungstheoretiker zu leicht, der im Rahmen der frühneuzeitlichen Mikro- und Makrokosmosanalogie vom 66 67
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790], Hamburg 1990, 94 [Im Original gesperrt]. Ebd., 94. Diese Stelle bezieht sich wie die vorangegangene auf das Mathematisch-Erha-
bene. Vgl. ebd., 97. Vgl. zu Wallace Marshall Boswell: Preface: David Foster Wallace and ›The Long Thing‹, in: David Foster Wallace and ›The Long Thing‹: New Essays on the Novels, New York, London 2014, vi–xii, hier: viii. Das Manuskript von The Pale King wurde nach Wallaces Tod 2008 von Michael Pietsch bearbeitet und herausgegeben. 70 Don DeLillo: Underworld, New York 1997, 235. 68 69
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Kleinsten aufs Größte schließen möchte. »All knowledge is available if you analyze the dots« 71, glaubt er und versucht, aus Filmaufnahmen die Flugbahn eines Baseballs bei einem Spiel von 1951 zu rekonstruieren, indem er Körnchen für Körnchen des Filmmaterials untersucht. Die Feinauflösung bringt natürlich keinen Zugewinn an Schärfe, sondern den Verlust des Gegenstandsbezugs mit sich. Auch das Projekt des Romans selbst, die amerikanische Geschichte des Kalten Krieges ausgehend vom besagten Baseball zu erzählen, wird durch solche Szenen in Frage gestellt. Der Roman insgesamt führt vor, wie die Zeitrichtung der Geschichte und ihre Bedingungsgefüge in unendlich verzweigten und verflochtenen Netzwerken zwischen weltpolitisch relevanten und alltäglichen Begebenheiten versanden. DeLillos Roman bleibt insgesamt dem Realismus verpfl ichtet und umkreist das Problem, wahrnehmbare und intuitiv überzeugende Maßstäbe mit abstrakten abgleichen zu müssen (oder umgekehrt), vorwiegend auf der diskursiv-dialogischen Ebene. David Foster Wallace dagegen problematisiert die Arbitrarität und die prinzipiell immer zweifelhafte Bedeutsamkeit von Raum- und Zeitskalen bis auf die Ebene der Textgestaltung. Infinite Jest ist ein Institutionenroman, der sich in seiner Bauweise an der Geometrie von Fraktalen orientiert 72 und Komplexitätssteigerung ›nach innen‹ thematisiert und inszeniert. Die Schauplätze von Infinite Jest sind ineinander geschachtelte, geschlossene Räume, die für eine extrem gesteigerte Selbstreferenz stehen. Der menschliche Organismus gibt, anders als in antiken und frühneuzeitlichen Vorstellungen des politischen Körpers, ein simplifi zierendes und politisch hochproblematisches Maß für Architekturen, Staat und Staatsgebiet ab: Die Vereinigten Staaten haben sich in der alternativen Realität des Romans in O.N.A.N. (Organization of North American Nations) umbenannt und mit hohen Grenzwällen umgeben. Jenseits der Grenzen wird der Müll einer von absurden Sicherheits- und Reinheitsvorstellungen getriebenen Gesellschaft abgeladen. Die deformierten, grotesken Körper und Psychen der Figuren fi nden in diesen hochskalierten menschlichen Maßen und den Institutionen und Korporationen, die sie manifest machen, bezeichnenderweise keinen Halt: In einem Tennisinternat treibt der sportliche Optimierungs- und Leistungsdruck eine Handvoll Teenager zielsicher zu Doping und Drogenmissbrauch, dem sie dann durch mehr Sport und andere Drogen zu entkommen suchen; die Mitglieder der Anonymen Alkoholiker und verwandter Organisationen, aus denen sich ein anderer Teil der Figuren rekrutiert, lösen sich von ihrer Sucht, nur um in Abhängigkeit von Therapieangeboten zu geraten. Alle Figuren sind von Zuständen der Überreizung und Paranoia, Hyperreflexion und Übersensibilität geplagt. Wallace beschreibt diese Zustände als Zeiterfahrung, die verblüffende Ähnlichkeit mit der ›zeitlosen Zeit‹ in Manuel Castells’ Überlegungen zur Temporalität der Informationsgesellschaft hat. Im Jahr der Ebd., 175. Mark McGurl: The Institution of Nothing: David Foster Wallace in the Program, in: Boundary 2, 41: 3 (2014), 27–54, hier: 30. 71
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Veröffentlichung von Infinite Jest beschrieb Castells diese Temporalität als73 »not self-expanding but self-maintaining, not cyclical but random, not recursive but incursive: timeless time.« Diese maßlose Zeit, eine Zeiterfahrung ohne festgelegte Zeitmaßstäbe, plagt in Wallaces Roman alle Überstimulierten, von Drogenabhängigen über Depressive bis hin zu Hyperintelligenten: »I can’t stand feeling like this another second, and the seconds keep coming on and on.«74 »Time is passing. Ennet House reeks of passing time. It is the humidity of early sobriety, hanging and palpable. You can hear ticking in clockless rooms. […] Gately remembers his fi rst six months here straight: he’d felt the sharp edge of every second that went by.« 75 »After more time time then ceased to move or be moved or be move-throughable and assumed a shape above and apart, […] Time began to pass with sharp edges.«76 Die unabsehbare Zeitdauer erhält in solchen Beschreibungen sinnliche und materielle Qualität und erscheint als sinn- und endlose Folge einzelner Einheiten. Die Qual dieser Zeiterfahrung lindert jedoch paradoxerweise eine Achtsamkeitstechnik, die auf einer ebensolchen Zerlegung der Zeit in Kleinsteinheiten beruht. Immer wieder diskutieren die Figuren das Prinzip der Anonymen Alkoholiker, immer nur von Tag zu Tag (bzw. von Moment zu Moment) zu denken und zu leben, und fragen sich, warum es so wirkungsvoll ist. Der Hauptfi gur Don Gately gelingt der Entzug erst, als er auf hört, über den Sinn der vorgeschriebenen stupiden Ritualisierung und Rhythmisierung des Alltags zu grübeln und überhaupt zu viel nachzudenken; die Einteilung von Zeit in kleinste Einheiten hilft ihm am Ende des Romans, die Schmerzen einer Schussverletzung auszuhalten: »What was undealable-with was the thought of all the instants all lined up and stretching ahead glittering. […] He could just hunker down in the space between each heartbeat and make each heartbeat a wall and live in there.« 77 Die willentliche Entscheidung für ein an sich arbiträres, irrational anmutendes Zeitschema macht für diese Figur den ganzen Unterschied zur ebenfalls segmentierten, ›maßlosen Zeit‹ aus. Gately hat im Krankenbett kurz zuvor auch die ausufernden, todlangweiligen Ausführungen eines Bekannten geduldig über sich ergehen lassen, obwohl sie ihm wie »lexical rape«78 vorkamen. Dieses Stichwort deutet darauf hin, dass sich hinter der Segmentierung einer unüberschaubaren, an sich maßlosen Zeitdauer oder einer maßlos anmutenden Informationsfülle auch eine geeignete Rezeptionstechnik für Infinite Jest verbergen könnte: »Wallace […] was adding so much material because he wished to teach readers to exclude some of it«.79 David Letzler hebt die Manuel Castells: The Rise of the Network Society. Vol. I., Malden und Oxford 1996, 433, vgl. 461 f. 74 David Foster Wallace: Infi nite Jest – A Novel (1996), New York 2006, 74. 75 Ebd., 279. 76 Ebd., 302. 77 Ebd., 860. 78 Ebd., 832. 79 Jeff rey Severs: Cutting Consciousness Down to Size: David Foster Wallace, Exformation, and the Scale of Encyclopedic Fiction, in: Scale in Literature and Culture, Cham 2017, 281–303, hier: 291. 73
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›exzessiven‹ Mengen irrelevanter Information hervor, die dieser über 1000 Seiten lange Roman beinhaltet und in 388 zum Teil durch Querverweise vernetzten Endnoten ergänzt.80 In The Pale King, einem Roman, der in der amerikanischen Einkommenssteuerbehörde spielt und sich auf nicht unbedingt kurzweilige und knappe Art mit Langeweile auseinandersetzt, wird das Überschlagen ganzer Passagen Lesern sogar vorgeschlagen – ohne dass aber der Hinweis fehlt, man könne dabei etwas Wichtiges verpassen.81 Wie Kendall Gerdes beobachtet, sind WallaceLeser gezwungen, Frustrationen hinzunehmen und Rationalisierungen für das Weiterlesen oder das Auf hören zu fi nden.82 Die psychoanalytische Vokabel des Rationalisierens ist hier mit Bedacht gewählt. Denn sie reflektiert einerseits das unterschwellige, stuplime Gefühl der Sinnlosigkeit langer Textpassagen, das auch Letzler beschreibt, und umreißt das Dilemma aus Gelangweiltsein, Überforderung und Pfl ichtbewusstheit, in das der Text willige Lesende treibt. Andererseits weist Infinite Jest eine zirkuläre Struktur auf, die Anfang und Ende ineinander übergehen lässt, und verwendet spannungserzeugende Erzähltechniken aus populären Fernseh- und Literaturformaten so gekonnt,83 dass auch das Auf hören schwerfällt bzw. nicht mit den üblichen Orientierungspunkten des Buchformats zusammenfällt. Die Beispiele einer Ritualisierung und Rhythmisierung der Lektüre, die Gerdes Leserberichten entnimmt, ist möglicherweise eine Folge dieser Ästhetik – bis hin zu unorthodoxen Verfahren, die Länge der Lektüre in kleine Abschnitte zu zerlegen: »One reader found it convenient to cut the book’s spine and take a few pages with him wherever he went.« 84 Infinite Jest bietet also nicht nur einen Gegenhalt für kognitiv-verstehende Mustererkennung, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Notwendigkeit einer Skalierung der Lektürezeit. Die rein willkürliche Festlegung der Lektürezeit auf drei Monate, mit der das Online-Leseprojekt Infinite Summer von Juni bis September 2009 arbeitete, ist so gesehen nicht bloß eine organisatorische Notlösung. Anstelle die lange Lektüredauer an den Abschnitten des Romans auszurichten oder die unterschiedliche Komplexität der Textpassagen zu berücksichtigen, wählte der Initiator Matthew Baldwin eine Aufteilung in je 75 David Letzler: Encyclopedic Novels and the Cruft of Fiction: Infi nite Jest’s Endnotes, in: David Foster Wallace and ›The Long Thing‹: New Essays on the Novels, New York 2014, 127–147, hier: 131 f. 81 David Foster Wallace: The Pale King, London 2011, 71. 82 Kendall Gerdes: Habit-Forming: Humility and the Rhetoric of Drugs, in: Rhetoric 48, 3 (2015), 337–358, hier: 347. 83 Vgl. Timothy Richard Aubry: Reading as Therapy: What Contemporary Fiction Does for Middle Class Americans, Iowa City 2006, 98, 110 f., 126. Cliff hanger und Melodramatik sind zentrale, aus der Populärkultur geborgte Elemente, und für ein amerikanisches Publikum bieten die coming-of-age-Erzählung um Hal Incandenza und das säkularisierte Konversionsnarrativ überwundener Sucht um Don Gately weitere, nicht ironisch gebrochene Identifi kationsvorlagen. – Infinite Jest hat keine nummerierten Kapitel. Die Textsegmente, die teils Absatzlänge haben, teils über 80 Seiten umfassen, tragen entweder Überschriften, die Jahr und Monat angeben, oder sind durch ein Kreissymbol abgesetzt. 84 Gerdes: Habit-Forming [Anm. 82], 346. 80
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Seiten pro Woche.85 Diese arbiträre Skalierung ist durch die Ästhetik des Romans überraschenderweise gedeckt. Für viele der Leser, die Kommentare hinterlassen haben, hat diese Einteilung den Lektüreprozess in Gang gebracht und fortsetzbar gemacht. Das Hineinfi nden ins Buch und das Weiterlesen stellte gerade auf den ersten etwa 200 Seiten die größte Hürde dar, wie die auf Leseerfahrungen rekurrierenden Hinweise Baldwins und anderer ›Lesebegleiter‹ (guides) und die Forenbeiträge zeigen.86 Für viele Teilnehmer war die feste Strukturierung der Lektürezeit der Hauptanlass, teilzunehmen: Viele geben an, Infinite Jest angefangen, aber nach 100 bis 200 Seiten mit schlechtem Gewissen beiseite gelegt zu haben.87 Eine Person schreibt: »This book is brutal, too many characters, too many run on sentences, and after the brilliant opening, the marijuana part is far too repetitious.« 88 Jenseits dieser Schwelle kristallisieren sich aus der Vielzahl an polyphonen Erzählerstimmen und Charakteren, die alle mit gleicher Ausführlichkeit dargestellt werden, überhaupt erst Hauptfi guren und Handlungsstränge heraus. Auch später setzt Wallace neben Spannungselementen immer wieder lange, die Geduld strapazierende Retardationen ein – zum Beispiel das ziellose Gerede an Gatelys Krankenbett, das Lesern die Information vorenthält, wie es eigentlich um ihn steht, und sie zugleich neugierig macht. In den Onlinekommentaren wurden die anfangs empfohlenen Lektürehilfen (bereits bestehende Synopsen und Glossare) einhellig abgelehnt, da sie keine spoiler warnings enthalten.89 Viele Lesende wollten also gerade keine Hilfestellung für die dissipaVgl. den detaillierten Zeitplan mit Seitenangaben auf Infinite Summer, http://infi nitesummer.org/archives/168, Zugriff: 09.05.2018. 86 Neben dem Blogger Baldwin leiteten die Schriftsteller, Web Publisher und Journalisten Kevin Guilfoile, Eden M. Kennedy und Avery Edison das Projekt. Zu den regelmäßigen Beiträgern, die kurze themenbezogene Essays auf die Website stellten, gehörten der Autor John Green, weitere Journalisten und der Herausgeber von The Pale King, Michael Pietsch. Als regelmäßige Teilnehmer trugen sich 1166 Lesende ein, die insgesamt 3872 Kommentare schrieben. Eine Facebook-Gruppe hatte etwa 2000 Mitglieder, vgl. Fitzpatrick: Infinite Summer [Anm. 9], 193. Das Projekt wurde vom Weblog Morning Post unterstützt; eigener Auskunft nach ging es Baldwin darum, das angelesene, dann aber beiseitegelegte Buch endlich ganz zu lesen, vgl. Fitzpatrick: Infinite Summer [Anm. 9], 192, 204. 87 Colin Meloy berichtet: »boom, stopped on the 100th page or so.«, Infi nite Summer (19.06.2009). Zwei Beitragende mit weiblichen Pseudonymen bemerken: »Page 112 is turned over at the top, obviously my last stopping point well over 10 years ago.«, Infi nite Summer (20.06.2009); »I read 100 pages and put it aside.«, Infinite Summer (01.07.2009); alle Zitate unter: http://infi nitesummer.org/archives/253, Zugriff: 09.05.2018. Die Hinweise für Erstleser warnen davor, das Buch vor Erreichen von Seite 200 aufzugeben: »Persevere to page 200« und »Around page 50, you’re going to feel a sinking sense of dread«, How to read, in: Infi nite Jest: Infinite Summer, http://infi nitesummer.org/archives/215, Zugriff: 09.05.2018. 88 »FiniteJest«: Infi nite Summer (19.07.2009), http://infi nitesummer.org/archives/215, Zugriff : 12.05.2018. 89 Vgl. den Kommentar von »jute«: »I think it’s a very bad idea to suggest those reader’s guides and websites to fi rst-time readers. They are fi ne resources, but there is almost no way to avoid spoilers through most of these sources«, Infinite Summer, http://infi nitesummer.org/archives/215 (18.06.2009), Zugriff: 12.05.2018. 85
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tive, schwer zu verfolgende Plotentwicklung oder zur Entdeckung relevanter Details erhalten, sondern selbst aktiv werden. Auch das würde ich als Indiz dafür betrachten, dass Infinite Summer nicht auf das Verkürzen der Lektürezeit oder auf das Vereinfachen des Leseprozesses hinauslief. Zweifellos unterstützte die Plattform eine kontinuierliche Lektüre und das Verstehen des Romans. Vielleicht – und diese Vermutung wäre näher an den Äußerungen in diesem und anderen Leseprojekten zu überprüfen – wurde der Prozess des Kommentierens und des Anlegens eines öffentlichen Archivs90 aber darüber hinaus selbst als eine gemeinsame Zeiterfahrung geschätzt und daher bereitwillig über die reine Lektürezeit hinaus ausgedehnt. Matthew Baldwin berichtet in einem Interview, die ursprüngliche Idee, lediglich die lange Lektüre möglich zu machen, habe sich aufgrund der Vielzahl mitteilungsfreudiger Teilnehmer bald verselbständigt und in Arbeit an einem Archiv (für künftige Leser) verwandelt.91 Möglicherweise sind komplexe Langromane als verweisungsreiche, offene Kunstwerke, die wie populäre Texte Zugänglichkeit und Exklusivität versprechen, besonders geeignete Ausgangspunkte für solche Prozesse. Jenny Rice vermutet jedenfalls in einem anderen Zusammenhang (der Onlinekommunikation über Verschwörungstheorien und dem Anlegen von Archiven dazu), dass die Beschäftigung mit ›großen‹ Gegenständen und das Sammeln, Deuten und Ordnen von immensen Materialmengen auch einen ästhetischen Selbstzweck haben könnte: »In short, the aesthetically pleasing aspect of archiving magnitude is the act of building found in megethos itself.« 92 Wenn man diesen Gedanken fortführt, erschöpft sich der Reiz des Überlangen und Hochkomplexen nicht darin, sich beeindrucken zu lassen, sondern besteht auch in der ganz alltäglichen, langfristigen Auseinandersetzung mit einem Buch und in der Aussicht, unendlich viel Spaß mit Anschlusskommunikation zu haben.
Fitzpatrick: Infinite Summer [Anm. 9], 197. Fitzpatrick betont den Unterschied des blogbasierten Infinite Summer-Projekts zu Vorgängerlesegruppen, die sich auf Emaillisten organisierten; die Website ist öffentlich, bot verschiedene Ordnungs- und Suchkriterien an und machte ältere Beiträge schneller auffi ndbar. 91 Vgl. Baldwin im Interview mit Jacob Silverman: Books, Authors, and All Things Bookish, in: Los Angeles Times online, 29.06.2009 [unpaginiert], http://latimesblogs.latimes.com/jacketcopy/2009/06/infi nite-summer.html, Zugriff: 31.01.2017. 92 Jenny Rice: The Rhetorical Aesthetics of More: On Archival Magnitude, in: Philosophy & Rhetoric, 50, 1, (2017), 26–49, hier: 41. 90
Close, Distant, Scalable Skalierende Textpraktiken in der Literaturwissenschaft und den Digital Humanities Benjamin Krautter, Marcus Willand
Der Charme von Analogien Man mag sich vorstellen, wie ein Professor der Englischen Literatur und der Classics, Autor hochgelobter Bücher zur »Ilias« und der griechischen Tragödie, »[t]he charms of Google Earth«1 für sich entdeckt: Während es bei Büchern eines unvorstellbaren intellektuellen Aufwands, Zeit und Konzentration bedarf, bis man vom singulären Text, seiner ästhetischen Komposition und seinen Kontextbezügen abstrahieren kann, bis man so viele andere Texte gelesen hat, dass sich Muster der Komposition und Muster von Kontextbezügen identifizieren, verstehen und für die Interpretation nutzbar machen lassen; während also dieses Changieren zwischen Text und Texten, zwischen Einzelstelle und Werkzusammenhang, zwischen Nähe und Distanz das erlesene Ergebnis individueller Investition war, ließ sich die gleiche Bewegung vollkommen mühelos auf einer digitalen Landkarte bewerkstelligen. Zoom in: mein Haus, riesig. Zoom out: meine Stadt riesig, mein Haus winzig. Zoom out: mein Land riesig, meine Stadt winzig. Zoom out: mein Kontinent riesig, mein Land winzig. Zoom out: meine Erde, alles winzig. Zoom back in: alles riesig. Auf einmal war beinahe alles fast gleichzeitig groß und klein, alles war Ansichtssache, die Größenverhältnisse relativ. Das eigene Haus stand nicht mehr nur neben dem des Nachbarn, sondern potentiell neben jedem Haus der Welt. Vergleichbarkeit war nur eine Frage der Kontextualisierung und Kontextualisierung eine Frage der Perspektive, der Skalierung, des Zooms. Und so war es dem Professor der Englischen Literatur doch letztlich auch in den unzähligen Stunden des Lesens und Kontextualisierens von Homer und Shakespeare gegangen. Auch hier hing das Verstehen von der Perspektive, hing Insight von Sight ab, vom Grad der Abstraktion und dem Wissen über Kontexte. Wo also das Rein und Raus und der Wechsel von Nähe und Distanz als visuelle und epistemische Bewegung eine so schöne Analogie bildeten, war es da nicht naheliegend, die Möglichkeiten des Zoomens auf die des Lesens (reading) zu übertragen und dieses skalierbar (scalable reading) zu denken? Resultiert nicht das Skalieren beider Medienpraktiken in einem vergleichenden Verstehen wechselnder Relationen?
Martin Mueller: Scalable Reading (29.05.2012), https://scalablereading.northwestern. edu/?page_id=22, Zugriff: 07.02.2020. 1
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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Es ist unklar, ob Martin Mueller, der zitierte Professor, sein Beispiel zur Veranschaulichung skalierender Lesepraktiken bewusst aus einem literaturhistorischen Objektbereich wählt, in dem die Unterscheidung zwischen Buch und Welt weniger ins Gewicht fällt, als dies bei Büchern üblicherweise der Fall ist. Seine theoretischen Überlegungen anhand von Google Earth planieren diese Differenz jedenfalls, wodurch die verführerische Plausibilität seiner Analogien entsteht. Denn als Beispiel führt Mueller mittelalterliche Konkordanzen der Heiligen Schrift an. Er beschreibt den Versuch der Mönche durch diese Konkordanzen, die Komplexität des Wortes und damit auch der Welt Gottes dem limitierten menschlichen Verstehen zugänglicher zu machen: »The monks ›killed‹ the text by dividing it into its letters, but this was part of a strategy to bring back rather than drive out the ›Spirit‹«.2 Textverstehen durch Abstraktion wird hier analogisiert mit dem Verstehen eines textinternen (Parallelstellen) und textexternen (Buch der Natur) Anderen, wobei Google Maps und die Konkordanz als Analoga fungieren: »With Google Earth you can zoom in and out of things and discover that different properties of phenomena are revealed by looking at them from different distances.« 3 Diese Bewegung sei auf das Lesen von Literatur zu übertragen, durch die sich eine Skalierbarkeit des Lesens herstellen lasse. Es bleibt jedoch die Frage bestehen, ob das Beispiel der Bibelkonkordanz eine Übertragung auf die Gesamtheit der mit ›Literatur‹ bezeichneten Phänomene möglich macht. Typischerweise würde man diese Frage gerade bei fi ktionaler Literatur verneinen, besteht hier doch das Problem der Übertragbarkeit von textuellem Wissen auf die Realität: Wenn die Skalierung einer Karte uns hilft, die darin abgebildete Welt besser zu verstehen, dann übertragen wir eine medial erlangte Erkenntnis auf die Realität. Wir erwarten eine Spur zum Rechtsabbiegen in drei Kilometern, wird diese vom Navigationsgerät angekündigt. Nichts anderes als der Glaube an diese zuverlässige Entsprechungsrelation von Medium und Realität brachte auch die Mönche dazu, die Heilige Schrift neu zu ordnen, um die Ordnung der Welt besser verstehen zu können.4 Bei fi ktionaler Literatur jedoch ist diese Option der Referentialisierung außer Kraft gesetzt. Nach Martin Mueller stehen Konkordanz und Google Maps darüber hinaus aber in einem weiteren skalierungsrelevanten Zusammenhang, nämlich mit digitalen Verfahren zur Textanalyse: »It is the same with the large digital corpora that in principle support scalable reading […]. Strip a fancy text retrieval system to its basic operations, and you find a concordance on steroids.«5 Digitale Textanalyseverfahren, die das Telos des oben zitierten Blogs von Ebd. Ebd. 4 Im späten 18. Jahrhundert wird die hier zugrunde liegende Erkenntnisanalogie von Textund Naturverstehen durch den Auf klärungshermeneutiker Meier in eine Universalhermeneutik überführt werden, vgl. Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst [1787], Hamburg 1996, insb. der »Zweyte Abschnitt, von der Auslegung der natürlichen Zeichen«, etwa § 35 (16). 5 Mueller: Scalable Reading [Anm. 1]. Vgl. auch Martin Mueller: Shakespeare His Contemporaries: Collaborative Curation and Exploration of Early Modern Drama in a Digital Environment, in: Digital Humanities Quarterly 8/3 (2014), § 1–41, insb. § 31. 2 3
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Martin Mueller bilden, sind jedoch selbst nur eine Neukontextualisierung der von Franco Moretti prominent eingeführten Idee des distant reading. Im Folgenden werden wir die Entwicklung des Begriff s scalable reading aus der Idee des distant reading nachzeichnen. Wir werden im zweiten Teil zeigen, dass der Problemzusammenhang einer skalierenden Perspektive auf Literatur nicht mit Moretti eröff net wird, sondern distant reading nur eine unter vielen Reaktionen auf die Ende der 1990er Jahre prominent diskutierte ›Vermassung‹ der Literatur und ihrer Rezeptionsformen darstellt. Im dritten Teil versuchen wir, die Angemessenheit der Beschreibungssprache unterschiedlich distanter Lektüre- und Analysekonzepte wie distant reading, macroanalysis und scalable reading zu beurteilen und hinsichtlich ihrer metaphorischen Implikationen zu beschreiben. Dazu müssen die in diesem Kontext relevanten literaturwissenschaftlichen Textpraktiken auf ihre Skalierbarkeit hin untersucht werden. So lässt sich aufzeigen, dass die im Anschluss an das distant reading diskutierten Skalierungsprobleme nicht erst mit dem Zugriff auf digitalisierte Literatur entfaltet werden. Als verstehenstheoretische Herausforderungen konstituieren sie schon seit Jahrhunderten das philologische Lesen, Analysieren und Verstehen, aber auch darüber hinaus eine Vielzahl an Wissenschafts- und Kulturpraktiken.
Wie groß ist Lesen? Die Reihe an Lese- und Lektürekonzepten in den Geistes- und Sozialwissenschaften scheint ein nahezu unerschöpfl iches Potential für immer neue Begriff sbildungen und zugehörige Analyse- und Interpretationsmethoden zu bieten. Begriffe wie close reading,6 surface reading,7 blended reading,8 mere reading,9 late reading,10 not reading11
John Crowe Ransom soll in den 1930er Jahren der Erste gewesen sein, der den Begriff close reading praxeologisch fundiert, vgl. Andrew DuBois: Close Reading – An Introduction, in: Close Reading – The Reader, ed. by Frank Lentricchia und Andrew DuBois, Durham und London 2003, 1–40, hier: 3 f. 7 Vgl. Stephen Best und Sharon Marcus: Surface Reading – An Introduction, in: Representations 108 (2009), 1–21. 8 Vgl. Alexander Stulpe und Matthias Lemke: Blended Reading – Theoretische und praktische Dimensionen der Analyse von Text und sozialer Wirklichkeit im Zeitalter der Digitalisierung, in: Text Mining in den Sozialwissenschaften, hg. von Matthias Lemke und Gregor Wiedemann, Wiesbaden 2016, 17–61. 9 Paul de Man: The Return to Philology, in: The Resistance to Theory, ed. by Paul de Man, Minneapolis und London 62002, 21–26. 10 Ben Hutchinson: Late Reading – Erich Auerbach and the Spätboot of Comparative Literature, in: Comparative Critical Studies 14 (2017), 69–85. 11 Martin Mueller: Morgenstern’s Spectacles or the Importance of Not-Reading (21.01.2013 [2008]), https://scalablereading.northwestern.edu/?p=229, Zugriff: 07.02.2020; vgl. auch Martin Mueller: Digital Shakespeare, or Towards a Literary Informatics, in: Shakespeare 4/3 (2008), 283–301, hier: 290. 6
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oder distant reading 12 instruieren eine je eigene Praxis des Textumgangs, die aus theoretischen Überlegungen heraus zumeist eine exemplifi zierende Anwendung in wissenschaftlichen Beiträgen fi ndet. Aus einem zunächst unspezifischen Lesebegriff entstehe, so Andrew DuBois, durch die tatsächliche Arbeitspraxis eine praktikable Methode,13 deren Erkenntnisziel durch das dann differenzierte Begriff skompositum sichtbar werde.14 Ein eindrückliches Beispiel für eine solche, das Lesen als unspezifi sch identifi zierende Arbeitspraxis ist Peter Szondis 1972 veröffentlichte Celan-Studie Durch die Enge geführt, die sich schon dem Titel nach programmatisch als besonders textnah zu erkennen gibt. Szondi kritisiert darin »die traditionellen Mittel der Lektüre«15 als unzureichend. Insbesondere auf dunkle Texte angewendet würde eine solche Lektüre den gelesenen Wortlaut verfälschen, weil der Leser das im Text angelegte Nichtwissen hinterfragt und aufzuklären versucht, etwa durch die Analogiebildung zu Parallelstellen.16 Mehrdeutigkeiten dieser Art gelte es aber – Szondi expliziert das an Paul Celans Gedicht Eng führung – gerade nicht aufzulösen, da sie selbst, zum »Mittel der Erkenntnis geworden«17, der Präzisierung dienten. Szondi ersetzt das Lesen des Textes durch die Arbeitspraxis des Vorangehens im Text. Seine Interpretation exemplifi ziert die Methode, die jedoch nur eine unter vielen der in der Literaturwissenschaft dominanten extrem textnahen Lesepraktiken ist. Doch spätestens zum Ende des 20. Jahrhunderts verschiebt sich in Teilen der Zielpunkt des Leseprozesses. Bereits kurz nach Szondis Studie benennt Umberto Eco in einem ZEIT-Artikel von 1987 »die Tragödie der Quantität«18 als größte Gefahr für das Medium Buch. Eine zu große Anzahl an Büchern würde zwangsläufig zu einer ökonomisch begründeten Auswahl führen, so dass nicht zwingend die besten Ideen überleben würden. Die Leichtigkeit, Kopien anzufertigen, verführe zudem dazu, »die Bibliotheken nicht mehr als Stätten des Lesens (und des Notizschreibens) zu gebrauchen, sondern als Reviere für Jagden, von denen man zufrieden über die reiche Beute heimkehrt«,19 ohne die Kopien überhaupt zu lesen.20 Vgl. Franco Moretti: Conjectures on World Literature, in: New Left Review 1 (2000), 54–68. Vgl. DuBois: Close Reading [Anm. 6], 3. 14 Zur kontextlimitierenden Funktion von Lese- und Leserkonzepten vgl. Marcus Willand: Lesermodelle und Lesertheorien – Historische und systematische Perspektiven, Berlin 2014, v. a. Kapitel III.2, 112–125. 15 Peter Szondi: Durch die Enge geführt – Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts, in: Schriften – Mit einem Nachwort von Christoph König, hg. von. Jean Bollack u. a., Berlin 2011, 345–389, hier: 345. 16 Ebd., 347–349. 17 Ebd., 389. 18 Umberto Eco: Eine Zukunft für das Buch, in: Die Zeit 53 (25.12.1987), 49. 19 Ebd. 20 Diese These deutet Eco bereits in seinem Buch über wissenschaftliche Abschlussarbeiten an. Im Kapitel Die Bibliothek von Alessandria begibt er sich in der Rolle eines Studierenden auf Literaturrecherche und muss deshalb schon aus pragmatischen Gründen zwischen Lese- und Recherchezeit in der Bibliothek abwägen, vgl. Umberto Eco: Wie man eine wissenschaftliche Ab12 13
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Gerade an die zweite Überlegung schließt Gregory Cranes Frage What Do You Do with a Million Books? an.21 Crane skizziert eine Zukunft, in der eine bedeutende Menge der Aufzeichnungen menschlicher Erfahrungen jederzeit frei abrufbar wäre. Wie sollten Leser im Allgemeinen und Geisteswissenschaftler *innen im Speziellen mit diesem Szenario umgehen, das Crane mit Blick auf riesige OnlineBibliotheken für zumindest nicht unwahrscheinlich hält?22 Angesichts eingeschränkter Lesekapazitäten formuliert Eco eine Theorie der Dezimierung, die das ausufernde Leseangebot verknappt: »Es genügt eins von zehn Büchern zu lesen«.23 Bei den übrigen reiche ein Blick in den Fußnotenapparat und in die Bibliographie, um die Referenzen nachzuvollziehen. Doch Ecos Schlussfolgerung mutet überraschend an. Wissenschaftliches Interesse scheint beispielsweise keine relevante Kategorie für die vom Leser vorzunehmende Verknappung zu sein: »Ist das Werk interessant, braucht man es nicht zu lesen, weil es mit Sicherheit besprochen, zitiert und in anderen Werken kommentiert wird, einschließlich dem, das man tatsächlich zu lesen beschlossen hat.« 24 Bereits hier wird eine Distanznahme zum Einzeltext deutlich. Eine Distanznahme, die drei Jahre später von George Steiner ins Negative gewendet wird.25 In seinem umfangreichen Essay Von realer Gegenwart entwirft der Komparatist und Philosoph die Fiktion absoluter epistemischer Nähe. Er ruft eine imaginäre Stadt aus, in der Interpretation zwar »in größtmöglichem Maße gelebt« 26 würde, diese Interpretation aber eine Interpretation der Liebhaber (von Amateur, amatore) sei. Die so entworfene Gesellschaft folge einer »Politik des Primären; des Unmittelbaren im Hinblick auf Texte, Kunstwerke und musikalische Kompositionen« 27. Jeder gelehrte Diskurs hingegen, jeder Verweis auf vorherige Interpretationen sei verboten. Steiner reagiert mit dieser Fiktion auf ein Phänomen seiner ganz realen Gegenwart: die von ihm konstatierte Überflutung des singulären Kunstwerks durch den »sekundären«, bzw. »parasitären Diskurs« 28 des Journalismus und des »Expansionismus der akademisch-kritischen Sichtweise«,29 die das unmittelbare Verständnis literarischer Artefakte unmöglich machen würden. Dabei kommt er zu einem heute in dieser Form anachronistisch wirkenden Schluss: »Allein auf der Ebene schlußarbeit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften, übersetzt von Walter Schick, Heidelberg 112005 [1977], 109–136, v. a. 134. 21 Vgl. Gregory Crane: What Do You Do with a Million Books?, in: D-Lib Magazine 12 (2006), http://www.dlib.org/dlib/march06/crane/03crane.html, Zugriff: 07.02.2020. 22 Vgl. ebd. 23 Jean-Claude Carrière und Umberto Eco: Die große Zukunft des Buches – Gespräche mit JeanPhilippe de Tonnac. München 2010, 64. 24 Ebd. 25 George Steiner: Von realer Gegenwart – Hat unser Sprechen Inhalt?, München und Wien 1990, 49. 26 Ebd., 23. 27 Ebd., 17. 28 Ebd., 70. 29 Ebd., 49.
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akademisch-kritischer Interpretation und Wertung spottet das Volumen des sekundären Diskurses jeglicher Inventarisierung. Nicht einmal Computer und elektronische Datenverarbeitung können da noch Schritt halten. Keine Bibliographie ist auf dem neuesten Stand.« 30 Anachronistisch wirkt dieser Schluss spätestens, seit Kenneth Goldsmith in seinem Buch Uncreative Writing (2011, deutsch 2017) den digitalen Text als Voraussetzung für Quantität als neuer Qualität der Text- und Literaturproduktion postulierte.31 Das Buch ist eine durchaus streitbare Absage an die Genieästhetik in einer Zeit, in der das Sampling, das Plagiat, der Remix von vorhandenen Texten per copy&paste zur »mithin autorlose[n] Herstellung eines sekundären Makrotexts« 32 führe. Ein zentrales Problem der hier nur exemplarisch angeführten Lektürekonzeptionen und Lesepraktiken liegt in der eingangs angesprochenen Schwierigkeit explanativer Analogiebildung. Während die Kategorie der Textnähe in den drei genannten Fällen ähnlich gelagert ist, sind die jeweiligen Gegenkategorien – das Distante, das Sekundäre und das Kopierte – ganz unterschiedlicher Natur und üben in ihren stark divergierenden, diskursiven und institutionellen Kontexten völlig unterschiedliche Funktionen aus. Diese Unterschiede werden jedoch durch die analogiestiftende Metapher der skalierenden Distanznahme eskamotiert, das Verhältnis von nah/fern mit dem Verhältnis von primär/sekundär (Steiner) und Original/Kopie (Goldsmith) mehr oder weniger identifi ziert.33 Dass diese partielle Disparität gerade auch für Muellers distant reading-Analogisierung von Karte und Buch zutriff t, relativiert – trotz aller Popularität – ihre explanative Kraft für die Beschreibung von Leseprozessen. Ganz unabhängig von diesen konzeptionellen Überlegungen zeigen Methaphern des Distanten (distant reading, distant writing 34) als ideengeschichtliche Seis-
Ebd., 40. 25 Jahre später lassen sich in digitalen Katalogen Bücher bereits Monate vor ihrem Erscheinen recherchieren. 31 Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing - Managing Language in the Digital Age, New York 2011, 24 f.: »In the case of unprecedented amount of digital text, writing needs to redefi ne itself in order to adapt to the new environment of textual abundance.« 32 Felix Philipp Ingold: Auch das Kopieren ist eine Kunst – Liegt also im Copy-and-Paste-Modus die Zukunft des Schreibens?, in: NZZ digital (04.08.2018), https://www.nzz.ch/feuilleton/auchdas-kopieren-ist-eine-kunst-liegt-also-im-copy-cut-paste-modus-die-zukunft-des-schreibens-ld.1408237, Zugriff: 07.02.2020; vgl. hierzu auch musikkulturelle Entwicklungen der frühen 2000er Jahre, wie sie etwa Thomas Meineke als Sampling in die literarische Poetik überführt: Florence Feiereisen: Der Text als Soundtrack – Der Autor als DJ. Postmoderne und postkoloniale Samples bei Thomas Meinecke, Würzburg 2011. Sampling als Kulturtechnik wird in dieser Zeit zum Popphänomen, beobachtbar u. a. anhand des Debutalbums von The Streets: Original Pirate Material (2002) und anhand der ab 2001 von Soulwax, später auch von Jay-Z und anderen Künstler *innen adaptierten Extremform des musikalischen Samplings, dem Mashup. 33 Wir danken Carlos Spoerhase und Steffen Siegel für Literaturhinweise und die wichtigen Impulse, die zu den Überlegungen in diesem Absatz geführt haben. 34 Den Begriff übernehmen wir von Gunther Martens: Distant(ly) Reading Alexander Kluge’s Distant Writing, in: Alexander Kluge-Jahrbuch 1 (2014), 29– 41. Martens versteht Kluges Poetik als 30
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mographen ebenso wie Steiners und Ecos Überlegungen an, dass in den zehn Jahren vor und nach der Jahrtausendwende ein starkes Bewusstsein für das Problem der Unlesbarkeit der Massen an Literatur und Sekundärliteratur zu verzeichnen ist und dieses Problem durch Skalierungsstrategien gelöst werden soll. Dabei werden streng quantifi zierende Ansätze vor den 2000er Jahren jedoch ebenso wenig als gangbarer Ausweg diskutiert wie digitale Zugänge.35 Und genau in diese Konstellation schreibt sich Moretti mit einem Aufsatz ein, der die intellektuelle Distanznahme zum literarischen Primärtext nicht mehr als Problem, sondern positiv gewendet als methodische Notwendigkeit für bestimmte Formen der Erkenntnis über Literatur begreift. Moretti &/vs. Jockers Dieser Vorschlag Morettis – den er im Nachhinein selbst halb als Witz bezeichnete36 – besteht in der Polemik, zugunsten von distant reading gänzlich auf das close reading von Primärtexten zu verzichten. Rhetorisch überpointiert fokussiert Moretti in seinen breit rezipierten Conjectures on World Literature die weltgeschichtlichen Zusammenhänge der Literaturgeschichte, in der die Interpretation kanonischer Einzeltexte keinen Platz mehr fi nde. Einfach immer mehr zu lesen, sei in Anbetracht von mindestens 30.000 britischen Romanen, die alleine im 19. Jahrhundert geschrieben wurden, keine erfolgversprechende Option, wolle man nicht kategorisch dem literarischen Kanon verpfl ichtet bleiben. Moretti schlägt stattdessen in radikaler Manier vor, die Lektüre von Primärtexten vollständig aufzugeben und ausschließlich auf Sekundärliteratur zurückzugreifen: »[L]iterary history will quickly become very different from what it is now: it will become ›second hand‹: a patchwork of other people’s research, without a single direct textual reading«.37 Die Distanz zum Primärtext soll dabei sogar zur Grundbedingung für neue Erdistant writing und geht daher davon aus, dass diese für distant reading-Ansätze besonders geeignet sei. 35 Beide sind freilich vorhanden, obgleich sie Ausnahmen bilden. Zur vordigitalen Quantifizierung vgl. Toni Bernhart: Ein Fach mit langer Tradition? – 200 Jahre Quantitative Literaturwissenschaft, in: Quantitative Ansätze in den Literatur- und Geisteswissenschaften. Systematische und historische Perspektiven, hg. von Toni Bernhart, Marcus Willand, Sandra Richter und Andrea Albrecht, Berlin 2018, 207–220. Zu den ersten digitalen Ansätzen der Literaturwissenschaft vgl. Manfred Thaller: Geschichte der Digital Humanities, in: Digital Humanities – Eine Einführung, hg. von Fotis Jannidis, Hubertus Kohle und Malte Rehbein, Stuttgart 2017, 3–12; auch in Steiner: Von realer Gegenwart [Anm. 25], 111–115 fi ndet sich eine Herleitung formalisierend-quantifi zierender Ansätze ausgehend von der de Saussure’schen, der Moskauer und der Prager Lingustik, wobei diese Ansätze als insuffi zient hinsichtlich des Erkenntnisziels Steiners ausgezeichnet werden, das in seiner Defi nition von Literatur deutlich wird: »Ich möchte Literatur […] als die Maximalisierung der semantischen Inkommensurabilität hinsichtlich der formalen Ausdrucksmitteln defi nieren« (115). 36 Vgl. Franco Moretti: Vorwort zu Conjectures on World Literature, in: Distant Reading, London und New York/NY 2013, 43 f., hier: 44. 37 Moretti: Conjectures on World Literature [Anm. 12], 57.
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kenntnis aufsteigen, und man fragt sich, ob Moretti hier nicht distant research meint, wenn er distant reading sagt.38 Einen Mitstreiter fi ndet Moretti in Matthew Jockers. Die Literaturwissenschaftler *i nnen des 21. Jahrhunderts könnten, so formuliert Jockers ganz im Sinne von Moretti, nicht mehr mit »anecdotal evidence«39, also zufälligen Erkenntnissen einiger weniger, wenn auch kanonisch repräsentativer Texte zufrieden sein.40 Im Fahrwasser von Moretti fordert er für literarhistorische Fragestellungen die Ausweitung des Kanons: »We must strive to understand these things we find interesting in the context of everything else, including a mass of possibly ›uninteresting‹ texts.«41 Die eingeforderte literaturgeschichtliche Kontextualisierung führt von der Interpretation des Einzeltextes weg und hin zur Analyse großer Korpora, anhand derer Muster und Trends der Literaturproduktion, der literarisierten Themen, der Sprachentwicklung oder des Einflusses kultureller und gesellschaftlicher Zusammenhänge auf Autoren, Texte und Gattungen besser nachvollzogen werden könnten.42 In der Begriff sarbeit setzt sich Jockers indes von Morettis distant reading ab, das Moretti – anders als Jockers – anfangs auch noch ohne den Einsatz digitaler Methoden versteht. Statt close und distant reading wählt Jockers das aus der Ökonomie entlehnte Begriff spaar micro- und macroanalysis, um zwischen qualitativer Einzeltextinterpretation und quantitativer Korpusanalyse zu unterscheiden. Jockers erläutert: »By way of an analogy, we might think about interpretive close-readings as Morettis hier dargelegtes frühes Verständnis von distant reading unterliegt kontinuierlichen Veränderungen, so dass das Konzept selbst für sehr unterschiedliche Auslegungen geöff net ist, vgl. Thomas Weitin, Thomas Gilli und Nico Kunkel: Auslegen und Ausrechnen. Zum Verhältnis hermeneutischer und quantitativer Verfahren in den Literaturwissenschaften, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 46 (2016), 103–115, hier: 105–107. In seinen neueren Veröffentlichungen scheint distant reading eher durch computational criticism abgelöst zu werden, vgl. Peer Trilcke und Frank Fischer: Fernlesen mit Foucault? Überlegungen zur Praxis des distant reading und zur Operationalisierung von Foucaults Diskursanalyse, in: Le foucaldien 2/1 (2016), DOI: https://doi. org/10.16995/lefou.15, Zugriff: 07.02.2020), 13; und etwa Franco Moretti: »Operationalizing«: or, the Function of Measurement in Modern Literary Theory, in: Pamphlets of the Stanford Literary Lab 6 (2013), https://litlab.stanford.edu/LiteraryLabPamphlet6.pdf, Zugriff: 07.02.2020, 1–13 oder Franco Moretti: Literature, Measured, in: Pamphlets of the Stanford Literary Lab 12 (2016), https:// litlab.stanford.edu/LiteraryLabPamphlet12.pdf, Zugriff: 07.02.2020, 1–7. 39 Matthew L. Jockers: Macroanalysis – Digital Methods and Literary History, Urbana/IL, Chicago/IL und Springfield/IL 2013, 8. Jockers versteht ›anecdotal‹, im Sinne von ›spekulativ‹ oder ›rein interpretativ‹, als Gegenbegriff zu ›empirical‹. 40 Jockers selbst weist darauf hin, dass er in seiner Monografie durchaus polemisch argumentiert, verf ällt jedoch nicht in eine Ersetzungsrhetorik: »Micro-oriented approaches to literature, highly interpretive readings of literature, remain fundamentally important«, Matthew L. Jockers: On Distant Reading and Macroanalysis (01.07.2011), http://www.matthewjockers.net/2011/07/01/ on-distant-reading-and-macroanalysis, Zugriff: 13.08.2018. 41 Jockers: Macroanalysis [Anm. 39], 8. Mit Blick auf Ian Watt relativiert Jockers seine Aussage aber auch hier: »This is not to imply that scholars have been wholly unsuccessful in employing close reading to the study of literary history« (7). 42 Ebd., 27. 38
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corresponding to microeconomics, while quantitative macroanalysis corresponds to macroeconomics.«43 Seinen Begriff macroanalysis unterscheidet er von schon immer praktizierten macroreadings, die zwar generalisierende und durchaus fundierte Aussagen basierend auf einer »broad familiarity with the individual works«44 treffen könnten, etwa zu literarischen Gattungen oder Epochen. Selbst wenn diese Art der Verallgemeinerung breit angelegt wäre, bliebe sie aber weiterhin den Praktiken der qualitativen microanalysis verhaftet, da Texte bei diesem Vorgehen noch immer gelesen und synthetisiert werden. Jockers aber setzt seinen Begriff macroanalysis dezidiert von lektürebasierten Textpraktiken ab. Die systematische, quantifi zierende Untersuchung von Daten – als solche fasst er große Textkorpora – könne nicht als Lesen bezeichnet werden. »I prefer the term macroanalysis over distant-reading. The former term places the emphasis on the quantifi able methodology over the more interpretive practice of ›reading‹«,45 expliziert Jockers. Der interpretative Akt ist somit nicht die Datenauswertung selbst, sondern schließt sich an diese an.46 Während Moretti gezielt den Konfrontationskurs mit traditionellen Vertretern des Fachs sucht – »we know how to read texts, now let’s learn how not to read them. Distant reading: where distance, let me repeat it, is a condition of knowledge«47 –, ist Jockers an einer Verknüpfung von makro- und mikroanalytischen Methoden interessiert, die auch literaturwissenschaftliches Interesse befriedigen kann: »I am not suggesting a wholesale shelving of close reading and highly interpretive ›readings‹ of literature. Quite the opposite […].«48 Eine verschränkte Herangehensweise, die Vereinigung beider Extrempunkte der Skala, verspreche ein tieferes und besseres Verständnis von Literatur. Dazu gehöre es auch, mit Hilfe neuer Methoden bereits etablierte Ergebnisse zu konsolidieren oder herauszufordern.49 Die vielfach geäußerte Kritik konventioneller Literaturwissenschaftler *innen und -kritiker *innen (wie etwa von Stanley Fish und Adam Kirsch), die Digital Humanities seien nicht mehr als reine Spielerei, die – wenn überhaupt – bloß etabliertes Wissen wiederzugeben im Stande wären,50 lässt Jockers deshalb nicht gelten: »If Jockers: On Distant Reading and Macroanalysis [Anm. 40]; vgl. auch Jockers: Macroanalysis [Anm. 39], 25. 44 Jockers: Macroanalysis [Anm. 39], 25. 45 Jockers: On Distant Reading and Macroanalysis [Anm. 40]. 46 Jockers: Macroanalysis [Anm. 39], 26. »Human interpretation of the ›data‹, whether it be mined at the macro or micro scale, remains essential.« 47 Moretti: Conjectures on World Literature [Anm. 12], 57 [Hervorhebungen im Original]. 48 Jockers: Macroanalysis [Anm. 39], 26. 49 Vgl. auch Thomas Weitin: Digitale Literaturwissenschaft, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), 651–656, hier: 655. 50 Dazu Adam Kirsch: »Does the digital component of digital humanities give us new ways to think, or only ways to illustrate what we already know?«. Adam Kirsch: Technology Is Taking Over English Departments – The False Promise of the Digital Humanities (02.05.2014), https://newrepublic.com/article/117428/limits-digital-humanities-adam-kirsch, Zugriff: 07.02.2020; vgl. Stanley Fish: Mind Your P’s and B’s – The Digital Humanities and Interpretation, in: The New York 43
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quantitative evidence happens to confirm what we have come to believe using far more qualitative methods, I think that new evidence should be viewed as a good thing«.51 Zwar kann eine ›Beweisführung‹ in geisteswissenschaftlichen Fragestellungen in den seltensten Fällen als abgeschlossen gelten, literaturwissenschaftliche Plausibilitätsargumente gewinnen aber unter bestimmten Voraussetzungen durch quantifi zierende Präzisierung an Stärke.52 Neue Hinweise, die bereits ausgeführte Thesen stützen, hätten genau deshalb einen Mehrwert. Jockers Skalierungsverständnis entspricht einer Höherskalierung, also einer Distanznahme vom Einzeltext hin zu umfangreichen Textkorpora. Diese Höherskalierung habe die methodisch relevante Folge, dass nicht mehr vom Spezifi schen auf das Allgemeine geschlossen werden müsse. Skalieren ersetzt bei ihm Extrapolieren: »massive data sets are allowing for investigations at a scale that reaches or approaches a point of being comprehensive.« 53 Jockers ersetzt die repräsentative Stichprobe also durch umfassende Datensätze, die tausende, idealiter hunderttausende an Texten vereinen. Die Skalierbarkeit bzw. Quantifi zierbarkeit des epistemischen Objekts führt bei ihm automatisch auch zu einer Quantifi zierung der Analysemethode. Das Begriff spaar macro- und microanalysis bleibt dabei aber ähnlich unscharf wie Morettis Opposition zwischen close und distant reading. Denn Jockers fasst microanalysis als dezidiert qualitative Methode des Textverstehens, als Synonym zu close reading und nicht als quantitative Einzeltextanalyse, wie es sein dezidiert vom Lesen abgesetzter Analysebegriff eigentlich vorgeben würde.54 Die beiden Begriffe, reading und analysis, müssten hier für unterschiedliche Modi der Textbetrachtung einstehen: reading untersucht den Text qualitativ, analysis quantitativ. So suggeriert es jedenfalls Jockers Kritik an Morettis Terminologie. Nicht weniger problematisch ist die Lesemetapher in Muellers synthetisierender Vorstellung eines skalierbaren Lesens, welches ermögliche, Nähe zum Text und Distanznahme von diesem zusammenzuführen. Denn die Metapher des skalierbaren oder graduellen Lesens enthält die potentiell irreführende Vorstellung eines stufenlosen Übergangs von qualitativen zu quantitativen Methoden der Textun-
Times (23.01.2012), später auch http://opinionator.blogs.nytimes.com/2012/01/23/mind-yourps-and-bs-the-digital-humanities-and-interpretation/?_r=0, Zugriff: 07.02.2020. 51 Matthew L. Jockers: So What (07.05.2014), http://www.matthewjockers.net/2014/05/07/ so-what, Zugriff: 07.02.2020. 52 Vgl. Simone Winko: Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Interpretationen, in: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, hg. von Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase, Berlin und Boston 2015, 483–511. Als Voraussetzungen nennt Winko wissenschaftliche Standards, also »die im Fach akzeptierten Maßstäbe« und »akzeptierte Kriterien für gültige und plausible Schlüsse, für Argumentationsstrategien sowie für die als angemessen aufgefasste Sprache«. Simone Winko: Standards literaturwissenschaftlichen Argumentierens – Grundlagen und Forschungsfragen, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 65 (2015), 13–30. 53 Jockers: Macroanalysis [Anm. 39], 7. 54 Vgl. ebd., 17.
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tersuchung.55 Eine Art des Zoomens also, die im Stande sein müsste, verschiedene Ebenen der Repräsentation eines Textes zu überwinden: eine durch Lesen erschließbare und eine auf Daten basierende abstrakte Repräsentation. Unklar bleibt, wie genau der Prozessierungs- und Medienbruch zwischen der qualitativen Betrachtung von Einzeltexten und der quantitativen Verarbeitung von Textkorpora zu überbrücken ist. Lesen und Analysieren als begriffl iche Vertreter der beiden Skalen sind jeweils für sich selbst betrachtet skalierbar. Je nach Forschungsfrage bieten sich unterschiedliche Textpraktiken an, da sich diese Fragestellungen auf ganz unterschiedliche Texte oder Korpora beziehen. Nicht nur die Textanzahl ist dabei eine relevante Größe, die Länge der Texte öff net eine zweite Ebene der Skalierung. Was für das Lesen von Texten gilt, triff t auch auf deren quantitative Analyse zu. Einzeltexte lassen sich ebenso quantitativ untersuchen wie umfassende Textkorpora – das Herunterskalieren quantitativer Analysen unterliegt aber ebenso Grenzen wie das Hochskalieren beim Lesen. Mit der Skala verschiebt sich wiederum das Erkenntnisinteresse, das an den Text oder das Korpus herangetragen wird. Moretti verdeutlicht diesen Umstand, wenn er Textkorpora abspricht, einen Sinn – im Verständnis Friedrich Schleiermachers – zu haben: »A text is meant to address us; to ›speak‹ to us. Corpora don’t speak to us; which is to say, they have no meaning in the usual sense of the word.«56 Muster, die sich innerhalb eines Korpus verbergen, ersetzen bei Moretti das, was er als Sinn eines Einzeltextes identifi ziert. Auch diese Muster müssen interpretiert, aber nicht in hermeneutischer Tradition auf das Verständnis eines individuellen Textes zurückgeführt werden: »conventions matter for us much more than any individual text: they matter as such, unlike what happens in the hermeneutic project.«57 Im Gegensatz zu distant reading verspricht scalable reading als losgelöste Metapher58 – und das macht sie so problematisch – eine stufenlose Skalierung, die nicht nur den Sprung vom Einzeltext zu riesigen Textkorpora schaff t, sondern auch den Wechsel der Skala, also den methodologischen Sprung von qualitativer Interpretation zu quantitativer Analyse und umgekehrt.
55 Vgl. Thomas Weitin: Scalable Reading, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), 1–6, hier: 2. 56 Franco Moretti: Patterns and Interpretation, in: Pamphlets of the Stanford Literary Lab 15 (2017), https://litlab.stanford.edu/LiteraryLabPamphlet15.pdf (07.02.2020), 1–10, hier: 2. 57 Ebd., 7. 58 Mueller nutzt scalable reading als Synonym zu digitally assisted text analysis. Er reagiert damit auch auf ein bereits zuvor von ihm als the importance of not reading formuliertes Modell. Not reading genau wie auch distant reading sei aber nicht in der Lage, die Möglichkeiten neuer Technologien für die Praxeologie des Lesens adäquat auszudrücken. Scalable reading ist dahingehend auch ein integrativer Versuch, der eine Frontstellung (distant reading vs. close reading) innerhalb der Geisteswissenschaften vermeiden möchte.
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Reading &/vs. Analysis Distant reading und marcroanalysis sind nicht die einzigen Angebote alternativer Konzepte, Methoden oder epistemischer Prozesse zum close reading: hyper reading ( James Sosnoski),59 reality mining (Nathan Eagle),60 cultural analytics (Lev Manovich),61 algorithmic criticism (Stephen Ramsay),62 machine reading (Kathrin Hayles),63 computerassisted reading (Stéfan Sinclair)64 und distant viewing (Taylor Arnold/Lauren Tilton)65 sind bloß einige davon. Zum Teil standen diese Begriffe von Beginn an unter dem Verdacht, anti-hermeneutisch zu sein, und wurden daher von großen Teilen der traditionell interpretierenden Literaturwissenschaft mit großer Skepsis betrachtet.66 Wobei die binäre Polarisierung von distant und close reading entlang der Achsen »empirisch versus theoretisch, analytisch versus interpretativ, makro versus mikro sowie objektiv versus (inter-)subjektiv« 67 bzw. zwischen »surface and depth« 68 der Vergangenheit James Sosnoski: Hyper-Readers and Their Reading Engines, in: Passions, Pedagogies, and Twenty-First Century Technologies, ed. by Gail E. Hawisher und Cynthia L. Selfe, Logan 1999, 161–177. 60 MIT Media Lab: Reality Mining (2005), http://realitycommons.media.mit.edu, Zugriff : 07.02.2020. 61 Lev Manovich: Trending – The Promises and the Challenges of Big Social Data, in: Debates in the Digital Humanities, ed. by Matthew K. Gold, Minneapolis 2012, 460–475. Das Konzept führte er allerdings bereits 2007 ein. Er versteht darunter »the analysis of massive cultural data sets and flows using computational and visualization techniques«, http://manovich.net/index.php/projects/cultural-analytics-social-computing, Zugriff: 07.02.2020. 62 Stephen Ramsay: Algorithmic Criticism, in: A Companion to Digital Literary Studies, ed. by Susan Schreibman und Ray Siemens, Oxford 2008, http://www.digitalhumanities.org/companion/ view?docId=blackwell/9781405148641/9781405148641.xml&chunk.id=ss1-6-7, Zugriff: 07.02. 2020; vgl. auch Stephen Ramsay: Reading Machines – Toward an Algorithmic Criticism, Urbana 2011. 63 N. Katherine Hayles: How We Read – Close, Hyper, Machine, in: Ade Bulletin 150 (2010), 62–79. 64 Stéfan Sinclair: Computer-Assisted Reading: Reconceiving Text Analysis, in: Literary and Linguistic Computing 18/2 (2003), 175–184. 65 https://www.distantviewing.org/dv-archives, Zugriff : 07.02.2020. 66 Zum Begriff ›Anti-Hermeneutik‹ innerhalb der literaturwissenschaftlichen Theoriediskussion vgl. u. a. Gerd Bergfleth: Antihermeneutik, München 1984; Peter Rusterholz: Zum Verhältnis von Hermeneutik und neueren antihermeneutischen Strömungen, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering, München 72005, 157–177; Ralf Konersmann: Anti-Antihermeneutik, in: Philosophiegeschichte und Hermeneutik, hg. von Volker Caysa und Klaus-Dieter Eichler, Leipzig 1996, 159–176; Jean Laplanche: Die Psychoanalyse als AntiHermeneutik, in: Psyche 52 (1998), 605–618 und Peter Tepe: Kognitive Hermeneutik – Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich, Würzburg 2007. Geoff rey Hartman, Mitglied der Yale School of Deconstructivism, spricht – wohl in Verlängerung der Überlegungen Ricœurs – von negative hermeneutic, vgl. hierzu: Geoff rey H. Hartman: Literary Criticism and its Discontents, in: Critical Inquiry 3 (1976), 203–220. 67 Friederike Schruhl: Quantifi zieren in der Interpretationspraxis der Digital Humanities, in: Quantitative Ansätze in den Literatur- und Geisteswissenschaften, hg. von Toni Bernhart, Marcus Willand, Sandra Richter und Andrea Albrecht, Berlin 2018, 235–268, hier: 250. 68 Anne Burdick, Johanna Drucker, Peter Lunenfeld, Todd Presner und Jeff rey Schnapp: Digital Humanities, Cambridge/MA 2012, 30. 59
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angehören und schon immer mehr Fremd- als Selbstzuschreibung waren. Heute verstehen die meisten digital philologists und digital humanists ihre quantifi zierende Forschung gerade nicht als Anti-Hermeneutik, sondern beispielsweise als ›DatenHermeneutik‹, wie Peer Trilcke und Frank Fischer distant reading-Ansätze bezeichnet haben.69 Diese Ansätze prononcieren ihre grundsätzliche Skalierbarkeit im Sinne der Kombinierbarkeit quantitativer und traditioneller Textverfahren. Wie im Folgenden zu zeigen ist, wird dies seit über 15 Jahren70 rege innerhalb der Digital Humanities diskutiert. Überlegungen dieser Art, egal in welche Richtung sie gehen, besitzen mitunter brisante wissenschaftspolitische Implikationen und beziehen sich immer auch auf die Positionierung der Digital Humanities entweder als Teil etablierter Disziplinen (insbesondere der Geisteswissenschaften) oder als eigenständige ›Inter-Disziplin‹ zwischen den hard und soft sciences.71 Eine innerhalb der deutschsprachigen Wissenschaftscommunity skurril erscheinende Position im Diskurs um die Verhältnisbestimmung digitaler und analoger Textpraktiken besetzen Johanna Drucker und Bethany Nowviskie, die Hermeneutiker *innen in ihrer bereits 2004 erschienenen Arbeit zum Speculativ Computing nicht neben oder außerhalb des Digitalen positionieren, sondern »inside a visual and algorithmic system, where his or her very presence alters an otherwise mechanistic process at the quantum level. Humanists are already skilled at the abstract classification and encoding that data modeling requires. We understand algorithmic work and can appreciate the transformative and revelatory power of visual and structural deformance.« 72 Weniger die Kompetenz als vielmehr die Funktion der WissenschaftlerIn und auch der literarischen Texte im Umgang (und für den Umgang) mit Daten adressiert Julie Orlemanski in ihrem Aufsatz Scales of Reading. Sie stellt die Entscheidung von im Forschungsprozess auf kommenden Skalierungsfragen – etwa nach der Größe von Analyseeinheiten – ganz explizit in Abhängigkeit von zuvor explizierten Interpretationen und konstatiert 73: »scale remains a literary event«. Dass diese Trilcke und Fischer: Fernlesen mit Foucault? [Anm. 38], 11. Vgl. etwa Weitin, Gilli und Kunkel: Auslegen und Ausrechnen [Anm. 38], 103–115 (wiederveröffentlicht unter dem gleichen Titel in: Vom Experiment zur Neuorientierung, hg. von Ana Maria Bernardo, Fernanda Mota Alves und Ana Margarida Abrantes, Berlin 2017, 161–177). 71 Vgl. hierzu Patrick Sahle: Digital Humanities? – Gibt’s doch gar nicht!, in: Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities, hg. von Constanze Baum und Thomas Stäcker, 2015, DOI: https://doi.org/10.17175/sb001_004, Zugriff: 07.02.2020. 72 Johanna Drucker und Bethany Nowviskie: Speculative Computing – Aesthetic Provocations in Humanities Computing, in: A Companion to Digital Humanities, ed. by John Unsworth, Ray Siemens und Susan Schreibman, Oxford 2004, http://digitalhumanities.org/companion/view?docId= blackwell/9781405103213/9781405103213.xml&chunk.id=ss1-4-10, Zugriff : 07.02.2020. Zwar kommen die Autorinnen aus einem Umfeld, in dem auch die Produktionsseite digitaler Literatur reflektiert wird, die oben zitierte Stelle ist aber dezidiert offen hinsichtlich einer pragmatischen Verortung computationeller Verfahren. Sie schließen ihren Aufsatz mit dem Hinweis: »if speculative computing has a contribution to make to the methods an outcomes of digital humanities, this is it«. 73 Julie Orlemanski: Scales of Reading, in: Exemplaria 26 (2014), 215–233, hier: 215. 69
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Überlegungen eine ganz praktische Relevanz haben und unterschiedliche Texte sehr unterschiedliche »units of analysis« geradezu einfordern, kann exemplarisch die Gegenüberstellung von Texten sehr divergierenden Umfangs aufzeigen: Franz Kaf kas Kleine Fabel und Thomas Manns Buddenbrooks sind zwar durchaus theoretisch, aber nicht praktisch gewinnbringend mit ein- und demselben tool vergleichend analysierbar (etwa stilometrisch, hinsichtlich der Wort- oder Wortklassenhäufigkeiten, Satzlänge, type-token-ratio, mit Topic Modeling, Netzwerkanalysen usw.). Ebenso deutlich wird dies bei der vergleichenden Analyse von Texten aus unterschiedlichen Gattungen. Wie lassen sich Roman und Drama in einem einheitlichen Verfahren analysieren? Entsprechen sich Textsegmente wie ›Kapitel‹ und ›Akt‹, ›Unterkapitel‹ und ›Szene‹? Erlauben narrativer und diegetischer Modus die gleichen Verfahren der Figuren- und Redeanalyse? Offenbar sind diese Fragen für distante Analyseverfahren nicht beantwortet, da sich die digitale Philologie zwar bislang der Justierung einer angemessenen Größe von Untersuchungskorpora gewidmet hat, nicht aber der Diskussion heterogener Korpora.74 Unabhängig von der Frage der Korpusgenerierung, nicht aber von der Frage der Größe von Analyseeinheiten, steht die Beobachtung, dass eine Interessensverschiebung vom Einzeltext zu größeren Korpora keinen automatischen Wechsel des wissenschaftlichen Modus bedeuten muss, wie es Moretti in Graphs, Maps, Trees andeutet 75: »the models I have presented also share a clear preference for explanation over interpretation; or perhaps, better, for the explanation of general structures over the interpretation of individual texts.« Wie Christopher Prendergast betont, betreibe Moretti sehr wohl weiterhin Interpretation, »not, however, in the sense of the ›reading‹ of individual works but rather in that of a hermeneutics addressed to ›understand[ing] the larger structures‹ within which individual works Eine sehr differenzierende Untersuchung der »Kriterien für die Anlage empirischer Textsortenuntersuchungen« fi ndet sich in der vordigitalen Wissenschaftstheorie der (überwiegend) philologischen Darstellungsformen. Kirsten Adamzig bestimmt den »Grad der Elaboriertheit und Präzision verschiedener Untersuchungsverfahren« in Abhängigkeit von der Frage, »ob thematisch homogene oder heterogene Korpora untersucht werden. Wird ein thematisch heterogenes Korpus untersucht, so lassen sich die Texte etwa auf der Ebene der Lexik fast nur unter formalen Kriterien vergleichen: Wortart, Wortlänge, Wortbildungstyp – formale Charakteristika, bei denen, wie bereits angedeutet, nur erhebliche quantitative Differenzen einen gewissen Signalwert haben, die sich aber sonst schwer ausdeuten lassen. Neben solchen formalen Charakteristika könnten allenfalls – allerdings immer noch ziemlich abstrakte – Kategorien wie ›Fachterminus‹, ›Abstraktum‹, ›Metapher‹ u. ä. herangezogen werden, die freilich nicht unerhebliche Zuordnungsprobleme mit sich bringen. Vergleicht man demgegenüber thematisch homogene Texte, so sind viel konkretere und präzisere Gegenüberstellungen möglich«, Kirsten Adamzig: Methodische Probleme kontrastiver Textsortenstudien, in: Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast: Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, hg. von Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser, Tübingen 1998, 103–130, hier: 111. Was hier am Beispiel thematischer Heterogenität ausgeführt wird, dürfte übertragbar sein auf die Heterogenität von Gattungen, Form-Aspekten u.v.m. 75 Franco Moretti: Graphs, Maps, Trees – Abstract Models for Literary History, London und New York/NA 2005, 91. 74
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›have a meaning in the fi rst place‹.«76 Die quantitative Analyse größerer Korpora bietet also alleine noch kein Erklärungsmodell für deren Strukturen. Erst aus der Interpretation analysierter Daten kann ein Erklärungsversuch entwachsen.77 Ob Moretti damit »im ›traditionellen‹ Modus der Bedeutungsgenerierung« 78 bleibt, ist zumindest zu hinterfragen. Selbst wenn die Daten interpretiert und deren Relevanzen und Signifi kanzen selektiv wahrgenommen werden, ist das epistemische Objekt und der Modus des Textumgangs doch ein anderer. Denn nicht Einzeltexte und deren Kontexte werden interpretiert, sondern eine auf Werten basierende abstrakte Repräsentation von Textkorpora und deren Metadaten.79 Die Interpretation dieser Daten ist bei Moretti nicht mehr Selbstzweck, sie soll nicht nur Bedeutung zuschreiben, sondern kausale Erklärungsmodelle für Bedeutungszusammenhänge auf einer höheren Ebene als dem Einzeltext anbieten (Stichwort ›Höherskalierung‹). Moretti bleibt also der Interpretation verschrieben, nicht aber dem Lesen. Quantitative Analyse und Lesen bilden jeweils einen eigenen Modus des Textumgangs, der für sich betrachtet skalierbar ist. Die Frage der Skalierbarkeit von Lesen und Analysieren ist zuletzt keine, die unabhängig von jenen Wissenschaftspraktiken zufriedenstellend beantwortet werden kann, die dem Textumgang vor- und nachgelagert sind. Damit meinen wir nicht nur den eben problematisierten hermeneutischen Umgang mit analytisch gewonnenen Daten, sondern ebenso den Phänomenbereich der wissenschaftlichen Ideengenese und den des wissenschaftlichen Schreibens. Der Architekturhistoriker Mario Carpo versteht die mit der Großkorpora-Analyse einhergehende Suche in Datenmengen als neue, zentrale epistemische Praxis innerhalb nahezu aller Wissenschaften und als Möglichkeit der Emanzipation von den ›großen Erzählungen‹ unserer Kulturgeschichte. Digitale Datenverarbeitung habe, so Carpo, zu einem anthropologischen Umbruch geführt: »Just like computation is replacing the causal laws of modern science with the brute force of data-driven simulation and optimization, blunt information retrieval is increasingly, albeit often subliminally, replacing causality-driven, teleological historiography, and demoting all modern and Christopher Prendergast: Evolution and Literary History – A Response to Franco Moretti, in: New Left Review 34 (2005), 40–62, hier: 45. Vgl. zu dieser Diskussion auch unsere Ausführungen zu Jockers im Kapitel »Moretti &/vs. Jockers«. 77 Moretti antwortet auf die Kritik von Prendergast in The End of the Beginning. Er gibt Prendergast insofern Recht, dass Interpretation immer eine große Rolle bei der Betrachtung von Literatur spiele. Interpretation und Erklärung würden sich jedoch gegenseitig bedingen. Während Interpretation aber Bedeutung (meaning) mit Bedeutung in Beziehung setze, sei die Bedeutung nur ein Teil des Erklärens. Moretti betont abschließend: »›[D]efending‹ interpretation from explanation misses the point: where the real challenge lies, and the hope for genuine breakthroughs, is in the realm of causality and large-scale explanations«, Franco Moretti: The End of the Beginning – A Reply to Christopher Prendergast, in: Distant Reading, London, New York/NA 2013, 138–158, hier: 155. 78 Trilcke und Fischer: Fernlesen mit Foucault? [Anm. 38], 12. 79 Martin Mueller spricht hierbei von einem »second-order query potential of the digital surrogate«, Mueller: Digital Shakespeare [Anm. 11], 289. 76
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traditional tools of story-building and story-telling. This major anthropological upheaval challenges our ancestral dependance on shared master-narratives of our cultures and histories.« 80 An dieses Postulat schließt eine bemerkenswerte, da retrospektive Überlegung an. Aus einer Gegenwart des unbegrenzten Speicherplatzes (data-opulent present) schaut er zurück in eine Vergangenheit, die sich durch den Mangel an eben diesen Speichermöglichkeiten (data-starved past) charakterisieren ließe. Aus dieser Perspektive nun erscheine die gesamte westliche Wissenschaftskultur seit ihren Anfängen in der griechischen Antike als eine extrem komplexe Datenkompressionstechnik, die nichts anderes mache, als der chronischen Knappheit an Datenspeicher und Verarbeitungskapazitäten entgegenzuwirken. Als die dafür geeignetsten Wissenschaftspraktiken hätten sich gemäß Carpo die Extrapolierung und Generalisierung von Mustern auf Grundlage des nur limitiert verfügbaren Datenbestandes durchgesetzt.81 Dies treffe auf Syllogismen ebenso zu wie auf Gleichungen, auf mathematische Funktionen, aber auch auf die großen Erzählungen in nahezu allen Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. In einer Gegenwart, für die er die Imagination der unendlichen Speicherung und Durchsuchbarkeit aller Daten der Welt und Weltgeschichte entwirft, würden diese Erzählungen aber obsolet, da aufgrund der potentiell gleichzeitigen Verfügbarkeit aller Ereignisse der Geschichte der Menschheit (und darüber hinaus) keine Extrapolierung mehr nötig wäre – man muss zwangsläufig an Jorge Luis Borges’ Kurzerzählung Del Rigor en la Ciencia denken, die ein Reich imaginiert, in dem die Kartografie so exakt geworden ist, dass sie nur noch Karten des Reiches im Maßstab 1:1 entwerfen kann.82 Vorhersagen oder Hypothesen auf der Grundlage von wenigen Beobachtungen, Gesetzen oder Formeln würden durch die Wissenschaftstechnik der Big Data-search abgelöst. Diese f ände für jede zu erklärende Hypothese einen Präzedenzfall – oder eben nicht. Fraglos aber würde die Suche die überkommenen Methoden der westlichen Wissenschaft ersetzen: »So it would appear that many anti-modern and postmodern ideological invocations or vaticinations, from Nietzsche’s ›eternal recurrence‹ and Lyotard’s ›fragmentation of master narratives‹ to Baudrillard’s or Fukuyama’s ›end of history,‹ to name a few, all came, in retrospect, a bit too early – but all may soon be singularly vindicated by technological change«.83 Diese Überlegungen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicherlich die extremste und konsequenteste Ausformulierung einer distanzorientierten Skalierung bilden, sind nicht ohne Konsequenzen für Skalierungsfragen innerhalb der LiteraturwisMario Carpo: Big Data and the End of History, in: International Journal for Digital Art History 3 (2018), 21–35. 81 Ebd., 25. 82 Die Kurzerzählung erschien zuerst in Jorge Luis Borges: Museo, in: Los Anales de Buenos Aires 1.3 (1946), 53–56 (publiziert unter dem Pseudonym B. Lynch Davis. Der Text ist der fi ktionalen Quelle Suárez Miranda: Viajes de Varones Prudentes, libro cuarto, cap. XIV, Lérida 1658 zugeschrieben). 83 Carpo: Big Data [Anm. 80], 33. 80
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senschaften; insbesondere, wenn man diese Fragen an eine (groß-)korpusbasierte, quantifi zierende Literaturgeschichtsschreibung stellt. Im Anschluss an Carpo wird deutlich, dass sich das Grundproblem von Literaturgeschichtsschreibung nur verschiebt, nicht aber löst: Die Vulnerabilität der traditionellen Literaturgeschichte lag in der beschränkten Größe und der Auswahl des Samples, der Stichprobe, auf dessen Grundlage Literaturgeschichten extrapoliert wurden. 84 Es waren eigentlich Kanongeschichten. Carpos Gegenwartsfi ktion auf die Literaturgeschichte zu übertragen, hieße nun, jegliche jemals geschriebene Literatur digital analysierbar vorliegen zu haben. Damit wird das Stichprobenproblem obsolet, zugleich aber rückt ein anderes Methodenproblem in den Vordergrund. Denn Skalierung ist nicht nur eine ästhetische Kategorie, sondern auch eine pragmatische. Jede Big Data-Literaturgeschichte muss entscheiden, welche Eigenschaften von Literatur überhaupt analysefähig sind und welche Eigenschaften für eine Geschichte der Literatur infrage kommen. Lösungsversuche beider Probleme sind stark abhängig von subjektiv motivierten oder durch den Forschungsdiskurs diktierten Entscheidungen der Literaturhistoriker *innen und ihrem Verständnis von Literatur. Diese Entscheidungen resultieren – ganz im Sinne Julie Orlemanskis – in Analyseeinheiten, die in Abhängigkeit von vorherigen Interpretationen stehen und daher selbst interpretativ sind. Vollständige Objektivität bleibt auch bei vollständiger Digitalisierung und vollständigen Korpora Fiktion.
Skalierung &/vs. Quantifizierung Das Verhältnis von Skalierung und Quantifi zierung wurde später kaum mehr so griffig gefasst wie in dem 1996 publizierten Buch Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life des Wissenschaftshistorikers Theodore M. Porter. Seine Überlegungen stehen zeitlich und inhaltlich in engem Zusammenhang mit den oben referierten kulturkritischen Positionen des ausgehenden Jahrtausends, in denen auf das Problem der Vermassung von Kultur und Literatur(kritik) reagiert wird. Porters Studie widmet sich aber stärker dem Bereich des gesellschaftlichen als des literarischen oder literaturwissenschaftlichen Kulturwandels und profi liert Distanz nicht nur als methodisches Statement, sondern viel radikaler als geistige Grundhaltung in modernen Objektivitätskulturen 85: »reliance on numbers and quantitative manipulation minimizes the need for intimate knowledge and personal Vgl. hierzu auch Thomas Weitin, der mit Bezug auf Jockers Analyseergebnisse resümiert, »dass die Narrative der Literaturgeschichtsschreibung einen ganz bestimmten Ausschnitt benutzen, um die Geschichte des vermeintlich Ganzen zu erzählen, das sie in Wahrheit gar nicht auf dem Schirm haben«, Thomas Weitin: Thinking Slowly – Literatur lesen unter dem Eindruck von Big Data, in: LitLab Pamphlets 1 (März 2015), http://digitalhumanitiescenter.de/pamphlets/kl301_weitin-thinking-slowly.pdf, Zugriff: 07.02.2020, 1–17, hier: 7. 85 Theodore M. Porter: Trust in Numbers – The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton 1996, xi. 84
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trust«. Quantifi zierung sei in diesen Kulturen ein Weg, Entscheidungen zu treffen ohne sich selbst entscheiden zu müssen.86 Daraus schließt Porter, Quantifi zierung müsse als eine »technology of distance« verstanden werden.87 Wo Quantifi zierung als objektivierende Distanztechnik Anwendung fi ndet, würde zugleich vertiefendes Wissen und subjektive Entscheidung disqualifi ziert. Das beschreibt nicht nur treffend die Vorbehalte einiger traditioneller Literaturwissenschaftler *innen gegenüber quantifi zierenden Ansätzen der Analyse von Literatur, sondern gibt zugleich Anlass, über unterschiedlich nahe oder distante epistemische Grundhaltungen in den Literaturwissenschaften nachzudenken. Eine diesbezügliche Studie steht unseres Wissens noch aus,88 aber es ist schwer vorstellbar, dass auch die traditionellsten literaturwissenschaftlichen Arbeiten gänzlich ohne quantifi zierende Überlegungen auskommen. Die Bestimmung von Protagonisten oder zentralen Handlungslinien, die Bestimmung von Themen und Motiven, die Identifi kation metrischer Muster uvm. basiert auf einem quantitativen Vergleich von Textmerkmalen. Dass diese Vergleiche – unter Ausnahme der typischerweise kurzen Lyrik – auf approximativer Schätzung anstatt defi nitiver Auszählung beruhen, spricht keinesfalls gegen das hier verfolgte Argument. Offenbar können aber Skalierungspraktiken selbst skaliert werden. Eigentlich exakt zu bemessende Werte werden dann zu relationalen Größen in einer latent unscharfen Skala. So hat beispielsweise im Fall der Literaturwissenschaft eine Anpassung quantitativen Denkens an disziplinspezifi sche Denk- und Argumentationsmuster stattgefunden, die Präzision zugunsten von Approximation disqualifi ziert. Polemisch verknappt ließe sich die Schätzung zwar als bloße Kapitulation vor einer im analogen Medium Buch sehr aufwendigen Textpraktik verstehen: es muss eben geschätzt werden, wenn nicht genauer gewusst werden will. Praxeologisch ausbuchstabiert eröff net der Blick auf (skalierende) Formen vager Quantifi zierung vertiefende Einsichten in argumentativ und epistemisch angemessene bzw. unangemessene Teilaspekte literaturwissenschaftlicher Interpretations- und Arbeitspraktiken. Ahistorisch lässt sich sicherlich behaupten, dass in literaturwissenschaftlichen Aufsätzen unzählige Ausdrücke Verwendung fi nden, die implizit (durch Heckenausdrücke)89 oder explizit auf weiche Varianten des Zählens und Quantifi zierens schließen lassen – wie das gerade verwendete Wort ›unzählige‹: an keiner Stelle der Novelle, immer wenn, oft, nicht selten, im kürzesten Kapitel des Romans, der längste Monolog des Stücks, der umfangreichste Text im Œuvre des Vgl. ebd., 8. Ebd., xi. 88 Simone Winko, Toni Bernhart und Friederike Schruhl danken wir für Hinweise bezüglich dieser Frage und ihrer laufenden bzw. projektierten Forschung auf diesem Gebiet. 89 Eingeführt wird der Begriff Hedging durch George Lakoff : Hedges – A Study in Meaning Criteria and the Logic of Fuzzy Concepts, in: The 8th Regional Meeting of the Chicago Linguistic Society (1972), 183–228; vgl. auch Sabine Dönninghaus: Vagheit im numerischen und quantitativen Bereich natürlicher Sprache, in: Quantität und Graduierung als kognitiv-semantische Kategorien, hg. von Helmut Jachnow, Boris Norman und Adam E. Suprun, Wiesbaden 2001, 76–92. 86 87
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Autors usw. Was unterscheidet nun diese völlig akzeptierte Praxis mehr oder weniger unspezifi schen Quantifi zierens – auch das ist eine unspezifi sche Quantifi zierung – von umfassenderen oder präziseren Textquantifi zierungen,90 die gerade so kontrovers diskutiert werden? Ist es der Modus, die Menge oder das Medium der Quantifi zierung? Ist Quantifi zierung legitim, wenn man sie im Rahmen einer Interpretation und nicht zum Selbstzweck der reinen Analyse betreibt, wenn man sie maßvoll einsetzt und nicht im Übermaß oder ist sie legitim, wenn man sie anhand des analogen Mediums Buch vornimmt und nicht mit dem Computer? Auch wenn diese Fragen pointiert bzw. spekulativ daherkommen, sie verweisen auf ganz ernstzunehmende Regeln akzeptierter Verhaltensweisen im literaturwissenschaftlichen Feld, die vor allem die Erhaltung einer Instanz absichern sollen: das literaturwissentschaftliche denkende Subjekt, das durch nachdenken, einfühlen, interpretieren usw. Wissen über einen Text produziert. Die Abwehrhaltung gegenüber quantifi zierenden Ansätzen ließe sich entsprechend damit erklären, dass mit ihnen Textpraktiken in die Literaturwissenschaft eingeführt werden, die eine Maschine besser beherrscht als das denkende Subjekt. Traditionelle Interpretation nun aber mit close reading gleichzusetzen und Quantifi zierung analog dazu mit distant reading, geht an der Sache vorbei. Auch Interpretation quantifi ziert und auch Quantifi zierung interpretiert – wie oben dargestellt – bereits bei der Wahl der Analyseeinheiten. Skalierung ist als epistemische Praktik des Umgangs mit literarischen Artefakten unumgehbar. Und sie scheint unproblematisch zu sein, solange sie nicht in Form von Extrempositionen wie Morettis distant reading-Ansatz diskutiert wird. Moderatere Skalierungsbewegungen hingegen wurden bisher nicht als solche literaturtheoretisch oder -methodologisch reflektiert; und genau dies spricht dafür, Skalierung als so gängige Praxis aufzufassen, dass sie der praxeologischen Explikation bedarf, um dem betriebsblinden Auge als literaturwissenschaftlich relevante Kategorie sichtbar zu werden. Die literaturwissenschaftlich etablierten Formen der Skalierung gehen dabei weit über das hinaus, was prima vista unter ›Quantifi zierung‹ gefasst wird. Zu den ›unsichtbaren‹ Skalierungen zählen etwa die heuristische Übertragung der Befunde einer Einzeltextanalyse auf die Analyse einer ganzen Textgruppe (wie dem Œuvre eines Autors), die Extrapolierung von Mustern oder Gemeinsamkeiten einer kleinen Textgruppe auf eine – unbestimmt – größere Gruppe von Texten (etwa bei der literaturgeschichtlichen Beschreibung von Gattungsveränderungen) oder aber die Umkehrung dieser Übertragung, also die Verwendung der bei Analysen einer Textgruppe identifi zierten Muster als Grundlage für die Analyse eines Einzeltexts (typischerweise bei Fragen der Gattungszugehörigkeit dieser Einzeltexte). Neben solchen in der ›analogen‹ Literaturwissenschaft etablierten Skalierungspraktiken lassen sich auch spezifisch digitale Skalierungsformen beschreiben. Bei diesen sind quantifi zierende Prozesse zentraler, da sie gerade da eingesetzt werden, 90
Vgl. Bernhart: Quantitative Literaturwissenschaft [Anm. 35].
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wo der menschliche Leser an seine Grenzen stößt, etwa bei Analysen der Verteilung von Textmerkmalen in unlesbar großen Textmengen oder bei stark kontraintuitiven Analysen, etwa dem Zählen von Buchstaben, Satzzeichen, Wortklassen usw. Die angesprochene Kontraintuitivität bestimmter Analysen lässt sich nicht nur als Argument für den Einsatz computergestützter Verfahren auff assen. Gegen diese Verfahren sprechen moralische Bedenken, die hinterfragen, mit welchem Recht maschinelles Analysieren von menschlichen Kunstwerken betrieben werden darf. Welchen epistemischen Mehrwert hat quantitative Exaktheit? Im Kontext des Verhältnisses von Skalierung und Quantifi zierung ist also auch die Frage der Gegenstandsangemessenheit sehr naher bzw. auch sehr distanter Analysen zu berücksichtigen. Literatur ist zumindest bis in die Gegenwart weitestgehend anthropogen.91 Die hermeneutische Interpretation bezieht sich daher auf Literatur als das Resultat menschlichen Denkens, indem sie diesem Denken angemessene Kategorien wie die Autorintention, das Hineinversetzen usw. in das Zentrum ihres Textverstehens rückt.92 Zu fragen ist nun, ob sich quantifi zierende Analysen zumindest bis zu einem gewissen Grad noch innerhalb dieser oder vergleichbarer Kategorien bewegen müssen? Oder ob es gar ein Kategorienfehler ist, wenn sich die Skalierung und Quantifi zierung auf von Autoren nicht steuerbare Analyseeinheiten stützt?93 Wenn sie, wie die Stilometrie mit ihrer Indienstnahme von Funktionswörtern,94 Analysekategorien verwendet, die bisher keiner ausführlichen literaturtheoretischen Reflexion unterzogen worden sind? All diese Fragen nach der Angemessenheit quantifi zierender Textpraktiken sind jedoch, so scheint uns, selbst hermeneutischer Natur. Das sollte den Verfechtern hochskalierender 91 Ausnahmen bilden beispielsweise die frühen stochastischen Texte von Max Bense-Schüler Theo Lutz, vgl. Theo Lutz: Stochastische Texte, in: Augenblick 4/1 (1959), 3–9, der von Hans Magnus Enzensberger entwickelte Landsberger Poesieautomat, vgl. Hans Magnus Enzensberger: Einladung zu einem Poesie-Automaten, Frankfurt/M. 2000, aber auch verhältnismäßig aktuelle Projekte, die mittels künstlicher neuronaler Netze möglichst menschenähnliche Gedichte zu erstellen versuchen, vgl. John Hopkins und Douwe Kiela: Automatically Generating Rhythmic Verse with Neural Networks, in: Proceedings of the 55th Annual Meeting of the Association for Computational Linguistics (2017), DOI: https://doi.org/10.18653/v1/P17-1016, Zugriff: 07.02.2020, 168–178. 92 Schleiermacher entwirft in Hermeneutik und Kritik ein Modell korrespondierender Redeund Verstehenskunst (vgl. 76, § 3), das in der »Gemeinschaftlichkeit des Denkens« (ebd., 76, § 4) wurzelt. Es basiert auf der anthropologischen Grundannahme, dass »Rede nur der gewordene Gedanke« und daher »jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, in welchem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen«, ebd., § 4.1, Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik – Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. von Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977. 93 Zur Frage der Kategorisierung von Skalierungspraktiken siehe auch den Beitrag von Carlos Spoerhase in diesem Heft. 94 Dahinter steht die Hypothese, dass der Autor Funktionswörter – im Gegensatz zu lexikalischen Wörtern – (eher) unbewusst einsetze. Neuere Studien zeigen jedoch, dass ein größeres Wortspektrum, damit auch der Einbezug einer Vielzahl lexikalischer Wörter, zu präziseren Ergebnissen bei der Autorschaftsattribution führt, vgl. Stefan Evert u. a.: Understanding and Explaining Delta Measures for Authorship Attribution, in: Digital Scholarship in the Humanities 32, Supplement 2 (2017), DOI: https://dx.doi.org/10.1093/llc/fqx023, Zugriff: 07.02.2020, ii4-ii16.
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Textanalysen ebenso bewusst sein, wie es Muellers mittelalterlichen Mönchen bewusst war, dass eine Bibelkonkordanz das vertiefte Studium der heiligen Texte nicht ersetzen, sondern ermöglichen sollte.
Der fotografische Massstab 1 Andrew Fisher »So oft auch immer er verwendet wird, [der Maßstab] wird selten hinterfragt.« 2 »Worauf es beim Spiel der Maßstäbe ankommt, ist nicht so sehr die Privilegierung einer bestimmten Wahl, sondern das Prinzip der Variation des Maßstabs selbst.« 3
Im Zeitalter der vernetzten digitalen Bilder werden mehr Fotografien hergestellt und verbreitet als jemals zuvor. Diese Tatsache setzt man gemeinhin in Bezug zu den hunderten Millionen Fotografien, die täglich in sozialen Medien hochgeladen werden.4 Eine noch nie dagewesene Zirkulation von Bildern mit weltweiter, immer rasanterer Verbreitung unterstreicht die Erfahrung von Unmittelbarkeit (instantaneity), globaler Gleichzeitigkeit (simultaneity) und beschleunigtem Austausch.5 Dies ist eine Bildökologie, die eine gewissermaßen buchstäbliche Erfahrung des Maßstabs in den Vordergrund rückt, dadurch aber zugleich signalisiert, dass umfassendere und komplexere Fragen des Maßstabs für ein Verständnis des fotografischen Bildes bedeutsam geworden sind.
Dieser Aufsatz wurde aus dem Englischen übersetzt von Tom Wohlfarth [im Folgenden T.W.] nach einem Entwurf von Anna Wojtachno [im Folgenden A.W.]. Er wurde ursprünglich veröffentlicht als Photographic Scale, in: On the Verge of Photography. Imaging Beyond Representation, ed. by Andrew Fisher, Daniel Rubinstein and Johnny Golding, Birmingham 2013, 151–169. Für die Übersetzung wurde er vom Autor leicht überarbeitet. 2 Philippe Boudon: The Point of View of Measurement in Architectural Conception. From the Question of Scale to Scale as a Question, in: Nordic Journal of Architectural Research 1 (1999), 7–18 (Übersetzung T.W.). 3 Paul Ricoeur: Memory, History, Forgetting, trans. by Kathleen Blamey and David Pellaeur, Chicago and London 2004, 218 (Übersetzung T.W.); vgl. ders.: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek, München 2004, 335. 4 Betrachtungen der Gegenwartsfotografie nehmen solche statistischen Fakten sehr häufi g zur Kenntnis. Vgl. etwa Nathaniel Cunningham: Face Value. An Essay on the Politics of Photography, New York 2012, 10. 5 Für eine Darstellung der historischen Ontologie der Fotografie, die sich auf deren Determinierung durch die kapitalistischen Formen der Abstraktion und des Tauschs fokussiert, vgl. Peter Osborne: Photography in an Expanding Field. Distributive Unity and Dominant Form, in: Where is the Photograph, ed. by David Green, Brighton and Maidstone 2003, 63–70; und ders.: Infinite Exchange. The Social Ontology of the Photographic Image, in: Philosophy of Photography 1/1 (2010), 59–68. Eine interessante Darstellung der ökonomischen Kräfte und Formen kultureller Trägheit im Zusammenhang mit der Entwicklung von Digitalkameras ist Kamal Munir: The Social Construction of Events. A Study of Institutional Change in the Photographic Field, in: Organization Studies 1/26 (2005), 93–112. 1
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Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden eine kritische und theoretische Interpretation der Bedeutung des Maßstabs in der und für die Fotografie entwickeln. Diese Untersuchung geht aus vom expansiven Charakter der Fotografie im Kontext einer vernetzten digitalen Kultur, sie hat aber auch Auswirkungen auf unser Verständnis der Fotogeschichte. Der Maßstab nimmt in Bezug zu unterschiedlichen Formen der Fotografie viele verschiedene Bedeutungen an, seien sie technischer, phänomenologischer, ökonomischer oder geografi scher Art. Wenn überhaupt, werden diese verschiedenen Register des Maßstabs für gewöhnlich im Rahmen spezialisierter Diskurse betrachtet. Dieser Aufsatz untersucht eine umfassendere, alternative Möglichkeit der Bedeutung des Maßstabs in der Fotografie: dass es nämlich die Beziehungen zwischen den diversen Bedeutungen des Maßstabs im jeweiligen Kontext sind, die den Schlüssel dazu liefern, welche Bedeutung dieser Begriff für die Fotografie hat. Der Artikel entwirft ein Konzept des fotografischen Maßstabs, um die relationale Form des Maßstabs als von Belang für die Fotografie darzustellen. Dieses Konzept bezeichnet ein allgegenwärtiges, vielfältiges und vielschichtiges Spiel zwischen differenzierten, aber zwangsläufi g miteinander verbundenen Maßstäben, die der Raumzeitlichkeit der Fotografie zugrunde liegen, ihr Bedeutung als Form der visuellen Darstellung verleihen, die Modi ihrer Materialisierung untergliedern und Schlüsselaspekte ihrer Bestimmung als globale geopolitische Form beschreiben. Ein kamerafähiges Gerät in die Hand zu nehmen, fotografiert zu werden oder einem fotografi schen Bild zu begegnen, stellt einen ins Zentrum einer Konstellation von verschiedenen Gegebenheiten des Maßstabs (scale), Prozessen der Skalierung (scaling) und Bedingungen der Skalierbarkeit (scalability). Das ist vermutlich immer schon so gewesen, aber erst seit Kurzem offenkundig geworden, und zwar als eine Konsequenz global vernetzter, digitaler Technologien zur Bildgestaltung. Es gibt, so argumentiere ich, etwas Spezifi sches in Bezug auf das gewandelte fotografi sche Bild und die andauernde Bedeutung seiner phänomenologischen Potenzialitäten, das hier erneut untersucht werden muss. Fotografi sche Bilder sind weiterhin wesentlich für die visuellen Systeme und kulturellen Gebräuche, sozialen Probleme und politischen Möglichkeiten, die die Gegenwart als eine technologisch globalisierte Lebenswelt ausmachen. Das liegt teilweise daran, dass die Fotografie eine solch ausgedehnte Reichweite hat und eine verblüffende Spannbreite von Formen annimmt, die zusammen fast alle Aspekte des menschlichen Lebens berühren. In diesem Kontext hat der Maßstab eine Mischung räumlicher und zeitlicher, technischer und erfahrungsmäßiger Bedeutungen angenommen, die gemeinsam ausmachen, was das fotografi sche Bild sein kann und was es zu tun vermag. Die Möglichkeiten und Probleme, die mit solchen Konstellationen von Maßstäben einhergehen, sind bis heute fast völlig unbeleuchtet, was bedeutet, dass wir die sich wandelnden Bedingungen des fotografi schen Bildes und letztlich auch die Welt, die es sinnlich und sinnvoll erfahrbar zu machen verspricht, nicht verstehen. Dennoch gilt weniges in der Fotografie als so selbstverständlich wie die Tatsache, dass Fotografien Dinge maßstäblich vergrößern oder verkleinern und dass sie
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in verschiedenen Größen vorkommen. Es ist nur unwesentlich schwerer zu bemerken, dass sie anhand von Techniken produziert und reproduziert werden, die das Skalieren und Umskalieren beinhalten und regulieren. Fotografien resultieren aus der Anwendung von Formaten, die von unterschiedlichen Maßstabswerten durchzogen sind. Das fotografi sche Bild kann ein nützliches Messwerkzeug sein – um Dinge in einen Maßstab zu setzen –, aber es kann auch ein tendenziöses Gefühl der Allmacht über ansonsten unsichtbare oder entfernte Dinge gewähren. Überhaupt sollte man auch zur Kenntnis nehmen, dass Kameras und Fotografien eine Reihe von materiellen Maßstäben annehmen, um innerhalb globaler Kreisläufe von sozialem und wirtschaftlichem Tausch zu agieren, so dass irgendwann ein Mehrwert aus ihrem Gebrauch gezogen werden kann. Selbst anhand einer solchen kursorischen Aufl istung wird deutlich, dass eine vielfältige Menge von maßstäblichen oder skalaren Verfahren, skalierten Phänomenen und Formen der Skalierung sowohl für spezielle fotografische Methoden als auch für die Fotografie im Allgemeinen von grundlegender Bedeutung sind. Diese unterschiedlichen Maßstäbe der Fotografie geben den mit der Fotografie verbundenen Erfahrungen und Verhaltensweisen innerhalb der gegenwärtigen Bildökologie eine neue Ordnung und Ausrichtung. Die mit der Handhabung und Verwendung eines kamerafähigen Geräts verbundenen körperlichen Verhaltensformen sind von einer Ausrüstung abhängig geworden, die zunehmend nahtlos in den Horizont der global vernetzten Verbreitung eingebettet ist. Dazu gehören etwa ausladende Körperhaltungen, bei denen beide Augen einen auf Armeslänge gehaltenen Bildschirm anvisieren. Hierbei handelt es sich um eine Form des Verhaltens zwischen Körper und Gerät, die globale kommerzielle Imperative mit nur scheinbar unmittelbaren Formen der Wahrnehmung verknüpft. Solche Bildschirme haben etwa im Vergleich mit dem Gehäuse der Geräte, in die sie eingebaut sind, tendenziell an Größe gewonnen. Sie veranschaulichen somit unübersehbar den Einsturz der Unterschiede zwischen dem, was vor dem Augenblick der Aufnahme gesehen wird, dem resultierenden Bild und dessen beispielloser Verfügbarkeit zur Veröffentlichung.6 Doch die wirtschaftlichen und technischen Imperative, die den Veränderungen in diesem scheinbar unmittelbaren Erfahrungsmodus zugrunde liegen, durchsetzen ihn auch mit mühsam verfolgten externen Interessen und inszenieren so Körper und Apparat als Elemente einer Performance, die sich innerhalb global skalierter Prozesse abspielt.
Vgl. Daniel Rubinstein und Katrina Sluis: A Life More Photographic. Mapping the Networked Digital Image, in: Photographies 1/1 (2008), 9–28. Man beachte ihre Darstellung der Bildschirmgröße in Relation zum Gerät und seiner Funktionsweisen, besonders aber, wie hier der vernetzte digitale Schnappschuss skalierte Bedeutungen annimmt, die weit über seine visuelle Form hinausreichen: »Durch die semantischen Mechanismen des Markierens (tagging) und der Metadaten wird die Besonderheit jedes Online-Schnappschusses dadurch verwischt, dass ein einziges verlinktes Schlagwort Tausende disparater Bilder zusammenfassen kann. Können 4.150.058 Fotos getaggt mit ›Party‹ falsch liegen?«, (24; Übersetzung T.W.). 6
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Auch der Akt der Betrachtung von Fotografien hat sich gewandelt. Er wird in eine rhythmische und mobile Beziehung zu anderen Bildern und einer Heerschar anderer Betrachter gebracht, die die Beteiligung, die angesichts einer einzelnen Fotografie aufrechterhalten werden könnte, infrage stellen. Hierbei spielt sich das Wesentliche unterhalb der visuellen Wahrnehmungsebene ab. Wie Mika Elo gezeigt hat, wird die Verbreitung eines digitalen Bildes durch seine zugehörigen Metadaten mit automatischen Verknüpfungen versehen, die »über die visuelle Beherrschung raumzeitlicher Beziehungen hinausgehen«.7 Er folgert: »Fotografische Schnittstellen, das heißt die Weisen, in denen die Fotografie dem Körper gegenübersteht, bilden eine Art ›ästhetischen Horizont‹ für die Erfahrung der digitalen Kultur, indem sie den Widersprüchen unserer Zeit auf der Sinnesebene begegnen«. 8 Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, die durch eine Konstellation von räumlichen und zeitlichen Maßstäben gekennzeichnet ist. Fragen zum Maßstab in der Fotografie können nicht auf die visuellen Formen und die relativen Dimensionen der in Fotografien dargestellten Dinge beschränkt werden, obwohl auch ihnen ein Maßstab zugrunde liegt. Der Maßstab ist eine allgemeinere Bedingung aller Begegnungen mit Fotografien, seien sie taktiler, kinästhetischer oder auch visueller Art. Ob man ihnen in gedruckter Form, an Wände gehängt oder projiziert begegnet oder sie auf Bildschirmen sieht, man betrachtet Fotografien auch als Leser, der an den Übergang zwischen Maßstäben gewohnt ist: Er wechselt routiniert zwischen dem Maßstab eines flüchtigen Ereignisses, einer Situation, eines Lebens, der Geschichte oder eines Zeitalters, kann aber auch mit einem bestimmten Detail, Merkmal, Körper, Schauplatz oder einer Nation beschäftigt sein oder einen Maßstab von globaler Ausdehnung und Reichweite erfassen. Fotografi sche Geräte sind mit Blick auf Skalierungsprozesse designt, etwa in der Anwendung voreingestellter Größenverhältnisse bei Blendenöff nung und Bildschärfe, die dazu beitragen, den vielschichtigen Prozess der Herstellung einer Fotografie zu regulieren. Diese Größenverhältnisse nehmen soziale, ästhetische und affektive Maßstäbe an, indem sie durch ihren Gebrauch Bedeutung annehmen und dabei die visuellen Register der Welt im Moment ihrer Registrierung in einen Maßstab bringen. Kameras und Fotografien stellen ihre Benutzer und Betrachter in den Mittelpunkt eines Geflechts von maßstäblichen Vorgängen. Jede Fotografie, in welchem Maßstab auch immer sie gemacht, ihr begegnet oder auf sie Bezug genommen wird, birgt in sich eine Fülle von anderen skalierten Beziehungen und maßstäblichen Fakten, die sich darauf auswirken, was das Bild ist und wie es gebraucht werden kann. Folglich ist eine verallgemeinerte Menge von Individuen dem technischen und sozialen Prozess der Fotografie einbeschrieben. In seinem Aufsatz »Nous Autres« entwirft Jean-Luc Nancy eine intersubjektive Betrachtung der Fotografie, die ein eben solches Verständnis des Maßstabs zum 7 Mika Elo: Notes on Haptic Realism, in: Philosophy of Photography 3/1 (2012), 19–27, hier: 20 f. (Übersetzung T.W. und A.W.). 8 Ebd., 25.
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Ausdruck bringt: »Jedes ›Subjekt‹ auf dem Foto bezieht sich stillschweigend und hartnäckig auf all die anderen, auf dieses ungeheure Universum an Fotos, wohin wir uns und einander eines Tages alle mitnehmen, diese kolossale und labyrinthische Fotothek, in deren Tiefen, wie ein Minotaur, das Monster umherstreift, die Monstration, das ungeheure Bild unserer Fremdheit.« 9 Wie bereits angemerkt, begünstigt die durch die digitale Vernetzung der Fotografie hervorgerufene Explosion ihrer Herstellung, Verbreitung und ihres Konsums auch ihre Beschreibung in aufgeblähten statistischen Maßstäben. Die »kolossale und labyrinthische Fotothek« metastasiert und die gesellschaftlichen Gebräuche und Bedeutungen der Fotografie mutieren. Das hat aufregende und beunruhigende Implikationen, nicht zuletzt weil Fotografien hier als allgegenwärtige Träger von vermeintlichen menschlichen Werten agieren, während sie zugleich untergraben, was diesen Werten ein Fundament geben könnte. In »Menschliche Maßlosigkeit« konfrontiert Nancy die konventionellen Sinnerwartungen an den Maßstab des Menschlichen mit dem unendlich skalierbaren Horizont der Zahl. Diese Gegenüberstellung kann hier gebraucht werden, um die Vertrautheit des menschlichen Maßstabs – als eine Erwartung an die Fotografie – mit Blick auf andere Register zu hinterfragen. »Der Mensch als das Maß aller Dinge hat eine neue, maßlose Bedeutung angenommen: Weit entfernt davon, alles auf den Menschen als auf irgendeinen mittelmäßigen Standard zu beziehen, und ebenso weit entfernt von ihren Überresten bezieht diese Bedeutung den Menschen selbst auf eine Unermesslichkeit an Verantwortung.«10 Doch hier ist Vorsicht geboten. Diese statistische und ethische Erweiterung von Nancys expliziter Theoretisierung des Fotografi schen kann dazu dienen, das Potential der Fotografie zum Erhabenen zu ermessen. Zugleich muss aber angemerkt werden, dass auch andere, alltäglichere Bedeutungen des Maßstabs in jedem Augenblick der Fotografie am Werk sind. In Kombination bilden sie das ungeheure Ausmaß der Fotografie. Die Aufgabe der Theoretisierung der intersubjektiven Form und des ethischen Horizonts dieser gewaltigen Ökonomie der Bilder ist mit einem Hinweis auf ihr Potential zur Erhabenheit noch nicht erschöpft. Während von bestimmten Standpunkten aus die Kategorie des Erhabenen für die Erfahrung der fotografi schen Komplexität und Bedeutung tragfähig sein mag, verdrängt sie zugleich tendenziell eine Untersuchung der spezifisch fotografi schen Eigenschaften, ihrer Formen der Vermittlung und der Frage, wie sie zusammenwirken, um das Fotografi sche als solches zu konstituieren.11 Jean-Luc Nancy: Nous Autres, in: Po&Sie 111 (2005), 3–9 (Übersetzung T.W.); vgl. ders: Nous Autres, in: The Ground of The Image, trans. by Jeff Fort, New York 2005, 100–107. 10 Jean-Luc Nancy: Démesure Humaine, in: Épokhè 5 (1995), 257–264, hier: 259 f. (Übersetzung T.W.); vgl. ders: Human Excess, in: Being Singular Plural, Stanford 2000, 177–183, hier: 179; ders.: Menschliche Maßlosigkeit, in: Das Gewicht eines Denkens, aus dem Französischen von Cordula Unewisse, Düsseldorf 1995, 111–118. In der deutschen Übersetzung ist die entsprechende Passage nicht enthalten (Anm. T.W.). 11 In diesem Zusammenhang vgl. James Elkins: Six Stories from the end of Representation. Images 9
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Zunächst einmal könnte man sich den Maßstab also diskret nach den Bestimmungen eines seiner nützlichen diskursiven Bezugssysteme denken: Man könnte ihn für eine Angelegenheit halten, die sich auf Konventionen relativer Größe beschränkt, oder man könnte annehmen, dass er einen Sinn für die Erhabenheit des Fotografi schen im Allgemeinen hervorruft. Doch in keiner dieser Annahmen erschöpfen sich die spezifischen Bedeutungen des Begriff s, noch helfen sie uns, seine allgemeine Bedeutsamkeit für die Fotografie zu verstehen. Wie kann man hier also vorgehen?
Das Prinzip der Variation im fotografi schen Spiel der Maßstäbe Das einleitende Zitat von Philippe Boudon unterstreicht das vergleichsweise unerforschte Konzept des Maßstabs. Das Zitat von Paul Ricoeur kennzeichnet die zentrale Bedeutung dieses Konzepts für seine Theoretisierung von Geschichte, Gedächtnis und Vergessen. Hier aber dient es als heuristisches Mittel für einen Vorschlag, wie man den Maßstab als eine Frage für die Fotografie angehen könnte, und zwar angesichts der Tatsache, dass der Maßstab so viele unterschiedliche Bedeutungen auf diesem Gebiet hat: Seine semantische Vielfalt weist darauf hin, was das Konzept des Maßstabs für die Fotografie bedeutet. Tatsächlich behaupte ich, dass die Variation der Bedeutungen des Maßstabs – und nicht ein bestimmter Umstand, ein Phänomen, eine Technik, eine Anordnung oder ein bestimmter Diskurs des Maßstabs allein – von primärer Bedeutsamkeit für die Fotografie ist. Die Aufgabe ist nun, die Implikationen dieser Vorschläge im Hinblick darauf zu entwickeln, was es heißt, den Maßstab zu konzeptualisieren: in diesem Kontext, unter den gegebenen historischen Umständen sowie gemäß dem ›Grundprinzip der Variation‹, das dem fotografi schen ›Spiel der Maßstäbe‹ zugrunde liegt. Der Begriff ›fotografi scher Maßstab‹ mag somit immer eine Konstellation bezeichnen, einen dynamischen Nexus von Verfahren, Phänomenen und Formen, durch den dieses vielf ältige Maßstabspiel materielle Form annimmt. Die Bandbreite des vorgeschlagenen Konzepts zeugt von der grundlegenden Fähigkeit der Fotografie, andere Formen, Praktiken und Diskurse zu berühren und sich von ihnen beeinflussen zu lassen. Es beinhaltet, aber lässt sich nicht beschränken auf das explizite Interesse am Maßstab, das seinen Weg in jüngere Debatten über verschiedene Aspekte der Fotografie gefunden hat – wie etwa mit Fokus auf den imposanten Maßstab in der Kunstgattung des fotografi schen Tableaus,12 auf historiin Painting, Photography, Astronomy, Microscopy, Physics and Quantum Mechanics, 1980–2000, Stanford 2008. Ein alternativer Ansatz, um die Lücke zwischen technischen und kritischen Fragen in der Fotografie zu schließen, fi ndet sich bei Sean Snyder: Optics. Compression. Propaganda, in: Art & Research. A Journal of Ideas, Contexts and Methods 2/1 (2008), http://www.artandresearch. org.uk/v2n1/snyder.html, Zugriff: 30.06.2018. 12 Der zentrale Text für Debatten zum fotografi schen Tableau im Kontext der Gegenwartskunst ist Michael Fried: Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor, aus dem Eng-
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sche Betrachtungen der instrumentellen Anwendungen verschiedener Maßstäbe in, auf und mit Fotografien13 oder auf das globale Ausmaß der vernetzten digitalen Fotografie.14 Innerhalb des vielfältigen Bereichs, den der fotografi sche Maßstab kennzeichnet, fallen drei Aspekte besonders ins Auge. Erstens fassen alle fotografi schen Hervorbringungen in Form eines Bildes Raum und Zeit zusammen und bringen sie in einen Maßstab. Zweitens fi ndet jede Form der Fotografie notwendig eine Art der materiellen Form – wie abgeschwächt oder verstreut auch immer –, und zwar durch das Annehmen eines Maßstabs. Drittens hat die Fotografie nicht nur einen sozusagen gewichtigen geopolitischen Maßstab, sondern ihre geopolitische Bedeutung basiert auf den maßstäblichen Verfahren und Prozessen, innerhalb derer sie sich bewegt und deren Unterstützung sie dient. Der darstellende Charakter der Fotografie als einer visuellen Bildform, Fragen zur Materialität und/oder Immaterialität des fotografi schen Bildes sowie die sich ausweitenden und zunehmend verstärkenden Funktionen der Fotografie innerhalb der globalen Ordnung des Gegenwartskapitalismus stehen in einem Bezug zueinander, der dazu einlädt, sie als Modi des vielfältigen Maßstabs der Fotografie zu konzipieren. Der visuelle Charakter der fotografi schen Darstellung, phänomenologische Begegnungen mit Fotografien und die Tatsache, dass fotografi sche Darstellungen und Phänomenologien sich innerhalb der weltweiten kapitalistischen Ordnung von abstraktem Tausch entfalten, laufen Gefahr, einseitig zu bleiben, wenn man sie nicht anhand des Spiels auff asst, das ihre Vielfalt im und als Maßstab ausmacht. Diese Aussagen müssen jedoch eingeschränkt werden. Am wichtigsten ist hier vielleicht die Feststellung, dass die jüngeren Versuche, die Fotografie als soziale Form in Bezug zum Kapitalismus zu theoretisieren, meines Erachtens richtige Parallelen zwischen den Formen sozialer Abstraktion ziehen, die das soziale Leben bestimmen, und denen, die den digitalen Zustand fotografi scher Bilder charakterisieren. Ein überzeugendes Beispiel ist Peter Osbornes Theoretisierung der solischen übersetzt von Ursula Wulfekamp und Matthias Wolf, München 2014. Vgl. auch meine Analyse in Andrew Fisher: The Involution of Photography, in: Radical Philosophy 157 (2009), 37–46. Für eine kurze, aber scharfsinnige Kritik von Frieds Betrachtung des Tableaus vgl. Michael Lobel: Scale Models, in: Artforum (2010), 256–260. Siehe auch den Beitrag von Steffen Siegel in diesem Heft. 13 Vgl. Marina Benjamin: Sliding Scales. Microphotography and the Victorian Obsession with the Miniscule, in: Cultural Babbage. Technology, Time and Invention, ed. by Francis Spuford and Jenny Uglow, London 1996, 99–122; Lorraine Daston und Peter Galison: Objektivität, aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Krüger, Frankfurt/M. 2007. Viel Aufmerksamkeit haben solche Fragen auch in der jüngeren deutschsprachigen Forschung bekommen, insbesondere bei Thomas Cohnen: Fotografi scher Kosmos. Der Beitrag eines Mediums zur visuellen Ordnung der Welt, Bielefeld 2008; Arthur Engelbert: Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, Bielefeld 2011; sowie in: Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression, hg. von Ingeborg Reichle und Stefan Siegel, München 2009. 14 Vgl. Matthew Fuller: Media Ecologies. Materialist Energies in Art and Technoculture, Cambridge 2005.
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zialen Ontologie des Fotografi schen in seinem intrinsisch historisch-technischen Charakter und seinen sich wandelnden kulturellen Formationen. Er unterscheidet zwischen dem »Ereignis der Aufnahme« und dem »Ereignis der Visualisierung«, um die Besonderheit des digitalen Bildes, inklusive der Fotografie als einer seiner wichtigsten Formen, zu kennzeichnen und sein Verhältnis zu den Arten der Abstraktion und des Tauschs offenzulegen, die zentral für den Kapitalismus sind. So gilt: Im digitalen Bild »fi nden die unendlichen Möglichkeiten für den sozialen Tausch, hervorgerufen von der Abstraktion des Werts vom Nutzen, ihre entsprechende visuelle Form«.15 In dieser Form ist das Leben »nach der Aufnahme« der sich inhärent ›de- und re-realisierbaren‹ technischen Bildvisualisierungen den Launen der unendlichen Austauschbarkeit ausgesetzt: »Mittels der Vielzahl an Visualisierungen macht die Digitalisierung auf den im Wesentlichen de-realisierten Charakter des Bildes aufmerksam. Es ist dieses de-realisierte Bild – in jedem einzelnen Fall von spezifi schen materiellen Vorgängen unterstützt –, das in seltsamer Weise dem ontologischen Status der Wertform ›entspricht‹.«16 Diese Feststellung erlaubt ihm den Entwurf einer entscheidenden Parallele zwischen Bild und Tauschform im Kontext der sozialen Wertabstraktion. Aber sie wirft auch Fragen auf: einerseits nach den vermittelnden Formen, Prozessen und Erfahrungen, die den Raum zwischen Abstraktion und Tausch ausgestalten könnten, andererseits nach den spezifi schen Verwendungen und Bedeutungen fotografischer Bilder. Was verbindet die allgemeine ›Entsprechung‹ zwischen Bild und Wertform mit den vielen verschiedenen Weisen, auf die »jeder einzelne Fall« des Fotografi schen »von spezifi schen materiellen Vorgängen unterstützt« wird? Das hier dargestellte Konzept des fotografischen Maßstabs soll Licht in dieses Dunkel bringen.
Maße des Maßstabs in der Fotografi e Man kann nun einen Schritt zurücktreten, um diese Thesen in den Kontext verwandter Diskurse über den Maßstab, seinen Gebrauch in und seinen Nutzen für die Fotografie zu stellen. Allgemein bezeichnet der Maßstab relative Größe, Ausmaß, Grad oder Proportion sowie die Anwendung eines Standards der Berechnung. Dies erfordert immer, Dinge auf gewisse Weise in Verhältnis zueinander zu setzen, und oftmals auch, Hierarchien zwischen ihnen herzustellen. Der Maßstab bezieht sich auf Apparate oder Messsysteme: die abgestuften Markierungen auf einem Band oder Lineal, die zur Messung von Abständen und Größenverhältnissen genutzt werden; die gleichmäßig aufgeteilten Gitternetzlinien einer Karte oder eines Plans, die die Ermittlung von Flächenverhältnissen und Entfernungen erlauben; das Verhältnis zwischen einem Modell und der Realität, die es darstellt oder abbildet.
15 16
Osborne: Infinite Exchange, 67 (Übersetzung T.W. und A.W.). Ebd. [Hervorhebung im Original].
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Die Geografie lehrt uns, dass der Maßstab eine sozial konstruierte Dimension der Räumlichkeit ist und dass Maßstäbe aus Prozessen ungleicher Verteilung und politischer Konfl ikte hervorgehen: »Geographische Maßstäbe sind sowohl der Rahmen als auch das Resultat des Kampfes um die Kontrolle über den sozialen Raum.«17 In Debatten über die Geopolitik des Maßstabs hat dieses Konzept zahlreiche kritische Abwandlungen erfahren: von scheinbar ineinander verschachtelten Maßstäben – von Körper zu Familie, lokal zu national, regional zu global – über jene Momente, wenn soziale Akteure zwischen bestehenden Maßstäben der sozialen Organisation hin und her ›springen‹, bis hin zu der Frage, ob der geografi sche Maßstab überhaupt ein geeignetes Werkzeug für die Erforschung des heutigen gesellschaftlichen Lebens ist.18 Diese kritischen Weiterentwicklungen gelten auch für die Fotografie. Sie prägen unser Verständnis der globalisierten Form der Fotografie und ihrer gesellschaftlichen Prozesse. Doch andere fotografi sche Aspekte des Maßstabs wehren sich dagegen, die Bedeutung des Begriffs im geografi schen Maßstab zu erschöpfen. Auch die veränderbaren relativen Dimensionen von Dingen, die wir körperlich wahrnehmen, können im Hinblick auf den Maßstab betrachtet werden. Dinge treten aus den Tiefen der Umgebung als Sinneserfahrung hervor, die entsprechend dem aufgebaut ist, was Maurice Merleau-Ponty als »Raumniveaus« der Beteiligung und Bedeutung bezeichnet hat.19 Doch diese phänomenologischen Dimensionen sind auch von den technischen Prozessen, Formen und Verwendungsweisen geprägt, mit denen die Fotografie etwa den sozialen Raum ausfüllt, die Alltagserfahrung beeinflusst und das körperliche Verhalten in global vernetzte Kontexte einbettet. Diese Feststellung veranschaulicht eine Spannung zwischen dem Maßstab als kalkulierbarer Abstraktion und der Vorstellung, dass maßstäbliche Phänomene
Erik Swyngedouw: The Mammon Quest. ›Glocalisation‹. Interspatial Competition and the Monetary Order: The Construction of New Scales, in: Cities and Regions in the New Europe, ed. by Mick Dunford and Grigoris Kaf kalas, London 1992, 39–68, hier: 60 (Übersetzung T.W. und A.W.). 18 Vgl. etwa Neil Smith: Uneven Development. Nature, Capital and the Production of Space, London 1984; Neil Brenner: Between Fixity and Motion. Accumulation, Territorial Organisation, and the Historical Geography of Spatial Scales, in: Society and Space 16/4 (1998), 459–481; Scale & Geographic Inquiry. Nature, Society, and Method, ed. by Eric Shepherd and Robert McMaster, Malden and Oxford 2004; Andrew Herod: Scale, London and New York 2011; Denis Cosgrove: Geography and Vision. Seeing, Imagining and Representing the World, London 2008. Explizite Studien zur Beziehung zwischen Geografie und Fotografie gibt es relativ wenige, die aber betonen meist die fotografi sche Konstruktion des Orts, wie etwa Picturing Place. Photography and the Geographical Imagination, ed. by Joan Schwartz and James Ryan, London and New York 2003. Vgl. dagegen New Geographies IV. Scales of the Earth, ed. by El Hadi Jazairy, Cambridge 2011. 19 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm, Berlin 1966, 290–294; sowie ders.: Das Sichtbare und das Unsichtbare: gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. von Claude Lefort, aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 1994, 287 f. Vgl. auch Alphonso Lingis’ Neuformulierung von Merleau-Pontys Begriff der »Wahrnehmungsniveaus«, in: The Imperative, Bloomington and Indianapolis 1998, 25–40. 17
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ihren Sinn letztlich in axiomatischem Bezug zu den Fähigkeiten und Werten des menschlichen Körpers fi nden.20 Die Fotografie konkretisiert räumliche und zeitliche Beziehungen zwischen Dingen innerhalb von grundsätzlich variablen Rahmen, deren Horizonte stets skaliert sind und prinzipiell offen für Reskalierun bleiben. Jede fotografi sche Darstellung oder visuelle Erfahrung wird kontextualisiert, man könnte auch sagen strukturiert, durch die anderen möglichen Maßstäbe, anhand derer sie hätte realisiert werden können – und immer noch realisiert werden kann. Die fotografi sche Vermittlung zwischen tatsächlichen Größenverhältnissen und realen Dingen war schon immer an solch wechselnde maßstäbliche Möglichkeiten gebunden und an deren Verknüpfung diskursiver, phänomenologischer, technischer und sozialer Prozesse in variablen Dimensionen. Sie hielt auch stets das Versprechen – und/oder barg die Gefahr –, den ›natürlichen‹ Charakter verkörperlichter Erfahrung und die ›realen‹ Dimensionen der Dinge in technisch kontingenter und radikal veränderlicher Weise abzubilden. Und ebendieser Aspekt der Fotografie ist bestimmend für ihren Beitrag zu jener Natur und jener Realität, zu deren wesentlichem Bestandteil sie geworden ist. Von Anfang an beheimatete die Fotografie ›skalare Verheißungen‹, dass sie etwa kleine, große, ferne und verborgene Dinge in die Reichweite der menschlichen Wahrnehmung rücken könnte. Sie erwies sich aber auch in anderen Bereichen als nützlich, die – ebenfalls um die Festlegung von Maßstäben bemüht – ›skalierte Ungerechtigkeiten‹ beinhalten. Die Entwicklung dieser zusammenhängenden Diskurse der Fotomessung beruhte auf der Etablierung zunehmend umfassender, zunehmend manipulierbarer und analysierbarer fotografi scher Perspektiven. Fotografie bedeutet auch die Erschaff ung skalierbarer Räume ›innerhalb‹ des Bildes. Dies gilt für jegliche fotografische Darstellung, unterstützt aber auch eine Vielzahl spezieller Strategien der Fotomessung. Zum Beispiel die vielen Projekte, die sich der fotografi schen Untersuchung und Vermessung der Welt angenommen haben – im ethnografi schen, archäologischen, geografi schen oder geologischen Sinn –, und die Darstellungsverfahren, die sie zur Bestimmung von Größenverhältnissen angewendet haben: auf Felsformationen gelegte Lineale,21 neben Pyramiden stehende Vgl. etwa Mary Ann Doanes Behauptung dieser Sichtweise: »Der Maßstab kann als Konzept überhaupt nur durch seinen Bezug zum menschlichen Körper verstanden werden« (Mary Ann Doanes:The Close-up. Scale and Detail in the Cinema, in: Diff erences. A Journal of Feminist Cultural Studies 14/3 (2003), 89–111, hier: 108 (Übersetzung T.W.). 21 Das vielleicht ikonischste Beispiel einer Fotografi e dieser Art ist Timothy O’Sullivans South Side of Inscription Rock, New Mexico von 1873. Vgl. Françoise Heilbrun: Die Reise um die Welt. Forscher und Touristen, in: Neue Geschichte der Fotografi e, hg. von Michel Frizot, Köln 1998, 148–166. Vgl. auch Mary Warner Mariens Betrachtung in Topological Surveys and Photography, in: Photography. A Cultural History, London 2002, 115–131; und die kanonische historische Einordnung solcher Praktiken bei Beaumont Newhall: Die Geschichte der Fotografi e, München 1998, 87–120. Als Beispiel für kritische Entgegnungen zur historischen Einordnung von O’Sullivan und verwandten Praktiken vgl. auch Rosalind Krauss: Die diskursiven Räume der Fotografi e, in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam 2000, 175–196. 20
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Fremdenführer, vor einen gerasterten Hintergrund gestellte Personen als Gegenstände eines ethnografi schen Blicks. Es handelt sich hier um skalierte Abstraktionen, die nach Regeln organisiert sind, die dem selbstverständlich erscheinenden fotografi schen Maß im Bild selbst liegende, aber dessen Darstellungsrahmen überschreitende, widersprüchliche Bedeutungen verleihen.22 Fragen bezüglich Maßstab und Skalierung, ihrer verschiedenen Formen und Anwendungsweisen sind in der Fotografie offensichtlich und waren ein wiederkehrendes, wenn auch merklich verhaltenes Anliegen ihrer kritischen und theoretischen Diskurse. Der Maßstab ist beispielsweise zentral in Walter Benjamins einflussreicher Konzeption der fotografischen Reproduktion, der räumlichen und zeitlichen Ausgedehntheit von Großaufnahme und Zeitlupe und besonders des von der Kamera hervorgebrachten »Optisch-Unbewussten«, einem Begriff , der ausdrücklich als Maßstabseffekt charakterisiert wird: »Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man ›ohnehin‹ undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte.« 23 Susan Sontags missmutige Einschätzung der Massenform der Fotografie bemüht sich, ein Set von eng verbundenen maßstäblichen Problemen auf eine Weise zu verstehen, die die materiellen Modi, darstellenden Funktionen, ästhetischen Effekte und weltumspannenden Kulturen des fotografi schen Bildes verknüpft: »Fotografi sche Bilder aber scheinen nicht so sehr Aussagen über die Welt als vielmehr Bruchstücke der Welt zu sein: Miniaturen der Realität, die jedermann anfertigen oder erwerben kann. Fotografien, die am Maßstab der Welt herumbasteln, werden ihrerseits verkleinert, vergrößert, beschnitten, retuschiert, manipuliert, verf älscht.« 24 Was zuvor als die unveränderlichen Eigenschaften der Beständigkeit und Vergangenheit (pastness) einer Fotografie gegolten haben mochte, wurde ins Wanken gebracht, etwa durch Kameras, die es einem ermöglichen, Bildeinstellungen nach dem Ereignis der Aufnahme zu ändern. Explizit dazu gemacht, maßstäblich ›verfälscht‹ zu werden, wird das »Optisch-Unbewusste« der Fotografie Für eine Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen des Maßstabs in den Sozialwissenschaften vgl. Clark Gibson u.a.: Scaling Issues in the Social Sciences: A Report for the International Human Dimensions Programme (IHDP) on Global Environmental Change, IHDP Working Paper 1, Indiana University, Bloomington 1998; Darrel G. Jenerette and Jianguo Wu: On the Definition of Scale, in: Bulletin of the Ecological Society of America 81/1 (2007), 104–105; J. A. Weins: Spatial Scaling in Ecology, in: Functional Ecology 3/4 (1989), 385–397. Chunglin Kwa beschreibt die Geschichte der bildgebenden Verfahren, die die Entwicklung der Ökologie als Wissenschaft angekündigt und teilweise geprägt haben, mit Betonung auf deren ambivalentem Verhältnis zur Luftbildfotografie. Vgl. Chunglin Kwa: Painting and Photographing Landscapes. Pictorial Conventions and Gestalts, in: Confi gurations 16 (2008), 57–75. 23 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/M. 1974, 471–508, hier: 500. 24 Susan Sontag: Über Fotografie, aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, München und Wien 1989, 10. 22
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so mit der Möglichkeit versehen, das Ereignis und die Funktionen der bildlichen Urheberschaft auszuweiten. Aus Sicht der Phänomenologie fi nden die Rhythmen der fotografi schen Einwirkung auf die Subjektivität ein maßstäbliches Ventil in Roland Barthes Die helle Kammer. Seine eidetische Reduktion der normativen Gebräuche der Fotografie stützt sich auf eine Reihe verkörperter Handlungen – kleine Momente transformativer Kopplung zwischen der Privatheit des Affekts und der banalen Enormität fotografi scher Kultur –, die zwischen Acedia und starkem Affekt schwanken und dabei die ekstatische Zeitlichkeit der Fotografie widerspiegeln: »Ich blätterte in einer illustrierten Zeitschrift. Ein Photo hielt mich fest«, 25 bringt etwa einen solchen Antrieb zum Ausdruck. Barthes’ feinsinnige Verbindung des Affekts mit der fotografi schen Zeitlichkeit hat in vielerlei Hinsicht nicht an Überzeugungskraft verloren, doch ihre heutige Resonanz wird erschwert durch die oben beschriebene Aufweichung seiner – immer tendenziösen – Radikalisierung der realistischen visuellen Effekte der Fotografie. Vilém Flussers Beschreibung der Fotografie als Inbegriff des technischen Bildes behandelt den fotografi schen Apparat als eine programmierte Modalität der sozialen Produktion von Raum. Die in Kameras eingebetteten raumzeitlichen Skalierungsvorgänge strukturieren die Kopplung zwischen fotografi schem Apparat, Anwender und Welt: eine Beziehung, in der der Apparat bekanntlich die Oberhand hat. Matthew Fuller beschreibt es treffend: »Hier werden Wiederholungen multiskalarer Beziehungen von Kausalität und gegenseitiger Durchdringung Schicht für Schicht aufgebaut. Basis und Überbau, durch ein Kaleidoskop geschossen. Programme und Metaprogramme werden nie als klar unterschieden defi niert. Die Beziehung ist lediglich eine des Maßstabs oder der Anordnung.« 26 Die Anwendung technischer und wissenschaftlicher Konzepte prädeterminiert den fotografi schen Apparat als ein Werkzeug zur symbolischen Schematisierung von Raum und Zeit. Der Apparat beschränkt die individuellen Freiheiten und Bedeutungen, die traditionell mit dem Herstellen und Betrachten von Bildern assoziiert werden. Dies ruft Flussers Kritik der technischen Bildkultur hervor und schärft ihre raumzeitlichen Konturen: »Die Geste des Fotografen als Suche nach einem Standpunkt einer Szene gegenüber verläuft innerhalb der vom Apparat gebotenen Möglichkeiten. Der Fotograf bewegt sich innerhalb von spezifi schen Raum- und Zeitkategorien der Szene gegenüber: Nah- und Fernabständen, Vogel- und Froschperspektiven, Frontal- und Seitenansichten, Kurz- und Langexpositionen und so weiter. Die ›Gestalt‹ der die Szene umhüllenden Raumzeit ist für den Fotografen von den Kategorien seines Apparats vorgeformt. Diese Kategorien sind für ihn a priori. Innerhalb dieser Kategorien muss er sich ›entscheiden‹: auf den Auslöser drücken.« 27 25 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografi e, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt/M. 1989, 31. 26 Matthew Fuller: Media Ecologies 2 (Übersetzung T.W. und A.W.). 27 Vilém Flusser: Für eine Theorie der Techno-Imagination, in: ders.: Standpunkte. Texte zur Fotographie, hg. von Andreas Müller-Pohle, Göttingen 1998, 8–16, hier: 12.
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Man könnte dies als eine charakteristische Form des fotografi schen Maßstabs verstehen: seine Trennung zwischen dem »menschlichen« Quotienten der Vorstellungskraft und den bedeutsamen Erfahrungen, die der visuellen Kultur zugeschrieben werden. Für Flusser ist diese Dissoziation eine zentrale Wahrheit des Zeitalters der technischen Bilder und somit Quelle kritischer Potentiale, die entscheidenden Einfluss auf dieses Zeitalter gewinnen könnten. Betrachtet man die Geschichte der fotografi schen Theorie etwas breiter, wird deutlich, dass sie von einem verhaltenen Interesse für den Maßstab durchzogen ist, das in der Regel nur auftaucht, um den Rahmen für weitere Fragen und Probleme zu bilden. Darin liegt eine implizite Wahrheit, denn der Maßstab bildet tatsächlich den Rahmen für die anderen Fragen und Probleme der Fotografie, und zwar buchstäblich. Allerdings tut er dies in substanziellerer Weise, als bisher anerkannt wurde.
Die Konstellation des fotografi schen Maßstabs In Anbetracht dieser impliziten und expliziten Spuren des Maßstabs, die sich in der Fotografie aufspüren ließen, könnte man abschließend und als Ausgangspunkt für eine Konzeptualisierung des fotografi schen Maßstabs eine Trivialität beobachten: Es gibt einfach keine Fotografie ohne ihn. Das heißt, es gibt keine Form der Fotografie, ohne dass eine Vielfalt maßstäblicher Beziehungen am Werk ist, die als materielle, konzeptionelle und phänomenologische Horizonte dienen, in denen Fotografien produziert, verbreitet und konsumiert werden können. Genau genommen sind in jeder Form und in jedem Ereignis der Fotografie immer multiple, einander überlagernde maßstäbliche Vorgänge und skalierte Prozesse am Werk. Diese erstrecken sich von der mathematischen und wissenschaftlichen Herleitung technischer Maßstäbe über ihre Anwendung in Design und Betrieb von fotografi schem Equipment; sie umfassen die räumlichen und zeitlichen Möglichkeiten, die derart konstruierte Apparate bieten, und die Art und Weise, wie dies die Bedingungen für mögliche Entscheidungen und Handlungen bei ihrem Gebrauch vorgibt; sie beinhalten die ästhetischen Erfahrungen, die von jeglichen hieraus entstandenen Fotografien hervorgerufen werden können, sowie die Gebrauchsmöglichkeiten, die Fotografien als materielle Objekte bereithalten können; und sie umgreifen die institutionellen, kommerziellen und geopolitischen Interessensphären, in denen solche Gebrauchsweisen und Begegnungen sich ergeben können oder nicht. Eine veränderliche Konstellation von verschiedenen Bedeutungen und Anwendungen von Maßstab, Skalierung und Skalierbarkeit ist immer – und ich behaupte: notwendig – präsent in jeglichen und allen Fotografien. Während in diesem Kontext auf jeder einzelnen Ebene eine bestimmte, den Maßstab betreffende Frage dominant scheinen mag, sind zugleich auch andere am Werk. Man könnte auch sagen: Latente Bedeutungen des Maßstabs verfolgen stets die manifeste, um sie zu ergänzen. Oder, um eine musikalische Analogie zu wa-
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gen: Die latenten schwingen in der dominanten als deren Unter- oder Obertöne mit. Und diese Verhältnisse verändern und verschieben sich von Fall zu Fall, Begegnung zu Begegnung, Übertragung zu Übertragung als miteinander vermengte Maßstäbe, die sich auf allen Ebenen auf die Herstellung und Erfahrung von Fotografie auswirken. Das vielfältige Spiel, das für den fotografischen Maßstab charakteristisch ist, offenbart dessen Gestalt als eine komplexe und wandelbare, dabei dennoch konkrete Matrix von weitgehend sozialen, phänomenologischen und technischen Modalitäten des Fotografi schen. Eines der bestimmenden Merkmale dieser Auff assung des fotografischen Maßstabs ist die von ihr hervorgehobene Beziehung zwischen besonderen und allgemeinen Aspekten der Fotografie. Die vielfältige Vermengung von Maßstäben, die sich durch jeden einzelnen Moment, jedes Ereignis oder Objekt der Fotografie zieht, tut dies in einer Weise, die jegliche Formen, Anwendungen oder Objekte der Fotografie betreffen könnte. Dennoch ist der fotografi sche Maßstab eben als solcher immer auch konkret und spezifi sch in jenem besonderen Moment der Fotografie, der gerade betroffen ist. Auf diese Weise suggeriert der fotografi sche Maßstab seinen möglichen ontologischen Status. Doch im Gegensatz zu anderen, gemeinhin auf die Fotografie projizierten ontologischen Kategorien, bleibt der allgemeine Sinn des fotografischen Maßstabs eng verschlungen mit der detaillierten Spezifität der verschiedenen Momente und unterschiedlichen Verwendungen der Fotografie. Maßstäbliche Vorgänge und Phänomene sind auf den verschiedensten Ebenen zentral für verschiedenste fotografi sche Prozesse, deren Verwendungen und die sie umrahmenden Diskurse. Doch eine grundlegende Funktion aller Formen der Fotografie ist auch die Registrierung des scheinbaren räumlichen und zeitlichen Zustands der Dinge und ihre Fixierung in einem bestimmten Maßstab und anhand einer Kombination aus vorgesehenen und vorhergesehenen Maßstäben. Dies hat im Wesentlichen zur Folge, dass man in der Fotografie niemals »Raum« oder »Zeit« begegnet – ebenso wenig wie übrigens Orten, Dingen, Momenten oder Ereignissen – außer durch ein Zusammenspiel verschiedener Prozesse, die hervorstechenden äußerlichen Merkmalen in der mehr oder weniger dauerhaften, aber auch veränderlichen Form eines Bildes einen Maßstab geben. Wenn das Skalieren in diesem Sinn eine grundlegende Funktion der Fotografie ist – sozusagen der innere Horizont der Fotografie als Bild –, dann sind Fotografien aller Art auch prinzipiell den Ansprüchen dessen unterworfen, was man umgekehrt ›äußere Horizonte‹ nennen könnte, die das Skalieren und Reskalieren von Fotografien umfassen. Jede Realisierung einer Fotografie anhand ihrer speziellen Maßstäbe ist in einen Horizont anderer, nicht – oder noch nicht – verwendeter Maßstäbe einbeschrieben. Maßstäbliche Beziehungen sind somit zu einem dringenden Anliegen für das Verständnis von fotografi schen Bildern und ihrer Verwendungen geworden. Wenn man also verstehen möchte, auf welche Weise fotografi sche Bilder die widerspenstige, heterogene und volatile visuelle Welt der Gegenwart konstruieren helfen, ist
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es zwingend erforderlich, die Konstellationen von Maßstab, Skalierung und Skalierbarkeit zu verstehen, die in diesen Bildern zu fi nden sind und durch die diskursiven Kontexte, aus denen sie hervorgehen.
Jeff Wall und das Politische Zur Gegenwart des fotografischen Großtableaus Steffen Siegel
Über die 14. Ausgabe der »documenta«, die im Jahr 2017 in Athen und Kassel veranstaltet worden ist, waren sich die Kritikerinnen und Kritiker des internationalen Kunstbetriebs erstaunlich einig. Um es zurückhaltend zu formulieren: Einen leichten Stand hatte die von Adam Szymczyk und seinem Team kuratierte Ausstellung nicht. Die unerfreulichen Urteile reimten sich auf Wörter wie langweilig, missglückt, prätentiös, besserwisserisch, bevormundend und überambitioniert.1 Dabei mochten manche der kuratorischen Gesten bereits von früheren Ausgaben der »documenta« vertraut sein – etwa die lange schon übliche Besiedlung des Kasseler Stadtraums mit großformatigen Skulpturen und Installationen oder die spätestens seit 2002 nicht mehr zu hintergehende globale Perspektive bei der Auswahl von beitragenden Künstler*innen. Anderes war demgegenüber (beinahe) 2 neu: insbesondere die Aufteilung der Ausstellung auf zwei verschiedene Städte oder auch das Gastspiel einer musealen Sammlung im traditionellen Hauptgebäude der »documenta«, dem Fridericianum. Bei aller erhobenen Kritik und schließlich auch angesichts der nachträglichen, wegen eines fi nanziellen Defi zits betriebenen Skandalisierung der 14. »documenta« kann eines jedoch leicht übersehen werden: wie nebensächlich jene Rolle war, die die Fotografie als künstlerisches Medium auf dieser Ausstellung spielte. Natürlich gab es auch 2017 hier und da fotografische Arbeiten zu sehen, auf den Zusammenhang des Ganzen gerechnet, handelte es sich bei solchen Auftritten jedoch um kaum mehr als marginale Beiträge. Dass dies nicht immer so war, ja mehr noch: dass gerade der Einzug der Fotografie und mit ihr überhaupt der technischen Bildmedien für die Serie der Kasseler Kunstausstellungen einmal eine erhebliche Zäsur markiert hat, wird schon anhand des Beinamens deutlich, den die sechste Ausgabe von 1977 führt: »Mediendocumenta«.3 Die kuratorische Initiative verdankte sich seinerzeit nicht zuletzt 1 Siehe stellvertretend für die Vielzahl solcher Urteile die Sammlung von sechs Kritiken im Merkur 71 (2017), Heft 821. Es handelt sich um das Oktober-Heft der Zeitschrift, das also im Monat nach dem Ende der »documenta« erschienen ist – auch zeitlicher Abstand hat, wie es scheint, für dieses Mal die kritischen Stimmen nicht beruhigen können. 2 In den Besprechungen zur »documenta 14« wurde oft genug übersehen, dass bereits die von Carolyn Christov-Bakargiev kuratierte Vorgängerausgabe an mehreren als ›Satelliten‹ bezeichneten Ausstellungsorten außerhalb Europas präsent war: in Afghanistan (Kabul und Bamiyan), in Ägypten (Alexandria und Kairo) sowie im kanadischen Banff. 3 documenta 6, Kassel 1977, Bd. 2: Fotografi e, Film, Video. Kunstforum International, Bd. 22 (1977): 150 Jahre Fotografi e III. Dieser Band erschien auch als erweiterte Sonderausgabe: Klaus Honnef: 150 Jahre Fotografi e, Frankfurt/M. 1977.
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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einem Jahrestag: 1977 jährten sich die ersten erfolgreichen Kameraversuche des Fotopioniers Nicéphore Niépce zum 150. Mal.4 Hierbei handelt es sich um mehr als eine kalendarische Anekdote. Denn tatsächlich war die von Klaus Honnef und Evelyn Weiss verantwortete Abteilung zur Fotografie in ganz erheblichen Teilen nicht zeitgenössisch ausgerichtet, sondern vielmehr historisch: Zu sehen waren daher gleichermaßen Arbeiten von Julia Margaret Cameron und Robert Mapplethorpe, von Hugo Erfurth und Jürgen Klauke, von Walker Evans und Katharina Sieverding etc. Fotografie, so scheint es, ließ sich nur dann im Kontext einer Ausstellung zur Gegenwartskunst zeigen, wenn diese Idee genealogisch abgesichert wurde.5 Doch erlebte die künstlerische Fotografie in den darauffolgenden Jahren in vielfachem Sinn eine rasante Entwicklung.6 Ablesen ließ sich dies im Jahr 1982 anlässlich der nächsten, von Rudi Fuchs kuratierten siebten »documenta«. Anhand von zwei fotografi schen Arbeiten – »Double Self-Portrait« und »A Woman and Her Doctor« – wurde dem Publikum ein Künstler vorgestellt, von dem zu diesem Zeitpunkt gewiss noch nicht jeder gehört haben dürfte: der aus dem kanadischen Vancouver stammende Fotograf Jeff Wall.7 Vielleicht werden sich seinerzeit die Besucher*innen in Kassel über die durchaus eigentümlichen Sujets gewundert haben. Doch gewiss noch mehr überrascht haben dürfte die von Wall für seine Bilder gewählte Präsentationsform. Nicht allein waren sie mit einem Format von 172 × 229 cm sowie 100,5 × 155,5 cm bemerkenswert groß.8 Montiert in voluminöse, in den Ausstellungsraum hineinragende Boxen und rückseitig durch eine Lichtquelle beleuchtet, gewannen diesen Großbild-Dias mit ihrer intensiv ausstrahlenden Farbigkeit eine eigentümliche Präsenz (Abb. 1). Diese von Wall in Anlehnung an Werbemedien entwickelte Präsentation in Leuchtkästen sollte er erst 2007 wieder aufgeben – zu einem Zeitpunkt, da solche »lightboxes« längst schon zu seinem Markenzeichen aufgestiegen waren. Eine weitere »documenta« später, nun handelte es sich um die 8. Ausgabe von 1987,9 hat sich Wall hinsichtlich des von ihm gewählten Bildformats noch einmal beträchtlich überboten: Die äußeren Maße von 229 × 437 cm scheinen dem wuchtigen archiJedenfalls werden diese ersten erfolgreichen Versuche von Niépce traditionell auf 1827 datiert. 5 Im Übrigen wurde hierbei eine kuratorische Formel aufgegriffen, die sich bereits im frühen 20. Jahrhundert etabliert hatte. Siehe z.B. Francesco Zanot: The Film und Foto Exhibition of 1929, in: Photoshow. Landmark Exhibitions That Defined the History of Photography, hg. von Alessandra Mauro, London 2014, 128–147. 6 Steffen Siegel: Rückkehr nach Photophilia. Ortsbestimmungen der Fotografi e, 1970–1990, in: Die Neuerfindung der Fotografi e. Hans Danuser – Gespräche, Materialien, Analysen, hg. von Hans Danuser und Bettina Gockel, Berlin und Boston 2014, 243–263; Abigail Solomon-Godeau: The Big Picture: Photography, Photographic Discourse, and Photographic History: c. 1970s–1990s, in: ebd., 273– 281. 7 documenta 7, Kassel 1982, Bd. 2, 350–351. 8 Für die bis 2004 entstandenen Arbeiten folge ich mit meinen Angaben: Jeff Wall: Catalogue Raisonné 1978–2004, hg. von Theodora Vischer und Heidi Naef, Göttingen 2005. 9 documenta 8, Kassel 1987, Bd. 2, 270 –271. 4
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Abb. 1: Jeff Wall: »The Destroyed Room« (1978), 159 × 234 cm und »Double Self Portrait« (1979), 172 × 229 cm. Installationsansicht National Gallery of Victoria, Australien, 2012–2013.
Abb. 2: Jeff Wall: »Passerby« (1996), 250 × 339 cm.
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tektonischen Motiv der rechten Bildhälfte von »The Storyteller« durchaus angemessen zu sein. Die den Werktitel motivierende Figur hingegen verliert sich in der linken unteren Ecke. Den fraglos größten Auftritt hatte Jeff Wall aber zehn Jahre später. Auf der von Catherine David 1997 kuratierten »documenta X« ist er mit nicht weniger als sieben Arbeiten vertreten, die (von einer Ausnahme abgesehen) zu diesem Zeitpunkt allesamt nicht älter als zwei Jahre waren (Abb. 2). Dass dabei in den fünf größten und zugleich den fünf jüngsten Arbeiten – sie alle entstanden 1996 – auf jede Farbigkeit verzichtet wurde, dürfte auch Kenner*innen von Walls Œuvre überrascht haben. Angezeigt war hiermit jedoch kein wirklicher ästhetischer Paradigmenwechsel, wie spätestens noch einmal fünf Jahre später deutlich wurde, als sich Wall an der 11. »documenta« von 2002 mit seinem soeben fertig gestellten Bild »After ›Invisible Man‹ by Ralph Ellison, the Prologue« beteiligte. Einerlei in welchen Medien sie arbeiten, nur wenige Künstler und noch weniger Künstlerinnen wurden seit Beginn der 1980er Jahre mit solcher Kontinuität zur »documenta« eingeladen wie Jeff Wall.10 Gewiss lassen sich die Kasseler Großausstellungen nicht zum Maß aller Dinge nehmen. Dennoch konnte noch jüngst behauptet werden: »Jeff Wall ist der einflussreichste Fotograf des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.«11 Dass Wall nach 2002 in Kassel nicht mehr mit eigenen Arbeiten vertreten war, wird für sich genommen wenig Aussagekraft besitzen. Doch fällt es zugleich bemerkenswert schwer, die von ihm entwickelte Fotoästhetik mit jenen kuratorischen Konzepten in Zusammenhang zu bringen, wie sie etwa für die 14. »documenta« leitend gewesen sind. Es ist sicher nicht zu viel spekuliert: Hätte man Wall 2017 tatsächlich noch einmal zur »documenta« eingeladen, sein möglicher Beitrag wäre im Kontext dieser Ausstellung wohl wie ein Fremdkörper aufgetreten. Im Eindruck wechselseitiger Fremdheit, den ein solches Gedankenexperiment erzeugt, zeichnet sich eine Verschiebung ab, die das Feld der Gegenwartskunst mit ganzem Nachdruck erfasst hat. Die von Szymczyk und seinem Team 2017 vertretene Konzeption hat auf die Grundsatzfrage nach Formen und Funktionen künstlerischer Zeitgenossenschaft12 eine Antwort gegeben, die – ohne dies selbst so zu benennen – auf eine Erneuerung des Konzept engagierter Kunst hinausläuft. Es ist symptomatisch, wie oft in den Kritiken zur 14. »documenta« betont wurde, der Besuch dieser Ausstellung sei auf eine Konfrontation mit Meinungen statt mit Kunstwerken hinausgelaufen. Doch ist dies – so ließe sich entgegnen – tatsächlich ein Gegensatz? Es handelt sich hierbei um einen Umstand, auf den er nicht ohne Stolz in einem jüngeren Katalog ausdrücklich hinweisen lässt: Jeff Wall: Transit, hg. von Ulrich Bischoff und Mathias Wagner, München 2010, 133. 11 Stefan Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures, München 2016, 7. Nur wenig abgeschwächter heißt es bei Stefan Banz: »Die Kunstkritik bezeichnet Jeff Wall einmütig als einen der hervorragendsten und begabtesten Fotografen der Gegenwartskunst.«, Stefan Banz: Jeff Wall: Mit dem Auge des Geistes, Nürnberg 2014, 4. 12 October Nr. 130 (Herbst 2009), Questionnaire »The Contemporary«, What Is Contemporary Art?, hg. von Julieta Aranda, Brian Kuan Wood und Anton Vidokle, Berlin 2010. 10
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Unabhängig von der Antwort, die man hierauf zu geben bereit ist, und insbesondere auch weit über den Kontext der jüngsten »documenta« hinaus wird eines deutlich: Die Idee des Politischen ist (einmal mehr) in den Mittelpunkt der Kunstsphäre gerückt. Es ist dabei offenkundig, wie sehr sich in der Verbindung von künstlerischer Praxis und politischer Subjektivität der Wahrnehmungshorizont von Zeitgenossenschaft insgesamt verschoben hat. Der ästhetische Werkprozess, das Kuratieren und Ausstellen, nicht zuletzt aber auch die Aneignung von Kunstwerken im Akt der Rezeption lassen sich in diesem Sinn als politische Handlungsweisen verstehen, die auf die Vielfalt gesellschaftlicher Bruchlinien hin ausgerichtet sein sollen. »Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?«, hatte Jörg Immendorff bereits 1973 in seinem gleichnamigen Gemälde gefragt und den angesprochenen Malerkollegen aus den ›Ismen‹ der modernistischen Kunst reißen wollen.13 Längst schon hat sich der Adressatenkreis einer solchen Ansprache beträchtlich erweitert: Mit der Handlungsbereitschaft des Publikums wird im Kontext von Ausstellungen zur Gegenwartskunst in vielfachem Sinn gerechnet.14 Bemerkenswert bleibt hierbei jedoch ein Prozess, der sich derzeit im Feld der bildenden Künste beobachten lässt: Auch eine forciert als politisch verstandene Kunst muss, um wirksam sein zu können, sich mit formalen Problemen auseinandersetzen. In diesem Sinn konnte nicht zuletzt die 14. »documenta« in ihrer Gesamtheit als ein Feldversuch verstanden werden: Wie lassen sich für unsere eigene Zeit und in politischer Hinsicht spezifisch künstlerische Stile ausbilden, die auf Recherche und Dokumentation, Darstellung und Argumentation, nicht zuletzt aber auch Kritik und Protest angewendet werden können?15 Nicht allein die inzwischen formulierte Kritik an einer neuerlich nicht anders als selbstgenügsamen »art politique pour l’art politique«16 verdeutlicht, wie schwer es ist, die Logiken des in der Moderne etablierten und auf eine kapitalistische Ökonomie hin ausgerichteten Kunstbetriebs zu überwinden. Zur Legitimation des künstlerischen Handelns einer »art politique« wird mit dem Begriff der Relevanz überdies ein Konzept wesentlich, das eine beträchtliche Re-Ideologisierung des Kunstfeldes herbeiführt. Im engeren Sinne politische Themen – die Kritik des Kapitalismus etwa, Fragen zu Ökologie, (Post-)Kolonialismus oder Migration – bilden dabei einen eher nachgeordneten Grund zur Auseinandersetzung. Die Vielfalt möglicher Schattierungen eingerechnet, scheint hierüber im Kunstfeld weit reichende Einigkeit zu herrschen. Bedeutend strittiger sind demgegenüber Fragen der richtigen, das heißt geeigneten Kommunikations- und Handlungsweisen, um 13 14
Helmut Draxler: Wo stehst du, Kollege?, in: Texte zur Kunst 21 (2011), Heft 81, 116–120. Wolfgang Kemp: Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst, Konstanz
2015. 15 Hito Steyerl: The Articulation of Protest, in: dies.: The Wretched of the Screen, Berlin 2012, 77–91; Michael Taussig: I’m so Angry I Made a Sign, in: Critical Inquiry 39.1 (Herbst 2012), 56–88; Artivismus. Kunst und Aktion im Alltag der Stadt, hg. von Lilo Schmitz, Bielefeld 2015. 16 Larissa Kikol: Nett geknebelt. Zur Schalldichte der »L’art politique pour l’art politique«, in: Kunstforum International 254 ( Juni–Juli 2018), 46–61.
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jene Wirksamkeit erzielen und sichern zu können, die im Zentrum der politischen Künste steht. Gerade vor diesem Hintergrund fällt auf, wie stark sich großformatige Kunstausstellungen wie etwa die Vielzahl von Biennalen und nicht zuletzt auch die »documenta« zu Probebühnen verwandelt haben, um neue (und vermeintlich neue) ästhetische Formen zu entwickeln, zu entfalten und zu erkunden. Ich habe behauptet, dass ein Beitrag des langjährigen »documenta«-Künstlers Jeff Wall bei deren jüngster Ausgabe wie ein Fremdkörper hätte wirken müssen. Diese Spekulation lässt sich in Fragen wenden: In welcher Weise ist die Zeigeform des fotografi schen Großformats – wie sie nicht zuletzt von Wall seit Jahrzehnten eingesetzt wird – dazu geeignet, in Kommunikations- und Handlungsweisen einzutreten, die die politischen Strategien der Gegenwartskunst bestimmen? Kann das fotografische Tableau überhaupt als ein Instrument der »arts politiques« wirksam werden? Wenn mit Blick auf das Tableau vom »großen stillen Bild« die Rede war,17 wie kann es sich dann in immer lauter werdenden politischen Debatten Gehör verschaffen? Oder aber muss man umgekehrt anerkennen, dass es sich um eine mediale Pathosformel handelt, die sich überlebt hat, also ihrerseits historisch geworden ist? In seiner vollständigen Abwesenheit bei der jüngsten Ausgabe der »documenta« scheint tatsächlich ein deutlicher Hinweis zu liegen, dass im Kontext eines re-politisierten Kunstfeldes nicht länger mit dem fotografi schen Großbild als einem relevanten Akteur gerechnet wird. Für eine Ästhetik der Skalierung stellt die Tableau-Form des Fotografi schen nicht allein aufgrund seiner Prominenz und, wie es für lange Zeit schien, aufgrund seiner kaum hinterfragten Dominanz einen interessanten Fall dar. Als eine mediale Zeigeform besitzt sie ihrerseits eine Geschichte.18 Hierbei zeichnet sich inzwischen mehr und mehr jenes Geflecht von Bedingungen ab, das zur Entstehung und bemerkenswert raschen Durchsetzung einer auf die ganz große Form setzenden Bildordnung führte.19 Jeff Wall gehört zu den frühesten und fraglos noch immer zu den prominentesten Vertretern dieser Fotoästhetik. Von seinem Werk ausgehend lassen sich beispielhaft Fragen formulieren, die sich für die Präsenz des Fotografi schen innerhalb eines re-politisierten Kunstfelds interessieren und hierbei insbesondere den Zusammenhang von Form und Inhalt des Bildes betreffen: Welche Rolle können das Politische und dessen Reflexion in einem Medium wie Siehe v.a. Peter Weibel: Das fotografi sche Großbild im Zeitalter der Geschwindigkeit, in: Das große stille Bild, hg. von Norbert Bolz und Ulrich Rüffer, München 1996, 46–73. 18 Jean-François Chevrier: Die Abenteuer der Tableau-Form in der Geschichte der Photographie, in: ders.: Photo-Kunst. Arbeiten aus 150 Jahren. Du XXème au XIXème siècle, aller et retour, hg. von Ulrike Gauss, Stuttgart 1989, 9–45; Olivier Lugon: Photography and Scale: Projection, Exhibition, Collection, in: Art History 38 (2015), 386–403; Ulrich Pohlmann: Big, bigger, better? – Großfotos in Ausstellungen, in: Valenzen fotografi schen Zeigens, hg. von Katharina Sykora u. a., Marburg 2016, 250–265. 19 Atmosphärisches allein muss jedenfalls nicht länger ein Argument für die Ausbreitung der Tableau-Form sein, vgl. Mirjam Wittmann: »Das Großformat lag einfach in der Luft«. Zur Bildwirkung der Fotografi e aus Düsseldorf, in: Techniken des Bildes, hg. von Martin Schulz und Beat Wyss, München 2010, 277–292. 17
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dem fotografi schen Großtableau spielen? Oder aber handelt es sich bei solchen Ansprüchen an die bildende Kunst um einen blinden Fleck, wie er etwa in Walls Œuvre zwar immer schon angelegt war, sich aber erst jüngst, das heißt angesichts eines sich rasch wandelnden Wahrnehmungshorizonts, umso deutlicher abzeichnet? Zugespitzt gefragt: Jeff Wall und das Politische – in welchem Sinn lässt sich so überhaupt sinnvoll davon sprechen? * Um eine erste mögliche Antwort auf diese Frage zu geben, lohnt es, den Blick abzuwenden von Walls bildnerischem Werk und ihn stattdessen als Textautor sowie als Interviewpartner ernst zu nehmen. Denn tatsächlich sichtbar wird der gesamte Künstler Wall erst in einem solch erweiterten Zusammenhang.20 Wie nur wenige andere neben ihm hat der ausgebildete Kunsthistoriker Jeff Wall in den zurückliegenden Jahrzehnten in großer Kontinuität eine doppelte, aufeinander bezogene Autorschaft gepflegt.21 Als ein Publizist in eigener (und zuweilen auch fremder) künstlerischer Sache hat er in ganz erheblicher Weise versucht, Stichworte zur Interpretation seiner Bilder zu liefern, um hierdurch Einfluss auf die Rezeption seines Werks zu gewinnen. Zugleich bleibt bemerkenswert, wie umfangreich und intensiv Walls Reflexion jenes Kunstfeldes ist, zu dem er mit eigenen Arbeiten seit inzwischen mehr als vier Jahrzehnten beiträgt. Insbesondere auf dieser Metaebene durchdringen sich künstlerischer, kunstkritischer und kunstwissenschaftlicher Diskurs auf nur schwer zu differenzierende Weise. Häufig genug als willkommene Gelegenheit zu Hintergrund-Informationen aus erster Hand aufgegriffen, werden in der Vielzahl dieser Äußerungen jedoch Strategien sichtbar, die im Dienst einer konsequent betriebenen Werkpolitik stehen. Gewiss das sichtbarste äußere Zeichen eines solch politischen Umgangs mit dem eigenen Œuvre ist dabei jenes Buch, das anlässlich der in Basel und dann in London 2005 bis 2006 veranstalteten Retrospektive erschienen ist. Anstelle des üblichen Ausstellungskatalogs ließ Wall einen »Catalogue Raisonné« produzieren.22 Erschlossen wird hierin das bis dahin vorliegende fotografi sche Werk in einer Tiefe, die selbst für einen nicht mehr lebenden Künstler ungewöhnlich ist, für einen seinerzeit 59-Jährigen allerdings tatsächlich einzigartig war. Auch hier, in der publizistischen Rahmung seines bildnerischen Werks und der dabei betriebenen Steuerung von Rezeption und Kritik, hat Wall auf das große Format gesetzt. Wie sehr es aber tatsächlich von Anfang an dem Fotografen darum Siehe hierzu ausführlicher meine Diskussion in: Steffen Siegel: Ich ist zwei andere. Jeff Walls Diptychon aus Bildern und Texten, München 2014. 21 Erschienen sind seine gesammelten Schriften in verschiedenen Sprachen. Eine der frühesten hierbei war die deutschsprachige Ausgabe: Jeff Wall: Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews, hg. von Gregor Stemmrich, Amsterdam und Dresden 1997; demgegenüber sind aktueller: Jeff Wall: Essais et entretiens 1984–2001, Paris 2001; Jeff Wall: Selected Essays and Interviews, New York 2007; Jeff Wall: Fotografía e inteligencia líquida, Barcelona 2007; Jeff Wall: Intelligenza liquida. Scritti scelti, Macerata 2011. 22 Wall: Catalogue Raisonné 1978–2004 [Anm. 8]. 20
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ging, Präsenz zu erlangen und schließlich zu behaupten, wird anhand jener Formel deutlich, die er zwischen 1978 und 2007 – also fast dreißig Jahre lang – unverändert auf seine Bilder angewendet hat: Mit dem in einen Leuchtkasten montierten Großbild-Dia wird für die Fotografie nicht allein ein ungewöhnlich großes Format in Anspruch genommen. Insbesondere die charakteristische »lightbox« stiftet für das Bild eine geradezu widersprüchliche Präsenz: Einerseits ragt es als ein manifester Körper ungewöhnlich tief in den Ausstellungsraum; andererseits verleiht die indirekte, von hinten durchscheinende Beleuchtung dem Bild etwas Ungreifbares. In dieser Weise zu einem Objekt geformt, kann es streng genommen kaum anders als im musealen Ausstellungskontext zur Erscheinung gebracht werden. Die von Wall gerade in seinem frühen Werk (aber auch in vielen Fällen später noch) gewahrte Limitierung seiner Fotografien auf ein einzelnes Exemplar unterstreicht dabei einmal mehr jenes Modell, an dem sich die von ihm verfolgten ästhetischen Strategien in ihrer Gesamtheit orientieren: dem klassischen Meisterwerk. In einem Gespräch mit Stefan Gronert hat Wall noch jüngst eine solche Kennzeichnung seiner Arbeiten zurückgewiesen: »darin schwingt mir die alte Struktur von Kunst zu stark mit, die Akademien, etablierten Standards etc.« 23 Nur wenige Sätze später kehrt er allerdings gerade zu jener »alten Struktur der Kunst« zurück, wenn er auf die Geschichte der von ihm verfolgten Idee des Bild-Tableaus hinweist: »Die Tableauform ist größtenteils eine Erfi ndung und Entwicklung der Malerei, die seit mehreren hundert Jahren existiert.« 24 Walls Fotografien sind auf Präsenz im Ausstellungsraum hin berechnet. Fragen der Skalierung gehören daher von Anfang an zum Kern jener ästhetischen Strategien, die der Fotograf selbst im Begriff des Tableaus zusammenfasst. Vom äußeren Format des Bildes ausgehend, hat er hierbei ein Rezeptionsmodell im Sinn, das historisch betrachtet dem Fotografi schen weit vorausgeht: »das Bild kann im Allgemeinen vom Betrachter nicht in der Art gehandhabt werden, wie dies mit einem kleinen Abzug oder einem Schnappschuss möglich ist, es steht für sich, ungeachtet des Formats. Es wird normalerweise an einer senkrechten Fläche hängend präsentiert, an irgendeiner Wand, wo es dem Betrachter gegenübertritt, als sei es eine ihm ebenbürtige und von ihm autonome Entität. Es präsentiert eine mit großer Intensität ausgeführte Komposition, egal, wie diese erreicht wurde, und dadurch intensiviert es die Erfahrung des Bildgegenstands und thematisiert diese Erfahrung im ästhetischen Gesamterlebnis des Bildes. Natürlich sind andere Bilder auch Kompositionen und ästhetisch erleben wir sie ebenso, was mich hingegen an der Tableauform interessiert, ist der Aspekt des Für-sich-Stehens.« 25 Ohne dies eigens betonen zu müssen, betreibt Wall mit solchen Worten neuerlich Werkpolitik in eigener Sache: Die von ihm modellierte Idee ästhetischer Erfahrung wendet sich 23 Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11], 115. Zum Meisterwerk-Diskurs in der zeitgenössischen Fotografie und insbesondere mit Blick auf die Tableauform siehe ausführlicher Steffen Siegel: Belichtungen. Zur fotografi schen Gegenwart, München 2014, 165–180. 24 Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11]), 115. 25 Ebd.
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Abb. 3: Jeff Wall: »The Destroyed Room« (1978), 159 × 234 cm.
nicht allein gegen alltägliche Gebrauchsweisen des Fotografi schen. Implizit kritisiert wird darüber hinaus die seit den 1960er Jahren immer wichtiger werdende Aneignung des Mediums durch die Konzeptkunst.26 Da der junge Jeff Wall in seiner zwischen 1969 und 1970 entstandenen Broschüre »Landscape Manual« mit solchen Strategien selbst experimentierte, hat er in seinen später formulierten Kritiken umso genauer gewusst, wovon er sprach.27 Doch hat Wall seine frühen konzeptuellen Versuche nicht allein verworfen. Es sollte darüber hinaus in Erinnerung geworfen werden, dass er sein ›eigentliches‹ fotografi sches Werk, ausweislich des »Catalogue Raisonné«, mit dem Tableau »Destroyed Room« einsetzen lässt (Abb. 3). Bei der ersten Katalognummer seines Wie weitreichend die Folgen dieser Aneignung für eine neue Präsenz des Mediums waren, diskutiert Heather Diack: Indecisive Moments. Proliferation and the Passerby in Conceptual Photography, in: The »Public« Life of Photographs, hg. von Thierry Gervais, Cambridge/MA und London 2016, 206–233; zum Kontext insgesamt siehe v.a. Douglas Fogle: The Last Picture Show. Artists Using Photography 1960–1982, Minneapolis 2003; Douglas Eklund: The Pictures Generation, 1974–1984, New Haven und London 2009; Light Years. Conceptual Art and the Photograph, 1964–1977, hg. von Matthew S. Witkovsky, New Haven und London 2011. 27 Scott Watson: The Situation of Photography and Contemporary Art in Canada, In Particular in Vancouver / Zur Situation der Photographie und der zeitgenössischen Kunst in Kanada und im Besonderen in Vancouver, in: Symposium: Die Photographie in der zeitgenössischen Kunst, hg. von Jean-Baptiste Joly, Stuttgart und Bad Cannstatt 1990, 23–51; Roger Seamon: Uneasy Eden. Jeff Wall and the Vancouver Syndrome, in: Vancouver. Representing the Postmodern City, hg. von Paul Delany, Vancouver 1994, 244–256. 26
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Œuvres handelt es sich um ein Bild, das unter genauem Bezug auf Eugène Delacroix’ »Tod des Sardanapal« den großen Stil der Historienmalerei für die zeitgenössische Fotografie aufschließen will.28 Formal wie inhaltlich werden hierbei Anschlüsse behauptet, die dem fotografi schen Bild einen Ort innerhalb der kanonischen Ordnung der bildenden Künste sichern sollen. Im Zentrum solcher Strategien steht eine genau reflektierte Ästhetik der Skalierung: »Mir war der TableauEffekt lieber als der Effekt, der sich beim Betrachten von anderen Formen einstellt. In den 1960er Jahren, als ich all dies zum ersten Mal bemerkte und darüber nachzudenken begann, als hätte es etwas mit meinen Chancen als Künstler zu tun, wurden in der Fotografie fast keine Tableaus gemacht. Fotografie war gleichbedeutend mit kleinen Abzügen, die hauptsächlich zur Reproduktion in irgendeiner Publikation gemacht wurden; Abzüge und Publikationen, die ausdrücklich dazu aufforderten, vom Betrachter gehandhabt, in die Hand genommen und begutachtet zu werden. Ich wollte diese Richtung nicht weiterverfolgen.« 29 Wall selbst spricht es deutlich genug aus: Wenn das Publikum eigene Hand an die Fotografie legt, widerspricht dies der Idee eines »Für-sich-Stehens« des Bildes. Kaum weniger deutlich kommt hierbei zum Ausdruck, wie eng sich der Fotograf im Ganzen an einem modernistischen Modell ästhetischer Erfahrung orientiert. Man wird nicht zweifeln müssen: Diese Strategien sind lange schon aufgegangen.30 Walls Bildern im Speziellen, aber auch dem fotografischen Großtableau im Allgemeinen ist spätestens seit den späten 1980er Jahren ein fester Platz im zeitgenössischen Kunstsystem sicher. Es war eine 2008 erschienene Monografie des US-amerikanischen Kunstwissenschaftlers Michael Fried, die eine solche Position schließlich auch mit den Mitteln der akademischen Kunstkritik zu beglaubigen suchte. Der insistierende Titel des Buches lässt wenig Raum für Interpretation: »Why Photography Matters as Art as Never Before«.31 Symptomatisch ist jedoch Achim Hochdörfer: Betrachtung einer Unordnung. Jeff Walls historisierende Auseinandersetzung mit der Konzeptkunst, in: Jeff Wall: Photographs, Köln 2003, 36–51. 29 Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11]), 115–116. 30 Mit welchen Irritationen, wenn nicht gar Widerständen die Ästhetik des fotografi schen Großtableaus zunächst jedoch zu rechnen hatte, wird in einer Besprechung zu Katharina Sieverdings Ausstellung »Großfotos I–XI/75–78« deutlich, die im Rheinischen Landesmuseum Bonn zu sehen war. Obwohl das Bonner Museum seinerzeit einer der wichtigsten Ausstellungsorte für Fotografie war und daher mit einem informierten Publikum rechnen konnte, heißt es in einer Rezension: »Die vom Rheinischen Landesmuseum Bonn präsentierten elf 280 × 460 cm (zwoachtzig mal viersechzig!) großen Fotos sollen (nach Auff assung von Frau Sieverding) nicht eben konkrete, sondern plakative Aussagen vermitteln. […] Doch konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Publikum – durchaus tolerant gegenüber dieser Extravaganz des Rheinischen Landesmuseums – sich in Anbetracht der Gestaltwerke schwer tat, Ratlosigkeit herrschte. Die Unsicherheit machte sich in gelegentlich erfurchtslosen Äußerungen vor diesen ›Schinken‹ Luft. Man war wohl ganz glücklich, daß es sich nur um elf und nicht mehr Ausstellungsstücke handelte.«, Karsten Fricke: Rezension der Ausstellung »Katharina Sieverding: Großfotos I– XI/75–78«, in: Fotografi e. Zeitschrift Internationaler Fotokunst 3 (1979), Heft 9, 56. 31 Michael Fried: Why Photography Matters as Art as Never Before, New Haven und London 2008. 28
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Abb. 4: Jeff Wall: »Diagonal Composition no. 3« (2000), 74,5 × 95 cm.
nicht allein Frieds Monografie als solche, sondern erst recht die unmittelbar nach ihrem Erscheinen einsetzende und in weiten Teilen vehemente Kritik. 32 Mit dem von Fried in aller Ausführlichkeit entfalteten Modell des Fotomodernismus sollte ein Prozess vollendet werden, der darauf zielt, die Kunstförmigkeit dieses Mediums endgültig außer Frage zu stellen. Weder ist es ein Zufall, dass mit einem Ausschnitt aus »A View from an Apartment« eine Arbeit Jeff Walls bereits auf dem Schutzumschlag zu sehen ist, noch sollte überlesen werden, wie energisch Fried den Relevanz-Begriff – »matters as art« – für seine ganz eigenen Zwecke aufgreift und in der Formulierung seines Buchtitels ausstellt. Was es hierbei im Anschluss an Michael Fried für die Fotografie heißt, »als Kunst bedeutsam zu sein«, lässt sich womöglich dann am schnellsten erfassen, wenn man sich der Lektüre von Paratexten aus dem zeitgenössischen Kunstbetrieb anvertraut. In dem im Jahr 2000 entstandenen Bild »Diagonal Composition no. 3« (Abb. 4) etwa werden allem Anschein nach wenig bemerkenswerte Zeichen ge32 Für kritische Auseinandersetzungen mit Frieds Thesen, die in Teilen bereits zuvor in Aufsatzform vorlagen, siehe u. a. James Elkins: Critical Response: What Do We Want Photography To Be? A Response to Michael Fried, in: Critical Inquiry 31, Nr. 4 (Sommer 2005), 938–956; Steffen Siegel: Weshalb Fotografi en zählen, in: Fotogeschichte 29 (2009), Heft 114, 59–60; Vered Maimon: Michael Fried’s Modernist Theory of Photography, in: History of Photography 34 (2010), 387–395; Alex Vasudevan: Photography and Mindedness, in: Oxford Art Journal 33 (2010), S. 252–257; Diarmuid Costello und Margaret Iversen: Photography Between Art History and Philosophy, in: Critical Inquiry 38, Nr. 4 (Sommer 2012), 679–693; Jerry L. Thompson: Why Photography Matters, Cambridge/ MA und London 2013; Jan von Brevern: Ganz große Kunst. Michael Frieds Lob der Fotografi e, in: Merkur 68 (2014), Heft 785, 920–927; sowie eine erste Antwort Frieds auf seine Kritiker: Why Anti-Theatricality Still Matters, in: Texte zur Kunst 19, Nr. 74 (2009), 57–59.
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streut. In schräger Aufsicht zeigt es kaum mehr als einen Putzeimer samt Wischmopp sowie, angeschnitten, die Ecke eines Holzschranks. Zu sehen war dieses Bild anlässlich der Sonderausstellung »Image Profi le« im Frankfurter Museum für Moderne Kunst. Im hierfür produzierten Kurzführer heißt es erläuternd: »Die titelgebende ›diagonale Komposition‹ durchzieht die gesamte Fotografie und ist ein deutlicher Verweis auf die künstlerische Strömung des Suprematismus und dessen Hauptvertreter Kasimir Malewitsch. Die kunsthistorischen Referenzen sind von zentraler Bedeutung für Walls künstlerisches Schaffen. Die vorliegende Fotografie kann als eine abstrakte Komposition von diagonalen Formen oder auch im klassischen Sinn als ein Stillleben begriffen werden. Die Vanitas-Thematik, zentraler Bestandteil von traditionellen Stillleben (Blumenbouquets/Früchte-Arrangements), fi ndet auch bei Walls Arbeit ihre Berechtigung: Der gesamte Raum weist durch die Abnutzungserscheinungen typische Zeichen der Zeit auf, die wiederum Vergänglichkeit thematisieren.« 33 Man geht wohl kaum zu weit, wenn man behauptet: Die künstlerische Fotografie ist mitten im Kunstsystem angekommen. Sie hat sich erfolgreich als ein Gegenstand hochkultureller Rezeptionsweisen durchgesetzt. Der »Aspekt des Für-sichStehens«, wie ihn Jeff Wall mit Blick auf seine Werke so nachdrücklich betont hat, betriff t die Herkunft und die Präsentationsformen der Bilder. Hiervon aber unberührt ist ihre Vernetzung und genealogische Einordnung im Kunstsystem. Denn wenn es darum geht, die ästhetische Erfahrung des Fotografischen von alltäglichen Rezeptions- und Gebrauchsweisen abzutrennen, so wird das modernistische Modell von Kunst als eine alternative Form des fotografi schen Bildgebrauchs umso wichtiger werden. Was sich in einer Vielzahl von Walls Bildern – die »Diagonal Composition no. 3« hierbei vielleicht eingeschlossen? – bereits im Sujet abzeichnet, das wird in den dabei zur Geltung gelangenden Zeichenspielen vollends deutlich: Als Kunst – »as art« – ist Fotografie vor allem dann bedeutsam, wenn eine für die kulturelle Moderne leitende Idee aufgegriffen wird, um sie auch in das Zentrum ihrer ästhetischen Strategien zu rücken: das »Für-sich-Stehen«, die Autonomie des Kunstwerks. Zwischen den so verschiedenen medialen Ordnungen von Gemälde und Fotografie werden hierbei gerade die Kontuinitäten wesentlich: Als ein »normalerweise an einer senkrechten Fläche hängend« präsentiertes Bild ist es gleichbleibend ein Musterfall ästhetischer Erfahrung. * Die mit Blick auf Walls Œuvre oft beschriebene Methode einer Bezugnahme zur Kunstgeschichte34 ist angesichts ihrer Überpräsenz mehr als einmal kritisiert worImage Profile. Aspekte des Dokumentarischen in der fotografi schen Sammlung des Museums für Moderne Kunst, Frankfurt/M. [im folgenden MMK], Kurzführer zur Ausstellung, Frankfurt/M. 2018, 11–12. 34 Für jüngere Beispiele siehe Hans Belting: Der Blick hinter Duchamps Tür. Kunst und Perspektive bei Duchamp. Sugimoto. Jeff Wall, Köln 2010, v.a. 137–186; Jeff Wall: The Crooked Path, hg. von Hans de Wolf, Brüssel 2011; Stefan Banz: Jeff Wall: Mit dem Auge des Geistes, Nürnberg 2014. 33
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den.35 Doch dürften gerade diese sich in formalen wie inhaltlichen Mitteln ausdrückenden Strategien einer Aneignung kunsthistorischer Formeln eine wesentliche Bedingung dafür gewesen sein, dass sich Walls fotografi sches Werk in so kurzer Zeit im Kunstfeld durchgesetzt hat. Immerhin erhielt er die erste Einladung zur »documenta« bereits im (nach eigener Zählung) vierten Jahr seiner Karriere als bildender Künstler! Demgegenüber lässt sich allerdings kritisch fragen, ob die von Wall und anderen so vehement betriebene Etablierung des Fotografischen »as art« nicht darauf hinauslaufen musste, dieses Medium in einer »Kunstkapsel« 36 einzuschließen und dabei um den vielleicht wichtigsten Teil seiner Ausdrucksmöglichkeiten zu bringen. Anders gefragt: Handelt es sich bei dem fortgesetzten Rekurs des Fotografi schen auf die formalen wie inhaltlichen Traditionen der bildenden Kunst nicht um eine bequeme Abkürzung? Zwar mag sich das Zeigesystem Fotografie gerade hierdurch den klassischen Bildkünsten annähern und ihnen ähnlich machen. Doch geschieht dies, weiter gefragt, zugleich um den Preis, dabei das spezifi sch Fotografi sche zu vernachlässigen, ja gar zu entwerten? Steht nicht gerade die von Wall so stark gemachte Idee des autonomen Bildes der prinzipiellen Welthaltigkeit des Fotografischen entgegen? Wall selbst zeigte sich in diesem Punkt optimistischer: »Die Autonomie des Bildes scheint unsere eigene, autonome Verfasstheit als Bürger einer freien Gesellschaft, einer auf dem Prinzip individueller Freiheit gegründeten Gesellschaft auf uns zurückzuwerfen, gleichgültig, welche Widersprüche diese Gesellschaft und Verfasstheit womöglich beinhalten.«37 Was hier mit bemerkenswert hochgreifenden Worten ausgesprochen wird, ist eine Gegenrede zu jenem Modell von Kunstrezeption, das von Arthur Schopenhauer mit einer Audienz beim Fürsten verglichen wurde38 und das sich mit einem traditionelleren Vokabular als Andacht vor dem Bild bezeichnen ließe. Wall skizziert demgegenüber die Vorstellung eines Dialogs zwischen zwei autonomen Instanzen, eines Zusammenspiels von Bild und Betrachter *in. Als wesentlichen Aspekt dieser Interaktion hatte Wall im Gespräch mit Gronert die Kategorie der Ebenbürtigkeit eingeführt. In diesem Sinn bedarf das fotografi sche Bild – verstanden als »eine mit großer Intensität ausgeführte Komposition« – einer genau reflektierten Ästhetik der Skalierung: Zur Sicherung eines Dialogs muss man vor es hintreten und ihm, wie Wall meint, auf Augenhöhe begegnen können. Umso folgerichtiger ist es daher, dass er bei der äußeren Einrichtung seiner Bilder (sieht man von der vollständigen Abkehr von den »lightboxes« seit 2007 ab) im Lauf seiner künstlerischen Karriere auf jede Variation verzichtete und an den einmal getroffenen Entscheidungen festgehalten hat. Nicht zuletzt geSven Lütticken: The Story of Art According to Jeff Wall [2004], in: ders.: Secret Publicity. Essays on Contemporary Art, Amsterdam 2005, 69–82; Wolfgang Brückle: Almost Merovingian: On Jeff Wall’s Relation to Nearly Everything, in: Art History 32 (2009), 977–995. 36 Kikol: Nett geknebelt [Anm. 16], 55. 37 Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11]), 115. 38 Wolfgang Ullrich: Vor dem Fürsten. Über die Moralisierung von Kunstrezeption, in: Neue Rundschau 110.1 (1999), 131–145. 35
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hört hierzu der beinahe vollständige Verzicht auf jede Serialität. Walls Werk entfaltet sich von Einzelbild zu Einzelbild. Zurecht hat bereits David Campany darauf hingewiesen, dass »dieses Engagement für die singuläre Fotografie, die nicht zu einem Set oder einer Serie, nicht zu einer Folge, Gruppe oder Familie von Bildern gehört, in der zeitgenössischen Kunst bemerkenswert selten« bleibt.39 Fragt man nach möglichen politischen Funktionen seiner Fotografien, so sieht man sich auf die Untersuchung einzelner Tableaus verwiesen.40 An Versuchen, die Sujets in Walls Bildern an Fragen der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart zurückzubinden, herrscht kein Mangel.41 Für ein solches Interesse bietet das fotografische Werk von Jeff Wall in der Tat reiches Material. Denken ließe sich hierbei zum Beispiel an das Tableau »Mimic« von 1982, das im ästhetischen Gewand der »street photography« eine Szene vorführt, deren krasser Rassismus sich spätestens bei zweitem Hinsehen entschlüsselt;42 oder an »An Eviction« von 1988 (überarbeitet im Jahr 2002), das mit mit dem titelgebenden Ereignis vom Drama der Gentrifi zierung berichtet.43 In anderen Bildern werden die zeithistorischen Bezüge deutlicher ausgestellt, in »The Holocaust Memorial in the Jewish Cemetery« von 1987 etwa im panoramatischen Vedutenstil;44 im fünf Jahr später entstandenen Tableau »Dead Troops Talk (a vision after an ambush of a Red Army Patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986)« hingegen im Gewand grotesker Drastik.45 Themen eines entfremdenden Kapitalismus zeichnen sich deutlich genug ab in Bildern wie »Outburst« von 1989 (Abb. 5) oder »Untangling« von 1994. Das Zwielicht der urbanen Randzonen spielt bei Wall spätestens seit »Bad Goods« von 1984 39
David Campany: Das singuläre Bild, in: Jeff Wall: Appearance, Esslingen 2018, 119–137, hier:
121. 40 Deswegen ist es im Übrigen auch durchaus konsequent, dass Stefan Gronert seine Monografie zu Jeff Wall – wie vor ihm bereits in ähnlicher Weise in der Dresdener Ausstellung erprobt – als eine Folge von insgesamt 17 Einzelinterpretationen eingerichtet hat, die an keiner Stelle des Buches in einer Synthese zusammengeführt werden. Vgl. Wall: Transit [Anm. 10] und Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11]. 41 Vgl. stellvertretend v. a. Jeremy Gaines: Monade und Nomade. Mensch und Ödland im Werk Jeff Walls, in: Jeff Wall: Figures & Places. Ausgewählte Werke von 1978 bis 2000, hg. von Rolf Lauter, München, London und New York 2001, 158–167; Jean-François Chevrier: The Spectres of the Everyday, in: Jeff Wall, hg. von Thierry de Duve u. a., London und New York 22002, 162–191; Régis Michel und White Negro: Jeff Wall’s Uncle Tom. On the Obscenity of Photopantomime, in: Oxford Art Journal 30 (2007), 55–68; Evelyn Runge: Glamour des Elends. Ethik, Ästhetik und Sozialkritik bei Sebastião Salgado und Jeff Wall, Köln, Weimar und Wien 2012; Birgit Szepanski: Erzählte Stadt. Der urbane Raum bei Janet Cardiff und Jeff Wall, Bielefeld 2017. 42 Vgl. Michel: Jeff Wall’s Uncle Tom [Anm. 41], 61–63. 43 Vgl. Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11]), 44–49. 44 Vgl. Norman Bryson: Too Near, Too Far / Zu nah dran, zu weit weg, in: Parkett 49 (1997), 84–95; Steffen Siegel: Jeff Wall, The Holocaust Memorial in the Jewish Cemetery, 1987, in: Das Abenteuer unserer Sammlung. Kunst nach 1945 aus den Kunstmuseen Krefeld. The Adventure of Our Collection. Art after 1945 from the Kunstmuseen Krefeld, hg. von Martin Hentschel, Köln 2016, 252–253, 447. 45 Vgl. Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, New York 2003, 123–126; Jule Hillgärtner: Krieg darstellen, Berlin 2013, 25–42.
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Abb. 5: Jeff Wall: »Outburst« (1989), 229 × 312 cm.
Abb. 6: Jeff Wall: »Men Waiting« (2006), 266 × 388 cm.
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eine Rolle und kehrt wieder in Bildern wie »Diatribe« von 1985, »Rear« von 1997 oder »Tenants« von 2007. Unmittelbar aufeinander bezogen fi nden sich diese beide Themen, Kapitalismus und Urbanismus, schließlich in »Men Waiting« von 2006, das sogenannte Tagelöhner an einem Cash Corner zeigt (Abb. 6).46 Diese kasuistische, von Bild zu Bild schreitende Musterung nach gegenwartsbezogenen Themen in Walls fotografi schem Œuvre ließe sich mühelos fortsetzen. Jedes weitere Tableau aber erneuert die immer selbe Frage: Mit welchen Blicken rechnet der Fotograf Jeff Wall? Entscheidend scheinen hierbei zum einen der von ihm selbst gegebene Hinweis auf die Wand des Ausstellungsraums und zum anderen die verschiedenen Strategien, seine Bilder als unikale Objekte zu behandeln, zu sein. Ästhetischer Erfahrung, wie sie Wall entwirft, sind die institutionellen Bedingungen von Galerie und Museum eingeschrieben. Ist es daher tatsächlich so abwegig, von einem »Glamour des Elends« zu sprechen? Ihre gleichnamige Monografie hatte Evelyn Runge eingeleitet mit der Bemerkung: »Gut gekleidete Menschen, die ihr Leben nicht ausschließlich der Arbeit widmen müssen, um zu überleben und die keine Angst um ihre Existenz haben, gehen in ihrer Freizeit ins Museum. Dort sehen sie sich Kunst an: großformatige Fotografien von Menschen in Not.« 47 Ob man dieser Polemik folgen will oder auch nicht, interessant ist sie gerade deshalb, da mit ihr eine Ästhetik der Skalierung ethisch grundiert wird. Bereits 1886 hatte Jacob Burckhardt in seinem Vortrag »Format und Bild« gefragt: »Wie groß ist die Formatfrage? Von wie hoch und weit kommt sie her?«48 Mit Blick auf die Fotografie lässt sich bündig antworten: Sie ist entscheidend. Was Wall in einem Tableau wie »Men Waiting« schildert, wird im Kontext einer sozialdokumentarisch interessierten Fotografie kaum überraschen. Mehr noch: Dem Fotografen war offenkundig daran gelegen, die Merkmale einer solchen Ästhetik49 genau zu beobachten und in seinem eigenen Bild aufzugreifen. Hierzu gehört die Straße als Handlungsraums; sodann der distanzierte, womöglich versteckte Blick des Beobachters, der zugleich bewirkt, dass die Personen im Bild anonymisiert werden; schließlich suggeriert die dezentrierte Verteilung der Männer Spontaneität, ganz so, als sei das Bild aus einem fahrenden Auto heraus aufgenommen worden; und nicht zuletzt passen wird hierzu das von Wall seit 1996 fallweise eingesetzte Schwarz/Weiß.50 Jedoch scheint ein wesentliches Element dieses Bild Vgl. Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11]), 92–97. Runge: Glamour des Elends [Anm. 41], 9. 48 Jacob Burckhardt: Format und Bild (1886), in: Vorträge zur Kunst- und Kulturgeschichte. Erinnerungen an Rubens, hg. von Rudolf Pillep, Leipzig 1987, 232–246, hier: 233. 49 Zur Dekonstruktion dieser Ästhetik vgl. Reinhard Matz: Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografi e (1981), in: ders.: Fotografi en verstehen, hg. von Bernd Stiegler, Köln 2017, 14–25; Abigail Solomon-Godeau: The Ghosts of Documentary (2013), in: dies.: Photography After Photography. Gender, Genre, History, Durham, London 2017, 123–140. 50 Jennifer Blessing: Jeff Wall in Schwarz und Weiß, in: Jeff Wall: Belichtung, Ostfi ldern 2007, 8–35. 46 47
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von der durch die Dokumentarfotografie gezogenen Traditionslinie zu trennen: sein äußeres Format von 266 × 388 cm. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wie sie in Walls Bild behandelt werden, gehören fraglos zum Interesse der sozialdokumentarischen Fotografie. Doch würde man die Bilder dieser Gattung üblicherweise in Magazinen und Büchern suchen, inzwischen natürlich auch im Internet. Stets aber können wir bei ihrer Betrachtung von einem eher geringen Format ausgehen. Will man an einer solchen Gattungskonvention festhalten, dann wird die von Wall betriebene Ausdehnung der Bildfl äche auf mehr als zehn Quadratmeter entweder unsere Seherfahrungen herausfordern oder aber sie wird auf eine Neubestimmung der fotografi schen Zeigemöglichkeiten hinauslaufen.51 Die von Wall mit so bemerkenswerter Kontinuität verfolgte Ästhetik des fotografi schen Großtableaus provoziert durch Artifi zialität. Der hierbei gepflegte monumentale Stil bewirkt eine Verschiebung, die zuletzt jedes Bildmotiv – einerlei ob beiläufig oder aber »mit großer Intensität« ausgeführt – in eine Sichtbarkeit eigenen Rechts verwandelt. Das Bild soll »für sich stehen«. »Das Format«, so hatte bereits Burckhardt auf die selbst gestellte Frage geantwortet, »ist die Abgrenzung des Schönen gegen den ganzen übrigen Raum. […] Das Format ist nicht das Kunstwerk, aber eine Lebensbedingung desselben.« 52 An eine solche Reflexion der äußeren Form konnte auch Wall (und mit ihm eine ganze Generation von Fotograf *innen) anschließen, als in Frage stand, die Fotografie im Kunstsystem durchzusetzen. Mit dem Großtableau wurde hierfür offenkundig eine geeignete Formel gefunden, dessen Wirkung Wall durch die Präsentation in »lightboxes« noch einmal steigerte. So sehr sich der neuere Erfolg der künstlerischen Fotografie gewiss nicht allein auf solche formalen Reflexionen zurückführen lässt, ebenso sehr kann unterdessen nicht übersehen werden, dass die mit dem Tableau verbundenen werkpolitischen Motive inzwischen aus der Zeit gefallen sind. Die für unsere eigene Gegenwart alltäglichen und womöglich leitenden Bilderfahrungen – den Kontext der bildenden Kunst hierbei mit eingeschlossen – haben weit mehr mit kleinformatigen »digital screens« zu tun und überdies mit jenem »poor image«, dessen Ästhetik nicht länger verteidigt werden muss.53 »Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?«, hatte Immendorff in seinem Gemälde wissen wollen? Genau besehen reicht diese Frage nicht weit genug. Denn wo eigentlich stehen wir selbst, wenn wir als Rezipienten vor einem Tableau stehen? Ist bereits das äußere Format dieser Bilder dazu geeignet, uns immersiv in sein GeEinzig ausgenommen ist hiervon das vor allem in den 1920er und 1930er Jahren populäre Photomural, das jedoch im Unterschied zum gerahmten Tableau einen tendenziell ephemeren Gebrauch des fotografi schen Bildes bedeutete. Vgl. Olivier Lugon: Entre l’affi che et le monument, le photomural dans les années 1930, in: ders.: Exposition et médias. Photographie, cinéma, télévision, Lausanne und Paris 2012, 79–123; Pohlmann: Big, bigger, better? [Anm. 18]. 52 Burckhardt: Format und Bild [Anm. 48], 235–236. 53 Hito Steyerl: In Defense of the Poor Image, in: d ies.: The Wretched of the Screen, Berlin 2012, 31–45. 51
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Abb. 7: Jeff Wall: »Citizen« (1996), 181 × 234 cm.
schehen zu ziehen? Oder aber stiftet es gerade umgekehrt die sichere Distanz des Erhabenen? Einfache Antworten hierauf werden sich mit Blick auf Walls Œuvre kaum geben lassen; und dies auch deshalb nicht, da sein Werk nicht allein formal eine große Stringenz besitzt, sondern auch hinsichtlich seiner Darstellungsstrategien. Kaum eine der von Wall inszenierten Szenen lässt sich ohne Weiteres mit einem einfachen Realismus verrechnen – auch jenseits von offenkundig surrealen Bildern wie »The Vampires’ Picnic« oder »The Giant«. Denn was für eine Art von Bürger sehen wir eigentlich, wenn wir »Citizen« von 1996 und seinen titelgebenden Akteur genauer in den Blick nehmen (Abb. 7)? Können wir daran glauben, dass sich dieser Mann sonnt oder dass er schläft? Ist er betrunken? Wenigstens wird die auf dem Bauch abgelegte Brille unwahrscheinlich machen, dass Schlimmeres passiert ist. Einerlei welcher Deutung wir zuletzt den Vorzug geben werden, die Offenheit dieser eigentümlichen Darstellung von Bürgerlichkeit ist Programm. Seine Bilder »befi nden sich in der Schwebe«.54 Ein kunsthistorisch hervorragend informierter Fotograf wie Wall weiß zu genau, dass das Spiel mit Ambiguitäten zu den Eigenheiten einer modernistischen Ästhetik gehört.55 54 Jean-François Chevrier: Jeff Wall: das Rätsel des Bildes – Geste und Wort, in: Jeff Wall: Appearance, Esslingen 2018, 85–99, hier: 89. 55 Dario Gamboni: Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London 2002.
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Abb. 8: Jeff Wall: »A Man with a Rifle« (2000), 245,7 × 308,6 cm.
»Der Wille zur Repolitisierung der Kunst«, so schrieb Jacques Rancière, »zeigt sich […] in ganz unterschiedlichen Strategien und Praktiken.« 56 Eines jedoch scheinen sie alle gemeinsam zu haben: einen Willen zur Wirksamkeit, die sich durch eindeutige Aussagen vermittelt. So wird es nicht überraschen, dass man in Rancières Aufzählung der verschiedenen Strategien repolitisierter Künste das fotografische Großtableau vergeblich sucht. Die Kunst der Revolte scheint direktere Mittel zu erfordern, als sie der erhabene Gestus einer mehrere Quadratmeter großen und an der Wand montierten Fotografie bereithält.57 Dass Wall seinen Begriff von künstlerischer Zeitgenossenschaft ohnedies weiter fassen will, hat er im Gespräch mit Stefan Gronert ausdrücklich unterstrichen: »Streng genommen ist der politische Kommentar nur eine Form möglicher Kommentare, die ein Bilderlebnis hervorruft. Dass Betrachter durch irgendetwas in ihrer Erfahrung angeregt werden, politische Kommentare abzugeben, bedeutet nicht automatisch, dass dies die einzige oder beste oder notwendigste Form des Kommentars ist. Vielleicht interessieren sich die Betrachter für etwas Politisches, das sie unbedingt zur Sprache bringen wollen, selbst wenn das fragliche Werk sich gar nicht mit dem Thema beschäftigt. Es lässt sich nicht steuern, worüber die Leute reden wollen, wenn sie Kunst be56 57
Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer (2008), Wien 22015, 64. Geoff roy de Lagasnerie: L’art de la révolte. Snowden, Assange, Manning, Paris 2015.
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trachten. Alle Themen sind von Haus aus zu einem gewissen Grad ›politisch‹, wir leben schließlich in der Polis.« 58 Man kann eine solche Haltung vertrauensselig fi nden oder beliebig, und sie ist durchaus auch kokett. Abgehoben wird mit einem solchen Kommentar aber auch auf jene »Paradoxa der politischen Kunst«, für die sich Rancière interessiert. Dessen Kritik betriff t ein zu einfaches Modell von Wirksamkeit, das die Praktiken im Feld der bildenden Künste für nicht mehr zu gebrauchen weiß als zu einer weiteren Form der Artikulation. Gegen eine solche Zweckmäßigkeit richtet sich Rancières Idee, ästhetische Wirksamkeit gerade im Dissens 59 mit dem Glauben an Wirksamkeit zu suchen: »Die ästhetische Wirksamkeit bedeutet eigentlich die Wirksamkeit der Auf hebung jedes direkten Verhältnisses zwischen der Erschaff ung von Kunstformen und der Erzeugung einer bestimmten Wirkung auf ein bestimmtes Publikum.« 60 Der von Wall in seiner Reflexion des fotografischen Großtableaus betonte »Aspekt des Für-sich-Stehens« betriff t nicht das Bild und seine Präsenz im Ausstellungsraum allein. Seine Autonomie bedeutet zugleich Schweigsamkeit, angedeutete Kommunikation, Bedeutungsoffenheit, die sich nicht ohne Weiteres in außer-ästhetische Zusammenhänge übersetzen und für diese verwerten lässt. Ganz scheint es, als habe Jeff Wall gerade hierfür mit seinem Tableau »A Man with a Rifle« ein Sinnbild schaffen wollen (Abb. 8). Es ist eine geisterhafte Jagd, die sich hier inmitten der Stadt ereignet. Wir sehen den Schützen, und wir sehen sein Revier. Doch weder sehen wir die Waffe noch können wir ein Ziel ausmachen oder gar ein Opfer. Jedes Bild ist nur die halbe Wahrheit – die zweite Hälfte entsteht durch dessen Rezeption. Das Politische ist hierin eingeschlossen.
Abb. 2–5, 7–8: Aus: Jeff Wall: Catalogue Raisonné 1978–2004, hg. von Theodora Vischer und Heidi Naef, Göttingen 2005, S. 163, 35, 217, 95, 167, 213. Abb. 6: Aus: Jeff Wall: Belichtung, Ostfi ldern 2007, S. 41.
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Gronert: Jeff Wall. Specifi c Pictures [Anm. 11]), 120. [Hervorhebung im Original]. Vgl. Rancière: Der emanzipierte Zuschauer [Anm. 56)], 73. Ebd., 70–71.
Figurationen der Schrift im öffentlichen R aum Jenny Holzers infame Kunst der Skalierung Marc Ries Die Welt ist aufgegeben, nicht gegeben; die Realität ist eine Aufgabe, keine Gegebenheit. Konstantin Vaginov: Bockgesang, 1928.
Prolog Im Kunsthaus Bregenz (KUB) hatte Jenny Holzer 2004 eine Einzelausstellung, Truth Before Power. Ich war zu einem Vortrag eingeladen, die Arbeit aus der Sicht ihrer Medien zu befragen. In der Ankündigung zum Vortrag hieß es: »Das, was Jenny Holzer mit Billboards, LEDs und übermächtigen Xenon-Projektionen auf urbane Räume und Landschaften einschreibt, sind Evokationen, die die Gesamtheit der gesellschaftlichen Existenz, ihre Entfremdung und Unterwerfung, ihre Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit, ihre Vergänglichkeit und Angst umfassen. Doch sind diese Evokationen weniger der Sinnstiftung durch Sprache allein geschuldet, denn mitverursacht von der Evidenz technischer Bilder, die eine Öffentlichkeit gegenfigurieren.«1 Die Ausstellung wurde auf zweierlei Weisen eingerichtet. Zu sehen gab es zum einen in den Räumen des Kunsthauses die üblichen Exponate. Auf zahllosen LEDs liefen Auszüge aus US-Regierungsdokumenten zur Außenpolitik im Nahen Osten, die in ihrer Entstehungszeit als »geheime Verschlusssache« oder »streng vertrauliche Dokumente« galten, dann ein Text des amerikanischen Dichters Henri Cole, To the Forty-third President. Die formalen Unterschiede fanden sich in der jeweiligen Farbprogrammierung der LEDs, bernsteingelb war die Schrift im dritten Stockwerk, bernsteingelb und rot im zweiten, blau im ersten. Zum anderen aber wurden im Stadtraum von Bregenz sowie an fünf weiteren Orten in Vorarlberg dreistündige Xenon-Projektionen präsentiert: auf Fassaden, in einem Steinbruch, an einem Staudamm, auf Felsmassiven. Beim Besuch der Ausstellung in dem von Peter Zumthor entworfenen »Tageslichtmuseum« empfand ich ein Unbehagen. Meine Überlegungen zu Jenny Holzer, die ich am gleichen Abend vorstellen wollte, hatten mit der Ausstellung im KUB wenig zu tun. Ich war affi ziert von den Konfrontationen, die die lapidaren Sätze vor allem der »Truisms«-Serie im urbanen Raum provozierten. Hier jedoch wurde die Kunst subtil, wirkmächtig eingerahmt, umklammert von einer splendiden Architektur, einem besonderen, hellweißen Innenraum, so tageslichtintensiv Die Ankündigung wurde im Ausstellungskatalog des Kunsthauses Bregenz (im Folgenden: KUB) 04.03, gekürzt abgedruckt, 13. 1
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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er auch sein mochte. Aber auch die Semantik der Laufschrift war nicht mehr wirkungsgleich mit der mir vertrauten, es wurde die »komplexe Dialektik von Entscheidungsfi ndung und öffentlicher Debatte, wie sie sich während der Amtszeit von Reagan, den Buschs, Clinton entwickelt hat, in Texten erforscht, die sich mit Fragen wie dem internationalen Waffen- und Erdölhandel, dem ›Krieg‹ gegen den Terrorismus, dem 11.9, FBI und CIA und der Kontrolle des Geheimdienstes durch den Kongress auseinandersetzen.« 2 So lange dieser Textausschnitt braucht, um die Referenzen der Arbeiten zu benennen, so langwierig waren auch die Versuche, die ja beständig forteilenden Texte zu lesen. Schnell stellte sich Erschöpfung ein. Die LEDs zur amerikanischen Außenpolitik überforderten das Medium, die Lesbarkeit der komplexen Texte und der Lyrik korrespondierte nicht mit der Eigenlogik der Displays, prägnante, kurze Botschaften in eine Leserichtung zu überführen. Doch dem Unbehagen kam ich erst dann strukturell auf die Schliche, als ich diesen Beitrag entwarf und die Notion der Skalierung wichtig wurde. Der Kunstraum defi niert eine präzise Raumanordnung mit Begrenzungen der Ausdehnung, der Lichtverhältnisse, der Bewegungsverläufe. Als Besucher unterwerfe ich mich dieser Anordnung, ebenso wie die ausgestellte Kunst. Es erfolgt eine ästhetische und soziale Disziplinierung, die mit den Intentionen sowohl der Institution als auch des Publikums übereinstimmen. Die Erwartung an Kunst impliziert die regulierte, angepasste Skalierung ihrer Erscheinung im System des Museums, die wiederum mit einem an diese Regulation angepassten Rezeptionsverhalten korrespondiert. Das ist der implizite Vertrag von Kunstinstitution und bürgerlicher Kunstöffentlichkeit. Meine Wahrnehmung der Interventionen von Holzer im urbanen Raum ging von völlig anderen Raumdeklinationen aus, die sich keinesfalls im KUB wiederfi nden und vielleicht auch gar nicht herstellen ließen.3 Es waren jene gewaltigen Xenon-Projektionen, die an den Nicht-Kunstorten des Vorarlberger-Landes zu sehen waren, die eine Umkehrung der Verhältnisse bewirkten. Die Relationen von Schrift, Architektur und Natur, von Lesen, Bewohnen und Benutzen waren an diesen außer-institutionellen Orten provokativ ineinander gewendet.
Ebd., 3. In gewisser Weise verweigern sich die Medienobjekte von Jenny Holzer ihrer Übertragung in Kunsträume, um ihren Status bestätigt zu sehen; es passiert eher das Gegenteil, sie wirken deplaziert. Sie vollziehen eine Gegenbewegung zu derjenigen, die mit Duchamps losgetreten wurde und die O’Doherty auf den Punkt brachte: »the art gallery had become so transformative that you could take virtually anything into it und it would look like art; back outside it would resume its banal identity.«, Brian O’Doherty: In der weißen Zelle. Inside the White Cube, Berlin 1996, 141. Holzers mediale Schriftbilder entfalten gerade im Außen ihre volle »Identität«. Demgegenüber stehen jene Arbeiten, die als Objekte einwandfrei im Kunstraum beheimatet sind, etwa die beschrifteten Steinbänke aus Granit. 2 3
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In trivialer Position 1982 zeigte Jenny Holzer ihre Truisms erstmals auf der ersten computergesteuerten farbfähigen Großbildanzeigetafel, dem Spectacolor lightboard, am One Times Square in New York. Truisms, das sind von Holzer gesammelte Aussagen, die ein weites Spektrum an Meinungen, Aufforderungen, common-sense Statements, selbst-evidenten Aphorismen, schlicht Binsenweisheiten repräsentieren. Die kurzen und prägnanten Sätze betreffen gesellschaftliche Konfl iktszenarien, Konsum, Politik, Sex, Gender, Klassen- und Familienverhältnisse. Zunächst tippte Holzer die Truisms auf Schreibmaschinenpapier ab, fotokopierte und verteilte sie. Später lässt sie eine Serie von Plakaten drucken. Ein Poster fasste um die 40 bis 60 einzeilige Statements, alphabetisch gelistet, in schwarzer Schrift auf weißem Papier. Hierbei verwendet sie als Schriftarten Futura und Times New Roman. Die kommerzielle Technik der Fotolithographie wurde auch auf anderen Medien angewendet: Tassen, T-Shirts, Caps, Kondome und Golf bälle.4 Die Billboard-Ausstrahlung am Times Square fand im Rahmen der Ausstellung »Messages to the Public« (1982–1990) statt – ein Künstlerprojekt unter der Schirmherrschaft des Public Art Fund, das als Präsentationsplattform für zeitgenössische Medienkunst diente. Die Animation mit einer Dauer von 30 Sekunden wurde mehr als 50 Mal am Tag wiederholt, eingebettet in einen Loop aus computer-animierten Werbeanzeigen. Insgesamt wurde die Truisms-Animationsserie für die Dauer von zwei Wochen präsentiert. In der Folge nutzt Jenny Holzer auch LEDAnzeigen und ihre Laufschrift in unterschiedlichen Kontexten. Man bewegt sich auf die Anzeigen zu, wird von ihnen, ihren Botschaften überrascht, kann sich zu ihnen verhalten, sich annähern, sich wegdrehen, sie ignorieren. Mitte der 1990er Jahre werden die Xenon-Projektionen eingesetzt, gewaltige Filmprojektionen von Schrift, so gewaltig, dass ihre Größe nun den Betrachter skaliert, und zwar zum Kleinen hin, die Zentralperspektive flutet, die Betrachter werden überwältigt, sozusagen rückjustiert in der Weltordnung. In einem Interview mit Jenny Holzer aus Anlass ihre Aktion »Lustmord« in der Süddeutschen Zeitung am 19. November 1993 wird gleich zu Beginn eine Grundsatzfrage gestellt: »Man ist versucht, sofort über die Aussagen in ihrem Werk zu sprechen – der Inhalt ist so explizit, dass die Form zunächst gar nicht zur Debatte steht. Und genau das beabsichtigen Sie ja auch. Inwieweit verstehen Sie sich noch als bildende Künstlerin?« 5 Holzer antwortet nicht auf die Frage. Doch es wird bald klar, dass sie sich nicht als »Subjekt einer Aussage«, also als Schriftstellerin oder Journalistin versteht, sondern sich im Dazwischen einer künstlerischen Praxis verortet. Mit Roland Barthes kann dies bedeuten, dass sie »als Subjekt einer Praxis […] die Hartnäckigkeit des Spähers haben (muss), der sich am Kreuzungspunkt aller Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jenny_Holzer, Zugriff: 24.07.2018. Süddeutsche Zeitung [Verfasser]: Jenny Holzer im Interview mit Christian Kämmerling, in: Süddeutsche Zeitung, Magazin Nr. 46, München 1993, 34. 4 5
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anderen Diskurse befi ndet, in trivialer Position im Verhältnis zur Reinheit der Doktrinen (trivialis ist etymologisch das Attribut der Prostituierten, die an der Kreuzung dreier Wege wartet)« 6. Die für mich relevanten Werkgruppen sind jene, die den Kreuzungspunkt von Kunst, Kommerz, öffentlichem Raum und aphoristischtrivialen Texten markieren, die Bedeutungsgenese zuvorderst den Bildkomplexe entwerfenden und skalierenden Medienmaschinen zukommt. Die Texte werden im Zusammenhang ihrer medialen und urbanen, landschaftlichen Erscheinung performativ. Ein senso-motorischer Prozess überformt die Lektüre. Und dieser Prozess ist stets ein technisch konditionierter, für den besondere Bedingungen gelten. Die drei Medien – die Billboards, die LEDs und die Xenon-Projektionen – werden entlang der mit ihnen zur Anwendung gebrachten »ästhetischen und epistemischen Effekte von Skalierung« (Spoerhase) befragt und in Folge mit drei Kategorien verbunden, mit Entfremdung, Kontingenz und Orientiertsein, die Holzer in durchtriebener, infamer Weise einsetzt. Entfremdung Schrift wird mit der Billboard-Arbeit am Times Square in einem ersten künstlerischen Akt disloziert, entbunden, getrennt von ihrem gewöhnlichen Trägermaterial, dem Papier, und sie wird hochskaliert, wächst wie einst Alice zu erstaunlicher Größe im öffentlichen Raum. Die Dislokation der Schrift ist ein vertrautes Phänomen von Industriegesellschaften, von Gesellschaften, die jederzeit und überall aufmerksam machen müssen auf das von ihr produzierte. Zugleich korrespondiert die ubiquitäre Verwendung der Schrift mit der Verwaltung und politischen Informierung des Alltags. Schrift wird im 20. Jahrhundert auf vielfältigste Weise auf alle möglichen Materialien aufgetragen, teils um damit Informationen zu vermitteln, zum Identifi zieren von Eigentum, von Labels, zum Kommunizieren, doch vor allem um zu werben. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass ab einem gewissen Grad der Warenwirtschaft und der Ästhetisierung der Politik Schrift aus Innenräume in Außenräume tritt, damit zu einem wesentlichen Gestaltungsfaktor der Städte, ihres Handels und ihrer Politiken transformiert. In dieser Verwendung relativiert sich das der Schrift von Anfang an zugedachte Attribut der Speicherung von Wissen. Schrift als kulturgenerierende Kraft entzeitlicht und enträumlicht das Gesprochene, um es auf resistenten Trägern gespeichert zur Verfügung zu halten. In der Marktwirtschaft wird Schrift jedoch zu einem flüchtigen ›Träger‹ für Waren, die Waren rhetorisieren über die Schrift, sie wird Teil einer ökonomischen Strategie, soll verführen und überzeugen. Gleiches passiert mit der zunehmenden Inszenierung der Politik, die Schrift auf einfältige Formeln reduziert, sie zur puren ideologischen Attitude instrumentalisiert. Das heißt: Schrift entfremdet sich durch ihre Gegennutzung. Gelesen wird nun nicht mehr, um zu wissen, zu verstehen, sondern um zu reagieren. Um sich anders zu verhalten, um zu kaufen, um ja zu sagen. 6
Roland Barthes: Leçon/Lektion, Frankfurt/M. 1980, 39.
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Auf diese Funktion der Schrift als Werbung reagiert ihrerseits Jenny Holzer. Sie spielt ihre Truisms über Anzeigetafeln, Billboards in den öffentlichen Raum hinein. Der ›öffentliche Raum‹, das sind Kreuzungen, Plätze, dynamische, konzentrierte Orte aus Bewegungen des Verkehrs, des Kapitals mit teils hysterisch-spektakulären Inszenierungen der Werbewirtschaft, ein Staging für einen ›out-of-joint‹ Spätkapitalismus, Exzesse für die Wahrnehmung der Passanten, Feier artifi zieller Sinnlichkeiten. Dieser parzellierte, öffentliche Raum wird Austragungsort für die elektronischen Schriftbilder. Die Billboards sind mit Dioden ausgestatteten Anzeigetafeln, die auf einer Pixelmatrix Wort- und Bildzeichen generieren. Im Gegensatz zu herkömmlichen Trägern erarbeiten diese Tafeln die Schrift selber, sie werden nicht beschriftet, sondern produzieren Schrift aus sich heraus, endlos, ohne Begrenzungen. Die Tafeln sind indifferente Text-Bild-Assembler, sie vermögen alles darzustellen, sie geben sich allem hin, ihre einzige Regel ist der Takt, die Worte oder Bildzeichen blitzen auf, verschwinden wieder an der gleichen Stelle, die nächsten blitzen auf, verschwinden wieder. Die Zeichen führen ein Sekundenleben. Daher müssen sie eindeutig, klar, kohärent in ihrer Bedeutung sein. Der Sinn tritt aus der schwarzen Tiefe des Displays fl immernd hervor und erlöscht auch schon wieder, muss einem nächsten, vielleicht völlig gegensätzlichen Platz machen. Diese magischen, sich-selbst-schreibenden Tafeln, große ›Wunderblocks‹, sind meist in großer Höhe angebracht. Sie entfernen die Schrift von ihrer gewohnten kleinen Erscheinung, ihrer Anwesenheit auf einem Papier in skalierten Schriftgraden, die sich in Korrespondenz zum Lesen ausgebildet haben, eine Kulturtechnik symbolischer Miniaturen, die große Wirkung und Geltung im Zivilisationsprozess hatte. Nun transformiert dieses feinteilige, abstrakte System in eine andere Größenordnung, damit auch in eine andere Sinnordnung. Die Billboards lassen die Schrift in großer Ferne als Bild über alles hinweg strahlen, skalieren zugleich die Beziehung der adressierten Vorbeigehenden als Wahrnehmend-Lesende auf ungewöhnliche Weise. Der Passant sieht die fl immernde Tafel, die auf sich aufmerksam macht, »lesen« wird indes nicht die zu erwartende Handlung sein, es passiert eher ein Erfassen, Identifi zieren, Wiedererkennen, Erinnern. Sicherlich ähnlich der Wahrnehmung von Signalen, einem lauten Ton, einem Schrei. Reaktives, instinktives oder intuitives Wahrnehmen. Auf diesen sehr großen Tafeln, an diesen öffentlichen Orten passiert die Emission, die E-Mission, die elektronische Seelsorge der Truisms. Die Wahrnehmung ist irritiert. Offensichtlich ist es doch keine Werbung, aber was dann? Sind es Feststellungen, Kurzdiagnosen eines Zeitalters der Individualisierung als Kommodifizierung, Kommentare zu einer Verfallsgeschichte? ABUSE OF POWER COMES AS NO SURPRISE ACTION CAUSES MORE TROUBLE THAN THOUGHT ALL THINGS ARE DELICATELY INTERCONNECTED AUTOMATION IS DEADLY
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BEING JUDGEMTAL IS A SIGN OF LIFE BEING SURE OF YOURSELF MEANS YOU’RE A FOOL HUMANISM IS OBSOLETE LABOR IS A LIFE-DESTROYING ACITIVITY PROTECT ME FROM WHAT I WANT
Jenny Holzers technische, mediale Dislokation und Überskalierung entfremdet die Schrift, die Zeichen im Öffentlichen ein zweites Mal. Lassen sie unterschiedlichste und gegensätzlichste Aussagen machen, die nicht »falsches Bewusstsein«, im Sinne der Marxschen Analyse des Fetischcharakters der Ware, hervorrufen, eher einen Riss im Bewusstsein, eine Fraktur, die das Heile der Warenwelt von ihren hässlichen Voraussetzungen und Wirkungen trennt und Irritation, Beunruhigung provoziert. Das Signal ist ambivalent. Slavoj Žižek argumentiert diese Ambivalenz folgendermaßen: »Vielleicht liegt die letzte Lektion der Holzer’schen Truismen darin, dass wir in einer Welt der Warenklischees leben und es eben deshalb unmöglich ist, auszubrechen und eine authentische Sprache zu sprechen: Jedes Bemühen um Authentizität verwandelt sich unmittelbar in ein neues Klischee.« Holzer würde »durch nichts anderes als die gewaltsame formale Herauslösung eines Fragments aus dem Alltagskontext dessen gewöhnliche Funktionsweise sprengen und es in einen Abgrund hysterischer Infragestellungen schleudern. MEN DON´T PROTECT YOU ANYMORE – DIE MÄNNER BESCHÜTZEN EUCH NICHT MEHR: Handelt es sich in diesem Fall um eine Aufforderung an die Männer, ihre patriarchale Autorität wieder geltend zu machen und das ›schwache Geschlecht‹ zu beschützen, oder haben wir es mit einem feministischen Aufruf zu tun, der Frauen rät, auf sich selbst zu vertrauen, oder enthält der Satz die unterschwellige Botschaft, dass es genau die Männer sind, die sich selbst zu Beschützern ernannt haben, vor denen Frauen beschützt werden sollten? Entscheidend ist, dass das in der Schwebe bleibt.« 7 Die Massen, so suggeriert Žižek, die die elektronisch vermittelten Truisms, Survivalformeln etc. mitten in all den anderen Texten und Botschaften auf der Straße wahrnehmen, seien hysterische Massen, die an allem zweifeln und also eine Position konstitutiver »(Selbst)Infragestellung« einnehmen: Was will das Zeichen von mir? Was bin ich für das Zeichen? Die Tatsache also, dass Holzer mit ihrer Schrift in der übervollen Szenerie großstädtischer Räume auftritt, lässt sie unmittelbar in Beziehung treten zu allen anderen Texten, Zeichen und deren Dramaturgie. Dadurch, dass ihre Aussagen nur scheinbar verständlich und einsinnig sind, passiert mit ihnen das gleiche wie mit allen anderen auch: Sie werden flüchtig und skeptisch zugleich wahrgenommen.8 Das ›oder‹ ist entscheidend, nicht der ›So ist es‹-Gestus. ›Ist-es7 Slavoj Zizek, in: Louise Bougeois. Jenny Holzer. Helmut Lang, Ausstellungskatalog Kunsthalle Wien 1998, 34 f. 8 Erst das Herauspräpieren bzw. Rückskalieren in Katalogen überantwortet den Truisms eine semantische Eindeutigkeit und Luzidität, die sie in ihrer künstlerischen Praxis so nicht haben.
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so-oder-doch-anders?‹ Die medial illuminierte Deklamation evoziert Misstrauen. Die Dislokation und Maximierung der Schriftgröße im Dienst der Werbung hat ein Verhalten etabliert, das auch den Truisms von Holzer gleichermaßen skeptisch begegnet. Sie spielt mit dieser Missachtung und mag den einen oder anderen Umbruch der Skepsis im einzelnen Leser hervorrufen. Noch einmal: Was will das Zeichen von mir? Oder besser: Wer spricht da mit mir? Diese Sprüche, die ihre Vitalität einem Black Box-Assembling verdanken, wirken eher gesprochen, denn als Codex. Kommen von einer Stimme, deren Herkunft ungewiss ist, die aber gleichermaßen laut, unüberhörbar ist, wie die Schrift groß ist. PROTECT ME FROM WHAT I WANT – ist dies ein Selbstgespräch, ein Gespräch, das »die Seele mit sich selber führt«, wie Platon einst das Denken verstand, eine Art »Gewissen« angesichts der (Selbst)Erkenntnis der eigenen Begierde. Oder ist es doch eine Anrede, eine Adressierung an einen entfernten Beschützer, eine instance hors monde? PRIVATE PROPERTY CREATED CRIME . Das ist nun keine Anrufung mehr, sondern eine Anklage, jedoch eine historische, der Satz verweist grammatikalisch auf eine Vergangenheit, eine Art rückwärtsgewandter Richterspruch. IT’S A MAN’S FATE TO OUTSMART HIMSELF. Hier nun eine Feststellung, ob eine erschöpfte oder resignierte oder ironische, bleibt offen. Drei Truisms, die von verschiedenen Stimmen hervorgebracht werden, WortIntonationen, die, dort wo sie am klarsten sind in ihrer herausfordernden Ambivalenz, eigentümlich frivol auftreten. Die truismische Stimme auf dem elektronischen Display, ist sie womöglich vergleichbar der »Fleischwerdung des Wortes Gottes«, nur dass dieses Fleisch aus den Dioden und Pixeln eines Videodrome-Mediums erwächst und der Gott eher ein fröhlich-ironischer, denn ein bestrafender ist?9
Kontingenz Die Laufschriftbänder der LEDs, eine den Billboards verwandte Technik, sind doppelt mobil. Ein solches Lumineszenz-Display lässt sich überall aufstellen, aufhängen, es ist eine beinahe ins Karikatureske vergrößerte Zeile, auf der sich Text scheinbar auto-mobil produziert. Zugleich wird eine neue Wahrnehmungskondition defi niert: Die LEDs stellen eine beliebig lange, hochskalierte Zeile dar, auf welcher sich von oben nach unten oder von unten nach oben, von links nach rechts oder auch von rechts nach links kontinuierlich Buchstaben, Wörter, Zeichen weiterbewegen. Zumindest in der Wahrnehmung. Zur verschobenen Hochskalierung der Schrift auf den monumentalen Billboards tritt nun eine zwar bloß einzeilige Vergrößerung, jedoch dient diese einem Schriftgenerator, der die aufgeblasene Zeile als eine seiner Konditionen voraussetzt. Der einzelne Signifikant ist nun selbst dynamisch, beweglich geworden. Er nimmt keine fi xe Stelle in der Struktur des Satzes mehr ein, sondern bewegt sich vorwärts beziehungsweise erscheint und ver9
Vgl. David Cronenberg: Videodrome, Kanada und USA 1983.
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schwindet. An seiner früheren Stelle erscheint ein anderer Signifi kant und erzeugt neue Bedeutungsgemengen. Das System der differentiellen Struktur wird affirmiert durch das der artifi ziellen Fortbewegung, der Beschleunigung, der Veränderung der Buchstaben. Die Skalierung betriff t nun nicht mehr die Dimension, sondern den Prozess. Man wird Zeuge einer Erschaff ung von Schrift aus dem Nichts. Woher kommen die Buchstaben? Schrift ist zumeist als gegeben sichtbar. Hat einen Anfang und ein Ende. Ist auf ihrem Träger in dessen Ausdehnungsendlichkeit eingeschrieben. Nun aber ist der Träger ein generatives System, von dem man schnell bereit ist anzunehmen, dass ein Algorithmus im Inneren der Schöpfer der Sätze ist. Da man weder ihren Ursprung noch ihr Ende sehen kann, nur ihr Werden, ist Schrift auf eigentümlich Weise aus ihre üblichen Ordnung entlassen und in eine illusionäre oder delirierende Prozess-Skalierung überführt. Das LED-Display gründet auf einer Wahrnehmungstäuschung, besser einer Scheinbewegung, dem sognannten Phi-Phänomen, das von Max Wertheimer für die Gestaltpsychologie zu einem grundlegenden Paradigma ausgearbeitet wurde. Die Bewegung der Schrift, diese akzelerierten Worte, die so tun, als ob sie dem Lese-Akt entgegenkommen, sich zu ihm synchron verhalten, bewegen sich gar nicht. Die Dioden lassen Wort-Objekte entstehen, die keine – fi xe – Gestalt und Form haben, die (Schein-)Bewegung resultiert schlicht aus dem Auslöschen bzw. dem Annehmen der Hintergrundfarbe durch die einzelne Diode. Wenn es den Anschein hat, dass die Wörter aus der einen Seite herausströmen – doch woher kommen sie – und aus der anderen wieder heraus – doch wohin gehen sie – so eröff net das einen phantastischen Radius an Assoziationen, die die Schlichtheit technischer Funktionalität radikal überhöhen. Die einmal elektronisch erzeugte Zeile, die Signifi kantenreihe, ist im nächsten Augenblick bereits verschoben, die ersten Buchstaben verschwinden, während auf der anderen Seite neue hervorkommen, neue Wörter sich bilden, neue Bedeutungen aufscheinen. Die Dioden können jeden Signifi kanten erzeugen bzw. aus jedem jeden beliebig anderen hervorgehen lassen. Das Einzelne verwandelt sich ununterbrochen, damit das Ganze, alles ist möglich, jede Aussage, jeder Sinn. Die Sprache entbindet sich in dieser ihrer Erscheinungsform, ihrer dynamisch-elektronischen Schreibweise, jeglicher semantischen Verbindlichkeit. Eine Grunderfahrung dieser beweglichen Schrifterscheinung ist ihre semantische Instabilität, daher ihre Unvorhersehbarkeit. Nur scheinbar korrespondiert das Laufschriftband mit einem konventionellen Lesevorgang. Der wesentliche Unterschied ist, dass beim Lesen eines gedruckten Textes die Bewegung der Leserichtung jederzeit umkehrbar ist, zur Vergewisserung der gelesenen Aussagestrecke etwa. Das ist hier nicht möglich. Ein Sich-versichern des Inhaltes ist nicht vorgesehen. Die einzige Norm ist die der Kontinuität, des Fließens. Ein Wort verschwindet, ein neues taucht am anderen Ende wieder auf. Es hat tatsächlich den Anschein, als ob die Wörter aus dem Nichts kommen, aus einem defi nitiv unverfügbaren Jenseits, einem Gate, wie es ja immer wieder gerne in Science-Fiction Dramaturgien auf blitzt, ein Gate, das unberechenbar ist im Nachvollzug dessen, was sich hinter ihm verbirgt. Die LEDs
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vermitteln dem Leser den Eindruck eines auto-generativen Schreibens. Irgendetwas schreibt sich. Das Geschriebene ist aufgrund der Unvorhersehbarkeit seiner Entwicklung, der Vermutung, dass Auch-anderes-möglich-sei, denn das, was kurz aufflackert, über die Zeile zieht und wieder verschwindet, hoch kontingent. Kontingenzerfahrung ist vermutlich die bestimmende Erfahrung des – versuchten – Lesens von LED-Anzeigen. Ein Versuch ist dieses Lesen allemal, da kaum jemand in der Lage ist, über eine knappe Zeit hinaus dem Lesestrom zu folgen. Zu ermüdend, die Kopfverrenkungen mitgerechnet, ist das Lesen, allzu schnell stellt sich ein Schwindel ein, ein semantischer Schwindel, Schwindel an der Schrift. Sicher werden Fragmente wahrgenommen, doch diese lassen sich kaum zu einem Ganzen synthetisieren. Das Unerwartete kann alles wieder auflösen. Erst aus der Ferne lassen sich die Zeilen besser lesen, wenngleich ihr volatiles Sein stets das Relativieren, ja Entschwinden der Bedeutungen aus dem Verstehen impliziert. Vielleicht lässt sich sagen, dass in der ersten Phase der LED-Arbeiten von Jenny Holzer ähnlich den Billboards, nur diesmal sowohl im Außen- als auch im Innenraum, eine eigentümliche Allianz von Technik, Medium und Text gelingt. Skalieren meint, etwas in seiner Funktion so zu optimieren, dass es den maximalen Effekt hat. Hier unterläuft das Medium den erwarteten, ›ernsthaften‹ Umgang mit Schrift, wird infam, durchtrieben. Holzer de-skaliert in gewisser Weise das Primärmedium Schrift. Die LEDs werden zumeist in Verkehrsräumen verwendet, in dichten Agglomerationen, um knappe Informationen an die Benutzer und Besucher zu vermitteln. Es sind Daten, die aufmerksam machen auf Verspätungen der Züge, auf die Identität des Ortes, auf die wichtigsten Namen eines Filmes, auf Werbung. Bespielt mit den Truisms verlieren die Schriftbänder ihre Orientierungsaufgabe oder wird die Orientierung nach innen gekippt, der Betrachter mit sich und seiner Desorientiertheit, seiner Ratlosigkeit, seiner Überraschung konfrontiert. Lässt man sich auf die endlose Abfolge der neunmalklugen Sätze ein, entsteht vermutlich ein kleines Delirium, das nach einer Rekalibrierung der eigenen Interessen verlangt. Wenn für Wertheimer das Phi-Phänomen die These vom Bewegungssehen als ›selbständige Sinnesempfi ndung‹ bestätigt, der Wahrnehmungsakt aus sich selber heraus eine Bewegung zu erzeugen vermag, die Wirklichkeit also von uns mitgeformt wird, so schaff t es Holzer, über die technische Instrumentalisierung des Phi-Phänomens dem Schriftgenerator der LEDs eine vergleichbare Selbstständigkeit zuzuweisen, er erzeugt Sinn aus sich heraus, lässt uns gar keine Zeit, den Ursprung der Texte zu hinterfragen. In einer zweiten Phase koppelt Holzer zumeist die LEDs in Gruppen, stellt sie in Serien auf, relativiert die autoritäre Bedeutungsfi xierung der Schrift noch mehr, und hervor tritt ein ornamentales Gemenge aus flackernden, sich bewegenden Zeichen. Den »Eindruck von Stimmengewirr bei außenpolitischen Entscheidungen während der Amtszeit der letzten Präsidenten« kann man gleichermaßen als ornamentale Zeichenperformance interpretieren. Nicht geht es darum, die einzelne Aussage zu verstehen, als vielmehr vom Ganzen so etwas wie einen ornamentalen Durchschnittswert zu erzielen. Somit bleibt der Kontakt mit den LEDs stets ambi-
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valent. Zum einen vermitteln sie die Unberechenbarkeit einer maschinell erzeugten Sinnproduktion, die jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen kann. Zum anderen versprechen sie Sicherheit über die Dramaturgie des Ornaments, das nicht gelesen, sondern bewundert werden will.
Orientiert-sein Die Xenon-Projektionen beginnen 1996 und eröff nen einen neuen Horizont für eine nunmehr ›transzendentale‹ Skalierung von Schrift. Viel größer als die der Billboards treten die Worte in den Projektionen vor den Menschen auf wie vergangengegenwärtige Götter. Ein 185mm-Film wird über eine Xenon-Lampe so projiziert, dass die einzelnen Buchstaben die Größe von Menschen haben, diese sogar noch überschreiten. Als Projektionsfl äche dient Repräsentationsarchitektur, Häuserzeilen, Wasser, Berge, alles mögliche Gegebene. Ähnlich den Anzeigetafeln sind nun wieder Sätze oder einzelne Formeln als Ganze still und für kurze Zeit lesbar. Doch werde sie »gelesen«? Holzer arbeitet mit den Konstitutions- und Wahrnehmungsbedingungen von Film. Da ist zunächst die ästhetische Kondition einer hochskalierten Projektion im Kinoraum, die alles fi lmisch Abgebildete um ein Vielfaches zu vergrößern ermöglicht, Deleuze spricht von der prinzipiellen »Deterritorialisierung des Bildes« auf der Leinwand als Rahmen aller Rahmen.10 Zum anderen hat die Projektion als ihre ultimative Voraussetzung die Dunkelheit, das tendenzielle Entschwinden der faktischen, gebauten oder natürlichen Körper. Im Falle der XenonProjektion sind die Gebäude oder Dinge, auf die projiziert wird, bloß als Schemen erkennbar, die Fassaden oder Texturen nur ahnbar, man erinnert sich eher an sie, als dass man sie sieht. Nicht wird ihre besondere bauliche oder natürliche Eigenart Bedingung der Möglichkeit der Projektion – wie etwa in Videomappings –, sondern ihr Vermögen, einen Widerstand der Lichtstrahlung entgegen zu setzen. Einen Körper als solchen zu haben, ohne dass diesem Individualisierung zugesprochen wird, ist ausreichende Bedingung für das Schriftbild. Alles Individuelle ist bereits durch die Dunkelheit ausgelöscht. So kommt es, dass die Entindividuierung der oftmals bekannten Bauten ein wichtiger erster Hinweis für den medialen Vorgang ist, den Holzer initiiert. Man kann diesen Fortgang auch als »Häutung« verstehen. Das öffentlich wirksame Bild der Fassade eines Gebäudes etwa, oder die Beschaffenheit eines Naturdings, wird mit der Dunkelheit gehäutet und eine zweite Haut aufgezogen. Eine Haut aus Schriftzeichen, Buchstaben, vertraut-unvertraut geformten Stäben also, die etwas sagen wollen. Doch was? Die Fotografien in den Katalogen zu den Xenon-Projektionen täuschen. Sie suggerieren einen auserwählten Betrachterstandpunkt, erhöht, der alles einsieht und sich so seine Gedanken macht. Richtig ist, dass sich die Zuschauer irgendwo auf Straßenniveau befi nden und die übermächtige Wucht der Buchstaben, viel10
Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/M. 1989, 30.
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leicht auch einzelner Wörter spüren. Wie sehr es tatsächlich einzelne Buchstaben sind, die in ihrer erhabenen Mächtigkeit als Monumente ihrer selbst auftreten, zeigen prägnant jene Teile des Schriftfeldes, die – aufgrund des Ausbleibens des Projektionshintergrundes – nur teilweise lesbar sind. Doch ist es tatsächlich ein Leseakt, den die Bilder erwarten, ein kognitiver Vorgang? Xenon ist abgeleitet aus dem griechischen ξένος xénos, das bekanntermaßen »fremd« bedeutet. Xenon ist zudem ein seltenes Edelgas, das als Füllgas zu einer starken Lichtquelle wird, es wird aber auch als Inhalationsanästhetikum eingesetzt. Die übermächtigen Buchstaben erscheinen, hellen auf und entschwinden wieder. Für einen kurzen Augenblick versucht jemand etwas allen anderen zu sagen, macht die Schrift das Versprechen, dass Sinn möglich sei, Sinn, Wissen, Macht gegen Entfremdung und Kontingenz. Doch schon sind sie nicht mehr, und ein nächster Schrei ertönt. Gefolgt von einem nächsten und so weiter. Diese Pro-Jektionen sind Dis-Jektionen, also kein Vorwärts-, Voranwerfen einer aufgeklärten Subjektposition, sondern eine Spaltung, ein Einsehen der eigenen Begrenzungen aus der Position des Zuschauers, man ist Subjekt und Objekt zugleich, man erfährt eine sinnliche Überwältigung (Ästhetikum) und erfährt zugleich ihr Scheitern, eine Empfi ndungs- und Bewusstseinslosigkeit (Anästhetikum). Auch das eigene Erhabene lässt den Menschen seine Grenzen erfahren, seine Endlichkeit. Ich möchte, auch rückblickend auf die zuerst besprochenen Billboards, einen phänomenologischen Vorschlag machen, die Beziehung der Skalierung der Schriftbilder zu ihrer Betrachtung, ihrem Gesehen-werden zu klären. Im Raum-Kapitel seiner Phänomenologie der Wahrnehmung macht sich Merleau-Ponty auf die Suche nach einer »dritte(n) Räumlichkeit«, einer »ursprüngliche(n) Raumerfahrung diesseits der Unterscheidung von Form und Inhalt«.11 In Appropriation eines Experimentes von Wertheimer aus derselben Publikation, die auch das Phi-Phänomen für die Gestaltpsychologie stark machte, erarbeitet Merleau-Ponty neue Begriffe, um die Rolle des ›Leibes‹ aus den Erfahrungen mit ungewohnten »Schauspielen« (im französischen Original: »spectacles«) begreif bar zu machen. Die Relativierung von Oben und Unten in besagtem Experiment machte es notwendig zu fragen, worauf es bei der »Orientierung« eines Schauspiels ankommt. Ich möchte ausgehend von den Xenon-Projektionen argumentieren, dass für die Betrachtung der monströsen Schriftkörper, die ja über die neue Haut der Dinge stets leicht verzerrt gleiten, also nicht dem Recto-Imperativ der Druckschrift folgen (können), der jeweilige Leib der Betrachtenden eine Aufforderung erfährt, sich umzuorientieren. Das Schauspiel der Projektionen »induziert […] ein anderes Niveau«, ein neues »Raumniveau«, das allererst die Schrift relational macht, sie also in eine Beziehung zum Körper der Betrachter setzt. »Worauf es für die Orientierung des Schauspiels ankommt, ist nicht mein Leib, so wie er faktisch ist, als Ding im objektiven Raum, sondern mein Leib als System möglicher Aktionen, ein virtueller Leib, dessen phäFür diese und alle folgenden Stellen vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1965, 290–297. 11
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nomenaler ›Ort‹ sich durch seine Aufgabe und Situation bestimmt. Mein Leib ist da, wo er etwas zu tun hat.« Die Holzer’schen Schrifttafeln sind in diesem Verständnis »Verankerungsmomente«, die nicht allein das denkende Lesen, sondern den Körper als solchen, den Leib der Betrachter auffordern, eine neue »Aufgabe« zu übernehmen, tätig zu werden. Als virtueller Leib tritt er in Austausch mit PROTECT ME FROM WHAT I WANT oder mit I NEED TO LIE BACK TO FRONT WITH SOMEONE WHO ADORES ME , überträgt ihre sinnlich-volative Intonation auf die eigene Existenz, die eigene Leiblichkeit, schaff t ein neues Orientiert-sein – zu sich selber und zur Welt (des Sozialen, des Konsums). Es stellt sich eine »Übereinkunft« her zwischen dem Leib und dem Schauspiel, »die mich in den Genuss des Raumes setzt und den Dingen eine unmittelbare Macht über meinen Leib gibt«. Klar, das Erschaffen eines spektakulären Raumes durch die Illumination der Schrift, deren Buchstaben zumindest die Größe eines erwachsenen Menschen haben, kann genussvoll sein, zugleich aber übernehmen diese Dinge eine Macht über mich, stellen eine Aufgabe, die sich zuallererst an meinen Leib richtet. Es bildet sich zumindest für die Dauer der Wahrnehmung der Billboards oder der Xenons »ein allgemeines Milieu der Koexistenz meines Leibes und der Welt aus«. Die dritte Räumlichkeit lässt sich vielleicht auch so verstehen, dass die Kunst hier eine temporäre Bindung ermöglicht, die dem Vereinzelten von seinem Empfi nden aus »eine Art des Anhaltes« bietet. Jenny Holzers Verschränkung oder Assoziierung von Text, Massenmedien und öffentlichem Raum sprengt die »Reinheit der Doktrinen«, allen voran die der Kunstdiskurse, aber auch der Ökonomie und der Politik. Dabei handelt sie methodisch zugleich in Anpassung und Unterwerfung unter die (Skalierungs-) Konditionen des jeweiligen Mediums und der von ihnen geschaffenen Kontexte und in Ver-Wirrung der Gebrauchsweisen dieser Medien durch die textuellen (Un) Eindeutigkeiten der geschaffenen Aussagen. Der ästhetische Spieleinsatz verläuft entlang einer manipulativen Geste der Maßverhältnisse, der Größenverhältnisse ebenso wie der Beziehungsgrößen einem anonymen Publikum gegenüber. Die Geste ist gleichermaßen lapidar wie frivol und trivial wie sinnlich-erhaben. Sie verunsichert die Betrachtung mit einer zweifelhaft-ambivalenten Sinnproduktion (die wir zunächst und vor allem der Werbung und der Politik zuschreiben), ermöglicht jedoch auch eine leibliche Anverwandlung der medialen Erscheinungen in ihrem Schauspiel. Sie schaff t zugleich Nähe und Distanz. Diese Geste, aus Kunst geboren, ist Kunstwerken in ihren jeweiligen Kunsträumen überlegen, da sie sich überall und jederzeit in den Gefügen der Nachmoderne zu zeigen und zu wirken vermag.
Monumentale Filmbilder im öffentlichen R aum Übergänge und Konvergenzen zwischen Film, Architektur und Stadtraum in Doug Aitkens Videoinstallation sleepwalkers Claudia Tittel Vom 16. Januar bis zum 12. Februar 2007 konnten Manhattans Passantinnen und Passanten jeden Abend von 17 bis 22 Uhr eine besondere Form von »Kino« erleben. Auf den Fassaden des Gebäudekomplexes des MoMA, des Museums of Modern Art, und der umliegenden Häuser waren gewaltige, fast dreißig Meter breite und zehn Meter hohe Lauf bilder zu sehen, die von acht lichtstarken Beamern auf die semitransparenten Glaswände der Gebäude projiziert wurden (Abb.1).1 An 28 Abenden verwandelten die stummen Bewegtbilder Teile der äußeren Hülle des MoMAs in eine übergroße öffentliche Mehrkanal-Videoinstallation. Fünf verschiedene Erzählstränge waren simultan, doch in ständig wechselnden räumlichen
Abb. 1: Doug Aitken, sleepwalkers, 2007. Installationsansicht, Museum of Modern Art, New York 2007. Ich beziehe mich hier auf das Informationsblatt sowie auf die Pressemitteilung des Museums of Modern Art [im Folgenden: MoMA]. In den verschiedenen Rezensionen wird die Anzahl von Projektionen unterschiedlich angegeben – hier ist von 6, 7 oder 8 die Rede. Dem Lageplan zur Ausstellung ist jedoch eindeutig zu entnehmen, dass die Installation insgesamt acht Projektionen umfasste. Siehe auch http://www.moma.org/interactives/exhibitions/2007/aitken/, viewing information, Zugriff: 01.04.2019. 1
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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Kombinationen auf den Häuserfassaden zwischen der 53rd und 54th Street sowie der 5th Avenue zu sehen. Doug Aitken formulierte in einem Interview die Motivation für diese Installation: »I wanted to create something, that transformed architecture into a moving, flowing space. I wanted to see buildings live and breathe.« 2 Aitken macht auf den Transformationsprozess der statischen Architektur durch fl ießende Bilder aufmerksam: Architektur ist hier nicht nur Träger flüchtiger Zeichen, sondern die bewegten Bilder beeinflussen die Architektur, wie vice versa die Architektur die ästhetische Rezeption der Bilder antizipiert. So müssen die Filmbilder an die Größe der Gebäudekörper angepasst werden, sodass diese – auch durch den Zusammenprall von Stadt und Bild – umso größer und monumentaler wirken. Gleichzeitig wird die statische, körperhafte Architektur scheinbar lebendig und »atmet«. (Re)Skalierungsprozesse sind dem fi lmischen Medium aufgrund der technischen und rezeptionsästhetischen Operationen per se inhärent. So müssen die mit einer Kamera eingefangenen realen Bilder auf Filmmaterial oder im Computer zunächst verkleinert werden, um dann auf die jeweilige Leinwand im Kinosaal angepasst zu werden. Aitken hingegen skaliert nicht nur die Filmbilder für die Installation, sondern die Stadt selbst: Sie erscheint in den Groß-, Detail- oder Nahaufnahmen, durch Totalen oder Weitwinkel permanent vergrößert oder verkleinert. Sowohl räumlich als auch zeitlich fi ndet dabei ein Skalierungsprozess statt. Der Beitrag versucht, anhand der Videoinstallation sleepwalkers die verschiedenen Operationen der Skalierung im Verhältnis zur Stadt zu beleuchten und damit auch Skalierungsphänomene in raumzeitlicher Hinsicht zwischen Film, Stadt und Architektur zu erläutern.
1. Zeit-Raum-Skalierung: Dynamisierung des Raums – Verräumlichung der Zeit Sleepwalkers besteht aus 13-minütigen Videoloops, die fünf New Yorker Nachtarbeiterinnen und Nachtarbeiter während ihrer nächtlichen Routinen zeigen.3 Die Kurzfi lme erzählen keine Geschichten im klassischen narrativen Sinn,4 vielmehr Doug Aitken über seine Installation in einem Interview mit Glenn D. Lowry and Anne Pasternak, zit. nach Doug Aitken. Sleepwalkers, hg. von Klaus Biesenbach, Ausstellungskatalog MoMA New York, New York 2007, 154, auch abruf bar unter: https://www.moma.org/interactives/exhibitions/2007/aitken/fl ash.html, Zugriff: 01.04.2019. 3 Angaben des Künstlers in: Biesenbach: Doug Aitken. Sleepwalkers [Anm. 2], 154. 4 Da dem Film als Medium hinsichtlich seiner narrativen Qualitäten eine gewichtige Rolle zukommt – er wird gern, ausgehend von der Literaturwissenschaft, als das Medium bezeichnet, das in besonderem Maße dazu bef ähigt sei, mittels Bewegtbildern eine fortschreitende Geschichte zu erzählen –, spreche ich hier von Narration im üblichen Sinn und meine damit vor allem einen prozessualen, logischen Fortgang eines Geschehens, wohlwissend, dass damit ein großes Feld in der Literatur- und Filmwissenschaft gemeint ist. Vgl. dazu auch den Band 16 der Zeitschrift Montage/AV 2 (2007) zur Diegese sowie David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Madison 1985; Edward Branigan: Narrative Comprehension and Film, London und New York 1992; 2
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werden ihre alltäglichen Handlungen durch Großaufnahmen ins Zentrum gerückt.5 So sieht man die Figuren in ihren Privaträumen – beim Aufwachen, Aufstehen, Duschen, Frühstücken, zu Arbeitsbeginn und auf dem Weg zurück ins häusliche Heim. Die Handlungen scheinen aufgrund der Nahaufnahmen umso monumentaler und sind dazu angetan, die Rezipientinnen und Rezipienten in ihren Bann zu ziehen. Das Besondere an der Installation ist, dass die verschiedenen Erzählstränge nicht – wie etwa in anderen bekannten Filmen mit Parallelhandlungen – auf einer Zeitachse hintereinander erzählt werden und mit Rück- und Vorblenden gearbeitet wird,6 sondern dass alle fünf Filme parallel, aber in unterschiedlichen räumlichen Konstellationen zu sehen sind, sodass die Erzählung nicht durch die zeitliche, sondern räumliche Struktur fortwährend transformiert wird. Aitken ordnet die einzelnen Sequenzen zwar chronologisch im Nacheinander an, wodurch er ein zeitliches Kontinuum herstellt, bricht jedoch diese temporale Linearität auf, indem er mithilfe eines Echtzeit-Zufallsprogramms die Bilder der verschiedenen Clips auf die wechselnden Oberfl ächen projiziert. So entsteht ein sich permanent veränderndes Bild- und Zeitraumkontinuum. Durch diesen Kunstgriff kann er einerseits eine lineare zeitbasierte prozessuale Erzählstruktur aufrechterhalten, andererseits erzeugt er ein nonlineares, sich in den urbanen Stadtraum hinein entfaltendes räumliches Bildgefüge.7 Auf der Ebene des Skalierungsprozesses kann man hier von zwei gegenläufigen Bewegungen sprechen: So stehen kleine abgeschlossene Kurzgeschichten einer jeden Abend sich ausdehnenden Zeitstruktur fi lmischer Bilder gegenüber, die aufgrund der räumlichen Anordnung der Filmbilder keine Rezeption der gesamten Installation zulässt, sodass in der Rezeption Lücken entstehen. Aufgrund der Größe und temporalen Gestalt der Videoinstallation ist es den Betrachterinnen und Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca und London 1978; Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin 2011; Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, hg. von Fabienne Liptay und Yvonne Wolf, München 2005. 5 Stephanie Cash: A Night in the Life, in: Art in America 4 (2007), 104–107, hier: 106. 6 Die insbesondere in den 1990er Jahren einsetzende fi lmische Erzählweise mit verschiedenen parallelen Handlungssträngen im Hollywoodkino wie zum Beispiel bei »Short Cuts« (USA, 1993) von Robert Altman werden gern in Beziehung zu fi lmisch-narrativen Videoarbeiten der 1990er Jahre gesetzt. Auch Aitken wird in diesem Zusammenhang zitiert, vgl. Söke Dinkla: Virtuelle Narrationen. Von der Krise des Erzählens zur neuen Narration als mentales Möglichkeitsfeld, http://www.medienkunstnetz.de/themen/medienkunst_im_ueberblick/narration/, Zugriff : 08.08.2018; und Ursula Frohne: »That’s the only now I get«. Immersion und Partizipation in VideoInstallationen von: Dan Graham, Steve McQueen, Douglas Gordon, Doug Aitken, Eija-Liisa Ahtila, Sam Taylor-Wood, http://www.medienkunstnetz.de/themen/kunst_und_kinematografie/immersion_partizipation/, Zugriff : 08.08.2018. Dieser Text wurde unter demselben Titel ebenso publiziert in: Kunst/Kino, hg. von Gregor Stemmrich, Köln 2001, 217–238. Für sleepwalkers verweist Klaus Biesenbach, Kurator am MoMA, auf diese Verwandtschaft, vgl. Klaus Biesenbach: Building Images, in: Biesenbach: Doug Aitken [Anm. 2], 6–58, hier: 52. 7 Peter Eleey: The Exploded Drive-In, in: Biesenbach: Doug Aitken [Anm. 2], 82–137, hier: 88.
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Betrachtern nie möglich, die Videoinstallation als Ganzes zu erfassen. Vielmehr müssen sie sich bewegen und werden somit aktiv. Dennoch bleibt eine ganzheitliche Wahrnehmung der Installation aus. Durch ihre Dauer und Größe wird die Rezeption von sleepwalkers quasi unmöglich, sodass sie aufgebrochen wird und damit eine andere Rezeption einsetzt. Temporale Skalierungsprozesse sind nicht neu, sondern werden auch in anderen Arbeiten der Videokunstgeschichte genutzt. Als wohl radikalstes Beispiel für einen temporalen Rezeptionsbruch gilt Douglas Gordons Arbeit 24 Hour Psycho (1993). Gordon hatte Hitchcocks Klassiker Psycho (1960) von 109 Minuten auf 24 Stunden, das heißt 1.440 Minuten, ausgedehnt. Durch diese zeitliche Ausdehnung schien es, als würde der Film stehenbleiben; er wurde in einzelne (Stand)Bilder zerlegt. Die Narration löste sich auf und er verlor seinen Spannungsbogen: »Wenn man realistisch ist, kann man sich 24 Hour Psycho gar nicht als Ganzes ansehen, denn das Werk besteht aus einer Version von Alfred Hitchcocks Film Psycho (1960), die so verlangsamt wurde, dass der Film insgesamt 24 Stunden dauert. Während man narrative Elemente in dem Werk wiedererkennt (vor allem dank der Vertrautheit mit dem Original), enttäuscht die zermürbende Langsamkeit des Handlungsablaufs ständig unsere Erwartungen, auch indem sie die Vorstellung von Spannung auf eine an Absurdität grenzende Ebene zu heben versucht,« beschreibt Russell Ferguson die Installation.8 Gordon dekonstruiert vor allem die fi ktionale Ebene des Films, indem er das fi lmische Kontinuum zerstört. Besonders anschaulich wird das bei jenen kanonisierten Szenen wie der berühmten Duschszene, die durch schnelle Schnitte, gewagte Perspektiven und schneidenden Streichersound geprägt ist und die dramaturgisch zu den besten Horrorszenen der Kinogeschichte gehört. Während in der legendären Originalszene der Mord an der duschenden Sekretärin Marion Crane in nur 45 Sekunden abgehandelt wird, dauert die Szene in Gordons Version über 10 Minuten. Weder die 52 Schnitte, noch die 78 Kameraeinstellungen können identifi ziert werden, und auch der Ton, der für die fi lmische Rezeption essentiell ist, verschwindet.9 Doch nicht nur durch die Zerlegung des Films in seine Bestandteile wurde die Rezeption des Werks unmöglich, sondern auch durch die Filmlänge selbst, die der Dauer eines gesamten Tages entspricht. Selbst wenn sich die Besucherinnen und Besucher der Rezeptionserfahrung hätten hingeben wollen, um die Installation in ihrer Gesamtheit zu rezipieren, wäre dies nicht umsetzbar, da die reine Filmzeit über die Öff nungszeiten der musealen Einrichtungen hinausgeht. Während Aitken aufgrund der räumlichen Ausdehnung im öffentlichen Raum den Rezeptionsprozess von sleepwalkers erschwert, zeigt Douglas Gordon, wie durch temporale Skalierungen Form und Inhalt auseinanderfallen. Zeitliche Skalierungen sind also nicht nur entscheidend für die ästhetische Rezeption von Wer8 Russell Ferguson: Trust Me, in: Douglas Gordon, Cambridge/MA 2001, 16, zit. nach http:// www.medienkunstnetz.de/werke/24-hour-psycho/, Zugriff: 16.08.2018. 9 Frohne: »That’s the only now I get«. Immersion und Partizipation in Video-Installationen [Anm. 6].
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ken, sondern tragen zur Konstruktion des fi lmischen Mediums bei. Gilles Deleuze unterteilt die fi lmische Zeit in zwei Kategorien: »Zum einen ist sie [die Zeit, C.T.] das, was sich zwischen Objekten oder Teilen ereignet; zum anderen gibt sie die Dauer oder das Ganze wieder.«10 Die Frage wäre hier also nicht nur, ob sich durch Gordons Eingriff das Wesen des Films verändere, sondern ob 24 Hour Psycho noch Psycho von Hitchcock ist, denn die für die Konstruktion eines Films wesentlichen zeitlichen Parameter wie Schnitt, Montage, Bild-Ton-Beziehung und fi lmisches Kontinuum haben sich durch die temporale Skalierung aufgelöst. Die Verbindung der Raum- und Zeitebenen im Film durch technische Mittel wie Kamera, Schnitt und Montage hatte Erwin Panofsky als »Dynamisierung des Raums« und »Verräumlichung der Zeit« bezeichnet.11 Während Gordon diese Dynamisierung des Raums durch Verlangsamung des filmischen Ursprungsmaterials auf löst, erweiterte Aitken dieses für den Film von verschiedenen Theoretikern mehrfach beschriebene Konzept eines RaumZeitBildes12 durch die Verwendung mehrerer Zeit- und Raumebenen sowohl in die Fläche – den Bildraum – hinein, als auch durch die auf verschiedenen räumlich versetzten Leinwänden angeordneten Bilder in den urbanen – den realen – Raum hinein. Die Bildzyklen bilden bei Aitken einerseits eine rhythmische Gleichzeitigkeit, die durch eine zeitlich-konstruierte, stark durchkomponierte Linearität gekennzeichnet ist,13 während die zufällig computergenerierte räumliche Positionierung der Bilder auf den Hauswänden die Raum- und Zeiterfahrung fi lmischer Rezeption entgrenzt.
2. Hollywoodästhetik versus Videokunst Obwohl es sich bei Aitken explizit um eine Videoinstallation im öffentlichen Raum handelt, wurde mehrfach Aitkens Tuchfühlung zu klassischen Hollywoodfi lmen hervorgehoben:14 Aufgrund der Monumentalität der Bilder, aber auch der fi lmischen Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1989, 26. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky stellte die Wechselwirkung von Zeit und Raum und deren Konstruktion durch fi lmische Mittel heraus und bestimmte die »Dynamisierung des Raumes« und die »Verräumlichung der Zeit« als wesentliche Charakteristika des Films, Erwin Panofsky: Stil und Medium im Film, in: ders.: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt/M. 1999, 19–57, hier: 25. 12 Insbesondere im Konzept des Chronotopos fi ndet sich diese Verkettung von Raum und Zeit, vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos, Frankfurt/M. 2008 sowie Karl Sierek: Ophüls/ Bachtin. Versuch mit Film zu reden, Frankfurt/M. 1993. 13 Diese durch Schnitte und das Auftauchen der Bilder auf verschiedenen Oberfl ächen erzeugte Rhythmik hat einige Kritiker zu einem Vergleich der Aitkenarbeit mit Walter Ruttmanns Stummfi lm »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« (D 1927) veranlasst, vgl. Eleey: The Exploded Drive-In [Anm. 7], 94. 14 Hudson Moura und Natalie Panovic: Crossing the boundaries of the cinematic screen in Doug Aitken’s Sleepwalkers, in: Intermedia Review (2011), http://intermediasreview.com/Screen_Culture/Entries/2011/4/18_Crossing_the_boundaries_of_the_cinematic_screen_in_Doug_Aitken%E2%80%99s_Sleepwalkers.html, Zugriff: 08.08.2018. 10 11
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Operationen wie Kameraeinstellung, Lichtsetzung, Mise-en-scène, Tiefenschärfe sowie Schnitt- und Montagetechnik ist der Vergleich durchaus zulässig. Aitken hat sowohl ein Drehbuch für diesen »Stummfi lm des 21. Jahrhunderts«15 – wie er selbst seine Installation bezeichnete – geschrieben und engagierte zudem fünf bekannte Hollywoodschauspielerinnen und -schauspieler: Chan Marshall (Cat Power) spielte die Postbedienstete, Ryan Donowho den Straßenmusiker, Donald Sutherland den Geschäftsmann, Seu Jorge einen Elektriker und Tilda Swinton eine Büroangestellte.16 Bereits für Aitkens Videoinstallation Electric Earth, die er 1999 auf der Biennale in Venedig präsentierte, wurde ihm die Nachbarschaft zu Hollywood aufgrund der visuellen Inszenierung der Bilder attestiert.17 Die Betrachterinnen und Betrachter würden durch die Bildinszenierungen »in einer Art hypnotisierender Realitätscamoufl age vereinnahmt.«18 Auch in sleepwalkers wurden die perfekt arrangierten überdimensionalen Bilder durch schnelle Schnitte und deren fl ießende Anordnung auf verschiedenen Fassaden in einen rhythmischen Bilderfluss eingebunden. Dadurch mutet die Videoinstallation auf eine Weise sensationell und spektakulär an,19 die nicht nur die angemahnte Nachbarschaft zur Hollywoodästhetik bestätigt, 20 sondern auch auf die Massenmedien referiert.21 15 Sia Michel: MoMA Does a Drive-In. Aitken’s video installation turns the museum inside out, in: New York Art, 07.01.2007, http://nymag.com/arts/art/reviews/26286/, Zugriff: 08.08.2018. 16 Biesenbach (Hg.): Doug Aitken [Anm. 2], 170. 17 Frohne: »That’s the only now I get« [Anm. 6]. 18 Ebd. 19 Vgl. Moura und Panovic: Crossing the boundaries of the cinematic screen in Doug Aitken’s Sleepwalkers [Anm. 14]. Die beiden Filmwissenschaftler vergleichen Aitkens Installation mit Guy Debords Ansatz einer »Gesellschaft des Spektakels«. Debord hat bereits 1967 kritisiert, dass die Gesellschaft durch die von der kapitalistischen Warenästhetik inaugurierte Bilderflut zu einer des Spektakels avanciere, in der die Subjekte zu reinen Konsumenten werden und dadurch regredieren. Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978. 20 Insbesondere der Film wird mit Schaulust, Sensation, Spektakel beziehungsweise Attraktion in Beziehung gesetzt – Tom Gunning verwendet den von ihm geprägten Begriff »Kino der Attraktionen« zwar für frühe Filme und attestiert diesen einen besonderen Schauwert, interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch sein Argument, die frühen Filme besäßen besondere Schauwerte dadurch, dass die Bilder und Effekte im Verhältnis zur Narration eine übergeordnete Rolle spielten. Vgl. Tom Gunning: Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde, in: Early Cinema. Space-Frame-Narrative, hg. von Thomas Elsässer, London 1990, 56–62. In der gegenwärtigen Diskussion wird der Film, und ganz besonders der aus Hollywood, erneut mit diesen Begriffen konnotiert und in eine größere Diskussion um Attraktionswerte und Spektakel in den neuen (digitalen) Medien, aber auch in Blockbustern eingebunden. Vgl. The Cinema of Attractions Reloaded, hg. von Wanda Strauven, Amsterdam 2006; Marcus Stiglegger: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film, Berlin 2006 oder Anja Peltzer: Identität und Spektakel. Der Hollywood-Blockbuster als global erfolgreicher Identitätsanbieter, Konstanz 2011. Ich bedanke mich außerdem bei Simon Frisch, der derzeit zu diesem Thema forscht, für weitreichende Diskussionen diesbezüglich. 21 Ursula Frohne hat darauf hingewiesen, dass einige der jüngeren Generation angehörenden Künstler *innen nicht nur die MTV-Rhetorik verinnerlicht haben, sondern auf ihr »technologische[s] Repertoire« zurückgreifen und dieses mit ihren Arbeiten um ein Vielfaches steigern, Frohne: »That’s the only now I get« [Anm. 6].
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Abb. 2: Doug Aitken, sleepwalkers, 2007. Installationsansicht, Museum of Modern Art, New York 2007.
Während Aitken die Strategien der kommerziellen Massenmedien bewusst einsetzt, um die Aufmerksamkeit auf die Installation zu lenken und dabei deren Logik usurpiert,22 beanstanden Kritiker wie Jill Conner eine zu große ästhetische Nähe zu ihnen: »Instead of offering an insightful snapshot of New York’s infi nite mosaic city life, Aitken’s sleepwalkers come across as little more than the usal suspects seen in mass media.« 23 Gleichwohl sich Aitken stilistischer Parameter der Massenmedien bzw. des klassischen Hollywoodkinos bedient, bricht er sie auf: Indem er – um nur ein Beispiel zu nennen – keinen Ton verwendet, verschmelzen die realen Klänge der Stadt mit den Filmbildern,24 sodass die Stadtgeräusche zur visuellen Konstruktion der Bilder beitragen und somit die Bilder mit dem realen Rhythmus der Stadt verknüpft werden.25 Zudem wird, aufgrund der sich ständig ändernden räumlichen Position der Filmsequenzen auf den Häuserwänden sowie durch Teilung in Splitscreens, der Bilderfluss wieder und wieder unterbrochen (Abb. 2).26 Durch Kombinieren und Rekombinieren von Szenen, Isolieren von Gegenständen oder Auflösen der Bilder in Pixel oder Farben, das heißt durch die verschiedenen Reskalierungsprozesse, wird auch der 22 In einem Interview sagte er: »Our gaze is attracted to anything. Open your eyes and bingo, they’re mesmerized. I want to agitate this.«, Doug Aitken: Broken Screen. Expanding the Image. Breaking the Narrative. 26 Conversations with Doug Aitken, New York 2006, 287. 23 Jill Conner: Doug Aitken, in: ArtUS 18 (2007), 46, zit. nach Moura und Panovic: Crossing the boundaries of the cinematic screen in Doug Aitken’s Sleepwalkers [Anm. 14]. 24 Moura und Panovic: Crossing the boundaries of the cinematic screen in Doug Aitken’s Sleepwalkers [Anm. 14]. 25 Auch hier kann ein Vergleich mit Walter Ruttmanns Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (D, 1927) herangezogen werden. [Anm. 11]. 26 Moura und Panovic: Crossing the boundaries of the cinematic screen in Doug Aitken’s Sleepwalkers [Anm. 14].
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Erzählstrang zerlegt.27 Die dadurch verursachte Non-Linearität spiegelt sich nicht nur in den immer wiederkehrenden Loops wider, sondern auch formalästhetisch durch das kontingente Auftauchen der Bilder auf den sieben Gebäudeoberfl ächen.
3. Virtuelle Fenster – Korrelation von Film und Architektur Aitken bricht aber nicht nur die Erzählstruktur, das heißt das Zeit-Raum-Kontinuum und damit die Grenzen fi lmischer Bilder auf, sondern er dekonstruiert ebenfalls auf einer weiteren Ebene die Rezeptionssituation: Durch die Projektion der Bewegtbilder auf die Außenwände des Museums, das heißt auf die äußere architektonische Hülle der Gebäude, transferiert Aitken den Innenraum des Kinos 28 in den öffentlichen Stadtraum.29 Somit verschmelzen nicht nur Wand und Bild – wie im Kinosaal oder in üblichen installativen musealen Situationen – miteinander, 30 sondern die den städtischen Raum konstituierenden architektonischen Körper werden zur Projektionsfl äche und assimilieren mit den bewegten Bildern. Dadurch lenkt Aitken die Blicke der Besucherinnen und Besucher nicht – wie im Kino – aus einem (dunklen) Innenraum in einen zweidimensionalen Fiktionsraum,31 sondern die Besucherinnen und Besucher interagieren mit dem Stadtraum. Ihre Blicke werden nicht monofokal auf die Leinwand und somit den Filmraum gerichtet, sondern sie können zum Horizont der Stadt schweifen und gleichsam durch die »Leinwand« hindurch in das reale Innenleben der Gebäude sehen. Gebäudekörper und öffentlicher-realer Raum verschmelzen mit den realen Innenräumen (Abb. 3 und 4). 32 27 Lisa Murphy: A Night At The Museum, in: Live Design 41 (2007), 7 f., http://livedesignonline.com/architainment/night_museum/, Zugriff: 23.08.2018. 28 Natürlich sprengt Aitken nicht nur das Kinodispositiv, sondern ebenfalls das Ausstellungsdispositiv. Dies soll jedoch erst an späterer Stelle reflektiert werden. 29 Auf die Reflexion kinematographischer Parameter in Videoinstallationen v.a. seit den 1990er Jahren verwiesen insbesondere Ursula Frohne und Lilian Haberer. Vgl. die Einleitung in: Kinematographische Räume. Zur filmischen Ästhetik in Kunstinstallationen und inszenierter Fotografi e, hg. von Ursula Frohne und Lilian Haberer, München 2012, 9–52 sowie zwei frühere Publikationen derselben. Vgl. Ursula Frohne: Ausbruch aus der weißen Zelle. Die Freisetzung des Bildes in cinematisierten Räumen, in: Black Box, hg. von Ralf Beil, Ostfi ldern 2001, 51–64 oder Frohne: »That’s the only now I get« [Anm. 6]. 30 Siegfried Kracauer hebt in seinem vielbesprochenen Aufsatz »Kult der Zerstreuung« die Auflösung der statischen Wand in der Dunkelheit des Kinos als das entscheidende Merkmal für den Film hervor, Siegfried Kracauer: Kult der Zerstreuung, in: ders.: Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. 1963, 311–317, hier: 317. 31 Den Gegensatz von Materialität (der Wand) und Immaterialität (der Filmbilder) hat Anne Friedberg als das zweite fi lmische Paradoxon beschrieben. Das erste war Stasis der Besucher *innen vs. Mobilität (der Bilder). Vgl. Anne Friedberg: Die Architektur des Zuschauens, in: Umwidmungen. Architektur und kinematographische Räume, hg. von Gertrud Koch, Berlin 2005, 100–117, hier: 100 und Anne Friedberg: The Virtual Window. From Alberti to Microsoft, Cambridge/MA 2006. 32 In manchen Dokumentationsinstallationsansichten kann man das Treiben hinter der Fassade, das heißt das Innere des Gebäudes erkennen.
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Abb. 3 und 4: Doug Aitken, sleepwalkers, 2007. Installationsansicht, Museum of Modern Art, New York 2007.
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So werden sowohl die Stadt, die in den fi lmischen Bildern repräsentiert wird, als auch das Innere der Gebäude fi ktionalisiert und sind gleichsam real vorhanden. Dieses Changieren zwischen Real- und Fiktionsraum wird durch die Lichtstärke der Beamer nochmals gesteigert, denn einerseits reflektieren die opaken Flächen die Lichtstrahlen, andererseits durchdringen sie teilweise die transparente Gebäudeaußenhaut, das heißt die Glasfl ächen der Fenster.33 Aitken verbindet somit die realen Fensterfronten mit den medialen Rahmungen:34 Die faktisch durchsichtigen gläsernen Bauelemente des MoMA werden mit den fi lmischen Bildern, das heißt dem Installations- und Filmdispositiv konfrontiert. Die Fenster, die üblicherweise als transparente Trennwand zwischen Innen und Außen, zwischen Privat- und öffentlichem Raum dienen, werden nun zur Projektionsfläche und lassen gleichzeitig den Blick ins Innere zu. So triff t der kinematographische Fiktionsraum nicht nur auf den urbanen Raum der nächtlichen Stadt, sondern auch auf den Innenraum der Gebäude.35 Gleichzeitig spiegeln sich die anderen Projektionen auf oder auch die Stadt in den Fensterfl ächen, sodass sich weitere Räume öff nen. Aitken verweist einerseits auf den (öffentlichen) Blick durch ein Fenster in einen privaten (Innen)Raum, als auch gleichzeitig auf die metaphorische Ebene des Kinodispositivs als »virtuelles Fenster«. 36 In Privacy und Publicity 37 stellt Beatriz Colomina einen Zusammenhang zwischen den neuen Massenmedien (vor allem dem Film) und der Architektur der Moderne her: Sie argumentiert, dass durch die großen Fensterfl ächen die Innenräume zu »Schaufenstern« würden, sodass die modernen Gebäude ein voyeuristisches Blickregime erzeugten, das gleichermaßen dem Medium Film inhärent sei.38 Sie verweist somit auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen moderner Architektur und Film, die bereits andere Autorinnen und Autoren hervorgehoben hatten.39 Durch die transparenten Flächen werde nicht nur Moura und Panovic: Crossing the boundaries of the cinematic screen in Doug Aitken’s Sleepwalkers [Anm. 14]. 34 Insbesondere in der Filmtheorie wird die Fenstermetapher gern verwendet. Siehe zu den verschiedenen Bestimmungen von Fenster und Rahmen: Thomas Elsässer und Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 32011. Hier insbesondere das Kapitel zu Fenster und Rahmen, 23–48, aber auch [Seite]. 35 Aitken führt diese Idee des Hineinblickens in Innenräume nicht konsequent fort, denn seine Bilder sind nicht aus einer Perspektive gedreht, sondern bestehen aus vielen verschiedenen Einstellungen und Ansichten, die sowohl Innen- als auch Außenräume sowie Details zeigen. 36 Anne Friedberg hat den Begriff des »virtual window« in den theoretischen Diskurs des Kinos eingeführt und rekurrierte damit auf Filmtheoretiker wie André Bazin, der den Blick auf die Leinwand mit dem Blick durch ein Fenster verglich und sich auf Albertis Metapher eines Bildes als »offenes Fenster« bezog. Den Begriff des Fensters, der metaphorisch für die Grenze zwischen Bildraum und Wand steht, erweiterte Friedberg, indem sie ihn mit dem im Diskurs der neuen Medien zu einem Leitthema avancierten Begriff der Virtualität verknüpfte. Vgl. Anne Friedberg: The Virtual Window. From Alberti to Microsoft, Cambridge/MA 2006. 37 Beatriz Colomina: Privacy and Publicity. Modern Architecture and Mass Media, Cambridge/ MA 1996. 38 Colomina: Privacy and Publicity [Anm. 37], 6 ff. 39 Auch andere Filmwissenschaftler *innen haben diese Beziehung herausgestellt. So z. B. 33
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die Sicht nach außen panoramatisch geöff net, sondern die Innenräume werden einsehbar und avancieren somit zu einer Bühne.40 Diese Verwandtschaft zwischen moderner Architektur und Film greift Aitken auch formalästhetisch auf. Vor allem durch die neue Videotechnik ist es vielen Künstlerinnen und Künstlern möglich, die wirkungsästhetischen Charakteristika von Film in andere Rezeptionszusammenhänge zu transferieren und diese dort zu nutzen. Sie schaffen dabei gänzlich neue Videoformate, in denen Film- und Außenraum so miteinander verschmelzen, dass die Architektur virtualisiert wird und sich scheinbar auf löst. Architektur dient hier nicht mehr nur als Träger der Videobilder, sondern wird dabei zum Gegenstand der Installation: Für ihre temporären Videomapping-Installationen passt die Bremer Künstlergruppe urbanscreen die Videobilder passgenau an die Architektur, das heißt Fassaden, an und verknüpft Videoprojektion und Architektur so, dass es scheint, als bewege sich das Gebäude bzw. als öff ne es sich in einen dreidimensionalen Raum – in eine Bühne. Während Aitken »nur« Bewegtbilder auf die Fassaden projiziert und diese auch als solche – das heißt als fi ktionale Bilder – erkennbar bleiben, fallen in den Projektionsmappings von urbanscreen die Videobilder mit der Physikalität des Ortes in eins. Urbanscreen baut im Computer die Struktur der Gebäude nach und passt dann diese computeranimierten Bilder exakt an die Fassade an, sodass sie sich wie ein Trompe l’oeil über die Architektur legen, wodurch dreidimensionale fi ktionale Räume entstehen. Die statische Architektur bewegt sich, Realität und Fiktion verschmelzen miteinander.41 Während die Maler der Renaissance die Illusion der Dreidimensionalität mit malerischen Mittel erzeugten und somit die Dreidimensionalität eines Raums auf einer zweidimensionalen Fläche – einer Wand – simulierten, so wird diese optische Täuschung nun mit fi lmischen Mitteln erzeugt: Ort und Zeit verschmelzen miteinander. In der ortsspezifi schen Videoinstallation What’s up, die im Rahmen des International Festival of Arts Grenswerk am 25. September 2010 in Enschede realisiert wurde (Abb. 5), schien nicht nur die Trennung zwischen Außen- und Innenraum, sondern auch zwischen den Größenverhältnissen aufgehoben: Auf die Außenwand eines typischen holländischen Wohnhauses aus dem 19. Jahrhundert hatte urbanscreen ein Video projiziert, das den Blick in einen Raum freigab, in dem sich ein überlebensgroßer, den kompletten Raum einnehmender Mensch befand, der versuchte, die Schwerkraft auszusetzen.42 Urbanscreen löste somit optisch nicht nur die Fassade Giuliana Bruno: Public Intimacy. Architecture and the Visual Arts, Cambridge/MA 2007 und Karl Sierek: Vorschrift und Nachträglichkeit. Zur Rhetorik von Bauen und Film, in: Daidalos 64 (1997), 116–121. 40 Ursula Frohne hat dargelegt, dass diese »Transformation der Lebenssphäre zu einem ›Fenster‹ […] zu einem zentralen künstlerischen Topos des letzten Jahrzehnts wurde.«, Ursula Frohne: Moving Image Space. Konvergenzen innerer und äußerer Prozesse in kinematographischen Szenarien, in: Kinematographische Räume, hg. von Frohne und Haberer [Anm. 29], 447–496, hier: 491. 41 Christoph Kronhagel: Die Kunst der Projektion, in: ders.: Mediatektur. Die Gestaltung medial erweiterter Räume, Wien 2010, 157–165, hier: 157. 42 Siehe die Beschreibung des Projekts auf der Homepage der Künstlergruppe: http://www. urbanscreen.com/usc/831, Zugriff 08.08.2018.
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Abb. 5: urbanscreen, What’s up, 2010. Installationsansicht International Festival of Arts Grenswerk, 2010.
auf, sondern nutzte die fi lmischen Operationen, um die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft zu setzen. Seit 2007 realisiert urbanscreen Videomappings und überträgt dabei theatrale Inszenierungen auf Architektur.43 Ebenso wie George Méliès, der in den Anfängen des Kinos in Theaterkulissen drehte und unter Zuhilfenahme technischer Möglichkeiten wie Schnitt und Montage phantastische Geschichten erzählte, erprobt urbanscreen fi lmische Mittel, um die reale Architektur aufzulösen, diese zu »emotionalisieren« und sie als Bühne zu inszenieren.44 Dabei ist, anders als bei Aitken, die Kameraposition immer statisch, wodurch auch der Betrachterstandpunkt zentralperspektivisch gerichtet bleibt und somit der Betrachterblick jenem durch ein »offenes Fenster« gleicht.45 Die Künstler thematisieren einerseits die Fassade als Membran zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre und reflektieren gleichzeitig die dem Film zugrundeliegende monofokale Betrachterperspektive.46 Durch Ebd. Kronhagel: Die Kunst der Projektion [Anm. 41], 156. 45 Gerade diese zentralperspektivische Ansicht ist bei Leon Battista Alberti als Idee enthalten, vgl. Leon Battista Alberti: Das Standbild – Die Malkunst – Grundlagen der Malerei [De Statua – De Pictura – Elementa Picturae], hg. von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, I. 19, 193–315, hier: 225. 46 Vgl. die Beschreibung des Projekts auf der Homepage der Künstlergruppe: http://www. urbanscreen.com/usc/831, Zugriff: 08.08.2018. 43
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die Inszenierung der architektonischen Oberfl äche und Auflösung dieser in eine Bühne, in der die Fassade als Grenzschicht zwischen privat und öffentlich, als Schnittfl äche zwischen Innen und Außen fungiert, wird die Architektur auch metaphorisch als Bühne(nkasten) aufgefasst. Somit wird nicht mehr nur ein Blick durch ein Fenster in einen anderen Raum gewährt, sondern Fenster und Rahmen, das heißt Dispositiv und Medium fallen zusammen. Insbesondere durch die Projektion des Bewegtbildes auf die Häuserwand wird nicht nur das Filmerlebnis vom Innen- in den Außenraum transferiert, sondern die Gebäudeoberfl äche wird zu einer öffentlichen Leinwand, einem Urban Screen, der zwangsläufi g auch an die urbane Erfahrung gekoppelt ist. Somit wird im Namen der Künstlergruppe urbanscreen bereits ihre künstlerische Praxis im städtischen öffentlichen Raum antizipiert: Durch ihre Projektionen, die die Fassaden vollständig virtuell »auflösen«, werden diese zu riesengroßen öffentlichen Bildschirmen bzw. Leinwänden.47
4. Aufmerksamkeitsinszenierung im öffentlichen Raum – die Skalierung der Stadt Während die Künstlergruppe urbanscreens die Fassade, das heißt das Dispositiv der fi lmischen Inszenierung zum Sujet der Videoinstallation macht und somit Größen- und Raumskalierungen von Architektur auf Videoformate überträgt, dient in sleepwalkers die Fassade als Bildträger. Zwar werden auch in sleepwalkers die Bilder an die Gebäudegröße adaptiert, das heißt hochskaliert, doch in Aitkens Installation sind Architektur- und Bild-, d. h. Sujetformat nicht identisch. Obwohl urbanscreens ebenfalls Videoinstallationen im öffentlichen Raum installiert und sich dabei bereits durch ihren Künstlernamen auf die großformatigen öffentlichen Bildschirme bezieht,48 ist Aitkens Ansatz in sleepwalkers von der steigenden Dichte visueller Wahrnehmung in der Stadt beeinflusst. Aitken bemerkte, dass »Our gaze is attracted to anything. Open your eyes and bingo, they’re mesmerized. I want to agitate this.«49 Vor allem der Times Square, auf den Aitken Bezug nimmt, mit seinen überbordenden Fassaden aus Screens, Leuchtschriften und Werbeplakaten steht paradigmatisch für den Wandel der Stadt durch digitale Medien und der gesteigerten Als Urban Screens werden hauptsächlich digitale Großbildschirme oder Displays im öffentlichen Raum bezeichnet, die entweder in Gebäude integriert werden, zum Beispiel am Times Square in New York, oder die wie Plakatwände freistehend im öffentlichen Raum anzutreffen sind. Es gibt jedoch auch weitreichendere Beschreibungen, so defi niert Mirjam Struppek Urban Screens folgendermaßen: »Urban Screens are various kinds of dynamic digital displays and interfaces in urban space such as LED signs, plasma screens, projection boards, information terminals but also intelligent architectural surfaces being used in consideration of a well ballanced, sustainable urban society.«, zit. nach http://www.urbanscreens.org/about.html, Zugriff 08.08.2018. 48 Aitken hat die Motivation für die Installation damit beschrieben, dass er die Gebäude leben und atmen sehen wollte. Vgl. Interview Biesenbach: Doug Aitken [Anm. 2], 54. 49 Aitken: Broken Screen [Anm. 22], 157. 47
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Aufmerksamkeitsinszenierung. Bereits 1912 hat Georg Simmel die Erfahrung der sich ändernden industrialisierten Großstadt als »Steigerung des Nervenlebens« beschrieben, die durch »innere und äußere Wahrnehmungswechsel« 50 hervorgerufen werde. Walter Benjamin erkannte dabei strukturelle Verwandtschaften zwischen der alltäglichen, nun mehr fragmentarischen großstädtischen Wahrnehmung am Anfang des modernen Zeitalters und den Wesenszügen des Films. So verglich er die Großstadterfahrung auch mit jener im Kino und setzte beide Erfahrungswerte gleich: »Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr […] erlebt«.51 Dabei diente ihm die Figur des Flaneurs, der im Durchqueren durch die Stadt kleine Details und Fragmente wahrnimmt, als Pendant zum zerstreuten Kinorezipienten: Während der Film durch Schnitte zerstückelt und später durch die Montage wieder zusammengefügt wird, baut der Flaneur in seiner Vorstellung das Gesehene zu einem totalen Ganzen (wieder) zusammen.52 Insbesondere heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, ist die fragmentarische Wahrnehmung durch die wachsende Anzahl visueller, aber auch akustischer Eindrücke und die Omnipräsenz der Medien im urbanen Raum, aber auch durch Internet und Fernsehen in unsere alltägliche Erfahrung regelrecht eingeschrieben. Diese Ubiquität der Bilder, Zeichen und Informationen, das heißt die Quantifi zierung von medialen Eindrücken im öffentlichen Raum spiegelt gleichzeitig unsere Mediengesellschaft wider. Aitken verweist in seiner Installation auf die Allgegenwart massenmedialen Bilder und die dadurch entstehende fragmentarische Wahrnehmung. Die auf mehrere Bildschirme verteilte »fragmentierte Narrationsform«53 in sleepwalkers nimmt durch die Projektion auf verschiedene Häuserwände und durch die Spiegelung des nächtlichen Stadtlebens in der Fassade direkt Bezug zu dieser zerstückelten, kaleidoskopartigen und gleichzeitig flüchtigen Erfahrung der Gegenwart. Das simultane Neben- und Nacheinander der Bilder und Zeichen, die kontingenten flüchtigen Lichter sind Ausdruck unserer medialen InformationsGeorg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1912), in: Georg Simmel: Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Bodenheim 1998, 119. 51 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936/38]. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/M. 1963, 7–44, hier: 39. 52 Benjamin hat im Schnitt und in der Montage im Film ein großes Potential (im Vergleich zur Malerei) gesehen und fasst dies in seinem Kunstwerkaufsatz folgendermaßen zusammen: »Die Bilder, die beide davontragen sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramannes ein vielf ältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammen fi nden. So ist die fi lmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere […]«, Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Anm. 51], 32. 53 Dinkla: Virtuelle Narrationen [Anm. 6]. 50
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Abb. 6: Doug Aitken, sleepwalkers, 2007. Installationsansicht, Museum of Modern Art, New York 2007.
gesellschaft: Die Neonreklamen, blinkenden Symbole, laufenden Leuchtschriften werden hier zu abstrakten Zeichen, zu leuchtenden Gitterlinien oder Kreisen, um sich dann in einer monochromen Bildfl äche aufzulösen (Abb. 6). Ebenso wie sich am Times Square die digitalen Bilder auf die architektonischen Körper legen und in die Stadt hineinstrahlen, so sind auch Aitkens Videosequenzen so angeordnet, dass ein diskontinuierlicher und trotzdem strukturierter Bildraum entsteht, der ein leuchtendes Kaleidoskop aus vielfältigen Bild- und Zeichenfragmenten bildet. Dabei wird sleepwalkers zum Spiegel der gegenwärtigen Erfahrung in der Metropole und korrespondiert gleichzeitig mit ihr.54 Der Fußgänger fi ndet im vom einen zum anderen Bildschirm wandernden Bilderzyklus ein Abbild dieser fl ießenden, kontingenten Blickwechsel in der nächtlichen Lichterwelt der Großstadt. Doch während im Stadtraum die leuchtenden Zeichen auseinanderbersten, hält Aitken seine Erzählung rhythmisch und durch die parallel erzählten synchronen Handlungen zusammen. Dennoch verkörpert sleepwalkers die sich beschleunigende globale städtische Medienkultur:55 »Sleepwalkers investigates the new and evolving relationship of contemporary urban life. « 56 Eleey: The explodede Drive-In [Anm. 7], 92. Ebd. 56 Klaus Biesenbach: Building Images, in: Doug Aitken, hg. von Klaus Biesenbach [Anm. 2], 6–59, hier: 6. 54 55
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5. Broken Screen oder Die Entfesselung des Betrachters In Aitkens Installation sleepwalkers treffen die beiden Konzepte Stadt- und Filmraum aufeinander: einerseits ist die Installation so angelegt, dass das Kameraauge die Standpunktwechsel 57 vornimmt: Perspektive, Maßstab und Standpunkt werden durch die Schnitte gewechselt. Andererseits müssen sich die Betrachterinnen und Betrachter innerhalb der Installation, also um die Häuser herum bewegen, um alle Bilder sehen zu können, und diese dann zu einem Gesamtbild zusammensetzen.58 Dabei wird die zentralperspektivisch angeordnete konstruierte »Architektur des Zuschauens« 59 im Kino aufgelöst, die bereits in den 1970er Jahren von psychoanalytischen Filmtheoretikern, insbesondere von Jean-Louis Baudry in seiner Apparatus-Theorie, verurteilt wurde.60 Baudry hatte dargestellt, wie durch die immobile Anordnung zwischen Leinwand, Zuschauerinnen/Zuschauern und Projektor im dunklen Kinosaal die Bildillusion und mithin die Schaulust im Kino erzeugt werde.61 Sich auf Platons Höhlengleichnis berufend, sprach er sogar von Fesseln beziehungsweise von einer Gefangenschaft, in die sich die Zuschauerinnen und Zuschauer selbst und gern begäben.62 Etwa zeitgleich mit der Kritik am Kinodispositiv seitens der Theorie setzte auch eine »subversive Explosion« 63 aller Kategorien des Kinobegriff s ein. Auf allen Jedoch werden diese Standpunktwechsel gar nicht oder nur selten von Kamerafahrten, sondern durch Einstellungswechsel vorgenommen, denn die Kamera ist fast immer statisch. 58 Insbesondere in der Bewegung und dadurch aktiven Teilnahme der Betrachter *innen an einer installativen Situation sehen Frohne, Haberer und Rebentisch das reflexive Moment in Videoinstallationen im Gegensatz zum Kinodispositiv, vgl. Frohne und Haberer: Kinematographische Räume [Anm. 29], 20 ff.; Juliane Rebentisch: Die Ästhetik der Installation, Frankfurt/M. 2003, 181 ff. 59 Anne Friedberg hat diese konstruierte Rezeptionssituation als »Architektur des Zuschauens« beschrieben, vgl. Anne Friedberg: Die Architektur des Zuschauens, in: Koch: Umwidmungen. Architektur und kinematographische Räume [Anm. 31], 100–117. Nathalie Predella hat Friedbergs Gedanken weitergeführt, vgl. Nathalie Predella: Die Architektur des Zuschauens. Imaginäre und reale Räume im Film, Bielefeld 2009. 60 Baudry hat ausgehend von Foucaults Analyse der Machtdispositive die statische Betrachter *innenposition im Kino als machtpolitisches Instrument verstanden, vgl. Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Kursbuch der Medienkultur, hg. von Claus Pias, Stuttgart 1999, 381–404, hier v.a.: 385. 61 Lev Manovich: Archäologie des Computerscreens, in: Kunstforum, Band 132, Nov. 1995/Jan. 1996, digital abruf bar unter: https://www.kunstforum.de/artikel/eine-archaologie-des-computerbildschirms/, Zugriff: 23.08.2018. 62 Vgl. Baudry: Das Dispositiv [Anm. 60], aber auch Elsässer und Hagener: Filmtheorie zur Einführung [Anm. 35], 86 ff. oder Malte Hagener: Wohin gehen? Wohin sehen? Raum und multiple Bildschirme in der begehbaren Mehrkanalinstallation, in: Synästhesie-Eff ekte. Zur Intermedialität der ästhetischen Wahrnehmung, hg. von Robin Curtis, Marc Glöde und Gertrud Koch, München 2010, 151–170, hier: 152 f. 63 Peter Weibel: Erzählte Theorie – Multiple Projektion und neue Narration in der Videokunst der neunziger Jahre, in: video cult/ures. Multimediale Installationen der 90er Jahre, Ausstellungskatalog 57
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künstlerischen Gebieten wurden die herrschenden Machtverhältnisse und die damit verbundenen herkömmlichen Repräsentationsordnungen kritisiert:64 Künstlerinnen und Künstler, Filmemacherinnen und Filmemacher erprobten neue ästhetische Formate, in denen die Konzeption von Film/Kunst um wesentliche Aspekte des Räumlichen erweitert wurde: Bildschirme oder Leinwände wurden multipliziert, Bilder vervielfacht und anschließend über mehrere Bildschirme beziehungsweise Leinwände im Raum verteilt.65 Innerhalb der experimentellen Video- und Filmkunst der 1960er und 70er Jahre wurde mit dem Screen als Repräsentationsfl äche experimentiert und dabei auch das Verhältnis zwischen Betrachter- und Bildraum neu defi niert.66
Abb. 7: Andy Warhol, The Chelsea Girls, 1966/1967.
Vor allem im Umfeld des Expanded Cinema zeigten sich dabei Skalierungsprozesse auf der Ebene der Quantifi zierung der Bilder. So setzten Ray und Charles Eames in ihrer Installation THINK , die 1965 im IBM-Pavillon in New York aufgeführt wurde, mehrere Leinwände ein, um einerseits aus den tradierten Dispositiven auszubrechen, aber auch um die Aufmerksamkeit zu steigern. Durch das Nebeneinandersetzen verschiedener paralleler Ereignisse im Raum wurde nicht nur die geradlinige, chronologische Erzählweise aufgebrochen, sondern auch die zentralperspektivische Betrachtersituation aufgehoben. Insbesondere das »Dogma Museum für Neue Kunst, Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe [im folgenden: ZKM], hg. von Ursula Frohne, Köln 1999, 25–37, hier: 25. 64 Vgl. Matthias Michalkas Einleitung, in: X-Screen. Filmische Installationen und Aktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre, Ausstellungskatalog Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, hg. von Matthias Michalkas, Köln 2004, 6–11, hier: 6. 65 Weibel: Erzählte Theorie – Multiple Projektion und neue Narration in der Videokunst der neunziger Jahre [Anm. 63], 25 ff. 66 Darin sieht Rebentisch auch den Beginn der kinematographischen Installationen, die aus diesen Versuchsanordnungen rund um das »Expanded Cinema« entstanden, vgl. Rebentisch: Die Ästhetik der Installation [Anm. 58], 182.
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des konzentrierten Einzelbildes« 67 wurde zugunsten anderer Situationen aufgegeben, in denen die Betrachterinnen und Betrachter eine oder mehrere Ereignisse gleichzeitig fokussieren konnten. Dabei mussten die Besucherinnen und Besucher immer wieder neue Standpunkte einnehmen und somit auf besondere Weise aktiv werden. Viele Werke suchten die traditionelle Betrachtersituation und kinematographische Erfahrung zu entgrenzen: Andy Warhol hatte in The Chelsea Girls (Abb. 7) die Leinwand in einen Splitscreen unterteilt. Warhol ließ den Film in Realzeit ohne Schnitte abspielen, sodass dieser eine hypnotisierende Wirkung auf die Zuschauerinnen und Zuschauer ausübte und sie begannen, andere Zusammenhänge zwischen den Ereignissen herzustellen.68 Insbesondere die Künstlergeneration der 1990er Jahre hat diese Praxis der Auflösung des Kinodispositivs in mehrkanaligen ortsspezifi schen kinematographischen Installationen weitergeführt. Viele Künstlerinnen und Künstler entwickelten, wie Ursula Frohne und Söke Dinkla herausstellten, in großformatigen Videoinstallationen neue Narrationsformen, in denen Real-, Ausstellungs- und Filmraum korrelierten und die Betrachterinnen und Betrachter in das Kunstwerk involvierten.69 Auch Doug Aitken, dessen künstlerisches Schaffen zwar erst in den 1990er Jahren begann, experimentierte von Anfang an mit mehrkanaligen Videoinstallationen und erprobte dabei Situationen, die die Betrachterinnen und Betrachter umhüllten und sie auf besondere Weise affi zierten.70 In sleepwalkers arbeitet Aitken erneut mit einer polyfokalen Anordnung der Screens, wobei er diese noch steigert, da durch die Installation der Bilder im Stadtraum diese um ein Vielfaches (noch) monumentaler erscheinen. Die künstlerische Herkunft von sleepwalkers ist jedoch in beidem zu fi nden: in den Inszenierungsstrategien der massenmedialen Stadt, aber auch historisch in der Videokunst der 1960er und 1970er Jahre. Das Zusammenfallen der ästhetischen Strategien beider ist vor allem den technischen Skalierungsmöglichkeiten digitaler Medien zu verdanken, und so ist Doug Aitkens Videoinstallation sleepwalkers nicht nur ein Musterbeispiel von Skalierungsprozessen im 21. Jahrhundert, sondern insbesondere die verschiedenen Skalierungsoperationen machen die Übergänge und Konvergenzen zwischen Film, Architektur und Stadtraum sichtbar.
Abb. 1–4, 6: © Doug Aitken. Courtesy 303 Gallery, New York. Abb. 5: © Paul Clason. Abb. 7: © VG Bild-Kunst Bonn, 2020. Ilka Becker: Kunst und Film, in: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, hg. von Hubertus Butin, Köln 2002, 155–158, hier: 156. 68 Doug Aitken beschrieb eine ähnliche Erfahrung, als er zum ersten Mal The Chelsea Girls im Kino sah. Andy Warhol bezeichnet er als wichtigen Inspirationspunkt für seine Installationen. Aitken: Broken Screen [Anm. 23], 287. 69 Vgl. Frohne und Haberer: Kinematographische Räume [Anm. 29]; Video Cult/ures. Multimediale Installationen der 90er Jahre, hg. von Ursula Frohne, Ausstellungskatalog Museum für Neue Kunst, ZKM Karlsruhe, Köln 1999 und Dinkla: Virtuelle Narrationen [Anm. 6]. 70 Aitken: Broken Screen [Anm. 22], 287. 67
R ewind | Downscale Künstlerische Verfahren zum ›armen Bild‹ Lilian Haberer
Im Gespräch über seine im Rahmen der dOCUMENTA (13) erstmalig präsentierte Lecture Performance und mehrteilige mediale Installation The Pixelated Revolution (2012) über die Revolution in Syrien während des Arabischen Frühlings, verwies Rabih Mroué 2016 auf zwei verschiedene Arten von Bildern:1 die hoch- und niedrigaufgelösten. Er habe zunächst beide in Konkurrenz zueinander gesehen, würde sie jedoch mittlerweile als komplementäre Prinzipien in der Kunst, dem Film oder dem Fernsehen wahrnehmen. Die Frage der Kuratorin Katerina Valdivia Bruch an den in Beirut geborenen und in Berlin lebenden Theaterautor, bildenden Künstler, Regisseur und Schauspieler richtete sich auf die »Revolution mit niedriger Auflösung«,2 mit der sie auf das von Mroué für seine Vortrags-Performance 3 aus dem Internet verwendete Material der Handykameras von unabhängigen Demonstrierenden, Journalist *innen und auf ihre mögliche Aufwertung und Authentifizierung durch die Ausstellung im Museumsraum anspielt.4 Thematisch geht Mroué in seinem Werk auf die im Netz zirkulierenden, manifest-ähnlichen Vorgaben für das journalistische Dokumentieren der Revolution ein. Er spricht die Gleichsetzung von Handy und Auge an, mit der die Filmenden, sogenannten »citizen journalists« und Demonstrierende gegen das Regime, heikle Scharfschützen-Attacken der Regierung mit oftmals fatalen Folgen mit der Mobiltelefonkamera aufnehmen. Im Filmmodus und als Zeugen werden sie zu spät des eigenen Exponiert-Seins gewahr und damit selbst zum Ziel. In seinem Statement Vgl. Katerina Valdivia Bruch: »Bilder bis zum Sieg?« – Ein Gespräch mit Rabih Mroué, in: Goethe-Institut Kultur online (2016), übersetzt von Silke Nagel, https://www.goethe.de/de/kul/ tut/gen/tup/20812525.html, Zugriff: 19.02.2020. 2 Mit der »Revolution mit niedriger Auflösung« spielt sie auf den Titel des Werks und die Verpixelung des Footage von Mobiltelefonen an, ebd. 3 Aus der Lecture-Performance, die der Künstler selbst als Teil seiner Reihe ›nicht-akademischer Vorträge‹ begreift, hat Rabih Mroué ebenfalls eine Einkanal-Videoinstallation konfiguriert, vgl. Rabih Mroué: The Pixelated Revolution (2012), Farbe, Ton, 21:59 Min., Countdown Screen, Maße variabel, Sammlung des San Francisco Museum of Modern Art [SFMOMA], San Francisco, erworben 2013. 4 Mroué antwortet auf die Frage auch: »In Syrien fehlte es damals an professionellen Journalisten. Außerdem hatte das Regime das Land fest in der Hand, wodurch den Journalisten eine Berichterstattung aus Sicht der Protestierenden kaum möglich war. Darum wurde jeder zum Reporter. Aus deren Material entstand sofort eine eigene Form des Widerstands. Die Urheber blieben anonym, die Filme gehörten allen. Das Regime setzte sie sogar gegen die Protestierenden ein. Für mich war das eine Einladung, mit dem Material zu arbeiten. Ich erkannte jedoch, dass mit der Nutzung immer eine Verantwortung einhergeht.«, Bruch: »Bilder bis zum Sieg?« [Anm. 1]. 1
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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zu den verpixelten oder hochauflösenden Bildern verweist der Künstler auf die wegweisende Rolle von Skalierungen für dokumentarische Verfahren im Bereich der medialen Reflexion, sei es im künstlerischen oder journalistischen Kontext. Für seine Arbeit verwendet er die niedrigauflösenden Handysequenzen der zum syrischen Konfl ikt gefundenen found footage aus dem Netz, da diese eine Mikroperspektive einnehmen, die sonst durch staatliche Medien nicht vergegenwärtigt wird und quasi eine Gegenperspektive zu den verbreiteten Bildern vermitteln. Sein Hinweis auf die sich ergänzenden Bildformate lässt sich somit auf die im einleitenden Beitrag von Carlos Spoerhase aufgeworfene Frage lesen, inwiefern Skalierungen mit qualitativen und wertenden Einschätzungen einhergehen und wie sie unsere Wahrnehmung bestimmen. Mroués Fokussierung auf die komplementären Formate in der Kunst und im Film sind andererseits auch so zu deuten, dass der Einsatz von Skalierungsmodi ein Spektrum von Bildästhetiken und -politiken aufruft, demnach nicht nur ästhetische, sondern auch konzeptuelle und thematische Aspekte mit einschließt, die je nach künstlerisch-medialem Verfahren unterschiedlich konnotiert und eingesetzt werden: Die Möglichkeit, in hochauflösende Bildformate von Kunstwerken, Mode- und journalistischen Bilder hinein zu zoomen, jedes Detail nachzuvollziehen, sind ebenso Teil einer Medienpraxis wie die Verwendung von Bildformaten mit geringer Datenmenge, die möglicherweise unter erschwerten Bedingungen aufgenommen wurden und leichter zirkulieren können. So fi ndet nicht erst seit dem »documentary turn«5 eine Diskussion um die Deutungshoheit dokumentarischer Bilder statt: es geht um Material von politischen Konfl ikten in geringer Qualität, das wenig sichtbar werden lässt, aber gezielt eingesetzt wird, um bestimmte Konnotationen wie Authentizität und Zeugenschaft nahezulegen und damit Deutungen zu evozieren, die eines Kommentars und einer Expertise bedürfen. Diese Fragen wurden eingehend in der Ausstellung Bild – Gegen – Bild im Münchener Haus der Kunst 2012 verhandelt,6 im Hinblick auf Bilder, die auf andere Bilder hin betrachtet werden. Obwohl der Skalierungsaspekt nicht explizit benannt wurde, wird deutlich, wie maßgeblich für Skalierungen der vergleichende Umgang mit Bildern ist, ebenso wie für dokumentarische Bilder und künstlerische Arbeiten, die auf journalistische und politische Themen fokussiert sind. Entscheidend sind dabei Reskalierungen, wie sie Carlos Spoerhase thematisiert, und die damit einhergehenden Interpretationen: Welche Funktion kommt diesen für die Rezeption von Bildern zu und wie verändern sie unseren Blick auf Berichterstattung? Dies hat Valdivia Bruch mit ihrer Frage nach den niedrigskalierten Medienbildern im Museum und in institutionellen Räumen aufgeworfen: Erfahren sie eine ästhetische Stilisierung oder verändern diese den Blick auf die 5
Vgl. Documentary, hg. von Julian Stallabrass, London 2007 (= Documents of contemporary
Art). 6 Die Kuratorin Patrizia Dander verwendet den von Clément Chéroux verwendeten Begriff der Interikonizität für Medienbilder des 11. September, die dann im Hinblick auf andere Bilder mehr als auf das Ereignis selbst rekurrierten, vgl. Patrizia Dander: Bild – Gegen – Bild, in: Bild Gegen Bild, Ausstellungskatalog Haus der Kunst München, Köln 2012, 8–29, hier: 10.
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Abb. 1a: Rabih Mroué, The Pixelated Revolution, 2012. Lecture Performance, 7. Juni 2012. Staatstheater Kassel im Rahmen der dOCUMENTA (13), 2012.
Institution oder beides? Hito Steyerl stellt die Affektivität, das Realismusversprechen und die Ästhetik dieser skalierten Bilddaten und ihrer reskalierten medialen Kontexte in ihrem Essay über Dokumentarismus7 zur Disposition und vermittelt die Ambivalenz, die mit diesen Reskalierungsvorgängen verbunden ist. Im Rahmen von Mroués künstlerischer Auseinandersetzung mit dokumentarischen Bildern wird im Reskalieren einerseits eine mediatisierte Vermittlungsebene geschaffen, andererseits stellt sie über den Reskalierungsakt eine Reflexionsebene her, die auf den Umgang mit Medienbildern zurückwirkt. In The Pixelated Revolution fi nden diese Akte somit in der rahmenden Lecture Performance statt, bei der sämtliche Szenen aus den Videos in ein skaliertes Fototableau gesetzt werden, um die Unsichtbarkeit eines Details hervorzuheben (Abb. 1a). Zudem wurden sie in den vielfältigen Bildebenen der Installation im Kulturbahnhof der dOCUMENTA (13) präsentiert, vom kleinen Daumenkino der Handyvideos, über einem selbst zu betätigenden Super8-Film bis hin zu groß ausgeplotteten Portraits aus dem journalistischen Internetmaterial, die in Variationen das von Mroué so genannte »double Vgl. Hito Steyerl: Die dokumentarische Unschärferelation – Was ist Dokumentarismus?, in: Die Farbe der Wahrheit – Dokumentarismen im Kunstfeld, hg. von Hito Steyerl, Wien 2008, 7–16; vgl. u. a. The greenroom – Reconsidering the documentary and contemporary art, hg. von Maria Lind, Berlin 2008 sowie Documentary now! – Contemporary strategies in photography, film and the visual arts, hg. von Frits Gierstberg, Rotterdam 2005. Die Rolle von Skalierungen für dokumentarische Verfahren kann in diesem Rahmen nicht ausführlich behandelt werden, da sie Stoff für ein eigenes Aufsatzthema bietet. 7
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shooting« 8 zeigen, den wirklichen Gegenschuss auf die Bildproduzent *innen, deren Rolle wir einnehmen, und die Möglichkeit, mit den interaktiven Angeboten die Ausstellung in eigener Geschwindigkeit rezipieren zu können (Abb. 1b und c). Abb. 1b: Rabih Mroué, The Fall of a Hair, 2012 (Detail). Installationsansicht dOCUMENTA (13), Kassel 2012.
Abb. 1c: Rabih Mroué, The Fall of a Hair, 2012, Part 3: Blow up. Fotografien, Text, Installationsansicht dOCUMENTA (13), Kulturbahnhof, Kassel 2012.
Der Begriff des »double shooting« ist ein Übertitel in Mroués Lecture Performance The Pixelated Revolution und in seinem gleichnamigen Video, vgl. Rabih Mroué: Pixelated Revolution [Anm. 3]; vgl. auch ausführlicher zu Mroués künstlerischer Arbeit Katarzyna Ruchel-Stockmans: The Revolution will be performed. Camera and Mass Protests in the Perspective of Contemporary Art, in: Film and Media Studies 10 (2015), 7–23; sowie Pamela C. Scorzin: Some Refl ections on the Photofilmic Aesthetics and Visual Rhetorics of Fraught Images in Rabih Mroués ›The Pixelated Revolution‹ (2012), in: Image & Narrative 16/1 (2015), 75–84. 8
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Beim Durchblättern des Daumenkinos hinterlässt blaue Stempelfarbe Abdrücke auf der eigenen Hand als sichtbare Spur des eigenen Nachvollzugs dieser Reskalierung, die sowohl Zeugen- und Mitwisserschaft markiert als auch einen Umgang mit dem Material herausfordert. Im Folgenden soll es um die Frage nach den Aneignungen und den damit verbundenen Formatierungen durch Skalierungsvorgänge in künstlerischen Praktiken gehen. Inwieweit dienen sie nicht nur einer bestimmten Ästhetik, die Gegenpositionen zu etablierten Sichtweisen einnimmt, sondern führen auch andere thematische Perspektiven und konzeptuelle Entscheidungen mit ein? Welche methodischen und medientheoretischen Aspekte sind damit verbunden, und wie lassen sich insbesondere Modi der Reskalierung mit damit verbundenen künstlerischen Verfahren der Präsentation, wie etwa Rahmungen und Displays, in Verbindung bringen? Hierbei werden Reskalierungsverfahren niedrigauflösender Bilder, Bildsequenzen und ihrer Formate untersucht, die sich mit manipulativen Techniken anderen Skalen wie Geschwindigkeit und Zeitlupe widmen und darüber alternative Formen der Narration und Mise-en-Scène aufrufen.
Bilder formatieren Die Möglichkeit, Bilder – ob bewegt oder statisch – verfügbar und handhabbar werden zu lassen, um sie auf mobilen Displays und verschiedenen Screens und ihren Formaten zu rezipieren, in sie hinein zu zoomen oder sie weiterzuverarbeiten, erfordert eine Skalierung. Mit den technischen Voraussetzungen, hochauflösende Bilder und Filme per Smartphone-Kamera zu erzeugen, aber auch immer größere digitale Bildarchive selbst produzierter, gefundener, geteilter oder kommentierter Bilder zu akkumulieren und diese in einen Prozess der Zirkulation einzuspeisen, entstehen im Umgang mit den uns umgebenden Bildformaten neue Fragen und Rezeptionshaltungen, da sie über Formen der Anverwandlung und Weiterverarbeitung Modifi kationen entstehen lassen. Sie gehen damit über einen Diskurs zu Original und Reproduktion hinaus, da sich die Praktiken und Rezeptionsweisen über das Bewegen in digitalen Bildkulturen mit anderen mobilen, am Körper befi ndlichen oder fernsteuerbaren fotografi schen Apparaturen, dem Teilen und Kommunizieren von Bildern sowohl in »globalen wie translokalen« 9 Gemeinschaften verändert haben. Walter Benjamin hatte in seinem Kunstwerk-Aufsatz10 bereits im Falle der technischen ReprodukWinfried Gerling, Susanne Holschbach und Petra Löffler: Bilder verteilen – Fotografi sche Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld 2018, 7–15, hier: 8. 10 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/M. 52003, 12. Vgl. auch Vilém Flussers Defi nition: »Ein Charakteristikum technischer Bilder ist, daß sie sich in ewiger Wiederkehr wiederholen können. Sie sind nicht ›Originale‹ wie die traditionellen Bilder, sondern ständig reproduzierbare Stereotypen eines Prototyps, der im künstlichen Gedächtnis eines Apparats lagert. Dadurch wird mit 9
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tion auf den Entzug des Echtheitsdiskurses und die Möglichkeiten hingewiesen, durch Fokusverschiebungen der Linse bestimmte Gewichtungen und Perspektiven vorzunehmen, die für den menschlichen Blick kaum wahrnehmbar sind. Eben die private oder sich in sozialen und anderen Netzwerken vollziehende Zirkulation ermöglicht seine Manipulierbarkeit, die jedwede Kontrolle über Größe, Auflösung, Verfremdung oder Freistellung und damit den Kontext wie auch die Kommunizierbarkeit des Bildes verselbstständigt. Mittels eines Akts der Skalierung wird das Bild transformiert und zu einer nicht-identischen Vielzahl von Derivaten multipliziert. Doch der von Rezipient*innen oder User *innen ausgeführte Vorgang des Skalierens lässt die Formatierung des bildlichen Codes im Sinne Flussers11 mitunter unberührt, auch wenn er mit einer Weiterverarbeitung im kleineren Bildformat einhergehen kann: Denn die Bildbetrachtung und Dekodierung unterliegt einer temporalen Praxis und Erfahrung (im Diachronisieren und Synchronisieren der Bilder). Skalierung meint zudem ebenfalls seine Handhabung auf den mobilen digitalen Endgeräten, die das Bild nicht formatiert, sondern nur in dieses hineinoder herauszoomt. Damit ist die Geste der visuellen Rezeption selbst angedeutet, wie sie auch im Exposé des Symposiums Ästhetik der Skalierung bereits als ikonische neue Kulturtechnik beschrieben wurde.12 Die Weiterverarbeitung gespeicherter und transformierter Bilddaten, das Kommunizieren über Bilder in Netzwerken, geht mit anderen Rezeptionsmodi und Reskalierungsverfahren einher, die auf die mobilen Displays ausgerichtet sind. Bei diesen werden nicht nur Bildformate geteilt, sondern es wird auch mit veränderten zeitlichen Ressourcen gearbeitet, die geteilte Aufmerksamkeit und eine geringe Aufmerksamkeitsspanne mit einkalkulieren, etwa bei der kurzzeitigen ephemeren Teilhabe an Selbstdarstellungen und Deformierungen anderer User *innen im SnapshotModus. Im Folgenden wird ein Blick auf künstlerische Herangehensweisen gerichtet, die mittels apparativer Techniken über ein verändertes Spektrum der Skalen eine zeitliche Manipulierbarkeit von Bildern in verschiedenen Formaten herbeiführen, um einerseits den Blick für die Zugangsmedien zu schärfen und andererseits die Aufmerksamkeit auf Skalierungsmodi, ihre -konzepte und -ästhetiken zu richten.
Rewind | Slow-Motion. Vom Filmbild zur VHS-Kopie Schon vor der digitalen Verfügbarkeit von Bilddaten werden in der frühen Videokunst Fragen der Skalierung gegenwärtig und damit zum wirkmächtigen Sujet. Im der Zeit jedes ursprünglich informative Bild ›redundant‹, das heißt durch Wiederholung ins Programm des Empf ängers integriert; es informiert nicht mehr.«, Vilém Flusser: Lob der Oberfl ächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, in: Vilém Flusser. Schriften, hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser 1, Bensheim und Düsseldorf 1993, 56 f. 11 Vgl. Vilém Flussers Kapitel Die kodifi zierte Welt, in: ebd., 63–70. 12 Vgl. Carlos Spoerhase, »Skalierung. Ein ästhetischer Grundbegriff der Gegenwart«, in diesem Heft, S. 5–15, hier: 8, 12 f.
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Jahr 1993 hatte der Videokünstler Douglas Gordon bei dem Filmklassiker Psycho (USA 1960) von Alfred Hitchcock die Möglichkeit einer enormen Zeitdehnung für seine Installation 24 Hour Psycho verwendet; mit zwei fi lmischen Frames pro Sekunde dehnte er seine Adaption auf 24 Stunden aus: Diese Überlegung entstand, weil er eine bestimmte Szene aus seiner Erinnerung noch einmal sehen wollte. So nutzte er sowohl die Rück- und Vorspulfunktion als auch die Stopp- und Zeitlupentaste an seinem Videorekorder und erwirkte so eine Verlangsamung seines VHS-Tapes.13 Seine Sozialisierung der Filmklassiker erfolgte zudem über das Kabelfernsehen.14 Die Möglichkeit eines extremen »time stretching« auf 24 Stunden und ein Abspielen ohne Ton führte eine Veränderung der Handlungsstruktur und -logik des dekonstruierten Films herbei, so dass jedem Filmkader eine Dauer und gleiche Aufmerksamkeit zukommt. Ursula Frohne beschreibt Gordons Rolle als diejenige eines Wissenschaftlers, der Film wie durch eine Lupe betrachtet,, in dem Unbewusstes und Konstruktion der fi lmischen Mise-en-Scène in der suggerierten Bewegung zusammenkommen.15 Dieser Kunstgriff wurde somit durch eine VHS-Kopie in einer geringen Auflösung und Tiefenschärfe erzielt. Mit der Zeitdehnung und dem über die Dauer eines Ausstellungtages unmöglich zu rezipierenden Loops, welche die Videoinstallation in einer Black Box mit frei schwebendem Screen bestimmen (Abb. 2, S. 48), erfolgt eine Reskalierung doppelter Art: Die reduzierte Bildqualität steht im Kontrast zum vergrößerten Bildausschnitt auf dem Screen, der nur noch an die Filmleinwand erinnert und eine Aneignung darstellt. Die Verlangsamung steht wiederum in einem signifi kanten Kontrast zur Dauer des Aufenthaltes der Ausstellungsbesucher *innen, die durch die Installation fl anieren. Die Installation selbst ist als frühes Beispiel kinematographischer Installationen16 mittlerweile ebenso ikonisch geworden wie das fi lmische Hitchcock-Original, so dass sie in Don DeLillos 2010 erschienenen Roman Vgl. Amy Taubin: Douglas Gordon, in: Spellbound. Art and Film, hg. Philip Dodd und Ian Christie, Ausstellungskatalog Hayward Gallery/BFI, London 1996, 70. 14 Vgl. David Sylvester: Interview with Douglas Gordon, in: Douglas Gordon, Ausstellungskatalog Museum of Contemporary Art (MOCA) Los Angeles, Cambridge/MA 2001, 153–173, hier: 157; vgl. auch Volker Pantenburg: 1970/2010 – Experimentalfilm und Kunsträume, in: Bildprojektionen – Filmisch-fotografi sche Dispositive in Kunst und Architektur, hg. von Lilian Haberer und Annette Urban, Bielefeld 2016, 193–208, hier: 205 f. Hier wird auf die beiden unterschiedlichen Rezeptionsmodi in der 24 Hour Psycho-Installation verwiesen: für den Protagonisten von Point Omega wird die Installation zum strukturellen Film, die Ausstellungsbesucher verstehen diese als Expanded Cinema-Installation, 207. 15 Vgl. Ursula Frohne: Anamorphosen des Kinos – Die Filme Alfred Hitchcocks im Blickfeld zeitgenössischer Kunst, in: Hitchcock und die Künste, hg. von Henry Keazor, Marburg 2013, 152–172, hier: 165; vgl. auch Ursula Frohne: Anamorphosen des Kinos: Douglas Gordons ›24 Hour Psycho‹, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 11 (2004), 15–24. 16 Vgl. Lilian Haberer und Ursula Frohne: Kinematographische Räume. Zur fi lmischen Ästhetik in Kunstinstallationen und inszenierter Fotografi e. Einführung, in: Kinematographische Räume. Installationsästhetik in Film und Kunst, hg. von Ursula Frohne und Lilian Haberer, München 2012, S. 9–52, hier: 23, 27. Der Begriff der kinematographischen Installation wurde von Juliane Rebentisch ausführlicher verhandelt, vgl. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, Frankfurt/M. 2003, 179–207. 13
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Abb. 2: Douglas Gordon, 24 Hour Psycho, 1993. Videoinstallation, Größe variabel, Installationsansicht Le Mejan, Arles, 2011.
Point Omega17 zu einem ästhetischen Begegnungsort für den Protagonisten wird. Die Ästhetik des Stillstands geht mit derjenigen des vergrößerten Bildes eine Allianz ein, die insbesondere als Installation auf einem frei hängenden Screen nicht nur Hitchcocks ikonische, sondern auch die marginalen Bilder in einer medial angeeigneten Bildästhetik für eine kontemplative Bildbetrachtung entfaltet. Diese wird zum Garanten der Filmkopie-Aneignung und zum Gegenstand einer formalen Dekonstruktion, die den ursprünglich ästhetische und fi lmtechnische Standards setzenden Filmklassiker allein schon in der Eingangssequenz seiner Moving Camera zerlegt. Über die Zeitdehnung ermöglicht sie eine fragmentarische Rezeption und eine Unübersichtlichkeit, entkoppelt Mise-en-scène und Zeitlichkeit, indem jede einzelne Szene eine eigene Dramaturgie entwickelt. So erzeugt die Erinnerung an Hitchcocks Original in der Black Box der Installation, in der die Betrachter *innen sich situieren, jeweils eigene Erwartungen und das Abgleichen mit dem vergrößerten, freigestellten Videobild, einen Schwebezustand des beständig Gegenwärtigen und unmerklich verändernden Standbildes. Diese Dekonstruktion auch über das Handhabbarmachen des Filmmaterials in einer mediatisierten Version erfolgt über diverse Skalierungen und ermöglicht quasi mit dem Eintreten in das Bild und seine Dauer eine differente Film-/Bild- und Installationserfahrung, 17 Vgl. das Kapitel Anonymity 2 bei Don DeLillo: Point Omega, New York 2010, 159–185. Ein Post Scriptum, in dem er auf die erstmalige Installation von Douglas Gordon 1993 in Glasgow und Berlin sowie seine Installationserfahrung im Museum of Modern Art 2006 hinweist. Vgl. auch den Hinweis von Frohne darauf in der deutschen Übersetzung und eine eingehendere Besprechung von Gordon und Don DeLillo, Frohne: Anamorphosen [Anm. 14], 152, Fußnote 3.
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Rezeptionsästhetiken des ›armen Bildes‹ Die Möglichkeit der Rezeption, Verbreitung und digitalen Aneignung fi lmischer Bilder erfolgt immer mehr über Portale wie YouTube, Vimeo, Clipfish, MyVideo, Tape.tv etc., bei denen Clips hochgeladen, geteilt und rezipiert werden können, aber auch kommerzielle Trailer für Filme und Fernsehbeiträge oder Musikvideos einsehbar werden. Dergestalt sind seit Langem beispielsweise ältere Experimentalfi lm- oder Feature Film-Klassiker in einzelnen Teilen über diese Portale rezipierbar. Auf diesen Umstand hat die Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl18 hingewiesen, etwa dass es von Chris Markers Fotofi lmen und Filmessays im Netz unendlich viele verschiedene Versionen gebe, als herunterskalierte Bewegtbildschnipsel, so dass sich fast eine Retrospektive zu dem Filmemacher im Netz ausrichten ließe. Um Steyerls Überlegung zu ergänzen, sind diese Versionen natürlich auch von gänzlich unterschiedlichen medialen Zugriffen und verschiedenartiger Ästhetik geprägt. So differieren die Versionen seines Fotofi lms La Jetée (F 1962): seien es Untertitel in verschiedenen Sprachen, ein Amateur-Video von einer Ausstellung Chris Markers, ein Arte-Mitschnitt mit Timer bis hin zu einer herausgegriffenen Sequenz, in der das französische Voice over im Englischen übersprochen wurde, oder einer Screening-Situation im Pineapple Lab, Manila 2017. Steyerl prägte in ihrem erstmalig online publizierten e-flux-Aufsatz von 2009 für diesen Umstand den Begriff des ›armen Bildes‹19, das sie gegenüber den Restriktionen der Zugänglichkeit künstlerischer Arbeiten verteidigte und dabei ebenfalls das wertkonservative Agieren der High-End Filmindustrie mit ihrem Original-Begriff kritisierte. Das ›arme Bild‹ ist für sie somit als Teil eines Handelns mit und an fotografi schen Bildern entstanden, die kleine Formate nur noch formal als Derivate ihrer hochauflösenden Verwandten erscheinen lassen und somit zur Bearbeitung und Transformation jenseits eines Urheberrechts weiterverwendet werden. Auch wenn sie den Skalierungsbegriff nicht verwendet, so geht doch jegliche Bearbeitung, die sie in ihrer Defi nition beschreibt, mit einer Skalierung einher: »Das ›arme Bild‹ ist eine Kopie in Bewegung. Es ist grob, seine Auflösung ist unterdurchschnittlich. Je mehr es beschleunigt wird, desto mehr löst es sich auf Es ist das Gespenst eines Bildes, ein Vorschaubild, ein Thumbnail, ein wandernder Gedanke, ein kostenlos verteiltes Bewegt-Bild, das durch langsame digitale Verbindungen hindurchgezwängt, komprimiert, vervielfältigt, gerippt, gemixt und in andere Vertriebskanäle hinüberkopiert wird.« 20 Für Steyerl ist gleichermaßen die Form der Bearbeitung einer ständig in Bewegung befi ndlichen und frei verfügbaren und zirkulierenden Bildkopie wesentVgl. Hito Steyerl: In Defense of the Poor Image, ursprünglich erschienen in e-flux #10 (2009), in: The Wretched of the Screen. e-flux Journal, hg. von Hito Steyerl, Berlin 2012, 31–45, hier: 36. 19 Vgl. Steyerl: Poor Image [Anm. 18]; vgl. auch die deutsche Übersetzung in: Hito Steyerl: Jenseits der Repräsentation/Beyond Representation – Essays 1999–2009, Köln 2016, 17–24 (= n.b.k. Diskurs). 20 Ebd., 17. 18
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lich, wie auch ihre quasi geisterhafte, imaginäre Qualität. 1987 war Jean-Marie Schaeffer in seiner Publikation L’image precaire. Du dispositiv photographique bereits von einem prekären Zustand des fotografischen Bildes ausgegangen.21 Er hat seine zeichentheoretische Funktion betont sowie es als eine sich kommunikativen Strategien unterordnende Kategorie beschrieben und dabei vor allem seinen instabilen und wechselhaften Status hervorgehoben. Damit greift er beim fotografi schen Objekt bereits Aspekten voraus, die später in Lev Manovichs Überblickswerk The Language of New Media von 2001 für sämtliche Medienformate weitergeführt werden.22 Manovich situiert seine Untersuchung der damals neuen Medien in einer Geschichte der visuellen und Medienkulturen der Moderne. Seine vorangestellte Frage ist, wie die in bereits überkommenen Medien vorhandenen Techniken, etwa der Montage, der bewegten Betrachtung oder des rechteckigen Frames in ihren Nachfolgeformaten computerisierter Medien operieren. Er benennt fünf wesentliche Kategorien dieser Medien 23, zwei davon, die Modularität und Variabilität, sind auch für die Diskussion um eine Ästhetik der Skalierung maßgeblich. Das ›Prinzip der Modularität‹ der Medienformate oder ›Elemente‹, wie er sie benennt, ist, dass jede Einheit, von Pixeln, GIFs und JPEGs, 3D-Punkten, Scripts etc. bis hoch zum HTML-Dokument, zur Website aus einzelnen, separierten Objekten besteht, die ihre Eigenständigkeit beibehalten. Dieser Aspekt ist bemerkenswert, da bei einem umgekehrten Weg der Technik des Downscale ein hochwertiges TIFF zu einem GIF zu einem Portable Network Graphics-File herunterskaliert werden kann, um es besser zirkulieren zu können, aber dennoch die Bildinformation beibehält. Abhängig von der Modularität beschreibt Manovich die ›Kategorie der Variabilität‹ als die potenziell unendliche Vielfalt der Versionen eines Medienobjekts, die in sich differieren. Dies hat mit den Endgeräten und Nutzungen zu tun, die Lev Manovich mit der postindustriellen Logik und Distribution verbindet.24 Eben eine solche Zirkulation und Anpassung der Formate bildet die Voraussetzung für eine rezeptionsästhetische Betrachtung des ›armen Bildes’, da die reduzierte Bildqualität, seine Verzerrung, Komprimierung, Freistellung oder Beschneidung in diesem Sinne nicht als Qualitätsverlust, sondern lediglich als Verfügbarwerden des Bildes für andere Endgeräte, Nutzungen und Rezeptionsweisen wahrgenommen wird. Auf den Vorgang des Skalierens bezogen hieße dies, dass trotz der vorgenommenen Reduktionen der Bildqualität die Informationen und Semantisierungen keinen Verlust erfahren. Vielmehr eröff nen das Trimmen und andere Formatveränderungen von Bildern neue Deutungen. Als letzten Aspekt digitaler Medien benennt der Medientheoretiker das ›Transcoding‹, das heißt die Umschlüsselung bzw. den Prozess der Übersetzung, der aufgrund einer Transformation von einem in ein anderes Format geschieht. Hier 21 Vgl. Jean-Marie Schaeffer: L’image precaire. Du dispositif photographique, Paris 1987, 32–40, 157–160. 22 Vgl. Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge/MA 2001, 34. 23 Vgl. ebd., 51–65. 24 Vgl. ebd., 52, 56.
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unterscheidet er zwei verschiedene Ebenen, auf denen sich ein solcher Übersetzungsvorgang vollzieht: zum einen diejenige des Computers, der die Größe, den Typ des Datensatzes und den Komprimierungsgrad anzeigt. Die kulturelle Ebene meint zum anderen die Transformation etwa verschiedener Text- und Darstellungsformen, von der Enzyklopädie zum Kurztext. Beide Ebenen beeinflussen sich gegenseitig zu neuen kompositären Formen, so die These.25 Jenseits der kulturtechnischen Dimension eines solchen Skalierungsverfahrens ist in der Untersuchung von Manovich auch bereits der Handlungsaspekt digitaler Bilder angedeutet. Denn wie die Begriffe der Modularität, Variabilität und der Umschlüsselung bereits andeuten, richten sie sich auf die Reskalierungen geteilter und »verteilter Bilder«, ein von Susanne Holschbach verwendeter Begriff, den Ilka Becker in ihrer Einführung zum Fotografi schen Handeln thematisiert. Ebenso wie die Bilder sind auch »Prosumer, Apparate, Programme, Fotodateien etc. als Elemente komplexer Handlungsgefüge zu betrachten, in denen Absichten wie auch Kontingenzen eine Rolle spielen.« 26 Becker sieht die fotografi schen Agenten im Sinne von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie gleichzeitig als anpassungsfähige, aber auch als distanzierende Instanzen und bescheinigt den ästhetischen und medialen Prozessen des Fotografi schen und ihren Verhältnissen eine ›Unabsehbarkeit‹. Übertragen auf die Prozesse der Skalierung und Transformation von ›armen Bildern‹ scheint bei der Beobachtung der Handlungen an und mit digitalen Bildformaten diesen ein Eigen- und Nachleben im Warburg’schen Sinne zuzukommen. Die skalierten Bilder verfügen somit über eigene Reflexionsebenen und Rhetoriken, Handlungsund Bewegungsformen. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Video-Lecture Dinosaur.gif (2014) der in Berlin lebenden Filmemacherin und Autorin Anna Zett und anhand von Hito Steyerls In Free Fall (2010) untersucht.
Scroll Down als Kulturtechnik | animierte GIFs Das ›arme Bild‹ führt eine Schattenexistenz, aber da es zugänglich, verfügbar und veränderbar ist, erlangt es darin auch einen gewissen Wert, wie Hito Steyerl auf den Punkt bringt: »Das arme Bild ist ein Fetzen oder geklaut, ein AVI oder ein JPEG, ein Lumpenproletarier in der Klassengesellschaft der Erscheinungen. Sein Rang und Wert wird durch seine Auflösung bestimmt. Das arme Bild wird hochgeladen, heruntergeladen, geshared, neu formatiert und erneut bearbeitet. Es verwandelt Qualität in Zugänglichkeit, Ausstellungswert in Kultwert, Filme in Clips, konzentrierte Betrachtung in Zerstreuung. Das Bild wird aus den Kellerdepots der Kinos und Archive befreit und in die digitale Ungewissheit gestoßen, und zwar auf Kosten seiner eigenen Substanz. Das arme Bild neigt zur Abstraktion. Es ist eine Vgl. ebd., 63 f. Ilka Becker: Akte, Agencies und Un/Gefügigkeiten in fotografi schen Dispositiven, in: Fotografi sches Handeln, hg. von Ilka Becker und Bettina Lockemann u. a., Marburg 2016, 9–35, hier: 9. 25
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Bildidee im Werden.« 27 Hinzuzufügen wäre, dass bereits viele verschiedene ReSkalierungen in sozialen Netzwerken von digitalen Bildern mit unterschiedlichen Funktionen verbreitet werden, wie das animierten GIF bei Twitter, das als visuelle Miniatur eine kommentierende und humoristische Rolle innehat, somit für kurze, schnelle Kommunikationswege steht und darin eine besondere Aufmerksamkeit erhält. Neben einem Abstraktionsgrad des ›armen Bildes‹ befördert dieses auch eine Selbstreflexion, wie sie sich am Beispiel eines Scroll-Down-Videos von Anna Zett zeigt. Im Rahmen der 15. Videonale 2015 wurde Zetts rund 21-minütige Videolecture Dinosaur.gif 28 von 2014 aus animierten screengrab-GIFs auf einem Computer präsentiert (Abb. 3a). Alternativ hat sie ihre Arbeit in der Serpentine Gallery 2014 auch auf einem Screen gezeigt. Das Besondere ist dabei, dass die animierten GIFs vertikal in einem Texteditor heruntergescrollt werden und dieser in seiner Windowsästhetik eine medienspezifi sche Rahmung der präsentierten kleinen BitmapImages vornimmt. Jedes animierte GIF wird nun in einem Loop zwei bis fünf Mal wiederholt, bevor zum nächsten Bildformat weitergescrollt wird, je nachdem, ob die Filmemacherin die Graphic Interchange Formats mit Text überblendet hat oder nicht (Abb. 3b-d). Wie bei Douglas Gordon werden die animierten und in Steyerl: Verteidigung armen Bildes [Anm. 18], 17. Vgl. Anna Zett: Dinosaur.gif (2014), Video-Lecture, Farbe, ohne Ton, 1280 x 720 px, im Livemodus ca. 20 Min., http://www.annazett.net/dinosaurgif.html, Zugriff: 19.02.2020; vgl. auch Xhesika Hoxha: Anna Zett., in: Videonale 15 – Festival for Contemporary Video Art, hg. von Tasja Langenbach, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bonn, Berlin 2015, 162. 27
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Abb. 3a–d: Anna Zett, dinousaur.gif, 2014. Videolecture mit Screengrab-gifs in Texteditor, Einkanal-Video, Farbe, ohne Ton, 20:59 min, Stills.
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GIFs transformierten Filmbilder ohne Ton präsentiert. Zett taucht dabei tief in die Filmgeschichte des Dinosaurier- und King Kong-Filmgenres ein: Ihre Reminiszenzen umfassen den frühen Animationsfi lm von Winsor McCay, Gertie, the Dinosaur von 1914, den 1925 entstandenen Stop-Motion Stummfi lm The Lost World von Harry Hoyt nach der gleichnamigen Erzählung von Sir Arthur Conan Doyle, aber auch King Kong von 1933 und das Remake des Regisseurs Peter Jackson von 2005. Spätere Filmreferenzen sind der 1993 unter Adam Simons entstandene Sci-Fi und Horrorfi lm Carnorsaur sowie die drei Jurassic Park-Filme von Steven Spielberg, bei denen sie Sequenzen herausgreift und in animierte GIFs überführt. (Abb. 4a-c). Einerseits arbeitet die Künstlerin mit einer Ästhetik des Filmtrailers, indem sie die Begriffe ›Remember‹, ›Return‹ und ›Relive‹ mit denselben blinkenden Grafikeffekten ausstattet und damit auf das älteste und wiederbelebte Genre der Monsterfi lme als US-amerikanische Dystopie anspielt. Andererseits versieht Anna Zett die niedrig aufgelösten Bilder mit einer kurzen, grob geschnittenen Animation sowie sichtbaren Grafi kverläufen, auf die dann die Druckschrift mit Kontur zumeist mittig platziert wird. Mit den GIF-Bewegungen stellt die Filmemacherin dasjenige nach, was sie auch für die Dinosaurierdarstellungen im Film konstatiert: dass diese Kader für Kader animiert wurden, sobald es technisch möglich war, und sich dann jeweils der neuesten Technik verschrieben haben. In ihrem Video-Lecture-Text, der über die Bilder gelegt wurde, formuliert sie eine Vielzahl von Thesen: etwa, dass der Geist des Neuen zum Garant der Wiederbelebung einer vergangenen Filmgeschichte wird und neue Formate einer prähistorischen Animalität nicht mit den Verfechtern des Modernen in Konfl ikt geraten. Als Beispiel nennt Zett die letzte Jurassic Park-Version von 2013, als die Faszination für das Genre bereits nachließ und somit in Form einer nostalgischen 3D-Kinoversion wiederbelebt wurde. Sie nimmt darüber hinaus einen grundsätzlichen Widerspruch wahr: Einerseits mutet das Genre wie eine Kritik an der Hybris von Technik und der biotechnologischen Manipulation für kommerzielle Zwecke an. Andererseits zeigen die digitalen, animierten Bilder der Dinosaurier, dass die neueste Technik für eine überkommene Spezies verwendet wurde. Auch diese urzeitlichen Lebewesen sieht die Künstlerin als widersprüchlich an, da sie sowohl als Repräsentanten einer ausgestorbenen Spezies gelten, als auch in der digitalen Rekonstruktion ein neues Untersuchungsfeld eröff nen: dergestalt rufen sie wissenschaftliches Interesse hervor und lassen zugleich fi ktionale Projektionen zu. In der Darstellung der Tiere ist sowohl das wertvolle Original eines Fundes als auch die Reproduktion und einfache Kopie ihrer Studienobjekte gegeben. Damit spielt die Künstlerin auch inhaltlich auf verschiedene Skalierungen an, die mit den Dinosauriern und ihrem Genre geschehen sind. Andererseits geht Zett auf ihren Darstellungsmodus ein, durch mehrfache Loops der animierten Formate quasi ein Video zu generieren. Sie evoziert damit die Erinnerung an einen Film. Dinosaur. gif suggeriert über das Scrollen einer vertikalen Folge von Standbildern über den
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Texteditor eine Bewegung und nimmt damit einen Reskalierungsvorgang in Anspruch, der im Installationsmodus ebenfalls die Aktivität der Besucher *innen erfordert – ebenso wie bei Rabih Mroués dOCUMENTA(13)-Arbeit. Die Kulturtechnik des Herunterscrollens am Computer hat die Künstlerin dann für die Videopräsentation nachgestellt. Das Skalieren ist bereits in der Auf bereitung der Filmbilder als GIFs erfolgt. Es entsteht aber ebenfalls ein Reskalierungsakt über die Anpassung der digitalisierten Found Footage-Filmbilder an den Texteditor und das vertikale Scrollen von dinosaur.gif, das an den Vorgang des Lesens von Texten am Computer oder auf einem mobilen Display erinnert. Die langsame und ruckartige Abwärtsbewegung der Bilder entspricht dabei ebenfalls ästhetisch den geloopten, grob animierten GIFs. Sie erinnern zudem wieder an die Zeit- und Aufmerksamkeitsspanne, die wir selbst als mit der Maus oder dem Track Pad Agierende vollziehen. Der Präsentationsmodus mit den ruckartigen Bildwechseln erinnert zudem an das frühe Kino. Auch hier fi ndet über die grob animierten GIFs und die Geschichte vom frühen Kinos bis heute eine Medienreflexion statt, die den Diskurs über avancierte und überkommene Medienpraktiken durch ›arme Bilder‹ auch formal und in ihrer Abstraktionsfähigkeit auf den Punkt bringt. So wie die Entwicklung des Dinosaurier-Genres werden die Affekte des ›armen Bildes‹ als ambivalent wahrgenommen. Denn einerseits tritt durch diese Bilderformate der Niedergang des experimentellen Kinos offen zutage, andererseits stellen gemäß Steyerl 29 die Techniken der Aneignung und Piraterie einen Wiederstand gegenüber der Privatisierung unter Beweis. Diese kontradiktorischen Positionen schreiben sich in Steyerls Untersuchung fort. Für die Betrachtung der Bildformate bezieht sich die Theoretikerin wiederum auf den britischen Schriftsteller Kodwo Eshun, der die Online-Zirkulation dieser ›armen Bilder‹ als marginalisierte Formen in sozialer Hinsicht thematisiert. Zusammen mit Ros Gray 30 zeigt er im Hinblick auf militante Bilder der Revolution und des sogenannten ›Dritten Kinos‹ die Zirkulation und schwindende Zugänglichkeit einiger weniger poor copies in Archiven auf, die nun nicht mehr öffentlich zugänglich gemacht werden. Steyerl assoziiert mit dem ›armen Bild‹ das frühe Manifest des Third Cinema von Juan García Espinosa für ein imperfektes Kino, ein Kino für alle Menschen, das jenseits fester Klassen-, Konsum und Arbeitsteilungsmodelle operiere, dabei Leben, Technik und Kunst zusammen fl ießen lasse und somit im Sinne einer Gegenbewegung zu üblichen Distributions- und Verwertungslogiken agiere .31 Die Ambivalenz der poor images wird insbesondere im Bereich dokumentarischer Bildinhalte kontrovers diskutiert, bei denen vielfach durch eine verwackelte oder visuell unzureichende Darstellung eine Interpretation erschwert wird. InsbesonVgl. Steyerl: Poor Image [Anm. 19], 38 f. Vgl. Kodwo Eshun und Ros Gray: The Militant Image – A Cine-Geography, in: Third Text 25/1 (2011), 1–12, hier: 11 f. 31 Vgl. Steyerl: Poor Image [Anm. 19], 39 f. 29
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dere die niedrige Auflösung, die Ausschnitthaftigkeit und Komprimierung werden oftmals als Authentizitätsgaranten gesehen, wie Steyerl 32 kritisiert und eingangs bereits diskutiert wurde. Gerade im Golf krieg und anderen militärischen Konfl ikten, bei denen es in der Öffentlichkeit Anlass zu Kontroversen über die sogenannten ›operativen Bilder‹ gab, wie Harun Farocki 33 sie bezeichnet hatte, bleiben die in hohem Maße abstrakt und stark aufgepixelten skalierten Bilder ambivalent und prekär. Die Frage, was dokumentarische Bilder durch Skalierung enthüllen oder auch verbergen, thematisiert wiederum ein Kinobeispiel: Antonionis Blow Up, (GB/I/ USA 1966), in dem ein Modefotograf unfreiwillig Zeuge einer vermeintlichen Liebeszene wird, die er mit seiner Kamera aufzeichnet. Erst durch einen mehrfachen Prozess der Hochskalierung, in dem er den entscheidenden Ausschnitt vergrößert, wieder abfotografiert und erneut vergrößert, eröff net sich ihm eine andere Lesart (Abb. 4a-c). Nun meint er, unfreiwillig Zeuge eines Mordes geworden zu sein. Doch sein Bilddokument ist nunmehr von einem gestochen scharfen Foto zu einem ›armen Bild‹ geworden, dass ausgeschnitten, freigestellt, skaliert immer unschärfer wird und sein Begehren wachsen lässt, hinter die nur noch schemenhaft erkennbaren Umrisse zu kommen und das Bild deuten zu können.34 Die Blow Ups eröff nen ihre Handlungslogik mittels der fi lmischen Montage, die nicht nur eine Erinnerungssequenz zusammenfügen, einen stream of imagined images, sondern ebenfalls eine Serie abstrakter Ausschnitte vorführen. Antonioni zeigt das brüchig-Werden einer Erinnerung bzw. nur medial vermittelten und durch Montage zusammengefügten Realität nicht nur fi lmtechnisch in dieser Fotofi lmsequenz, sondern auch motivisch in den einzeln auf einer Fotoleine aufgespannten Vergrößerungen, die den Weg der Reskalierungen nachzeichnen (Abb. 4d). Er reflektiert somit die grundlegende Frage des Verhältnisses von Zeugenschaft, Realität und ihren ReKonstruktionen durch ein reskaliertes ›armes Bild‹. Walter Benjamin hatte 1931 in seiner kleinen Geschichte der Fotografie bereits fotografi sche Techniken, Zeitlupe und das Vergrößern von Ausschnitten thematisiert und im Hinblick auf die von Eugène Atget fotografierten Orte am Ende seines Essays die auch für Blow Up und die Fotografie relevante Frage gestellt 35: »Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort?« Er sieht die Aufgabe der Fotograf *innen darin, diesen in den eigenen Bildern nachzugehen und aufzuklären. Wie verhält es Vgl. Steyerl: Farbe der Wahrheit [Anm. 7], 7–9. Vgl. Harun Farocki: Phantom Images, Vortragstext aus dem Englischen übersetzt von Brian Pole, Zentrum für Kunst und Medien [ZKM], Karlsruhe 2003,13–22, https://public.journals. yorku.ca/index.php/public/article/view/30354/27882, Zugriff: 19.02.2020. 34 Vgl. auch die Reflexion Steffen Siegels zum Begehren des Bildersehens in »Blow Up« und zur fotografi schen Auflösung in der Fotografie des 19. Jahrhunderts, Steffen Siegel: »Ich sehe was, was du nicht siehst. Zur Aufl ösung des Bildes«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58/2 (2013), 177–202, hier: 197. 35 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Fotografi e, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1963, 65–94, ders.: 72, 93. 32 33
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Abb. 4a–c Blow-Up (GBR/ITA 1966). Regie: Michelangelo Antonioni, Filmstills.
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Abb. 5a: Hito Steyerl, In Free Fall, 2010. Einkanal-Videoinstallation, Farbe, Ton, 32:00 min, Videostill.
sich nun mit einer Einkanal-Videoarbeit, die in Format und Rahmung der Miseen-Scène sowohl Bildformate wie auch den Vor- und Rückspulmodus verwendet? Den Formen der Reskalierung gilt im Folgenden die Aufmerksamkeit anhand von Steyerls künstlerischer Arbeit In Free Fall, die zumeist auf einem großformatigen Screen gezeigt wird (Abb. 5a).
Rewind | Screen-Montage im freien Fall Die Spielarten der Konstruktionen des Dokumentarischen an einem Orte des Verfalls, der Teil eines Verwertungskreislaufes wird, nehmen in Hito Steyerls 32-minütiger Trilogie In Free Fall von 2010 36 einen zentralen Raum ein. Ihr Zugriff darauf über die Wiederaneignung und Skalierung der Medienbilder erfolgt über eine hybride Form, insofern als der Film zwischen einer Dokumentation, wiederholten Sequenzen von Filmen, einem Making Of und einer Mockumentary mäandert. In Free Fall beginnt mit einer zusammengeschnittenen Sequenz eines Flugcrashes des Air Force One, Found Footage aus dem Feature Film Speed (USA 1994, Regie: Jan de Bont). Gleichzeitig mutet Steyerls Arbeit aber auch wie ein Musikvideo oder ein Trailer mit zusammengeschnittenen Filmen an (Abb. 5b). So verhält sich ebenfalls die Dramaturgie der drei Teile der Videoarbeit After the crash, Before the 36 Vgl. Hito Steyerl: In Free Fall (2010), Farbe, Ton, 31:42 Min., Archiv des Neuen Berliner Kunstvereins [n.b.k.]; vgl. David Riff: ›Is this for real?‹ A Close Reading of ›In Free Fall‹ by Hito Steyerl, in: eipcp Transversal Texts 2 (2011), http://eipcp.net/transversal/0311/riff /en, Zugriff: 19.02.2020.
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Abb. 5b: Hito Steyerl, In Free Fall, 2010. Einkanal-Videoinstallation, Farbe, Ton, 32:00 min, Videostill.
crash und crash: Es beginnt nach dem Crash. Der Schauplatz ist ein Schrottplatz in der Mojave-Wüste für ausrangierte Flugzeuge mit seinem Spiritus Rector Mike Potter, der als ehemals jüngster TWA-Pilot diesen Platz mit seinem wertvollen Material verwaltet. Seine Geschichte, diejenige der Luftfahrt sowie die von Howard Hughes und TWA werden nun nebenbei in den anspielungsreichen und essayistisch angelegten Plot eingewoben. Die hier geparkten Flugzeugwracks sind wegen des reinen Aluminiums einerseits zu kostbar für die Verschrottung, andererseits wer-
Abb. 5c: Hito Steyerl, In Free Fall, 2010. Einkanal-Videoinstallation, Farbe, Ton, 32:00 min, Videostill.
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Abb. 5d: Hito Steyerl, In Free Fall, 2010. Einkanal-Videoinstallation, Farbe, Ton, 32:00 min, Videostill.
den sie jedoch an die Filmbranche profitabel verkauft und weiterverwertet für Special Effect-Explosionen. Eine dieser Vorführ-Explosionen wird im Laufe des Films mehrfach auf den verschiedenen im Video gezeigten Screens wiederholt. (Abb. 5c). Hito Steyerl thematisiert mit den Genrewechseln im Video nicht nur die unterschiedlichen Formate eines Kreislaufs der Verwertung und Ökonomie, wie sie hier am Material Aluminium durchgespielt werden, das, zu DVDs gepresst, wieder zum Trägermaterial für eben dieses Video wird. (Abb. 5d) Vielmehr ist ein zentrales Moment der Skalierung neben dem großen Screen der Projektion, auf dem In Free Fall läuft, ein kleiner Monitor und DVD-Player, der die für den Film inszenierte Explosion mehrfach abspielt und über diesen Produktions- und ökonomischen Kreislauf Auskunft gibt. Er ist das Scharnier zum jeweils anderen Format, sei es ein TWA-Video, die erneute Inszenierung des Filmcrashes durch Mike Potter oder ein instruktives Lehrvideo, das über die Produktion der DVDs Auskunft gibt. Es ist auch der Ort einer Implosion der Bilder, die rückwärts abgespielt die Flugzeug-Explosion wieder einsaugen, quasi entropisch für die nächste Explosion vorwärts abgespielt aufsparen. So zeigen die verschiedenen Screens ebenfalls unterschiedliche Skalierungen der Szenen. Die hier beschriebene Sequenz hat zudem eine Scharnierfunktion für den nächsten Teil Before the crash, in dem Hito Steyerl historische Videos zu Horward Hughes zeigt und aus Sergeij Tretjakovs Essay Die Biographie der Dinge von 1929 vorliest. So fi ndet nicht nur formalästhetisch mit found footage, Lehrbuchsequenzen und vielen unterschiedlich niedrig skalierten Bildern eine ständige Verschränkung der Ebenen statt, vielmehr ist es das Einspeisen der Bildsequenzen und Ebenen in ein anderes Medienformat, das die Reskalierungsvorgänge so interessant nachzu-
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vollziehen macht. Denn ein als Pilot verkleideter israelischer Experte erklärt die Geschichte des Absturzes der 4X-JYD aus dem Film Speed, erkundigt sich, ob das Video in HD gedreht ist, und agiert später mit der Künstlerin selbst in einer Choreographie der Flugsicherheitsroutine, die beide in einem der Flugzeugwracks inszenieren. Sogar der Kameramann und Künstler tritt im letzten Teil auf. Auf der Ebene der Mise-en-Scène arbeitet Steyerl hier mit einer Vielzahl von Rahmungen, die jeweils auf die Produktion und Gemachtheit des Films zurückverweisen und selbstreferentiell über den eigenen Verwertungskreislauf und den Plot Auskunft geben. Aber auch die mediale Videokopie eines Masters, die auf einem Recorder vor- und rückspulbar ist, wird In Free Fall thematisiert. In einem Medium spielt die Künstlerin alle diese Reskalierungsmomente durch und lässt sichtbar werden, dass zwischen technischen, medialen, narrativen und ästhetischen Aspekten enge Verbindungen bestehen, die durch Skalierungsverfahren zutage treten. Im Hinblick auf die in Zeitlupe gezeigte Explosion der zerstörten Flugzeugfragmente, die vielfach wiederholt wird, fragt Mike Potter: »Is this for real?«. Diese Frage scheint Steyerl hier an die Formate weiter zu delegieren. So setzt sie nicht nur die verschiedenen Kreisläufe der Verwertung und des Recycling in ein skalierbares Verhältnis, sondern sie fi ndet dafür zwar herunterskalierte, aber auch wirkmächtige Bilder und Sounds, die aber nicht in einer üblichen Skalierungsrichtung nach vorn, sondern in einer Logik des Rückwärtslaufs, des Einsaugens funktionieren. Wie Steyerl zusammenfasst: »The poor image is no longer about the real thing – the originary original. Instead, it is about its own real conditions of existence: about swarm circulation, digital dispersion, fractured and flexible temporalities. It is about defiance and appropriation just as it is about conformism and exploitation. In short: it is about reality.«37 Mit diesem Blick auf verschiedene künstlerische Herangehensweisen wird deutlich, dass nicht nur die Skalierungen selbst, sondern ihre erneuten Wiederholungen und Rahmungen über einfache Zuschreibungen hinausgehen und vielfach sowohl technische, als auch mediale und ästhetische Aspekte umfassen und diese zusammenführen. Das ›arme Bild‹ als verfügbares, leicht modifizier- und modularisierbares und als transcodierbares vermag bestimmte künstlerische Fragestellungen und alternative Blickweisen anzuregen und eigene Prozesse selbst zu hinterfragen.
37
Steyerl: Poor Image [Anm. 19], 44.
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Lilian Haberer
Abbildungsnachweise Abb. 1a–c: Foto: © Olaf Pascheit. Courtesy Galerie Sfeir-Semler, Hamburg/Beirut. Abb. 2: © Studio lost but found/ VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Foto: Studio lost but found/ Bert Ross. Courtesy Studio lost but found, Berlin from Psycho. 1960. USA. Directed and Produced by Alfred Hitchcock. Distributed by Paramount Pictures. © Universal City Studios. Abb. 3a–d: © Anna Zett und VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Abb. 4a–c: PAL, Warner Home Video, 2004. Abb. 5a–d: © Hito Steyerl und VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Die Handhabung dynamischer Sk alierungen Mikro- und Makrogeschichte in Julie Chens MiniaturKünstlerbuch »Memento« (2012) Veronica Peselmann Die Geisteswissenschaften interessieren sich für die Frage nach der absoluten und relativen Größe ihrer Referenzobjekte eher nur sekundär und deskriptiv. Die interpretativen hermeneutischen Zugänge klammern solche Skalierungsfragen traditionell weitestgehend aus. Zumeist werden Größendimensionen bis heute beiläufi g in den Werkbeschreibungen oder als technische Angabe in den Abbildungsunterschriften genannt. In den Sozialwissenschaften fi ndet sich eine methodische Tradition, die ihre Forschungsfragen skalierend nach Mikro- und Makroperspektiven methodologisch klassifi ziert. Aktuell scheint sich das Interesse gegenüber Größenverhältnissen zu ändern, zunehmend fi nden sich auch in den Geisteswissenschaften Reflexionen zu dieser ästhetischen Dimension. Die aktuelle die Kunstwissenschaften erreichende Debatte bezieht sich nun eher auf Konzepte der ›Skalierung‹, des ›Scale‹ oder ›Scaling‹. Diese Begriffl ichkeiten um das Skalierungs-Konzept adressieren Größenverhältnisse und Proportionsdimensionen konkreter Gegenstände und Gegenstandsbereiche als eine wesentliche Dimension, die zum vertieften Verständnis ihrer analysierten Objekte und Konstellationen beiträgt.1 Insbesondere die Frage nach dem Zusammenhang von Mensch und Größenverhältnissen bzw. Größenveränderungen steht dabei wiederkehrend im Zentrum der Diskussionen. Kunsthistorisch fi nden sich aktuell unter dem Stichwort ›Scale‹ zwei zentrale Positionen. Beide widmen sich der Relation von Mensch und Kunstobjekt und stellen dabei die Wahrnehmbarkeit von Skalierung und ihre Effekte auf die Kunstobjekt-Rezipient-Beziehung in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen. Jennifer Roberts befasst sich mit dem Problem der ›Reskalierung‹. Sie argumentiert, dass Größenverhältnisse allein über das visuelle Betrachten, also den Sehsinn, nicht oder nur unzureichend wahrgenommen werden können, da das Auge Größendimensionen stets passend für das Sehfeld anpasst – was ›Reskalierung‹ genannt wird.2 Die faktische Größe sei über das Sehen nicht adäquat erfassbar, sondern erfordere den haptischen Sinn, etwa durch das tatsächliche ›Maßnehmen‹, indem der Rezipient das Kunstwerk berührt und dadurch die eigene Hand als Referenzgröße anlegt. Das Vgl. Jennifer Roberts: Seeing Scale, in: Scale, hg. von Jennifer Roberts, Chicago und Paris 2016, 10–24, hier: 14 f.; Joan Kee und Emanuele Lugli: Scale to Size: An Introduction, in: To Scale, ed. by ebd., Art History, Special Issue, 38, 3 (2015), 250–266, hier: 252. Zu den unterschiedlichen Disziplinen, die den Terminus Skalierung verwenden, siehe die Einleitung zu diesem Heft sowie den Sammelband: Too Big To Scale – On Scaling Space, Numbers, Time and Energy, ed. by Florain Dombois und Julie Harboe, Zürich 2017. 2 Vgl. Roberts: Seeing Scale, [Anm. 1], 12. 1
ZÄK-Sonderheft 18 · © Felix Meiner Verlag 2020 · ISBN 978-3-7873-3815-3
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›haptische Register‹ ermögliche anders als das ›optische Register‹, Skalierungen zu erfahren und als stabile Proportionsdimension zu erfassen.3 Joan Kee und Emanuele Lugli widmen sich einem Skalierungsphänomen, das sie »responsive Kapazität« nennen.4 Sie versuchen mit dem Konzept die Frage zu beantworten, inwiefern es möglich ist, Skalierungen und unterschiedliche Dimensionen von Objekten zu bestimmen, ohne dabei den Körper des jeweils wahrnehmenden Subjekts oder den eigenen Körper als Referenzgröße heranziehen zu müssen.5 Sie erörtern die »responsive Kapazität« von Kunstwerken und welchen Stellenwert Skalierungen in der Vermittlung zwischen Objekt und Rezipient einnehmen.6 Während also ein Ansatz visuell und haptisch argumentiert, argumentiert der andere prozessual und interaktionslogisch. Adressat und Responsivität sind der Prozess, über den sich die ästhetischen Bedeutungsdimensionen von Skalierungsphänomenen realisieren, konstituieren und analytisch erfasst werden können. In diesem Beitrag sollen diese Ansätze unter dem Konzept der ›Handhabung‹ theoretisch synthetisiert und weitergeführt werden. Das Konzept der Handhabung kombiniert visuell wahrnehmende und prozessuale interaktionslogische Ansätze zur Analyse von Skalierungen miteinander. Im Bereich von ästhetischen Skalierungen treten häufig Objekte in responsiven Bezug zueinander, die ›interobjektiv‹, das heißt auch ohne Bezug zum realisierenden Wahrnehmungssubjekt, ihre Größendimension reskalieren und damit eine eigene Ausdrucksweise entwickeln. In der Handhabung ihrer interobjektiv erfahrenen Größenrelationen erweist sich ihre responsive Kapazität unabhängig vom Sehsinn als dinglicher haptischer Interaktionsprozess. In diesem Aufsatz soll diese Überlegung an dem Werk »Memento« der amerikanischen Künstlerin Julie Chen exemplarisch zur Diskussion gestellt werden. Ziel ist es, eine theoretisch methodologische Systematik zu entwickeln, die die Frage nach der Skalierung aus ihrem Schattendasein bloßer Deskription befreit und in das Zentrum der ästhetischen Analysen überführt.
Vgl. ebd. [Anm. 1], 12. Zum Verhältnis von Größenwahrnehmung und dem menschlichen Körper s. auch David Summers Ausführungen zur optischen Reskalierung des Auges und der Relation von »actual size« und dem »modelling of inner vision on the conditions of the receptivity of the organ« (35). Tatsächlicher Raum bzw. Größe, so argumentiert Summers, sei defi niert von dem menschlichen Körper und seinen Relationen: »Real Space is defined by the human body, more specifically by the body’s finite spatiotemporality, its typical structure, capacities and relations« (36). Der haptische Sinn sei damit ein wichtiges Maß für die Erfahrung von Größenverhältnissen: »We may only touch things at the size they are; by contrast, sight […] apprehends the form of things in ratio« (317), David Summers: Real Spaces: World Art History and the Rise of Western Modernism, London 2003. 4 Kee und Lugli: Scale to Size [Anm. 1], 257. 5 Vgl. ebd., 2015. 6 Ebd., 252. 3
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Handhabung von Erinnerungsobjekten Am 5. März 2007 explodiert eine Autobombe in der traditionellen Bücherstrasse ›Al-Mutanabbi Street‹ im historischen Zentrum Bagdads. Die Explosion fordert 30 Tote und über 100 Schwerverletzte, ein Großteil der dort ansässigen Buchläden wurde zerstört. Die Straße ist nach einem der bekanntesten und einf lussreichsten arabischsprachigen Poeten ›Al-Mutanabbi‹ benannt, der sich im 10. Jahrhundert neben seiner Dichtung auch politisch engagierte. Die Ereignisse vom 5. März galten als Angriff auf das intellektuelle und literarische Zentrum Bagdads und auf eine Nachbarschaft, in der Schiiten sowie Sunniten gemeinsam lebten.7 Der Anschlag wird auch als ein Angriff gegen die intellektuelle Welt gedeutet, die sich insbesondere unter Saddam Hussein vielen Verfolgungen ausgesetzt sah. Eine Stiftung, die Stiftung Al-Mutanabbi Street, initiierte einen Open Call und rief Künstler dazu auf, sich mit dem verloren gegangenen »Inventar«, das in dem Bombenanschlag zerstört wurde, zu befassen und das »Lesematerial wieder aufzusammeln«.8 Auf den Call antwortete unter anderem die amerikanische Künstlerin Julie Chen. Chens Werk »Memento« (2012) besteht aus einer kleinen Schatulle, in der sich diverse Kleinstobjekte befi nden, die auf verschiedene Weise an den Anschlag auf das Bücherzentrum erinnern. Sie wählte für ihre Auseinandersetzung mit dem Anschlag in Bagdad das Format der Miniatur, nicht das für öffentliche Erinnerungsdenkmale charakteristische monumentale Großformat.9 Die Wahl des Kleinformates bildet einen Akt der Miniaturisierung, ein Skalierungsakt, der unter anderem davon geprägt ist, notwendigerweise Dinge oder Aspekte auszuklammern.10 Eine solche Reskalierung in das Miniaturformat bedeutet jedoch nicht, dass die vielschichtigen politischen Bedeutungsformationen vereinfacht oder überspitzt wiedergegeben werden.11 Im Gegenteil: »Memento« löst gerade in der miniaturisierenden Reskalierung vermeintliche Eindeutigkeiten und klare Narrative auf. Die Komplexität der verwobenen politischen Verhältnisse wird dabei nicht über eine detaillierte und ausführliche Wiedergabe divergierender Vgl. https://www.nzz.ch/newzzEYWQONL1-12-1.122494, Zugriff: 13.08.2018. http://23sandy.com/works/blog-postings/an-inventory-of-al-mutanabbi-street-a-callto-book-artists-from-beau-beausoleil, Zugriff: 13.08.2018. 9 Susan Stewart unterscheidet etwa zwischen dem Gegensatzpaar ›Gigantisch und öff entlich‹ (»Gigantic at the origin of public«) und ›Miniatur und Privat‹ (»miniature at the origin of private«), Susan Stewart: On longing: narratives of the miniature, the gigantic, the souvenir, the collection, Baltimore und London 1984, 71. Zum Kolossalen sowie öffentlichen Kolossalbauten und ihre Ausrichtung auf Überwältigung, siehe grundlegend: Darcy Grimaldo Grigsby: Colossal. Engineering the Suez Canal, Statue of Liberty, Eiff el Tower, and Panama Canal. Transcontinental Ambition in France and the United States during the Long Nineteenth Century, Pittsburgh 2012, u. a. 15–19, 175. 10 Vgl. Kee und Lugli: Scale to Size [Anm. 1], 257. 11 So betont Susan Stewart: »Such experiments with the scale of writing as we fi nd in micrographia and the miniature book exaggerate the divergent relation between the abstract and the material nature of the sign. A reduction in dimensions does not produce a corresponding reduction in significance«, Stewart: On longing [Anm. 9], 43. 7 8
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Abb. 1–6: Julie Chen: Memento, Flying Fish Press Berkeley 2012, Schatulle 14,2 × 17 × 7,1 cm; Metallkästchen: 4,5 × 5,8 × 1,9 cm, Miniaturbuch: 3,8 × 5,3 × 0,7 cm. Spencer Collection, The New York Public Library, Astor, Lenox & Tilden Foundations, 44/50.
Abb. 2
Standpunkte erreicht. Vielmehr bilden die Handhabung und der haptische Umgang mit dem Miniaturwerk den zentralen Zugang zu den verschiedenen politischen Bedeutungsebenen, die mit dem Gewaltakt und seinen ästhetischen Adressierungen realisiert werden. Die Schatulle des Werkes »Memento« umfasst die Maße 14,2 × 17 × 7,1 cm. Sie ist vollständig mit Seidenstoff umhüllt und trägt auf der Deckelseite die Aufschrift »Memento«. Das Objekt besteht aus verschiedenen Materialien wie Kupfer, Papier, Stoff, Fotopapier und Hartpappe (Abb. 1 und 2). Um das Objekt betrachten zu können, bedarf es einer haptischen Auseinandersetzung, die verschiedene Sinnesqualitäten und Gebrauchsformen voraussetzt wie Klappen, Blättern, Falten, Ziehen, Lesen, Schauen und Öff nen. Im Inneren des Kästchens befi ndet sich ein viereckiges Objekt aus Metall mit kreisrunder Aussparung, die Einblicke auf die dahinterliegende Schicht freigibt. An dieser Stelle müssen sich die Rezipient *innen entscheiden, ob sie sich zuerst diesem kupfernen Miniaturobjekt widmen oder ob sie an der kleinen Schlaufe unterhalb der Einlassung ziehen oder das Band oberhalb des Objektes herausnehmen. Anders als in klassischen Buchformaten, die einer linearen Blätterrichtung und Narration folgen, ist hier keine Reihenfolge des Gebrauchs oder eine spezifi sche Ordnung der Betrachtung vorgegeben. Ein Beginn mit dem grauen Band erfordert unmittelbar einen weiteren Schritt der Handhabung des Objektes, da das Band als Kette dient, die der Betrachter mit etwas Geschick am kupfernen Objekt befestigen könnte, um es als Anhänger um den Hals und nah am Körper zu tragen. Mit einem vorsichtigen Zug an der Schlaufe an der Vorderseite der Schatulle, gibt ein gedruckter Text auf einer Kartontafel Hinweise zum verwendeten Material und zum Werkhintergrund. Widmen sich die Rezipient *innen dem Objekt aus Kupfer in der Mitte, wird eine weitere Wahlmöglichkeit angetroffen: entweder ist auf der einen Seite ein kleines Miniatur-
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Abb. 3
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Abb. 4
buch (3,8x 5,3 x 0,7 cm) zu entnehmen oder das Objekt lässt sich auf der anderen seite zu einem einem kleinen Miniaturtriptychon auffalten (4,5 x 5,8 x 1,9 cm) (Abb. 3 und 4).12 Fällt die Wahl auf das Miniaturbuch, so sind dort Textzeilen von Versen entziffern. Inhaltlich befassen sich die Verse mit der Bedeutung des geschriebenen Wortes. So heißt es beispielsweise: »You value the written word only abstractly/not as though this value could be translated into such things as/time or money or freedom from persecution.« Die Zeilen lassen über die Signatur die Künstlerin Julie Chen als Verfasserin dieser Verse erkennen. Fällt die Wahl auf das Miniaturtriptychon, so lässt sich dieses öff nen und gibt den Blick auf ein mittig positioniertes Oval frei. In dem Oval sind Schriftzüge in ein Webmuster gelegt, Zitate aus den Präambeln der Verfassungen der Vereinigten Staaten und des Iraks in englischer Sprache. Die Information wird auf der ausgezogenen Tafel bereitgestellt. Die beigefügte Erklärung gibt zudem Auskunft über das umgebende Bild, das auf den beiden Seitenflügeln und im Hintergrund der Mitteltafel zu sehen ist: Es stellt den Trubel des Buchhändlermarktes in der Al-Mutanabbi Street in Bagdad dar, bevor dieser 2007 durch den Terroranschlag zerstört wurde. Zunächst f ällt auf, dass das Werk »Memento« keiner eigenständigen klassischen Kunstgattung zuzuordnen ist; es ist weder Gemälde, Zeichnung, Skulptur oder Stich. Ebenso widersetzt es sich einer Kategorisierung zu einer klassischen Mediengattung wie Buch, Box, Handzettel, Altar, Sehmaschine etc. Stattdessen 12 Formatvorgaben bestimmen, wann ein Format als Miniaturbuch bezeichnet werden kann. Allgemein darf die Miniatur in Höhe und Breite das Maß von 7,6 cm nicht überschreiten. Für die Auf bewahrungsschatullen gelten diese Regelungen nicht, vgl. Louis W. Bondi: Miniaturbücher. Von den Anfängen bis heute, München 1988, 1; Anne C. Bromer: Miniature Books. 4000 years of tiny treasures, New York 2007, 11.
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bricht die Arbeit mit diesen formalen Gattungskonventionen.13 Sobald der oder die Rezipient*in mit dem Kunstobjekt interagiert, es bewegt und auf klappt, öff net sich eine neue Gattung oder Medienform. Im Zuge der Handhabung treten die unterschiedlichen Materialien und Darstellungsweisen hervor, welche das Werk in einem hybriden Übergangsbereich von Buch, Objekt, Artefakt, Erinnerungsstück und Mahnung positionieren.14 Im Zuge dieser Handhabung realisieren sich nicht nur unterschiedliche Medienund Gattungsformate, sondern auch unterschiedlich skalierte Größenverhältnisse. Der Verschluss der Kupferflügel verlangt nach einer vorsichtigen Öff nungsweise. Er ist, um es metaphorisch auszudrücken, nur mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl zu bewegen. Die Medienformate sind qua Handhabung als zerbrechliche Formate realisiert. Auch die Seiten des Miniaturbuches erfordern Achtsamkeit im Umgang. Sie werden als Buch visuell betrachtet und haptisch als empfindlich, als leicht zu zerstören und ›klein‹, als Miniatur wahrgenommen. Das diffi zile Verschließen oder die Seiten des Miniaturbuches bedächtig zu blättern und zu falten, ist Teil des Werkes, jedoch nicht auf der Ebene der Kunstgattung oder des Medienformates, sondern auf der Ebene der Größenverhältnisse und Skalierung, die es zu handhaben gilt. Die Schatulle oder die ›Kiste‹ mit ihrer zu ziehenden Lasche, die Aufschrift und das Format der Miniatur im Inneren der Schatulle implizieren verschiedene Handlungsanweisungen: einerseits die konkrete Handhabung, wie etwa das Öffnen der Kiste und den Umgang mit den einzelnen Gegenständen, und andererseits die Handhabung der Schatulle und der Miniatur als Erinnerungsgegenstand. In den formalen Gattungskonventionen dienen Kisten, Boxen und Kästchen allgemein dazu, etwas aufzubewahren oder es vor Einflüssen von außen zu schützen, und unterstreichen bereits als rahmende Hülle die besondere Kostbarkeit des Aufbewahrten.15 An diese Gegenstände, ob sie materiell von besonderer Wertigkeit sind oder nicht, binden sich zumeist auch immaterielle Gedanken und Erinnerungen. Metaphorisch wird die Miniatur mit ›Innerlichkeit‹ und den Assoziationen an ein Souvenir oder einen schutzgebenden Talisman verbunden.16 Erinnerung ist in »Memento« formal sowohl in dem Miniaturobjekt als auch in der auf bewahrenden Schatulle präsent. Der Schriftzug »Memento« verweist einerseits als Kurzform der Mahnung »memento mori« auf das Gedenken an die Toten und die Vergänglich13 Eine solche Abkehr von eindeutigen Gattungs- und Medienzuordnungen gilt als ein wesentliches Merkmal von Künstlerbüchern im Allgemeinen, vgl. dazu stellvertretend Lucy Lippard: The Artist’s Book Goes Public, in: Art in America 65/1 (1977), 40. 14 Zum hybriden Status von Objekten aufgrund ihrer Falt- und Klappbarkeit, vgl. grundlegend: Helga Lutz und Bernhard Siegert: In der Mixed Zone. Klapp- und faltbare Bildobjekte als Operatoren hybrider Realitäten, in: Klappeff ekte. Faltbare Bildträger in der Vormoderne, hg. von David Ganz und Marius Rimmele, Berlin 2016, 109–138. 15 Zum Verhältnis von Schutzhüllen und Schmuckkästchen für das Buch und deren Wertigkeit bzw. Wertschätzung, vgl. Bondi: Miniaturbücher [Anm. 12], 10 f., 159–163; Bromer: Miniature Books [Anm. 12], 53–55. 16 Vgl. Stewart: On longing [Anm. 9], xii, 41, 45.
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keit alles Lebendigen im Allgemeinen. Andererseits bildet »Memento« als Titel des Kunstwerkes eine im Imperativ angelegte Handlungsanweisung, welche vorgibt, wie dieses »Erinnere« zu realisieren sei: durch das faktische Öff nen der Schatulle, auf der die Schrift gesetzt ist, und durch das Lesen und Handhaben der Gegenstände als Erinnerungsobjekte. Das Auf klappen und Öff nen der kleinen Kiste ist metaphorisch als das Entfernen der ersten Schicht des Verborgenen zu sehen und somit als Aufforderung, der vergangenen Ereignissen nicht nur zu gedenken, sondern sich mit ihnen zu ›befassen‹, das heißt, sie in der Handhabung aktuell zu vergegenwärtigen. Das Handhaben ist präsentisch im Augenblick des haptischen Umgangs verhaftet und überführt damit die zeitlich zurückliegenden Ereignisse in die Gegenwart. Handhabung ermöglicht im Moment der Handlung auch einen Akt der Entskalierung von zeitlichen Differenzen.
Gedehnte Erinnerungs-und Lesezeit Wie die Arbeit »Memento« zeigt, erfordern Verkleinerungen oder miniaturisierte Objekte in ihrer Handhabung eine besondere Aufmerksamkeit, die das Erfassen des Werkes und die Wahrnehmung aller Aspekte zeitlich verlangsamen. Das Lesen und das Betrachten von Miniaturseiten eines Buches ist als Leseakt zwar kurz, aufgrund der spezifi schen Handhabung jedoch sehr lang.17 Die räumliche, miniaturisierende Skalierung zieht eine zeitlich gegenläufige Ausdehnung nach sich. Dieser langsamen Betrachtung steht ein hoher Grad von Mobilität und Mobilisierbarkeit des Miniaturobjektes gegenüber.18 Diese Eigenschaften haben den Stellenwert der Miniatur als beliebtes Erinnerungsformat gefördert, das mobil ist und auf Reisen falls nötig auch unbemerkt am Körper getragen werden kann, um eine Spur zu fernen Menschen und Orten zu legen.19 Der französische Begriff des ›Souvenir‹ trägt noch etymologisch diese Bedeutung des Zusammenhanges von wörtlicher Erinnerung und Objekt der Erinnerung im Sinne eines materiellen und gedanklichen (Wieder-)kommens in sich.20 Doch das Werk »Memento« weist sich schriftlich mit dem Imperativ aus, der nicht einfach nur eine Erinnerung sein soll, sondern auch ein Gedenken der Ereignisse. Die zeitliche Dimension des Werkes wird vor allem auf der Seite des doppelseitigen Kupferwerkes deutlich, welche das Wort »Memento« in der runden Aussparung lesbar werden lässt. Die Hülle ist wie ein Buchdeckel von rechts nach links aufschlagbar und ermöglicht Zugang zu dem eigentlichen Miniaturbuch. Dieses Zum Zeitaspekt der Miniaturen vgl. Stewart: On longing [Anm. 9], 39: »From the beginning, the miniature book speaks of infi nite time, of the time of labor […] and of the time of the world, collapsed within a minimum of space.« 18 Vgl. Bondi: Miniaturbücher [Anm. 12], 31, 80–82. Zur Geschichte und den verschiedenen Funktionen des Miniaturbuches vgl. Bromer: Miniature Books [Anm. 12]. 19 Vgl. Bondi: Miniaturbücher [Anm. 12], 31, 80–82. 20 Vgl. https://www.littre.org/defi nition/souvenir, Zugriff : 13.08.2018. 17
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Abb. 5
Abb. 6
widersetzt sich in der Blätterrichtung der linearen Bewegung von rechts nach links und ist in Doppelseiten arrangiert, die jeweils von der Mitte zu den beiden Seiten geöff net werden (Abb. 5 und 6). Die erforderliche Art des Auf klappens bildet nicht nur ein Umschlagen der Seiten von Fläche zu Fläche, sondern überführt durch das Auf klappen nach oben die zweidimensionalen Doppelseiten in den Raum und in die Dreidimensionalität.21 Auch der Leseprozess ist aufgrund der losen Anordnung der Sätze räumlich organisiert. Die Augen erfassen, mehr als etwa bei den festen Strukturen eines Blocksatzes, nicht nur die Schrift, sondern den gesamten umgebenden Raum zwischen den Zeilen. In keiner festen Zeilenanordnung sind Satzstücke auf den Seiten verteilt, wobei zunächst die Worte auf den zusammengefalteten Seiten zu lesen sind, die dann zu den Worten auf der ausfaltbaren Innenseite überleiten. You live your life careless of the liberty that you have inherited. For you, the printed word has become commonplace a substance that you take for granted like air like the inalienable right to think your own thoughts thoughts made visible through words on paper and then thrown in the trash without consideration a thing so basic that you are not conscious of its contingency. You value the written word only abstractly not as though this value could be translated into such things as 21 Zu den unterschiedlichen Dimensionen des Buches und dem Verhältnis von Doppelseite und Räumlichkeit, vgl. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum: die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy), Göttingen 2016.
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time or money or freedom from persecution. What if with each word you ever read you risked losing one millisecond of your life And with each word you destroyed without thought you risked bringing your community one millisecond closer to destruction? A book would be a force of reckoning An object to be cherished and feared The dividing line between the free world and the unfree world This is the reality you pretend not to see You focus instead on We focus instead on The idea of freedom for all ignoring the simple fact that this has never been the way things are. What will it take to wake us from our collective dream?22
Der Text appelliert an die Wertschätzung des geschriebenen Wortes und an die Gedankenfreiheit, die sich im Buch und in der Schrift manifestieren kann oder die aus eben diesem Grund mitunter unterbunden wird. Die Möglichkeit, in einem Buch Meinungen zu verschriftlichen, markiere, so ist in den Zeilen zu lesen, ›die Grenze zwischen einer freien und unfreien Welt‹. Das Blättern in die verschiedenen Richtungen und die fragmentarische Schriftplatzierung auf den Seiten verhindert ein rasches Überfl iegen der Zeilen, was die Lesezeit gemessen an der relativ geringen Zeilenanzahl deutlich ausdehnt. Eine stabile Rhythmik sowohl des Umschlagens der Seiten als auch des Leseflusses stellt sich daher nicht ein. Vielmehr entscheiden die Leser des Gedichtes in dem kleinen Buch wiederum selbst über das Tempo des Lesens und Umschlagens und werden dadurch zu Mitakteuren des Kunstwerkes.23 Die wenigen Schriftzeilen auf vornehmlich leeren Seiten und das langsame, mehrteilige Umblättern unterstreicht die Erinnerungsfunktion des Der Text ist von Julie Chen verfasst und ist in dieser Reihenfolge in dem Miniaturbuch abgedruckt, das im Werk »Memento« in der Kupferschatulle auf bewahrt wird. Eine Seitenangabe fi ndet sich dort nicht. Sämtliche Schrift in »Memento«, die Verse und die Zeilen aus den Verfassungspräambeln, sind ausschließlich in englischer Sprache gehalten, was Hinweise auf einen englischsprachigen Adressatenkreis gibt. 23 In seinen Ausführungen zum Blättern als Kulturtechnik sind für Friedrich Weltzien die Nutzer bzw. die »Blätternden« »handelnde Instanzen«. Sie entscheiden stets aktiv selbst darüber, wann und wie sie blättern und in welcher Weise sie mit dem Material und Format des Buches hantieren, vgl. Friedrich Weltzien: Sensation des Umblätterns. Anmerkungen zur Performanz von Bildgeschichten, in: Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf Schrift-Bild-Relationen in den Künsten, hg. von Boris Roman Gibhardt und Johannes Grave, Hannover 2018, 131–154, hier: 145, 151. Zum Blättern als Kulturtechnik vgl. Harun Maye, Blättern, in: Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln 2014, 135–148. 22
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Kunstwerkes an die zerstörten Bücher und Schriften, deren Überreste nur noch insular vorhanden sind und die von den Künstlern aufgesammelt werden. Die besondere Rolle des Buches wird in »Memento« an einem konkreten Beispiel dargestellt. Inhaltlich ist der Text eher abstrakt und weniger als eine Anklageschrift gehalten. Er adressiert nicht die Akteure der Zerstörung, sondern in direkter Anrede eines »You« eine unbestimmte Figur, die von der politischen Dimension des Buches nicht betroffen zu sein scheint und das geschriebene Wort weniger aufgrund persönlicher Erfahrungen, sondern auf einer allgemeinen Ebene zu schätzen weiß. Inhaltlich verdeutlicht das Werk, dass die Ereignisse in Bagdad stellvertretend für weitere globale Angriffe auf Intellektualität und Meinungsfreiheit gelten können. Die Auseinandersetzung mit den Anschlag im Irak weist unterschiedliche skalare Eigenschaften auf, die zeitliche und größenrelevante Dimensionen betreffen und sich zwischen Mikro- und Makrofokussierungen bewegen. Der Moment der Explosion im Jahre 2007 selbst ist nicht dargestellt, doch bildet er für alle Zeitdimensionen im Werk den Referenzpunkt. Die Darstellungen auf den Fotografien etwa repräsentieren die Zeit vor dem Anschlag, während die Schatulle mit der Aufschrift »Memento« impliziert, dass der Ort so nicht mehr existiert und er daher nicht im Erinnerungsformat des materiellen ›Souvenirs‹, sondern im Gedenkformat der Miniatur gedacht werden muss. Diese zeitliche Fokussierung auf einen einzelnen Augenblick ist in der Handhabung des Objektes repräsentiert, die eine nahsichtige Betrachtung einfordert und entsprechend als ein optisches Heranzoomen an einen einzelnen geographischen Ort und einen einzelnen zeitlichen Moment verstanden werden kann. Diese Distanzreduktion zwischen Kunstobjekt und Rezipient steht einer Ausdehnung zeitlicher Form gegenüber. Diese Ausdehnung ist jedoch nicht nur auf eine längere Dauer bezogen, sondern auch als historische Dimension eines Gewaltereignisses im Zusammenhang des historischen Kontextes zu deuten. Während des Betrachtens des Werkes wird der Mikrokosmos der Bücherstraße Al-Mutanabbi vor und nach dem Bombenanschlag vergegenwärtigt. Dabei kann dieser Mikrokosmos nicht losgelöst von der makropolitischen Situation des Nahostkonfl ikts und den globalen politischen Beziehungen betrachtet werden. Das Werk skaliert nicht nur auf einer materiellen Ebene seiner Handhabung, sondern auch auf einer Referenzebene des historischen Ereignisses. Letzteres wird wiederum in einem Herauszoomen und einem Blick auf umfassendere Zusammenhänge adressiert. Der skalare Gegensatz von Mikroobjekt und Mikroperspektive triff t auf ein Makroereignis, eingebettet in globale Makrostrukturen. Die Skalierung realisiert diese referentielle und materielle Dynamisierung über die Handhabung des Objektes als kleines Format des Miniaturbuches.24 24 Zum Miniaturbuch als Mikro- und Makrokosmos vgl. Stewart: On longing [Anm. 9], 41. Zudem referiert dieser Zusammenhang von Mikro- und Makrokosmos auf klassische Wunderkammern und Panoptika der Frühen Neuzeit, s. u. a. die Beiträge in: Macrocosmos in Microcosmo.
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Geklappte Skalierungen Das kupferne Objekt, dessen Doppelflügel von der Mitte zu beiden Seiten zu öff nen sind, greift die Form eines Triptychons für Altargemälde auf, das im geöff neten Zustand auf allen drei Teilen fotografi sche Abbildungen der Al-Mutanabbi Street aufweist. Während die beiden Seitenflügel unmittelbar Szenen von der Bücherstrasse präsentieren, bricht die Mitteltafel mit Erwartungen an ein Bild und widersetzt sich darin dem traditionellen Auf bau eines Triptychons: An der Stelle, an der gewöhnlich die zentrale Bilderzählung markant hervorgehoben ist, verhüllen schwer lesbare Textzeilen die bildliche Darstellung. In der Mitteltafel überlagern sich neben Text und Bild darüberhinaus auch zwei Formate, an die wiederum spezifi sche Gattungserwartungen gebunden sind. In die rektanguläre Form des Mittelteils ist das Oval gesetzt. Während viereckige Formen vornehmlich Seiten eines Schreibpapiers oder eines Buches assoziieren lassen, wird das ovale Format üblicherweise mit bildlichen Darstellungen oder Portraits wie etwa kleinen Miniaturmedaillons in Verbindung gebracht.25 Hier jedoch rahmt das Oval die übereinander gelegten Textbänder und verhüllt das Bild auf der dahinter liegenden Tafel. Entsprechend dort, wo die ovale Form und ihre Position in der Mitte eine Figur erwarten ließe, stehen im aufgeklappten Zustand Text und Bild kombiniert nebeneinander.26 Diese Verbindung medialer Darstellungsweisen unterstreicht die mannigfaltigen Bezüge der Tafeln aufeinander, die Teil eines einheitlichen Narrationsgefüges sind, das sich über das haptische Betätigen der beiden Flügeltüren offenbart. Die Scharniere, die die drei Teile des Miniaturtriptychons mechanisch verbinden, materialisieren zudem narrative Nahtstellen.27 Das Öff nen der Flügeltüren, Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, hg. von Andreas Grote, Berliner Schriften zur Museumskunde 10 (1994). 25 Vgl. etwa Katherine Coombs: The portrait miniature in England, London 1998. Allgemein zu dem Zusammenhang von Format und Genre und wie sich an Formate bestimmte Erwartungen binden, s. u. a. Wolfram Pichler und Ralf Ubl, Bildtheorie. Zur Einführung, Hamburg 2014, 145. 26 Ein wichtiger Beitrag zu einer systematischen Auseinandersetzung mit den resultierenden Effekten von Klappbarkeit bildet der auf Beispiele der Vormoderne ausgerichtete Sammelband »Klappeffekte«. Die beiden Herausgeber David Ganz und Marius Rimmele unterstreichen die »variablen Relationen der beteiligten Bildfelder und repräsentierten Figuren zueinander« (7). Sie deuten die Ergebnisse einer »dem Medium gemäßen Rezeptionshaltung […] als kalkulierte Klappeffekte«, welche die Künstler stärker als bisher angenommen in ihrer Gestaltung gezielt berücksichtigt haben, Ganz und Rimmele: Klappeff ekte [Anm. 14], 7. 27 Die sinnstiftende Logik von Scharnieren erörtert David Ganz am Beispiel von Diptychen und argumentiert, dass die Scharniere nicht nur die beiden Tafeln in Relation zueinander setzen, sondern auch auf die Tradition der »intermedialen Symbiose von Buch und Bild« verweisen. Im Spätmittelalter galt das Öff nen und Schließen des Buches über die Verschlüsse und Scharniere als »Vehikel« für den »Bildtransfer vom Buch ins Herz«, David Ganz: Weder eins noch zwei. Jan van Eycks Madonna in der Kirche und die Scharnierlogik spätmittelalterlicher Diptychen, in: Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, hg. von David Ganz und Felix Thürlemann, Berlin 2010, 41–65, hier: 41, 45.
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das nur aufgrund der Scharniere möglich ist, bildet eine metaphorische Schwelle, den Übergang von Innen und Außen, Innerlichkeit und Außenwelt.28 Im geschlossenen Zustand markiert die kupferne Hülle eine Abkehr von der äußeren Welt; die beiden Türen sind mit einem Riegel verschlossen und die runde Aussparung sowie die Gestaltung der Oberfl äche erinnern an einen Tresor oder das Fenster eines Unterwasserschiffes, das notwendig sämtliche Einwirkungen von außen abwenden muss. Wird der Riegel gelöst und die Türen aufgeklappt, öff net sich im Anblick der Innenseiten der Blick in eine Außenwelt, welche weit über die Grenzen der Miniaturgröße hinausreicht. Mit dem haptischen Klappen ereignet sich demnach eine skalare Verschiebung von nach innen gerichteter Miniatur auf weitreichende politische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Schriftbänder auf der Mitteltafel geben Passagen aus den Präambeln der Verfassungen der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Irak wieder. In zwei unterschiedlichen Farben sind die Textstreifen so miteinander verwoben, dass die einzelnen Worte und Sätze der Verfassungen nur bruchstückhaft erkennbar sind und als Webmuster vornehmlich ornamentale Gestalt annehmen. Diese gestaltete Anordnung verlangsamt zusätzlich zu der kleinen Schriftgröße den Lesevorgang. Eine Skalierung ereignet sich auch hier wieder auf einer Zeit- und einer Raumebene, die sich diametral zueinander verhalten. Die aufgrund des kleinen Formates der Mitteltafel und der Schriftgröße verlangsamte Lesezeit steht dem Fragment gegenüber, einer verkleinernden sowie verkürzenden Skalierung.29 Eine solche Nähe von auch gegensätzlichen Skalierungsprozessen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen, ist einerseits für das allgemeine Phänomen Skalierung paradigmatisch, das stets eine relationale Beziehung ausbildet. 30 Andererseits bildet dieses arbiträre Verhältnis von diversen Skalierungen auch konkret für das Werk »Memento« ein zentrales interpretatives und produktionsrelevantes Moment: Die verwendeten Skalierungsverfahren, die erst im Prozess der Handhabung und des Gebrauchs evident werden, positionieren diverse Akteure und Situationen in unauflösbare Wechselbeziehungen, die weder geographisch nebeneinander stehen noch einer zeitlich-linearen Logik folgen. Dabei löst die Anordnung der einzelnen Gegenstände in dem Kästchen eine klare Reihenfolge des Betrachtens auf. Das Falten steigert darüber hinaus eine spielerische Neugierde, die geschichtlichen Ereignisse immer weiter zu entblättern und sie im Gebrauchen der verschiedenen Objekte 28 Vgl. Bernhard Siegert: Türen. Zur Materialität des Symbolischen, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK ) 1/1 (2010), 151–171. 29 Zum Fragment als Kurzform der Literatur vgl. Andreas Kräuser: Theorie und Fragment. Zur Theorie, Geschiche und Poetik kleiner Prosaformate, in: Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, hg. von Sabine Autsch, Claudia Öhlschläger und Leonie Süwolto, Paderborn 2014, 41–56. Zu literarischen Kleinformaten vgl. Maren Jäger: Die Kürzemaxime im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der brevitas-Diskussion in der Antike, in: ebd., 21–40; Matthias Thiele: Notizen. Zur Poetik, Politik und Genealogie der kleinen Prosaform ›Aufzeichnung‹, in: ebd., 165–194; Niels Werber: Kleine Gattungen: Ameisen in Mikroformaten der Literatur, in: En Detail. Zur Epistemologie kleiner Formen, hg. von Joseph Imorde: kritische Berichte 1 (2015), 79–91. 30 Roberts Seeing Scale [Anm. 1], 22.
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und Formate in der Box in ein interdependentes Verhältnis zu setzen. Eine solche nicht lineare Handhabung negiert auch eine lineare Narration von Ereignisketten, wodurch die jeweils angedeuteten Akteursgruppen von Mikro- und Makroakteuren in keinem klar defi nierten Abhängigkeitsverhältnis stehen.
Mikro- und Makroakteure und asymmetrische Handlungen In »Memento« verknüpft das kleine Triptychon Mikro- und Makroperspektiven mit einer Perspektive auf die Akteure eines historischen Ereignisses in Bagdad. Diese sind einerseits durch den bildlich wiedergegebenen Angriff auf die Bücherstraße und andererseits durch die Textbänder mit Auszügen von staatlichen Verfassungen dargestellt. Verfassungen repräsentieren allgemein die jeweiligen Staaten, die im Gegensatz zu individuellen Einzelpersonen als Makroakteure bezeichnet werden.31 Die Staaten USA und Irak sind in »Memento« jeweils über Ausschnitte ihrer Verfassungspräambeln repräsentiert. Diese mediale Parallele erzeugt eine äquivalente Gegenüberstellung der beiden Staaten. Die Verfassungen der USA und des Irak sowie die assoziierten Akteure rücken entsprechend in räumliche, zeitliche und sinnhafte Nähe. Die irakische Verfassung wurde im Jahr 2005 verabschiedet, wobei die ersten Vorarbeiten bereits 2003 begannen, an denen die USA noch maßgeblich beteiligt waren, um an einer politischen Neuausrichtung des Irak mitzuwirken. 32 Im Vorfeld der endgültigen Verfassung waren vor allem die von der USA geführten »Coalitional Provisional Authority (CPA)« und das »Iraqi Governing Council (IGC)« tragende Säulen des Verfassungsentwurfes. Beide Parteien wurden zwar 2004 aufgelöst, doch sind zahlreiche Teile der gemeinsamen Vorarbeiten in die endgültige Vgl. Allesandro Pinzani: Zwischen Wut und Resignation, Politische Apathie, negativer Aktivismus und technokratischer Diskurs, in: Die Verfassung des Politischen. Eine Festschrift für Hans Vorländer, hg. von André Brodocz u. a., Wiesbaden 2014, 133–157, hier: 152. Gegen eine auf die Größe reduzierte Unterscheidung von Mikro- und Makrostrukturen argumentieren Bruno Latour und Michel Callon. Sie plädieren für eine variabel graduierte Unterscheidung, die nicht von vornherein an feste Größen gebunden ist, da die Stabilität der Netzwerke von Akteuren kontinuierlich variieren kann. So unterscheiden sich Makroakteure von Mikroakteuren über mehr Bindungen und stärkere Netzwerke. Dabei treten Makroakteure auch lokal auf. Vgl. dazu Michel Callon und Bruno Latour: Die Demontage des großen Leviathans: Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen, in: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. von Andréa Belliger und David J. Krieger, Bielefeld 2006, 75–101, 83 f. Zu einer kulturwissenschaftlichen und wissenshistorischen Reflektion des Begriff spaares Mikro/Makro vgl. Jochen Venus: Mikro, Makro. Zur Wissens- und Technikgeschichte einer eigentümlichen Unterscheidung, in: Medien in Raum und Zeit: Maßverhältnisse des Medialen, hg. von Ingo Köster und Kai Schubert. Vgl. hierzu auch weiterführend: Julian Junk und Valentin Rauer: Combining Methods: Connections and Zooms in Analysing Hybrids, in: Transformations of security studies. Dialogues, diversity and discipline, ed. by Gabi Schlag u. a., London und New York 2017, 216–230. 32 Vgl. Nathan J. Brown: Post-Election Iraq. Facing the Constitutional Challenge, in: Carnegie Policy Outlook, February 2005. 31
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Verfassung eingegangen.33 Die ›Verwebung‹ der beiden Verfassungsfragmente deutet einen zwischenstaatlichen Zusammenhang an, wobei aufgrund des Webmusters die exakte Beziehung etwa im Sinne eines linearen Bezuges offen bleibt. Die Verwebung zwischenstaatlicher Makroakteure wird um deren Verbundenheit mit den Mikroakteuren der Al-Mutanabbi Street ergänzt. Die allgemeine Wechselbeziehung von Staatsverfassungen und den davon betroffenen Individuen spiegelt sich in den drei von Scharnieren zusammengehaltenen Triptychontafeln, die eine partiell mobile und eine partiell aneinandergebundene Beziehung verkörpern, wobei das kleine Format der Miniatur die Nähe der beiden Akteursgruppen zusätzlich betont. Verfassungen im Format der Miniatur zu drucken, und seien es auch nur Auszüge oder Fragmente, bildet eine wichtige Facette in der Tradition des Miniaturbuches. Das Format erleichterte dabei den Transport, die schnelle Verbreitung oder auch eine unauff ällige Weitergabe für Gesetzeswerke, historische Informationen, Bildung oder auch politische Propaganda.34 Das formale Verhältnis von Verfassung und Miniatur bildet dabei stets ein skalares Spannungsverhältnis, das auch als skalare Asymmetrie bezeichnet werden kann. Eine solche formale Asymmetrie von Miniatur und Makroformat wiederholt im Beispiel von »Memento« die Struktur von asymmetrischen Kriegen. Symmetrische Kriege sind Kriege zwischen Staaten, also zwischen Makroakteuren mit jeweiligen Verfassungen. Asymmetrische Kriege sind Kriege zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Gewaltakteuren.35 Während staatliche Akteure meist auf konventionelle Kriegsstrukturen zurückgreifen, bevorzugen nichtstaatliche Akteure irreguläre und nicht-konventionelle Strukturen. Terroristische Gewaltakte fallen unter asymmetrische Kriege, die als Kriegsformat Mikrogewaltakte ausüben. Mikrogewaltakte skalieren die politische Gewalt in kleine Akte und gelten daher als Kleine Kriege, die auf die Zersetzung des internationalen Systems als multilaterale politische Makroordnungen zielen.36 Verfassungen repräsentieren die Grundlagen solcher globalen Makroordnungen, indem sie die Gewaltakteure als Träger illegitimer und legitimer Gewalt unterscheiden. Terroranschläge bilden in diesem Verständnis einen Angriff auf die Unterscheidung von illegitimer und legitimer Gewalt. Beide Akteursgruppen und Gewaltordnungen treffen im Miniaturbuch »Memento« vor dem Hintergrund der Al-Mutanabbi Street aufeinander, ohne hierarchische oder kausal argumentierende Erzählstrukturen zu konstruieren. Vgl. ebd., 1 f. Vgl. Bondi: Miniaturbücher [Anm. 12], 138 f.; Bromer: Miniature Books [Anm. 12], 154–163. 35 Vgl. Christopher Daase: Kleine Kriege – Große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegsführung die internationale Politik verändert, Baden-Baden 1999. Daase unterstreicht, dass für diese Unterscheidung nicht ausschließlich die »militärische Kraft« entscheidend ist, sondern vielmehr die »politische Organisation« (93). Diese unterschiedlichen Organisationsformen implizieren unterschiedliche »Interessensdefi nitionen« und andere Modi der Konfl iktaustragung, was wiederum eine andere Art der »Konfl iktstruktur« mit sich bringe. Diese Konfl iktstruktur kann sich auf Rekrutierungsverfahren und Legitimationsfragen beziehen (97). 36 Vgl. ebd., 97. 33
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Es bleibt offen, welche Ereignisse vor- und nachgängig waren. Im Mittelpunkt des Werkes stehen die Bücherstraße und die dortigen Ereignisse, doch repräsentieren diese wiederum im Kleinen teleologische Narrationen oder ganze Ideologien. Gleichermaßen stehen Verfassungen im Zentrum von »Memento«, um die sich die Darstellung im Triptychon bewegt, doch auch sie bilden nur einen Teil des Relationsgefüges von Mikro- und Makroordnungen. Das Format der Miniatur forciert einen Fokus auf den Gebrauch und die Handhabung, auf das Klappen, Falten, Öffnen und Schließen. Die nicht vorgegebene Handhabung wiederum löst die lineare Geste des Blätterns auf und damit auch eine linear organisierte Erzählung. Der Gebrauch erzeugt eine eigenlogische Bedeutung sowie ein erzählerisches Netz, das in verschiedene Richtungen ausgreift. Die Handhabung selbst realisiert in ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk »Memento« die Komplexität der politischen Akteure und Geschichten, die nicht linear oder binär, sondern verschiedenartig und multilateral aufeinander Bezug nehmen. Das Miniaturkünstlerbuch von Julie Chen zeigt, wie die Handhabung als Konzept zur Analyse ästhetischer Skalierungen einen eigenen Blick auf bestimmte Werke der Kunstgeschichte bieten kann. Die Handhabung der Miniatur »Memento« bildet facettenreiche Richtungen von politischen Verbindungen und Geschichtsnarrationen im Kleinstformat ab. Diese Form der Skalierung erinnert, ohne zu kategorisieren oder die Erzählung auf einzelne Aspekte zu reduzieren. Die Erinnerung ist hier eine haptische Form des Vergegenwärtigens im Akt des gedenkenden Handhabens. Das Werk beinhaltet multiple, mediale, materiale und semantische Ebenen, die jedoch alle über die Handhabung adressiert werden. Das Format zielt weniger auf Überwältigung aufgrund der Ansichtigkeit eines übergroßen Formates, das etwa über den Größenunterschied beindruckt oder sich über den Betrachtenden erhebt. Vielmehr involviert sie den Betrachter und forciert aufgrund der Handhabung eine immer neue physische und intellektuelle Positionierung zu den jeweiligen Ereignissen und als fragile mediale und ästhetische Ordnung. »Handhabung« als analytisches Konzept einer Theorie der Skalierung verweist darüber hinaus auch auf rezeptive und produktionsimmanente Bedeutungsebenen. Ob eine Berührung und eine Handhabung des Objektes möglich sind oder ob diese aufgrund überbordender Größe, Gewicht oder nicht berührbaren Materials ausgeschlossen werden, ist stets Teil der konzeptuellen Grundierung von Werken und damit Gegenstand von herstellungsrelevanten Fragen. In welchem Ausmaß ein Werk in Reproduktionen zugänglich und in welcher Form es in einer anderen skalaren Ordnung, etwa in digitaler Form, noch handhabbar ist, bildet eine weitere bedeutungsgenerierende Bezugsgröße.37 Besondere Relevanz erreicht die Handhabung jedoch auf rezeptiver Ebene und thematisiert Fragen, ob und inwiefern Rezipienten das Objekt materiell aufgrund seines Formates, seiner Skalierung 37 Vgl. dazu Roberts: Seeing Scale [Anm. 1], 12–18. Zu Skalierbarkeit von Formaten und ihrem damit materialen Wandel in das Digitale vgl. David Joselit: After Art, Princeton 2013, v. a. 55–58.
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oder auch ideell aufgrund der Thematik handhaben. Dabei ist das Wechselverhältnis zwischen Kunstwerk und Rezipient*innen nicht statisch oder einseitig gerichtet, sondern bildet eine zeitlich und räumlich gegenläufi ge dynamische Interaktion.38 Die Rezipienten registrieren nicht nur die Skalierung und folgen normierten Handhabungsstrukturen, sondern Skalierungen werden als solche und in ihren Effekten erst durch Handhabungsprozesse offensichtlich und erfahrbar.
Abb. 1–4, 6: © Julie Chen, Fotografie von Sibila Savage. Abb. 5: © Julie Chen, Fotografie von Veronica Peselmann.
Zu einer symmetrischen und dynamisch-prozessualen Beziehung zwischen Mensch und Objekt, die sich erst in im Wechselverhältnis realisiert, vgl. stellvertretend für den theoretischen Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie (im Folgenden: ANT) Bruno Latour: Pandora’s Hope. An Essay on the Reality of Science Studies, Cambridge 1999; John Law: After ANT: Complexity, Naming and Topology, in: Actor Network Theory and After, ed. by John Law und John Hassard, Oxford 1999, 1–14. 38
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I. Die massiven Veränderungen unserer medialen Alltagserfahrungen, die die vergangenen 15 Jahre gebracht haben, sind bislang ästhetisch noch nicht wirklich begriffen, geschweige denn auf den Begriff gebracht – außer natürlich als Verfallsgeschichte, als Geschichte zunehmender Oberfl ächlichkeit, als Geschichte der Zerstreuung und Zerstörung. Die folgenden Überlegungen zu einer Ästhetik der Gegenwart stellen demgegenüber den Versuch dar, zuerst einmal zu verstehen, was genau der Fall ist, um dann herauszufi nden, ob wir womöglich gerade ästhetisch nicht nur etwas verlieren, sondern auch etwas gewinnen. Die Beispiele dafür sollen allerdings nicht allein aus den Künsten kommen, sondern auch und vor allem aus einem Bereich, den man vielleicht »unausweichliche alltägliche Kulturerfahrung« nennen könnte. Die Gewohnheiten, die uns die unausweichliche alltägliche Kulturerfahrung einbrennt, sind schließlich auch wesentlich für die Rezeption und Bewertung der tatsächlichen Kunst. Ausgangspunkt ist, durch die Skalierungsbrille betrachtet, die Beobachtung, dass die alltägliche mediale Kulturerfahrung in Zeiten des Netzes die einer nicht mehr nur notgedrungenen, versehentlichen, sondern längst planmäßig betriebenen und unauf haltbaren Verschnipselung ist. Mit anderen Worten: Von einem neuen großen Pop-Album hört und sieht man nicht einmal mehr die erste Single, sondern oft sogar nur noch die 30-sekündige Preview des Videos zur ersten Single. Von einem neuen Film kennt man vielleicht noch den Trailer, eher aber den 15- bis 30-sekündigen Pre-Trailer. Vom gesamten Stand-up-Monolog in amerikanischen Late-Night-Shows erreicht einen noch der eine gute Gag, der viral ging; bei der Talkshow nur der eine gute Moment, die eine gute Antwort, die eine gelungene Imitation oder das eine kurze Promi-Spiel. Von einem interessanten neuen Sachbuch sieht man sich den TED-Talk an (und davon auch eher nur die eine beste Minute, die irgendwer verlinkt hat); von Diskussionen nur noch die wesentlichen Argumente, vom Fußballspiel noch die Tore; von der Politik den Tweet und vom Politiker die Parodie. Youtube mit seinem endlosen Video-Archiv und die Sozialen Medien mit ihrem Prinzip der Kurznachricht und den Fass-ohne-Boden-Timelines haben bei der Verschnipselung des medialen Kulturkonsums ganze Arbeit geleistet. Besonders unter Jugendlichen populäre Angebote wie bis vor kurzem etwa das Videoportal Vine, auf dem man maximal sechssekündige Clips teilen konnte, oder TikTok, einer App, mit der man kurze Lippensynchronisations-Videos erstellen und teilen kann, oder die erfolgreiche Kommunikations-App Snapchat sind konsequente Reaktionen auf die neue Aufmerksamkeitsökonomie. Snapchat hat derzeit nach
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eigener Auskunft über 218 Millionen täglich aktive Nutzer, die 3,5 Milliarden Snaps verschicken – jeden Tag. Beim Konkurrenten Instagram, dem populärsten, zu Facebook gehörenden Online-Dienst zum Teilen von Bildern und Video-Clips, die mindestens drei Sekunden und höchstens 60 Sekunden lang sein dürfen. Die Sozialen Medien sind so Ergebnis und Verstärker einer Rezeptionsentwicklung, ohne die moderner Kulturkonsum nicht mehr denkbar ist und hinter die moderne Kulturproduktion wohl nicht mehr zurück kann. Geschäftsgrundlage von Kulturnutzung und Kulturproduktion ist nervöse Ungeduld und grundsätzliches Misstrauen. Es dürfte kein Zufall sein, dass man – anders zum Bespiel als noch beim Fernsehen – beim Internet nicht von Konsum, sondern von Nutzung spricht. Der Unterschied ist gewaltig, die Beweislast hat sich umgekehrt. Der Konsument hat in der Regel schon bezahlt, bevor man ihn enttäuschen kann. Der Nutzer bezahlt erst, wenn er sich wirklich ganz sicher ist, nicht enttäuscht zu werden. Oder sogar erst, wenn er nicht enttäuscht wurde.
II. Die Rezeption ist die eine Seite der Entwicklung. Die Entwicklung der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die andere. Diedrich Diederichsen hat dazu in seinem 2017 erschienenen Buch »Körpertreffer«1 einen der bedeutendsten jüngeren Beiträge vorgelegt. Es geht darin um die »Ästhetik der nachpopulären Künste«. Diederichsen unterscheidet für die Zeit vor 1960 populäre und nicht-populäre oder bürgerliche Künste, ihnen folgen nach 1960 die nachpopulären Künste. Das ist für den gängigen Sprachgebrauch irritierend, weil man sich daran gewöhnt hat, auf diese Zeit den Aufstieg der modernen Popkultur und ihrer Künste zu datieren. Diederichsen ist das jedoch aus einem einleuchtenden Grund zu einfach: Populäre, bei den Massen beliebte Künste gab es lange vorher. Was sie von den Künsten nach 1960 unterscheidet, ist, dass sie die körperliche Präsenz und Co-Präsenz von Menschen in einer öffentlichen oder halböffentlichen, festlich bis ekstatischen Live-Situation kennzeichnet, in deren Mittelpunkt »eine trickreich-verblüffende und erotisch-verführerische Körperlichkeit« 2 steht. Die nachpopulären Künste, die er auch »Index-Künste« nennt – und die uns heute dank des Internets und trotz des Live-Entertainment-Booms mehr denn je dominieren –, macht dagegen aus, dass sie von der Tatsache ihrer technischen Aufzeichnung – nicht nur distributorisch-geschäftlich, sondern vor allem ästhetisch – geprägt sind. Die technischen Aufzeichungsmöglichkeiten wie Phonographie und Photographie wurden natürlich weit vor 1960 erfunden. Aber erst nach 1960 sind sie in alltägliche Praktiken der Produktion und Rezeption eingebettet und also gesellschaftlich etabliert und ästhetisch wirksam. 1 2
Diedrich Diederichsen: Körpertreff er. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste, Berlin 2017. Ebd., 17.
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Was sind nach Diederichsen nun die ästhetischen Konsequenzen der Möglichkeit der Aufzeichnung der Künste via Film, Phonographie und Photographie? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt es Diederichsen auf ein Detail an, dass bis heute leicht übersehen wird, obwohl es im Grunde das ist, worum sich bei der Wirkung alles dreht. Das entscheidende ästhetische Problem bei der Aufzeichnung ist nämlich nicht die Frage, was man übertragen will, sondern was daneben noch alles so übertragen wird. Neben die Intention tritt das, was weniger gestaltet, als bloß verursacht wird: »ein Machen unterhalb oder neben aller Intention, bisweilen auch dagegen – als Stolpern, Kleckern, Absorbiert- oder auch Süßsein.« 3 Damit jedoch ist, so Diederichsen, ästhetisch auch der Grundstein gelegt für das Ende der eindeutigen Differenz von hoher und niederer, bürgerlicher/nicht-populärer und populärer Kultur. Diese Differenz lebte schließlich immer von Talent, Übung und Exzellenz. Jetzt drehe sich alles um die Folgen der »Direktübertragung einer anderen Menschenseele vermittels der technischen Aufzeichnung ihres Körpers, zumal in dessen unwillkürlichen Momenten«4. Es gilt also nicht mehr, den Plan eines Künstlers zu entschlüsseln oder sich an ausgefeilten Schönheitsmodellen reflektierend zu erfreuen, sondern eine Person zu erleben, die einem direkt nahetritt. Es geht um kleinere Einheiten wie Überwältigung, Ansteckung, den Kick, die Vibration, also um all das, was Roland Barthes in »Die helle Kammer« für die Wirkung Photographie beschreibt als »das Zufällige, das »mich besticht, verwundet, triff t« 5. Kurzum: Es geht um individuelle Beeindruckungserfahrungen, die ihre Ursache in der Unversöhntheit von Form und Inhalt haben, in der unverfügbaren »Leere zwischen Konzept und Zauber« 6. Am Beispiel der Karriere der heute 28-jährigen Sängerin Lena Meyer-Landrut lässt sich das gut exemplifizieren. Sie gewann 2010 als zweite Deutsche dem Eurovision Song Contest und war danach eine gute Weile der Liebling der Nation. Im Herbst 2009 war sie bei der Casting-Show »Unser Star für Oslo« zum ersten Mal aufgetreten und die Jury war sich sofort sicher gewesen, etwas Besonderes gesehen zu haben. Der Juror Marius Müller-Westernhagen sagte zu ihr: »Du hast Star-Appeal, die Menschen werden dich lieben.« Aber das Lob hatte einen Haken: Westernhagen bat die junge Sängerin auch, bitte gleich wieder zu vergessen, was er gesagt habe. Er hielt ihre Naivität für einen wesentlichen Teil ihrer Faszination und befürchtete nun, dass sie eben diese im Rummel des Ruhms schnell wieder verlieren könnte. »Sei einfach ganz du selbst« – das ist eigentlich eine unmöglich zu erfüllende Forderung, wenn man noch gar nicht ganz genau weiß, wer man ist. Besonders schwer ist es, wenn es alle anderen plötzlich ganz genau zu wissen meinen. Zu Stars erstarrte Prominente klagen gern darüber, manche zerbrechen auch daran. Ganz man selbst sein, kann man nur so lange, wie man noch nicht der sein muss, 3 4 5 6
Ebd., 10. Ebd., 11. Roland Barthes: Die helle Kammer – Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1989, 36. Diederichsen: Körpertreff er [Anm. 1], 20.
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für den einen alle halten. Das eigentliche Kunststück, dass Lena dann vollbrachte, ist deshalb nicht ihr riesiger Erfolg, sondern die Konservierung der Bedingung der Möglichkeit ihres Erfolgs. Sie hatte den Kleist’schen Spiegel vor die Nase gehalten bekommen und doch der Versuchung widerstanden, einen prüfenden Blick auf die eigene Einzigartigkeit zu werfen. Sie spielte keine Rolle und bewahrte sich so eine Fähigkeit, die der Goldstandard zeitgemäßen Massenentertainments geworden ist: Sie konnte sich auch auf der Bühne weiter selbst überraschen. Das klingt selbstverständlicher, als es ist, denn es steckt ein Moment absoluter Unvorhersehbarkeit darin, der eigentlich nicht vorgesehen ist. Unterhaltung ist schließlich ein Geschäft. Das Unvorhergesehene lässt sich aber nicht planbar zu Geld machen. Die Geschichte des Entertainments ist deshalb eine Geschichte des Drills. Nur so erklärt sich die Brisanz eines der berühmtesten Berichte aus dem Showgeschäft, dem 1966 in der Zeitschrift Esquire veröffentlichten Porträt »Frank Sinatra ist erkältet« von Gay Talese, das den Superstar in einer seltenen Phase der Schwäche zeigte. Es ist kein Wunder, dass sich viele Entertainer nie scheuten, ihren Beruf als quasi-militärische Profession zu beschreiben. Als penible Vorbereitung auf einen Ernstfall, in dem man unter keinen Umständen Schwäche zeigen sollte, weil es um Leben und Tod geht, weil ein Entertainer, dem es nicht gelingt, zu unterhalten, für das Publikum gestorben ist. Entertainer wie Peter Alexander verstanden sich deshalb als »Showmaster« und hatten ein durch und durch autoritäres Rollenverständnis. Ebenso konsequent ist allerdings, dass Thomas Gottschalk als einer der letzten klassischen Kontrollfreaks des Showgeschäfts seit Jahren nur noch Flops produziert. Wenn er nämlich als Showmaster eines nicht konnte, dann sich selbst auf der Bühne zu überraschen. Gottschalk war immer souverän, und genau so sollte er sein. Nur eben jetzt nicht mehr. In einer Zeit, die weiß, dass der beste Actionfi lm der ist, den der damalige amerikanische Präsident Barack Obama und seine Berater sahen, als die Navy Seals der US Army Osama bin Ladens Versteck in Pakistan stürmten –, in einer solchen Zeit wird ausgestellte Souveränität als Unterhaltung nicht mehr allzu hoch geschätzt. Und die Halbwertzeit eines Entertainers sinkt rapide. Das Ende kann allenfalls durch ein dramatisch hoch gehaltenes Erregungsniveau eine Weile hinausgezögert werden. Die Idee, Lena ein Jahr später beim Eurovision Song Contest 2011 als Verteidigerin ihres Titels antreten zu lassen, war dementsprechend ein PR-Coup – und der Anfang vom Ende. Es war ihr letzter ganz großer Auftritt. In Kleists »Marionettentheater« dauert es übrigens auch genau ein Jahr, bis an dem unschuldig anmutigen Jüngling »keine Spur mehr von der Lieblichkeit […] zu entdecken [war], die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte«7. Niemand kann ewig dem Blick in den Spiegel widerstehen.
Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, hg. von Gabriele Kapp, Dietzingen 2013, 15. 7
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III. Angesichts dieser Entwicklung ist es kein Wunder mehr, dass sämtliche ästhetische Kategorien, die zuletzt vorgeschlagen wurden, schon Konsequenzen des IndexEffekts sind. Die in Stanford lehrende Kulturwissenschaftlerin Sianne Ngai schlug in ihrem Buch »Our Aesthetic Categories« 8 2012 etwa »zany«, »cute« und »interesting« vor, komisch, niedlich und interessant. Der amerikanische Journalist und Autor Marc Spitz wiederum legte 2014 mit »The Gentle Revolution«9 ein ganzes Buch über das mit »cute« verwandte »twee« vor, das gerne als »obnoxiously cute« umschrieben wird, unerträglich niedlich. Allesamt haben sie einen stark vitalistisch-kollateralen Charakter, also etwas, das man ganz im Sinne der Überlegungen Diederichsen bestenfalls begünstigen, aber nie wirklich beherrschen kann. Aus Sicht der Produktion geht es also um eine ästhetische Wirkung, für die man schon die Bedingungen ihrer Möglichkeit nur sehr eingeschränkt beeinflussen kann, weil zwar möglich ist, dass sie massenhaft geteilt eintritt, dabei letztlich aber gewissermaßen doch subkutan-subjektiv bleibt. Ergänzen müsste man womöglich nur noch eine ästhetische Kategorie, die einem etwa in den Sinn kommt, wenn man sich etwa die Bilder im Band »OK DJ«10 des kürzlich verstorbenen deutschen Fotographen Daniel Josefsohn ansieht. Etwa das Foto, auf dem man einen breitbeinig posierenden Mann sieht, mit einer braunen Papiertüte auf dem Kopf, der sich gerade in seine weiße lange Unterhose gepinkelt hat; oder das, auf dem die israelische Flagge gehisst wurde, und zwar im Garten neben der großen Reetdach-Villa auf Sylt, die einst Joseph Goebbels gehörte. Die Bilder sind teilweise 20 Jahre alt, ihre rumpelige Härte wirkt trotzdem frappierend gegenwärtig. Dieselbe Ästhetik prägt die brachialen Hochglanz-Trash-Videos der gefeierten südafrikanischen Avantgarde-Dance-Band Die Antwoord. Oder die vergnügt-unzweideutigen Bilder des amerikanischen Fotografen Terry Richardson. Oder bizarre Popkultur-Orgien wie Harmony Korines Film »Spring Breakers«. Auch das für seine trotzige Schamlosigkeit berühmte Online- und Print-Magazin Vice scheint verwandten Prämissen zu folgen. Es ist weniger journalistisch als ästhetisch orientiert, also stärker an der unmittelbaren sinnlichen Wirkung der Dinge interessiert als an der intellektuellen. Es gibt Ausgaben, in denen nicht nur eine Geschichte über Bulgaren, die sich selbst anzünden, zu lesen ist und eine über paramilitärische Tieraktivisten in Deutschland, sondern auch eine über die überfüllten Massenzellen im berüchtigtsten Gefängnis El Salvadors, eine über sexuelle Übergriffe auf dem Tahrir-Platz in Kairo, eine über die »umstrittenste Persönlichkeit im Marihuanageschäft«, eine über »Geistervergewaltigungen in Bolivien« –
Sianne Ngai: Our Aesthetic Categories – Zany, Cute, Interesting, Cambridge 2015. Marc Spitz: Twee – The Gentle Revolution in Music. Books, Television, Fashion, and Film, New York 2014. 10 Daniel Josefsohn: OK DJ, Ostfi ldern 2014. 8 9
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und schließlich noch der »Vice-Guide zum Überleben einer tödlichen Krankheit«, Folge Krebs. Sogar im deutschen Fernsehen sind mit Klaas Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt zwei Moderatoren Stars geworden, die auch mal nackt in einem See im Winter um die Wette frieren oder während einer Sendung innerhalb von ein paar Minuten viel zu viele Schnäpse trinken. Wenn man es ganz genau nehmen möchte, dann steckt sogar hinter dem aggressiven Marketing des österreichischen Getränkekonzerns Red Bull eine Idee, die mit den Regeln der klassischen Werbung eher wenig, mit der ästhetischen Logik zeitgenössischer Hipness-Codes dafür sehr viel zu hat. Red Bull hat eine Armee todesmutiger Extremsportler unter Vertrag, die sich bei laufender Helmkamera an die Grenzen des Menschenmöglichen bringt. Vor der ästhetischen Kategorie, die einem zu alldem einfällt, schreckt man erst mal instinktiv zurück: krass. »Krass« klingt seltsam unangemessen, eher wie eine impulshafte Erregung denn ein solides Urteil. Aber genau darum geht es. Diese Fotos, Filme, Performance-Kunst-Stunts und Werbe-Aktionen sind schlicht krass. Etymologisch bedeutet das Wort »krass« ja so viel wie »extrem« und verdankt seine Allgegenwart der Tatsache, dass es sich die Umgangsprache als Ausdruck der Verwunderung, des Erstaunens, der Begeisterung – »Krass!« – einverleibt hat. Und zwar schon eine gute Weile. Im Grimm’schen Wörterbuch heißt es etwa: »Ein in manchen kreisen beliebtes superlativisches Kraftwort, bes. studentisch (krasser Fuchs, Kerl), seit ende 18. Jh., wol eben aus der Studentensprache: du krasser Philister!« In bestimmten Zusammenhängen fällt das superlativische Kraftwort allerdings durchaus der Hochsprache zu, man denke nur an den »krassen Widerspruch«. Und das ist das Entscheidende. Denn das Krasse scheint zwar außergewöhnlich genug, um unsere ungeteilte Aufmerksamkeit blitzschnell auf sich zu ziehen, aber es steht doch auch noch längst nicht außerhalb unserer gewohnten Überraschungs-Erwartung. Überall dort also, wo es besonders virtuos entfaltet wird, löst das Krasse gerade noch nicht Abscheu oder Widerwillen aus. Anders gesagt: Die Differenz zwischen Josefsohns Bild des Mannes mit der vollgepinkelten Unterhose und der Vorlage dieses Fotos, dem Original-Bild von den rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen am 24. August 1992 gegen ein Asylbewerberheim, auf dem ein Mann im Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft mit zum Hitlergruß ausgestrecktem Arm zu sehen ist, der sich offenbar gerade in seine Jogginghose gepinkelt hat – diese Differenz ist ziemlich genau die Differenz zwischen abscheulich und krass. Klar ist dann auch, worin sich das, was heute »krass« ist, von den Tabubrüchen und Provokationen der modernen Kunst, des Regietheaters oder des Kinos seit den Sechzigerjahren unterscheidet, obwohl zuerst ja eher die Verwandtschaft ins Auge fällt. Die Mittel sind schließlich immer noch mehr oder weniger die gleichen: Sex, Nacktheit, Drogen, Gewalt, überhaupt Extremformen der menschlichen Erfahrung aller Art. Worin sich die krassen Werke der Gegenwart und die provokative Kunst der Vergangenheit jedoch fundamental unterscheiden, sind die Absichten der Protagonisten oder vielmehr: Ihre Beurteilung der Situation, in der man mit
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Tabus und Provokationen jongliert. Die Zeit, in der der Tabubruch und die Provokation noch eng mit dem Spießer-Erschrecken verbunden war, ist vorbei. Zu oft blieb es bei selbstgerechten Widerstandsgesten (der Grund für die weit verbreitete Skepsis gegenüber dem wilderen deutschen Regietheater ist im Übrigen genau diese Selbstgerechtigkeit). Nur welche Motivation ist an die Stelle von ausgestellter Subversion und stolzer Dissidenz getreten? Sehr verbreitet ist die Ansicht, dass der Tabubruch im Rahmen des vom Internet verschärften Kampfes um Aufmerksamkeit zu nichts als einer effektiven Kommunikationsstrategie verkommen sei. Das ist bestimmt nicht falsch, aber wohl nur der triviale Teil des Phänomens. Was an den neuen ästhetischen Strategien, die unter den Begriff krass fallen, dagegen auff ällt, ist, wie hoch der persönliche Einsatz der jeweiligen Protagonisten oft ist. Die grausigen Kritzel-Tattoos des Antwoord-Rappers Ninja (»A Woman is more dangerous than a loaded pistol« steht krakelig auf dem Bauch über seiner rechten Niere) sind echt, Joko und Klaas quälen sich wirklich heftig und die Red-Bull-Extremisten handeln, als nähmen sie den Tod im Falle des Falles einfach billigend in Kauf. Dem Krassisten geht es also eben nicht darum, eine Provokation nur zu inszenieren, um damit eine wohlfeile kritische Botschaft loszuwerden. Es geht ihm eher darum, die herrschenden Aufmerksamkeitsreflexe so auszunutzen, dass man einerseits nicht zum gratismutigen Gesellschaftskritiker und albernen Spießerschreck verkommt, aber andererseits doch so etwas wie eine souveräne Unabhängigkeit gegenüber den Verhältnissen erreicht – und bewahrt. Und in so virtuellen Zeiten wie diesen scheint kaum ein Manöver dafür so geeignet wie der volle Körpereinsatz, also die Inkaufnahme echter Unannehmlichkeiten, mitunter sogar großen Schmerzen.
IV. Die mediale Entwicklung einerseits und die oben dargestellte Besonderheit der nachpopulären Künste andererseits lassen die offensichtlich systematische Verschnipselung unseres Kulturkonsums nun aber vollkommen konsequent erscheinen. So konsequent, dass sich im Anschluss an die Ästhetik der nachpopulären Künste seit den 1960ern so etwas wie eine Ästhetik der nachpopulären Künste nach der Etablierung der Sozialen Medien abzeichnet. Eine Ästhetik, die man womöglich eine Ästhetik der Pointe nennen muss, weil sie versucht, sich auf ganz kurzer Distanz über den Witz, den Gag, den Scherz, den Scharfsinn, den Esprit, die clevere Idee, den unerwarteten Schluss den Index-Effekt zu Nutze zu machen. Wenn sie gelingen, können Pointen nun die unwahrscheinliche Vermählung von Wirkung und Intention sein, also gleichzeitig eine intellektuelle und körperliche Evidenz haben. Wie ein Geistesblitz, nur lustiger. Das ist nun aber wiederum eine Entwicklung, die man nicht guten Gewissens als Verfall beschreiben kann. Zumal es uns im düsteren postfaktischen Zeitalter ja zum Beispiel auch schon so etwas Erfreuliches wie die Investigative Comedy beschert hat und Comedians wie John Stewart, Jon Oliver, Amy Schumer, Stephen Colbert oder Trevor Noah als öffent-
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liche Intellektuelle neuen Typs. So gut wie kaum jemand sonst aus dem Personal der Gegenwart bringen sie die wesentliche Voraussetzung für eine zeitgenössische Autorität mit: Sie können uns etwas zumuten, ohne dabei zu Spielverderbern zu werden. Im Gegenteil. Diese neuen Komiker wollen ernsthaft Spaß machen. Mit ihrer sachlichen Akribie grenzen sie sich von der alten Comedy ab. Mit den Pointen vom kriselnden Langeweile-Journalismus. Einen viralen Coup landet man schließlich längst nicht mehr mit den bloßen Fakten, der nervöse Nutzer muss währenddessen süchtig nach dem nächsten Gag sein. Die Nummern, die sie oft wie klassische Nachrichten-Sendungen inszenieren, sind eher Präsentationen der Ergebnisse von fleißigen Recherchearbeiten als klassische Comedy- oder Kabarett-Auftritte. Es geht nicht darum, Nachrichten und Informationen so lange ins Unkenntliche zu verzerren, bis sie die immer gleiche höhere Kabarett-Wahrheit enthüllen (dass die Mächtigen nämlich verlogene, machtgeile, ahnungslose, gierige und selbstsüchtige Trottel sind – und Frauen nicht einparken können). Es geht vielmehr darum, erst mal so viele und so genaue Informationen wie möglich zusammenzutragen und miteinander in Beziehung zu setzen, um tatsächlich so etwas wie Auf klärung zu leisten. Nur eben nicht als großformatigen Hintergrundbericht, der einen langen Atem verlangt, sondern runterskaliert auf Stand-up-Comedy Format, als schnelle Abfolge davon, was in der Comedy-Theorie »Set-up« und »Punch-line« genannt wird. Auf die zügige Etablierung eines neuen Zusammenhangs oder Details folgt nicht wie bei einem Puzzle ein weiteres Detail, damit am Ende ein ganzes Bild entsteht, sondern gleich wieder eine Pointe. Die Nervosität des Nutzers oder Konsumenten ist hier schon elementarer Teil der Produktion. Die Untiefen dieser Entwicklung zeigen sich, wenn in den Vortrag der Recherchen Gags gestreut werden, die mit der Sache selbst gar nichts zu tun haben, weil bestimmte Themen, wenn man sie so ernst nimmt, wie es die investigative Comedy tut, leider von selbst doch nicht genügend Pointen hergeben. Die Ästhetik der Pointe birgt deshalb auch ständig die Gefahr, eine Sackgasse zu sein, weil das Lachen so einen starken Hang zum Selbstzweck hat, zum guten alten Quatsch. Und auch die Flut an Politiker-Parodien, die derzeit zu beobachten ist, ist – bei aller oft erstaunlicher handwerklicher Qualität der Imitationen – eher eine unglückliche Folge der Ästhetik der Pointe. Denn was bleibt übrig, wenn man sich eine zu lange Krawatte um den Hals bindet, eine blonde Perücke aufsetzt und ein paar offensichtlich unverschämte TrumpPhrasen zum Besten gibt? Nichts, was den Irrsinn im fürchterlichen Original nicht auf perverse Art sogar feiert, statt ihm die Stirn zu bieten. Die größte Schwäche der Ästhetik der Pointe ist damit, dass sie blitzschnell zu einer Ästhetik des Vorurteils werden kann, weil diese Art der Komprimierung von Zusammenhängen, die die Pointierung der Comedy naturgemäß mit sich bringt, die Komplexität wenigstens vordergründig erst einmal massiv reduziert. Eine Pointe – also eine schnelle Set-up/Punch-line-Kombination – ist ja performativ immer auch das Ende eines Gedankens. Unangetastet von dieser Kritik bleibt freilich, dass die Ästhetik der
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Pointe die beiden unhintergehbaren Bedingungen zeitgenössischer Kulturproduktion – das Splitterfest und die Folgen des Index-Effekts – zusammenzubinden vermag. Gerade weil im Angesicht der unausweichlichen Verschnipselung die Pointe so etwas wie eine neue kleinste Einheit zu sein scheint. Und zwar die Einheit, die dem Produzenten noch einen Rest an Autonomie garantiert, weil sie sinnvoll medial nicht weiter zerstört werden kann.