Ästhetik der Simulation: Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert 9783787328543, 9783787315321

Mit der industriellen Revolution wird im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert der Begriff der Produktion zum zentralen P

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German Pages 218 [228] Year 2015

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Ästhetik der Simulation: Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert
 9783787328543, 9783787315321

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TOPOS POIETIKOS 1

In der Reihe TOPOS POIETIKOS finden Arbeiten ihren Ort, die sich auf der »imaginären« Grenzlinie zwischen Philosophie und Literatur- bzw. Sprachwissenschaft bewegen und die besonderen Texturen von Theorie und Dichtung zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen: Poiesis ist (Kunst)gestaltung im Wort. Streng methodisch und theoretisch reflektierte Wissenschaft der Literatur und der Sprache ist offen auf die Philosophie hin, indem sie sich der philosophischen Modellbildung bedient. Einer Literaturwissenschaft, die darüber hinaus ihren theoretischen Anspruch nicht in der Applikation vorgefundener Modelle erschöpft, sondern sie am konkreten Gegenstand auffindet bzw. durch ihn herausgefordert produziert, und einer Philosophie, die ihren Kontakt mit der Dichtung nicht auf Illustrationszwecke beschränkt, sondern ihren Diskurs selbst als Art der Literaturproduktion begreift, wird mit der Reihe TOPOS POIETIKOS ein Forum geschaffen.

Claus-Artur Scheier

Ästhetik der Simulation Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert

MEINER

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1532-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2854-3

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2000. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Einleitung: Nietzsches letzte Menschen und die Simulation . . . . .

1

I. Die Logik der Simulation: Marx - Baudelaire - Poe. . . . . . . . . .

5

Marx: Die neue Produktionsweise und der Gott-Mensch in Knechtsgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baudelaire: Die künstlichen Paradiese und die Alchemie des Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

1. Das hyperphysische Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Fetischcharakter des Produkts . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die neue Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poe: Die Philosophie der Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 22 29 34

II. Simulierte Utopie. Die Logik der Produktion in Richard Wagners »Beethoven«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Das despotische Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das verlorene Paradies, die Schrift und die Dekadenz . . . . . . . Wagners Ressentiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst als Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Musik der Intentionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zauberbuch des Nekromanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wagners Angst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuld und Ekstase. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gebärde der allmächtigen Produktion . . . . . . . . . . . . . . . .

55 61 72 79 86 93 102 112 120

III. Der Ursprung der Simulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Creatio ex nihilo und die gespeicherte Angst. . . . . . . . . . . . . . . Die Verschiebung der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unschuld des Werdens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die weibliche Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metamorphosen der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprache des Ursprungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129 136 146 155 165 179

Anhang: Baudelaires Spleen von Paris. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

1. Falschgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. … ein modernes und abstrakteres Leben. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185 202 213

5

Vorwort

De la musique avant toute chose – Musik vor jedem Ding Verlaine, Art poétique Der gegenwärtig mit dem in der technischen Welt gewohnten und also erwarteten Tempo sich vollziehende Übergang von der industriellen zur medialen Moderne macht nicht nur der Ratlosigkeit der Postmoderne ein Ende, als was sie sich eigentlich und zu welcher Moderne verhalte, sondern markiert mit bereits hinreichender Deutlichkeit die Grenzen, in die die industrielle Moderne so eingeschlossen ist, daß sie, als eine Zeit des Denkens, von dessen eigner Sache her bestimmbar wird. Ohne andere Namen ausschließen zu wollen, insofern sie etwas vom geschichtlichen Unterschied bemerklich machen, nimmt der Name industrielle Moderne diese Bestimmung vorweg. Im Übergang von der manufakturiellen Produktion des 18. Jahrhunderts zur industriellen des 19. gehen alle Maßgaben verloren, die unter dem Titel der Vernunft seit deren ionischen Anfängen, wiewohl in immer neuer Gestalt, hatten sehen lassen, was das Denken als Fürsichsein der Wirklichkeit sei und wohin es gehöre. Alle Menschen streben von Natur nach Wissen, war eine aristotelische Einsicht, und die Natur hat es ihnen gewährt, solang sie ihnen das Ganze war. Aber nicht schon, wie es Nietzsche noch scheinen mußte, seit Kopernikus, sondern seit die vordem metaphysisch gedachte Natur zum Material maschineller Produktion wurde, »rollt der Mensch aus dem Centrum ins x«, und indem menschliches Produzieren nicht länger als eine Weise natürlichen Produzierens gedacht werden konnte, mußte es, da nunmehr vorbildlos, auch zutiefst fragwürdig werden. Daß die nicht mehr mit metaphysischer Begrifflichkeit durchsichtig zu machende Produktion überhaupt die innerste Sache des Denkens der industriellen Moderne sei – wenigstens im 19. Jahrhundert, denn im 20. gewinnt die Reproduktion den Primat –, ist die These des vorliegenden Buchs. Es versucht, selektiv genug, eine Gegend des Denkens, sozusagen ein Denk-Feld, zu skizzieren, dessen Koordinaten mit den Namen Schopenhauer, Feuerbach, Kierkegaard, Marx und Nietzsche verbunden sind. Von ihnen her kommen, als exemplarisch, die Poetiken oder genauer Poietiken von Poe, Baudelaire und Richard Wagner in den Blick. Deren philosophische Lektüre mag den Literatur- oder Musikgeschichtler

VIII

Vorwort

befremden, der in ihr möglicherweise gerade das ihn als Fachmann Interessierende vermissen wird, aber die eine Perspektive will die andre ja nicht verdrängen, sondern ergänzen. Daß Richard Wagner ausführlich zu Wort kommt, rechtfertigt sich nicht allein aus der unübersehbaren und überaus zweideutigen Wirkungsgeschichte seines künstlerischen wie programmatischen Werks, sondern vor allem aus dessen einzigartiger Stellung in der Geschichte des »Nihilismus«, die Nietzsche ihm zugesprochen hat, was, scheint mir, immer noch nicht zureichend verstanden ist. Es war nicht darum zu tun, alten Parteienzwist fortzuschreiben, sondern in geschichtlichen Zusammenhängen zu denken. Der Anhang macht die Probe aufs Exempel, was nach anderthalb Jahrhunderten von der geduldigen Lektüre eines kleinen Prosagedichts für die Orientierung in unsrer eignen Gegenwart zu lernen sein könnte. Dem akademischen Lehrer ist die Zeit ruhiger Forschung heutzutage aus mancherlei Gründen knapper denn je. So folgt auch dies Buch nach Einzelthematiken und Anlage dem manchmal sehr mäandernden Gang einer Reihe von Vorlesungen und Seminaren, die ich seit dem Sommersemester 1996 an der Technischen Universität Braunschweig gehalten habe, und das al fresco ist gelegentlich noch herauszuhören. Ich weiß, was ich meinen Hörerinnen und Hörern verdanke, aber ohne die ordnende Hand von Achim Krenzke, dem eigens gedankt sei, wäre das Konvolut wohl auf der Diskette geblieben. Und danken möchte ich nicht zuletzt dem Felix Meiner Verlag für sein freundliches Entgegenkommen und vielfältige Hilfe.

Einleitung: Nietzsches letzte Menschen und die Simulation

»Wir haben das Glück erfunden«, sagen Nietzsches letzte Menschen und blinzeln.1 Sie müssen wohl blinzeln, denn wenn das Glück dies ist, sich nicht erfinden zu lassen, was haben sie denn erfunden? Offenbar das Surrogat des Glücks, sein Substitut, die Simulation, die das gefundene, das nie gefundene Glück2 überflüssig zu machen scheint. »Wir haben das Glück erfunden« meint, wir haben eine neue Art von Schein erfunden, und um selber weder den Schein mit seinem Wovon zu verwechseln noch umgekehrt ihn vor dessen kahler Abwesenheit bloß verschwinden zu sehen, blinzeln die letzten Menschen als virtuose Ironiker. Nietzsche läßt es in Zarathustras Rede anklingen: sie sind sein vom Kopf auf viele Füße gestellter Sokrates. Eine neue Art von Schein, angesichts deren Mephisto die Reflexion, er möchte gerne sich betrügen, wenn es nur länger dauerte, im Hals steckenbleiben dürfte. Aber wenn es eine neue Art von Schein ist – ein Schein, den das 19. Jahrhundert entdeckt hat –, wissen wir inzwischen darum auch schon, was für eine Art von Schein? Und wenn wir, nicht zuletzt von Nietzsche selber, die Vorsicht gelernt haben, ihm weniger nachzusprechen als nachzudenken, dann sollten wir die Frage wenigstens stellen, was diese letzten Menschen sind. Denn wiewohl der Verkünder des Übermenschen sie das Verächtlichste nennt, weil sie als »letzte« des (dionysischen) Werdens entraten, sind sie doch Erfinder und haben zusammen mit einem Produkt, das die Welt bisher weder gesehen noch vielleicht auch nur gewünscht hatte, eine neue Produktionsweise erfunden – warum hätte man sich nämlich vordem mit der Produktion von Mitteln aufhalten sollen, wäre die des Zwecks umweglos möglich gewe-

1

AsZ, Zarathustra’s Vorrede 5. Nietzsche wird zitiert nach der kritischen Gesamtausgabe der Werke (KGA), hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin 1967 ff. Folgende Siglen werden benutzt: Die Geburt der Tragödie (GT), Menschliches, Allzumenschliches (MA), Die Fröhliche Wissenschaft (FW), Also sprach Zarathustra (AsZ), Jenseits von Gut und Böse (JGB), Zur Genealogie der Moral (GM), Der Fall Wagner (DFW), Götzen-Dämmerung (GD), Der Antichrist (DA), Nietzsche contra Wagner (NW), Ecce homo (EH). Der Nachlaß wird zitiert nach Abteilung, Band, Heft bzw. Gruppe, Notiz; z. B. KGA VII.3, 37[4]. 2 Schon Kant, der Rousseau-Leser, hatte es ein Ideal der Einbildungskraft genannt, vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten A 47, Kritik der Urteilskraft § 83.

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Einleitung

sen? Und die letzten Menschen, die Produzenten des letzten Zwecks, wissen das, denn sie blinzeln. Was unmöglich zu finden, zumeist nicht zu finden oder auch besser nicht zu finden ist und ebensowenig erfunden werden kann, aber doch verfügbar sein soll, muß eben als Gefundenes erfunden werden, d. h. das Produkt muß aussehen, als ob es keins sei, es muß die eigentümliche Weise seines Produziertseins verbergen. Es ist dann etwas mehr als ein bloßer Ersatz als Behelf für …, nämlich ein solches Surrogat, das das Original oder doch das Verlangen nach ihm vergessen zu machen geeignet ist, insofern originaler noch als das Original: es muß fehler-, störungsfreier sein als dieses. Und einzig wer, warum auch immer, einem Glück-mit-Fehlern, einem, wenigstens, störanfälligen, wenn nicht gestörten, ja tragischen Glück nachhängt, wird das erfundene vor dem gefundenen oder sogar nur gesuchten Glück verschmähen. Der aber, wissen die letzten Menschen, ist zweifellos selber gestört, und » ›Ehemals war alle Welt irre‹ – sagen die Feinsten und blinzeln«. Ehemals – ehe das Glück, ehe seine Produktion erfunden worden war. Bei den letzten Menschen hingegen als bei denen, die das Tragische abgeschafft haben, ist alle Welt normal,3 denn »Jeder will das Gleiche« – das erfundene Glück –, »Jeder ist gleich« – nämlich gleich glücklich, weil der Produktion von Glück keine Grenzen gesetzt sind (andernfalls wäre es noch nicht ganz erfunden): »wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus«. Erfindung des Glücks, Ironie, Hypokrisie: Nietzsches letzte Menschen sind nach allem Schauspieler. Als der erste Schauspieler seiner Zeit aber, als ihr Protagonist erscheint ihm Richard Wagner, und wenn für Nietzsche das Wesen menschlichen Produzierens schlechthin an der ästhetischen Produktion und exemplarisch am Werk Wagners ablesbar wird, dann legt sich nahe, dem früh und zunächst verhalten erklingenden philosophischen Leitmotiv des »Nietzsche contra Wagner« nicht isoliert, nicht als einem vermeintlichen Fall Nietzsche, sondern, wie es hier versucht werden soll, im denkgeschichtlichen Zusammenhang der ihrer sich bewußt werdenden Produktionsweise des 19. Jahrhunderts nachzuhören. Diese Produktionsweise ist offenbar die technische Produktion oder die Reproduktion, die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Walter Benjamins Abhandlung über das »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« in entschiedener Absetzung von der Nachbildung älteren Stils thematisieren wird. Sie war unter anderen Namen schon die Sache des Denkens im 19. Jahrhundert, wenigstens 3

Hierzu J. Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1996.

Nietsches letzte Menschen und die Simulation

3

desjenigen Denkens, das seiner eignen Gegenwart als dem geschichtlich-gesellschaftlichen Dickicht der frühen Moderne4 an die Wurzel ging, die bereits Schopenhauer als eine vierfache gedacht hatte. Dies Denken sei ursprüngliches Denken genannt5 und in einigen seiner radikalsten Bezeugungen aufgesucht, unbeschadet dessen, ob und wie sie vom je zeitgenössischen Bewußtsein rezipiert wurden oder wie dieses sich selber jeweils auslegte. Es ist also nicht um Einflüsse zu tun, sondern um geschichtliche Nähen, d. h. um Differenzen, die ablesbar werden an exemplarischen Gestalten. Niemand streitet, beispielsweise, darüber, ob Delacroix, Courbet, Manet, Monet oder Cézanne »wirklich größer« sind als ihre virtuosen Zunft- und Zeitgenossen (auch die Philosophie hatte ihren »Salon«, die Universität), und diese fraglos ihnen nicht sowohl angesonnene als angesehene Größe besteht offenbar darin, daß sie nicht in demjenigen Schein blieben, der der Glaube ihrer Welt war – aber auch nicht darin, daß sie ihn verlassen hätten: keiner ist, nach einer Einsicht Hegels, über seine Zeit hinaus. Ihre Werke machen diesen Schein vielmehr als solchen thematisch, siedeln den produktiven Gedanken genau in der Grenze der Produktion an, de-finieren sie.

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Im Folgenden wird von der industriellen Moderne die handwerklich-manufakturielle Neuzeit unterschieden, deren Denken noch, in geschichtlichem, nicht disziplinärem Sinn, metaphysisch ist. Zum philosophischen Unterschied von Neuzeit und Moderne vgl. H. Boeder: Topologie der Metaphysik, Freiburg / München 1980, und ders.: Das Vernunft-Gefüge der Moderne, Freiburg / München 1988. 5 Zur Wahl des Terminus vgl. C.-A. Scheier: Kierkegaards Ärgernis. Die Logik der Faktizität in den Philosophischen Bissen, Freiburg / München 1983; ders.: Nietzsches Labyrinth. Das ursprüngliche Denken und die Seele, Freiburg / München 1985; sowie ders: Einleitung zu Friedrich Nietzsche: Ecce auctor. Die Vorreden von 1886, Hamburg 1990.

I. Die Logik der Simulation: Marx – Baudelaire – Poe

Marx: Die neue Produktionsweise und der Gott-Mensch in Knechtsgestalt Allerdings bedarf die Behauptung, die Sache des Denkens im 19. Jahrhundert sei die Produktion, der Präzisierung. Denn Produktion war immer die Sache des europäischen Denkens gewesen seit seinen griechischen Anfängen in der theogonischen ποησις. Der Unterschied, auf den es hier ankommt, ist der, daß die Metaphysik – und dies sei ihre im gegebenen Zusammenhang zureichende Bestimmung – in all ihren Epochen das göttliche Produzieren dachte und das menschliche stets von ihm her. Als Arbeit war dies menschliche Produzieren durch Werkzeuge gestützte Handarbeit, und Handarbeit ist das Formieren eines (schon fertigen) Naturprodukts6 als dessen Zurichten für die Bedürfnisse des menschlichen Ge- und Verbrauchs. Meta-Physik in diesem Sinn ist dann die Wissenschaft innerhalb des Horizonts und unter Voraussetzung einer Natur, in deren Hervorgebrachtes, nicht aber in deren Hervorbringen selbst das menschliche Herstellen eingreifen kann. Zuletzt hat Hegel diese menschlich-metaphysische Produktion so beschrieben: »Die Vermittelung, den partikularisirten Bedürfnissen angemessene ebenso partikularisirte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Processe specificirt. Diese Formirung giebt nun dem Mittel den Werth und seine Zweckmäßigkeit, so daß der Mensch in seiner Konsumtion sich vornehmlich zu menschlichen Produktionen verhält und solche Bemühungen es sind, die er verbraucht. […] Das Allgemeine und Objektive in der Arbeit liegt aber in

6

Vgl. G. Bruno: De la causa, principio e uno II: »Wenn wir also glauben, daß jenes Werk, das wir nach einer gewissen Anordnung und Nachahmung an der Oberfläche der Materie zu bilden wissen, als ein totes nicht produziert werden könne ohne Verstand und Vernunft […]; um wieviel größer, müssen wir glauben, sei jene künstlerische Vernunft, die aus dem Innern der samenhaften Materie über das Ganze verfügt?« (Or, se credemo non essere senza discorso e intelletto prodotta quell’opra come morta, che noi sappiamo fengere con certo ordine e imitazione ne la superficie della materia […]; quanto credere dobbiamo esser maggior quel intelletto artefice, che da l’intrinseco della seminal materia […] dispone il tutto?), in: Giordano Bruno: Dialoghi italiani I, Dialoghi metafisici, hrsg. von G. Aquilecchia, Firenze 31958, S. 233 f.

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Die Logik der Simulation: Marx – Baudelaire – Poe

der Abstraktion, welche die Specificirung der Mittel und Bedürfnisse bewirkt, damit ebenso die Produktion specificirt und die Theilung der Arbeiten hervorbringt. Das Arbeiten des Einzelnen wird durch die Theilung einfacher und hierdurch die Geschicklichkeit in seiner abstrakten Arbeit, so wie die Menge seiner Produktionen größer. Zugleich vervollständigt diese Abstraktion der Geschicklichkeit und des Mittels die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Nothwendigkeit. Die Abstraktion des Producirens macht das Arbeiten ferner immermehr mechanisch und damit am Ende fähig, daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann.«7 Der § 196 der Rechtsphilosophie führt den Begriff der menschlichen Produktion oder Arbeit überhaupt ein, der folgende bestimmt sie als Basis der Kultur und Geschichte – »An der Mannigfaltigkeit der interessirenden Bestimmungen und Gegenstände entwickelt sich die theoretische Bildung« –, und der § 198 reflektiert die Geschichte als die der neuzeitlichen Arbeit genau bis zu dem Punkt, wo sie als menschliche Produktion in maschinelle Produktion übergeht. Dieser geschichtliche Augenblick ist zugleich der des Endes der Metaphysik, denn die »theoretische Bildung« wird ihre Basis von nun an nicht mehr an der natura naturata und ihrer Bearbeitung haben, sondern an der Entwicklung der maschinellen Produktionsmittel, worin Natur nur noch als elementare Voraussetzung, als Material auftritt. Entsprechend ist der Naturbegriff des 19. Jahrhunderts alsbald nicht mehr zu vereinbaren mit dem noch an seinem Anfang durch die sich vollendende metaphysische Naturphilosophie gedachten – nichts war schneller veraltet als Schellings und Hegels Naturphilosophie, wie als einer der ersten Schopenhauer bemerkt hatte. Die von Hegel beschriebene Abstraktion des Produzierens als die in maschineller Produktion kulminierende Mechanisierung der Arbeit ist so neuzeitlich wie die Mathematisierung der Natur und das Denken in reinen Beziehungen überhaupt, das metaphysisch-syntaktische Denken, wie es sich zuletzt als die »Wissenschaft der Logik« darstellt. Die neuzeitliche Mens (Subjekt, Ich) ist von Anfang an produktiv, der vergegenwärtigte Aristotelische νο ς ποιητικ ς , und in der Geschichte ihres Produzierens konkretisiert sich jene Abstraktion in der Manufaktur: in ihr schafft sich die »auf Teilung der Arbeit beruhende Kooperation […] ihre klassische Gestalt«, schreibt Marx im Blick auf den zitierten § 198 der Rechtsphilosophie. »Als charakteristische Form des kapitalistischen 7

G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. von E. Gans, in: Werke Bd. 8, Berlin 1854, §§ 196, 198.

Marx

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Produktionsprozesses herrscht sie vor während der eigentlichen Manufakturperiode, die, rauh angeschlagen, von Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum letzten Drittel des achtzehnten währt. […] Soweit stehn wir noch auf dem Boden der einfachen Kooperation, die ihr Material an Menschen und Dingen vorfindet.«8 »Das Handwerk bleibt die Basis«9 – dies ist im gegebenen Zusammenhang festzuhalten, weil anders die Philosophie des deutschen Idealismus nicht das produktive Werk der Mnemosyne,10 sondern bereits anachronistisch wäre –, denn der eigentümlich neuzeitliche Charakter der Manufaktur liegt in der mathematischen, näher qualitativ-quantitativen oder, im Blick auf die Hegelsche Logik, maßhaften Verwandlung der gesellschaftlichen Arbeit, die Marx so bestimmt: »Die manufakturmäßige Teilung der Arbeit vereinfacht und vermannigfacht also nicht nur die qualitativ unterschiednen Organe des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, sondern schafft auch ein mathematisch festes Verhältnis für den quantitativen Umfang dieser Organe, d. h. für die relative Arbeiterzahl oder relative Größe der Arbeitergruppen in jeder Sonderfunktion. Sie entwickelt mit der qualitativen Gliederung die quantitative Regel und Proportionalität des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses.«11 Als gesellschaftlich-mechanische Arbeit12 ist die Manufaktur nach Begriff und Wirklichkeit ferner gerade so dynamisch wie das zu ihr gehörende rationalistisch-mechanistische Denken, d. h. sie ist wesentlich die Arbeit ihres sich Aufhebens: »Eins ihrer vollendetsten Gebilde war die Werkstatt zur Produktion der Arbeitsinstrumente selbst, und namentlich auch der bereits angewandten komplizierteren mechanischen Apparate.«13 Diese Produktion produzierender Produkte erscheint als das gesellschaftliche Analogon der neuzeitlichen Methodentraktate, deren Geschichte sich über Kants »Kritik der reinen Vernunft«, Fichtes

8

K. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1 (MEW 23), Berlin 1969, S. 356. Für die folgende Darstellung sei insbesondere verwiesen auf die Kapitel »Philosophie und Ökonomiekritik« und »Das System der Kritik der politischen Ökonomie« in: A. Arndt: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum 1985. 9 MEW 23, S. 358. 10 Vgl. C.-A. Scheier: Die Grenze der Metaphysik und die Herkunft des gegenwärtigen Denkens, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft XLVI (1995), 189–196. 11 MEW 23, S. 366. 12 Zum neuzeitlich-modernen Arbeitsbegriff und seiner geschichtlichen Differenzierung vgl. S. Müller: Phänomenologie und philosophische Theorie der Arbeit, Band I: Lebenswelt – Natur – Sinnlichkeit, Freiburg/München 1992, Band II: Rationalität – Welt – Vernunft, Freiburg/München 1994. 13 MEW 23, S. 390.

8

Die Logik der Simulation: Marx – Baudelaire – Poe

»Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« und Schellings »System des transzendentalen Idealismus« in Hegels »Wissenschaft der Logik« vollendet. Die »Werkstatt zur Produktion der Arbeitsinstrumente selbst«, fährt Marx fort, dies »Produkt der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit produzierte seinerseits – Maschinen. Sie heben die handwerksmäßige Tätigkeit als das regelnde Prinzip der gesellschaftlichen Produktion auf.« Solange dies nicht der geschichtliche Fall ist, spielt die Maschinerie bloß die ihr von Adam Smith angesehene »Nebenrolle«, und die »spezifische Maschinerie der Manufakturperiode bleibt der aus vielen Teilarbeitern kombinierte Gesamtarbeiter selbst«.14 Wird die Selbstaufhebung der Manufaktur aber zum geschichtlichen Ereignis, wie es das Ende der Metaphysik an der Basis der menschlichen Produktion markiert, dann tritt irreversibel zweierlei ein: Einerseits wird »der technische Grund der lebenslangen Annexation des Arbeiters an eine Teilfunktion weggeräumt«15, d. h. der Arbeiter fällt heraus aus dem metaphysischen »System der Bedürfnisse«. Das ist der Titel, unter dem Hegel die metaphysisch-gesellschaftliche Arbeit gedacht hatte: er selber konnte nur ahnen (und allerdings hat er es geahnt), daß das von ihm bemerkte »Wegtreten« des Menschen von der mechanischen Arbeit das geschichtliche Ende des metaphysischen Menschen überhaupt war. Anderseits »fallen die Schranken, welche dasselbe Prinzip der Herrschaft des Kapitals noch auferlegte«, d. h. das Kapital wird schrankenlos, entwindet sich, schraubt sich gleichsam aus dem neuzeitlich-mathematischen Horizont heraus, wird hier erst zu der Produktionsform, die die Sache der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ist. Der geschichtliche Unterschied ist zusammengefaßt dieser: »In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.«16 In der Manufaktur also nimmt die Umwälzung der Produktionsweise »die Arbeitskraft zum Ausgangspunkt«, nämlich die menschliche Natur, »in der großen Industrie das Arbeitsmittel«17, nämlich das (produzierende) Produkt oder die Maschine selbst, wie in der nicht länger metaphy-

14 15 16 17

MEW 23, S. 369. Ebd., S. 390. Ebd., S. 445. Ebd., S. 391.

Marx

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sisch bestimmten Physik nun an die Stelle des Begriffs der Kraft (vis, conatus) der der Arbeit bzw. der gespeicherten Arbeit oder Energie tritt. Gespeicherte Arbeit ist aber nicht nur das Zwischenprodukt, die Maschine, sondern auch das Endprodukt, die Ware, die mit der industriellen Produktion einen geschichtlich radikal neuen Status erhält, indem sie dem Arbeiter wie dem Konsumenten nicht nur entfremdet, sondern in der Tat als fremd gegenübertritt: »Die verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt, entwickelt sich also mit der Maschinerie zum vollständigen Gegensatz.«18 Damit hat Marx nicht nur die reale, gesellschaftliche, sondern auch die logische Differenz, ja mehr noch: die geschichtliche Differenz der Logik bezeichnet, die metaphysische und technische Produktion scheidet. Die eine ist Handarbeit, zuhöchst Manufaktur – die reflektierte Handarbeit19 –, und produziert ein Werk ( ργον, πργμα), die andre ist Maschinenarbeit und produziert eine Ware (in dem emphatischen Sinn, den Marx dieser Bezeichnung geben wird). Das Werk entfremdet sich dem Arbeiter wohl durch seinen Tauschwert, bleibt aber primär Gebrauchswert, so daß das Band nicht reißt, das als die produktive Beziehung den Produzenten und sein Produkt verbindet; oder methodisch gesprochen besteht die Entfremdung darin, daß das Produkt sich ebensowohl gegen den Produzenten wie das Produzieren »in sich reflektiert« – aber eben darin bleibt seine Existenz auch Erscheinung, die Produktion selbst das Verhältnis von Kraft und ihrer Äußerung. Maschine und Ware hingegen sind das »zum vollständigen Gegensatz« entwickelte Produkt. Metaphysisch gedacht wäre dies der Widerspruch, wie er sich in der »Wissenschaft der Logik« in den Grund aufhebt (aus dessen Bewegung allererst das Ding hervorgeht). Aber der mit Marx zu denkende Widerspruch ist nicht der Hegelsche, indem er sich genau nicht aufhebt und in der Tat auch gar kein Reflexionsverhältnis mehr ist. Arbeitsbedingungen und Arbeitsprodukt sind dem Arbeiter nicht länger in sich reflektierte Arbeitskraft, so daß die Beziehung darauf, die Produktion selbst, an ihnen schiene. In Bezug auf den Arbeiter sind sie vielmehr das scheinlos Andere (nicht, daß sie deshalb überhaupt 18

Ebd., S. 455. »[…] ganz im Geist einer Sprache, die es liebt, die unmittelbare Sache germanisch und die reflektierte Sache romanisch auszudrücken« (MEW 23, S. 50, Anm. 4), vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik, 1. Band (1812/13), 1.1.1.C.3.Anm., Gesammelte Werke (GW), Band 11, S. 58: »Wie noch öfter die Bemerkung sich aufdringen wird, daß die philosophische Kunstsprache, für reflectirte Bestimmungen lateinische Ausdrücke gebraucht.« 19

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Die Logik der Simulation: Marx – Baudelaire – Poe

scheinlos wären), oder sie schließen die Reflexion ihrer auf ihre Beziehung, d. h. auf ihre ansichseiende Einheit mit dem Arbeiter aus. Indem sie also nicht mehr mit dem Produzenten zusammen die entgegengesetzten Bezogenen der Einen Produktionsbeziehung sind, ist ihre Logik die des Tertium non datur, eine nicht metaphysisch-systematische, sondern diastematische Dualität, die von Franz Brentano und Edmund Husserl für das nachmetaphysische Bewußtsein als Intentionalität und von Gottlob Frege als Funktion gefaßt werden wird.20 Wenn Marx also von Widersprüchen redet, denkt er anders als Hegel kein Reflexions-, sondern das intentionale Verhältnis unter der Bestimmung der Unvereinbarkeit (d. h. auf Seiten des intentionalen Subjekts unter der des Leidens). Im übrigen ist die hier gemeinte maschinelle Produktion näher die automatische. »Maschine« leitet sich von gr. μηχαν ab, dessen Wurzel soviel wie »Können« bedeutet, und die Maschine bleibt ein Mechanismus, aber der »vollständige Gegensatz«, von dem Marx spricht, hat erst dort statt, wo der Selbsttätigkeit des Arbeiters die der Maschine konkurrierend gegenübertritt. Aristoteles schreibt, Homer zitierend: »Wenn jegliches Werkzeug auf Befehl oder aus Voraussicht sein Werk verrichten könnte, wie man es von Daidalos’ Werken sagt oder von Hephaistos’ Dreifüßen, von denen der Dichter sagt, daß sie von selbst zum Versammlungsplatz der Götter liefen, wenn ebenso die Weberschiffchen selber webten und die Plektren die Kithara schlügen, dann brauchten die Meister keine Gehilfen und die Herren keine Knechte«21 –

φρα ο ατ ματοι εον δυσαατγ!να "δ α#τις πρ$ς δ!μα νεοατο, α μα %δ&σαι – »Daß sie ihm von selbst zum Versammlungsplatz der Götter liefen / Und wieder ins Haus zurückkehrten, ein Wunder zu schauen«.22 20

In äußerster Abstraktion ist die Logik der Metaphysik eine Logik des Urteils (ScP), die der Moderne eine Logik des Satzes (fa). (S = Subjekt, P = Prädikat, c = Copula; f = Funktion, a = Argument.) Auf den Begriff der Produktion gesehen, ist in der Logik des Urteils der Produzent (S) mit dem Produkt (P) durch die Produktion selbst (c) vermittelt, weshalb an die Stelle der leeren Copula, des »Seins«, der erfüllte Terminus medius (M) treten kann, kraft dessen jedes metaphysische Urteil an sich ein Schluß ist. In der Logik des Satzes tritt an die Stelle von Copula und Prädikat die Funktion, deren »leere Stelle« der »Sättigung« durch das Argument bedarf. Heidegger wird die Fregesche Funktion als »Sein der Seienden« und die Argumente als »die Seienden in ihrem Sein« denken und schon früh seine Aufmerksamkeit der »ontologischen Differenz« zwischen beiden zuwenden. Vgl. C.-A. Scheier: Die Sprache spricht. Heideggers Tautologien, in: Zt. f. phil. Forsch. 47 (1993) 60–74. 21 Aristoteles: Politik 1253b33–54a1. 22 Ilias 18.376 f., Übs. W. Schadewaldt. ατ ματος ist zusammengesetzt aus ατ ς und einem Wort, das dieselbe Wurzel hat wie μ&μονα, gedenke, habe Lust, verlange.

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Die Maschine demnach, die Marx eigentlich zu denken gab, war an sich schon »künstliche Intelligenz«, die im 19. Jahrhundert allerdings noch mechanische Vorform des Computers. Sobald nämlich »die Arbeitsmaschine alle zur Bearbeitung des Rohstoffes nötigen Bewegungen ohne menschliche Beihilfe verrichtet und nur noch menschlicher Nachhilfe bedarf, haben wir ein automatisches System der Maschinerie, das indes beständiger Ausarbeitung im Detail fähig ist«, denn: »Ein System der Maschinerie« – nicht schon die Maschine – »bildet an und für sich einen großen Automaten, sobald es von einem sich selbst bewegenden ersten Motor getrieben wird«, und: »Als gegliedertes System von Arbeitsmaschinen, die ihre Bewegung nur vermittelst der Transmissionsmaschinerie von einem zentralen Automaten empfangen, besitzt der Maschinenbetrieb seine entwickeltste Gestalt«.23 Vor dem aufziehenden Automatismus, vor dem bereits Jean Paul und die Frühromantiker erschauerten, macht das 19. Jahrhundert die Erfahrung des ihm eigentümlichen Pathos, der Faszination, wie sie bei Marx mitten in der nüchternen Untersuchung der Entwicklung der Maschinerie aufspringt: »An die Stelle der einzelnen Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht.«24 Mit fast denselben Worten wäre auch eine zeitgenössische Aufführung von Berlioz’ »Symphonie fantastique« zu beschreiben gewesen (und sein »Benvenuto Cellini« von 1836 ist, einschließlich Streik, die Apotheose des Metallarbeiters). Die Arbeiter sind nunmehr bloß noch »lebendige Anhängsel«25 des Automaten, zuletzt werden sie »unverkäuflich, wie außer Kurs gesetztes Papiergeld«, denn sobald »die Führung des Werkzeugs der Maschine anheimfällt, erlischt mit dem Gebrauchswert der Tauschwert der Arbeitskraft«.26 Und obwohl der Kampf zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter mit dem Kapitalverhältnis selbst beginnt, bekämpft der Arbeiter doch »erst seit der Einführung der Maschinerie […] das Arbeitsmittel selbst, die materielle Existenzweise des Kapitals«.27 Die paradoxe Situation ist dabei die, daß der Arbeiter im Kampf gegen das Arbeitsmittel für die Handarbeit, mithin für die natürliche Basis der Metaphysik kämpft, während der Kapitalist diese nicht nur aufgegeben hat, sie vielmehr mit 23 24 25 26 27

MEW 23, S. 401 f. Ebd. Ebd., S. 445. Ebd., S. 454. Ebd., S. 451.

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der ganzen Präzision des, wie Heidegger es nennen wird, rechnenden Denkens vernichtet, zugleich aber an der metaphysischen Tradition in Gestalt seiner religiösen, politischen und ästhetischen Überzeugungen festhält: die Metaphysik ist zur Ideologie geworden. Die gemeinsame Basis dieses Widerstreits ist der neue Mensch, nicht länger das metaphysische ζ(ον πολιτικ ν und animal rationale, sondern der Waren-Produzent: das neue Wesen des Menschen, oder, genauer mit Heidegger gesagt, das Menschenwesen ist die Produktivität. In den beiden metaphysischen Definitionen, die an sich, wie bei Aristoteles zu sehen, eine und dieselbe sind, war dies zwar auch, aber nur mittelbar so, denn durch die ratio (νο ς , Vernunft) war der Mensch selber produktiv auf die natürliche und dadurch wieder mittelbar auf die göttliche Produktivität bezogen. Hinsichtlich der griechischen Polis stellt Marx fest: »Die Grundlage aller entwickelten und durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit ist die Scheidung von Stadt und Land. Man kann sagen, daß die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft sich in der Bewegung dieses Gegensatzes resümiert […]«.28 Es ist daher kein Zufall, daß das zuerst im Hellenismus als Gegenwurf zur überregional gewordenen politischen Wirklichkeit entdeckte Landleben, die Pastorale, in der Renaissance neu entdeckt und der Kunst und Dichtung der gesamten Neuzeit zum Topos der Reflexion wird, während das 19. und 20. Jahrhundert Handarbeit und Heimat zu Gegen-Utopien entwickeln, die eine, man ist versucht zu sagen: die metaphysische Referenz festzuschreiben suchen, nämlich den Ort. Die technische Produktion ist an sich ortlos, und in dieser Hinsicht kann man sogar ihr Geburtsjahr angeben. Es ist das Jahr 1784, in dem »mit Watts zweiter, sog. doppelt wirkender Dampfmaschine […] ein erster Motor« gefunden worden war, »der seine Bewegungskraft selbst erzeugt […], dessen Kraftpotenz ganz unter menschlicher Kontrolle steht, der mobil und ein Mittel der Lokomotion […] die Konzentration der Produktion in Städten erlaubt, statt sie wie das Wasserrad über das Land zu zerstreuen, universell in seiner technologischen Anwendung, in seiner Residenz verhältnismäßig wenig durch lokale Umstände bedingt.« 29 Zusammenfassend läßt sich sagen: Der nachmetaphysische Mensch, der das primum movens naturae ersetzt durch die vielen prima moventia machinarum, ist der ortlose Produzent zunächst in seinen beiden, noch von seiner metaphysischen Herkunft geprägten Extremen des Kapitalisten und des Proletariers, nur daß letzterer das Pathos dieses neuen Menschenwesens trägt. Der Arbeiter ist im emphatischen Sinn der 28 29

Ebd., S. 373. Ebd., S.398.

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Mensch des 19. Jahrhunderts, der als Masse existierende Gott-Mensch in Knechtsgestalt. Und die für dieses, auch darin noch weit ins 20. reichende Jahrhundert so charakteristische Ecce-homo-Gebärde,30 die nicht mehr auf den Begriff der traditionellen imitatio Christi zu bringen ist, meint die Identifikation mit dem Widerspruch von π*ος und ποησις, mit der leidenden Produktivität, die von Nietzsche, dessen »amor fati« ihre Unausweichlichkeit bejaht, als »dionysische«, d. h. produktive Tragik gefordert wird und ihrerseits nicht verwechselt werden darf mit der Tragik der attischen Tragödie, Shakespeares, Corneilles, Schillers und noch Kleists. In welcher klein- oder großbürgerlichen, auch aristokratischen Gestalt er immer auftreten mag, ob als Dandy oder Flaneur, der Mensch des 19. Jahrhunderts ist seiner geschichtlichen Bestimmung nach der Arbeiter. Und da jede geschichtliche Bestimmung zugleich genau und unerschöpflich ist, ist hier hinzuzufügen: der Arbeiter als Gott-Mensch in Knechtsgestalt, so daß keins der beiden Momente auf das andre reduziert werden darf. Kierkegaards Gott-Mensch in Knechtsgestalt ist seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit nach Marx’ und Engels’ Lohnarbeiter und Proletarier, und dieser ist in seinem geschichtlichen Pathos der Kierkegaardsche Gott-Mensch in Knechtsgestalt. Marx notiert früh: »Es ist daher ein identischer Satz, daß der Mensch sich selbst entfremdet, und daß die Gesellschaft dieses entfremdeten Menschen die Karikatur seines wirklichen Gemeinwesens, seines wahren Gattungslebens sei, daß daher seine Tätigkeit als Qual, seine eigne Schöpfung ihm als fremde Macht, sein Reichtum als Armut, das Wesensband, was ihn an den andren Menschen knüpft, als ein unwesentliches Band und vielmehr die Trennung vom andren Menschen als sein wahres Dasein, daß sein Leben als Aufopfrung seines Lebens, daß die Verwirklichung seines Wesens als Entwirklichung seines Lebens, daß seine Produktion als Pro30

Über ein Selbstbildnis (Musée d’Orsay, Paris) von Courbet, dessen Maxime war: »Ohne Ideal und Religion«, schreibt Franz Zelger: »Die Christus-Assoziation ist evident. Auch später, im Zusammenhang mit dem Sturz der Vendôme-Säule, vergleicht der Maler sein eigenes Schicksal mit der Passion Christi: ›Da steh ich nun an diesem Schandpfahl von einer Säule wie Jesus Christus, als er sein Kreuz trug.‹ In diesen Zusammenhang gehört auch das ›Selbstbildnis mit Pfeife‹ (Musée Fabre, Montpellier), ein Brustbild, das den Künstler mit über die linke Schulter zurückgeneigtem Kopf zeigt. Courbets Freunde sprachen nicht zufällig vom ›Christus mit Pfeife‹. […] Die Art der Zurschaustellung knüpft unverkennbar an Ecce-Homo-Darstellungen an, in denen nicht allein das Leiden, sondern auch die göttliche Schönheit offenbar wird.« (Begräbnis als Selbstinszenierung. Courbets »Enterrement à Ornans« – eine Neuinterpretation, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 283, 5./6. Dezember 1998, S. 53) Für die Literatur sei hier nur auf C.F. Meyers Novelle »Die Versuchung des Pescara« von 1887 verwiesen.

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duktion seines Nichts, daß seine Macht über den Gegenstand als die Macht des Gegenstandes über ihn, daß er, der Herr seiner Schöpfung, als der Knecht dieser Schöpfung erscheint.«31

Baudelaire: Die künstlichen Paradiese und die Alchemie des Schmerzes 1. Das hyperphysische Produkt Eine frühe poetische Formulierung findet der Gott-Mensch in Knechtsgestalt in Nervals Erzählung von Adoniram, Salomos Architekten (Histoire de la reine du matin et de Soliman prince des génies) im »Voyage en Orient« von 1851, einem der großen Traumbücher des 19. Jahr-hunderts; sie spiegelt die andre in den »Voyage« eingelegte Geschichte des Fatimidenkalifen Hakim (Hakem), den der Gründer der Drusensekte Darasi zum Gott erhoben hatte. Die Erzählung ist von besonderem Interesse darin, daß Nerval hier den Prozeß der Selbstvergottung als Begleiterscheinung des Haschischkonsums darstellt, der im Paris dieser Jahre en vogue war. Im selben Jahr wie der »Voyage« erschien Baudelaires »Essay du vin et du hachish, comparés comme moyens de multiplication de l’individualité«.32 Der Abschnitt über den Wein gibt die Prosafassung des Gedichts »L’âme du vin«33 aus der Reihe »Le vin« der »Fleurs du mal«, wo es heißt: Mensch, ich wachse dir zu, geliebter Enterbter, […] Denn ich spüre eine unermeßliche Freude, wenn ich In die Kehle eines Mannes stürze, den seine Arbeit verbraucht hat, […] Die Ellbogen auf dem Tisch und deine Ärmel hochkrempelnd Wirst du mich preisen […].34

31

K. Marx: Auszüge aus James Mills Buch ›Elémens d’économie politique, MEW, Erg.-Bd. I, Berlin 1973, S. 451. 32 In: Ch. Baudelaire: Les paradis artificiels, éd. par C. Pichois, Paris 1961, S. 67– 93 (die folgenden Baudelaire-Zitate übernehmen nicht durchweg die originalen Hervorhebungen). 33 FDM CIV. Die »Fleurs du Mal« (FdM) werden zitiert nach Ch. Baudelaire: Les Fleurs du Mal, Les Épaves – Bribes – Poèmes divers – Amoenitates Belgicae, éd. par A. Adam, Paris 1959. 34 Homme, vers toi je pousse, ô cher désérité, […] // Car j’éprouve une joie immense quand je tombe / Dans le gosier d’un homme usé par ses travaux, […] // Les coudes sur la table et retroussant tes manches, / Tu me glorifieras […].

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Feuerbach hatte in der dreiundzwanzigsten seiner »Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie« von 1842 die Einsicht notiert: »Der Schmerz ist die Quelle der Poesie«, und vorauszusagen gewagt: »Das entschiedene, zu Fleisch und Blut gewordene Bewußtsein, daß das Menschliche das Göttliche, das Endliche das Unendliche, ist die Quelle einer neuen Poesie und Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen wird.«35 In Baudelaires Essay sagt der Wein zum Arbeiter: »Unsre innige Vereinigung wird die Poesie schaffen. Zusammen werden wir ein Gott sein und uns zum Unendlichen aufschwingen wie die Vögel, die Schmetterlinge, die Söhne der Jungfrau, die Düfte und alles, was Flügel hat.« Es bedürfe aber eines Arzt-Philosophen, um zu erklären, »wie und warum gewisse Getränke das Vermögen haben, die Persönlichkeit des denkenden Wesens über alles Maß zu steigern und sozusagen eine dritte Person zu schaffen, eine mystische Handlung, wo der natürliche Mensch und der Wein, der tierische und der pflanzliche Gott die Rolle des Vaters und des Sohns in der Dreieinigkeit spielen; sie erzeugen einen Heiligen Geist, der der höhere Mensch ist, der gleichermaßen von beiden ausgeht.«36 So weit war auch der von Baudelaire zitierte »göttliche Hoffmann« nicht gegangen. Aber die Abhandlung über den Wein ist im Blick auf die »Multiplikation der Individualität« nur das romantische Vorspiel der Abhandlung über den Haschisch, die Baudelaire 1860, überarbeitet und erweitert, unter dem Titel »Les paradis artificiels. Opium et haschisch« publizieren wird. Der zweite, dem Opium gewidmete Teil des Buchs macht den französischen Leser mit De Quinceys »Confessions of an English OpiumEater« (1822/1856) bekannt. Den ersten Teil, »Das Gedicht vom Haschisch«, gliedert Baudelaire in fünf Kapitel: 1. Der Geschmack des Unendlichen,37 2. Was ist der Haschisch?, 3. Das Schattentheater (Le théatre de Séraphin), 4. Der Gott-Mensch, 5. Die Moral:38 »Schwindler 35

L. Feuerbach: Gesammelte Werke (GW), hrsg. von W. Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 9, S. 248 (die folgenden Feuerbach-Zitate übernehmen nicht durchweg die originalen Hervorhebungen). 36 Feuerbach hatte geschrieben: »Im Sohne wird der Mensch Gegenstand; in ihm konzentrieren sich alle menschliche Bedürfnisse. […] Die dritte Person in der Trinität drückt ja nichts weiter aus als die Liebe der beiden göttlichen Personen zueinander, […] der Begriff der Gemeinschaft« (Das Wesen des Christentums [WCh], GW 5, S. 134, 137) 37 Schleiermacher hatte 1799 in seinen Reden über die Religion diese den »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« genannt. (F.D.E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Nach der ersten Ausgabe hrsg. von R. Otto, Göttingen 1899, 61967, hrsg. von H.-J. Rothert, Hamburg 1958, S. 53) 38 Auf deren das Baudelairesche Werk überhaupt konstellierende gnostisierende Theologie des Bösen sei hier nur verwiesen.

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nennen wird den Spieler, der das Mittel gefunden hat, ohne Risiko zu spielen; wie werden wir den Menschen nennen, der, mit ein paar Groschen, das Glück und das Genie kaufen will? Es ist gerade die Unfehlbarkeit des Mittels, die seine Immoralität ausmacht, wie die vermutete Unfehlbarkeit der Magie dieser ihr infernalisches Stigma aufdrückt. Soll ich hinzufügen, daß der Haschisch, wie alle einsamen Freuden, das Individuum unnütz macht für die Menschen und die Gesellschaft überflüssig für das Individuum, das er dazu drängt, sich ohne Unterlaß selber zu bewundern, und Tag für Tag an den lumineszierenden Abgrund treibt, wo er sein Narzißgesicht bewundert? / Und wenn der Mensch auch um den Preis seiner Würde, seiner Redlichkeit und seines freien Willens aus dem Haschisch große spirituelle Wohltaten ziehen, daraus eine Art von Denkmaschine, ein fruchtbares Werkzeug machen könnte? […] der Haschisch enthüllt dem Individuum nichts als das Individuum selber. […] / Was ist ein Paradies, das man um den Preis seines ewigen Heils erkauft?« Solipsismus, Narzißmus: Eine der großen Ängste des nachmetaphysischen Denkens, die Angst des Verlusts des Andern, artikuliert sich hier in der Erfahrung der Droge; und Baudelaire hat gesehen – und es war ja auch gar nicht zu übersehen –, daß es die Natürlichkeit des Mittels ist, die den Menschen durch dessen eigene Natürlichkeit hindurch, von der Basis her, demoralisiert. Das Widmungsschreiben hatte bereits präzisiert: »Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß die irdischen Dinge nur von kurzer Dauer sind, und daß die wahre Realität sich nur in den Träumen findet. Um das natürliche Glück, wie das künstliche, zu verdauen, muß man zuerst den Mut haben, es zu schlucken, und die, die das Glück vielleicht verdient hätten, sind gerade die, auf die die Seligkeit, so wie die Sterblichen sie begreifen, immer wie ein Brechmittel gewirkt hat.« Der »sichtbare Herr der sichtbaren Natur«, heißt es im »Geschmack des Unendlichen«, »hat also das Paradies kraft der Pharmazie schaffen wollen, kraft der vergorenen Getränke, einem Maniker vergleichbar, der die festen Möbel und wahren Gärten durch gemalte und aufgezogene Kulissen ersetzen wollte. In dieser Depravation des Sinns für das Unendliche liegt meiner Ansicht nach der Grund für alle schuldhaften Exzesse.« Unter den Drogen nun – Baudelaire erwähnt nach den Alkoholika noch die Parfums –, »die am besten geeignet sind, das zu schaffen, was ich das künstliche Ideal nenne, sind die beiden kräftigsten Substanzen die, deren Gebrauch am bequemsten und naheliegendsten ist, der Haschisch und das Opium.« Der Haschisch, erklärt das zweite Kapitel, »besitzt ganz außergewöhnlich berauschende Eigenschaften, die seit einigen Jahren in Frankreich die Aufmerksamkeit der Gelehrten und der besseren Gesellschaft

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gefunden haben«. Eine historische Bemerkung, die auf den Sinn der Rede von Nietzsches letzten Menschen vorausweist: im Übergang von der Manufaktur zur industriellen Produktion entdeckt die bessere Gesellschaft, daß sie ihren romantischen »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« sehr viel wirkungsvoller als durch Religion durch etwas grüne Konfitüre befriedigen kann,39 wie das Kapitel vom »Schattentheater« erläutert: »Da haben Sie das Glück! es paßt auf einen kleinen Löffel! das Glück mit all seinen Trunkenheiten, seinen Verrücktheiten, seinen Kindereien! Sie können es ohne Furcht schlucken; man stirbt nicht daran. […] / Es geschieht gelegentlich, daß die Persönlichkeit verschwindet und die Objektivität, dies Besitztum der pantheistischen Dichter, sich in Ihnen so außerordentlich entwickelt, daß die Betrachtung der äußeren Gegenstände Sie Ihre eigne Existenz vergessen läßt und daß Sie sich alsbald mit ihnen verwechseln. […] / Denn die Verhältnisse von Zeit und Sein sind völlig aus dem Gleis durch die Menge und Intensität der Empfindungen und Ideen. Man könnte sagen, daß man mehrere Menschenleben im Raum einer Stunde durchlebt. Ähneln Sie dann nicht einem fantastischen Roman, der lebendig wäre statt geschrieben zu sein?« Und im folgenden Kapitel über den Gott-Menschen heißt es dann, beim Opium wie beim Haschisch werde »die Vernunft, soeben noch frei, zum Sklaven; aber das Wort rhapsodisch, das so gut eine Folge von Gedanken definiert, die angeregt und bestimmt wird von der Außenwelt und dem Zufall der Umstände, ist von einer wahreren und schrecklicheren Wahrheit im Fall des Haschisch. Hier ist das Denken nur noch ein allen Strömungen preisgegebenes Wrack, und die Gedankenflucht ist unendlich beschleunigter und rhapsodischer. […] Die Vernunft der Allegorie nimmt in Ihnen Proportionen an, die Ihnen selber unbekannt waren; am Rand sei notiert, daß die Allegorie, dies so spirituelle Genre, das die ungeschickten Maler uns zu verachten gewöhnt haben, aber das wahrhaft eine der ursprünglichen und natürlichsten Formen der Dichtung ist, seine legitime Herrschaft wiedergewinnt in der trunk-erleuchteten Vernunft. […] Die Grammatik, die trockne Grammatik selbst, wird so etwas wie eine evokatorische Zauberei; die Worte erstehen auf bekleidet mit Fleisch und Knochen […] / Die Sophismen des Haschisch sind zahlreich und wunderbar, indem sie im allgemeinen zum Optimismus tendieren [Schopenhauers bête noire], und einer der wichtigsten, der wirksamste ist der, der das Begehren in Realität verwandelt. […] / Hier also ist mein gedachter Mensch, der Geist meiner Wahl, bei demjenigen Grad von Freude und Heiterkeit angekommen, wo er gezwungen ist, 39

Marx’ Aperçu, die Religion sei das Opium des Volks, ist die prägnante Umkehrung dieser Einsicht.

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sich selbst zu bewundern. Jeder Widerspruch erlischt, alle philosophischen Probleme werden durchsichtig, oder scheinen dies wenigstens. Alles ist Stoff der Lust. Die Fülle seines gegenwärtigen Lebens flößt ihm einen maßlosen Stolz ein. […] / Er verwechselt vollständig den Traum mit der Handlung, und indem seine Einbildungskraft sich mehr und mehr angesichts des bezaubernden Schauspiels seiner eignen verbesserten und idealisierten Natur erhitzt und sein reales Individuum, so arm an Willen, so reich an Eitelkeit, durch dies faszinierende Bild von sich substituiert,40 endet er damit, seine Apotheose zu dekretieren […] / »Ich bin Gott geworden!« [Wie Nervals Hakem] / […] Wer ist der französische Philosoph, der, um der modernen deutschen Lehren zu spotten, sagte: ›Ich bin ein Gott, der schlecht gespeist hat‹? Diese Ironie verfinge nicht bei einem vom Haschisch hingerissenen Geist; er würde gelassen antworten: ›Möglich, daß ich schlecht gespeist habe, aber ich bin ein Gott.‹« All dies ist heute ganz geläufig in seiner technischen Umsetzung, aber schon Baudelaires Kritik an der »Depravation des Sinns für das Unendliche« ist ersichtlich nicht mehr Schleiermacherscher (frühromantischer, metaphysischer) Provenienz, sondern macht avant la lettre Ernst mit Nietzsches im Vorwort der »Geburt der Tragödie« leitmotivisch ausgesprochener Überzeugung »von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens«. Das Bedürfnis der Multiplikation der Individualität, dies Bedürfnis nach den (nicht nur dem) vielen Leben, wie es sich massenhaft in den Romanen des 19. Jahrhunderts bezeugt – während das Thema in denen des 18. Jahrhunderts immer das Ich und seine Lebensgeschichte war –, ist das des Vergessens der eignen, einzelnen, natürlichen Existenz, nach allem also des (metaphysischen) Orts. So ortlos die technische Produktion, so ortlos ist der Produzent auch als der seines eignen Glücks, auf der, wie Stendhal zu sagen pflegt, chasse au bonheur. Der Löffel grüner Konfitüre führt exemplarisch vor Augen, daß das Glück wie das Erlebnis überall und jederzeit abrufbar ist. Diese Ent-Ortung der Existenz fraktioniert die vormalige Lebensgeschichte derart, daß von der Goetheschen geprägten Form, die lebend sich entwickelt, keine Rede mehr sein kann, und die philologische Kennzeichnung gewisser Erzählungen des 19., gar des 20. Jahrhunderts als »Bildungsromane« ist, wenigstens, irreführend. Näher handelt es sich, mit Baudelaire zu sprechen, um das Rhapsodischwerden der erlebten Existenz, wie es literarisch alsbald die Kurzgeschichte, in unserer Zeit die (im Kolportageroman seit Eugène Sue vorweggenommene) soap opera und den Videoclip hervorbringen wird. 40

Von mir hervorgehoben.

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Die Transformation des Begehrens in Realität, die Substitution des Individuums und seines natürlichen Orts setzt sich fort in Baudelaires Poetik unter dem traditionellen Titel der Allegorie, die nicht mehr, um noch einmal an Goethe zu erinnern, »zum Allgemeinen das Besondere sucht«, insofern das Allgemeine der Metaphysik angehört, sondern zur existenzial-sozialen Syntax die Semantik. So vermag der Haschisch die »Grammatik, die trockne Grammatik selbst« zu allegorisieren, und das Gedicht »Allégorie«41 stellt darum auch nicht einfach die deskriptiv, sei es soziologisch, sei es im Roman, wie bei Balzac, sehr wohl zu fassende Prostitution dar,42 sondern das Leben selbst als Prostitution – wie überhaupt die Abgründigkeit jenes Vergnügens der »besseren Gesellschaft« zum einzigen Ernst der Baudelaireschen Dichtung geworden ist. Hingegen die alsbald wuchernden Allmachtsphantasien des Imperialismus, literarisiert etwa von Karl May, Jules Verne oder Rider Haggard, sind die frühe Popularisierung dieses Vergnügens. Sie alle krankten noch, wie notorisch die gebauten Identifikations-Träume Ludwigs II., Stefan Georges »verhöhnte[n] Dulderkönig[s]«43 – abermals der GottMensch in Knechtsgestalt –, an der Natürlichkeit oder besser RestNatürlichkeit, Rückständigkeit der Produktionsmittel. Baudelaires Gedanke bringt darum auf seine Weise eine geschichtliche Aporie zum Austrag. So fasziniert wie erschreckt von der Künstlichkeit der modernen Paradiese, zugleich abgestoßen von einer Natur, die nur noch als das Unaufgehoben-Verzehrende in der Simulation erscheint – »Was ist ein Paradies, das man um den Preis seines ewigen Heils erkauft?« –, bleibt ihm nichts übrig als die Flucht in die Poesie von »Spleen und Ideal«. Die letzten Verse der »Allégorie« lauten: »Und wenn die Stunde kommen wird, einzutreten in die schwarze Nacht, / Wird sie betrachten das Antlitz des Todes, / Wie ein Neugeborenes, – ohne Haß und ohne Reue.«44 Und die letzten Verse der »Fleurs du Mal«: O Tod, alter Kapitän, es ist Zeit, lichten wir Anker! Dies Land langweilt uns, o Tod! setzen wir Segel Wenn Himmel und Meer schwarz sind wie Tinte,45 Sind unsre Herzen, die du kennst, erfüllt von Strahlen! 41 42

FdM CXIV. So A. Adam in seinem Kommentar zu den« Fleurs du Mal«, vgl. o. Anm. 33, S.

414 f. 43

Stefan George: Aus der »Aufschrift« des »Algabal« (1899). Et quand l’heure viendra d’entrer dans la Nuit noire, / Elle regardera la face de la Mort, / Ainsi qu’un nouveau-né, – sans haine et sans remord. (FdM CXIV) 45 Zur Existenz als Schrift vgl. den letzten Vers von »Don Juan aux Enfers« (FdM XV) und Poes Bemerkung zur Büste der Pallas im »Raven«, s. u. Kapitel I, Die Philosophie der Komposition, S. 34. Joyce wird »Finnegans Wake« »In the name of the former 44

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Gieß uns dein Gift, damit es uns stärke! Wir wollen – so sehr verbrennt dies Feuer unser Hirn – In die Tiefe des Abgrunds tauchen, Hölle oder Himmel, was tuts? In die Tiefe des Unbekannten, um zu finden – etwas Neues!46 Jacques Derrida hat seinen Begriff des Supplements an Texten Rousseaus entwickelt, aber schon Baudelaire (Derrida erwähnt es nicht) hatte sich, wo er von der Substitution des realen Individuums sprach, Rousseaus erinnert und bemerkt: »Jean-Jacques hatte sich berauscht ohne Haschisch«. Der Künder des retour à la nature konnte sich wohl noch ohne Pharmakon berauschen, aber was war inzwischen aus seiner Natur geworden? Im »Lob der Schminke«47 schreibt Baudelaire, und wieder im kritischen Blick auf das 18. Jahrhundert: »[…] daß die Natur nichts lehrt, oder fast nichts, d. h. daß sie den Menschen zwingt zu schlafen, zu trinken, zu essen und sich recht und schlecht vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Sie ist es auch, die den Menschen dazu treibt, seinesgleichen zu töten, zu fressen, auszustoßen und zu quälen; denn sobald wir aus der Ordnung der Notwendigkeiten und Bedürfnisse heraus eintreten in die des Luxus und der Genüsse, sehen wir, daß die Natur nur zum Verbrechen raten kann. Es ist diese unfehlbare Natur, die Verwandtenmord und Menschenfresserei und tausend andre Schandtaten geschaffen hat, welche Scham und Zartgefühl uns zu nennen verbieten. Es ist die Philosophie (ich spreche von der guten), es ist die Religion, die uns dazu anhält, die armen und kranken Eltern zu nähren. Die Natur (die nichts anderes ist als die Stimme unsres Eigennutzes) befiehlt uns, sie umzubringen. Gehen Sie alles durch und analysieren Sie, was natürlich ist, alle Handlungen und Begierden des rein natürlichen Menschen, Sie werden nur Abscheuliches finden. Alles, was schön und edel ist, ist das Ergebnis von Vernunft und Berechnung.48 Das Verbrechen, dessen Geschmack das Menschentier im Bauch seiner Mutter eingesogen hat, and of the latter and of their holocaust« schreiben (London 1939 [1950], S. 419) – in the name of the former and of the letter and of their hollow cast. 46 O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l’ancre! / Ce pays nous ennuie, ô Mort! Appareillons! / Si le ciel et la mer sont noir comme de l’encre, / Nos coeurs que tu connais sont remplis de rayons! // Verse-nous ton poison pour qu’il nous réconforte! / Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau, / Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu’importe? / Auf fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau! (FdM CXXVI.VIII) – »Das Unbekannte«: der Name Gottes in Kierkegaards »Philosophischen Bissen«. 47 Der Maler des modernen Lebens XI. Baudelaires ästhetische Schriften werden zit. nach Ch. Baudelaire: Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres Oeuvres critiques, éd. par H. Lemaitre, Paris 1962. 48 Anspielung auf Poes Essay »The Philosophy of Composition«, den Baudelaire 1859 übersetzt hatte.

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ist originär natürlich. Die Tugend, anderseits, ist künstlich, übernatürlich […]. Das Böse wird ohne Anstrengung getan, natürlich, schicksalhaft; das Gute ist immer das Produkt einer Kunst.« Der vom Kopf auf die Füße gestellte Jean-Jacques (das Lob des Weins war, den Arbeiter abgerechnet, noch Rousseauisch). Das Gedicht »Allégorie« steht in der Abteilung der »Fleurs du Mal«, die den Titel der ganzen Sammlung trägt, so selber deren Allegorie ist und darum die Themen des Todes, des Bösen und der Frau engführt. Ersichtlich handelt es sich dabei um die Themenkonstellation der Dichtung des 19. Jahrhunderts überhaupt, um die Signifikate seiner Grundoder genauer Abgrund-Gestimmtheiten Rache, Reue und Angst. Sichtbar zu machen ist freilich der Zusammenhang dieser Gestimmtheiten und Themen mit der neuen Produktionsweise und ihrer zeitgenössischen Vergegenwärtigung. Unstreitig repräsentiert hier die Frau, oder weiter gefaßt das Weibliche die Natur, und es ist kein Zufall, daß deren Apostrophe durch Baudelaire unter dem Titel »Lob der Schminke« steht. Dort heißt es dann: »Alles, was ich über die Natur als schlechte Ratgeberin in Sachen Moral sage und über die Vernunft als wahre Erlöserin und Reformatorin, kann in die Ordnung des Schönen übersetzt werden. […] / Die Frau ist in ihrem guten Recht und erfüllt sogar eine Art von Pflicht, wenn sie sich bemüht, magisch und übernatürlich zu erscheinen; es ist nötig, daß sie erstaunt, daß sie bezaubert; als Idol muß sie sich vergolden, um vergöttert zu werden. Sie muß deshalb von allen Künsten die Mittel leihen, sich über die Natur zu erheben, um desto mehr die Herzen zu unterwerfen und die Geister in ihren Bann zu ziehen. Es kommt ziemlich wenig darauf an, daß die List und der Kunstgriff allen bekannt sind, wenn ihr Erfolg sicher und der Effekt immer unwiderstehlich ist. […] / Wer würde der Kunst die sterile Funktion zuweisen wollen, die Natur nachzuahmen? Die Schminke hat sich nicht zu verbergen, muß nicht vermeiden, sich erraten zu lassen. Sie kann sich im Gegenteil zur Schau stellen, wenn schon nicht selbstgefällig, so doch wenigstens mit einer Art von Aufrichtigkeit.«49 Die Absage an die metaphysische Natur ist so zugleich die an die metaphysische Mimesis-Lehre. Das Produkt der Kunst hat, wie die Frau als Produkt der Gesellschaft, über-natürlich, nicht länger meta-, sondern hyperphysisch zu sein. Hinübergesehen auf die maschinelle Produktion, wie Marx sie beschreibt, kann dies nur ein Produkt meinen, an dem die Spuren der natürlichen Produktion, d. h. der Handarbeit getilgt sind. Dies Produkt ist aber die nunmehr nicht vom Tausch, sondern von der Produktionsform her gedachte Ware. 49

Beiläufig bemerkt ist der fr. Ausdruck für das dt. »simulieren« maquiller.

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2. Der Fetischcharakter des Produkts Marx selbst hat die Differenz unter dem berühmten Titel »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«50 angezeigt, ohne sie in seinem geschichtlichen Ort bereits durchführen zu können. Bekanntlich beginnt »Das Kapital« wie bereits »Zur Kritik der politischen Ökonomie«51 mit der Analyse des Begriffs der Ware: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware. / Die Ware ist zunächt ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt.«52 Die Ware ist das eigentliche Ding des nachmetaphysischen Denkens, diesem geschichtlich immer neue Seiten darbietend und von unhintergehbar scheinender Zweideutigkeit. Es ist darum ratsam, darauf zu verzichten, den Begriff des Waren-Dings zu rasch festzulegen, ihn etwa in seinem Marxschen Stadium zu fixieren; aber jedenfalls ist die Ware, was sie sogleich vom metaphysischen Ding unterscheidet, die in dieses gefahrene und dessen Natürlichkeit verzehrende Hoffnung als das Produkt der neuen Produktionsweise, der technischen Produktion. Marx unterscheidet an der Ware zunächst Gebrauchs- und Tauschwert, der »überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ›Erscheinungsform‹ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein« kann53 – oder das Ding Ware hat sein Wesen außer sich. Dieses, unmittelbar sein Wert, bemißt sich durch »das Quantum der in ihm enthaltenen ›wertbildenden Substanz‹, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer«,54 d. h. jenes Wesen ist die Zeit, genauer die Menschen- als die Produktionszeit: »Die Wertgröße einer Ware bliebe daher konstant, wäre die zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit konstant. Letztere wechselt aber mit jedem Wechsel in der Produktivkraft der Arbeit. […] Je größer die Produktivkraft der Arbeit, desto kleiner die zur Herstellung eines Artikels erheischte Arbeitszeit, desto kleiner die in ihm kristallisierte Arbeitsmasse, desto kleiner sein Wert.«55

50 51

MEW 23, Kap. 1.1.1.4. K. Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie Werke, MEW 13, Berlin 1961,

S. 15. 52 53 54 55

MEW 23, S. 49. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54 f.

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Danach würde eine auf einer hohen »Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit«56 oder rein automatisch produzierte Ware in ihrem Wert gegen Null tendieren, wenn hier nicht statt der (menschlichen) Arbeitszeit die (maschinelle) Produktionszeit oder die Komplexität des technischen Produktionsprozesses in Rechnung zu stellen wäre. Wenn Marx also im Kapitel »Kampf zwischen Arbeiter und Maschine«57 anmerkt, die verselbständigte und entfremdete Gestalt von Arbeitsbedingungen und Arbeitsprodukt entwickle sich erst mit der Maschinerie zum vollständigen Gegensatz, dann heißt dies, daß das Produkt selbst zuletzt gar nicht mehr als natürliches Ding da ist. Diese Möglichkeit scheint durch die Bemerkung relativiert zu werden, der Mensch könne »in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern«,58 was Marx in der Anmerkung mit einem Hinweis auf Pietro Verri (1771) erläutert. Überhaupt sei der Arbeitsprozeß »zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.«59 In dieser Hinsicht macht die Maschine tatsächlich keinen Unterschied gegen das Obsidianmesser, wie denn die Sache des »Kapitals« nicht primär die Produktionsweise und schon gar nicht das Produkt ist, sondern dem Titel entsprechend das Verhältnis von Kapital (Besitz der Produktionsmittel) zu Arbeit. Danach scheint es, als stünde die Rede von der Änderung der Formen der Stoffe legitimerweise in der Tradition der Aristotelischen Lehre von den vier Ursachen, ein Schein, den Heideggers Erläuterungen des technischen Wesens der Metaphysik ihrerseits noch einmal befestigen werden.60 Aber diese »Aristotelische« Änderung der Formen der Stoffe als die Formierung bereits fertiger Naturprodukte ist eigentlich die metaphysische Form der Arbeit, in der maschinellen Produktion hingegen nur noch ein spezieller Fall. Denn deren ursprüngliche Natürlichkeit61 ist nicht mehr wesentlich die physi-

56

Ebd. Ebd., Kap. 13.5. 58 Ebd., S. 57. 59 Ebd., S. 198. 60 M. Heidegger z. B. in: Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 13–40. 61 MEW 23, S. 193. 57

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kalische (mechanische), sondern die chemische,62 auf die Marx aufmerksam wird, wo er ausführt, daß alle Industriezweige, mit Ausnahme der extraktiven, Rohmaterial behandeln, »d. h. bereits durch die Arbeit filtrierte[n] Arbeitsgegenstand, selbst schon Arbeitsprodukt […]. / Das Rohmaterial kann die Hauptsubstanz eines Produkts bilden oder nur als Hilfsstoff in seine Bildung eingehn. […] Der Unterschied zwischen Hauptstoff und Hilfsstoff verschwimmt in der eigentlich chemischen Fabrikation, weil keines der angewandten Rohmaterialien als die Substanz des Produkts wieder erscheint.«63 Näher betrachtet verfährt also nur die noch rudimentäre maschinelle Produktion, da, wo die Maschinerie noch nicht mehr zu sein scheint als ein hochkomplexes Handwerkszeug, »wie die Natur selbst«, indem sie »die Formen der Stoffe« ändert. Die entwickelte technische Produktion hingegen verfährt als (eine zweite) Natur, indem sie es nicht mit der Änderung der Formen bewenden läßt, sondern in die Stofflichkeit selbst der Dinge eingreift und neue Stoffe produziert von in der Natur gänzlich unbekannten Qualitäten. Marx hat daher sehr wohl und sehr genau den Fetischcharakter der Ware erkannt, aber innerhalb seines geschichtlichen Orts dessen »Geheimnis« erst nur ungenügend lüften können. »Das Geheimnisvolle der Warenform«, schreibt er, bestehe »einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. […] Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.«64 Um dies fundamentale Quidproquo zu erläutern, greift Marx auf den Feuerbachschen Gedanken zurück, den er bereits 1845 in den eignen geschichtlichen Ort übersetzt hatte: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Ge62

Wie die Industrialisierung überhaupt die Dampfmaschine, setzt die chemische Fabrikation die Quantifizierung der Chemie voraus, der Kant in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« von 1786 darum noch den Charakter »eigentliche[r] Wissenschaft« (A 10) absprechen konnte. Die chemische Revolution – »La révolution en chimie est faite« – ereignete sich mit A.L. Lavoisiers »Méthode de Nomenclature Chimique« und dem »Traité Élémentaire de Chimie« 1787 und 1789. 63 MEW 23, S. 196. 64 Ebd., S. 86.

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genstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv.«65 Entsprechend heißt es im »Kapital«: »Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, unter einander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.«66 Was Marx hier auf dem Boden von Feuerbachs Religionskritik vorsichtig als Analogie einführt, erweist sich im Rückblick als der dem Ding abgelesene geschichtliche Übergang, den er selbst als den von der Manufaktur zur großen Industrie beschreibt. Im Horizont der Metaphysik war die »religiöse Welt«, unbeschadet der Aufklärung im 18. Jahrhundert,67 keineswegs eine »Nebelregion«, sondern ein geordnetes Ganzes der Einbildungskraft, die dem Menschen seine Existenz und deren Welt auf ihren Grund, d. h. auf ihre äußerste Rechtfertigung hin durchsichtig machte, wohl in der Weise von Bildern, aber solchen, in denen diese Existenz sich nicht entfremdete, sondern zu sich kam. Deshalb kann Hegel schreiben: »Der absolute Geist in der aufgehobnen Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit der Gestalt und des Wissens [sc. der Kunst], ist dem Inhalte nach der an und für sich seyende Geist der Natur und des Geistes, der Form nach ist er zunächst für das subjective Wissen der Vorstellung. Diese giebt den Momenten seines Inhalts einerseits Selbstständigkeit und macht sie gegen einander zu Voraussetzungen, und aufeinander folgenden Erscheinungen und zu einem Zusammenhang des Geschehens nach endlichen Reflexionsbestimmungen; andererseits wird solche Form endlicher Vorstellungweise in dem Glauben an den Einen Geist und in der Andacht des Cultus auch aufgehoben.«68 Die Kunst ist die produktive Selbstanschauung des absoluten als der konkreten Einheit des subjektiven und des objektiven Geistes. Diese Unmittelbarkeit aufgehoben oder reflektiert, erhalten die im Kunstwerk unmittelbar einigen Momente selbständiges Bestehen, treten zur religiösen Welt auseinander, deren sprachliche Gestalt, wie der zitierte

65

K. Marx: [Thesen über Feuerbach], MEW 3, Berlin 1958, S. 5. MEW 23, S. 86 f. 67 Die philosophisch gründlichste Darstellung dieses Verhältnisses hat Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« (VI.B.II) gegeben. 68 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) (Enz.), GW 20, § 565. 66

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Paragraph der »Enzyklopädie« nur andeutet, das Erzählen ist, das in der Tat ein unverbindliches, die »wahre Welt« verdeckendes Phantasieren wäre, würde es nicht selbst immer zugleich im Glauben und in der Andacht, d. h. in der Selbstgewißheit aufgehoben. Sie allein oder dies Fürsichsein des »Geist[es] in seiner Gemeinde«69 gewährleistet, daß Hervorbringen und Hervorgebrachtes sich nicht entfremden, indem sie deren Einheit ist als unmittelbare Innerlichkeit im Unterschied zur äußerlichen Existenz des Kunstwerks: dessen erinnerte Religiosität. Sowenig sich daher das Kunstwerk ablöst von seinem Hergestelltsein – es ist wesentlich Werk, wiewohl von »äußerlichem gemeinem Daseyn«70 –, sowenig löst sich die religiöse Welt ab vom Selbstbewußtsein des glaubenden Subjekts. So steht und fällt sie freilich mit dessen Innerlichkeit oder dem Glauben, und vormetaphysische und metaphysische Welt haben mancherlei Gestalten von Religion stürzen sehen, wo der Glaube aus ihren Bildern heraus war. Er wird aber jeweils aus seiner Welt vertrieben, wo diese, erzeugt von der Einbildungskraft als der produktiven Reflexion, ihr Korrelat nicht länger an der angeschauten Welt hat. Wenn nämlich Religion und Kunst (wie ohnehin die Philosophie), mit Hegel zu reden, Gestalten der Einheit des subjektiven und objektiven Geistes sind, dann verwandeln sie sich notwendig mit diesen Momenten. Immer aber blieb auch die Grenze der Welt, der reflektierten wie der unmittelbaren, die Natur als Makrokosmos, und die Grenze des Hervorbringens, des Vorstellens wie des Herstellens, dieselbe Natur als Mikrokosmos, der natürliche Mensch oder, mit Marx, der Handarbeiter. In demjenigen geschichtlichen Augenblick also, in dem das menschliche Produzieren nicht länger wie die Natur selbst, sondern als eine zweite Natur verfährt und der ersten – der einzigen der Metaphysik – als seinem bisherigen periechon gegenübertritt und an ihr nurmehr seinen »Arbeitsgegenstand« hat,71 hat auch jener von Hegel genannte und mit dem (metaphysischen) Wissen als identisch erkannte Glaube72 keinen Ort mehr. Zusammen mit diesem Wissen entzieht er sich, eben weil sie absolute Gestalten einer und derselben Welt sind: »Das Innere ist als die Form der reflectirten Unmittelbarkeit oder des Wesens, gegen das Aeussere als die Form des Seyns bestimmt, aber beyde sind nur Eine Identität.«73 Freilich der Glaube geht nicht aus, sein Verschwinden ist in

69 70 71 72 73

Enz. § 554. Enz. § 556. MEW 23, S. 196. Enz. § 554 Anm. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik, 1. Band (1812/13), 2.2.3.C, GW 11, S. 365.

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Wahrheit seine Verwandlung, denn er ist die »unmittelbare und substantielle Einheit«74 der prozessualen Innerlichkeit. Daher hat Marx, wie vor ihm Feuerbach, ganz recht, wenn er in seinem geschichtlichen Ort die bisherige »religiöse Welt«, diese Gesamtheit der Bilder der metaphysischen Syntax, eine »Nebelregion« nennt, denn aus ihr ist alle Buntheit des Lebens verschwunden, die schon in Hegels System, und hier allerdings zuletzt (das ist seine geschichtliche Legitimation) noch einmal als Einheit von Glauben und Wissen, das Pantheon ihres Gedächtnisses hatte, wie Hegel selbst zum Schluß der Vorrede der »Grundlinien der Philosophie des Rechts« bemerkt: »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau mahlt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« Und vor der Buntheit der noch jungen Warenwelt hält die vormalige Vorstellung der natürlichen Syntax der Welt noch weniger stand als deren Anschauung in der Kunst. Wenn Feuerbach also eine Kunst voraussagt, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen wird, weil sie dem zu Fleisch und Blut gewordenen Bewußtsein entspringt, daß das Menschliche das Göttliche, das Endliche das Unendliche sei, dann ist diese Voraussage weniger vielleicht mit Marx als durch ihn hindurch so zu lesen, daß diese neue Kunst ihren eigentümlichen Ort im Fetischcharakter der Ware hat, den sie ihrerseits in dinglicher Form austrägt. Und hier läßt sich mit Feuerbach ganz genau sein. Denn, gibt er zu verstehen, das »zu Fleisch und Blut gewordene«, d.h. das Bewußtsein des Gott-Menschen in Knechtsgestalt ist die »Quelle der Poesie«, mithin, insofern Feuerbach immer vom Sprachwesen Mensch her denkt, die Quelle der Kunst als Schmerz. Daher ist zu sagen: die nachmetaphysische Kunst entspringt dem Schmerz als dem Innern der Ware, oder: die neue Kunst ist die Ware in der Dimension des Schmerzes. Die Ware als solche wäre dann der verdrängte Schmerz als Ding. So begann die nachmetaphysische Kunst überhaupt als »Weltschmerz«, um nur an Byron, Schubert, C.D. Friedrich zu erinnern; aber der Schmerz als der Abgrund der Ware wird zur Sache der Dichtung erst bei Baudelaire (und dem gleichaltrigen Flaubert, dessen »Tentation de Saint Antoine« alle möglichen Weltdeutungen als Warenangebote darstellt – »Bouvard et Pécuchet« ist die dazu gehörige Parodie). Nur was für ein Schmerz ist das, falls wir es nicht bewenden lassen wollen bei der Qual der Kreatur, von der das Schopenhauersche Mitleiden auf den 74

Enz. § 555.

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Plan der Geschichte gerufen wurde? Hier ist vielmehr zu fragen: warum hat diese Qual, die dem älteren Denken keineswegs weniger bekannt war, gleichsam über Nacht zu jenem ungeheuren Umsturz aller Tradition geführt? Offenbar, weil kein Gott mehr dem in ihr verstummenden Menschen gab, zu sagen, was er leide. Und dieser »Fehl Gottes« besteht mit Marx gedacht darin, daß »die Verwirklichung« des menschlichen Wesens »als Entwirklichung seines Lebens, daß seine Produktion als Produktion seines Nichts, daß seine Macht über den Gegenstand als die Macht des Gegenstandes über ihn, daß er, der Herr seiner Schöpfung, als der Knecht dieser Schöpfung erscheint.«75 Die Ware also, nicht so sehr, wie Marx sie noch denkt und denken muß, als Produkt der (wie auch immer bereits zurückgedrängten) Handarbeit, sondern der die Handarbeit aufhebenden automatischen Produktion, ist dasjenige Produkt, das der Anstrengung und dem Triumph des deutschen Idealismus und der frühen Romantik, die Produktion mit dem Produkt zusammenzudenken, Hohn spricht. Angesichts eines solchen Produkts waren diese letzten Metaphysiker, so muß es im Rückblick scheinen, eben allesamt, wie Nietzsche spotten wird, »Schleiermacher«. Der »Fehl Gottes«, den Heidegger dank Hölderlin zu entziffern lernt, ist mithin der Riß zwischen Produkt und Produzent so, daß die Produktion selbst, beider Beziehung, ins Produkt entzogen ist, das seinerseits sein Produziert-Sein verbirgt. Als sich ereignende wäre sie das Ereignis von Welt und Ding, als erinnerte ist sie der Schmerz: »Doch was ist Schmerz? Der Schmerz reißt. Er ist der Riß. […] Der Schmerz ist die Fuge des Risses. […] Der Schmerz ist der Unter-Schied selber.«76 Marx hat diesen Unter-Schied exemplarisch am Entstehen der besonderen Warenart »Geld« untersucht, nachdem er gezeigt hatte, daß »das Ding, worin die Wertgröße eines andren Dings dargestellt wird, seine Äquivalentform unabhängig von dieser Beziehung als gesellschaftliche Natureigenschaft zu besitzen scheint«. Dieser falsche Schein »ist vollendet, sobald die allgemeine Äquivalentform mit der Naturalform einer besondren Warenart verwachsen oder zur Geldform kristallisiert ist. Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die andren Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist. Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine Spur zurück. Ohne ihr Zutun finden die Waren ihre eigne Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper. Diese Dinge, Gold und Silber, wie sie aus den Eingeweiden der Erde heraus75 76

MEW, Erg.-Bd. I, S. 451. M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 27.

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kommen, sind zugleich die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes. […] Das Rätsel des Geldfetischs ist daher nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs«.77 Auch das ist gleichsam noch natürlich gedacht, insofern in der Welt der entwickelten technischen Produktion umgekehrt das Rätsel des Warenfetischs »das sichtbar gewordne, die Augen blendende« Rätsel des Geldfetischs ist; Gold und Silber, der metaphysische Traum vom Reichtum, sind zu Waren unter anderen geworden. Dies Rätsel spricht Marx in dem abermals von Hegel inspirierten Satz aus: »Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine Spur zurück.« Der selber irreversible Unterschied zum Hegelschen Verschwinden der Vermittlung ist dabei der, daß das Verschwinden jetzt irreversibel, das reflexive Band zwischen Produktion und Produkt gerissen ist. Dem so autonom gewordenen Fetisch gilt Baudelaires Dichtung.

3. Die neue Schönheit Unter dem Titel »Die Schönheit« tritt dieser Fetisch auf im siebzehnten Gedicht der »Fleurs du Mal«: Ich bin schön, ihr Sterblichen, wie ein Traum von Stein, Und meine Brust, an der sich einer nach dem andern geschunden hat, Ist gemacht, dem Dichter eine Liebe einzuhauchen, Ewig und stumm wie die Materie. Ich throne im Azur wie eine unbegriffne Sphinx; Ich vereine ein Herz von Schnee mit der Weiße der Schwäne; Ich hasse die Bewegung, die die Linien versetzt, Und nie weine ich und nie lache ich. Die Dichter vor meinen großartigen Attitüden, Die ich mir den Anschein gebe, den mächtigsten Monumenten zu entlehnen, Werden ihre Tage in strengen Studien verzehren; Denn ich habe, um diese gelehrigen Liebhaber zu faszinieren, Reine Spiegel, die alle Dinge schöner machen: Meine Augen, meine großen Augen von ewigen Klarheiten!78 77 78

MEW 23, S. 107 f. Je suis belle, ô mortels, comme un rêve de pierre, / Et mon sein, où chacun s’est

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Dieser Fetisch ist das beseelte, aber das unmenschlich-beseelte Ding, so »steinern« und »monumental«, wie es noch von Heidegger und Derrida gedacht werden wird. Die graphische Differenz, schreibt Derrida in »La Différance«, »zeigt sich an durch ein stummes Mal, durch ein schweigendes Monument, sozusagen sogar durch eine Pyramide, […], dieser Ort, Familiensitz und Grab des Eignen, wo sich als Unter-Schied die Ökonomie des Todes produziert«.79 Solcher Stein fasziniert den Dichter vor allem Bewußtsein, vor aller Sprache, wodurch seine Bindung daran infantil, embryonal, archaisch wird (»Ewig und stumm wie die Materie«); die »Augen« sind von der ewigen Klarheit, die sich näher als die des »Nichts«, logisch der Tautologie zeigen wird, daher »Reine Spiegel, die alle Dinge schöner machen«. »Das Geheimnisvolle der Warenform«, war von Marx zu lernen, besteht darin, »daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt«,80 und so sind Baudelaires »Dichter«, die von der ästhetischen Produktion her gedachten Menschen, die »gelehrigen Liebhaber« vor deren »großartigen Attitüden«, die Nietzsche dann als das Geheimnis des Wagnerschen Kunstwerks sondieren wird. Das einundzwanzigste Gedicht der »Fleurs du Mal« ist die »Hymne an die Schönheit«, in der es heißt: Kommst du vom tiefen Himmel oder entsteigst du dem Abgrund, O Schönheit! Dein Blick, höllisch und göttlich, Ergießt vermischt die Wohltat und das Verbrechen, Und man kann dich deshalb dem Wein vergleichen. […] Und du beherrschst alles und verantwortest nichts. […] Und der Mord, unter deinen liebsten Berlocken, […] Ob du vom Himmel kommst oder aus der Hölle, was tuts, meurtri tour à tour, / Est fait pour inspirer au poète un amour / Éternel et muet ainsi que la matière. // Je trône dans l’azur comme un sphinx incompris; / J’unis un coeur de neige à la blancheur des cygnes; / Je hais le mouvement qui déplace les lignes, / Et jamais je ne pleure et jamais je ne ris. // Les poètes, devant mes grandes attitudes, / Que j’ai l’air d’emprunter aux plus fiers monuments, / Consumeront leurs jours en d’austères études; // Car j’ai, pour fasciner ces dociles amants, / De purs miroirs qui font toutes choses plus belles: / Mes yeux, mes larges yeux aux clartés éternelles! (FdM XVII) 79 »[…] se propose par une marque muette, par un monument tacite, je dirai même par une pyramide, […], ce lieu, résidence familiale et tombeau du propre où se produit en différance l’économie de la mort. Cette pierre […]«, J. Derrida: La Différance, in: Marges, Paris 1972, S. 4. 80 MEW 23, S. 86.

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O Schönheit! Monster enorm, erschreckend, unbefangen! Wenn dein Auge, dein Lächeln, dein Fuß mir die Pforte öffnen Eines Unendlichen, das ich liebe und niemals gekannt habe? Von Satan oder von Gott, was tuts? Engel oder Sirene, Was tuts, wenn du – Fee mit Samtaugen, Rhythmus, Duft, Schimmer, o meine einzige Königin! – Das All weniger häßlich machst und die Augenblicke weniger lastend?81 An eine solche Schönheit hat innerhalb der Metaphysik kein Dichter je gedacht, je denken können, und auch in der Dichtung des 19. Jahrhunderts ging es meist weniger enorm zu. Gesetzt also, daß Baudelaire nicht pervers war, daß diese Thematik nichts Privates ist – und das muß nach 150 Jahren Rezeptionsgeschichte gar nicht mehr »gesetzt« werden –, was für eine neue (allerdings bereits durch die Poesche Ästhetik vermittelte) Schönheit ist hier zum Wort gekommen? Offenbar der Fetisch in der neuen Aura, die ihn zu umgeben beginnt, sobald der ihm bei Marx noch anklebende Traditionsrest »Handarbeit« getilgt und seine Herkunft aus der technischen, für den Dichter stellvertretend für alle: der in ihren Konsequenzen noch anonymen Produktion, nicht als soziologisch-ökonomischer Gegenstand, sondern als der Ort des Schmerzes oder Risses der Existenz selbst erfahren wird. Auch der Vers über den Mord hat weniger soziologisch-ökonomische als existenzielle Bedeutung, indem es nicht mehr der Kapitalist ist, der den Arbeiter enteignet, sondern der Fetisch selbst, der das Menschenwesen als solches aussaugt;82 er ist die existenzielle Wahrheit von Marx’ wissenschaftlich-gelassener Bemerkung, daß die vermittelnde Bewegung in ihrem eignen Resultat verschwinde und keine Spur zurücklasse. So wirft der Vers Licht auf das innerste Motiv von De Quinceys Essay »On Murder Considered as One of the Fine Arts« (1827): der MörderKünstler tut, was das Wesen seines Produkts ist. Das kam bei De Quincey selbst noch nicht zum Vorschein, aber bei Baudelaire ist der von

81

Viens-tu du ciel profond ou sors-tu de l’abîme, / O Beauté! ton regard, infernal et divin, / Verse confusément le bienfait et le crime, / Et l’on peut pour cela te comparer au vin. // […] Et tu gouvernes tout et ne réponds de rien. // […] Et le Meurtre, parmi tes plus chères breloques, […] // Que tu viennes du ciel ou de l’enfer, qu’importe, / O Beauté! monstre énorme, effrayant, ingénu! / Si ton oeil, ton souris, ton pied, m’ouvrent la porte / D’un Infini que j’aime et n’ai jamais connu? // De Satan ou de Dieu, qu’importe? Ange ou Sirène, / Qu’importe, si tu rends, – fée aux yeux de velours, / Rhyhme, parfum, lueur, ô mon unique reine! – / L’univers moins hideux et les instants moins lourds? (FdM XXI) 82 Vgl. Le Vampire (FdM XXXI).

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Marx erst angezeigte Schritt getan, das Produkt nicht mehr vom Menschen her, sondern den Menschen umgekehrt vom Produkt her zu denken. Entsprechend ist auch »das Unendliche« (L’Infini) nicht länger (metaphysisch) vertikal, sondern horizontal zu verstehen als der (existenzielle) Warencharakter aller Dinge. Die »Hymne an die Schönheit« vergleicht ihn mit dem Wein. Das späte Erscheinungsjahr 1860 in Rechnung gestellt, ist dies keine Naturalisierung dieser Schönheit, vielmehr umgekehrt Ausdruck der Einsicht, daß die 1851 noch Rousseauisch um ihrer Natürlichkeit willen gepriesene Wirkung des Weins nur die gleichsam banale Gestalt derjenigen Wirkung ist, die die »konträre Idee«83 des Schönen selbst ausübt. Im Essay über den Wein (II) wird diese Schönheit denn auch ironisch isoliert: »Vor einigen Jahren, auf einer Gemäldeausstellung, machte ein Haufen von Narren Krawall vor einem Bild, das poliert war, gewachst, gefirnißt wie ein Industrieobjekt. Es war die absolute Antithese der Kunst […]. Auf diesem mikroskopischen Bild sah man die Fliegen tanzen.84 Ich wurde von diesem monströsen Objekt angezogen wie alle Welt; aber ich schämte mich dieser einzigartigen Schäche, denn das war die unwiderstehliche Anziehungskraft des Entsetzlichen (horrible). Schließlich bemerkte ich, daß ich wider Willen von einer philosophischen Neugier hingezogen war, dem maßlosen Begehren zu wissen, was der moralische Charakter des Mannes sein könnte, der eine derart kriminelle Extravaganz in die Welt gesetzt hatte. […] Ich lernte, daß das Monstrum sich regelmäßig vor Anbruch des Tags erhob, seine Haushälterin ruiniert hatte, und daß er nur Milch trank!« Die »konträre Idee« des Schönen kommt hier selber auf konträre Weise zum Vorschein: Dem Industrieobjekt, der Ware, wird das Kunstwerk entgegengehalten, und während dessen Produktion gefördert würde durch den Wein, ein komplexes Naturprodukt, in dem menschliches Erfinden vergegenständlicht ist, wird die Ware, das unmenschliche Ding, in die Welt gesetzt durch eine unmenschliche Produktionsweise, die sich zugleich mit einem, wie Marx sagen würde, Hilfsstoff begnügt, der kein Rohmaterial, sondern bloßes Naturextrakt ist (Milch), so daß hier schon zusammengedacht erscheint, was Heidegger nachmals als das Naturverhältnis des Denkens im »Gestell« namhaft machen wird: Bestand und Verrechnen. Darin liegt der Chiasmus, daß das Industrieobjekt durch unverarbeitete Natur (die Milch und die mikro-

83

Ch. Baudelaire: Fusées, in: Oeuvres complètes, éd. par Marcel A. Ruff, Éditions du Seuil, Paris 1968, S. 626, Nr. 10. 84 Vgl. den Vers von Une Charogne (FdM XXIX): les mouches bourdonnaient sur ce ventre putride […].

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skopische Reproduktion der Fliegen) kontaminiert ist, während das menschliche oder Kunst-Werk jede Spur bloßer Natur in sich getilgt hätte. Demgemäß ist die poetische Verfahrensweise Baudelaires eine Art Chemie:85 Unbekannter Hermes, der du mir assistierst Und mich stets das Fürchten gelehrt hast, Du machst mich zu einem wie Midas, Dem traurigsten der Alchemisten; Durch dich verwandle ich das Gold in Eisen Und das Paradies in Hölle.86 Im Blick auf das Ideal der neuen Schönheit aber ist diese Verwandlung zugleich die umgekehrte: »Ich habe Kot geknetet und daraus Gold gemacht«.87 Und in der Epilog-Skizze für die zweite Auflage der »Fleurs du Mal« heißt es: O ihr, seid Zeugen, daß ich meine Pflicht getan habe, Wie ein vollkommner Chemiker und wie eine heilige Seele. Denn aus jedem Ding habe ich die Quintessenz gezogen; Du hast mir deinen Kot gegeben und ich habe daraus Gold gemacht.88 Der Stand der Produktionsmittel liefert um die Mitte des Jahrhunderts das »Industrieobjekt«, dessen erschreckendes Inkognito das Kunstwerk à la Meissonier ist. Eine Spezialität dieses engen Freundes der Madame Sabatier,89 seine minutiösen Genreszenen aus dem Dix-huitième, sind perfekte malerische Simulationen von so etwas wie retrospektiver Pho85

Auch Feuerbach hatte, im »Wesen des Christentums«, erklärt, die von ihm befolgte Methode sei »eine durchaus objektive – die Methode der analytischen Chemie« (GW 5, S. 6). 86 […] / Hermès inconnu qui m’assistes / Et qui toujours m’intimidas, / Tu me rends l’égal de Midas / Le plus triste des alchimistes; // Par toi je change l’or en fer / Et le paradis en enfer; […] (FdM LXXXI). »Et qui toujours m’intimidas«: Initium sapientiae timor Domini (Ps. 111.10) – dem Verhältnis von Übersetzung (Hermes), Reproduktion und Simulation wird vor allem Walter Benjamin nachdenken. 87 J’ai pétri de la boue et j’en ai fait de l’or. (Bribes) 88 O vous, soyez témoins que j’ai fait mon devoir / Comme un parfait chimiste et comme une âme sainte. / Car j’ai de chaque chose extrait la quintessence, / Tu m’as donné ta boue et j’en ai fait de l’or. (Ébauche d’un épilogue pour la 2me édition) (1860). 89 Baudelaire widmete ihr u. a. Confession (FdM XLV), das wohl persönlichste Gedicht der »Fleurs du Mal«.

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tographie, Parodien zugleich und Hyperbolen des Industrieobjekts darum, weil sie mit dem Anspruch, Kunst zu sein, deren moderner conditio sine qua non, ihrem Ursprung aus dem Schmerz spotten, frühe Beispiele der ästhetischen mauvaise foi, der produzierte, aber in der Produktion zugleich unkenntlich gemachte Abgrund. Diese »letzte Tiefe«90 der Moderne mag ihr selber zwar unmittelbar als anthropologische Konstante erscheinen: Pascal hatte seine bodenlose Tiefe, die mit ihm sich bewegte. – Ach! Alles ist Abgrund, – Handlung, Begehren, Traum, Wort! und über mein Haar, das zu Berge steht, Spüre ich manchmal den Wind der Angst gehn.91 – aber auch dies ist zusammenzulesen mit der neuen Lehre vom Schönen. Baudelaires implizite Poetik erweist sich darin als Anweisung zur ästhetischen Produktion des Abgrunds, d. h. des Kunstwerks als der abgründigen Ware. Eine Vorübung dafür sind die Übersetzungen Poes. Denn mehr noch als bei den französischen Zeitgenossen oder den englischen und deutschen Romantikern ging Baudelaire hier bei dem Amerikaner durch die Schule der Moderne.

Poe: Die Philosophie der Komposition 1853 war seine Übersetzung von Poes »The Raven« erschienen, 1859 folgte »La genèse d’un poëme« mit der Übersetzung der »Philosophy of Composition« (1846) unter dem cartesianisierenden Titel »Méthode de composition«. Diesen Titel wählt zwar auch die neueste deutsche Übersetzung,92 aber der Traktat ist mehr, nämlich eine philosophische Poetik, in der Tat die Philosophie des modernen Gedichts und so mittelbar eine Ästhetik der modernen Produktform Ware. Baudelaires nüchterner Sinn für die Faktur spricht sich zum einen darin aus, daß seine Übersetzung des »Raben« (wie später auch die Mallarmés) auf den Reim verzichtet. »In der auf Dichtung angewandten Prosaform«, schreibt er, »steckt notwendig eine abscheuliche Unvollkommenheit; aber das Übel wäre noch größer in einer gereimten Nachäffe90

AsZ III.13, Der Genesende. Pascal avait son gouffre, avec lui se mouvant. / – Hélas! tout est abîme, – action, désir, rêve, / Parole! et sur mon poil qui tout droit se relève / Maintes fois de la Peur je sens passer le vent. (Le Gouffre, NFdM XIV). 92 Vgl. E.A. Poe: Die Methode der Komposition, übs. von U. Wernicke, in: E.A. Poe: Der Rabe. Gedichte & Essays. Aus dem Amerikanischen von A. Schmidt, H. Wollschläger, F. Polakovics und U. Wernicke, Zürich 1994, S. 196–211. 91

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rei.«93 Das poetische Produkt würde ganz einfach ersetzt durch ein anderes, eine Not, über die sich Stefan George als Übersetzer genaueste Rechenschaft ablegen und von »Umdichtungen« sprechen wird. Zum andern gibt Baudelaire dem Leser einer Warnung mit, die insbesondere dann am Platz ist, wenn die Philosophie der Komposition gelesen wird als Methode der Komposition: »Nach allem ist dem Genie immer ein wenig Charlatanerie verstattet, steht ihm sogar nicht übel an. Sie ist, wie die Schminke auf den Wangen einer von Natur schönen Frau, eine neue Würze für den Geist. » Was die Frau für die Gesellschaft, ist der Künstler für die Welt. Auch er muß »von allen Künsten die Mittel leihen,94 sich über die Natur zu erheben, um desto mehr die Herzen zu unterwerfen und die Geister in [seinen] Bann zu ziehen.95 Hier wird das Ideal der neuen Schönheit sichtbar, weshalb die »Charlatanerie« unter keinen Umständen abgezogen werden darf. In ihr spricht sich, mag die »Methode« nun ganz ernstzunehmen sein oder nicht, die Philosophie der Komposition aus. Was diese betrifft, ließe der Essay sich obenhin interpretieren als eine klassische Poetik angewandt auf ein Poesches Thema. Solche Rückbindung an die Tradition macht, nur scheinbar tautologischerweise, Poes Klassizität aus. Wenn Baudelaire im »Maler des modernen Lebens« (IV) die eine Hälfte der Kunst als »das Ewige und Unveränderliche«, die andere als »das Transitorische, das Flüchtige (le fugitif), das Kontingente« namhaft machen wird, dann scheint es, man könne hier das Moderne und das Klassische reinlich scheiden. Aber Poes wie Baudelaires Kunst und Kunstreflexion sind durch und durch modern. Ihre Klassizität liegt nicht in einem isolierbaren Kern von Zeitlosigkeit, sondern darin, daß die Modernität den tradierten Bestand durchdringt und sich zueignet. Denn dem näheren Zusehen erscheint bei beiden jenes Ewige und Unveränderliche vielmehr als das Akzidens, als die alten Wörter, und die Modernität als die Substanz, als die neue Syntax. 93

Ch. Baudelaire: Eureka, La genèse d’un poème, Le corbeau, Méthode de composition par Edgar Poe, éd. M.J. Crépet, Paris 1936, S. 154. Poes »Philosophy of Composition« wird in der Folge zit. nach: Poe’s Poems and Essays, London/New York 1964, S. 163–177. 94 Swedenborg, schreibt Baudelaire in seinem Aufsatz über Victor Hugo (1861), habe uns gelehrt, »daß alles, Form, Bewegung, Zahl, Farbe, Parfum, im Geistigen wie im Natürlichen, bedeutsam, reziprok, konvers, korrespondierend ist. […] Bei den hervorragenden Dichtern gibt es keine Metapher, keinen Vergleich oder kein Epitheton, die nicht eine mathematisch exakte Adaptation unter den jeweiligen Umständen wären, weil diese Vergleiche, diese Metaphern und diese Epitheta aus dem unerschöpflichen Fundus der universellen Analogie geschöpft sind und nicht anderswo geschöpft werden können«. 95 Lob der Schminke.

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Worauf es ankommt, schreibt Poe eingangs, ist der Effekt, der zuerst ungewohnt (novel), sodann lebhaft (vivid) zu sein hat. Hervorzubringen ist er entweder durch eine Begebenheit (incident) oder durch die Tonlage (tone), wobei die Poesche Kombinatorik die drei Möglichkeiten von a) gewöhnlichen (ordinary) Begebenheiten und besonderer (peculiar) Tonlage, b) besonderen Begebenheiten und gewöhnlicher Tonlage und c) besonderen Begebenheiten und besonderer Tonlage zuläßt. Die gewöhnliche Tonlage (die »objektive« Prosa der Geschichten) trägt aber gerade durch den Kontrast zum Effekt bei, während die besondere Tonlage (im Gedicht) umgekehrt das Gewohnte der gewöhnlichen Begebenheit in seiner Bodenlosigkeit zu enthüllen imstande ist. In jedem Fall ist die Tonlage, die eigentümliche Musikalität des Werks, seine syntaktisch produzierte Stimmung, der eigentliche Träger oder das Medium des Effekts. Die Philosophie der Komposition will nun, wie Poe betont: zum erstenmal überhaupt, Einblick gewähren in die (technischen) Prozesse der literarischen Produktion und in den Bestand der Produktionsmittel (properties: Requisiten) des »literarischen Histrio«. Dessen Produkt erscheint im Licht des Theaters, der Bühne, und das theater- oder vielmehr filmhafte der Poeschen Geschichten ist allerdings nicht zu übersehen. Es trüge aber wenig aus, hier auf die klassische Dramenpoetik zurückzugreifen, weil bereits die von Poe gebrauchten Termini nahelegen, daß es um einen der alten Gattungspoetik ganz fremden »Wert« des literarischen Produkts geht, um jenen nämlich, den Benjamin treffend Ausstellungswert nennen wird. Adorno monierte zwar, der »›Ausstellungswert‹, der da den auratischen ›Kultwert‹ ersetzen soll«, sei »eine imago des Tauschprozesses«,96 aber im Rückblick auf die »Philosophie der Komposition« erweist der Terminus gerade als Evokation dieser imago seine geschichtlich aufschließende Kraft. Mit dem Versprechen, den poetischen Produktionsprozeß als solchen aufdecken zu wollen, wendet sich Poe gegen die platonisch-romantische Vorstellung, der Dichter schaffe kraft einer ekstatischen Intuition,97 eines schönen Wahns (a species of fine frenzy).98 Am Beispiel des »Raven« will Poe dagegen zeigen, »daß kein Punkt in seiner Komposition auf Zufall oder Intuition zurückzuführen ist – daß das Werk, Schritt für Schritt, mit der Präzision und unerbittlichen Konsequenz eines mathematischen Problems seiner Fertigstellung (completion) entgegenging«. 96

Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie (ÄTh), Gesammelte Schriften (GS) Bd. 7, hrsg. von G. Adorno und R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 73. 97 Platon hatte sie im »Ion« von der philosophischen Besonnenheit unterschieden, die die »Philosophie der Komposition« nun dem Dichter vindiziert. 98 Poe zitiert Shakespeare: »The poet’s eye, in a fine frenzy rolling«, MND V.1.12.

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Nicht die inspirierte, sondern die kontrollierte technische Produktion, gleichsam ein Algorithmus ist das neue Paradigma. Hierzu gehört die Eskamotierung der alten Stilebenen. Das Gedicht, stellvertretend für das ästhetische Produkt überhaupt, soll zugleich dem populären wie dem kritischen Geschmack genüge tun, d. h. »allgemein ansprechend« (universally appreciable) sein. Gegen die drei »klassischen Einheiten« des Orts, der Zeit und der Handlung formuliert Poe sodann, und zwar als Folgerung aus der Einheit des Effekts, die neue »Einheit des Eindrucks«. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner industriellen Produktion ist eo ipso impressionistisch, denn »ein Gedicht ist ein solches nur, insofern es, durch Erhebung, die Seele intensiv erregt; und alle intensiven Erregungen sind, aus psychischer Notwendigkeit, kurz«. Erhebung über die Natur – das dritte Gedicht der »Fleurs du Mal« heißt »Élévation« – ist dann auch Programm der Baudelaireschen Ästhetik, aber das »Hyperphysische« hat schon bei Poe nichts mehr zu tun mit jenem Äther der Wahrheit, der von den Vorsokratikern bis zum deutschen Idealismus das gedachte Oben war, ist vielmehr die Syntax der Produktion selbst, der seiner scheinbaren Natürlichkeit enthobene und deshalb gegebenenfalls auch als das »Nichts«, L’Azur usw. angerufene Schopenhauersche Wille. Zwar ist, erinnert Poe, ein gewisser Grad von Dauer absolut erforderlich zur Produktion eines Effekts überhaupt, denn wie überall ist auch hier das Produkt verdinglichte Zeit; aber der Umfang eines Gedichts kann eben darum in mathematische Relation gesetzt werden zu seinem Wert (merit), oder die Kürze muß in direktem Verhältnis zur Intensität des beabsichtigten Effekts stehen. Die Rechnung wird maßgeblich mitbestimmt durch den Blick auf die Notwendigkeit, jedem Geschmack entgegenzukommen (was den hundertacht Zeilen des »Raven«, wie Poe durchblicken läßt, einen erheblichen Konsumvorteil vor Miltons »Paradise Lost« sichert – auch der Vergleich mit einem Werk gerade diesen Titels ist nicht zufällig). Der Eindruck nun oder Effekt, um den es einzig zu tun ist, wird hervorgebracht durch die Schönheit, denn: »Diejenige Lust, die zugleich die intensivste, erhebendste und reinste ist, ist, glaube ich, in der Betrachtung des Schönen zu finden«. Der Satz verliert seine Konventionalität, wenn er am Werk Poes wie dann Baudelaires konkretisiert wird. Offensichtlich nämlich ist bereits die Art von Schönheit gemeint, die Baudelaire in den Gedichten »Die Schönheit« und »Hymne an die Schönheit« feiert. »Wenn nämlich die Menschen von Schönheit sprechen, meinen sie genau genommen nicht eine Qualität, wie vorausgesetzt wird, sondern einen Effekt – sie beziehen sich, kurzum, eben auf jene intensive und reine Erhebung der Seele – nicht der Vernunft oder des Herzens […].«

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Wahrheit als die Befriedigung der Vernunft und Leidenschaft als die Erregung des Herzens seien sehr viel leichter in Prosa als im Gedicht zu erreichen. Noch Feuerbach kennt nur den traditionellen Gegensatz von »Kopf« und »Herz«, den er freilich mit neuer Bedeutung auflädt. Bei Poe schiebt sich zwischen beide als Drittes die »Seele«, deren eigentümlicher Gegenstand weder die Wahrheit noch die Leidenschaft, sondern die Schönheit als »die Atmosphäre und das Wesen des Gedichts« ist. Diese Seele, offensichtlich nicht die alte ψυχ, sondern der zusammen mit der industriellen Produktion sich differenzierende Bestimmungsort der Effekte ihrer Produkte, ist die poetische Vorform des Objekts der am Ende des Jahrhunderts entstehenden Psychoanalyse.99 Der Effekt, die kurzzeitige Absence (»Erhebung«) des beeindruckbaren Persönlichkeitsanteils – denn der Effekt ist ein neuer, d. h. unvorhergesehener Eindruck, Benjamins »Chock« –, wird durch Begebenheit (Semantik) und Tonlage (Syntax) erreicht. Ist Schönheit nun der poetische Gegenstand, stellt sich die Frage nach dieser »ihrer höchsten Manifestation« angemessenen Tonlage. Kaum verwunderlich, daß sie die der Schwermut (sadness) ist: »Schönheit jeder Art bewegt in ihrer äußersten Entfaltung die empfängliche Seele unabänderlich zu Tränen. Melancholie ist darum die legitimste aller poetischen Tonlagen.« Auch dies ist, abstrakt genommen, ein klassischer Topos, dessen geschichtliche Konkretion aber das hier von Poe in seiner Entstehung beschriebene Kunstwerk als die Ware in der Dimension des Schmerzes ist, anthropologischer Niederschlag des epochalen Risses zwischen Produkt und Produzent. Welche Tonlage erzeugt Stimmung und welche näher die Stimmung der Schwermut? Ein künstlerischer Reiz (artistic piquancy) ist nötig, der als Grundton (key-note) für die Konstruktion des Gedichts oder als Achse (pivot) dienen kann, um die die ganze Struktur sich dreht. Dies Bild von der Drehung des Produkts um die eigne Achse, seines In-sichZurücklaufens bzw. seiner Abgeschlossenheit hebt ebensowohl den Dingcharakter des Gedichts hervor wie es auf ihn als Quell der Stimmung verweist: auf die Wiederholung (Repetition, Reproduktion), deren natürlich-lyrische Gestalt der Refrain ist. Als Mittel zur Erzeugung von Stimmung (»Eindruck«) zieht er seine Kraft aus der Monotonie – sowohl des Klangs wie des Gedankens. Die mit der Stimmung einhergehende Lust entspringt also »einzig und allein dem Gefühl der Identität – der Wiederholung«. Die Wieder99

Wie Poe immer eines der dankbarsten Opfer ihrer philologischen Anwendung war, deren Tombeau Arno Schmidts »Zettels Traum« sein dürfte.

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holung, die zu einem der großen Themen des nachmetaphysischen Denkens werden wird, ist unmittelbar die Identität in der Zeit, anders als die metaphysische Dauer diejenige Identität, die Zeit nicht vergessen, sondern fühlbar sein läßt. Genau um dieser Fühlbarkeit der Zeit als solcher, also um des Gewinns von Identität im Fortfließen der Zeit willen kann es aber mit der bloßen Wiederholung (wie sie zur klassischen Struktur des in sich abgeschlossenen Musikstücks gehört) kein Bewenden haben. Von der Notwendigkeit der Zeitigung her, die Zeit im Produkt als angehaltene und so das Produkt erst als Ding darzustellen, erscheint die bisherige Verwendung des Refrains als »primitiv«. Um den Effekt zu vermannigfaltigen und auf diese Weise »erheblich zu steigern«, beschließt Poe darum, die Monotonie der Tonlage festzuhalten und doch die des Gedankens kontinuierlich zu ändern. Die umgekehrte Möglichkeit, die Monotonie des Gedankens festzuhalten und die der Tonlage zu ändern, würde nicht nur das sehr gewöhnliche Produkt gedankenarmer Lyrik erzeugen, sondern das Gedicht selbst in der Tat zur Ware machen. Denn die Monotonie der Tonlage bedarf als syntaktischer Träger der Stimmung der beständigen Erneuerung des Riß-Gefühls, und eben dies ist hier der Gedanke – wie der Eine Gedanke Schopenhauers, der sein Werk in der Tiefe so sehr von den Systemen des Idealismus entfernt wie er es ihnen an der Oberfläche nähert; ist doch gar nicht zu unterstellen, daß das metaphysische System mehr als Einen Gedanken gehabt habe, nur daß dieser sich als Prinzip entwickelt, während die idée fixe sich im fugitif vielmehr wiederholt (Schopenhauers ermüdend-unermüdliches Insistieren). »Ich beschloß also«, schreibt Poe – ein, wie sich zeigt, für die Geschichte der nachmetaphysischen Kunst im ganzen exemplarischer Entschluß –, »kontinuierlich ungewohnte Effekte zu produzieren durch die Variation der Anwendung des Refrains – während der Refrain selbst meistenteils unverändert blieb.« Das Produkt beginnt sich hier als Dingvon-Dingen, als Versammlung reproduzierter Dinge zu erweisen. Das Ding am Ding ist das Refrain-Ding, Berlioz’ idée fixe, Wagners Leitmotiv, ein konstanter, kontinuierlich reproduzierter Effekt-Wert, der seine beiden Konstituentien, Neuigkeit und Lebhaftigkeit, dadurch erhält, daß er in beständig wechselnder »Abschattung« (Husserl) erscheint oder in immer anderer Beleuchtung ausgestellt wird. Für die Musik des 19. Jahrhunderts wird man von »entwickelnder Variation« sprechen, wobei »Entwicklung« nicht im Sinn des 17. und 18. Jahrhunderts verstanden werden darf, vielmehr auf Schopenhauers »Einen« Gedanken rückverweist. Baudelaires Liszt gewidmetes und zugleich selbstreferen-

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tielles Prosagedicht100 »Der Thyrsus«101 spricht es unmißverständlich aus: »Was ist ein Thyrsus? […] physisch nichts als ein Stab, ein reiner Stab, eine Hopfenstange, Weinstütze, trocken, hart und gerade. Um diesen Stab spielen und verwirren sich in eigenwilligen Mäandern Stengel und Blüten […] Und eine erstaunliche Glorie steigt auf aus dieser Komplexität von Linien und Farben, zarten oder grellen. […] Und wer ist, gleichwohl, der unvorsichtige Sterbliche, der zu entscheiden wagte, ob die Blüten und Ranken für den Stab gemacht sind, oder ob der Stab nichts ist als der Vorwand (prétexte), die Schönheit der Ranken und Blüten zu zeigen? Der Thyrsus ist die Repräsentation102 Ihrer erstaunlichen Dualität, mächtiger und verehrter Meister, teurer Bacchant der mysteriösen und leidenschaftlichen Schönheit. […] Der Stab ist Ihr Wille, gerade, fest und unerschütterlich; die Blüten das sich Ergehen Ihrer Fantasie um Ihren Willen; das weibliche Element, das um das männliche seine zauberhaften Pirouetten dreht. Gerade Linie und Arabeske, Intention und Expression, Starrheit des Willens, Schmiegsamkeit des Worts (verbe), Einheit des Ziels, Veränderlichkeit der Mittel«. Das ist en détail zurückzulesen auf Poes Programm der Wiederholung: Die Dualität ist hier die der Monotonie der Tonlage und der Variation ihrer Anwendung. Die Monotonie oder Intention ist, gut Schopenhauerisch, der Wille, dem Fließen der Zeit das, mit Husserl gesprochen, »originär gegebene« Jetzt (Identität) abzugewinnen, und die Variation der Anwendung des Gedankens, die Expression oder Fantasie, ist Schopenhauers nunmehr bewußt produzierter Schleier der Maja als kontinuierliche Protention und Retention, die Veränderlichkeit der Mittel. Die Einheit des Ziels schließlich ist der Effekt. So steht hinter Poes wie Baudelaires »Dualität« als die Logik der Produktion des Kunst-Werks in seinem abgründigen Warencharakter das unhintergehbare Diastema von Wille und Variation, von Ding und Beleuchtung, von Funktion und Argument. Nach der zweckmäßigen Anwendung im »Raven« bedenkt Poe »die Natur meines Refrains. Da seine Anwendung wiederholt variiert werden mußte, war klar, daß der Refrain selbst kurz zu sein hatte, denn bei ei-

100

Den Übersetzungen aus den Prosagedichten liegt die Ausgabe von 1869 zugrunde in: Charles Baudelaire: Petits Poèmes en Prose (Le Spleen de Paris) (PPP), éd. H. Lemaitre, Paris 1962. 101 PPP XXXII. Baudelaire verdankt den Gedanken De Quincey, vgl. Die künstlichen Paradiese, Ein Opiumesser, I und IX. 102 Repräsentation nachmetaphysisch = Ausstellung; Heideggers Bestimmung von repraesentatio geht genau in diese Richtung: »Reflexion ist die Rück-beugung und ist als diese die eigens vollzogene Präsentation des Präsenten« usw. (M. Heidegger: Nietzsche II, Pfullingen 1961, S. 464).

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nem Satz von einiger Länge wäre die Schwierigkeit häufiger Variation der Anwendung unüberwindlich gewesen. Der Kürze des Satzes wäre die Leichtigkeit der Variation selbstverständlich proportional. Das brachte mich sogleich auf ein einziges Wort als den besten Refrain.« Nur wenige Termini wären auszutauschen, um eine treffende Beschreibung der »Natur« des Wagnerschen Leitmotivs zu gewinnen, das freilich anders als Poes Refrain nicht die Funktion haben wird, den musikalischen Satz im ganzen zu gliedern. An Poes Überlegung hierzu ist interessant, daß diese Gliederung der semantischen oder Sinneinheiten, der Strophen, primär musikalisch, d. h. syntaktisch-stimmungshaft ist: »Daß ein solcher Abschluß, um kraftvoll zu sein, sonor zu sein und nach gedehnter Betonung (protracted emphasis) zu verlangen hatte, erlaubte keinen Zweifel: und diese Überlegungen brachten mich unvermeidlicherweise zum langen o als dem sonorsten Vokal, in Verbindung mit r als dem am leichtesten hervorzubringenden Konsonanten.«103 Wie so viele der interessantesten Musiken des 19. Jahrhunderts kann der Klang more, ein Klang gleichsam von tiefen Streichern, mit einem als endlos empfundenen Decrescendo ins Nichts der Generalpause verschwinden. Dies »Nichts« (Mallarmés coupe) ist umgekehrt der eigentliche Geburtsort der Semantik des Gedichts, die anders als in der älteren Dichtung nicht als in gleichem, geschweige in höherem Recht mit der Syntax zusammenzudenken ist, vielmehr dieser als dem Effekt der (existenziellen) Stimmung zu dienen hat: »Das nächste Desiderat war ein Vorwand für den fortgesetzten Gebrauch des Einen Worts ›nevermore‹.« Die Semantik ist zum Desiderat der Syntax geworden und in der Tat nurmehr der Vorwand, »pretext«, Prätext oder, mit Marx gesprochen, der textuelle Arbeitsgegenstand für die Produktion der Syntax, conditio sine qua non, aber nicht Substanz des Ausstellungswerts, der »Repräsentation« des poetischen Produkts. Traditionellerweise ist die Semantik als die deutende Erschließung von Welt die Prärogative der Vernunft. Es kann daher nicht Wunder nehmen, daß Poe in der immer variierten Anwendung seines Leitmotivs im Munde »eines menschlichen Wesens« eine ernste Gefährung des zu erzielenden Effekts sehen muß: »Hier also entsprang unmittelbar die Idee eines nicht-vernünftigen (und doch) der Sprache fähigen Geschöpfs«, und zwar, nachdem ein Papagei, ersichtlich der parodistischen

103

»Oder nevermore mit seinen zwei kurzen verschlossenen Anfangssilben und dann dem dunklen strömenden more, in dem für uns das Moor aufklingt und la Mort, ist nicht nimmermehr – nevermore ist schöner.« (G. Benn: Probleme der Lyrik, in: ders.: Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, hrsg. von B. Hillebrand, Frankfurt a. M. 1989, S. 518)

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Konnotation wegen,104 auszuschließen war, die Idee des Raben105 »als ebensowohl sprachfähig, aber für die beabsichtigte Tonlage unendlich geeigneter«. Das im Refrain evozierte Verschwinden der Semantik in Syntax produziert sich selbst im Krächzen des »bird of ill omen«. Hier ist also Schritt für Schritt der Produktion der Semantik106 aus der Syntax zuzusehen. Die schwermütige Stimmung, deren Erzeugung, Aufrechterhaltung und Steigerung durch Wiederholung und semantische Variation eines Leitmotivs, die Zuordnung eines zweiten semantischen Moments zu diesem, eines nicht-menschlichen Lebens »von bösem Omen«, die Zuordnung eines dritten semantischen Moments – immer im Blick auf das Eine Ziel, den Effekt (»never losing sight of the object supremeness«): »Ich fragte mich: ›Was, von allen melancholischen Themen, ist nach allgemeinem Verständnis der Menschheit das melancholischste?‹ Tod – war die selbstverständliche Antwort.« Nun die Zuordnung des vierten semantischen Moments: dies melancholischste aller Themen ist das poetischste, wenn es sich der Schönheit verbindet – »der Tod, somit, einer schönen Frau ist, fraglos, das poetischste Thema der Welt«, womit als fünftes semantisches Moment ebenso unzweifelhaft der Liebhaber hinzukommt, dem sie genommen wurde. Man möchte geradezu vom einem Ophelianismus des 19. Jahrhunderts sprechen und etwa meinen, Berlioz’ Erlebnis im Florentiner Dom sei eine genau nach Poes Anweisung gemodelte Fiktion; aber Berlioz war schöpferischer Zeitgenosse genug, die Authentizität dieses Erlebnisses selbst ins Werk zu setzen: »[…] jung! … jung! …tot! … Der Italiener, immer lächelnd, rief aus: ›E bella!‹ Und um mich ihre Züge besser bewundern zu lassen, hob er den Kopf der armen jungen schönen Toten, schob mit seiner schmutzigen Hand die Haare fort, die, wie aus Scham, nicht davon lassen wollten, diese Stirn und diese Wangen zu bedecken, auf denen noch eine unaussprechliche Grazie waltete, und ließ ihn roh auf das Holz zurückfallen. Die Halle klang wider vom Schlag (choc) … Ich glaubte, meine Brust würde zerspringen bei dieser ruchlosen und brutalen Resonanz … Nicht länger an mich haltend werfe mich auf die Knie, ergreife die Hand dieser profanierten Schönheit, bedecke sie mit sühnenden Küssen, Opfer einer der heftigsten Herzbeklemmungen, die 104

R.L. Stevensons »Cap’n Flint« wird ihrer 1883 spotten. In der deutschen Literatur wird W. Raabe von diesem semantischen Motiv in seiner 1888 erscheinenden Erzählung »Das Odfeld« vielschichtigen Gebrauch machen. 106 Die repräsentative Materialsammlung zur »romantischen« Semantik ist M. Praz: La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Florenz 31948 (11930), dt. Liebe Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, übs. von L. Rüdiger, München 1960. 105

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ich in meinem Leben verspürt habe. Der Florentiner lachte immer fort … / Aber plötzlich dachte ich an dies: was würde der Gatte sagen, könnte er diese keusche Hand, die ihm so teuer war, eben noch kalt, jetzt erwärmt von den Küssen eines unbekannten jungen Mannes sehen? hätte er in seinem empörten Erschrecken nicht Grund zu glauben, ich sei der heimliche Liebhaber seiner Frau, der, liebender und treuer als er, kommt, um auf diesem angebeteten Körper eine Shakespearsche Verzweiflung auszuhauchen? Klärt doch diesen Unglücklichen auf! … Aber hat er nicht die unermeßliche Folter eines solchen Irrtums zu erdulden verdient? … Lymphatischer Gatte! Läßt man sich aus seinen lebendigen Armen die Tote reißen, die man liebt! … / Addio! Addio! bella sposa abbandonata! ombra dolente! […] Almen colui [uno straniero] non ignora l’amore ostinato ne la religione della beltà. / Und ich entfernte mich ganz zerrüttet.«107 Die Religion der Schönheit in der Gestalt der Nekrophilie, ein notorischer Zug des 19. Jahrhunderts,108 ist gewiß einer Fülle von Motiven zuzuordnen, hier aber nach der Seite zu betrachten, nach der sie als semantisches Phänomen der Syntax der Reproduktion entspringt. Warum nimmt der Tod einer jungen Frau exemplarische Bedeutung an für die Selbstdarstellung der Poiesis, warum wird er zur Semantik selbst der ursprünglich-produktiven (»automatischen«) Syntax? Ist diese das nachmetaphysische Wesen des Menschen, dann ist sie sogleich der Begriff des menschlichen Lebens überhaupt, in der Gestalt der jungen Frau die unmittelbar angeschaute lebendige Produktivität, der Tod mithin deren irreversibles Verschwinden ins Bloß-noch-Produkt. Dieser völlige und völlig anschauliche Entzug des menschlichen Wesens ins bare Ding, seine Annihilierung, denn hier ist keine Reversibilität, keine re-flexio, ist das Entsetzliche. Es ist dies spurlose Verschwinden der Produktivität, das die Ware als Ware auszeichnet und das Baudelaire im Essay über den Wein jenem Bild ansieht, dessen Produzenten er als »Monstrum« entdecken wird. Die Schilderung ließ bereits eines seiner berühmtesten Gedichte, »Ein Aas«,109 assoziieren, das nun im Blick auf Poe deutlicher spricht: Erinnre dich des Dings, das wir sahen, meine Seele, An jenem lieblichen Sommermorgen: […]

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H. Berlioz: Mémoires, Paris 1969, ch. XLIII. W. Raabes Erzählung »Der Lar« (1889) gibt ein ironisch-scharfes Porträt des »Leichenphotographen«. 109 Une Charogne (FdM XXIX), nach dem Zeugnis von Prarond »vor Ende 1843« entstanden, also vor Baudelaires Entdeckung Poes. 108

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Die Beine in der Luft, wie eine lüsterne Frau, Kochend und giftschwitzend, Öffnete es gelassen und zynisch Seinen Bauch voller Ausdünstungen. […] Die Fliegen summten über diesem faulenden Bauch, […] Und diese Welt machte eine befremdliche Musik, […] Die Formen erloschen und waren nurmehr ein Traum, Eine Skizze, langsam hervortretend, Auf der vergessenen Leinwand, und die der Künstler vollendet Allein kraft der Erinnerung. […] Hinter den Felsen eine unruhige Hündin Betrachtete uns mit bösem Blick, […] – Und doch wirst du diesem Unrat gleichen, Dieser entsetzlichen Ansteckung, Stern meiner Augen, Sonne meiner Natur, Du, mein Engel und meine Leidenschaft! […] Dann, oh meine Schönheit! sag dem Ungeziefer, Das dich mit seinen Küssen auffressen wird, Daß ich bewahrt habe die Form und die göttliche Essenz Meiner zersetzten Liebe!110 Das ganze Gedicht steht unter dem Imperativ der Erinnerung. Die Geliebte wird anfangs aufgefordert, sich des entsetzlichen Gegenstands zu erinnern und ist sogleich selber erinnert als die Seele des Dichters, Korrelat, wie Poe sehen läßt, des »Effekts«. Die sorgfältig ins Werk gesetzte, dann aber chockhaft genannte Identität beider Seiten (comme une femme lubrique – une étrange musique) wird seinerseits vom Künstler erinnert, der sich darin als »vollkommner Chemiker« und »traurigster der

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Rappelez-vous l’objet que nous vîmes, mon âme, / Ce beau matin d’été si doux: […] // Les jambes en l’air, comme une femme lubrique, / Brûlante et suant les poisons, / Ouvrait d’une façon nonchalante et cynique / Son ventre plein d’exhalaisons. […] // Les mouches bourdonnaient sur ce ventre putride, […] // Et ce monde rendait une étrange musique, […] // Les formes s’effaçaient et n’étaient plus qu’un rêve, / Une ébauche lente à venir, / Sur la toile oubliée, et que l’artiste achève / Seulement par le souvenir. // Derrière les rochers une chienne inquiète / Nous regardait d’un oeil fâché, […] // – Et pourtant vous serez semblable à cette ordure, / A cette horrible infection, / Étoile de mes yeux, soleil de ma nature, / Vous, mon ange et ma passion! // […] Alors, ô ma beauté! dites à la vermine / Qui vous mangera de baisers, / Que j’ai gardé la forme et l’essence divine / De mes amours décomposés!

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Alchemisten« erweist – vom ersten Wort an wird das Ding, Objekt hündischer Begierde, auf die Ware a priori »zynisch« bezogen, gedacht in der Dimension des Schmerzes, Risses. Der Chemismus der Produktion kommt abermals doppelsinnig zu Wort: Die Sonne schien über dieser Verwesung Wie um sie recht zu kochen, Und hundertfach der großen Natur wiederzugeben, All das, was diese zusammengefügt hatte. […] […], Sonne meiner Natur, / Du […]111 Die hier kurz als Nekrophilie apostrophierte Beziehung der Produktivität auf das Tote gehört insofern noch ganz dem 19. Jahrhundert an, als sie einen Stand der Produktionsmittel spiegelt, der, wie bei Marx, legitimerweise, und sei es als Erinnerung, noch an der »Natur« als an der natürlichen Produktivität festhalten ließ. Im 20. Jahrhundert wird die Leiche dann ihre romantischen Konnotationen verloren haben und zur Tages-Ordnung gehören. Jedenfalls vermag der Terminus zu beleuchten, wie genau Poes Aperçu, der Tod einer schönen Frau sei »fraglos« das poetischste Thema der Welt, einen geschichtlichen Ort beschreibt und was für eine Schönheit gemeint ist. Das Korrelat, das er als nächstes bedenkt, ist der »verwaiste Liebhaber«. Nervals berühmtestes Sonett beginnt: »Ich bin der Dunkle,112 – der Witwer, – der Ungetröstete«.113 Auch dies ist ein Topos des 19. Jahrhunderts, um nur noch an Byrons Childe Harold zu erinnern, der »Had sigh’d to many though he loved but one, / And that loved one, alas! could ne’er be his«,114 an seinen Manfred, an Schuberts Müller der »Schönen Müllerin« und den Wanderer der »Winterreise«. Auf dieser Seite kommt nunmehr der »Effekt der Variation der Anwendung« zum Tragen, indem die Fragen des Liebhabers in einer Reihe geordnet werden, die von einer ersten »alltäglichen« bis zur Klimax des Deliriums 111

Le soleil rayonnait sur cette pourriture, / Comme afin de la cuire à point, / Et de rendre au centuple à la grande Nature / Tout ce qu’ensemble elle avait joint; // […] soleil da ma nature, / Vous […]. 112 Noch Heidegger wird sich, über Heraklits altes Epitheton ho Skoteinos, im letzten Aufsatz der Vorträge und Aufsätze, »Aletheia«, als »der Dunkle« bestimmen und die Sammlung mit den Worten abschließen: »Heraklit heißt ho Skoteinos. Er wird diesen Namen auch künftig behalten. Er ist der Dunkle, weil er fragend in die Lichtung denkt.« (Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 282). Adorno überträgt den Titel dann auf Hegel: »Skoteinos oder Wie zu lesen sei«, in: Drei Studien zu Hegel, GS 5, S. 326–380. 113 G. de Nerval: El Desdichado: »Je suis le ténébreux, – le veuf, – l’inconsolé«. 114 I.5.

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reicht: »[…] bis endlich der Liebhaber, aus seiner ursprünglichen Gleichgültigkeit (nonchalance) aufgeschreckt durch den melancholischen Charakter des Wortes selbst – durch seine häufige Wiederholung – und aufmerksam geworden auf den ominösen Ruf, in dem das gefiederte Wesen steht, das es äußerte –, endlich bis zum Aberglauben getrieben wird und wild Fragen eines ganz andern Charakters stellt – Fragen, deren Antwort ihm leidenschaftlich am Herzen liegt – die er halb abergläubisch, halb in der Art von Verzweiflung stellt, die ihre Lust hat an Selbstquälerei – nicht geradezu, weil er an den prophetischen oder dämonischen Charakter des Vogels glaubt (der, versichert ihm die Vernunft, bloß eine auswendig gelernte Lektion wiederholt), sondern weil er eine wahnsinnige Lust verspürt, die Fragen so zu formulieren, daß er aus dem erwarteten »Nevermore« die genußreichste, weil unerträglichste Pein (sorrow) saugen kann.« Der Sadismus bzw., da untrennbar, Sadomasochismus gehört, wie Praz’ Buch115 breit belegt, zur Signatur des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls stammen die Termini daher, und es ist immer möglich und nützlich, ein geschichtliches Problem an den trüben Rändern zu studieren, wo es in Perversion umschlägt, wie die ästhetische Nekrophilie, die eine Gestalt der Erinnerung ist, an der aktenkundigen wirklichen. Die Schwierigkeit, und auch dies demonstriert Praz’ Buch, liegt dann freilich darin, durch die gespeicherten Indizien zurückzufinden in das motivierende Problem. Daß der arme Poe dies und das gewesen sei, durch Veranlagung und/oder unglückliche soziale Umstände, ist durch und durch uninteressant – auch wir sind dies und das und hätten daran ein näheres Studienobjekt –, wäre der »Fall Poe« nicht exemplarisch. In ihm spricht sich eine geschichtliche Konstellation unsrer eignen Gegenwart aus. Wie die Nekrophilie ist also auch der ostentative Sadomasochismus nur nach der Seite zu betrachten, wonach er als semantisches Phänomen der Syntax der Reproduktion entspringt. Steht die tote Geliebte im Produkt semantisch für dieses, dann steht der beraubte Liebhaber semantisch für den Produzenten. Woher also die »delights in self-torture«, und zwar in einer Steigerungsreihe, die, bemerkt der Dichter, »mir aufgenötigt wurde im Fortgang der Konstruktion«? Die Produktion erlischt im Bloß-noch-Produkt – das ist die äußerste Abbreviatur für das Dazwischentreten der maschinellen Produktion, welches Produkt und Produzenten so einander entfremdet, daß dieser sich nicht nur des Produkts, sondern noch der Produktion selbst enteignet findet. Da die Produktion aber sein Wesen ist, tritt er sich selber als der Andere gegenüber: der Gott-Mensch sich selber in Knechtsgestalt. Das ursprüngliche Verhält115

Vgl. o. Anm. 106.

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nis dazu ist das Mitleiden, wie es zuerst, vom empfindsamen Mitleiden des 18. Jahrhunderts wohl zu unterscheiden, das vierte Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« lehrt. Insofern der leidende Andere, Feuerbachs ursprüngliches Du, aber ebenso notwendig der auf ihn intentional bezogene, mit ihm Leidende selbst ist, ist die Wahrheit, nämlich das geschichtlich entfaltete Wesen des Schopenhauerschen Mitleids, das Selbstmitleid. Noch im Entzug der Produktion genießt der Produzent sich selbst. Möglich ist dies allein so, daß er, als Produzent, diesen Entzug – auch das zeigt Poes Steigerungsreihe exemplarisch – ursprünglich sich zuschreibt. D. h. er ist nicht nur der, der mit sich selbst Mitleid hat, sondern der das Motiv seines mit sich Leidens produziert (Nietzsches Einwand): er macht sich leiden und hat seine Lust daran, Ursache dieses Leidens zu sein (das, wohlgemerkt, kein anderes ist als der Entzug der Produktion ins und als Produkt). Damit tut sich der geschichtliche Ort des ursprünglichen Nietzscheschen Memento auf. Das Mitleid ist ein defizienter Modus des Selbstmitleids wie der Sadismus ein defizienter Modus des Masochismus, weil das produktive Menschenwesen ursprünglich sich seiner selbst enteignet (der Umschlag des Blicks des Lebens in den der Meduse), indem es an sich als Produkt festhält oder, in der Heideggerschen Wendung, das Sein selbst als Seiendes setzt. Mit dem der Nekrophilie korrelierten Masochismus ist die Selbstabbildung des Produkts vollständig: er beschreibt die produktive Übernahme des Entzugs der Produktion in das Produkt durch den Produzenten. Die entwickelnde Variation des Leitmotivs – Poe erinnert nochmals an die drei Momente der melancholischen Stimmung, der Wiederholung und der nicht-menschlichen Herkunft – kulminiert in einer »wahnsinnigen Lust« am Fetischcharakter oder der Aura des verdinglichten Lebens. Denn was die Variation Schritt für Schritt erzeugt, ist eine Art von Aberglauben, der den Masochismus allererst vervollständigt, dessen Natur Poe aber nur andeutet. Er besteht nämlich nicht geradezu (not altogether) darin, daß der Liebhaber »an den prophetischen oder dämonischen Charakter des Vogels glaubt (der, versichert ihm die Vernunft, bloß eine auswendig gelernte Lektion wiederholt)«, sondern ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das erwartete »Nevermore« als Antwort auf die je schon im Blick darauf gestellte Frage das Maximum masochistischer Befriedigung liefert, die Lust am Unerträglichen (the utmost conceivable amount of sorrow and despair). Erstmals Poe, wird Adorno schreiben, habe »das Grauen des Augenblicks von Entzauberung als Zauber« zitiert.116 116

ÄTh, S. 443.

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Dieser Aberglaube, der unmittelbar nichts ist als die semantisch optimale Einstellung des Rezipienten auf den reproduktiven Charakter des Produkts zum Zweck der durch die Reproduktion selbst ermöglichten ursprünglichen Selbstbestimmung des Schmerzes, nämlich Argument zu sein ohne Funktion, ist seiner (produktiven) Rationalität sehr wohl inne, ist also simulierter Aberglaube, die eigens ergriffene Möglichkeit der existenziellen Selbsttäuschung oder das, was Kierkegaard im Blick auf das religiöse Paradoxon die »akustische Täuschung« (im Umschlag des Paradoxons in das Ärgernis) nennt. Hier erreicht Poes Analyse, nachdem sie die ethische Dimension seines ästhetischen Orts eröffnet hat, das Eschaton des religiösen Stadiums als die Peripetie der Philosophie der Komposition: »Hier also, kann man sagen, nimmt das Gedicht seinen Anfang.« Denn der Übergang ins religiöse Stadium verließe das ästhetische ein für allemal, indem das Entweder – Oder des Denkens des 19. Jahrhunderts, anders als der frühe Kierkegaard insinuiert, nicht zwischen ästhetischem und ethischem, sondern (utopisch) zwischen ethischem und religiösem Stadium liegt. Der Übergang geschähe darin, daß der Mensch in seinem Wesen vom Produkt als dem seinen abließe und seine Gegenwart nicht länger als die der im Ding entzogenen Produktion, sondern als solche, als einfache Gegenwart empfinge. Genau dies aber, wird die weitere Geschichte zeigen, vereitelt jeweils die solcher Metanoia und Umkehr folgende Verwandlung des Dings. Daß die Umkehr zu geschehen habe, lehrt das ursprüngliche Denken von Anfang an: Schopenhauers Abkehr vom Schleier der Maja, Feuerbachs Abkehr von den religiösen Vorstellungen, Kierkegaards Abkehr vom ästhetischen Stadium usw.; aber wie sie ins Werk zu setzen sei, wird die paradoxe Geschichte dieses anti-geschichtlichen Denkens konstellieren. Hier nun zitiert Poe die Strophe, in der der Rabe dem Liebhaber zuspricht, er werde seine Beatrice (within the distant Aidenn, […] a sainted maiden […] a rare and radiant maiden) »nimmermehr« wiedersehen. Das ist der im poetischen Schmerz vollzogene Feuerbachsche Abschied von der traditionellen Religion der Hoffnung, womit die andere Grenze der Selbstabbildung der poetischen Syntax erreicht ist. Die Semantik macht sich selbst zunichte. Ihr letztes Signifikat ist das Nicht-Signifikat schlechthin, das Nichts, Schopenhauers Nirwana. Und eben darum kann Poe hier in die Exposition der poetischen Komposition als solcher zurückkehren. Die Sequenz der Semantisierung entsprang einer Analyse der produktiven Möglichkeiten des Refrains, die bisher unentwickelt geblieben waren. Das gleiche gilt für die Strophe im ganzen: »Zugegeben, daß die Möglichkeit von Veränderung (variety) im bloßen Rhythmus gering ist,

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ist doch klar, daß die möglichen Veränderungen des Metrums und der Strophe absolut unendlich sind117 – und doch hat jahrhundertelang im Versbau (in verse) niemand etwas Originelles gemacht oder, scheint es, auch nur daran gedacht« (eine Behauptung, die Poe eigens hervorhebt). Dies ist offenbar eine Folge der schon eingangs getadelten alten Vorstellung von der Inspiration, denn »Originalität (außer bei Gemütern von sehr ungewöhnlicher Kraft) ist keineswegs eine Angelegenheit, wie manche annehmen, von Impuls oder Intuition. Um gefunden zu werden, muß sie im allgemeinen umständlich gesucht werden, und fordert, obwohl ein positiver Wert der höchsten Art, zu ihrer Erlangung weniger Erfindung als Negation« – ein Verfahren, das Husserl iterierende Modifikation bzw. eidetische Variation, Wittgenstein sukzessive Verneinung nennen wird und das geschichtlich als Operationalisierung der Hegelschen Methode aufzufassen ist. Poe läßt es mit der Kombinatorik der Strophe bewenden, aber die Philosophie der Komposition kann im ganzen als eine Philosophie der poetischen Kombinatorik gelesen werden: das Metrum jeder der Gedichtzeilen, »für sich genommen, ist bereits verwendet worden, und was dem ›Raven‹ an Originalität zukommt, liegt in ihrer Kombination zur Strophe; nichts auch nur entfernt dieser Kombination sich Näherndes ist jemals versucht worden« – noch einmal der eingelöste Imperativ des Neuen. Die Überlegungen zum Refrain folgten aus denen zur Einheit des Eindrucks, die ihrerseits aus der übergreifenden neuen Einheit des Effekts abgeleitet war. Im ersten Teil des Essays war die Einheit des Eindrucks auf die Syntax des Textes hin entwickelt worden; jetzt nimmt Poe sich ihrer an im Vorblick auf den Leser. Die Szenerie (locale), die die Semantik des Gedichts selber semantisch versammelt, muß eine »unbestreitbare moralische Kraft« haben, »die Aufmerksamkeit konzentriert zu halten«. Indem die metaphysische Einheit des Orts ihren Grund in der Einheit der Handlung hatte, kann Poe davor warnen, die neue Einheit der Szenerie mit der klassischen des Orts zu verwechseln: eine »enge Umgrenzung des Raums ist absolut notwendig für den Effekt einer isolierten Begebenheit: – sie hat die Kraft eines Rahmens für das Bild«, gibt dem Text auch semantisch Dingcharakter. Ein Korollar ist die Forderung, den Raum »reich eingerichtet« darzustellen, und Poe hat ja auch eine Philosophie der Einrichtung (Philosophy of Furniture) geschrieben, frühes Beispiel eines Lieblingsthemas118 des 19. wie der er117

Eine vergleichbare Beobachtung wird Wagner zum Konzept der unendlichen Melodie führen. 118 Zu Des Esseintes’ exemplarisch warenversammelnder Einrichtung in J.-K. Huysmans’ »A rebours« (1884) gehört sogar eine Riesenschildkröte, die den von ihr gemachten Gebrauch bezeichnenderweise nicht übersteht.

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sten Hälfte des 20. Jahrhunderts:119 »Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung«,120 nach der Seite des Wohnens als Mobiliar.121 Mit der neuen Szenerie, schon hier vom Charakter des Tatorts (um nur an die »Morde in der Rue Morgue« zu erinnern), hat Heideggers »Ort« sehr viel mehr zu tun als mit dem metaphysischen topos. Denn dieser nachmetaphysische Ort ist als Ort-der-Erinnerung die elementare Versammlung von Spuren, als gesellschaftliche Einrichtung daher ebensowohl Ausstellungsraum, Laboratorium, Museum und Andachtsstätte, dies alles von Poe schlagend symbolisiert in der Büste der Pallas Athene. Der Vogel habe die Büste, schreibt er, »absolut suggeriert« des Kontrasteffekts zwischen Marmor und Gefieder wegen: der Text von »Nevermore« emblematisch schwarz auf weiß. Daß es näher eine Büste der Pallas ist, wird ebenfalls nicht nur semantisch begründet. Als Signifikat paßt sie am besten zur Gelehrtheit des Liebhabers, während der sonore Klang des Worts selbst kontrastierend den Leitklang stützt. Überhaupt hat der Kontrast die Aufgabe, das Werk in sich abzuschließen, dinghaft zu machen, weshalb, dem schwarzen Humor sich nähernd, von dem Poe auch sonst vorzügliche Beispiele gibt, ein Anklang des Komischen nicht fehlen darf, nach Kierkegaard das Confinium des religiösen Stadiums: »Auch ungefähr in der Mitte des Gedichts habe ich mich der Kraft des Kontrasts bedient im Blick darauf, den abschließenden Eindruck zu vertiefen. Z. B. ist dem Auftritt des Raben ein Hauch des Phantastischen – dem Komischen (ludicrous) so nahe wie zulässig – verliehen.« Ein unmittelbar aus der Forderung der Ungewohntheit und Lebhaftigkeit des Effekts zu ziehender Kontrast ist der zwischen der Begebenheit als Verlauf und dem Wissen des Lesers: »Der Gedanke, den Liebhaber zunächst glauben zu machen, das Flügelschlagen des Vogels gegen den Fensterladen sei ein ›Klopfen‹ an der Tür, entsprang dem Wunsch, die Neugier des Lesers durch Hinauszögern zu vergrößern«. Spannung ist das Wesen der Erzählung vom Kampf gegen die Zeit,122 den bereits Poes Verwendung des Refrains angezeigt hatte. Wie die umschriebene

119

Vgl. noch die Geschichte der Hanna Wendling in Hermann Brochs »1918. Huguenau oder die Sachlichkeit« (1931/1932). 120 MEW 23, S. 49. 121 Frühes Großbeispiel in der deutschen Literatur ist Stifters »Nachsommer«. 122 Daher eine ästhetische Kategorie erst des 19. Jahrhunderts. Hermann Pauls Deutsches Wörterbuch, Tübingen 91992, gibt als frühesten Beleg Hauff; bei Adorno begegnet die Wendung: »Ein bedeutender Spannungsroman« (ÄTh S. 129). Spannung ist jedenfalls ökonomische conditio sine qua non des (serialisierten) Zeitungs- oder Kolportageromans.

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Szenerie dient sie dazu, die Aufmerksamkeit des Rezipienten »konzentriert zu halten« und verlangt darum auch nach dessen Identifikation mit dem Helden. Wenn dieser also mit der zehnten Strophe »überhaupt nichts Phantastisches mehr im Verhalten des Raben sieht«, kann Poe bemerken: »Diese Umkehr (revolution) des Denkens oder der Einbildung auf Seiten des Liebhabers beabsichtigt eine entsprechende auf Seiten des Lesers anzuregen (induce) – das Gemüt in die rechte Verfassung für das dénouement zu bringen – das nun so schnell und so direkt wie möglich herbeigeführt wird.« Die letzte Absicht der Einheit des Effekts ist die, den Rezipienten im Produkt sich selber – sein Leben, seine Lebenszeit – gegenständlich werden oder, im Blick auf den Warencharakter des Produkts, dessen Selbstabbildung als die des Rezipienten erscheinen zu lassen. Hier tut das Produkt, was es ist: die Selbstentfremdung des Rezipienten (als des virtuellen Produzenten), die freilich beim Kunstwerk eben dadurch wieder aufgehoben wird, daß es die Wahrheit der Ware ist und nicht länger, wie noch das metaphysische Kunstwerk, die Wahrheit der Natur. Anders als die Ware muß es daher genau das, was diese verdrängt, den Schmerz des Risses zwischen Produkt und Produzent zum Vorschein bringen, und beides zusammen, Ware zu sein und zugleich als Ware sich zu verneinen, ist der Effekt, auf den Poes Philosophie der Komposition es abgesehen hat. So kommt er zuletzt auf das vom Kunstwerk zu vollbringende reine Gegen-Über zu sprechen. Bis zum Dénouement nämlich, dem ›Unwiederbringlich‹ des Raben in der drittletzten Strophe, ist alles so eingerichtet, daß es ›mit rechten Dingen‹ zugeht. In der äußersten Befriedigung des »menschlichen Dursts nach Selbstquälerei« hat »die Erzählung in dem, was ich ihre erste oder offenkundige (obvious) Phase genannt habe, einen natürlichen Schluß, und bis dahin wurden die Grenzen des Realen nicht überschritten«, das Poe zuvor ineins gesetzt hatte mit dem Belegbaren (accountable). Aber eben diese für die Ware als solche charakteristische Akkomodation an die inventarisierbare Wirklichkeit »schreckt das künstlerische Auge ab« wie das Produkt des »Monstrums« in Baudelaires Essay über den Wein: »Zwei Dinge sind unabänderlich erfordert – erstlich ein gewisser Grad an Komplexität, oder genauer: Adaptation; und zweitens ein gewisser Grad an Suggestivität – eine gewisse, wie immer unbestimmte Unterströmung von Bedeutung. Diese letztere insonderheit verleiht dem Kunstwerk so viel von seinem Reichtum […], den wir nur allzu gern mit dem Ideal verwechseln.« Der Komplexitäts- oder Adaptationsgrad verflicht das Produkt mit der zeitgenössischen Wirklichkeit als der »Realität«. Sowenig wie die Ware kann das Kunstding hinter der gesellschaftlichen, und d. h. zu-

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gleich psychischen Komplexität industrieller Produktion zurückbleiben, es muß, genau wie seine Szenerie, »reich eingerichtet« sein. Dadurch allein schon erhält es (im doppelten Sinn des Worts) Bedeutung, deren literarische Ausstellung Poe hier, an die Adresse der Transzendentalisten gerichtet,123 ebenso geißelt wie die bürgerliche in der »Philosophie der Einrichtung«. Was ein literarisches Kunstwerk sogleich zur Prosa plattester Art macht, ist diese, möchte man Poe im Blick auf Marx ergänzen, ungeheure Bedeutungsansammlung, der Mehrwert gleichsam an produziertem Sinn, der dessen wirklichen Mangel in der Ware und Warenwelt überblenden soll, die »Oberströmung«, sagt Poe, »anstatt der Unterströmung des Themas«. Diese Unterströmung, in deren Sog der Leser, ohne sich dessen bewußt sein zu sollen, von Anfang an gerät,124 tritt erst in den letzten beiden Strophen an die Oberfläche, »so daß ihre Suggestivität dazu angetan ist, die ganze Erzählung, die ihnen vorausgeht, zu durchdringen«, und der Leser den »Raven« als emblematisch zu betrachten beginnt; »aber erst in der allerletzten Zeile der allerletzten Strophe darf sich die Absicht deutlich zu erkennen geben, ihn zum Emblem trauernder und nicht-endender Erinnerung zu machen«. Die Zeile lautet: »And my soul from out that shadow [im Essay hervorgehoben] that lies floating on the floor / Shall be lifted – nevermore.« Deutlich wird nach allem, daß der Text der »Philosophie der Komposition« zugleich sich selber beschreibt in der Beschreibung eines sich selber beschreibenden Gedichts. Denn in den letzten beiden Versen (die Poe als eine Zeile rechnet) beschreibt das Gedicht in der Tat vollkommen sich selber, insofern die erste Stufe der Semantisierung seiner Syntax der Refrain war, der in der zweiten Stufe zum Raben wurde, in der dritten zum Tod. Der »flutende Schatten« ist der des Todes, als des Raben, als des Nevermore, als der reinen Gestimmtheit des Kunstwerks, die auf die Logik der Produktion hin gedacht der Schmerz des Risses ist, der Spur der Spur, oder mit einer Formel, die der rechnende Poe zweifellos nicht abgelehnt hätte: nicht ScP,125 sondern (S)-(cP) – nämlich f(S) –, aber so, daß das Gedicht sich nicht zum f=cP oder Ding als simulierter

123

Ihre Zeitschrift hieß bezeichnenderweise »The Dial« (1840–1844). So Titel und Anfang: THE RAVEN // Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary, / Over many a quaint and curious volume of forgotten lore – / While I nodded, nearly napping […] Die Kunst der stimmungsproduzierenden Alliteration hätte Wagner auch hier lernen können. Am 9. November 1882 notiert Cosima Wagner in Venedig: »Bei der Heimfahrt sagt er mir, er habe eine völlige Sehnsucht, etwas von Edgar Poe wieder zu lesen, und gedenkt der Geschichte des Fl. Holländer. Er stellt sich die Imagination der Amerikaner vor […].« 125 Vgl. o. Anm. 20. 124

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Existenz verschließt, sondern als der Gedankenstrich zwischen (S) und f verhält, in der Eröffnung dessen, was Kierkegaard das religiöse Stadium nennt, »emblematical of Mournful and Neverending Remembrance«. Es ist die Erinnerung in die Syntax selbst der Simulation.

II. Simulierte Utopie. Die Logik der Produktion in Richard Wagners »Beethoven«

Der Deutschthümelei muß man keine Koncessionen machen.126

Das despotische Kunstwerk Seiner Musik, schrieb Baudelaire an Wagner am 17. Februar 1860, verdanke er den größten musikalischen Genuß, der ihm jemals geworden sei. Frucht dieses Genusses mehr als der Verbitterung über die Intrigen und Skandale anläßlich der Pariser Tannhäuser-Aufführungen im März 1861 ist Baudelaires schon am 1. April desselben Jahrs erschienener Essay »Richard Wagner et Tannhäuser à Paris«, auch er eine moderne Ästhetik, die darauf aufmerksam macht, warum Wagners Musik an der Zeit war: »Wenn man diese glühend-despotische Musik hört, scheint es zuweilen, als begegne man wieder – auf dunklen, von der Träumerei aufgerissnen Grund gemalt – den schwindelnden Entwürfen des Opiums.« Als ob »die Barbarei im Drama der Liebe immer Platz finden und der Fleischesgenuß kraft einer unerbittlich-satanischen Logik auf die Entzückungen des Verbrechens führen müsse«, entdeckt Baudelaire in der Venusbergmusik »das Überschäumen einer energischen Natur, die alle der Kultur des Guten geschuldeten Kräfte in das Übel fließen läßt«. Dies sei, bemerkt er, »die zügellose, unmäßige, chaotische Liebe, erhoben bis zur Höhe einer Gegen-Religion, einer satanischen Religion«. Baudelaires Essay beschreibt den von Poe geforderten »Effekt« als kurzzeitige Absence oder Erhebung (élévation) der »Seele«, denn: »In der Musik wie in der Malerei und selbst im geschriebnen Wort, das indessen die positivste der Künste ist, gibt es immer einen von der Einbildungskraft des Hörers gefüllten Zwischenraum (lacune)«. Was die Einbildungskraft hier leistet, bringt Baudelaire in den Phantasien zum Vorschein, die das Lohengrin-Vorspiel beim Komponisten, bei Liszt und bei ihm selber angeregt hat. Als das diesen »Übersetzungen« Gemeinsame findet er »das Gefühl der spirituellen und physischen Seligkeit; der Isolierung; der Kontemplation von etwas unendlich Großem und unendlich Schönem; eines intensiven Lichts, das die Augen erfreut und die Seele bis zur Ohnmacht; und schließlich das Gefühl des bis zu den letzten vor126

Schopenhauer, Grundlage der Moral, § 14 Anm.

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stellbaren Grenzen erweiterten Raums«, jenen Geschmack für das Unendliche also, den »Les paradis artificiels« preisen und der, übersetzt aus der frühromantischen Religiosität Schleiermachers, nunmehr als der ästhetische Effekt der Ortlosigkeit der allenthalben fühlbar gewordenen technischen Produktion zu entziffern ist. Deutlich wird in Baudelaires Essay, daß die trotz aller Innovationen seit Bellini, Donizetti, Meyerbeer, Berlioz und Verdi nach Syntax wie Semantik noch immer nicht vollständig von der Tradition gelöste und so in gewisser Weise das Pendant zur Malerei der Salons bildende Oper dem Bann derjenigen modernen Grundbefindlichkeit verfallen war, die philosophisch zuerst Schopenhauer als das Supplement des existenziellen Schmerzes diagnostiziert hatte: der Langenweile. Am Ende des 20. Jahrhunderts mag auch das Wagnersche Kunstwerk, unbemerkt von seinen Konsumenten, Patina angesetzt haben und, seine zuletzt nur den Fachleuten zugängliche Technizität ausgenommen, kaum weniger langweilig geworden sein als die Szenarios der klassischen Psychoanalyse. In seiner Geburtsstunde war notwendigerweise das Gegenteil der Fall. »Diese Musik«, schreibt Baudelaire, »drückt mit der süßesten oder der schrillsten Stimme alles Verborgenste im Menschenherz aus«, und so ist Wagner »kraft der leidenschaftlichen Energie seines Ausdrucks gegenwärtig der wahrste Repräsentant der modernen Natur. […] Was ganz sicher ist, ist dies, daß seine Doktrin dazu angetan ist, alle geistreichen Köpfe zu versammeln, die seit langem die Irrtümer der Opéra über haben«. Kurzum: »Wagners Oper ist ein ernsthaftes Werk, das beständige Aufmerksamkeit verlangt«, ein unerhörter Anspruch nicht nur für das europäische, geschweige Pariser Opernpublikum überhaupt, sondern auch im Licht der Poeschen Philosophie der Komposition, die soeben noch eingeschärft hatte, daß »alle intensiven Erregungen aus psychischer Notwendigkeit kurz sind« – daß der gesuchte Effekt durch ein längeres Werk nur intermittierend zu erreichen sei. Auf die zeitgenössische Oper gesehen war es der junge Verdi, der das lyrisch Ausladende der Bellini-Donizettischen Produktionen zurückgenommen und der musikalischen Zeit eine bislang nicht erreichte Kompression hatte angedeihen lassen. Denn seit Schubert experimentiert die Musik mit der Zeit als der Matrix der musikalischen Syntax, also eigentlich mit der in Protention und Retention auseinandergelegten Intensität der von Poe geforderten Erregung (ein Erbe, das im 20. Jahrhundert der Film antreten wird). Auch Wagner scheint in seinem ersten charakteristischen Werk, dem Fliegenden Holländer, diesen Weg der Zeit-Raffung einschlagen zu wollen, geht danach freilich immer entschiedener den umgekehrten der äußerst-möglichen Zeit-Dehnung. Gurnemanz’ Worte aus dem Parsifal: »Du siehst, mein Sohn, / Zum Raum

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wird hier die Zeit«,127 bezeichnen genau diesen Effekt temporaler EntOrtung, der das von Baudelaire gepriesene Gefühl der Schwebens hervorruft: »Ich fühlte mich befreit von den Fesseln der Schwere«. Zwar erläutert Baudelaire nicht, warum er mehr als einmal Wagners Musik »despotisch« nennt, aber es duldet keinen Zweifel, daß dieser Despotismus eben der Ernst des Wagnerschen Kunstwerks ist, der genau darin besteht, daß es »eine beständige Aufmerksamkeit verlangt«; denn im von Poe favorisierten kurzen Kunstwerk – und auch alle Werke Baudelaires sind kurz – macht das Leben Ernst mit der Kunst, aber jetzt, und in Wagners Kunst zum erstenmal, macht die Kunst Ernst mit dem Leben, d. h. sie wird selber Religion und duldet keine andre Religion mehr neben sich. Die Religion nämlich ist das ursprüngliche Verhältnis der Menschen zur Zeit, und wenn die Metaphysik die Zeit immer, am deutlichsten ablesbar an der klassischen griechischen Philosophie, namentlich in Platons Timaios und Aristoteles’ Physik, als Bestimmtheit der Bewegung gedacht hatte, wird sie mit der von Hegels Phänomenologie des Geistes erbrachten Aufhebung der metaphysischen Semantik in die reine Syntax der Wissenschaft der Logik dieser Botmäßigkeit zugleich entbunden und mittelbar, nämlich durch die Mitte des absoluten Geistes, dem Wesen des Menschen selbst überantwortet. Dem Wesen des Menschen und eben darum nicht der Herrschaft des Menschen, über den sie in verwandelter Gestalt, als die in der neuen technischen Produktion aus den handwerklichen oder Natur-Verhältnissen sich freisetzende Lebenszeit – mit Schopenhauer: »Schmerz und Langeweile« – grimmige Gewalt zu üben beginnt. In gewisser Weise ist Heideggers Bestimmung des »vulgären« als des von Aristoteles über Hegel bis in die Gegenwart sich durchhaltenden, weil die Zeit vorstellenden Zeitbegriffs in ihrem Recht, denn in der Tat ist die metaphysisch gedachte Zeit, weil an die Bewegung geknüpft, vorgestellte Zeit. Nur konnte Heidegger zweierlei noch nicht sehen: 1) daß die Zeit von Hegel – und zwar konsequenterweise nicht in der Naturphilosophie (indem die Natur eben das unmittelbare sich sich selbst Vorstellen des absoluten Geistes ist), sondern in der Wissenschaft der Logik – ihrem Vorgestelltsein entzogen wird, und 2) daß das zeitgenössische Vorstellen selbst als der intentionale Akt, als den Heidegger es allemal denkt, radikal verschieden ist von jenem Vorstellen, mit dem die europäische Philosophie beginnt und das in der Wissenschaft der Logik irreversibel in seine eigne Syntax zurückgeht. Dies Vorstellen nämlich ist als nicht intentionaler, sondern reflexiver Vollzug wesentlich religiöser 127

Vv. 325 f.

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Natur, das Vor-sich-bringen des menschlichen Seins-für-das-Göttliche, wie auch der alte Name für das Tun der Philosophie, εωρα, zuerst den kultischen Festzug und die heilige Gesandtschaft (zu Orakeln), sodann (ein Sinn, der noch im deutschen Wort »Vorstellung« liegt) die Anwesenheit bei den Spielen und Theateraufführungen zu Ehren des Gottes meint. Noch der Schelling der Philosophie der Offenbarung hält genau in diesem Sinn ausdrücklich, und gegen Hegel, am vorstellenden Charakter der Philosophie fest und bindet so die Zeit selbst an das »absolut Vorgestellte« als das »allem Denken zuvorkommende Seyn«.128 War es Hegel, der die Zeit logisch »absolviert« hatte, dann hatte Feuerbach die Religion selbst aus der metaphysischen Vorstellung gelöst und mit dem syntaktischen Wesen des Menschen identifiziert. Das war nicht zurückzunehmen, insofern sie dessen Verhältnis zur Zeit, die Zeit aber als nicht länger vorgestellte das Offene, und dies Offene als »das Unbekannte« (Kierkegaard) die Bestimmung des menschlichen Wesens als Produktivität ist. Statt der alten Religion hatte Kierkegaards Versuch der Rettung des Christentums aus seinem intentionalen Vorgestelltsein im nunmehr »historischen« Bewußtsein eine Existenzweise, das »religiöse Stadium« zu denken, dessen Gott, das entzogene Du Feuerbachs als das ursprüngliche »Dichten« (Produzieren) von Welt, mit der Wahrheit, d. h. der Rechtfertigung oder Erfüllung der Existenz, zugleich die Bedingung ihres Empfangens gäbe. Es ist dies paradoxe Ereignis der »Erlösung«, das von Wagner wieder vorgestellt, aber eben auf nicht länger metaphysische, sondern auf moderne Weise vorgestellt, d. h. technisch produziert wird. Das Produkt ist das Ding als Kunstwerk, das anders als in Poes Philosophie der Komposition die Ware (das nachmetaphysische Ding) in der Dimension nicht nur des Schmerzes, sondern zugleich seiner Aufhebung ist. Dies prekäre Ding, das, zuletzt als »Bühnenweihfestspiel«, wie jedes authentische moderne Kunstwerk die Bestimmung hat, zugleich Ware zu sein und sich als Ware zu negieren, ist »despotisch« auch darin, daß es in dieser Negation seinen Warencharakter gleichsam potenziert wiederherstellt, insofern es wohl vom Welt-Schmerz »erlöst«, aber eben dinghaft, d. h. so vergessenmachend wie die unmittelbare Ware selbst, die sich nur den Umweg über den Schmerz erspart. Insofern ist es richtig zu sagen, daß mit dem Wagnerschen Kunstwerk die Kunstreligion der Moderne, die von Anfang an die Sucht und Suche nach der »Schönheit«, dem »Sublimen« usw. war, absolut wird, und das meint hier: das Wagnersche Kunstwerk ist die simulierte Uto128

F.W.J. Schelling: Sämmtliche Werke (SW), hrsg. von K.F.A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856–1861, Philosophie der Offenbarung, Bd. 13, S. 173.

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pie. Wenn Baudelaire also an die »schwindelerregenden Entwürfe« des Opium-Rauschs erinnert war, ist damit der Punkt erreicht, wo die Paradis artificiels nicht länger auf natürliche Weise, durch eine Droge, sondern technisch, durch Produktion eines das Wesen des Menschen selbst erfassenden, daher notwendig weltanschaulichen Dings, des GesamtKunstwerks erzeugt werden – ein geschichtlicher Ort, den Baudelaire wohl erkannt und gewürdigt hat, in den er aber selber nicht eingetreten ist. Mit Wagners despotischem Kunstwerk also wird es Ernst mit der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, und genau an diese Baudelairesche Einsicht kann zehn Jahre später Nietzsche anknüpfen im Vorwort an Richard Wagner, das er seiner »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« voranschickt. »Sie werden sich dabei erinnern«, schreibt er, »dass ich zu gleicher Zeit, als Ihre herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu diesen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und aesthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten: denen möchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird.« Von jenen »Erhabenheiten« wird nicht mehr die Rede sein, sobald Nietzsche erkannt hatte, was für ein Bewenden es eigentlich mit dem »Reich« haben sollte und daß auch Wagners Kunstwerk alles andre war als bloß ein deutsches Problem. Schon für Baudelaire war es ja ein europäisches Ereignis gewesen, und erst mit der Abwendung von Wagner wird Nietzsches Denken die Höhe der modernen Problemlage Baudelaires erreichen. Aber hier schon ist er darin mit ihm einig, daß die Zeit der Schiller fortzitierenden Trennung von Lebens-Ernst und Kunst-Spiel abgelaufen ist, und indem er hofft, daß diejenigen, die solcher Trennung noch anhängen, angesichts seines Problems erstaunen, markiert der Altphilologe deutlich genug einen neuen Anfang der Philosophie. »Wirbel und Wendepunkt« sei dies Problem,129 δνος (δνη) κα1 περιπ&τεια, seine Welt-bildend tragische Kraft andeutend; denn der Wirbel war kosmogonisches Prinzip in der frühen griechischen Philosophie, deren »tragi-

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Man könne sich, heißt es in »Sokrates und die griechische Tragoedie«, »nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen« (KGA III.2, S. 130, vgl. GT 15). Im Entwurf des Vorworts ist noch vom »Wirbel des Seins« die Rede (KGA III.3, 11[1]).

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sches« Wesen die »Geburt der Tragödie« gegen den in Pessimismus oder, wie Nietzsche später sagen wird: Nihilismus umgeschlagenen sokratischen Optimismus ins Feld führt. Was bedeutet angesichts dieser tragischen Perspektive der der Kunst gegenübergestellte »Ernst des Daseins«? Nichts im buchstäblichen Sinn. Gleichwohl hofft Nietzsche, in einer Hoffnung, die seine Bahn bestimmen und selber zu einer tragischen werden lassen wird, diese »Ernsthaften« doch belehren und umwenden zu können, indem er gleichsam zu Protokoll gibt, daß er »von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens« überzeugt sei; wie er hier noch glaubt im Sinne Wagners. Dieses Lebens – nicht als gäbe es noch jenes andere »hinter der Welt« (μετ2 τ2 φυσικ*): der Glaube war schon Gottfried Keller von Feuerbach ausgetrieben worden; sondern dieses Lebens, das die Ernsthaften mit ihrem ganzen Ernst belehnen. Als ernsthaftes will es »geführt« werden, und zehn Jahre später tritt in das Werk Nietzsches der Psychopompos oder Seelenführer-ins-Diesseits, Zarathustra, der weiß: das Leben ist pessimistisch und nihilistisch geworden, weil es seiner Aufgabe verlustig gegangen ist. Es führen heißt, ihm diese Aufgabe zurückgeben, nämlich die »höchste«: die »tragische«. Das ist für Nietzsche aber nicht, wie die von ihm gedachte Metaphysik, sich selber spottend, weil sich selber darüber vernichtend, glaubte, die Wahrheit, sondern das, was auch noch die Wahrheit neu erfinden ließe, das Schaffen, also die Kunst, die darum die eigentlich metaphysische Tätigkeit dieses Lebens ist, nämlich nicht die asketische, d. h. zutiefst selber nihilistische Wahrheitssuche, die der Metaphysik längst von den positiven Wissenschaften abgenommen worden ist, sondern – und in der Tat war dies immer die »eigentlich« metaphysische Tätigkeit – die Überwindung des Todes. Freilich, die Metaphysik nicht mit den Augen des positiven Wissenschaftlers, dieser »Optik« des 19. Jahrhunderts, die auch Nietzsches Optik war, angesehen, galt ihr immer genau die Wahrheit als diese Überwindung. Aber was hätte Nietzsche geantwortet, hätte man es ihm gelehrt vorhalten wollen? Diese Wahrheit sei der Tod selbst gewesen in der bloßen Larve des Lebens, Schopenhauers »Schleier der Maja«, und die Metaphysiker allesamt »Schleiermacher«. Daß Nietzsche nun den neuen Anfang dieser Aufgabe, den »Wendepunkt«, die Peripetie in der bisherigen Geschichte des Lebens im Werk Wagners zu finden glaubt, setzt ihn zum einen in Übereinstimmung mit Baudelaire, zum andern gibt es den geschichtsphilosophischen Aufriß vor, wie das Werk Wagners zu verstehen sei. Aus dem Joch OptimismusPessimismus der lebensverneinenden wissenschaftlichen Wahrheit heraustretend entbindet es als tragisches Kunstwerk eine neue, zugleich in den Ursprung des Ursprungs der Metaphysik zurückgehende, diesen wi-

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derrufende »dionysische«, d. h. auf das Schaffen und sich selber Schaffen des Lebens oder der schöpferischen »Seele« vertrauende Welt-Anschauung, die sich angesichts der Herrschaft der europäischen Logik und Moral keineswegs – hierin durchaus verschieden von der Marxschen Heraufkunft der kommunistischen Produktionsweise – mit geschichtlicher Notwendigkeit durchsetzen muß, sondern umgekehrt wie alles als ein glücklicher Zufall in den Ekel und die Langeweile der modernen Welt einfallende Große der Gefahr ausgesetzt bleibt, spurlos wieder zu verschwinden. Es kommt deshalb darauf an, für diese Weltanschauung Schule zu machen, gerade wie Wagner selber seinem Werk ein eignes Festspielhaus geschaffen hatte, das als Tempel der neuen Kunstreligion nicht nur alle Opernhäuser, sondern in der Tat alle Kirchen der Welt ins Unrecht setzt und setzen soll. Man »pilgert« nach Bayreuth, und dies keineswegs im Sinn einer bloßen Metapher. Die »Geburt der Tragödie« ist das Manifest jener neuen Schule, und die hyperbolische Hoffnung ist nicht zu verkennen, die Nietzsche in diese »Allianz« des Dramatikers mit dem Denker setzt, der es gelingen soll, das von einer ebensolchen älteren Allianz, der von Euripides und Sokrates, der Totengräber der dionysischen Welt, auf die geschichtliche Bahn der moralisch-wissenschaftlichen Katastrophe gebrachte Europa vom Dämon des Schopenhauerschen Pendels (Schmerz – Schein – Langeweile – Schein – Schmerz) zu erlösen. Als programmatisch ist es daher auch zu verstehen, wenn das Vorwort auf Wagners »herrliche Festschrift über Beethoven« zu sprechen kommt, über die Nietzsche freilich noch anders denken lernen wird. In ihr artikuliert sich Wagners Weltanschauung nach der »Kehre« von Feuerbach zu Schopenhauer, mitten in der Arbeit am dritten Akt des Siegfried und den ersten Skizzen zur Götterdämmerung. Wie kommt dies späte Wagnersche Denken dem Nietzscheschen Projekt entgegen? Oder tut es dies in Wahrheit gar nicht und Nietzsche hat sich, wie er selber alsbald, nämlich schon während der Abfassung seiner zweiten WagnerSchrift »Richard Wagner in Bayreuth« zu erkennen glaubte, an Wagner versehen?

Das verlorene Paradies, die Schrift und die Dekadenz Am Schluß seiner Beethoven-Schrift gibt Wagner »dem tiefsten Dichterwerke eine Deutung für uns« und versteht »unter dem ›Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis‹ – den Geist der bildenden Kunst, der Goethe so lange und so vorzüglich nachstrebte, unter dem: ›Das ewig Weibliche

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zieht uns hinan‹ aber den Geist der Musik, der aus des Dichters tiefstem Bewußtsein sich emporschwang, nun über ihm schwebt und ihn den Weg der Erlösung geleitet.«130 Wagner bezieht sich dabei auf die ersten Absätze seiner Schrift zurück, wo er »die gänzliche Verschiedenheit des Dichters vom Musiker« in die »Anschauung der Idee« (im Sinn Schopenhauers) setzt: »Sehr ersichtlich tritt die hier gemeinte Diversität beim Bildner hervor, wenn wir ihn mit dem Musiker zusammenhalten, zwischen welchen beiden der Dichter in der Weise in der Mitte steht, daß er mit seinem bewußten Gestalten sich dem Bildner zuneigt, während er auf dem dunklen Boden seines Unbewußtseins sich mit dem Musiker berührt.« Die Diversität, um die es Wagner zu tun ist, dieser weltbildende Unterschied ist der von Bewußtsein und dunklem Boden des Unbewußtseins, der nicht politisch-ökonomisch, sondern ästhetisch-religiös gedachte Unterschied von Überbau und Basis, wobei es Wagner primär wiederum nicht um die Künste, sondern um die, an den Künstler gebundene, künstlerische Produktivität selbst zu tun ist. Sein »Beethoven« reiht sich ein in diejenigen künstlerischen Selbstzeugnisse, in denen, wie bei Poe und Baudelaire, das produktive Wesen des aus der Bindung der Metaphysik entlassenen Menschen des 19. Jahrhunderts in ästhetischer Brechung reflektiert wird. Daß diese Brechung immer zugleich eine religiöse ist, wird insbesondere bei Kierkegaard und Nietzsche deutlich und erklärt sich daraus, daß die produktive Religion des 19. Jahrhunderts, unbeschadet des Kierkegaardschen Einspruchs, die in der »klassischen Moderne« dann selber noch einmal ästhetisch zu Grabe getragene Kunstreligion ist, und dies wieder daraus, daß die ursprüngliche Produktivität, die von der Metaphysik der Natur und durch sie deren Grund, Gott, vindiziert worden war, nunmehr, allen fühlbar in der revolutionär sich überstürzenden industriellen Verwandlung der »Lebenswelt«, dem Menschen selbst überantwortet ist, der diese Aufgabe auf der einen Seite als eine zum (technisch-naturwissenschaftlich-imperialistischen) Machtrausch gesteigerte Autonomie, auf der andern als blinde Heteronomie erfährt – Marx’ Kapitalist und Proletarier –, in beiden Fällen aber als ein nicht länger natürliches, sondern geschichtliches Schicksal. Bei Schopenhauer, der in der anti-metaphysischen Tradition den Anfang macht, erscheint dies Schicksal ebenso unmittelbar und darum blind als die Verstrickung des Menschen, dieser »Fabrikwaare der Na-

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Dieses und alle folgenden Wagner-Zitate, soweit nicht eigens gekennzeichnet, aus R. Wagner: Beethoven, hrsg. von W. Golther, Leipzig o. J. (1927).

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tur«,131 in den Schleier der Maja, welchen webend der sinnlose Wille zum Leben sich über sich selbst betrügt. Gewiß ist dies merkwürdige Epitheton »Schleier der Maja« Zeugnis einer hier ins Schwarze umgeschlagenen, in Deutschland namentlich durch Friedrich Schlegels 1808 erschienenes Buch »Über Sprache und Weisheit der Indier« geschürten romantischen Begeisterung für den »anderen« Mythos, aber wie immer bei Schopenhauer hat es auch seine, von ihm selber nicht explizierte und allerdings noch gar nicht explizierbare Genauigkeit. Es bezeichnet nämlich einen Sach-Verhalt, der das gesamte moderne (und »postmoderne«) Denken bis in unsre Tage latent, und allererst mit Jacques Derrida zum Thema der Philosophie selbst gemacht, in Atem halten wird. Dieser Schleier – Schopenhauers »platonische Ideen« – ist Programm, Text, Schrift. Darüber drängt sich die Frage auf, warum erst mit dem Ende der Metaphysik die Schrift zum Problem des Denkens wird und warum, wie versteckt und mißverstanden auch immer, sogleich mit diesem Ende. Die Antwort kann nur im Gedanken der damit dem Menschen, der sich in diesem Augenblick als »das noch nicht festgestellte Thier« entgegentritt,132 überantworteten Produktivität liegen. Daß die Metaphysik, wie überhaupt jede komplexere Kultur, an die Schrift geknüpft ist, war ihr selber deutlich genug, und in diesem Zusammenhang von »Verdrängung« zu sprechen heißt, mit der modernen Gestalt der Schrift, der Information, zugleich das ihr geschichtlich korrelierte Objekt der Psychoanalyse in eine Geschichte zu retrojizieren, die dieser Verdrängung so dunkel bleiben muß wie Wagner der »Boden seines Unbewußtseins«. Denn die Schrift als philosophisches Problem ist das technische Produkt mit dem Versprechen, in ihm werde sich die menschliche Produktivität selbst, die sich in allen andern technischen Produkten unabsehbar entzieht, bis zu einer Lesbarkeit erhellen, die, wo Produktivität zum Wesen des Menschen geworden ist, notwendig zugleich die Lesbarkeit der Welt wäre. Wie also hinter ihrem Schleier die Maja selbst – ein Incognito nicht weniger als das des Kierkegaardschen Gott-Menschen in Knechtsgestalt –, ist in ihm, als er, das Programm der mit Watts Dampfmaschine anhebenden industriellen Entwicklung verborgen, als welche Schopenhauer bereits die Metaphysik und ihre Geschichte entgegenkommt,

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A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (WWV – mit der Angabe des § für Band 1, des Kapitels für Band 2), Bd. I, § 36, in: Werke (W), hrsg. von L. Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. I, S. 255 (die folgenden Schopenhauer-Zitate übernehmen nicht durchweg die originalen Hervorhebungen). 132 Nietzsche: JGB 62.

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ohne daß er sie wie nachmals Heidegger schon daraufhin zu entziffern wüßte. Nicht so sehr also der sich industrialisierenden Gegenwart als der in ihr zur unerträglichen Last werdenden Natürlichkeit des »natürlichen Bewußtseins« der Metaphysik entfliehend, geht der Schopenhauersche Gedanke aus der Wirklichkeit in ihre Möglichkeit zurück, um diese als den Ursprung der entfremdeten Gegenwart selbst zu negieren. Diese Schrittfolge verdeutlicht sogleich das Inhaltsverzeichnis des »Hauptwerks«: zweimal unternimmt der Gedanke den Schritt zurück aus dem Produkt (»Vorstellung«) in dessen Produktion (»Wille«), zunächst aus der Vorstellung »unterworfen dem Satze vom Grunde«, d. h. im Produktionsverhältnis als solchem (erstes und zweites Buch der »Welt als Wille und Vorstellung«), sodann aus der Vorstellung »unabhängig vom Satze vom Grunde«, d. h. im Rezeptionsverhältnis (drittes und viertes Buch). Das Resultat dieses mit dem Wittgenstein der Logischphilosophischen Abhandlung als sukzessive Verneinung zu beschreibenden Verfahrens ist in der Tat das »Nichts« – als Korrelat des Schleiers der Maja das »Nirwana« –, nämlich die theoretische Möglichkeit, dem produktiven Wesen der Welt, mithin der Geschichte, mithin der Zeit überhaupt zu entkommen, eine paradoxe Selbstverneinung des Willens als der Ort, in dem die Metaphysik sich einfach selbst verneint: war sie als das Transzendieren der φ3σις in deren Grund die Überwindung der Zeit, dann zeigt sich im vierten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung«, daß es, wo alles zu Metaphysik geworden scheint, mit dieser nichts ist. Und hier ist auch der Ort, wo es ersichtlich nichts ist mit dem »Schopenhauerianer« Wagner, der jedenfalls ein umgekehrter Feuerbachianer war. Wagners Schopenhauer ist durch Feuerbach und, was Wagner selbst freilich nicht wissen konnte, auch durch Kierkegaard hindurchgegangen und dabei in die äußerste Nähe zu Marx gelangt. Denn Wagner weicht gerade im alles entscheidenden Punkt, tota terra sozusagen, von der Schopenhauerschen »Welt-Anschauung« ab und arbeitet der Nietzscheschen Umkehrung Schopenhauers darin vor, daß es ihm um den Rückgang nicht ins Nichts, sondern in eine ursprüngliche, d. h. nicht durch das Produkt entfremdete Produktion zu tun ist. Da diese aber nicht, wie auf je andre Weise bei Feuerbach, Kierkegaard, Marx und Nietzsche, als wesentlich prospektiv (»utopisch«) festgehalten oder ihrerseits ursprünglich gedacht, sondern abermals vorgestellt, d. h. in Gedanken produziert oder simuliert wird, entfaltet sich der Wagnersche Gedanke zugleich regressiv und gibt sich eine ideologische Seite: »Wollen wir uns ein wahres Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes vorstellen, so haben wir uns in die Zeiten vor der Erfindung der Schrift und ihrer Aufzeichnung auf Pergament oder Papier zu versetzen.

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Wir müssen finden, daß hier das ganze Kulturleben geboren worden ist«. Der Rückgang aus dem (noch näher zu bestimmenden) Produkt in die Produktion biegt anders als etwa bei Poe und Baudelaire von der zeitgenössischen Produktion ab in eine als geschichtlich-ursprünglich behauptete menschliche Natur. In jenem wahren Paradies »war denn auch die Poesie nichts anderes als wirkliche Erfindung von Mythen« – eine Einsicht der Frühromantik –, »d. h. von idealen Vorgängen, in welchen sich das menschliche Leben nach seinem verschiedenen Charakter mit objektiver Wirklichkeit im Sinne von unmittelbaren Geistererscheinungen abspiegelte.« Damit geht die Überlegung zu Schopenhauer fort, denn diese Mythen haben nicht die frühromantische Bestimmung der Erscheinung des Grundes des menschlichen Lebens, sondern sind dessen Widerspiegelung geradeso wie die Schopenhauersche Kunst Widerspiegelung der »platonischen Ideen«, des Schleiers der Maja war, nur daß Wagner sie als ursprünglich positiv festhält: »Die Befähigung hierzu sehen wir jedem edel gearteten Volke zu eigen, bis zu dem Zeitpunkte, wo der Gebrauch der Schrift zu ihm gelangt. Von da ab schwindet ihm die poetische Kraft; die bisher wie im steten Naturentwicklungsprozeß lebendig sich gestaltende Sprache verfällt in den Kristallisationsprozeß und erstarrt; die Dichtkunst wird zur Kunst der Ausschmückung der alten, nun nicht mehr neu zu erfindenden Mythen und endigt als Rhetorik und Dialektik.« Hier also ist eine Kulturgeschichte in nuce. Von Natur aus edel geartete Völker sind ursprünglich produktiv im Hervorbringen von Mythen als der sprachlichen Basis ihres ganzen Kulturlebens, das sich allerdings nicht im kontinuierlichen Naturentwicklungsprozeß (»materialistisch«) gestaltet, sondern wie in ihm. Marx hatte im 1867 erschienenen ersten Band des »Kapitals« geschrieben: »Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern.«133 Der natürlich-menschliche Kulturprozeß, das vorschriftliche »Kulturleben« wird aber abgebrochen merkwürdigerweise nicht durch die Erfindung, sondern durch die Übernahme der Schrift. Darin scheint nämlich zu liegen, daß einem »edel gearteten Volke« eine dergleichen Erfindung gar nicht zuzutrauen ist, sondern nur von Völkern andern Typs »zu ihm gelangt«. In diesem Augenblick des Umschlags vom Analogon des Naturentwicklungsprozesses zum diesem nicht mehr analogen Kristallisationsprozeß – ein geschichtlicher Umschlag, dem nachmals der Spenglersche von Kultur in Zivilisation ent-

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MEW 23, S. 57.

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sprechen wird – beginnt die Dekadenz.134 Die lebendige Sprache »erstarrt«, geht ihrer Entwicklung als ihrer Geschichte verlustig, und die Dichtkunst wird dekorativ, ihre finalen Produkte sind Rhetorik und Dialektik, die hier wohl (aber vermutlich doch nicht ohne Seitenblick des ehemaligen Feuerbachianers auf Hegel) mit Schopenhauer als »Disputirkunst« zu verstehen ist.135 Ihr zweites Stadium erreicht die Dekadenz im »Übersprung der Schrift zur Buchdruckerkunst«, »Übersprung« als gleichsam automatische Folge, denn wer wußte nicht, daß der Druck eine deutsche Erfindung war? So daß die Vorrede zu »Jenseits von Gut und Böse« spaßen kann: »Die Deutschen haben das Pulver erfunden – alle Achtung! aber sie haben es wieder quitt gemacht – sie erfanden die Presse.« Und entsprechend ist die Reformation für Wagner wesentlich ein Werk der Musik: »Man muß die religiösen Sekten der Reformationszeit, ihre Disputate und Traktätlein sich zurückrufen, um einen Einblick in das Wüten des Wahnsinns zu gewinnen, welcher sich der vom Buchstaben besessenen Menschenköpfe bemächtigt hatte. Man kann annehmen, daß nur Luthers herrlicher Choral den gesunden Geist der Reformation rettete, weil er das Gemüt bestimmte und die Buchstabenkrankheit der Gehirne damit heilte.« Folgt das dritte und letzte Stadium der Dekadenz: »Aber noch konnte der Genius eines Volkes mit dem Buchdrucker sich verständigen […]; mit der Erfindung der Zeitungen, seit dem vollen Aufblühen des Journalwesens, mußte jedoch dieser gute Geist des Volkes sich gänzlich aus dem Leben zurückziehen. Denn jetzt herrschen nur noch Meinungen, und zwar ›öffentliche‹; diese sind für Geld zu haben, wie die öffentlichen Dirnen«. Womit das nachmals von »Sein und Zeit« existenzialanalytisch gedachte Diastema von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit (»Man«) als das von (musikalischer) Sprache und Presse eröffnet ist. Noch Heidegger wird schreiben: »Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen«,136 ausgeführt als »Rufcharakter des Gewissens«.137 Bei Wagner hat das Diastema aber noch nicht existenzialanalytische Bedeutung, er denkt wesentlich völkisch: »So sagt denn auch das Pariser Modejournal dem ›deutschen Weibe‹, wie es sich zu kleiden hat; denn in solchen Dingen 134

Von Dekadenz kann hier gesprochen werden, obwohl der Name – zwar alt und seit Montesquieus Werk »De la Grandeur des Romains et de leur décadence« von 1734 geläufig – erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum Schlagwort wird, das Nietzsche sogleich übernimmt. 135 WWV Kap. 9, S. 121. 136 M. Heidegger: Sein und Zeit (SuZ), Halle a. d. S. 1927, S. 163. 137 SuZ, §§ 56 ff.

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uns das Richtige sagen zu dürfen, dazu hat der Franzose sich ein volles Recht erworben, da er sich zum eigentlichen farbigen Illustrator unserer Journal-Papier-Welt aufgeschwungen hat.« Pikanterweise war es kein geringerer als Mallarmé, der vier Jahre nach Wagners Schrift acht Nummern eines Modejournals unter dem Titel »La dernière mode« herausgab und großenteils sogar selber verfaßte. Die französische Mode aber steht bei Wagner für mehr als bloß für ein Akzidens oder auch einen Index der Moderne: sie ist ihm das geschichtliche »Man« selbst. Darauf führt die folgende Darstellung der »Umwandlung, […], welche die Welt als Form und Farbe erfahren hat«, und die uns »auf das ganz gleiche Ergebnis« wie die der Poesie treffen läßt. Zunächst stehen wir angesichts der »plastischen Welt des griechischen Altertums« – abermals eine frühromantische Reminiszenz – »vor einem Leben […], zu dessen Beurteilung wir auch nicht einmal den mindesten Maßansatz finden können«. Ein solches Leben freilich, für das uns jedes Maß fehlt, ist nicht länger frühromantisch, wie denn auch gleich ein Satz im Schopenhauerschen Ton folgt, der zu denjenigen gehört, die Nietzsches Lob der Abhandlung in der Vorrede an Richard Wagner veranlaßt haben dürften: »Jene Welt hatte sich das Vorrecht erworben, selbst aus ihren Trümmern für alle Zeiten uns darüber zu belehren, wie der übrige Verlauf des Weltenlebens etwa noch erträglich zu gestalten wäre.« Nicht ohne Grund übergeht Wagner das Mittelalter, dem er die meisten seiner Stoffe verdankte, und kommt auf die Italiener der Renaissance und ihre Nachfolger zu sprechen: »Dieses mit so reicher Phantasie hochbegabte Volk sehen wir in der leidenschaftlichen Pflege jener Lehre sich völlig verzehren; nach einem wundervollen Jahrhunderte tritt es wie ein Traum aus der Geschichte, welche von nun an eines verwandt erscheinenden Volkes irrtümlich sich bemächtigt«. Daß die Italiener sich innerhalb eines – welchen? – Jahrhunderts »völlig verzehren«, insinuiert Wagners Urteil über die italienische Musik, namentlich die Oper; und daß sie nicht in der Lage waren, jenes unermeßliche griechische Leben zu erneuern, kann nur daran liegen, daß sie diesen Versuch bereits in einer Welt der Schrift und um die Zeit der Erfindung der Buchdruckerkunst machten. So bleibt ihnen nur das Verdienst, die griechische Lehre, wie der übrige Verlauf des Weltenlebens etwa noch erträglich zu gestalten wäre, »uns neu belebt und edelsinnig in unsere neuere Welt hinübergeleitet zu haben«, bloße Interpreten des Pessimismus, keine Schöpfer. Die Geschichte bemächtigt sich also der Völker zu ihren Zwecken. Das klingt nach Hegel, aber zum einen hatte Hegel von »weltgeschichtlichen« Völkern gesprochen, die von den Epochen der Entwicklung des »Begriffs« her bestimmt sind, und nicht von den nationalen oder völ-

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kisch bestimmten Völkern des späteren 19. Jahrhunderts, die für ihn allesamt noch unter den Begriff des »germanischen« Volks gehören; zum andern, und das ist der abgründigere Unterschied, wäre für ihn die Vorstellung, die Geschichte könne irren, durchaus undenkbar gewesen. Denn die von ihm in der Nachbarschaft Lessings, Herders, Kants und Schillers gedachte Geschichte ist überhaupt noch kein Analogon eines darwinistisch verstandenen »Naturentwicklungsprozesses«, sondern, der Sache nach geradeso, wie es auch der späte Schelling vorgestellt hat, die Entwicklung des »Weltgeistes«, der die objektive Manifestation des »absoluten Geistes« als der dritten Person der göttlichen Trinität ist: »Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besondern Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abgestreift, erfaßt seine concrete Allgemeinheit, und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich und die Nothwendigkeit, Natur und Geschichte [die drei Kreise des Systems] nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind.«138 Wagners Geschichte hingegen ist als Analogon des Naturentwicklungsprozesses im Horizont der positiv gewordenen Wissenschaften gedacht. Die erblindete Geschichte tastet sich in der Zeit voran nach trial and error, und bemächtigt sie sich hier eines begabten Volks von Kunstpflegern, begeht sie gleich darauf da einen folgenschweren Irrtum. Nach dem Vorgang Nietzsches wird Heidegger dies partikuläre Irren der Geschichte, der so allerdings die metaphysische Bestimmung, die erscheinende Wahrheit zu sein, bestritten und die damit zu einem Gegenstand inventarisierender Wissenschaft unter andern geworden ist, radikalisieren und vom »Seinsgeschick« der »Irre« sprechen: »Die Umgetriebenheit des Menschen weg vom Geheimnis hin zum Gangbaren, fort von einem Gängigen, fort zum nächsten und vorbei am Geheimnis, ist das Irren. […] Die Irre ist das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der Wahrheit. Die Irre öffnet sich als das Offene für jegliches Widerspiel zur wesentlichen Wahrheit.«139 An sich ist dies, wie für alle andern so bestimmten Gegenstände auch, ein entscheidender Schritt für das, was Hegel das »Bewußtsein der Freiheit« genannt hatte. Europa hatte sich mit der Metaphysik von der (nicht positiven, sondern prinzipiellen) Naturgebundenheit seines Denkens und Produzierens überhaupt verabschiedet und damit auch von der Naturgebundenheit der Religion. Auch das lumen revelationis geht 138

Enz. § 552. M. H eidegger: Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1967, S. 73–97, hier S. 92 (GA 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 196 f.). 139

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auf und unter zusammen mit dem lumen naturale rationis, das ja nichts anderes war als die Erscheinung jenes Lichts in der Gestalt der »natürlichen« Gewißheit. Anderseits aber ist zu sehen – und es ist auch bei Wagner zu sehen –, wie der Entzug der metaphysischen, zutiefst also der natürlich-religiösen Wahrheit die Geschichte, die jetzt eben bloß der menschliche Naturentwicklungsprozeß ist, nicht einfach als positiven Gegenstand von Wissenschaft zurückläßt. Denn indem ihr damit genommen wurde, was das 19. Jahrhundert sich angewöhnt hatte, den »Sinn« zu nennen – »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« heißt in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts der berühmte Titel eines Buchs von Theodor Lessing –, wird die so entstandene tabula rasa zur Projektionsfläche von »Weltanschauungen« aller Art. Geschichtsschreibung wird über die Köpfe der Fachhistoriker hinweg und meistenteils durch sie hindurch zu Ideologie, d. h. zur politisch relevanten Produktion von Sinn-Surrogaten. Hier bei Wagner also kann die Sinn ursprünglich, nämlich in der mythischen Vorzeit gebende und danach bestenfalls festhaltende, »pflegende« (colens: cultura) Geschichte sich gleichsam am Schein einer Verwandtschaft versehen und sich irrtümlich eines Volks bemächtigen, dem in Wahrheit, in jener mythischen Wahrheit, d. h. gemäß der retrojizierten Ideologie, weder Produktivität noch auch nur Kultur zuzusprechen ist, des französischen. Denn nach der »Pariser Bluthochzeit« und ihren Folgen ward »mit dem Reste der Nation« »nun ›künstlerisch‹ verfahren; da ihr aber jede Phantasie abging oder [mit dem »protestantische(n) Geist«] ausgegangen war, wollte sich die Produktivität nirgends zeigen, und namentlich blieb sie unfähig, eben ein Werk der Kunst zu schaffen.« – Wagners Urteil über Corneille, Molière, Racine, Watteau usw. usw. »Besser gelang es, den Franzosen selbst zu einem künstlichen Menschen zu machen; die künstlerische Vorstellung, die seiner Phantasie nicht einging, konnte zu einer künstlichen Darstellung des ganzen Menschen an sich selbst gemacht werden. Dies konnte sogar für antik gelten« – was für sich genommen allerdings ein hohes Lob wäre, denn hier scheint einem modernen Volk gelungen, was man bisher allein den Griechen anzusehen geglaubt hatte: daß nicht ein Ding nur, sondern der Mensch selbst das vollkommene Kunstwerk sei. Aber dieser Auffassung ist, abgesehen davon, daß Wagner mit der Rede vom »künstlichen Menschen«, l’homme machine, den Automaten assoziieren läßt, auch mit der Behauptung vorgebeugt, daß den Franzosen mit dem Organ der Produktivität, mit der Phantasie, die Produktivität selber abgehe. So entpuppt sich das Antikische als Produkt radikaler Modernität: »Man kann sagen, der Franzose ist das Produkt einer besonderen Kunst, sich auszudrücken, sich zu bewegen und zu kleiden. Sein Gesetz hierfür ist der

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›Geschmack‹ – ein Wort, das von der niedrigsten Sinnesfunktion hier auf eine geistige Tendenz hingeleitet worden ist; und mit diesem Geschmack schmeckt er sich eben selbst, nämlich so, wie er sich zubereitet hat, als eine schmackhafte Soße. Unstreitig hat er es hierin zur Virtuosität gebracht: er ist durch und durch ›modern‹ […].« Wagner knüpft, wie bemerkt und übrigens für die Bildung des 19. Jahrhunderts auch nicht weiter verwunderlich, an frühromantische Gedanken an. So flüchtig diese Anknüpfung ist, als so verheerend sollte sie sich erweisen. Erzeugt sie doch den bis heute permanenten Schein einer gedanklichen Kontinuität zwischen Neuzeit und Moderne, der alles andre als harmlos ist. Denn er verbarrikadiert die Einsicht in die Grenze zwischen den beiden Epochen und so die Möglichkeit, die Moderne in ihrer Selbständigkeit, und also auch Würde, zu de-finieren und legitimiert damit den Rückgriff auf metaphysische Vorstellungen, der darin verdeckt, daß er in Wahrheit nur Regression sein kann, denn das unter den Bedingungen industrieller Produktion im Schein einer möglichen Kontinuität reaktivierte Metaphysicum hat notwendig ideologischen Charakter. Die katastrophale Entwicklung insbesondere des deutschen Bewußtseins seit 1870/71 – und man kann Wagners »Beethoven« zweifellos als eine der Gründungsurkunden dieser Entwicklung lesen –, war nur möglich durch die Aufladung des längst durch und durch modern, d. h. industriell gewordenen zeitgenössischen Bewußtseins mit scheinbar tradiertem »Sinn«, mit den im Schein einer so geschichtlichen wie biologischen Kontinuität produzierten Sinn-Surrogaten, die ihr innerstes Motiv, den Un-Sinn – den »Ohne-Sinn«: Nietzsche wird ihn mitleidlos (und auch mitleidlos mit sich selber) entlarven – nur am Andern, am Nachbarn ablesen ließen. Wagners Bemerkung über den Geschmack lädt den deutschen Leser ja geradenwegs dazu ein, alles zu vergessen, was er auch nur in Kants »Kritik der Urteilskraft« – und Wagners Bemerkung ist eine Wendung gegen die Urteilskraft – darüber gelesen haben sollte. Auf diese Weise eskamotiert sie den Gedanken des ganzen 18. Jahrhunderts und ist insofern in der Tat eine völlig moderne Bemerkung. Nicht, daß die emphatisch ergriffene Moderne, wie spätestens der Futurismus belegt, nicht selber die Gestalt von Ideologie annehmen konnte, nur daß hier die Quelle der Sinn-Surrogate eben die zeitgenössische Technik ist, nämlich ihre so phantastische wie naive Hyperbole (dieser Art von Technikbegeisterung haftet ja immer etwas Halbwüchsiges an); vielmehr gehört die Wendung gegen die Moderne wesentlich zur Moderne selbst, ist geradezu die Signatur ihres Wesens. Denn einzig in dieser Wendung gegen sich selbst, dem Analogon der alten Reflexion, vermag sie zurückzukommen auf ihren »Ursprung«, d. h. auf ihren geschichtlichen Ort. Allerdings ist

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diese Wendung oder, mit Heidegger, Kehre auch die eigentümliche Gefahr des modernen Denkens, die darin sichtbar wird, daß dieses in der Tat nirgendwo, nicht einmal in seinen authentischsten Gestalten, von Ideologie völlig frei ist. Wie sollte das Denken auch seiner Zeit entgehen? Auch dort noch, wo es sich aus dieser Zeit heraus in ihren Ursprung wendet? Aber einer gewissen Lust am Paradox nachgebend ließe sich wohl sagen, daß die Moderne erst ganz Moderne ist als Anti-Moderne. Die genannte Gefahr freilich war die, aus dem Schein der Wirklichkeit nicht in seinen Ursprung, sondern in dessen Schein umzukehren, also nur scheinbar umzukehren, und so jenen Schein, statt ihn durchsichtig zu machen, vielmehr – Benns »Nebel- und Niflheim« – zu kondensieren: das in unserm Jahrhundert von keinem so scharf wie von Adorno herausgestellte »affirmative Wesen« der Ideologie. In der Kritik der Moderne treffen sich die biologistische Weltanschauung, der Antimodernismus der römischen Kirche und der Konservatismus Wittgensteins, von denen die erste unstreitig Ideologie, der zweite ideologisierter Traditionalismus, der dritte Voraussetzung und Horizont eines ursprünglichen Denkens ist. In diesem Sinn hat auch Nietzsches Denken ideologische Züge, und noch einmal anders liegt der Sachverhalt bei Wagner. Als Schriftsteller unbeschadet seiner Originalität den trüben Strom der zeitgenössischen Vorurteile anschwellen helfend – welch passenderes Geschenk konnten sich die Trompeter des »deutschen Wesens« 1870/71 wünschen als einen »Beethoven« von Richard Wagner? –, geht der Musiker, nicht einmal der »Künstler«, allein der Komponist Wagner der Moderne an die Wurzel. Das war es, was der geschmackvolle Baudelaire mit einer Klarheit ohnegleichen erkannt hatte. Mit der Invektive gegen den Geschmack überhaupt, nicht nur den französischen, kommt der ideologische Antimodernismus Wagners zum Vorschein. Die Franzosen sind »das herrschende Volk der heutigen Zivilisation«, die modernen Menschen schlechthin: »Dieser Mensch ist denn auch völlig ›Journal‹; ihm ist die bildende Kunst, wie nicht minder die Musik, ein Objekt des ›Feuilleton‹«. Womit in der Tat auch die Geschichte von »Form und Farbe […] das ganz gleiche Ergebnis« hat wie die der »poetischen Welt« und im nämlichen dritten Stadium der Dekadenz angekommen ist. Der Mensch selbst ist zum Journal geworden und seine ästhetische Produktion Objekt des Feuilleton: »Denn es ist nicht eine zufällige Laune unseres öffentlichen Lebens, daß wir unter der Herrschaft der Mode stehen; ebenso wie es in der Geschichte der modernen Zivilisation sehr wohl begründet ist, daß die Launen des Pariser Geschmackes uns die Gesetze der Mode diktieren. Wirklich ist der französische Geschmack, d. h. der Geist von Paris und Versailles, seit zweihundert Jah-

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ren das einzige produktive Ferment der europäischen Bildung gewesen; während der Geist keiner Nation mehr Kunsttypen zu bilden vermochte, produzierte der französische Geist wenigstens noch die äußere Form der Gesellschaft, und bis auf den heutigen Tag die Modetracht.«

Wagners Ressentiment Die Mode ist mithin das notwendige Produkt einer Verfallsgeschichte der ursprünglichen Produktivität und als Modernität überhaupt »die äußere Form der Gesellschaft«. Ihr auffälligstes Charakteristikum, die von Baudelaire im »Maler des modernen Lebens« gewürdigte Flüchtigkeit (le fugitif), wird von Wagner so gefaßt: »Der Mode stellt sich, bei dem steten Bedürfnisse nach Neuheit, der Wechsel der Extreme als einzige Auskunft zu Gebote«, an dem also die innere Form der Gesellschaft, sei es als dekadente Indolenz, sei es als ursprüngliche Produktivität, nicht teil hätte. Indem aber dieser mittelose Wechsel die Bestimmung eines Geschicks hat, scheint er das Innre rettungslos in jener Indolenz »erstarren« zu lassen. Denn wir müssen, bekennt Wagner, »schließlich einsehen, daß wir einem wahren Fluche verfallen sind, von welchem uns nur eine unendlich tief begründete Neugeburt erlösen könnte. Unser ganzes Grundwesen müßte sich nämlich derart ändern, daß der Begriff der Mode selbst für die Gestaltung unseres äußeren Lebens gänzlich sinnlos zu werden hätte.« Hier ist die Geburtsstätte der Wagnerschen Utopie. Auch in ihrem finalen Stadium ist die Dekadenz doch nicht so radikal, daß sie das deutsche Volk in seiner letzten Tiefe hätte korrumpieren können. Das ist abermals kein geschichtlicher Zufall, sondern liegt in der ihr Wesen gänzlich nach außen kehrenden Dekadenz selbst als der genannte »Wechsel der Extreme«. Notwendig immerzu vom einen zum andern springend vermag die Mode die Mitte gar nicht zu erreichen, kraft deren die Extreme erst Extreme sind; deswegen kann Wagner genau von einer »unendlich tief begründete[n] Neugeburt« sprechen. Und dies vom Äußern als dem Fluch der Gegenwart unerreichbare Innere kann gar nichts anderes sein als das unter aller, immer wie und als der »Gebrauch der Schrift« von außen kommenden Dekadenz er-innerte »Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes« oder der »Genius eines Volkes«, der sich »seit dem vollen Aufblühen des Journalwesens […] aus dem Leben zurückziehen« mußte. Als die so ins Innerste verdrängte Produktivität hat er die Gestalt des Gefühls, und zwar, weil Gefühl eines das Diktat der Mode nur passiv empfangenden Volks, des empörten Gefühls. Wagner kann deshalb feststellen, daß »sich doch wieder unser Gefühl

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gegen jene Herrschaft empört«, denn »während die deutschen Waffen siegreich nach dem Zentrum der französischen Zivilisation vordringen, regt sich bei uns plötzlich das Schamgefühl über unsere Abhängigkeit von dieser Zivilisation«. Das Äußere als der Fluch des rastlosen Wechsels der Extreme und das Innere als die von ihm unerreichbare Mitte des empörten Gefühls, das in einem das Geschick der Dekadenz nur erleidenden Volk sich ausspricht, sind die weltanschaulichen Seiten von Wagners Vorstellen. In diesem Gefühl hat die griechische Lehre, »wie der übrige Verlauf des Weltenlebens etwa noch erträglich zu gestalten wäre«, ihren Wurzelgrund, denn das »Weltenleben« ist gut Schopenhauerisch zu denken als Leiden. Aber während bei Schopenhauer das Individuum litt, hat sich diese Bestimmung dem imperial-nationalistischen Zug des 19. Jahrhunderts gehorchend für Wagner aufs Volk verlagert;140 Berlioz allerdings konnte noch ausrufen: »Patriotisme! Fétichisme! Crétinisme!«141 Übrigens kommt hier das Motiv des Wagnerschen (und so auch spezifisch deutschen) Antisemitismus zutage, den man gern platt genug, nämlich Ursache und Anlässe verwechselnd, mit Wagners persönlichen Enttäuschungen zu erklären meint. Aber sowenig sein Antigaulismus zu erklären ist durch seine Pariser Leiden, sowenig und noch weniger sein Antisemitismus durch seine im allgemeinen alles andre als schlechten Erfahrungen im Umgang mit deutschen und französischen Juden. Der Grund ist ein latent religiöser. Die Juden sind als das Volk Gottes das leidende Volk katexochen, und wo das ursprüngliche sub-jectum nicht länger, wie noch bei Schopenhauer, Feuerbach und Kierkegaard der Einzelne, sondern das Volk ist, kommen sie in den Blick als Konkurrenten desjenigen Volks, das nunmehr Anspruch darauf erhebt, das ursprünglich leidende zu sein, insbesondere, wenn sie als französische Bankiers, bühnenbeherrschende Komponisten usw., d. h. als die ersten Repräsentanten der leidenmachenden Moderne in Erscheinung treten. Das scheint nun die von der rasanten westeuropäischen Industrialisierung gleichsam überfallenen und traumatisierten Deutschen, die zu Anfang des Jahrhunderts keine europäische Nation zu beneiden brauchten, anderseits aber auch des Rückhalts der Tradition entbehrten, den etwa die industriell noch rückständigeren Italiener hatten, den Juden als sozusagen gleichberechtige Leidens-Genossen gegenübertreten zu lassen, aber dem ist nicht so. Den Juden verbietet sich nämlich als dem Volk Gottes das Selbstmitleid: Gottes Wille ist, wie auch immer, gerecht, 140

Es ist überaus merkwürdig, daß das 20. Jahrhundert ein philosophisches Analogon dazu in Heideggers Entwicklung von 1927 bis 1933 hat. 141 H. Berlioz: Mémoires, Paris 1969, ch. LIV.

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die Geschichte von Abraham und Isaak, an die Kierkegaard bezeichnenderweise eine seiner abgründigsten Meditationen geknüpft hat, mag es belegen. Wo sich hingegen das deutsche Volk – und dies schon ist ein ideologisierender Terminus, insofern es nur eine deutsche Sprachgemeinschaft und einen deutschen Staat bzw. deutsche Staaten gibt – im Kontext der Nationalismen des sich industrialisierenden Europa ideologisch als das leidende bestimmt, da ist es, indem es den Juden als dem geschichtlicherweise leidenden Volk den Titel, das Volk Gottes zu sein, im Ernst nicht streitig machen kann, sogleich das sich selbst bemitleidende Volk, und dies also wäre der bei Wagner ablesbare Begriff des spezifisch deutschen Antisemitismus: die Projektion des »Fluchs« der Modernität, d. h. der technischen Produktionsweise, auf das in der Geschichte leidende Volk durch das sich selbst bemitleidende. Wagners alsbald von Nietzsche aufgespießte Rede von der Erlösung ist also keineswegs nur an der Oberfläche religiös konnotiert. In ihr spricht sich vielmehr der innerste Impuls der Wagnerschen Kunstreligion aus. Das gegen die herrschende Modernität empörte Gefühl des deutschen Volkes, sein in sich gegangener Genius ist seine ursprüngliche (poetische) Produktivität, die sich als seine »wie im steten Naturprozeß lebendig sich gestaltende Sprache« nur äußern könnte als eine »unendlich tief begründete Neugeburt«, die »uns« dann allerdings auch als ein gegenwärtiger Siegfried von jenem Fluch »erlösen« würde. Das liefe freilich auf eine ursprüngliche Verwandlung des deutschen Wesens hinaus, nämlich auf dessen geschichtliches Abtreten aus der Modernität – und so aus der Schriftlichkeit – überhaupt: »Unser ganzes Grundwesen müßte sich nämlich derart ändern, daß der Begriff der Mode selbst für die Gestaltung unseres äußeren Lebens gänzlich sinnlos zu werden hätte«, daß der Begriff der französischen Kultur, heißt das zugleich, in Deutschland zu einem sinnlosen Begriff würde. Nun ist die Rede von der Modernität als Schriftlichkeit keineswegs weit-, oder etwa nur aus Wagners Darstellung des poetischen Dekadenzprozesses hergeholt. Denn zum einen meint »Poesie« hier, wie der Zusammenhang nahegelegt hat, die ποησις als das ursprünglich gedachte Produzieren überhaupt, zum andern hat Wagner klar genug gemacht, worin der spezifisch deutsche Genius, eine ursprünglich »deutsche« Produktionsweise gegenüber der italienischen oder gar französischen eigentlich besteht. Soweit »unser Auge schweift, beherrscht uns die Mode« als das finale Stadium des »plastischen Charakter[s] unserer Öffentlichkeit«, und das Äußerste wäre die Einsicht in ihre Sinnlosigkeit und damit in die Sinnlosigkeit der Modernität überhaupt: »Jedenfalls stehen wir mit unserer Zivilisation am Ende aller wahren Produktivität im Betreff der plastischen Form derselben und tun schließlich wohl, uns dar-

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an zu gewöhnen, auf diesem Gebiete, auf welchem die antike Welt uns als unerreichbares Vorbild dasteht, nichts diesem Vorbilde Ähnliches mehr zu erwarten«. Das aber ist die Chance, die Neugeburt gerade vom deutschen Volk zu erhoffen, weil schon im Augenblick des zweiten Stadiums der europäischen Dekadenz, zur Zeit der »Buchstabenkrankheit der Gehirne« nach der Erfindung der Buchdruckerkunst, »nur Luthers herrlicher Choral den gesunden Geist der Reformation rettete«. Die kuriose Behauptung gewinnt Bedeutung, wenn sie als Vorbereitung gelesen wird zur endlichen Ausfaltung der für Wagner im Namen Beethoven liegenden Konfiguration von Deutschtum, Religion, Musik und Utopie: »Aber neben dieser Welt der Mode ist uns eben gleichzeitig eine andere Welt erstanden. Wie unter der römischen Universalzivilisation das Christentum hervortrat, so bricht jetzt aus dem Chaos der modernen Zivilisation die Musik hervor. Beide sagen aus: ›Unser Reich ist nicht von dieser Welt.‹ Das heißt eben: wir kommen von innen, ihr von außen; wir entstammen dem Wesen, ihr dem Scheine der Dinge.« Die Verfallsgeschichte der Poesie und der plastischen Künste erweist sich danach als verschränkt mit einer rettenden Gegen-Geschichte. Für sich steht das ursprüngliche »Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes«. Das erste Stadium der Dekadenz war die Übernahme des Gebrauchs der Schrift. Kontrafaktisch dazu ist die Erscheinung »der Größe und göttlichen Erhabenheit der plastischen Welt des griechischen Altertums«,142 die in der »römischen Universalzivilisation« – ein deutliches Analogon zur modernen französischen – untergeht. Die zweite Kontrafaktur ist die des Christentums. Auf seinem Boden wird die Buchdruckerkunst erfunden, deren Kontrafaktur einerseits die Neubelebung der griechischen Lehre durch die Italiener, anderseits Luthers Erfindung des Chorals ist. Darin wird deutlich, warum Wagner die italienische Renaissance zuletzt nur als ein Festhalten und Neubeleben der griechischen »Lehre« verstehen kann: kommt die Rettung immer von Innen, halten die Italiener gerade am Äußern, an der ihrem irreversiblen Ende zustrebenden Plastizität fest. Das letzte Stadium der Dekadenz ist die Moderne mit ihrer Mode und deren Journalen, und die Kontrafaktur entsprechend gewaltsam (revolutionär): während das Christentum unter der römischen Universalzivilisation »hervortrat«, bricht »aus dem

142

Wagner muß bei seiner Bemerkung über die Schrift an die Griechen gedacht haben, für die sich freilich nahelegt, eine Analogie zwischen der Demokratisierung der Schrift (vgl. O. Murray: Das frühe Griechenland, dt. München 1982, Kap. 6) und der Entwicklung der freien Plastik zu konstatieren. Wagner braucht die Plastik als Kompensation der durch die Einführung der Schrift in Gang gesetzten Dekadenz.

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Chaos der modernen Zivilisation« die Musik hervor – und zwar »jetzt«, nämlich, insofern Wagner an seine eigne Musik ja die utopische Hoffnung der »Neugeburt« bindet, in der Gestalt Beethovens. Aus Wagners an Schopenhauer anknüpfendem Diastema zwischen dem Innern als dem Wesen und dem Äußern als dem Schein der Dinge erhellt nun retrograd – und diese Passage gibt den Aufriß für Nietzsches »Geburt der Tragödie« –, daß jenes mythopoetische Paradies von Produktivität eigentlich das Paradies der Musik war und daß die Kontrafakturen der fortschreitenden Dekadenz ebensoviele Stadien ihrer Manifestation sind als geschichtliche Weisen, wie »die Musik von je ihre besondere Macht der Erscheinungswelt gegenüber äußerte«. Über die Griechen heißt es: »Uns muß es dünken, daß die Musik der Hellenen die Welt der Erscheinung selbst innig durchdrang und mit den Gesetzen ihrer Wahrnehmbarkeit sich verschmolz. Die Zahlen des Pythagoras sind gewiß nur aus der Musik lebendig zu verstehen; nach den Gesetzen der Eurhythmie baute der Architekt, nach denen der Harmonie erfaßte der Bildner die menschliche Gestalt; die Regeln der Melodik machten den Dichter zum Sänger, und aus dem Chorgesange projizierte sich das Drama auf die Bühne. Wir sehen überall das innere, nur aus dem Geiste der Musik zu verstehende Gesetz das äußere, die Welt der Anschaulichkeit ordnende Gesetz bestimmen: den echt antiken dorischen Staat, welchen Platon aus der Philosophie für den Begriff festzuhalten versucht, ja die Kriegsordnung, die Schlacht leiteten die Gesetze der Musik mit der gleichen Sicherheit wie den Tanz.«143 Die militante Bewunderung für den »echt antiken« dorischen Staat – als ob die ionischen usw. nicht auch »echt antik« gewesen wären –, diese Bewunderung, die bei Platon sehr viel ironisch-gebrochener ist als Wagner glauben machen will und, vor allem, einen andern Grund hat, klingt noch mitten im Auftakt der Katastrophe nach in Benns Essay »Dorische Welt« von 1934, bezeichnenderweise ganz ohne Referenz auf die Musik. Dies (zweite) Paradies also »ging verloren: der Urquell der Bewegung einer Welt versiechte«, und erst der »Geist des Christentums war es, der die Seele der Musik neu wieder belebte. Sie verklärte das Auge des italienischen Malers und begeisterte seine Sehkraft, durch die Erscheinung der Dinge hindurch auf ihre Seele, den in der Kirche andererseits verkommenden Geist des Christentums zu dringen. Diese großen Maler waren fast alle Musiker, und der Geist der Musik ist es, der uns beim Versenken in den Anblick ihrer Heiligen und Märtyrer vergessen läßt, daß wir hier sehen.« 143

Zum kritischen Vergleich Th. Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958.

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Die Seele der Erscheinung der Dinge ist jetzt der Geist des Christentums, der wiederum die Seele der Musik neu belebt, d. h. die Musik als die »Weltseele« wird wieder erweckt von einer verwandten Seele wie Brünnhilde von Siegfried in jenem dritten Akt, an dem Wagner soeben arbeitet: »Im Schlafe liegt eine Frau: / Die hat ihn das Fürchten gelehrt«.144 Der Unterschied von Christentum und Musik ist danach der, daß diese an sich, wo nämlich nicht ihrerseits »zur seelenlosen Künstelei« verfallen, die Weltseele oder die Seele der Dinge selbst, das Christentum hingegen die ihrer Erscheinung ist. Diese Differenz erlaubt die Übertragung der Musik auf die Malerei als deren Geist, wofür Wagner freilich eine fast anderthalbtausendjährige Inkubationszeit unterstellen muß, weil sich anders die Renaissance der Musik durch das Christentum kaum beglaubigen ließe. Der Versicherung, daß es nur Luthers Choral gewesen sei, der die Reformation gerettet habe, gesellt sich jetzt die, daß es der Geist der Musik sei, der uns angesichts der Renaissancemalerei »vergessen läßt, daß wir hier sehen« – ein früher Beleg für das Phänomen, das Benjamin »Aura« nennen wird. Wagner unterscheidet also drei Renaissancen der ursprünglichen (vor-schriftlichen) Musik: die griechische, die christliche (italienischdeutsche) und schließlich die deutsche, die, woran er in der Folge keinen Zweifel läßt, von Beethoven nur eingeleitet wurde. An Beethoven war, und zwar buchstäblich, denn Wagner bezieht sich auf die einschlägige Stelle des Schlußchors der neunten Sinfonie, »de[r] wundervolle[–] Prozeß der Emanzipation der Melodie aus der Herrschaft der Mode« zu verfolgen, insofern er »mit unvergleichlich eigentümlicher Verwendung all des Materiales, welches herrliche Vorgänger mühevoll dem Einflusse dieser Mode entzogen hatten, der Melodie ihren ewig gültigen Typus, der Musik selbst ihre unsterbliche Seele wiedergegeben« hat. Wagner muß sich hier Bachs, Haydns und Mozarts wegen offensichtlich winden, die als bloße Zulieferer dastehen, indem es erst Beethoven gewesen sein soll, der die Musik erneut beseelt und die ursprüngliche Melodie der Weltseele freigesetzt habe. Daß diese Tat gleichwohl nicht die erhoffte »unendlich tief begründete Neugeburt« und Änderung des ganzen deutschen Grundwesens war, mag nach solchem Lob verwundern. Wagner gibt hierzu zwar keine Erklärung, wohl aber einen Wink, wenn er von der nur Beethoven »eigenen göttlichen Naivität« spricht. Trotz des angeblichen »frech«145 nämlich war bei aller Anstrengung aus

144

Vv. 2499 f. Daß Wagner mit dem Erstdruck der Sinfonie statt des Schillerschen »Was die Mode streng geteilt« »frech« lesen will, ist im Rahmen seines Beethoven-Mythos von einigem Gewicht für die weltanschauliche Bestimmung der Mode – daß Beethoven 145

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dem Idealisten Beethoven sowenig wie aus seinen »herrliche[n] Vorgänger[n]« ein Vorkämpfer des antifranzösischen Nationalismus zu machen, und in der Tat war er für eine ungleich wichtigere Rolle vorgesehen, nämlich für die des ersten Heiligen der neuen, vom Wagnerschen »Bühnenfestspiel« (Ring) und »Bühnenweihfestspiel« (Parsifal) zu stiftenden Religion: »Gewiß darf es uns erscheinen, daß unsere Zivilisation […] nur aus dem Geiste unserer Musik, der Musik, welche Beethoven aus den Banden der Mode befreite, neu beseelt werden könne. Und die Aufgabe, in diesem Sinne der vielleicht hierdurch sich gestaltenden neuen, seelenvolleren Zivilisation die sie durchdringende neue Religion zuzuführen, kann ersichtlich nur dem deutschen Geiste beschieden sein«. Wie Beethoven die Musik durch die Emanzipation der Melodie neu beseelt hatte, ist jetzt die Zivilisation durch die Emanzipation der Musik selbst neu zu beseelen. Und war die erste Emanzipation die Freisetzung der (produktiven) Weltseele überhaupt, dann ist die zweite die Stiftung der Religion dieser Weltseele aus dem deutschen Geist – dem (anti-)modernen Geist des empörten Gefühls, den Nietzsche entsetzt als den des Ressentiments erkennen wird –, denn »dem deutschen Geiste« ist »ein unleugbarer Vorzug in der ihm eigenen Tiefe und Innigkeit des Erfassens der Welt und ihrer Erscheinungen zuzuerkennen«. Ist daher Goethes ewig Weibliches der Geist der Musik, der den Dichter »den Weg der Erlösung leitet«, dann folgt zuletzt: »Und diesen Weg aus tief innerstem Erlebnis hat der deutsche Geist sein Volk zu führen, wenn er die Völker beglücken soll, wie er berufen ist.« Da nun das Ergebnis so ganz anders ausfiel, ist zu prüfen, ob es der Geschichte hierbei nur ergangen ist, wie, nach Wagner, schon einmal, als sie »eines verwandt erscheinenden Volkes irrtümlich sich bemächtigt[e]«, oder ob dies Ergebnis keimhaft nicht bereits im Konzept als solchem liegt – nicht nur in Wagners, seinem musikalischen Denken apologetisch immerhin als äußerlich nachzusehender Bestimmung des Verhältnisses des »deutschen Geistes« zur modernen Zivilisation, sondern in der seiner Musik selbst. Denn hier wird die Sache unbeschadet des in diesem Fall gern angemahnten Partiturstudiums kritisch, indem die Behauptung der Beziehungslosigkeit zwischen Werk und Begriff des Werks in der Selbstinterpretation seines Schöpfers offenbar auf das Werk selbst zurückschlüge: es erschiene als blindes Naturprodukt, genauer als blindes Produkt der Geschichte. Da diese aber ihre nächste Gegenwart zum Werk wiederum in dessen Schöpfer hat, bewiese die Behauptung zuletzt nur ihr Gegenteil. Wie muß also aus der Sicht Wagners gleichwohl dem Schillerschen Text treugeblieben war, weist M. Unger im Revisionsbericht der Eulenburgschen Partiturausgabe, Leipzig / Wien o. J. nach.

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eine Musik beschaffen sein, die ihren Vorkämpfer zum Heiligen und dessen Interpreten gar zum Religionsstifter macht? Denn nach allem kann ja von harmlosen Metaphern nicht die Rede sein. Den Überlegungen hierzu widmet Wagner den umfangreicheren ersten Teil seiner Schrift, um sich erst auf dem so gewonnenen Boden »einer Betrachtung der äußeren Welt zu[zu]wenden, in welcher wir leben, und unter deren Drucke jenes innere Wesen zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft sich ermächtigte«. Die Moderne, paradigmatisch in ihrer französischen Gestalt, wird derart als Druck erfahren – es ist der allenthalben, nicht nur in Deutschland, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zunehmend bis zu den Neurosen und Perversionen des fin de siècle erfahrene Druck des sich zur Totalität schließenden Warencharakters der industrialisierten Welt, den Wagner unter den Titeln des »Journals«, der »Mode«, des »Modejournals« realisiert –, daß sie noch die »Erhabenheit der plastischen Welt des griechischen Altertums« einzig als Lehre zu lesen gestattet, »wie der übrige Verlauf des Weltenlebens etwa noch erträglich gestaltet werden kann«. Auf diesen Druck reagiert das sich gegen ihn, die »Erscheinung«, zum »Wesen« aufwerfende und also empörte Gefühl, das Innere, so, daß es sich ermächtigt »zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft«. Diese sich gegen die als leidenmachend erfahrene Moderne wendende Kraft ist Reaktion als Folge einer Reaktion, genauer: Reaktion nach außen als Folge einer Reaktion nach innen, nämlich der Selbstermächtigung. Treffender kann das dann von Nietzsche gedachte Ressentiment und sein ideologischer Kern nicht beschrieben werden. Denn worin besteht zuletzt die Selbstermächtigung? Offensichtlich genau darin, daß sich das Zweite zum Ersten macht – das ist mit Platon die Bestimmung des ψε3δεσαι – oder daß sich das Reagieren für sich selbst als ursprüngliches Agieren, als »Wesen« projiziert und mithin sogleich auch im Sinn der Selbstlegitimation retrojiziert.

Kunst als Ideologie Wagners Beethoven ist eine neue Metamorphose des Wiedergängers des 19. Jahrhunderts, des Gott-Menschen in Knechtsgestalt, den Kierkegaard religiös gedacht, Poe als den enteigneten Einsamen, exemplarisch im »Raven«, gedichtet und dessen politisch-ökonomische Realität Marx an der gesellschaftlichen Existenz des Lohnarbeiters und Proletariers analysiert hatte. In diesen ursprünglich-religiösen, poetischen und wissenschaftlichen Gestalten kommt ihm eine ebenso ursprüngliche, Mitleiden fordernde Würde zu, aber daß dies Schopenhauersche Mitleid, als

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ursprüngliches Faktum ohne Grund, keinen Rückhalt hat gegen den Umschlag in Selbstmitleid, läßt nicht nur die Lektüre von Poes »Philosophie der Komposition« erraten. Denn zu dieser Fortbestimmung gab es keine moderne Alternative, nicht Kierkegaards ästhetische oder ethische Existenz, nicht Poes Ellison und Landor, nicht Marx’ Kapitalisten usw., die allesamt nur, um Heideggers Terminus zu brauchen, defiziente Modi des Gott-Menschen in Knechtsgestalt sind und überhaupt nur als solche zur Sprache kommen. In demjenigen geschichtlichen Augenblick aber, in dem jenes Motiv heraus ist, sich artikuliert, »sich ermächtigt«, erweist es sich als der existenziale Ursprung der Ideologie. Und ohne soweit gehen zu wollen, diesen Ursprung mit der Wagnerschen Selbstbestimmung zu identifizieren – dazu ist die Genese der Ideologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ersichtlich zu vielgestaltig, ihre endliche Herrschaft im 20. so »rechts« wie »links« zu universal –, kann sein Name doch einstehen für den geschichtlichen Ort des Entspringens der spezifisch deutsch-nationalen Ideologie,146 indem Wagner sie in der Tat in der letzten ihr möglichen und für ihre »nach außen reagierende[–] Kraft« zugleich nötigen Tiefe verwurzelt, in der religiösen, nämlich in der selbst als Produkt der Industrialisierung sich erweisenden Kunstreligion. Unter diese Wurzel zu reichen hieß noch tiefer graben und war einzig Nietzsche vorbehalten – um einen schrecklichen Preis und zugleich hilflos gegen die geschichtliche Perversion seiner Absicht. Wer ist also Wagners Beethoven? Nach allem ist die Antwort: der Gott-Mensch in Knechtsgestalt im Rückschein der entspringenden Ideologie. Daraus wird zugleich ersichtlich, warum Wagner sich von Feuerbach zu Schopenhauer bekehren mußte. Feuerbach ist als philosophische Referenz dieses neuen »Ausstellungswerts« (Benjamin) der Musik wie ihres deutschen Protagonisten ganz und gar ungeeignet. Und so machte Schopenhauer – nicht nur in Deutschland, für Italien mag es De Sanctis belegen, für Frankreich Huysmans – in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Karriere, die in der ersten kaum vorauszusehen war und die sich Schopenhauer selbst, wie seine Ablehnung Wagners zeigt, auch nicht gewünscht haben konnte, während Feuerbachs Philosophie rasch aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwand. Schopenhauer war, insbesondere dem politisch entmündigten, genauer: sich entmündigenden

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Zur immensen, obwohl im Detail noch weitgehend unerforschten ideologischen Wirkung von Wagners Schriften vgl. J. Fest: Um einen Wagner von außen bittend. Zur ausstehenden Wirkungsgeschichte eines Großideologen, in: Ders.: Fremdheit und Nähe. Von der Gegenwart des Gewesenen, Stuttgart 1996, S. 275–298.

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deutschen Bürgertum entgegenkommend, radikal unpolitisch, in seinem dem Kierkegaardschen verwandten Insistieren auf dem Einzelnen aber ideologisch nicht gut brauchbar, weshalb es auch einer Transformation seiner Philosophie bedurfte, die nicht in Rechnung zu stellen Wagners literarisches wie musikalisches Werk seinem geschichtlichen Gehalt nach a limine verfehlen heißt. Diese Transformation ist, wie sich zeigte, die Substitution des Einzelnen durch das Volk. »Nicht also das Werk Beethovens, sondern jene in ihm enthaltene unerhörte künstlerische Tat des Musikers«, d. h. der »Übersprung[–] der Instrumentalmusik in die Vokalmusik«, »haben wir hier als den Höhepunkt der Entfaltung seines Genius festzuhalten, indem wir erklären, daß das ganz von dieser Tat belebte und gebildete Kunstwerk auch die vollendetste Kunstform bieten müßte, nämlich diejenige Form, in welcher, wie für das Drama, so besonders auch für die Musik, jede Konventionalität vollständig aufgehoben sein würde. Dies wäre dann zugleich auch die einzige, dem in unserem großen Beethoven so kräftig individualisierten deutschen Geiste durchaus entsprechende, von ihm erschaffene rein-menschliche, und doch ihm original angehörige, neue Kunstform, welche bis jetzt der neueren Welt, im Vergleiche zu antiken Welt, noch fehlt.« Die beiden Sätze enthalten Wagners Produktionsästhetik. Die Feier Beethovens ist weder die des Menschen, obwohl auch dieser aus gutem Grund, der Knechtsgestalt des Gott-Menschen wegen nämlich, in den Blick kommt, noch des Werks, sondern seiner Produktionsform, wo sie Vorbildcharakter annimmt. Dies ereignet sich nicht im Sinn einer Entwicklung, einer metaphysischen Entelechie, für die Goethes Rede von der geprägten Form einstehen mag, sondern in der für die Moderne seit Kierkegaard, der sie zum erstenmal thematisiert hat, charakteristischen Bewegungsform des Sprungs. Die Kategorie oder genauer das Existenzial des Sprungs entspringt dem Riß zwischen Produzent und Produkt, der die Produktion selbst als das metaphysisch immer als Grund gedachte Band zwischen beiden so ins Produkt entzieht, daß sie in diesem verschwunden scheint. Der Sprung ist mithin dies Ereignis ebenso wie seine Wiederholung im Bewußtwerden der modernen Produktionsform. So ist der im Kierkegaardschen Denken projektierte Sprung in den Glauben die Rückkehr in den Stand ursprünglicher Produktivität (»Wahrheit«). Eben deswegen kann er nicht gelingen und hat vielmehr umgekehrt die Bedeutung, die Faktizität der Existenz als Gegenstand der Reue sehenzulassen. Seine NichtWirklichkeit als existenzielle Unmöglichkeit ist paradoxerweise die Bedingung seiner Denknotwendigkeit, und wenn »Sein und Zeit« lehren wird, der Tod sei die Möglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz über-

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haupt,147 dann bezeichnet schon bei Kierkegaard der Gedanke des Sprungs die Existenz wesentlich als Vorlaufen, »denn das Vorwärtsgehen ist ja das Bild des Existierens«.148 Die »unerhörte künstlerische Tat des Musikers« Beethoven ist das Vorlaufen in »die vollendetste Kunstform«, in der – wieder kommt der utopische Charakter des Wagnerschen Denkens zum Vorschein – »jede Konventionalität vollständig aufgehoben sein würde«. So unmöglich im geschichtlichen Ort Kierkegaards der Sprung in den Glauben, so unmöglich im geschichtlichen Ort Wagners der in die vollendetste Kunstform, denn wie nach geglücktem Sprung in den Glauben alles auf unvorstellbare Weise verwandelt wäre, wäre die vollendetste Kunstform, bar jeglicher Konventionalität, das schlechthin Neue und so das völlig Unverständliche, das auch nicht einmal mehr als Kunstwerk erkannt werden könnte, mit Baudelaire gesprochen: le fugitif völlig ohne l’immuable,149 mithin das Ereignis, das Heidegger den »Blitz der Wahrheit des Seins in das wahrlose Sein«150 nennen wird. Seit Nerval, Mallarmé, Rimbaud nähert die moderne Lyrik als die der Öffentlichkeit unbedürftigste aller Künste sich diesem Ideal, und in Duchamps Flaschentrockner ist es, und mit ihm der utopische Gedanke der Kunst des 19. Jahrhunderts überhaupt, parodiert: das vollendete Kunstwerk ist eben darum ein bloß dazu erklärtes, wie zuvor schon Georges Gott Maximin bloß der dazu erklärte Gymnasiast Maximilian Kronberger war.151 Aber es ist auch zu sehen, wie in Wagners Utopie die verhaßte Mode und die projektierte Kunst so ineinander verschränkt sind, daß diese sich als die Hyperbel von jener erweist. Neuheit ist die conditio sine qua non des Dings als Ware, und die Mode ist, was sie ist, eben als dies Immer-Neue, le fugitif, aber, um überhaupt zu sein, kurzfristig konventionalisiert. Wagners Bestimmung bringt die vollendetste Kunstform zum Vorschein nicht als das Andere der Mode, sondern als deren Vollendung, die freilich nur ist als der Untergang beider – darum muß dem »Sieg147

SuZ, S. 262. S. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, II.II., Kap. 4, Sektion 2, A. § 2, übs. von B. und S. Diderichsen, München 1976 (Köln 11959), S. 633 (die folgenden Kierkegaard-Zitate übernehmen nicht durchweg die originalen Hervorhebungen). 149 Der Maler des modernen Lebens, IV. 150 M. Heidegger: Die Kehre, in: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 45, und: Gesamtausgabe III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen, Band 79: Bremer und Freiburger Vorträge, Frankfurt a. M. 1994, S. 75 (dort noch »Seyn« statt »Sein«). 151 Vgl. hierzu C.A. Scheier: Maximins Lichtung. Philosophische Bemerkungen zu Georges Gott, in: George-Jahrbuch 1, hrsg. von W. Braungart u. U. Oelmann, Tübingen 1996/97, 80–106. 148

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fried« die »Götterdämmerung« folgen. Das hat wenig zu tun mit dem angeblichen Pessimismus des alten Wagner als einer persönlichen und insofern zufälligen Entwicklung. Kann doch für den »Parsifal« keine Rede von Pessimismus sein, nur daß der Akzent im »Ring« auf die Produktion, im »Parsifal« auf das Produkt (Gral und Speer) fällt. Ist also auch dem Wagnerschen Kunstwerk diejenige Form, in welcher jede Konventionalität vollständig aufgehoben sein würde, ihrem Begriff nach unerreichbar, Referenz des bloßen Namens – und diese Referenz wird allerdings Geschichte machen bis in unsre unmittelbare Gegenwart –, dann ist dies Kunstwerk selbst wesentlich vor-läufig. Oder das Wagnersche Kunstwerk ist das mit den Mitteln der Kunst ins Werk gesetzte Projekt des Kunstwerks, d. h. der weltanschauliche Diskurs noch einmal im Schein seines Andern, nämlich seines projektierten Gegenstands. Adornos Einsicht: »Die Verdeckung der Produktion durch die Erscheinung des Produkts ist das Formgesetz Richard Wagners«152 trifft nicht nur das innerste Motiv der Wagnerschen Produktion, sondern begreift sie zugleich als exemplarisch für die industrielle Produktionsweise der frühen Moderne. Wagners Kunstwerk ist aber keine Ware sondern Kunstwerk darum, weil es diese Verdeckung selber thematisiert, statt sie zu verdecken, und so der Bestimmung des modernen Kunstwerks Genüge tut, die Ware in der Dimension des Schmerzes zu sein, den Riß zwischen Produkt und Produzent selber zum Austrag zu bringen. Gleichwohl, und das ist das an den Namen Wagner gebundene Paradox ohnegleichen, ist dies Kunstwerk, Kunstwerk bleibend, zugleich die ins Produkt gesetzte Ideologie. Es wäre nämlich im Sinn der gedachten Vorläufigkeit das rein utopische Kunstwerk, wenn Wagner es in der Tat nichts als seinen eignen Untergang beschreiben ließe – eine Selbstbeschreibung, die in Adornos »Ästhetischer Theorie« als das Verstummen des Kunstwerks gedacht werden wird. Die Frage als zu komplex beiseite lassend, wie es dann, Beckett avant la lettre, überhaupt Bühnenkunstwerk zu sein vermöchte, ist diese Bestimmung aber bereits dadurch getrübt, daß die aller Konventionalität vollständig entrückte Kunstform »die einzige, dem […] deutschen Geiste durchaus entsprechende« sein soll. Denn damit dieser Geist sich überhaupt als der deutsche erweisen kann, muß er sich auf einen gesellschaftlich-geschichtlichen Unterschied berufen, der alle einzelnen seiner Träger auszeichnet, d. h. eben auf eine Konventionalität, sei diese auch, wie der Titel des »Volks« im 19. Jahrhundert notwendig insinuiert, eine »natürliche«. Wagner selbst notiert den Unterschied wohl; aber indem er ihn, statt ihn als ursprüngliche Differenz stehen zu lassen und sein Kunstwerk so 152

Th.W. Adorno: Versuch über Wagner, in: GS 13, Frankfurt a. M. 1971, S. 82.

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der ideologischen Instrumentalisierung zu entziehen – wie es Bruckner und Brahms im Verzicht auf die Opernform, Verdi im Festhalten an »aristotelischen« Charakteren (oder am Shakespeareschen Dramentypus) gelungen ist –, vielmehr in einem mitte-losen Kurz-Schluß implodieren läßt, wird die Utopie selbst zur Ideologie, d. h. zur Schein-Utopie, in der das Utopische nur überlebt – und es überlebt wohl – als »Trotzdem«. Denn, sagt er, diejenige Kunstform, in der jede Konventionalität vollständig aufgehoben sein würde, wäre »zugleich auch die einzige, dem […] deutschen Geiste durchaus entsprechende, von ihm erschaffene rein-menschliche, und doch ihm original angehörige, neue Kunstform« als die Kunst, in der sich das Rein-Menschliche (Wagners zu Feuerbach zurückhörender Ausdruck für die Utopie) darstellt als das Rein-Deutsche, das so gar nicht utopisch ist, indem es im Augenblick der Niederschrift seinen Sieg über den französischen Nachbarn feiert. Dies also ist Wagners Axiom: Nur was rein-deutsch ist, ist reinmenschlich – eine Identifikation, die vom Wagnerschen Kunstwerk nicht subtrahierbar ist, denn unstreitig sind nicht nur die Meistersinger, in denen am Schluß der mit »Heil Sachs!« begrüßte Schuster für den Beethoven der »Festschrift« steht: Zerging in Dunst Das heil’ge röm’sche Reich, Uns bliebe gleich Die heil’ge deutsche Kunst! – sondern auch die andern reifen Werke mit ihren strukturellen Parallelismen nicht zu denken ohne ihren deutschen Mythos, der ein Mythos des Deutschen ist. Es hilft nichts: Wenn der deutsche Geist »die Völker beglücken soll, wie er berufen ist«, dann nicht mit dem Rein-Menschlichen – wodurch immerhin die Marxsche Rede von der kommunistischen Gesellschaft in den Blick kommt, die allein von der Produktionsweise her gedacht ist –, sondern mit sich selber, mit dem deutschen Geiste, was abermals die Bedeutung des »empörten Gefühls« sehen läßt, daß es nämlich auf Herrschaft mit Herrschaftsanspruch und dessen Selbstermächtigung reagiert: Herrschaft der »Tiefe und Innigkeit« gegen Herrschaft der Mode. Aber herrschende Tiefe und Innigkeit ist eine Contradictio in adjecto, indem Herrschaft immer, wenigstens, Konventionalität ist. Als sich verdeckender Widerspruch ist sie darum Ideologie, genau das, was Wittgenstein als den »metaphysischen Satz« beschreiben wird: der Unsinn im Schein des Sinns. Dieser deutsche Geist von 1870 also ist »in unserem großen Beethoven« individualisiert, so daß Wagner erwartungsgemäß mehr jenen als diesen darstellen wird, umso mehr, als ihn vor allem die »unerhörte

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künstlerische Tat« des Sprungs aus der Instrumental- in die Vokalmusik interessiert und interessieren muß, wenn er, auf seine Weise, an die Wurzel der modernen Produktivität geht. Zu Ende der Abhandlung hatte er Goethes ewig Weibliches als den Geist der Musik interpretiert, der von den Griechen über das Christentum zu den Deutschen gelangt war, wo er nunmehr der »unendlich tief begründete[n] Neugeburt« harrt. Von da, wie vom Text der neunten Sinfonie her, liegt also ein andrer deutscher Gemeinplatz nahe, der von Goethe-versus-Schiller, von dem die Entwicklung der Abhandlung denn auch eigentlich ausgeht, indem Wagner behauptet: Goethe »war mit seinem Bewußtsein ein durchaus der anschaulichen Welt zugewendeter schöner Geist. Schiller war dagegen ungleich stärker von der Erforschung des der Anschauung gänzlich abliegenden Unterbodens des inneren Bewußtseins angezogen, dieses ›Dinges an sich‹ der Kantischen Philosophie«. Von einem »Unterboden« des »inneren Bewußtseins« hatte Kant freilich nichts gewußt. Es war Schopenhauer, der das »Ding an sich selbst betrachtet« identifiziert hatte nicht nur mit dem Willen, sondern mit dem »Willen zum Leben«. Das setzt Kant und Schopenhauer epochal auseinander.153 Denn in der Identifikation des Willens mit dem Willen zum Leben ist der Horizont der neueren Philosophie und so der der Metaphysik ersichtlich verlassen, indem der göttliche Wille der des Lebens (gen. subj.), der ζω4 διος ist und nicht (intentional) der zum Leben. Dieser wesentlich »blinde« Wille – schlägt er die Augen auf, wird er sich verneinen –, ist auch nicht gleichzusetzen mit dem vormaligen appetitus oder conatus, indem dieser nur die unmittelbare Gestalt des sich als Gabe im göttlichen Geber unendlich reflektierenden oder bejahenden Bewußtseins ist. Schopenhauers Wille zum Leben ist vielmehr die erste Bestimmung der menschlichen Produktivkraft unter den gesellschaftli-

153

Im übrigen wäre es, insbesondre im Blick auf den späten Schelling, eines Versuchs wert, jenes bereits von Jacobi monierte und von Fichte in die Produktivitität des absoluten Ich zurückgenommene Ding an sich als Wille, dann aber als die metaphysische voluntas, traditionell die Bestimmung der dritten göttlichen Person, zu lesen. Dann nämlich ließe das Sittengesetz sich verstehen als der Imperativ der Adäquation von Erscheinung und Ding an sich als von endlichem und göttlichem Willen oder der Realisation der praktischen Idee der Freiheit als des spiritus Christi: »Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses, und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit […] Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ›ist in ihm von Ewigkeit her‹; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn […]. / Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht« (Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 73 f.).

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chen Bedingungen der aufziehenden industriellen Produktion,154 weshalb der Mensch sogleich auch erscheint als die »Fabrikwaare der Natur«. Dieser »Wille« nun, der, wie ersichtlich, aber allein schon Heideggers wegen nicht überflüssig zu bemerken, dem metaphysischen Willen wo nicht geradezu homonym, so doch (gegenwendig) analog ist,155 wird nun von Wagner eigens als »Unterboden« des »inneren Bewußtseins« gedacht, wenige Zeilen nachdem er vom »dunklen Boden« des dichterischen »Unbewußtseins« gesprochen hatte. Hier handelt es sich offensichtlich um eine Metamorphose der schon erwähnten Poeschen »Seele«, nämlich um das neue, alsbald psychoanalytisch erforschte Korrelat des neuen, nicht Dings an sich, sondern: Dings für uns oder der Ware. Poe sprach noch durchaus von der Seele, und das zeigt, wie sein poietisches Motiv in den Schopenhauer-Feuerbach-Kierkegaardschen Horizont gehört. Hat sie sich für Wagner zum Boden, sogar, verdeutlichend, Unterboden des Bewußtsein sedimentiert, dann ist dies ein Index dafür, daß das Wagnersche Motiv gerade wie das Marxsche nicht mehr das nach-metaphysische Bewußtsein, sondern die nach-metaphysische Welt ist, ein Motiv, das dem Denken in seiner ursprünglichen (Marx) wie in seiner abkünftigen oder ideologisierenden Gestalt eine Unterscheidung abnötigt, deren Möglichkeit freilich in der Kierkegaardschen Unterscheidung von Bewußtsein und Existenz angelegt war, nur daß diese noch an der Existenz als sprödem, ausdehnungslosem Punkt festhielt und festhalten konnte: die Unterscheidung von Basis und Überbau.

Die Musik der Intentionalität Merkwürdig ist hier etwas, das, im Vorbeigehen, der nachmaligen Bedeutung »Ariadnes« für Nietzsche wegen gleichwohl festgehalten zu werden verdient. Wenn Wagner zum Schluß der Abhandlung Goethe auf den Geist der bildenden Kunst Verzicht tun und mit der Wendung vom ewig Weiblichen den Geist der Musik beschwören läßt, der »nun über ihm schwebt«, dann ist diese Wagnersche Weltseele einmal nicht wie 154

Noch Adorno wird die metaphysische Affirmation des endlichen Geistes im unendlichen gleichsetzen mit dem Willen des »bürgerlichen« Individuums zum Überleben im Existenzkampf unter den Bedingungen progredierender Industrialisierung. 155 Die Analogie liegt im Streben, ihre Gegenwendigkeit im Begriff der Selbsterhaltung, indem der metaphysische Wille sein Selbst nicht außer sich, sondern in sich über sich hat. Nietzsches Gedanke der Selbststeigerung ist hier darum kein Einwand, weil er die intentionale Selbsterhaltung der menschlichen Produktivität, des »Lebens«, schon voraussetzt.

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sonst das Unbewußtsein als dunkler Boden, sondern, mit dem Freudschen Terminus, das Über-Ich – mit dem Freudschen Terminus, aber nicht mit dessen Bestimmung, denn dies Über-Ich ist weiblich. Was in erster Näherung erläutert, warum Wagner in auffälliger Iteration als den eigentlichen Gegenstand der empörenden Herrschaft der Mode gar nicht das deutsche Volk, sondern das »deutsche Weib« nennt und die öffentlichen Meinungen mit »öffentlichen Dirnen« vergleicht (wobei Kundry zu assoziieren wäre). Das verweist auf die Metamorphosen der Sexualität im Denken der Moderne,156 aber gewonnen ist auch eine deutlichere Einsicht in Wagners verschwiegenen Abschied von Schopenhauer. Denn nach allem weist die ewig weibliche Musik den Weg der Erlösung keineswegs in das Schopenhauersche Nirwana oder Nichts – dieser Weg öffnet sich für Schopenhauer ästhetisch allein mit der Müdigkeit des Künstlers am Welt-Spiel (die so wenig zur Musik des geliebten Rossini passen will) –, sondern in sich selbst zurück, d. h. Wagner sucht die Erlösung genau in dem, von dem Schopenhauers Pessimismus erlösen wollte, nämlich im, allerdings, inzwischen zum »Unterboden« des Bewußtseins gewordenen Welt-Willen als der mythisch verschleierten industriellen Produktivkraft: In dem wogenden Schwall, In dem tönenden Schall, In des Weltatems Wehendem All –, Ertrinken, VersinkenUnbewußt –, Höchste Lust! – so der Schluß von »Tristan und Isolde«. Darin liegt, daß für Wagner die beiden andern deutschen Heiligen neben Beethoven ihrer übrigen Gegensätzlichkeit unbeschadet demselben Ziel zustreben, das »[m]it philosophischer Klarheit« erst Schopenhauer erkannt habe, indem er der Musik »eine von derjenigen der bildenden und dichtenden Kunst gänzlich verschiedene Natur zuspricht«. In der Tat lehrt Schopenhauer, die Musik sei »eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Idee; sondern Abbild des Willens selbst, des156

Vgl. u. Kapitel III, Die Metamorphosen der Sexualität, S. 165.

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sen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.«157 Auf den ersten Blick scheint Schopenhauer nur die äußerste Konsequenz aus der romantischen, namentlich der Wackenroder-Tieckschen Apotheose der Musik zu ziehen, wenn er sie als eine wesentlich syntaktische Kunst nicht nur über die andern, semantischen und darum der Welt der Erscheinungen verbunden bleibenden Künsten setzt, sondern entschieden von ihnen insgesamt abtrennt. Wagner hätte dann wohl recht, bereits Goethe und Schiller auf die Schopenhauersche Bahn zu bringen; aber das hier eröffnete Diastema zwischen der Musik und den übrigen Künsten ist in der Tat nicht frühromantischer Provenienz, indem es, unbeschadet der von Schelling bis ins Spätwerk hinein systematisch ausgefalteten romantischen Dualität, gar nicht als Produkt der »unendlichen« Reflexion verständlich gemacht werden kann, die ihrerseits dem Kantschen synthetischen Urteil a priori entspringt, vielmehr der intentionale Bruch mit dieser ganzen Tradition ist. So ist es auch mehr als ein metaphorisches Spiel, wenn die hinter dem Schleier der Erscheinungen verborgene Göttin nunmehr die Maja und nicht jenes transzendentale Selbstbewußtsein ist, als welches Novalis die Göttin zu Sais entdeckt hatte: Einem gelang es – er hob den Schleier der Göttin zu Sais –, Aber was sah er? er sah – Wunder des Wunders – Sich Selbst. Entsprechend sagt Hegel am Schluß des Bewußtseinskapitels der »Phänomenologie des Geistes«: »Es zeigt sich, daß hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innre verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sey, das gesehen werden kann.«158 Die klassische wie die frühromantische Kunst bringt die reflexive Vermittlung von Innen und Außen geradeso zur Anschauung wie Hegel diese Reflexionsbegriffe in der »Wissenschaft der Logik« als Eine spekulative Identität denkt, wogegen Kierkegaard, der Sache, nicht dem Einfluß nach ganz im Sinn Schopenhauers, bereits im ersten Satz des Vorworts von »Entweder – Oder« das intentionale Veto einlegen wird: »Es ist dir vielleicht doch mitunter eingefallen, lieber Leser, ein bißchen an der Richtigkeit des bekannten philosophischen Satzes zu zweifeln, daß das Äußere das Innere, das Innere das Äußere sei«. Wo aber das Innere und das Äußere ursprünglich, d. h. unvermittelbar unterschieden wer157 158

WWV § 52, S. 341. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 102.

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den, da ist es auch nichts mehr mit jenem spekulativen Selbstbewußtsein, und weit davon entfernt, daß Schopenhauers Begriff der Musik zuletzt nur ausspräche, was den Klassikern und Frühromantikern bloß vorgeschwebt habe, ist er die ästhetische Konsequenz des Begriffs des intentionalen Bewußtseins, das Schopenhauer selber zum erstenmal »[m]it philosophischer Klarheit« exponiert und damit sogleich den geschichtlichen Horizont für Husserls intentionales »Prinzip aller Prinzipien«159 eröffnet: »Unser erkennendes Bewusstseyn, als äussere und innere Sinnlichkeit (Receptivität), Verstand und Vernunft auftretend, zerfällt in Subjekt und Objekt, und enthält nichts ausserdem. Objekt für das Subjekt seyn, und unsre Vorstellung seyn, ist das Selbe. Alle unsre Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsre Vorstellungen.«160 Das intentionale Subjekt ist also 1) entweder, wie zunächst und zumeist, auf seine Objekte gerichtet oder aber 2) auf dies Gerichtetsein, wodurch es eben seine Erkenntnisvermögen zu unterscheiden vermag; versucht es hingegen 3) sich selbst als erkennendes Subjekt zu seinem Objekt zu machen, dann tritt das Erkennen reflexionslos auf die Subjektseite hinüber, die Schopenhauer den inneren Sinn oder das Selbstbewußtsein nennt, als dessen demnach intentionales Objekt nurmehr das rein sich (auf Objekte) Richtende übrigbleibt, d. h. das Subjekt gerade nicht als erkennendes, sondern als (blinder) Wille: »Da Draussen also liegt vor seinen Blicken große Helle und Klarheit. Aber Innen ist es finster, wie ein gut geschwärztes Fernrohr: kein Satz a priori« – geschweige ein synthetischer – »erhellt die Nacht seines eigenen Innern; sondern diese Leuchtthürme strahlen nur nach außen.«161 Hier zeigt sich, wie Schopenhauers Ästhetik in ihrem entscheidenden Schritt die Konsequenz einer intentionalen »Einstellung« (Husserl) ist, die gar nicht mehr über Begriffe, sondern nur noch, wie bei Heidegger, über gemeinsame Namen mit den Reflexionsästhetiken von Klassik und Frühromantik und so auch mit deren Kunst vermittelt werden kann. Die Künste insgesamt produzieren »Abbilder« der von Schopenhauer so genannten Platonischen Ideen, gleichsam der Knoten in der Textur des Schleiers der Maja, d. h. sie sind Reproduktionen eines ursprünglichen 159

Vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980 (unveränderter Nachdruck der zweiten Auflage von1922), § 24, und Heideggers Identifizierung dieses »Prinzips« mit dem der »Metaphysik« überhaupt im Vortrag von 1964 »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, hier S. 69 ff. 160 A. Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, § 16, W III, S. 38 f. 161 A. Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens II, W III, S. 380.

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Programms, das auch der Natur zugrundeliegt und als solches nur vom künstler- bzw. philosophischen Auge gelesen werden kann. Wo das willenlose Subjekt aber sozusagen ganz Ohr wird, da vernimmt es hinter dieser Urschrift noch die Stimme ihres Ursprungs, der »Maja« als des sich im schönen Gegenschein seiner Häßlichkeit selbst wollenden Willens, eine Stimme, die unmittelbar wiederum nichts von dieser Häßlichkeit zu verraten scheint, insofern sie nur als ihr schönes Echo vernehmbar wird oder als das, was Kierkegaard in seinen »Philosophischen Bissen« die »akustische Täuschung« nennt: als Musik, die Sirenenkunst unter den Künsten, weil sie nicht Abbild eines Abbilds, der »Idee«, sondern »Abbild des Willens selbst« ist. Geschichtslos denkend, glaubte Schopenhauer hier die wahre, »ewige«, Definition der Musik zu geben, und Wagner wird ihm darin folgen. Aber auf Schopenhauers geschichtlichen Ort gesehen, erweist sie sich als die erste und philosophisch bis zum fin de siècle gültig bleibende Bestimmung der nicht länger metaphysischen, sondern modernen Musik, wie sie in Schubert verglichen mit Beethoven, in Bellini und Donizetti verglichen mit Rossini, in Berlioz verglichen mit Cherubini Ereignis wird. Und diese Musik läßt mit ihrer, zunächst allerdings gar nicht revolutionären, Destruktion der klassischen musikalischen Architektonik – einer Destruktion, der freilich gerade Beethoven vorgearbeitet hatte, im Blick auf die Philosophie hierin Schelling vergleichbar –, genau das hören, was Schopenhauer aller Musik ansinnt, den Ursprung aus einer nicht länger ontotheologisch zu begründenden Produktivität. Wenn Wagner nun behauptet, Schopenhauer stelle seine »hypothetische Erklärung der Musik«, daß »derjenige, welcher sie gänzlich in Begriffen verdeutlichen könnte, sich zugleich eine die Welt erklärende Philosophie vorgeführt haben würde«, »als Paradoxon hin«,162 dann geht er mit dem Text mehr als frei um; versichert Schopenhauer doch, daß man, sei man ihm gefolgt und in seine Denkungsart eingegangen, diese Bemerkung »nicht so sehr paradox finden« werde. Die folgenden Zeilen machen aber klar, welche Absicht hinter Wagners Umdeutung steht. Schopenhauer liefere zwar »das einzig ausgiebige Material zu einer weitergehenden Beleuchtung der Richtigkeit seiner tiefsinnigen Erklärung«, sei aber zum einen als Laie mit der Musik nicht vertraut genug gewesen, und zum andern habe »seine Kenntnis von ihr sich noch nicht bestimmt genug auf ein Verständnis eben desjenigen Musikers beziehen« können, »dessen Werke der Welt erst jenes tiefste Geheimnis der Musik erschlossen haben; denn gerade ist auch Beethoven nicht erschöpfend zu beurteilen, wenn nicht jenes von Schopenhauer hingestell162

Vgl. WWV § 52, S. 349 f.

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te tiefsinnige Paradoxon für die philosophische Erkenntnis richtig erklärt und gelöst wird.« Schopenhauer hätte also fachmännischer Interpretationen Beethovens bedurft, wie E.T.A. Hoffmann sie seit 1810, dem Erscheinungsjahr seiner kongenialen Rezension der 5. Sinfonie, in der Tat veröffentlichte. Der Philosoph hat sie vermutlich nicht zur Kenntnis genommen, aber Wagner, der Hoffmann seit früher Jugend schätzte,163 muß sie studiert haben, worauf dann die vorsichtige Wendung zu beziehen wäre, daß Schopenhauer seine Kenntnis noch nicht »bestimmt genug« auf ein Verständnis Beethovens beziehen konnte, denn aus des Frühromantikers Hoffmann Analysen ist beim besten Willen keine Schopenhauersche Philosophie zu pressen. Erst also Wagners eignes Verständnis Beethovens ist bestimmt genug, das Paradox aufzulösen. Für Schopenhauer selbst ist die von ihm gegebene Erklärung der Musik keineswegs, wie Wagner unterstellt, hypothetisch, sondern apodiktisch, denn wem »eine vollkommen richtige, vollständige und in das Einzelne gehende Erklärung der Musik« gelänge, der hätte damit notwendig sogleich auch »die wahre Philosophie« formuliert, und das ist für Schopenhauer allerdings keine andre als die seine. Was er bei dieser Gelegenheit interessanterweise in den Blick faßt, ist eine der musikalischen Analyse entspringende »Möglichkeit einer Zahlenphilosophie«164 oder die mathematische Darstellung seines Gedankens, eine verblüffende wie gleichwohl, schon im Blick auf Poe, geschichtlich naheliegende Antizipation des logizistischen Programms Freges und seiner Nachfolger. Daran kann Wagner nun kaum gelegen sein, der das Paradox denn auch darein setzt, die Musik überhaupt sprachlich, durch Begriffe, zu verdeutlichen. Auflösbar sei es dadurch, daß ein professioneller Musiker es versteht, Beethoven mit Hilfe von Schopenhauers Philosophie »erschöpfend zu beurteilen« und dadurch umgekehrt wiederum die erst hypothetische Erklärung Schopenhauers in eine apodiktische zu verwandeln. Das bedeutet aber näher betrachtet nichts geringeres, als der Schopenhauerschen Philosophie im ganzen den ihr hier unterstellten hypothetischen Charakter zu nehmen. Denn wenn die Musik im Unter163

So schreibt er über seinen Aufenthalt in Prag 1826/27: »Leidenschaftlich unterhielt man sich oft über die Hoffmannschen Erzählungen, welche damals noch ziemlich neu und von großem Eindruck waren. Ich erhielt von hier an durch mein erstes, zunächst nur oberflächliches Bekanntwerden mit diesem Phantastiker eine Anregung, welche sich längere Jahre hindurch bis zur exzentrischen Aufgeregtheit steigerte und mich durch die sonderbarste Anschauungsweise der Welt beherrschte.« (R. Wagner: Mein Leben, hrsg. von W. Altmann, Leipzig o. J., Band 1, S. 21) 164 WWV § 52, S. 349 f.

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schied zu den andern Künsten Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, sein soll, dann ist die Musik immer gerade so weit erklärt, wie die Welt erklärt ist und vice versa, d. h. nicht der Laie Schopenhauer, sondern erst der Musiker Wagner vermag die apodiktische Erklärung der Welt zu geben, und zwar mittelbar durch die erschöpfende Beurteilung desjenigen Musikers, der »der Musik selbst ihre unsterbliche Seele wiedergegeben« hat, so daß »durch ihn, da er denn in der reinsten Sprache aller Völker redete, der deutsche Geist den Menschengeist von tiefer Schmach erlöste«, nämlich von der »künstlich geleiteten Verderbnis des europäischen Völkergeistes«. »Denn indem er die zur bloßen gefälligen Kunst herabgesetzte Musik aus ihrem eigensten Wesen zu der Höhe ihres erhabenen Berufes erhob, hat er uns das Verständnis derjenigen Kunst erschlossen, aus welcher die Welt jedem Bewußtsein so bestimmt sich erklärt, als die tiefste Philosophie sie nur dem begriffskundigen Denker erklären könnte. Und hierin einzig liegt das Verhältnis des großen Beethoven zur deutschen Nation begründet«. Bisher war die Erklärung der Welt eine Sache der wenigen, jetzt aber vermag sie nicht nur »jedem Bewußtsein« erklärt zu werden – die Welt selbst erklärt sich jedem Bewußtsein durch die Musik Beethovens, zunächst freilich »ersichtlich nur dem deutschen Geiste« und ebenso ersichtlich nur durch die Vermittlung Wagners, die umso unverzichtbarer erscheint, als Beethoven selbst das Bewußtsein seiner künstlerischen Tat abgesprochen wird, um ihn als gleichsam willenloses Medium der Weltseele erscheinen zu lassen: »Gewiß hat es nie einen weniger über seine Kunst nachdenkenden Künstler gegeben als Beethoven«, so daß die »Macht des Musikers […] nicht anders, als durch die Vorstellung des Zaubers zu fassen« ist. Diese Depotenzierung des denkenden Künstlers Beethoven zum bloßen bewußtlosen Medium ist die Voraussetzung seiner Transformation in den Gott-Menschen, die Wagner der eigentlichen Erklärung der Produktion vorausschickt, indem »uns zunächst immer wieder der persönliche Beethoven zu fesseln haben« wird, »als der Fokus der Lichtstrahlen der von ihm ausgehenden Wunderwelt«. Was die »furchtbar rüstige Kraft« der Beethovenschen »Hirnschale von ganz ungewöhnlicher Dicke und Festigkeit« »umschloß und bewahrte, war eine innere Welt von so lichter Zartheit, daß sie, schutzlos der rohen Betastung der Außenwelt preisgegeben, weich zerflossen und verduftet wäre – wie der zarte Licht- und Liebesgenius Mozarts«. Entsprechend hatte Beethoven »nie und zu nichts […] Lust, als was ihn nun immer und einzig einnahm: das Spiel des Zauberers mit den Gestaltungen seiner inneren Welt«. Das macht den Übergang zur Darstellung der Knechtsgestalt des Gott-Menschen: »Ein gehörloser Musiker! – Ist ein erblindeter Maler zu denken? /

Das Zauberbuch des Nekromanten

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Aber den erblindeten Seher kennen wir. Dem Tiresias, dem die Welt der Erscheinung sich verschlossen, und der dafür nun mit dem inneren Auge den Grund aller Erscheinung gewahrt […]. Wer Beethoven damals mit dem Blicke des Tiresias gesehen hätte, welches Wunder müßte sich dem erschlossen haben: eine unter Menschen wandelnde Welt – das Ansich der Welt als wandelnder Mensch!« Und als wollte Wagner selbst den letzten Zweifel an der Identifikation Beethovens mit dem Gott-Menschen in Knechtsgestalt ausräumen, läßt er in der 6. Sinfonie die Welt »ihre Kindesunschuld« wiedergewinnen: »›Mit mir seid heute im Paradiese‹ – wer hörte sich dieses Erlöserwort nicht zugerufen, wenn er der ›Pastoral-Symphonie‹ lauschte? […] der Weltenschöpfer Brahma lacht über sich selbst, da er die Täuschung über sich selbst erkennt; die wiedergewonnene Unschuld spielt scherzend mit dem Stachel der gesühnten Schuld, das befreite Gewissen neckt sich mit seiner ausgestandenen Qual. […] So predigen diese wundervollen Werke Reue und Buße im tiefsten Sinne einer göttlichen Offenbarung.« Mit einem Seitenhieb auf den Österreicher, der »selbst den richtigen Akzent für seine Sprache verloren« hatte, »welche ihm jetzt, wie die klassischen Namen der antiken Welt, nur noch in undeutscher Verwelschung vorgesprochen wurde«, »auf dem Boden einer gefälschten Geschichte, einer gefälschten Wissenschaft, einer gefälschten Religion«, bindet Wagner die Konjunktion von Jesus und Brahma an den deutschen Geist zurück: »Bachs Wunderwerk ward ihm zur Bibel seines Glaubens; in ihm las er und vergaß darüber die Welt des Klanges, die er nun nicht mehr vernahm. Da stand es geschrieben, das Rätselwort seines tief innersten Traumes […]. Was nur das Auge des deutschen Geistes erschauen, nur sein Ohr vernehmen konnte, was ihn aus innerstem Gewahrwerden zu der unwiderstehlichen Protestation gegen alles ihm auferlegte äußere Wesen trieb, das las nun Beethoven klar und deutlich in seinem allerheiligsten Buch und – ward selbst ein Heiliger.«

Das Zauberbuch des Nekromanten Diese Passage hat ein besonderes Interesse darin, daß Wagner, der in der Folge den Gebrauch der Schrift mit ihrer Entwicklung über den Buchdruck zur Zeitung verantwortlich machen wird für die Dekadenz der »Produktivität des menschlichen Geistes«, den Heiligen der Musik hier »die Welt des Klanges« vergessen läßt über seinem »allerheiligsten Buche«, und dies offenbar keineswegs verlegenheitshalber des historischen Faktums der Taubheit wegen. Denn was Beethoven in der »Bibel

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seines Glaubens« liest, das sind »dieselben rätselhaft verschlungenen Linien und wunderbar krausen Zeichen, in welchen dem großen Albrecht Dürer das Geheimnis der vom Lichte beschienenen Welt und ihrer Gestalten aufgegangen war, das Zauberbuch des Nekromanten, der das Licht des Makrokosmos über den Mikrokosmos hinleuchten läßt.« Daß dies ein deutsches Ereignis zu sein hätte, wird schon hier insinuiert. Was nur das Auge des deutschen Geistes erschauen, nur sein Ohr vernehmen konnte, das las Beethoven und ward ein Heiliger; wobei aber auch deutlich wird, daß das vom »Erlöserwort« gemeinte wahre »Paradies von Produktivität […] vor der Erfindung der Schrift« als das Paradies der Musik paradoxerweise das einer ursprünglichen Schrift war, deren allerheiligstes Buch oder Bibel »das Zauberbuch des Nekromanten« ist, das »grimoire«, von dem auf seine Weise auch der Mallarmé des »Igitur« träumte. Dies im frühromantischen Kontext schon von Novalis projektierte Ur-Programm der Poesie zeichnet »die vollendetste Kunstform« vor, in der »jede Konventionalität vollständig aufgehoben« wäre, weshalb es notwendig – hier wie oft erinnert Wagner sich der romantischen Sprache seiner Jugend – in »rätselhaft verschlungenen Linien und wunderbar krausen Zeichen« geschrieben ist. Solche Urschrift spiegelt noch nicht »das menschliche Leben nach seinem verschiedenen Charakter mit objektiver Wirklichkeit im Sinne von unmittelbaren Geistererscheinungen« ab, sondern beschwört die Geister selbst vor jeden möglichen Spiegel. Sie bezeichnet daher »das Rätselwort« des »tief innersten Traumes […] der neuen, anderen Welt«,165 wo »der Begriff der Mode selbst für die Gestaltung unseres äußeres Lebens gänzlich sinnlos zu werden hätte«. Merkwürdig ist die Identifikation dieser Urschrift mit dem »Zauberbuch des Nekromanten«. Wagner kann allerdings voraussetzen, daß der deutsche Leser an die Verse über den Nekromanten von Norcia aus dem vierten Akt des zweiten Faust166 erinnert ist, die sich ihrerseits auf die Passage über Cecco von Ascoli im zwölften Stück des Anhangs zu Goethes Cellini-Übersetzung zurückbeziehen; aber auch an die beiden ältesten Darstellungen der Nekromantie in der europäischen Literatur: einerseits an die Hexe von Endor,167 die Wagner im Sinn gehabt haben mag, als er die Erda-Szene des dritten Aufzugs des »Siegfried« verfaßte – »Wild und kraus [!] / Kreist die Welt«168 –, anderseits an die Nekyia der 165

Georges Programm-Gedicht »Der Teppich« im 1900 erschienenen »Teppich des Lebens« steht bis ins einzelne Wort in dieser Tradition, setzt aber – nach Nietzsche – auf das Kunstwerk nunmehr als »Gebilde«. 166 Auf dem Vorgebirg, 10439–10452. 167 1. Sam. 28. 168 Siegfried 2070 f.

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»Odyssee«, wo der irrende Held den Seher Teiresias beschwört.169 Mit diesem hatte Wagner Beethoven soeben verglichen, weshalb sich das Quiproquo nahelegt, daß die »rätselhaft verschlungenen Linien und wunderbar krausen Zeichen« noch nicht von Bach und Dürer, aber auch noch nicht von Beethoven erkannt werden als das »Zauberbuch des Nekromanten«, sondern erst von Wagner selber, der jetzt um der Verwandlung des deutschen Volks aus dem »Welteroberer« zum »Weltbeglücker« willen den deutschen Seher beschwört. In der Bibel wie im Homer und Goethe ist es bei der Nekromantie ja um politische Herrschaft zu tun, und insbesondere die Verse Goethes, den der »Geist der Musik […] den Weg der Erlösung geleitet«, lassen zwanglos im Nekromanten Wagner, im Kaiser Wilhelm I.170 und in Faust Ludwig II. sehen. Nach seinem Wiener Bankrott 1864 – daher die zitierte Invektive gegen den Österreicher: Beethoven »lebte in Wien und kannte nur Wien: dies sagt genug« – sieht Wagner am Karfreitag (!) in einem Münchner Schaufenster ein Porträt des Achtzehnjährigen, der soeben den Bayerischen Thron bestiegen hatte, »welches mich mit der besonderen Rührung ergriff, die uns Schönheit und Jugend in vermuteter ungemein schwieriger Lebenslage erweckt. Hier schrieb ich eine humoristische Grabschrift für mich« …171 Die in der ganzen Beethoven-Schrift auffällige, vom späten Nietzsche, der ihr schließlich zum Opfer fallen sollte, dann mit unübertrefflicher Virtuosität gehandhabte Technik des Maskenspiels, d. h. der transitorischen Identifikation, ist nur sehr mittelbar zu erklären mit der traditionellen Lehre vom mehrfachen Schriftsinn,172 in der das schreibend-lesende Ich überall seinen Abstand hält gegenüber den verschiedenen Repräsentationen. Erst wo dieser Abstand prekär wird, in der Frühromantik, deren Gedanke es schon prinzipiell mit der Produktivität als solcher zu tun bekommen hatte, wird das metaphysische Ich eigens als ironisches, d. h. absolut über all seinen Manifestationen schwebendes Ich postuliert, und es ist konsequenterweise auch die Frühromantik, die den »Don Quichote«, nämlich das Verhältnis des besonnenen Verfassers zu seinem verrückten Helden, als eines ihrer Paradigmen entdeckt; so daß Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik sogar sagen kann: 169

Od. 11.89 ff. Im November 1870 unterzeichnet Ludwig der II. das Dokument, das den preußischen König auffordert, die Kaiserkrone anzunehmen, am 11. September hatte Wagner das Vorwort zum »Beethoven« geschrieben (Wagner-Chronik, Daten zu Leben und Werk. Zusammengestellt von M. Gregor-Dellin, München 1972). 171 R. Wagner: Mein Leben, vgl. o. Anm. 163, Bd. II, S. 997. 172 Z. B. Thomas von Aquin, S. th. 1.1.10: sensus historicus s. literalis, allegoricus, moralis, anagogicus. 170

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»Don Quixote ist ein in der Verrücktheit seiner selbst und seiner Sache vollkommen sicheres Gemüt, oder vielmehr ist nur dies die Verrücktheit, daß er seiner und seiner Sache so sicher ist und bleibt. Ohne diese reflexionslose Ruhe in Rücksicht auf den Inhalt und Erfolg seiner Handlungen wäre er nicht echt romantisch«.173 Offenbar ist es die so gedachte Reflexionslosigkeit, die in der Neuzeit als der Epoche der absoluten Reflexion die dieser eigentümliche Verrücktheit ausmacht. Sie spannt sich von Ariosts Orlando furioso, dessen Verstand der seinerseits etwas verschrobene englische Ritter Astolfo beziehungsreich auf dem Mond wiederentdeckt, über Don Quijote und Shakespeares wie Velázquez’ Narren als ein großer Bogen bis zu Jean Pauls Schoppe, nicht aber zu dem früher gern Jean Paul oder auch Schelling zugeschriebenen Bonaventura von Klingemanns »Nachtwachen«, die deutlich genug schon in den Schopenhauerschen Horizont gehören. Das Ich des 19. Jahrhunderts ist nicht das der neuzeitlichen (methodischen) Reflexion und kann darum auch nicht dessen »reflexionslose Ruhe« als seine eigentümliche Verrücktheit kennen. Indem es sich als das transzendentale Ich im Sinn der klassischen deutschen Philosophie verlorenging, sucht es sich in der Identifikation, die in Nietzsches letztem Brief an Burckhardt, in der Wendung, daß »im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin«, ihre Tiefenformulierung findet. Szientifischer spricht dies Dilthey aus in seinen nachgelassenen Entwürfen zur Kritik der historischen Vernunft: »Die Stellung, die das höhere Verstehen seinem Gegenstande gegenüber einnimmt, ist bestimmt durch seine Aufgabe, einen Lebenszusammenhang im Gegebenen aufzufinden. Dies ist nur möglich, indem der Zusammenhang, der im eigenen Erleben besteht und in unzähligen Fällen erfahren ist, mit all den in ihm liegenden Möglichkeiten immer gegenwärtig und bereit ist. […] Wenn nun so aus der Stellung der Verständnisaufgabe die Präsenz des eigen erlebten seelischen Zusammenhangs folgt, so bezeichnet man das auch als die Übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen.«174 In seinem Verschwinden als metaphysisches Ich rettet das positiv gewordene sich in die Masken und großen Namen in einer Identifikation bis zum Untergang. Dieser projizierende Historismus, in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts exemplarisch in C. F. M. Meyers Novellen ausgetragen, ist zu Ende, wenn das »psychologistische« Ich

173

G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (VÄ), hrsg. von F. Bassenge, Frankfurt a. M., 2. Auflage, o. J., Band 1, S. 566 (II.3.3.2.b: Die komische Behandlung der Zufälligkeit). 174 W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VII, Stuttgart 71958, S. 213 f.

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sich zum intentionalen Ego gereinigt hat. Das operational-theoretische Denken der sogenannten klassischen Moderne – das macht ihre Radikalität aus – schneidet die Tradition, das Bisherige, überhaupt ab, indem dieses ihr durch und durch mit solcher »Übertragung« kontaminiert scheint, deren Kritik sich mathematisch in Russells Mengenparadox, existenzial in Heideggers ontologischer Differenz artikuliert. Das zeigt Wittgensteins Lehre vom »metaphysischen Subjekt« in der »Logisch-philosophischen Abhandlung«. Wo nämlich das reine intentionale Ich, analog die Menge aller Mengen oder das Sein, als die logische Form der Abbildung selber abgebildet oder die Form des sinnvollen Satzes in diesen »übertragen« wird, da entsteht Unsinn, und dessen historische Gestalt ist eben der Historismus, das in allen geschichtlichen Phänomenen kraft der Übertragung sich selber vergegenständlichende Ich.175 Nietzsche hatte gesehen, daß dieser Übertragung die menschliche Selbst-Produktion als Produktion von Sprache zugrundeliegt: »Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher.«176 Und wie die (schon von Feuerbach auf den Weg gebrachte) Sprachkritik Mauthners und seiner Nachfolger, einschließlich des linguistic turn, in der Sprache die ursprünglich-menschliche Produktion als Produktion von Welt aufsucht, wird in Nietzsches Entdeckung deutlich, daß das geschichtliche Phänomen der Übertragung mitsamt all ihren Gestalten eine Erscheinung der modernen Produktionsform ist. In der technischen Produktion verschwindet die Produzent und Produkt verbindende produktive Beziehung ins damit auratisierte oder in den Waren-Fetisch umschlagende Produkt, und das auf diese Weise seines produktiven Wesens enteignete Ich ist immer auf dem Sprung, sich dieses seines ursprünglichen Leidens als seines Menschseins-in-Knechtsgestalt zu entledigen, indem es sich mit der ins Ding entzogenen Produktivität sekundär identifiziert – Diltheys »Übertragung« – oder aus der Knechts-Gestalt in die Gott-Gestalt verdinglicht. In großem Maßstab läßt sich dies studieren am »Dulder-König« Ludwig II., in dem Baudelaires Bedürfnis nach einem artifiziellen Surrogat für die »schwindelnden Entwürfe des Opiums« selber wieder zu Sucht wird, die sich, den Höhepunkt des konstruktiv-«übertragenden« Historismus markierend, in einer Reihe architektonischer Simulationen, vor

175

Während die historistischen Züge der Postmoderne Epiphänomene von ZitatMontagen zur Herstellung einer Intertextualität sind, die ihrerseits lesbar wird als syntaktisch, und so anonym bleibendes Ich-Feld, das leicht als Ich-Verlust verkannt wird. 176 F. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KGA III.2, S.373.

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allem aber im Konsum der Wagnerschen Kunst zu befriedigen sucht, die ihrerseits, und ihrerseits nicht zuletzt architektonisch, nämlich in der Binnenkonstruktion des Festspielhauses, die an sich unmögliche Einheit von Kunst und Simulation ins Werk zu setzen sucht. Denn unmittelbar unmöglich ist diese Einheit darin, daß die Simulation eo ipso den Charakter der Ware, das Kunstwerk den ihrer Negation, die Simulation den Charakter der »traum-«, d. h. surrogathaften Wunscherfüllung, die Kunst den der Insistenz auf ihrem Ursprung aus dem Schmerz, dem ursprünglichen Riß zwischen Produzent und Produktion hat. Psychologisch gesprochen – und Freuds Traumdeutung wird ja um die Jahrhundertwende den Mechanismus, besser: die Maschinerie der Traumproduktivität aufdecken – muß sich dies dem Stand der Produktionsmittel nach der Seite ihres Wesens, der Produktion selbst entsprechende Kunstwerk genau zwischen Traum und Wachen ansiedeln, und zwar näher so, daß die Basis, der Traum (Wagners »Nacht«), mit Elementen des Wachseins (Wagners »Tag«) reproduziert und dieser Überbau umgekehrt mit Einschüssen des Traums depotenziert wird. Beethovens »Verkehr mit der Welt« konnte also »nur den Zustand des aus tiefstem Schlafe Erwachten ausdrücken, der auf den beseligenden Traum seines Inneren sich zu erinnern beschwerlich sich abmüht«, indem er die »Bibel seines Glaubens« liest. Deren Sprache sind eben die »rätselhaft verschlungenen Linien und wunderbar krausen Zeichen«, in denen Dürer nur »das Geheimnis der vom Lichte beschienenen Welt und ihrer Gestalten«, also des Wagnerschen »Tages« aufgegangen war, die »der arme Leipziger Kantor als ewiges Symbol der neuen, anderen Welt aufgeschrieben hatte« und in denen Beethoven endlich »das Rätselwort seines tief innersten Traumes« begegnete, das er nun zwar auszusprechen, aber selber nicht zu verstehen vermochte. Denn wenn er, unterstellt Wagner, als Schöpfer sehr wohl das Wesen der Schopenhauerschen Philosophie in Partitur verwandelte – als Bewußtsein oder Tag-Wesen blieb er der verkehrten Welt der »schwärmerischen Humanitätstendenzen des vorigen Jahrhunderts« verhaftet, mit denen Wagners »rein Menschliches« nur auf die Weise der Umkehrung zu tun haben will: »Denn soweit seine Vernunft die Welt zu begreifen suchte, fühlte sein Gemüt sich zunächst durch die Ansichten des Optimismus beruhigt […] Sein Innerstes sagte ihm: die Liebe ist Gott; und so dekretierte er auch: Gott ist die Liebe.« Hier ist ein Feuerbachscher Zug im Schopenhauerisierenden Kontext stehengeblieben. Denn daß Gott die Liebe sei, ist in der Tat die Gewißheit der Metaphysik seit ihrer christlichen Verwandlung bis zum deutschen Idealismus einschließlich; daß wir aber »die spekulative Philosophie nur umkehren« dürfen, um »die unverhüllte, die pure, blanke

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Wahrheit« zu haben,177 war die methodische Überzeugung der »neuen Philosophie« Feuerbachs. Und gegen Schopenhauer hält Wagner immer an dieser Umkehrung, die Liebe sei Gott, als an dem sein ganzes Werk zentrierenden Axiom fest, das Wort »Liebe« freilich mit seinem eignen, den Horizont ebensowohl Feuerbachs wie Kierkegaards sprengenden Gehalt füllend. Wenn Wagner Beethoven also über der Bibel des Bachschen Wunderwerks zum Heiligen werden läßt, weniger, wie zu sehen, zu einem deutschen Heiligen als zu einem heiligen Deutschen, dann nötigt die folgende Frage, wie »gerade dieser Heilige wiederum für das Leben sich zu seiner eigenen Heiligkeit verhalten« konnte, zu einer vierfachen Lektüre. Das Auftauchen aus dem »Unbewußtsein« ins Bewußtsein oder aus dem Schlaf = Traum ins Wachen ist 1) eine unmittelbar psychologische Erfahrung, die 2) ästhetisch zu lesen ist als Prozeß ursprünglicher Produktion, darum 3) philosophisch als Hervorgang der Welt aus ihrem (Willens-)Ursprung und endlich 4) nekromantisch = ideologisch als die Beschwörung des heiligen Deutschen in einem »Beitrag zur Philosophie der Musik«, dessen äußere Umstände »eine warme Bezugnahme auf die erhebenden Ereignisse dieser Zeit« nahelegten (Vorwort). Für alle vier Lektüren, insbesondere aber für ihre von der vierten gesteuerte Überblendung erweist die Beethoven-Schrift sich als authentische Quelle und, wie Nietzsche es in seinem Vorwort zur »Geburt der Tragödie« selber ausgesprochen hatte, ursprünglicher Anstoß für dessen »tragisches« Denken. Diese Überblendung wird sogleich offenkundig in der ersten Bestimmung des »aus tiefstem Schlafe Erwachten«, wobei Wagner offen läßt, warum der Schlaf Beethovens der tiefste war – daß er dies allerdings sein mußte, läßt die Schrift im ganzen sehen, indem sie ihn als die Latenz der ebenso individuellen wie geschichtlichen Produktivität deutet. In diesem Sinn muß Wagner seinen Heiligen auch von demjenigen Schopenhauerschen Typs absetzen: »Einen ähnlichen Zustand dürfen wir bei dem religiösen Heiligen annehmen, wenn er, vom unerläßlichsten Lebensbedürfnisse angetrieben, sich in irgendwelcher Annäherung den Verrichtungen des gemeinen Lebens wieder zuwendet: nur daß dieser in der Not des Lebens selbst deutlich die Sühne für ein sündiges Dasein erkennt und in deren geduldiger Ertragung sogar mit Begeisterung das Mittel der Erlösung ergreift.« Das Dasein selbst, nicht erst das Wachsein, ist hier sündig, nämlich des unerläßlichsten Lebensbedürfnisses, d. h. des Schopenhauerschen 177

S. 244.

L. Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie (VTh), GW 9,

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Willens zum Leben wegen, und die geduldige Ertragung des Wachseins nur Sühne. Aber das ist näher besehen nicht der Wagnersche Gedanke, der den Produzenten – Schopenhauers Heiliger ist genau nicht (mehr) Produzent178 – darum ebenso von ihm wie von Schopenhauers (nicht heiligem) Künstler unterscheiden muß: »wogegen jener heilige Seher den Sinn der Buße einfach als Qual auffaßt und seine Daseinsschuld eben nur als Leidender abträgt. […] So fällt er aus dem Paradiese seiner inneren Harmonie immer in die Hölle des furchtbar disharmonischen Daseins zurück, welches er wiederum nur als Künstler endlich harmonisch sich aufzulösen weiß.« Auch hier ist zwar die Rede von »Daseinsschuld«, die der »heilige Seher« im Unterschied zum Heiligen nur nicht tief genug zu deuten scheint, aber die späteren Passagen ließen bereits erkennen, daß diese Schuld anders als bei Schopenhauer nicht im Dasein als solchem liegt, sondern in einem geschichtlichen Ereignis, nämlich in der Übernahme des Gebrauchs der Schrift durch ein edel geartetes Volk mit den geschilderten Folgen, die sich für Beethoven in »den schwärmerischen Humanitätstendenzen des vorigen Jahrhunderts« manifestieren: »Der Irrtum des Optimisten rächt sich nun durch Verstärkung dieser Leiden und seiner Empfindlichkeit dagegen.« Das ursprüngliche »Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes« ist in dem »Paradiese seiner inneren Harmonie« gerettet, und was im weiteren Verlauf als die Herrschaft der französischen Mode über den deutschen Geist bestimmt werden wird, erscheint hier noch allgemein als »die Hölle des furchtbar disharmonischen Daseins«, nämlich der Existenz unter den Bedingungen der technischen Produktion, die erst die klassische Moderne als die Basis, nicht nur als den Gegenhalt, ihrer ästhetischen Produktion akzeptieren wird: »Kampf der Töne, das verlorene Gleichgewicht, fallende ›Prinzipien‹, unerwartete Trommelschläge, große Fragen, scheinbar zielloses Streben, scheinbar zerrissener Drang und Sehnsucht, zerschlagene Ketten und Bänder, die mehrere zu einem machen, Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie.«179 Von dieser Anerkennung der Dissonanz nicht neben der Harmonie, sondern als sie ist der Wagnersche Gedanke noch entfernt, der das Ver178

Vom Künstler sagt Schopenhauer zum Schluß des dritten Buchs der »Welt als Wille und Vorstellung«: Die »Erkenntniß des Wesens der Welt« wird »ihm nicht, wie wir es im folgenden Buche bei dem zur Resignation gelangten Heiligen sehen werden, Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift.« (WWV § 52, S. 353) 179 W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Bern 91971, S. 108 f.

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hältnis von beiden, insofern traditionell, als Subsumtion der Dissonanz festhält. Auf die Tradition im ganzen gesehen ist aber zu sagen, daß die für Wagner zu denkende Subsumtion sich von der klassischen, und zwar von Heraklits παλντονος 5ρμονη180 bis zu Hegels absoluter Negativität dadurch unterscheidet, daß in dieser die Dissonanz, das Heraklitische διαφερ μενον oder δι6δον nurmehr das Außersichsein der Harmonie, des συμφερ μενον oder συν6δον ist,181 während die beiden Seiten sich bei Wagner als Nacht und Tag, Traum und Wachen, Unbewußtsein und Bewußtsein unversöhnt und sogar unversöhnlich gegen-überstehen. In der Tat haben sie nicht länger das metaphysische Verhältnis von Subjekt (Harmonie) und Prädikat (Dissonanz), wodurch das ganze Urteil die spekulative Bestimmung der Harmonie der Harmonie und der Dissonanz erhält, sondern sie verhalten sich zueinander wie die Seiten des Satzes im Sinn Freges, nämlich als Funktion und Argument, wobei es nunmehr darauf ankommt, welche Seite als die der Funktion legitimiert ist. Insofern das 19. Jahrhundert den Prozeß seiner Industrialisierung unmittelbar als Entzug der natürlichen Gegenwart erfährt, erscheint – was Feuerbach am theologischen Bewußtsein der Restauration und des Vormärz zum erstenmal zu philosophischer Klarheit brachte – die verkehrte Subsumtion als die geschichtlich schon verwirklichte, und die »Notwendigkeit einer Veränderung«182 liegt eben darin, sie zur wahren zu verkehren. Haben aber Feuerbach und Kierkegaard noch mit dem Einzelnen und seinem verkehrten Bewußtsein (dort dem theologischen, hier dem historischen bzw. ästhetischen), Marx mit den Klassen und dem verkehrten Besitz der Produktionsmittel zu tun, so hat sich bei Wagner – und genau darin entspringt die Ideologisierung seines Gedankens – dies Verkehrungsverhältnis naturalisiert, weshalb sich statt des verkehrten und des möglichen wahren Bewußtseins (des »menschlichen« Bewußtseins bei Feuerbach wie umgekehrt des »religiösen« bei Kierkegaard) oder des Kapitals und der lebendigen Produktion nunmehr das französische und das deutsche Volk gegenüber stehen. Erscheint sich dessen »Geist« bis zum geschichtlichen Augenblick des deutsch-französischen Kriegs zu seiner »Schmach« als das bloße Argument der französischen Zivilisation, dann wird er sich jetzt als auf dem Sprung in die Umkehrung des ganzen Verhältnisses inne, und unbeschadet dessen Ideologisierung denkt der Künstler Wagner insofern »ur-

180

B 51. B 10. 182 Vgl. L. Feuerbach: Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, hrsg. von W. Jaeschke und W. Schuffenhauer, Hamburg 1996, S. 119–135. 181

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sprünglich«, als er es keineswegs bei völkischer Polemik bewenden läßt – auf diesen Leim wäre bei aller Bewunderung auch der junge Nietzsche kaum gegangen –, sondern sie in einer Physiologie der künstlerischen Produktivität fundiert. Derselbe Fundierungszwang, der den ursprünglich geplanten »Siegfrieds Tod« durch Vorlagerung des »Jungen Siegfried«, dann der »Walküre«, endlich des »Rheingolds« immer weiter aufschiebt, nötigt Wagner hier, die polemische Konfrontation der französischen Zivilisation und des heiligen Deutschen zur Produktionsästhetik des eignen Werks zu vertiefen.

Wagners Angst Der physiologische Kern der Wagnerschen Produktionsästhetik ist das ursprüngliche Diastema von Traum und Wachen, dem Wagner sich nach der an Schopenhauer orientierten einleitenden Befestigung der Sonderstellung der Musik zunächst widmet. Die Originalität seines Zugriffs erhellt sogleich daraus, daß er Schopenhauers von dessen Ästhetik der Sache nach ganz unabhängigen »Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt«183 für seine Bestimmung der Musik fruchtbar macht, die ja die Aufgabe hat, nicht nur das eigne Werk als das der (ungeschichtlichen) Welt oder dem natürlichen Produzieren einzig adäquate Produkt darzustellen, sondern in eins damit den (geschichtlichten) Herrschaftsanspruch des deutschen Volks zu legitimieren. Auch die rein und scheinbar nur der Erklärung der Beethovenschen Kompositionen dienende Erläuterung der künstlerischen Produktivität aus dem Traumgeschehen oder, mit dem genauen Freudschen Terminus: der Traumarbeit ist daher keineswegs, um eines der Leitadjektive Wagners zu gebrauchen, unschuldig.184 Es kann hier also auch nicht darauf ankommen, wie und wo Wagner den Schopenhauerschen Gedanken mißversteht oder umdeutet, in der Tat nicht einmal mehr, daß es Schopenhauer ist, dessen pessimistische Willenslehre von der Wagnerschen Produktionsästhetik in eine Physiologie der Selbstermächtigung transformiert wird, sondern allein darum, wie Wagner mit ihrer Hilfe diese Basis seiner »rein menschlichen« = deutsch-völkischen Kunst schafft und im Reflex der idealistischen Kunst Beethovens beleuchtet.

183

A. Schopenhauer: Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt, in: Parerga und Paralipomena, Band I, W IV, S. 225–310. 184 Dies mag auch den gewundenen, von Ende des »Beethoven« her anfangenden Gang der vorliegenden Interpretation rechtfertigen.

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Den Anfang macht eine doppelte Unterscheidung, wobei noch einmal darauf hinzuweisen ist, daß die Wagnerschen Unterscheidungen nicht dem Paradigma des (metaphysischen) Urteils, sondern dem des (modernen) Satzes folgen, wie er wenig später von Freges »Begriffsschrift« als der neue Ort der Wahrheit logisch formuliert werden wird. Anders also als die reflexiven (metaphysischen) Oppositionen, die allemal vermittelte und so bloß erscheinende sind, verhalten sich die intentionalen Oppositionen als wechselseitig unaufhebbare zueinander und bilden daher nicht ein System oder eine Archi-Tektonik, in dem das für uns Unmittelbarere, mit Aristoteles das πρ$ς 7μς , jeweils in einem Ansich, κα 5υτ , als in seinem Anfang (ρχ) »aufgehoben« ist, sondern sind eine Tektonik, ein »Geschicht«, worin das eine das andere jeweils trägt oder fundiert bzw. überlagert. Die erste Unterscheidung ist die von Tag und Nacht als die von zwei Welten, die sich jeweils dem nach außen oder innen gekehrten Bewußtsein als verschiedene Funktionen des Gehirns erschließen. Diese »Welten« verhalten sich nicht einfach zueinander wie Wirklichkeit und Unwirklichkeit, denn: »Wie der Traum es jeder Erfahrung bestätigt, steht der vermöge der Funktionen des wachen Gehirnes angeschauten Welt eine zweite, dieser an Deutlichkeit ganz gleichkommende, nicht minder als anschaulich sich kundgebende Welt zur Seite«, der Produktionsbereich dessen, was Schopenhauer als das »Traumorgan« beschreibt. Diese gleiche Anschaulichkeit, die beiden Welten gleichen semantischen Wert gibt, erlaubt es Wagner, sie beide noch einmal auf die Seite zu setzen – und darin verläßt er bereits Schopenhauers »Versuch« in Richtung der eignen Auslegung von dessen Musikästhetik: »Eine nicht minder bestimmte Erfahrung ist nun aber diese, daß neben der im Wachen wie im Traume als sichtbar sich darstellenden Welt eine zweite, nur durch das Gehör wahrnehmbare, durch den Schall sich kundgebende Welt, also recht eigentlich eine Schallwelt neben der Lichtwelt, für unser Bewußtsein vorhanden ist, von welcher wir sagen können, sie verhalte sich zu dieser wie der Traum zum Wachen: sie ist uns nämlich ganz so deutlich wie jene, wenngleich wir sie als gänzlich verschieden von ihr erkennen müssen.« Ist die innere Lichtwelt noch durch äußere Eindrücke motiviert, konstituiert sich die innere Schallwelt kraft des gänzlichen Verschlossenseins des Gehirns gegen die äußere Welt überhaupt und hat ihr Motiv folglich an »Vorgänge[n] des inneren Organismus […], welche unserem wachen Bewußtsein sich nur als dunkle Gefühle andeuten«. Hier kommt der Wagnersche Gedanke auf den Ab-Grund der modernen Existenz als auf die Angst, denn aus »den beängstigendsten solcher Träume erwachen wir mit einem Schrei, in welchem sich ganz unmittelbar der geäng-

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stigte Wille ausdrückt«. Dieser Angst-Schrei, »das Grundelement jeder menschlichen Kundgebung an das Gehör«, ist als die unmittelbare Äußerung des Willens die von Intentionalität überhaupt, insofern seine Skala »in allen Abschwächungen seiner Heftigkeit bis zur zarteren Klage des Verlangens« reicht. Was es damit auf sich hat, ist bei Kierkegaard, noch nicht bei Schopenhauer, zu lernen und kann zugleich eine der Wagnerschen Leit-Oppositionen, die von Schuld und Unschuld, erläutern, ohne daß damit Wagner gleichsam à rebours auf Kierkegaard reduziert würde. Denn in geschichtlichen Orten gedacht berührt der Wagnersche Gedanke, rezeptionsgeschichtlich von Feuerbach zu Schopenhauer forgehend, in seiner Vertiefung in sich als ins Motiv seiner zeitgenössischen Wirklichkeit den Ort des Kierkegaardschen Gedankens, und es war schon zu sehen, wie dessen Eschaton, die im »religiösen Stadium« projektierte Erlösung, von Wagner ästhetisch ins Werk gesetzt und so das dort Unvorstellbare vorgestellt wird. Dies Vorstellen aber ist kein bloßes Tun des Bewußtseins mehr, sobald das intentionale Denken in den Horizont der Produktion als solcher eingetreten ist: Vor-Stellen heißt nunmehr (technisch) Produzieren. Wo aber das für das religiöse Bewußtsein Kierkegaards Unvorstellbare, das »Innere« des religiösen Stadiums selbst, zur Sache der, zunächst noch nicht politischen, sondern ästhetischen Produktion wird, da muß das Kierkegaardsche Ur-Motiv, die Angst, auch zum Ur-Motiv dieser Produktion geworden sein, und die berühmten Heideggerschen Analysen schöpfen nicht nur aus der Kierkegaardschen Quelle,185 sondern versammeln zugleich die Elemente einer modernen Tradition, die, was Heidegger selbst kaum bewußt gewesen sein dürfte, nicht nur ästhetisch, sondern auch theoretisch über Wagner führt. »Die Angst«, sagt Kierkegaard, »ist eine Bestimmung des träumenden Geistes und gehört als solche in die Psychologie. Im Wachen ist der Unterschied zwischen mir selbst und meinem Anderen gesetzt, im Schlafen ist er suspendiert, im Träumen ist er ein angedeutetes Nichts. Die Wirklichkeit des Geistes zeigt sich ständig als eine Gestalt, von der seine Möglichkeit gelockt wird, die aber verschwunden ist, sowie er nach ihr greift, und ein Nichts ist, das nur ängstigen kann. Mehr kann sie nicht, solange sie sich lediglich zeigt. […] Bei allen Nationen, bei denen sich das Kindliche als Träumen des Geistes erhalten hat, gibt es diese Angst; und je tiefer sie ist, desto tiefer ist die Nation. […] wer durch die Angst hindurch schuldig wird, der ist ja unschuldig; denn nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde Macht, ergriff ihn, eine Macht, die 185

SuZ, S. 190 Anm.

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er nicht liebte, sondern vor der er sich ängstigte; – und dennoch ist er ja schuldig; denn er versank in der Angst, die er dennoch liebte, indem er sie fürchtete. Es gibt in der Welt nichts Zweideutigeres als das«.186 Die Kierkegaardsche Einsicht verdeutlicht, daß nicht der Schrei überhaupt, sondern der Angstschrei187 »das Grundelement jeder mensch-lichen Kundgebung an das Gehör« ist, und die Zweideutigkeit dieser Grund-Gestimmtheit erkennt auch Wagner, verwundert über »die Entstehung einer Kunst aus diesem Elemente […], da andererseits ersichtlich ist, daß sowohl künstlerisches Schaffen als künstlerische Anschauung nur aus der Abwendung des Bewußtseins von den Erregungen des Willens hervorgehen kann«. Wenn der Schmerz, nach Feuerbach, die Quelle der neuen Kunst ist, dann wird die Angst zusammen mit den beiden andern Abgrund-Gestimmtheiten des 19. Jahrhunderts, Rache (Reaktion) und Reue (Ressentiment),188 eine Modifikation dieses im Horizont der Metaphysik gar nicht denkbaren, weil den epochalen Riß zwischen Produzent und Produkt unmittelbar als Gefühl vergegenwärtigenden Schmerzes sein. Den primären Ort dieser Modifikation entdecken Wagner wie Kierkegaard im Traum, d. h. im Verwerfungsbereich von Schlaf und Wachen, in dem sich das »Unbewußtsein« unmittelbar für das Bewußtsein artikuliert, und den ursprünglichen Charakter von Angst (angustiae) hat diese Artikulation offenbar dort, wo der Druck der entfremdeten Produkt-Welt den Riß zwischen dem ursprünglich produzierenden Ich und der in jene entzogenen Produktion augenblicklich als Abgrund fühlen läßt. Tiefer noch als der Schmerz ist also die Angst die Quelle der neuen Kunst, nach Kierkegaards Erfahrung die Bedingung der Möglichkeit des religiösen Stadiums – und dessen wahre Vergegenwärtigung, war Wagners lebenslanger Glaube, sei das musikalische Kunstwerk. Um ihm die Welt-Bühne zu erobern, ist darum zuerst nötig, alle andern Künste in eine dienende Stellung zu bringen, wozu Wagner sich abermals an die Vorarbeit »unseres Philosophen« halten kann: auch die »Ideen«, das Programm der Welt, könnten wir unbeschadet ihrer willensfreien Anschauung nicht verstehen, »wenn wir nicht zu dem ihnen zum Grunde liegenden Wesen der Dinge einen anderen Zugang, nämlich das unmittelbare

186

S. Kierkegaard: Der Begriff Angst (BA), zit. nach der Übs. von H. Rochol, Hamburg 1984, S. 42 f. 187 Edvard Munch wird ihn 1893 im »Fries des Lebens« ins Optische transformieren und damit einen entscheidenden Schritt in der Ablösung des musikalischen Paradigmas durch das graphische tun, das die Kunst der sogenannten klassischen Moderne konstelliert. 188 Hierzu C.-A. Scheier: Nietzsches Labyrinth, vgl. o. Anm. 5, S. 182 f., 202 f.

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Bewußtsein von uns selbst, offen hätten«. Die nach außen gerichtete Funktion des Gehirns ist nämlich wesentlich »Täuschung«, die uns die Welt außer uns »als etwas von uns gänzlich Verschiedenes« wahrnehmen läßt; mit der nach innen gerichteten Funktion erkennen wir nun zwar durch die zeitliche und räumliche Vereinzelung der Dinge hindurch deren »Charakter an sich«, aber diese Betrachtung ist »kalt und teilnahmlos«, denn »immer bleibt hier das Wirksame eben nur der Schein der Dinge, in dessen Betrachtung wir uns für die Augenblicke der willenfreien ästhetischen Anschauung versenken«. Und wenn Hegel noch in platonischer Tradition lehren konnte, die Gestalt der Schönheit sei »die konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes als des Ideals«,189 dann ist bei Wagner entschiedener noch als schon bei Schopenhauer dies Metaphysicum katexochen zur bloßen psychologisch-physiologischen »Beruhigung« depotenziert, »welche, von der Wirkung der bildenden Kunst auf alle Künste hinübergetragen, als Forderung für das ästhetische Gefallen überhaupt hingestellt worden ist und vermöge dieser den Begriff der Schönheit erzeugt hat«. Ganz anders die Musik: »Hier spricht die äußere Welt so unvergleichlich verständlich zu uns, weil sie durch das Gehör vermöge der Klangwirkung uns ganz dasselbe mitteilt, was wir aus tiefstem Inneren selbst ihr zurufen, [denn] wir verstehen ohne jede Begriffsvermittlung, was uns der vernommene Hilfe-, Klage- oder Freudenruf sagt, […] und keine Täuschung, wie im Scheine des Lichtes, ist hier möglich, daß das Grundwesen der Welt außer uns mit dem unsrigen nicht völlig identisch sei, wodurch jene dem Sehen dünkende Kluft sofort sich schließt«. Hatte der Kierkegaardsche Gedanke, dem die verführerische Macht der Musik bezeichnenderweise an Mozarts Don Juan aufgegangen war, diese in Richtung des ethischen und religiösen Stadiums verlassen, und war sie bei Schopenhauer nur die letzte Stufe auf dem Weg der verneinenden Individualität aus der Welt des Willens in die Askese des vierten Buchs der »Welt als Wille und Vorstellung«, dann wird sie jetzt umgekehrt als das eigentliche Werk dieses Willens bejaht. Soll es sich dabei also nicht um eine geschichtlich gleichgültige Meinungsäußerung Wagners aufgrund möglicherweise mißverstandener Schopenhauer-Lektüre handeln, ist dies ersichtlich nur so zu denken, daß der Wagnersche Gedanke wie auch immer auf der Höhe nicht nur Schopenhauers, sondern auch Kierkegaards bleibt, und das bedeutet, daß Wagner de facto das andre Kierkegaardsche Extrem, das religiöse Stadium mit dem ersten, dem ästhetischen koinzidieren läßt – es kommt gleichsam zu einer Implosion der Stadien. 189

Enz. § 556 (ohne die Hervorhebungen).

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Entsprechend ist schon das »bloße[–] Element« der Musik eine »Idee der Welt«, die nicht länger erschaut, sondern empfunden wird »als eine unmittelbare Offenbarung der Einheit des Willens«, die zugleich »Einheit mit der Natur« ist. Notwendig geht daraus eine neue Kunst hervor, die »ganz anderen ästhetischen Gesetzen unterworfen sein muß, als jede andere Kunst«, und zwar nicht im Sinn einer bloßen Unterscheidung der Musik in einer Hierarchie der Künste, wie sie zuletzt von den idealistischen Ästhetiken und noch von der Schopenhauerschen gedacht worden war, sondern einer neuen Stellung zu der unter dem Namen »Wille zum Leben« quasi-metaphysisch interpretierten automatischen Produktion. Deren bereits von der »Fabrikwaare« Mensch demonstrierten reproduktiven Gefräßigkeit zu entfliehen hatte Schopenhauer noch dem Individuum angesonnen, und auch Kierkegaards fiktiver Gesprächspartner war, emphatisch bereits, »der Einzelne« gewesen. Bei Wagner wird sie nunmehr als die »Einheit des menschlichen Wesens« gefeiert. Indem diese sich als innere Schallwelt ausspricht, setzt er die Musik nicht nur mit Schopenhauer allen andern Künsten entgegen, die an das »reine Anschauen der Objekte« und so an das Erkennen gebunden bleiben; er muß überdies behaupten, daß der von Schopenhauer gedachte Wille gar nicht das Wesen der Welt, sondern bloß der individuelle Wille sei – daß dieser, mit Schopenhauer, allerdings zum Schweigen, der erst von Wagner selbst verstandene universelle Wille hingegen umgekehrt zum Verlauten zu bringen ist. Denn das von der Musik, die selbst »eine Idee der Welt« ist, unmittelbar dargestellte Wesen »ist nicht anders zu fassen, als daß der im bildenden Künstler durch reines Anschauen zum Schweigen gebrachte individuelle Wille im Musiker als universeller Wille wach wird und über alle Anschauung hinaus sich als solcher recht eigentlich als selbstbewußt erkennt.« Diese Unterscheidung athetiert das ganze vierte Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« und damit in der Tat den Schopenhauerschen Gedanken überhaupt – oder verkehrt ihn vielmehr von Grund auf. Denn Schopenhauers Terminus a quo, der universelle Wille zum Leben, ist hiermit der Wagnersche Terminus ad quem. Aber näher betrachtet ist dieser Wille damit auch nicht mehr der alte Wille zum Leben, sondern ein ganz neuer, bisher noch gar nicht bedachter Wille, nämlich der Wille zur Macht, den Wagner entschleiert, wenn er behauptet, daß »dort, im Musiker, der Wille sofort über alle Schranken der Individualität hin sich einig fühlt […] Diese ungeheure Überflutung aller Schranken der Erscheinung muß im begeisterten Musiker notwendig eine Entzückung hervorrufen, mit welcher keine andere sich vergleichen ließe: in ihr erkennt sich der Wille als allmächtiger Wille überhaupt: nicht stumm hat

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er sich vor der Anschauung zurückzuhalten, sondern laut verkündet er sich selbst als bewußte Idee der Welt.« Es duldet keinen Zweifel: diese Identifikation des begeisterten Musikers mit dem allmächtigen Willen der Welt ist der Gedanke von Bayreuth und die physiologische Rechtfertigung einerseits von Wagners deutscher Ideologie wie seiner deutschen Ideologie, indem sie die zweite Identifikation des »rein Menschlichen« (oder der »Liebe«) mit dem »deutschen Geist« unmittelbar nach sich zieht. Weder ist also irgendetwas getan, wenn man Wagners Werk paraphrasierend mit Schopenhauers Philosophie zu erläutern glaubt – denn genau dies deckt Motiv und Tendenz dieses Werks, es fortschreibend, zu –; noch, wenn man mit den gewöhnlichen ideologischen Konnotationen von Nietzsches »Willen zur Macht« redet. Nietzsche wußte sehr wohl, warum sein geradezu flehentliches »Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!«190 dringend not tat. Es wäre darauf angekommen, zu allererst Nietzsches Willen zur Macht nicht mit Wagners Willen zur Macht zu verwechseln. Aber auch die Nietzsche gewogenen Interpretationen (von den ihm nicht gewogenen schon ihrer Masse wegen zu schweigen) waren, wo seine Auseinandersetzung mit Wagner überhaupt einigermaßen ernst genommen wurde, bislang eher darauf bedacht, weniger Nietzsche als Wagner gerecht zu werden. Und wenn »Wahnsinn«, »Verrücktheit« etc. hermeneutische, nicht nur psychiatrische Kategorien sind, dann zeigt sich in der zuletzt zitierte Passage Wagners der moderne Wahnsinn im Unterschied zum neuzeitlichen, wie ihn Hegels Interpretation Don Quichotes verdeutlichte, als die Totalisierung der Übertragung nicht auf den oder jenen »Name[n] in der Geschichte«, sondern auf den Gott der zu sich kommenden Moderne überhaupt, auf die ursprüngliche Produktivität, den »allmächtige[n] Wille[n]«, und insofern ist keine Stelle in Nietzsches letzten Schriften »wahnsinniger« als diese. Allerdings ist die Identifikation des drei Jahrzehnte älteren Wagner mit dem Weltwillen noch durchaus ungebrochen und insofern naiv, während sich in der Identifikation Nietzsches mit Dionysos als dem Gott, der der Seele als dem schaffenden Leben die Möglichkeit des Schaffens bringt, die Tragödie der vergeblich wartenden Seele ereignet, an der der Mensch zerbricht. Um der unmittelbaren Identifikation mit dem produktiven Ursprung willen muß Wagner abermals den Zustand des Musikers von dem des (Schopenhauerschen) Heiligen unterscheiden, kann aber nun bei der Beschreibung des erwachenden universellen Willens deutlicher als bei der des erwachenden Beethoven sehen lassen, daß der Musiker in Wahrheit 190

EH, Vorwort 1.

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höher steht als der Heilige. Denn eben weil dieser, indem er noch »in der Not des Lebens selbst deutlich die Sühne für ein sündiges Leben« erkennt, die Identifikation, die C.G. Jung nachmals »Inflation« nennen würde, »andauernd und untrübbar« genießt, ist er der leidvoll-glaubenslosen Erfahrung der empirisch-individuellen Existenz überhoben, »wogegen die entzückende Hellsichtigkeit des Musikers mit einem stets wiederkehrenden Zustand des individuellen Bewußtseins abzuwechseln hat, welcher um so jammervoller gedacht werden muß, als der begeisterte Zustand ihn höher über alle Schranken der Individualität erhob«. Jener die Mode und so die Außenwelt überhaupt charakterisierende »Wechsel der Extreme« potenziert sich hier als der Wechsel zwischen der Außenwelt und der Ekstase oder zwischen dem Wechsel der Herrschaft der Moderne und dem Nicht-Wechsel des »guten Geist[s] des Volkes« als der ursprünglichen Produktivität – oder eben als der Wechsel zwischen dem »jammervolle[n]« Zustand des Selbst-Mitleids und dem gegen dessen Ursache, das Nachbarvolk, empörten Gefühl, womit sich der von Feuerbach diagnostizierte ursprünglich-poietische Schmerz vollständig in seine Seiten auseinandergelegt hat. Als das unmittelbare Gefühl des Entzogenseins der Produktivität ins Produkt ist er der jammervolle Zustand der individuellen Existenz, die sich durch Identifikation mit dem allmächtigen Willen als mit der verdinglichten Produktivität ekstatisch ins Innere entzieht. Dieser Zustand »entzückende[r] Hellsichtigkeit« ist aber zugleich als In-sich-Zurückgedrängtsein der Produktivität die Angst, die sich als Empörung oder Ressentiment (gegen ihre auf das andre Volk projizierte Ursache, die automatische Produktion) so äußert, daß sie sich zur Reaktion nach außen ermächtigt. Indem der Musiker also, als Gottmensch in Knechts-Gestalt, das Leiden seines Volks stellvertretend auf sich nimmt, muß er »verehrungswürdiger als andere Künstler, ja fast mit einem Anspruch an Heilighaltung erscheinen. Denn seine Kunst verhält sich in Wahrheit zum Komplex aller anderen Künste wie die Religion zur Kirche.« Daß die Musik selber die Religion sei, ist bei Schopenhauer ebenso wie bei Kierkegaard (und übrigens auch bei Feuerbach, dessen Konversation des Menschen mit dem Menschen wesentlich Sprache, Poesie, ist) undenkbar. Jetzt hingegen ist Kierkegaards religiöses Stadium als das eigentlich ästhetische Stadium behauptet und Schopenhauers Religion des allem Willen entsagenden Mitleidens in die des reaktiv mit dem allmächtigen Willen sich identifizierenden Selbstmitleids verwandelt. Die Stoßkraft des Wagnerschen Gedankens liegt dabei darin, daß die technische Produktionsform oder die Warenproduktion, die Schopenhauer als Willen überhaupt, Kierkegaard als ästhetisches Stadium noch für an

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sich überwindbar erklärt hatten, hier nicht nur, wie bei Feuerbach und Baudelaire, als die Poesie der individuellen, sondern als die allgemeine Existenz akzeptiert, wiewohl anders als bei Marx nicht als solche durchschaut und daher quasi-metaphysisch als der »Geist« eines, des deutschen, »Volks« hypostasiert, d. h. ideologisiert wird. Dies wäre für die Geschichte der technischen Produktion in ihrer Gestalt als ästhetische Produktion zwar ein überaus lehrreiches Stadium, aber doch nur ein geschichtliches Zwischenspiel geblieben, wäre es dem geschichtlich-realen Korrelat dieses ens ideologicum, nämlich dem deutschen Staat, gelungen, eine dem Stand der Produktionsmittel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entsprechende Gesellschaftsform zu konstituieren wie dies, unter welch unglücklichen Vorzeichen auch immer, dem französischen und dem englischen Nachbarn gelungen war. Wäre – so daß Nietzsches »Weisheit«, auch in ihrem Wahnsinn noch hellsichtig, sich nicht mehr anders auszudrücken wußte als im Fluch: »Fürst Bismarck hat zu Gunsten seiner Hauspolitik alle Voraussetzungen für große Aufgaben, für welthistorische Zwecke, für eine edlere und feinere Geistigkeit mit einer fluchwürdigen Sicherheit des Instinktes vernichtet. Und seht euch doch die Deutschen selber an, die [–] niedrigste, stupideste, gemeinste Rasse wohl, die jetzt auf Erden da ist, verhohenzollert bis zum Haß gegen Geist und Freiheit.«191 Hingeworfen fünfundvierzig Jahre vor dem Anbruch des »tausendjährigen Reiches«. Zuvor hatte Nietzsche dies Verhängnis bis in seinen ästhetischen Ursprung verfolgt und gefordert: »Dass das Theater nicht Herr über die Künste wird. / Dass der Schauspieler nicht zum Verführer der Echten wird. / Dass die Musik nicht zu einer Kunst zu lügen wird.«192 Für den Nietzscheschen Gedanken ist das Tertium comparationis zwischen jenem Verzweiflungsschrei und dieser scheinbar nur ästhetischen Forderung Zarathustras Rede von den letzten Menschen und damit ein und dasselbe zeitgenössische Problem: das der Simulation. In »Wir Furchtlosen« hatte er geschrieben: »Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung, Verinnerlichung der dramatischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische Drama nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden! Er hatte, neben allen anderen Instinkten, die commandirenden Instinkte eines grossen Schauspielers, in Allem und Jedem: und, wie gesagt, auch als Musiker.«193

191 192 193

KGA VIII.3.25[14]. DFW 12. FW 368.

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In der Attitüde, der Schauspieler-Gebärde sieht Nietzsche das UrMotiv der Wagnerschen Kunst als der ersten großen Kunst der Simulation, und gerade die so genau studierte Festschrift über Beethoven wird ihm Anlaß zu dieser Bemerkung gegeben haben. Denn in der Tat führt Wagner hier die Wahrheit seiner Kunst-Religion auf die Gebärde zurück. Unmittelbar nach der Behauptung, die Musik verhalte sich zu den andern Künsten wie die Religion zur Kirche, heißt es, daß der Wille in den andern Künsten »schweigend verharrt: es ist, als erwarte er von da außen erlösende Kunde über sich selbst«, eine Kunde, die nach Schopenhauer seine Verneinung, nach Wagner aber lediglich seine Verneinung als individueller Wille, d. h. seine Bejahung als universeller Wille und seine künstlerische Verwandlung daher die in den Musiker ist, der sich kraft ihrer »selbst in den Zustand des Hellsehens [setzt], wo er sich dann außer den Schranken von Zeit und Raum als Ein und All der Welt erkennt. Was er hier sah, ist in keiner Sprache mitzuteilen; wie der Traum des tiefsten Schlafes nur in die Sprache eines zweiten, dem Erwachen unmittelbar vorausgehenden allegorischen Traumes übersetzt, in das wache Bewußtsein übergehen kann, schafft sich der Wille für das unmittelbare Bild seiner Selbstschau ein zweites Mitteilungsorgan, welches, während es mit der einen Seite seiner inneren Schau zugekehrt ist, mit der anderen die mit dem Erwachen nun wieder hervortretende Außenwelt durch einzig unmittelbar sympathische Kundgebung des Tones berührt«. Das Entscheidende ist hier, daß die Schallwelt, die Wagner zuvor den beiden Lichtwelten, der äußeren und der inneren, entgegengesetzt hatte, selber noch einmal in sich dual zu denken ist, indem der sich als »Ein und All der Welt« erkennende Wille gleichwohl nicht im Sinn der alten intellektuellen Anschauung, sondern intentional bei sich ist, d. h. sich auch in diesem 8ποχ νιος τ πος wesentlich als Bild hat, selbstverständlich nicht mehr als ein Licht-Bild, wohl aber als intentionalen Gegenstand überhaupt. Auch in seiner letzten Tiefe bleibt das Wagnersche Denken Vorstellen im modernen (oder Heideggerschen) Sinn, denn auch hier verhält der Wille als ursprüngliche Produktion sich zu sich bereits als Produkt. D. h. der Wille produziert eigentlich nicht, er hat immer schon produziert, und worum es ihm als ursprünglichem Künstler oder Musiker allein noch zu tun sein kann, ist die Reproduktion. Bereits der Schopenhauersche Künstler war im Unterschied zum metaphysischen »Genius« reproduktiv, indem er parallel zur Welt deren Programm, die »Platonischen Ideen«, ins Kunstwerk übersetzte. Benjamin wird die moderne Produktionsweise überhaupt als Reproduktion denken, so daß die Derridasche Kritik sich auf eine lange Tradition berufen könnte, wenn sie das

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»originär Gegebene« Husserlscher Provenienz zur Spur, und zwar nicht zur Spur-von-einem, sondern zur Spur der Spur dekonstruiert. Der Ursprung dieser radikalen Konsequenz freilich ist bei Nietzsche zu suchen, der zuerst die Produktion ohne Programm gedacht hatte, das Wagner hier noch in der ursprünglichen »Selbstschau« des Willens festhält.

Schuld und Ekstase Der erste Schritt der Reproduktion ist die Übersetzung des Produkts aus dem »Traum des tiefsten Schlafes« in den »allegorischen« Traum als in ein »zweites Mitteilungsorgan«, welches jetzt erst den Horizont der Schallwelt eröffnet. Denn jetzt erst wird die »innere[–] Schau« übersetzt in die »einzig unmittelbar sympathische Kundgebung des Tones«, d. h. in einen immer noch nicht semantischen, sondern syntaktisch-musikalischen Akt, der als die Artikulation dessen erscheint, was als primärer Angstschrei die ganze Skala der »Abschwächungen seiner Heftigkeit bis zur zarteren Klage des Verlangens« erlaubt, in den Ruf. Der Wille »ruft; und an dem Gegenruf erkennt er sich auch wieder: so wird ihm Ruf und Gegenruf ein tröstendes, endlich ein entzückendes Spiel mit sich selbst«. Zwar wird Wagner Ruf und Gegenruf am nächtlichen Gesang venezianischer Gondolieri und am Reigenruf der Schweizer Sennen erläutern, aber dem »sinnenden Manne« wird in jenem »traumartige[n] Zustand« deutlich, daß »sein innerstes Wesen mit dem innersten Wesen alles jenes Wahrgenommenen eines ist, und daß nur in dieser Wahrnehmung auch das Wesen der Dinge außer ihm wirklich erkannt wird«, denn »[d]as Objekt des vernommenen Tones fällt unmittelbar mit dem Subjekt des ausgegebenen Tones zusammen«: Ruf und Gegenruf sind ursprünglich – noch einmal verrät sich ihre Herkunft aus der Angst – »ein tröstendes, endlich ein entzückendes Spiel« des Willens »mit sich selbst«. Dem entspricht genau genug noch Heideggers Ruf der Sorge, denn der »Rufer ist in seinem Wer ›weltlich‹ durch nichts bestimmbar. Er ist das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause, das nackte ›Daß‹ im Nichts der Welt. […] Das Gewissen offenbart sich als Ruf der Sorge: der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (Schon-sein-in …) um sein Sein-können. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, aufgerufen zu seinem eigensten Seinkönnen (Sich-vorweg …). Und aufgerufen ist das Dasein durch den Anruf aus dem Verfallen in das Man (Schonsein-bei der besorgten Welt).«194 194

SuZ, S. 276 f.

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Hier ist nur das »Verfallen in das Man« zu übersetzen in Wagners Wendung, daß wir angesichts der französischen Zivilisation »einem wahren Fluche verfallen sind«, um auch die die ganze Schrift durchziehende Rede von der Schuld zu verstehen. »Alle Gewissenserfahrungen und -auslegungen sind darin einig, daß die ›Stimme‹ des Gewissens irgendwie von ›Schuld‹ spricht«,195 und solches »Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich ›auf Grund‹ eines ursprünglichen Schuldigseins«.196 Denn das Dasein ist ursprünglich mit einem »Nicht« inquiniert: »Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser. Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein. Dieses Nicht gehört zum existenzialen Sinn der Geworfenheit. Grundseiend ist es selbst eine Nichtigkeit seiner selbst. […] Und sie ist der Grund für die Möglichkeit der Nichtigkeit des uneigentlichen Daseins im Verfallen, als welches es je schon immer faktisch ist. Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt. Die Sorge – das Sein des Daseins – besagt demnach als geworfener Entwurf: Das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit. Und das bedeutet: Das Dasein ist als solches schuldig […].«197 Das Dasein wäre demnach schuldig keineswegs nur »im Verfallen, als welches es je schon immer faktisch ist«, so daß es sich seiner Schuldigkeit zu entziehen vermöchte im Augenblick der Wahl der eigentlichen Existenz. Vielmehr ist gerade das »Man«, die uneigentliche Existenz die Verkehrung und so Verdeckung der ursprünglichen Schuldigkeit zu einer bloßen Vorhandenheit, die das Dasein ihm selbst als »eigentlich« unschuldig erscheinen läßt, der Fall des Wagnerschen Beethoven und seines Optimismus: »Jede ihm begegnende Gefühllosigkeit, jeder Zug von Selbstsucht oder Härte, den er stets und immer wieder wahrnimmt, empört ihn als eine unbegreifliche Verderbnis der mit religiösem Glauben in seiner Annahme festgehaltenen, ursprünglichen Güte des Menschen.« Eigentlich schuldig ist das Dasein genau, indem es sich eigentlich, d. h. als geworfenes Grundsein ergreift, denn darin erst wird ihm die Gewißheit, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig zu sein. Diese existenziale Einsicht könnte immer noch auf den Schopenhauerschen Pessimismus zurückinterpretiert werden, in dem sie allerdings ihre geschichtliche Wurzel hat. Aber abgesehen davon, daß dadurch Heideggers 195 196 197

Ebd., S. 279 f. Ebd., S. 284, im Original hervorgehoben. Ebd. , S. 284 f.

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Gedanke verschwände, wäre auch für Wagner nichts ausgerichtet, denn liegt die Schuld für Schopenhauer ursprünglich in der Identität des Individuums mit dem Willen, und zwar nicht nur mit dem individuellen, sondern mit dem Willen überhaupt, dann ist für Wagner umgekehrt die Identifikation mit dem allmächtigen Willen – nicht anders ist seine Rede von der »Entzückung« zu verstehen – die augenblickliche Befreiung von der Schuld, die insofern nur die der Identität mit dem individuellen Willen ist. Darin aber erweist sich Wagners Schuldbegriff als zuinnerst zweideutig, indem er nach einer Tiefen- wie nach einer Oberflächenlektüre verlangt. Auf Nietzsche gesehen, ist jene maßgeblich in der »Genealogie der Moral« geleistet, einer Schrift, die so unscheinbar wie unbeirrt auf die entscheidende Auseinandersetzung mit Wagner zugeht, indem die »Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?« allererst die Folgerungen aus der »Zweite[n] Abhandlung: ›Schuld‹, ›schlechtes Gewissen‹ und Verwandtes« zieht. An der Oberfläche nämlich scheint die Wagnersche Schuld ein keineswegs unvordenkliches geschichtliches Ereignis zu sein, jenes, das die Völker aus dem »Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes« verwies, die Erfindung der Schrift oder, wie bei »jedem edel gearteten Volke«, der Zeitpunkt, »wo der Gebrauch der Schrift zu ihm gelangt«. Denn hier, und hier erst, macht sich der individuelle Wille des Volkes den universellen Willen untertan. Aber dazu muß er insofern wenigstens schon depraviert sein, als dies Volk überhaupt bereit, nämlich willens ist, den Gebrauch der Schrift zu übernehmen. Der Sündenfall hat sich, kommt die Schrift herzu, in Wahrheit schon ereignet. Kierkegaard schreibt: »Die Unschuld ist Unwissenheit. In der Unschuld ist der Mensch nicht als Geist bestimmt, sondern seelisch bestimmt, in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit. Der Geist ist träumend im Menschen. […] / In diesem Zustand ist Friede und Ruhe; aber es ist zu gleicher Zeit etwas anderes da, das nicht Unfriede und Streit ist; denn es ist ja nichts da, womit sich streiten ließe. Was ist es denn? Nichts. Welche Wirkung aber hat Nichts? Es gebiert Angst. Das ist das tiefe Geheimnis der Unschuld, daß sie zu gleicher Zeit Angst ist. Träumend projektiert der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts, dieses Nichts aber sieht die Unschuld ständig außerhalb ihrer.«198 Nun ist hier wissenschaftlich nichts zu entscheiden weder hinsichtlich Kierkegaards Tiefen-Psychologie der Angst noch hinsichtlich Nietzsches Genealogie der Moral. Sie mögen immerhin gültige, wie man sagt: Ansätze zu einer Phänomenologie der conditio humana überhaupt sein, 198

BA, S. 41 f.

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näher, und mutatis mutandis, die vor-geschichtlichen Bedingungen ausgraben, unter denen die Menschheit antritt und Kultur entsteht. Es mag gut sein, daß beide Denker, und nicht sie allein, auch im geschichtlichen Sinn »ursprünglich«, d. h. hinter den Horizont der Metaphysik zurück in deren anthropologisch-kulturhistorische Voraussetzungen denkend, auf die nicht länger meta-physische, sondern physische Basis von Kultur und Geschichte gestoßen sind, darin nicht weniger erfolgreich als die zu gleicher Zeit explosiv sich entwickelnden und alle ältere Wissenschaft zum alten Eisen werfenden positiven Wissenschaften. Gleichwohl ist die hier spezifizierte Frage nach der geschichtlichen Bestimmung der Produktion diesseits des metaphysischen Horizonts von Handwerklichkeit und Manufaktur, die leitende Frage also nach der Produktion als »Simulation«, anderer Art. Denn die neue Produktionsweise ist es offensichtlich, die allererst zu jenen Kierkegaardschen und Nietzscheschen Erwägungen nötigt und die auch die Wagnersche Ästhetik bestimmt. Inwiefern, ist zu fragen, führt die Logik der technischen Produktion zur Entdeckung der Angst und einer Genealogie (statt einer Ontologie) der Moral? Ihre existenzielle Folge ist unmittelbar und von Anfang an das Gefühl des Entzogenseins der Produktivität ins Produkt, die Knechts-Gestalt des Gott-Menschen. Diesem »jammervollen« Zustand entzieht sich der Wagnersche Künstler temporär in die Identifikation mit dem allmächtigen Willen als mit der verdinglichten Produktivität. Aber weil die Produktivität je schon verdinglicht ist – denn der Wirklichkeit oder gesellschaftlichen Verfassung der Produktionsweise ist nicht durch eine psychische Bewegung zu entfliehen, die psychologisch vielmehr nur ihre Manifestation ist –, wird der Rückzug aus dem lastenden Äußeren nicht zur Befreiung ins offene Innere, sondern introjiziert, reproduziert das Ins-ProduktVerschlossensein der Produktivität als das Verschlossensein oder Gefängnis des »Unbewußtseins«. Und also ist das Gefühl des geschichtlichen Ereignisses des Entzogenseins der Produktivität ins Produkt die Angst, die eben als moderne Existenz-Gestimmtheit kein Thema der Metaphysik war, welche es stattdessen immer, abzulesen noch am HerrKnecht-Kapitel der Hegelschen »Phänomenologie des Geistes«, mit der Furcht zu tun hatte. Man würde diese andere existenzielle Verfassung darum überblenden, käme man hier mit der nahe-, zu naheliegenden Erklärung, die Metaphysik hätte eben allemal nur Dingverhältnisse, das Sein allemal schon als Seiendes usw. vorgestellt und deshalb nie die Angst, sondern immer »nur« die Furcht denken können. Denn die eigentlich metaphysische Furcht, die »Furcht des Herrn« – den »absoluten Herrn« nennt Hegel in der erwähnten Passage den Tod –, ist, um für jetzt die Terminolo-

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gie beizubehalten, die Furcht vor dem Sein, das sich als Seiendes manifestiert, und die Logik dieser Manifestation ist eben die des Schlusses Produzent – Produktion – Produkt und nicht die des Satzes Produzent: (Produktion-Produkt), so daß die Metaphysik, um es paradox zu sagen, die Angst nicht deshalb nicht dachte, weil die ursprüngliche Produktion, das »Nichts«, verdinglicht, sondern genau umgekehrt, weil sie nicht verdinglicht war, gar nicht verdinglicht sein konnte, insofern Verdinglichung überhaupt die Signatur der technischen, nicht der natürlichen Produktion ist. Die Welt-Gestimmtheit der Angst ist also der Grund oder vielmehr Ab-Grund der modernen Existenz und hat als solcher den Charakter des primum movens. Wie bereits gesehen äußert sie sich bei Wagner kollektiv als nationales Ressentiment, und da dies Ressentiment die politische Artikulation des Ursprungs der ästhetischen Produktion ist, wird hier auch das Phänomen der Schuld oder genauer des Schuldgefühls abzulesen sein, das Wagner wie Schopenhauer und Kierkegaard der Existenz selbst ansinnt und das sich ihm wie Kierkegaard als die ursprüngliche Wahrheit der christlich gedachten Erbsünde nahelegt. Wer sich ängstigt, sagt Kierkegaard, der ist wohl unschuldig: »und dennoch ist er ja schuldig; denn er versank in der Angst, die er dennoch liebte, indem er sie fürchtete«.199 Schuldig, heißt das, ist, wer (nicht den Gegenstand der Angst, das »Nichts«, sondern) die Angst selbst fürchtet (wiederum nicht: sich vor der Angst ängstigt), sie nicht läßt, wie sie ist, sondern zum Gegenstand seiner Furcht macht, also verdinglicht und als Ding liebt. Und das genau ist in den hier zur Rede stehenden geschichtlichen Orten, also jedenfalls bis zu Wagner, die existenzielle Gestimmtheit der technischen Produktivität. Das Nichts der Angst ist schon die entzogene natürliche Produktivität oder genauer die als natürliche entzogene Produktivität, denn der geschichtliche Übergang aus dem physischen in den technischen Horizont der Produktion übereignet ja gerade die zuvor in der Natur und ihrem Grund, in Gott gründende Produktivität dem Wesen des Menschen (wie von Marx gedacht). Aber dem Ereignis ihres Entzugs ins dadurch emphatisch zur Ware werdende Produkt entspricht nun der Fall des Kierkegaardschen Adam aus dem Urzustand der Unschuld, indem er das Urgefühl der Existenz, die Produktivität als Gestimmtheit, immer schon ins Produkt transformiert hat – wie bei Wagner der Wille eigentlich nicht produziert, sondern immer schon produziert hat. Und wie die Angst die Gestimmtheit der Produktivität, ist die Furcht vor der Angst die Gestimmtheit des Produkts, das als in der Furcht zugleich geliebtes die Ware ist. 199

Ebd., S. 43.

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Indem das sich Ängsten als das Fürsichsein der Angst deren »Gegenstand«, das Nichts, nicht aushält und von ihm abstrahiert, behält es die Angst als Gegenstand übrig und bezieht sich darauf intentional als Furcht.200 Geschichtlich gedacht war dies Nichts als »absolute Negativität« allerdings das Absolute des spekulativen Wissens der Metaphysik in ihrer logischen Vollendung. Der Zusammenhang mit Kierkegaards ästhetischem Stadium ist bei Feuerbach zu studieren. Das »Wesen Gottes ist bei Hegel in der Tat nichts andres als das Wesen des Denkens oder das Denken, abstrahiert von dem Ich, dem Denkenden«,201 und so: »Ein nur, und zwar abstrakt, denkendes Wesen hat gar keine Vorstellung von Sein, Existenz, Wirklichkeit. Sein ist die Grenze des Denkens; Sein als Sein ist kein Gegenstand der, wenigstens abstrakten, absoluten, Philosophie. Die spekulative Philosophie spricht dies selbst indirekt dadurch aus, daß ihr das Sein gleich Nichtsein – nichts ist. Nichts ist aber kein Gegenstand des Denkens.«202 Kraft solcher Abstraktion »entäußert und entfremdet die absolute Philosophie dem Menschen sein eignes Wesen, seine eigne Tätigkeit! Daher die Gewalt, die Tortur, die sie unserm Geiste antut. Wir sollen das Unsrige nicht als Unsriges denken, sollen abstrahieren von der Bestimmtheit, in der etwas ist, was es ist, d. h., wir sollen es denken ohne Sinn, sollen es nehmen im Unsinn des Absoluten. Unsinn ist das höchste Wesen der Theologie – der gemeinen wie der spekulativen.«203 Wo »kein Glückseligkeitstrieb, ist auch kein Wille, höchstens nur ein Schopenhauerischer, d. h. ein Wille, der nichts will«, schrieb Feuerbach später.204 In der Analyse des ästhetischen Stadiums, wie sie in »Entweder – Oder« vorliegt, entdeckt Kierkegaard, was es heißt, diesen Glückseligkeitstrieb als »das Unsrige« zu denken, und im »Begriff Angst« ent200 Phänomenologisch gesprochen klammert das intentionale Ich den »unmöglichen« Gegenstand Nichts ein, um sich intentional auf den Angst-Akt zu richten, der, seinerseits eingeklammert, die Furcht vor der Furcht etc. und so die Reproduktion entspringen läßt. Entsprechend verkehrt das Lévinassche Subjekt in seiner Hypostase die Existenz zum »Attribut« und erzeugt sich dadurch sein ewig hungriges KörperDouble (vgl. den Abschnitt »Solitude et materialité« in »Le temps et l’autre«, wo Lévinas den Leib als das »double visqueux, pesant, stupide« des Subjekts beschreibt). Im § 58 (Anrufverstehen und Schuld) von »Sein und Zeit« heißt es, »das Dasein ist ständig – solange es ist – als Sorge sein ›Daß‹. Als dieses Seiende, dem überantwortet es einzig als das Seiende, das es ist, existieren kann, ist es existierend der Grund seines Seinkönnens. Ob es den Grund gleich selbst nicht gelegt hat, ruht es in seiner Schwere, die ihm die Stimmung als Last offenbar macht« (SuZ S. 284). 201 L. Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 23, GW 9, S. 300. 202 Ebd., § 26, GW 9, S. 305. 203 Ebd., S. 301. 204 L. Feuerbach: Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit (SM), GW 11, S. 71.

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deckt er, was es heißt, dafür vom Nichts zu abstrahieren, nicht länger, versteht sich, vom Nichts der spekulativen Philosophie, sondern vom existenziellen Nichts, das, kein theologisches mehr, gleichwohl ein religiöses bleibt, von Kierkegaard geradezu – darin liegt seine Modernität – als ein religiöses entdeckt wird, das gar kein theologisches mehr sein kann. Und doch hat das theologische oder metaphysische Denken vor diesem Nichts ausgeharrt und kannte darum zwar nicht die moderne Angst, aber die Furcht des Herrn. Nun freilich ist kein Herr mehr, und im Entzug der natürlichen Produktivität schlägt jene Furcht in Angst um. Intentional gedacht ist deren Gegenstand der Unsinn, und Sinn scheint die Existenz erst zu machen in der Furcht vor der Angst. Aber damit gerät sie von der Skylla an die Charybdis, denn sie hat nicht die Produktivität gewonnen, sondern das Produkt, und ist im Ergreifen des »Unsrigen« schuldig geworden. Schuldig ist mithin die Existenz, indem sie ihre eignes Wesen als Ware liebt. Soweit Kierkegaards ästhetisches Stadium. Wie aber Wagners einziges »Stadium«, das ästhetisch-ethisch-religiöse? Hier wird das französische Volk gehaßt, weil es als der Warenproduzent schlechthin, der herrschende Produzent der Mode, die ursprüngliche Produktivität überhaupt pervertiert habe. Und nur unter diesem geschichtlichen Druck, scheint es, ist auch das deutsche Volk zum Warenproduzenten oder modern geworden, und die Wagnersche Utopie der »unendlich tief begründete[n] Neugeburt« des deutschen »Grundwesen[s]« zielt genau darauf ab, »daß der Begriff der Mode selbst für die Gestaltung unseres äußeren Lebens gänzlich sinnlos zu werden hätte«. Aber wie sich am Musiker, Beethoven wie Wagner, zeigt, der sich mit dem allmächtigen Willen als der grenzenlosen Produktivität wenigstens temporär zu identifizieren vermag, ist jenes Grundwesen kein anderes als das der technischen Produktion, seine Gestimmtheit die Angst. Und mit der Angst geht als verschwisterte Gestimmtheit das Gefühl der Schuld einher, zwar nicht im ekstatischen Augenblick der Identifikation, wohl aber in deren Latenz, indem die in der Identifikation entspringende »Entzückung«, genau: Ent-Zückung sich bereits als die äußerste Sublimation ihres Motivs, der Angst, erwiesen hat. Also muß sich das von Kierkegaard geschilderte Schuldigwerden im Prozeß der Identifikation selbst ereignen. Der Wille, dem der Produzent im »Traum des tiefsten Schlafes« begegnet, hat schon produziert, alle weitere, die eigentlich künstlerische Produktion ist Reproduktion, zunächst der »Schrei, in welchem sich ganz unmittelbar der geängstigte Wille ausdrückt«. Wenn Wagner nun fragt, wie das »Wunder« der »Entstehung einer Kunst aus diesem Elemente« zu erklären sei, da doch »sowohl künstlerisches Schaffen als künstlerische Anschauung nur aus der

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Abwendung des Bewußtseins von den Erregungen des Willens hervorgehen kann«, dann liegt die Anwort schon unmittelbar in der Frage. Die Reproduktion ist Abwendung von ihrem Motiv, der Angst, ist Sublimation. Solche Abwendung, selber zu denken als produktiver Akt, läßt aber die Angst nicht als Angst sein. In der Abwendung schlägt mit Kierkegaard das sich Ängstigen vor der Angst in das sich Fürchten vor der Angst um, und damit ist die Angst oder hier, wo es um den Ursprung der Musik geht, der Angstschrei in ein erstes Produkt verwandelt, und dies Produkt, das sein Motiv gleichsam gnädig verhüllt, wird eben darum geliebt. Der in den allmächtigen Willen ent-zückte Produzent genießt sich in seinem Werk als dem von ihm selber produzierten Gral. Schon die ursprüngliche Gestimmtheit der Angst hatte ja an sich intentionalen Charakter, der auf die Produktivität hin gesehen als das Schon-produziert-haben des Willens zu denken war. Eben deshalb findet Kierkegaard die Wendung, daß die eigene Wirklichkeit des träumend projektierenden Geistes das (groß geschriebene) Nichts sei, die äußerste Abstraktion des Produkts. Es wäre darum irrig, anzunehmen, die »entzückende Hellsichtigkeit des Musikers« im Zustand der Identifikation mit dem allmächtigen Willen sei produktlos; vielmehr ist aus jenem Nichts das Etwas des Werks, und zwar im Zustand der Produktion geworden, indem eben deren Ende die Leiden heraufführt, »mit denen [der Musiker] den Zustand der Begeisterung, in welchem er uns so unaussprechlich entzückt, zu entgelten hat«. Daß er mit diesen Leiden, dem Jammer, die produktive Ekstase zu »entgelten« habe, läßt sehen, daß die Produktivität im Produkt nicht in den Produzenten reflektiert (die metaphysische Wahrheit des natürlichen Produkts), sondern ins Produkt verzehrt worden ist. Ist dieses aber an sich, nämlich in seinem ursprünglichen Zustand, Kierkegaards Nichts, dann besteht die Schuld des Produzenten genau darin, daß er die Produktion, mehr noch: die Produktivität selbst ins Produkt verschwinden läßt, das sie ihm nicht zurückgibt, oder daß er immerzu, indem er es zum Austrag bringt, das produktive Wesen des Menschen vernichtet. Das ursprüngliche Schuldigwerden also, das Kierkegaard im Zustand der Angst selbst diagnostizierte, reproduziert sich in Wagners Zustand der produktiven Ekstase. Wie dort die Angst vor der Angst in Furcht vor der Angst und so in Liebe zur verdinglichten Angst umschlug – Kierkegaard hatte dies schon in »Entweder – Oder« an Mozarts Don Juan, dem selber zum Gegenstand der Musik gewordenen existenziellen Musiker gezeigt205 –, schlägt hier das Gefühl der Schuld, statt als sol205

Hierzu C.-A. Scheier: Wie Don Juan in die Philosophie kam, in: Mitteilungen der TU Braunschweig XXXI / 2 (1996) 80–84.

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Simulierte Utopie

ches übernommen zu werden, um in das Gefühl der »Schmach«, und nicht der Mensch in seinem Wesen ist schuldig – daran hatten so Kierkegaard wie Schopenhauer, je den Einzelnen denkend, festgehalten –, sondern die Verderber des »europäischen Völkergeistes«, denn: »Haben wir auf anderen Gebieten unsere Lessing, Goethe, Schiller u. a. als unsere Erretter von dem Verkommen in jener Verderbnis gefeiert, so gilt es nun heute an diesem Musiker Beethoven nachzuweisen, daß durch ihn, da er denn in der reinsten Sprache aller Völker redete, der deutsche Geist den Menschengeist von tiefer Schmach erlöste.«

Die Gebärde der allmächtigen Produktion Die Identifikation mit dem allmächtigen Willen, deren notwendige Folge der Jammer der individuellen Existenz ist, verkehrt zugleich die in ihr liegende Schuld so, daß sie wesentlich die Schuld-des-Anderen ist und der Schuldige vielmehr der Erlöser. Nietzsches Genealogie der Moral wird diesen ganzen Chemismus der Schuld destruieren und damit in die Tiefe des Schopenhauer-Kierkegaardschen Denkens reichen (freilich wird sich der Schuld-Gedanke im Horizont des nach-nietzscheschen Denkens, also unter veränderten geschichtlichen Vorzeichen erneuern). Daß Wagner sie aber weder wie jene Denker anzuerkennen noch wie der Jüngere loszuwerden, sondern nur zu verschieben vermag, macht seine Zwischenstellung aus, in der er zwar, wie die Beethoven-Schrift insgesamt belegt, in den Ursprung, aber nicht ursprünglich denkt. Dies läßt das Zentrum des geschichtlichen Orts Wagners in seinem Kunstwerk sehen, d. h. in seinem Produkt, worin sich, offen der Interpretation, sei es der Wagnerschen, sei es der Nietzscheschen, der Ursprung ereignet. Dieser geschichtliche Ort nötigt in der Tat zu einer doppelten Verschiebung. Sein Proprium ist ja das Weltlichwerden des nachmetaphysischen Gedankens, das sich im ursprünglichen Denken selbst als die Verwandlung des Gott-Menschen in Knechtsgestalt aus dem Einzelnen ins produktive Kollektiv, bei Marx in die Arbeiterklasse, bei Nietzsche in die »höheren Menschen«, »guten Europäer«, »freien Geister« vollzieht. Bei Wagner tritt an diese Stelle das deutsche Volk und sein »Geist«. Es kann also nicht damit getan sein, der »künstlich geleiteten Verderbnis des europäischen Völkergeistes« als Erlöser den einzelnen Musiker, sei es explizit Beethoven, sei es implizit Wagner selbst gegenüberzustellen. Der »vielleicht«, sagt Wagner, aber jedenfalls »nur aus dem Geiste unserer Musik, der Musik, welche Beethoven aus den Banden der Mode befreite, […] sich gestaltenden neuen, seelenvolleren Zivilisation die sie durchdringende neue Religion zuzuführen, kann ersichtlich nur dem deut-

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schen Geiste beschieden sein«. Dies Vielleicht ist kein Bescheidenheitstopos. Der Erlöser kann nicht der einzelne Musiker, er muß das deutsche Volk sein, aber obwohl dessen »innere[s] Wesen zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft sich ermächtigte«, bedarf es zu jener Aufgabe des Führers, der eben der allmächtige Wille ist, der seine Wirklichkeit wiederum nirgendwo anders als im einzelnen Musiker hat. So hat »der deutsche Geist sein Volk zu führen, wenn er die Völker beglücken soll, wie er berufen ist« – daher jener »Anspruch an Heilighaltung«, den Wagner dem Musiker zubilligt, der sich so als der wahrhafte Mittler zwischen dem allmächtigen Willen der musikalischen Weltseele und seinem Volk erweist. Die Ästhetik musikalischer Produktion, die Wagner mit seinem »Beethoven« vorlegt, ist zuletzt die Legitimation dieses Führungsanspruchs und unterscheidet sich insofern radikal von allen bisherigen Künstler-Ästhetiken. Die Frage, die diese Ästhetik bewegt, ist daher nicht länger die klassische, kraft welcher Regeln ein Kunstwerk schön oder erhaben sei (wie noch einmal bei Goethe, Schiller, Jean Paul und den Frühromantikern), auch nicht, wie etwa bei Poe oder Baudelaire, wie das Kunstwerk auf den Einzelnen wirkt, sondern wie es auf ein Volk wirkt, auf das deutsche. Diese Botschaft hatte Nietzsche vernommen – daher seine Sorge, daß der Schauspieler nicht zum »Verführer der Echten« wird. An Poes »Philosophie der Komposition« war zu studieren, wie der moderne Autor als »literarischer Histrio« das Publikum hinter die Kulissen seiner Produktion blicken läßt. Die hier ausgebreiteten Grundbegriffe moderner ästhetischer Produktion, Effekt, Begebenheit, Tonlage, werden auch Wagner beschäftigen, der bereits in »Oper und Drama« von 1852 sein musikalisches Drama entschieden von der Oper absetzt: »[…] nur im Hinblick auf die ungemeine Verbreitung und Wirkungsfähigkeit der Oper hat man geglaubt mit einer monströsen Erscheinung sich befreunden zu müssen, ja ihr die Möglichkeit zuzusprechen, in ihrer unnatürlichen Wirksamkeit etwas Neues, ganz Unerhörtes, noch nie zuvor Geahntes zu leisten, nämlich auf der Basis der absoluten Musik das wirkliche Drama zustande zu bringen.«206 Der namentlich von Rossini207 repräsentierte Grundirrtum bestand darin, »daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck

206

R. Wagner: Oper und Drama (OD), hrsg. und komm. von K. Kropfinger, Stuttgart 1984, S. 21. 207 Nietzsche notierte in in den »Vermischten Meinungen und Sprüchen«: »Erst in Beethoven’s und Rossini’s Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So

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des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war«,208 und unbeschadet aller Revisionen seiner Ästhetik in den folgenden achtzehn Jahren wird Wagner an dieser seiner ursprünglichen Einsicht festhalten. Freilich, heißt es dann im »Beethoven«, »erhellt sich […] das Verhältnis der Musik zur Dichtkunst als ein durchaus illusorisches«, und die »Vereinigung der Musik und der Dichtkunst muß daher stets zu einer solchen Geringstellung der letzteren ausschlagen, daß es nur wieder zu verwundern ist, wenn wir sehen, wie namentlich auch unsere großen deutschen Dichter das Problem einer Vereinigung der beiden Künste stets von neuem erwogen oder gar versuchten«, wobei es ihnen bei genauem Hinsehen nicht hätte entgehen dürfen, »daß in der Oper außer der Musik nur der szenische Vorgang, nicht aber der ihn erklärende dichterische Gedanke, die Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, und daß die Oper recht eigentlich nur das Zuhören oder Zusehen abwechselnd auf sich lenkte. Daß weder für das eine noch für das andere Rezeptionsvermögen eine vollkommene ästhetische Befriedigung zu gewinnen war, erklärt sich offenbar daraus, daß […] die Opernmusik nicht zu der der Musik einzig entsprechenden Andacht umstimmte, in welcher das Gesicht derart depotenziert wird, daß das Auge die Gegenstände nicht mehr mit der gewohnten Intensität wahrnimmt; […] denn hierfür waren wir, […] infolge einer im tiefsten Grunde nur gegen die Langeweile ankämpfenden Zerstreuung, gänzlich der Fähigkeit beraubt worden«. Die Musik »schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt«, und wir dürften nicht irren, »wenn wir in der Musik die aprioristische Befähigung des Menschen zur Gestaltung des Dramas überhaupt erkennen wollten«, insofern die »inneren Gesetze der Musik« im Dramatiker »unbewußt« sich gelten machen, genau wie wenn wir »die Welt der Erscheinungen uns durch die Anwendung der Gesetze des Raumes und der Zeit konstruieren, welche in unserem Gehirne aprioristisch vorgebildet sind«. Das seit der Romantik selbstverständliche Paradigma jenes Dramatikers ist Shakespeare, der »wirklich nach keiner Analogie mit irgendwelchem Dichter zu begreifen« sei, also auch nicht mit Goethe und Schiller, sondern allein mit Beethoven, indem »wir innewerden, daß die eine dieser Welten die andere vollkommen deckt, so daß möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei Schwanengesang.« (MA II.1, 171) Die Opern des »Schwans von Pesaro« erscheinen als die letzten Beispiele der metaphysischen Operntradition, der sich die Ohren der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht minder entfremdet hatten als der Musik Haydns und Mozarts. Zur Differenz vgl. C.-A. Scheier: Der philosophische Rossini, in: Mitteilungen der TU Braunschweig XXV 2 (1990), S. 40–43. 208 OD, S. 19.

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jede in der anderen enthalten ist, wenngleich sie in durchaus verschiedenen Sphären sich zu bewegen scheinen«. Wenn wir also »die Musik die Offenbarung des innersten Traumbildes vom Wesen der Welt nannten, so dürfte uns Shakespeare als der im Wachen fortträumende Beethoven gelten«, dessen Gestalten uns zugleich als »wirkliche Menschen« wie als »Geistererscheinungen« vorkommen. Indem die Shakespearesche und die Beethovensche Welt virtuell identisch sind, kommt es für die Bestimmung der vollendetsten Kunstform darauf an, den »Grenz- oder Übergangspunkt« der verschiedenen Sphären zu bezeichnen, und indem diese sich bereits als die des Traums und der Halluzination ergeben haben, kann Wagner abermals auf Schopenhauer, nämlich »auf den Zielpunkt seiner hypothetischen Traumtheorie, die Erklärung der Geistererscheinungen« zurückgreifen, und zwar bezeichnenderweise »nicht auf die metaphysische, sondern auf die physiologische Erklärung des sogenannten ›zweiten Gesichts‹«. Wie die unmittelbar »konzipierte Traummitteilung« durch den allegorischen Traum dem Erwachen »überliefert wird«, geht die »somnambule[–] Hellsichtigkeit […] infolge einer Depotenzierung des wachen Gesichtes vor sich, dessen jetzt umflortes Sehen der innere Drang zu einer Mitteilung an das dem Wachen unmittelbar nahe Bewußtsein benutzt[–] […]. Diese so aus dem Inneren vor das Auge projizierte Gestalt gehört in keiner Weise der realen Welt der Erscheinung an; dennoch lebt sie vor dem Geisterseher mit all den Merkmalen eines wirklichen Wesens«, und der Unterschied der »hellsichtig gewordenen Somnambule« zu Shakespeare ist nur der, daß der »ungeheure Dramatiker« dies »Projizieren des nur von ihm erschauten Bildes vor die Augen des Wachenden« ins Werk setzt und dadurch »sich und uns so vor das wache Auge zu stellen weiß, daß sie wirklich vor uns zu leben scheinen«. Aber damit kann es nicht getan sein, denn diese Projektion ist nur die der inneren Lichtwelt, die als solche mit der äußeren Welt und ihrem individuellen Bewußtsein so eng zusammenhängt, daß die Zuschauer sich nicht schlechterdings davon zu lösen vermögen. Die Musik hingegen – Wagner erläutert es mit einem Vergleich des Shakespeareschen und des Beethovenschen Coriolan – enthält all das, »was im vorgeführten Werke des Bühnendichters als komplizierte Handlung und Reibung auch geringerer Charaktere unsere Teilnahme in Anspruch nahm«, nur: »Was uns dort [sc. im Drama] als unmittelbar vorgeführte, von uns fast mit erlebte Handlung ergriff, erfassen wir hier als den innersten Kern dieser Handlung; denn diese wurde dort durch die gleich Naturmächten wirkenden Charaktere so bestimmt, wie hier durch die in diesen Charakteren wirkenden, im innersten Wesen identischen Motive des Musikers.«

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Simulierte Utopie

Für das vollendetste Kunstwerk kommt es also darauf an, jene Lichtwelt durch diese Schallwelt zu ergänzen, um im Rezipienten das Gefühl der Identität zu produzieren, die sich als musikalische bereits als die Identität mit dem allmächtigen Willen oder mit der Produktivität selbst, genauer mit dem Produkt in statu nascendi gezeigt hat. Worauf Wagner zielt ist daher alles andere als eine bloße Verdoppelung im Sinn einer (Poeschen) Verstärkung des Effekts, wenn er behauptet: »was Beethovens Melodien hervorbringt, projiziert auch die Shakespeareschen Geistergestalten; und beide werden sich gemeinschaftlich zu einem und demselben Wesen durchdringen, wenn wir den Musiker, indem er in die Klangwelt hervortritt, zugleich in die Lichtwelt eintreten lassen«. Wir dürfen nämlich Beethoven »als den wirkenden Untergrund des Geister sehenden Shakespeare bezeichnen«, so daß erst in der Kombination der Klangwelt mit der inneren Lichtwelt der produktive Untergrund des Kunstwerks zum Vorschein gebracht werden kann, als der sich bereits die Angst erwiesen hat: »In dem einen wie dem anderen der an sich wesentlich identischen Fälle müßte die ungeuere Kraft, welche hier, gegen die Ordnung der Naturgesetze, in dem angegebenen Sinne der Erscheinungsbildung von innen nach außen sich bewegte, aus einer tiefsten Not sich erzeugen, und es würde diese Not wahrscheinlich dieselbe sein, welche im gemeinen Lebensvorgange den Angstschrei des aus dem bedrängenden Traumgesichte des tiefen Schlafes plötzlich Erwachenden hervorbringt; nur daß hier, im außerordentlichen, ungeheueren, das Leben des Genius der Menschheit gestaltenden Falle, die Not dem Erwachen in einer neuen, durch dieses Erwachen einzig offenzulegenden Welt hellsten Erkennens und höchster Befähigung zuführt.« Was Baudelaire am Wagnerschen Kunstwerk faszinierte, waren abermals die Paradis artificiels, die nun aber nicht mehr, verwerflicher-, weil natürlicherweise, dank eines Löffels grüner Konfitüre, sondern wahrhaft artifiziell, nämlich »gegen die Ordnung der Naturgesetze« produziert werden als eine allein dadurch offengelegte »Welt hellsten Erkennens und höchster Befähigung« – als die Simulation des »wahre[n] Paradies[es] von Produktivität des menschlichen Geistes«, dem gegenüber die äußere Welt der »Dinge«, nämlich der Produkte, nurmehr eine Welt der Täuschung ist, »welche wir im Scheine des Lichtes als etwas von uns gänzlich Verschiedenes wahrnahmen«. Insofern ist Wagners Kunstwerk nicht nur auf der Höhe der technischen Produkte seiner Zeit, sondern überbietet sie, indem es sie halluzinatorisch vergessen macht.209 Als solche Simulation erfüllt es gleichwohl den Anspruch des 209

In diesem Sinn ist nun auch dafür zu sorgen, daß »die mechanischen Bewegungen der Musiker, der ganz sonderbar sich bewegende Hilfsapparat einer orchestralen

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modernen Kunstwerks, die Ware in der Dimension des Schmerzes zu sein oder den Riß zwischen Produzent und Produktion-Produkt anders als die Ware nicht zu verdrängen, sondern auszuhalten, indem es den »Untergrund« der industriellen Produktion, die Angst, obzwar doppelt transformiert durch Schall- und innere Lichtwelt, nach außen kehrt. Im Horizont der neuzeitlichen Metaphysik wurde um den Primat der »anciens« oder der »modernes« gestritten, des »disegno« oder des »colore«, der »parola« oder der »musica«, und beim ersten Hinsehen mag es scheinen, als entschiede Wagner diesen alten Streit 1852 zugunsten des Wortes, 1870 zugunsten der Musik. Näher betrachtet aber entscheidet er sich dort wie hier für ein Drittes, nämlich für das »Drama« oder die »Handlung«: »Wir wissen, daß nicht die Verse des Textdichters, und wären es die Goethes und Schillers, die Musik bestimmen können; dies vermag allein das Drama, und zwar nicht das dramatische Gedicht, sondern das wirklich vor unseren Augen sich bewegende Drama, als sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik, wo dann das Wort und die Rede einzig der Handlung, nicht aber dem dichterischen Gedanken mehr angehören.« Hier mag es nun scheinen, als ergriffe Wagner Partei gegen das literarische Drama zugunsten der ursprünglichen aristotelischen Konzeption des Primats der Handlung (μ ος). Aber das aristotelische Drama gründet, mit einem Wort, im λ γος, in dem sich ebensowohl die Gesinnungen (δι*νοιαι) wie die Taten (πρ*ξεις) der Charaktere (:η) aussprechen und zu einem schönen Ganzen zusammenfügen, wohingegen Wagners Musik, »welche einzig dadurch zu uns spricht, daß sie den allerallgemeinsten Begriff des an sich dunklen Gefühles in den erdenklichsten Abstufungen mit bestimmtester Deutlichkeit uns belebt, […] an und für sich einzig nach der Kategorie des Erhabenen beurteilt werden [kann], da sie, sobald sie uns erfüllt, die höchste Ekstase des Bewußtseins der Schrankenlosigkeit erregt«. Hierdurch unterscheidet diese Kategorie sich sogleich auch vom klassischen Begriff des Erhabenen überhaupt, bei dem die Schrankenlosigkeit zwar, wie im MathematischErhabenen Kants, konstitutiv war für den erhabenen Gegenstand, nicht aber für das ästhetische und infolgedessen auch für kein ekstatisches Bewußtsein. Was Wagner unter dem »wirklich vor unseren Augen sich bewegenden Drama« versteht, kann nach allem einzig das sein, was der Seher, »dem die Welt der Erscheinung sich verschlossen, […] nun mit dem inneren Auge« als »den Grund aller Erscheinung gewahrt«, der selProduktion« geradeso den Augen der Rezipienten entzogen wird, wie die zeitgenössischen Fabriken, »Feenpalästen« gleichend, hinter neugotischen Façaden verschwinden.

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ber keine Erscheinung mehr sein kann. Ist also die Musik wohl »die Offenbarung des innersten Traumbildes vom Wesen der Welt«, dann muß dies Traumbild, soll die Rede von ihm und dem inneren Auge des Sehers nicht gänzlich unangemessen sein, tatsächlich etwas visualisieren, d. h. jener Grund der Erscheinung muß die für die künstlerische Ekstase unabdingbare Identität des individuellen Willens mit dem allmächtigen Willen, d. h. die Identität des Produzenten mit dem Produkt in statu nascendi sein, das primäre Traumbild also die als die Verarbeitung der ursprünglichen Angst entspringende Produktion. Während darum »die weder dem Raume noch der Zeit angehörige Harmonie der Töne das eigentlichste Element der Musik verbleibt, reicht der nun bildende Musiker der wachenden Erscheinungswelt durch die rhythmische Zeitfolge seiner Kundgebungen gleichsam die Hand zur Verständigung«. Das Erste ist hier die ohnehin nicht dem Raum, aber auch noch nicht der Zeit angehörige Harmonie der Töne, d. h. eine ursprüngliche Gestimmtheit, deren letztes Motiv, worauf Wagner immer wieder insistiert, die Angst ist. Und die erste Arbeit des Musikers ist die, diese Gestimmtheit zu verzeitlichen, das Traumbild mithin – Wagners ästhetische Urszene – das Entspringen des Rhythmus (der Zeitordnung) aus der Angst: »Durch die rhythmische Anordnung seiner Töne tritt somit der Musiker in eine Berührung mit der anschaulichen plastischen Welt, nämlich vermöge der Ähnlichkeit der Gesetze, nach welchen die Bewegung sichtbarer Körper unserer Anschauung verständlich sich kundgibt. Die menschliche Gebärde, welche im Tanze durch ausdrucksvoll wechselnde gesetzmäßige Bewegung sich verständlich zu machen sucht, scheint somit für die Musik das zu sein, was die Körper wiederum für das Licht sind«. Und damit hat Wagner den Kern seines Musikdramas freigelegt: »Eben hier, auf dem Punkte des Zusammentreffens der Plastik mit der Harmonie« als des menschlichen Körpers mit seiner Gestimmtheit, »zeigt sich aber das nur nach der Analogie des Traumes erfaßbare Wesen der Musik sehr deutlich als ein von dem Wesen namentlich der bildenden Kunst gänzlich verschiedenes; wie diese von der Gebärde, welche sich nur im Raume fixiert, die Bewegung der reflektierenden Anschauung zu supplieren überlassen muß, spricht die Musik das innerste Wesen der Gebärde mit solch unmittelbarer Verständlichkeit aus, daß sie, sobald wir ganz von der Musik erfüllt sind, sogar unser Gesicht für die intensive Wahrnehmung der Gebärde depotenziert, so daß wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen.« Gestimmtheit (der Angst) als Gebärde ist das innerste Motiv des Wagnerschen Kunstwerks wie der ihm anhängenden völkischen Ideologie: »Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tönen, son-

Die Gebärde der allmächtigen Produktion

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dern von Gebärden.«210 Die Gebärde aber ist als der momentan zum Zeichen gemachte Leib selber schon »Schrift«,211 die erste Umkehr des modernen Menschen vor seinem Nichts als vor dem Entzug seines Wesens, der Produktivität, ins Produkt, vor dem verzweifelnd er sich selber zum ursprünglichen Produkt macht. Dies in seinem Kunstwerk wie in dessen Ästhetik zugleich dargestellt zu haben, gibt dem geschichtlichen Ort Wagners seine, notwendig zweideutige, Würde. Nietzsche hatte es gesehen und einen, ebenso notwendig hyperbolischen, Schluß gezogen, den freilich Wagners »Volk« nicht wahrhaben wollte, das einem verstandenen Wagner einen wagnerianisierten Nietzsche vorziehen würde.

210

DFW, S. 7. Wenn M. Gregor-Dellin in seiner »Wagner-Chronik«, München 1972, unter »20. Juli bis 7. September« (1870) schreibt: »Wagner arbeitet an seiner Schrift ›Beethoven‹, die Nietzsches Beifall findet und in der Wagner das Supremat der Musik über den Text verteidigt«, wäre also hinzuzufügen, daß die Musik ihrerseits unter dem Supremat der Gebärde steht. Indem diese wiederum Schriftcharakter hat, erweist sich Wagners »phonozentrische« Polemik gegen die geschichtliche Schriftlichkeit vielmehr als dem politisch-ästhetischen Versuch entsprungen, die »Ur-Schrift« (archi-écriture) als das Programm mythopoetischer Produktivität zu vergegenwärtigen. 211

III. Der Ursprung der Simulation

Creatio ex nihilo und die gespeicherte Angst Im Vorwort zum »Fall Wagner« schreibt Nietzsche, er bringe »unter vielen Spässen eine Sache vor, mit der nicht zu spassen ist. Wagnern den Rücken zu kehren war für mich ein Schicksal«.212 In der Tat durchzieht die Auseinandersetzung mit Wagner, immer dringlicher werdend, Nietzsches gesamtes philosophisches Werk, angefangen vom Erstling, der »Geburt der Tragödie«, bis zu den letzten druckfertig gemachten Manuskripten »Antichrist«, »Ecce homo«, »Dionysos-Dithyramben« und »Nietzsche contra Wagner«. Daß der Sache, mit der nicht zu spassen sei, gleichwohl noch kaum mit dem Ernst nachgedacht worden ist, den Nietzsche beschwor, mag unter anderem daran liegen, daß sie gar nicht als eine Sache erkannt wurde, der besondere Aufmerksamkeit zu widmen sei neben den mancherlei Sachen, welche die Faszination durch Nietzsches Schriften immerfort wachhielten, wie sehr diese Faszination sich dem Gang des 20. Jahrhunderts folgend inzwischen auch, und bis zur Unkenntlichkeit, gewandelt hat. Aber daß jene Sache nicht als eine, vielleicht die, HauptSache Nietzsches erkannt wurde, könnte seinen guten Grund wohl darin haben, daß Nietzsche, für den nach Auskunft des zitierten Vorworts Wagner »bloss zu [s]einen Krankheiten« gehörte, nirgendwo imstande war, sie selber so kenntlich zu machen, daß der Schein verschwand, sie sei zuletzt eben doch nur seine Sache gewesen, ein Exempel wohl, aber ein unglücklich, ein idiosynkratisch gewähltes. Denn Nietzsche »personalisierte«. Alle seine ins Werk gesetzten Texte sind Botschaften, die ihre bestimmten Empfänger haben, notfalls erfundene, die »freien Geister«.213 Er personalisierte so sehr, daß die letzte Tat seines Denkens darin bestand, sich selber, den Autor, in die Person des Gottes einzuschreiben – und der längst zur Gewohnheit gewordene

212

DFW, Vorwort. Hierzu C.-A. Scheier: Contemporary Consciousness and Originary Thinking in a Nietzschean Joke, in: The Southern Journal of Philosophy XXVII (1989) 549–559, dt.: »Gorgonzola«: Zeitgenössisches Bewußtsein und ursprüngliches Denken in einem Nietzscheschen Witz, in: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 1994, Göttingen 1995, 53–61. 213

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Der Ursprung der Simulation

Terminus des Einschreibens mag hingehen, wenn man bedenkt, daß kein Denker vor Derrida so inständig nachgedacht hat über das »Lesen und Schreiben«214 als Weisen des »Schaffens«. Mit dem Schaffen nämlich, der ursprünglichen Produktion hat es der Nietzschesche Gedanke zu tun, und der Name, die Gestalt, das Werk Wagners stehen ihm paradigmatisch für die Bedrohnung des Schaffens als des menschenmöglichen Menschenwesens durch den »Nihilismus«. Daß Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner nie in seinem Sinn ernstgenommen wurde, liegt nach allem keineswegs daran, daß er Wagner als Exempel zu wenig, sondern daß er ihn zu sehr kenntlich machte, indem er glaubte, gerade hier, in dieser empfindlichsten persönlichen Nähe, der Maxime seiner Vorrede zur »Fröhlichen Wissenschaft« von 1886 folgen zu sollen: »›Incipit tragoedia‹ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel …«215 Was mag hier Tragödie, was Parodie heißen, die sich als »Schlimmes und Boshaftes« im »Incipit tragoedia« einer fröhlichen Wissenschaft ankündigt? Schon in »Richard Wagner in Bayreuth« hatte Nietzsche, offensichtlich noch in ganz andrer Absicht, geschrieben, ihm sei »immer deutlicher geworden, dass der ›Gebildete‹, sofern er ganz und völlig die Frucht dieser Gegenwart ist, Allem, was Wagner thut und denkt, nur durch die Parodie beikommen kann«.216 So wird sich im Verlauf von zehn denkenden Jahren nicht nur Nietzsches Wagner-Bild und das Bild, das er vom »Gebildeten« hat, sondern wohl auch der Begriff der Parodie gründlich verwandelt haben. Vielleicht läßt sich dieser Verwandlung durch eine nähere Betrachtung dessen auf die Spur kommen, was Nietzsche unter Schaffen versteht. Denn daß dies Denken durch und durch ergriffen ist von der Gewalt des primum movens alles eigentlich modernen Denkens, vom Gedanken der nicht länger natürlichen, sondern aus dem Naturzusammenhang, aus der Handwerklichkeit heraustretenden und die Natur sich als bloßes Rohmaterial unterwerfenden Produktion, das duldet vermutlich auch dort keinen Zweifel, wo die Nietzsche-Lektüre es gar nicht primär mit Fragen der menschlichen Produktivität im engeren Sinn zu tun hat. Welchem Problem auch immer Nietzsche sich auf dem Weg von der »Geburt der Tragödie« zu den Briefen und Postkarten des Januar 1889 zuwendet – immer denkt er vom Schaffen her, und dort, wo dies Schaffen 214 215 216

Vgl. AsZ I.7. FW, Vorrede 1. F. Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth 1.

Creatio ex nihilo und die gespeicherte Angst

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als solches thematisch wird, steht es allemal in einer unheimlich-heimlichen Beziehung zum »Nichts«, die nicht nur in der Rede vom »Nihilismus« als dem Resultat der europäischen Geschichte verdeutlicht wird. Nun kommt dem Nichts eine noch gar nicht zu Ende gedachte Bedeutung in der Geschichte des europäischen Denkens von Parmenides’ »Es ist nämlich Sein, / Nichts hingegen ist nicht«217 bis zu Hegels absoluter Negativität zu, aber erst im Horizont der aufziehenden technischen Welt macht das Nichts Angst, und keineswegs erst dort, wo Nichts und Angst zu Schlagworten wurden, im »existenzialen« Denken und Existenzialismus des 20., sondern schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Entdecker waren Dichter wie Poe und Baudelaire, ihr erster großer Diagnostiker war, wie bekannt, Kierkegaard; aber Nietzsche, der Kierkegaards Namen zu spät vernahm als daß er in ihm, wie es wohl geschehen wäre, den Pascal seiner eignen Gegenwart entdeckt hätte, konnte diese moderne Angst in der Schrift studieren, von der man wohl sagen darf, daß sie es war, die ihn aus der Philologie herauswarf in ein Denken, das mit allem Recht als ursprünglich zu kennzeichnen ist, eben in Wagners »Beethoven«. Wie zu sehen war, ist für Wagner der Angst-Schrei, »das Grundelement jeder menschlichen Kundgebung an das Gehör«, der schlechthin unmittelbare Ausdruck von Existenz und so die erste Äußerung des produktiven Menschenwesens als des mit Schopenhauer so genannten Willens. Wovor aber sollte der Wille sich ängstigen wenn nicht vor seinem eignen Nichtsein, das eben, wenn er, wie Wagner wiederum mit Schopenhauer unterstellt, allmächtig ist, zugleich das Nichtsein von Allem, der Welt, also das Nichts ist. Nietzsche hat darum im Blick auf Wagner die »Grundthatsache des menschlichen Willens« den »horror vacui« genannt und »das asketische Ideal« darein gesetzt, daß der Mensch eher »noch das Nichts wollen, als nicht wollen« will.218 Nicht bloß Produktion, Hervorbringen, sondern Schaffen, Hervorbringen-aus-Nichts, Creatio, ist der paradoxe Grundgedanke Nietzsches, sein anti-christliches, d. h. jetzt: anti-nihilistisches Absurdum, angesichts dessen die Wagnersche und die Kierkegaardsche Angst im Einen »asketischen Ideal« ununterscheidbar werden. Es kommt für die folgenden Überlegungen daher auf die Verdeutlichung der Differenz an, die sehen läßt, wie Nietzsches Kritik an Wagner implizit sehr wohl den Kierkegaardschen Gedanken trifft, ohne doch Wagners eignen zur bloßen Charaktermaske auszuhöhlen, denn allerdings mag die Lektüre des »Beethoven« unmittelbar die Vermutung nahelegen, Wagners Rede von 217 218

B 6.1 f.: στι γ2ρ ε;ναι, / μηδν&ργεια, Aristotelisch gesprochen, nicht mehr >ντελ&χεια ist. Die entsprechende Einsicht formuliert Nietzsche im Herbst 1887 so: »Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum?‹«,250 was den Unterschied zwischen handwerklicher und technischer Produktion darein setzen läßt, daß jene

248

G. W. F. Hegel: VÄ, Band 2, S. 131 (III.2.2.2.c: Bekleidung). KGA VII.1, 5[1], Nr. 211. 250 KGA VIII.2, 9[35], vgl. auch die große Skizze »Der europäische Nihilismus«, KGA VIII.1, 5[71]. 249

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Der Ursprung der Simulation

zweckmäßig produziert, diese hingegen die Zwecke selbst, die aber, eben als Produkte, zugleich immer auch nichtig sind. Womit die Moderne eine Frage entdeckt, die das ältere Denken gar nicht kannte und kennen konnte: die Frage nach dem »Sinn des Lebens«. Die Produktion ist jetzt der Wille, »einen Sinn, einen neuen Sinn in das sinnlos Gewordene zu legen«, und sinnlos wird nicht dies und das, sondern immer alles, die Welt als eine Welt der Produkte und nicht der Produktion – so daß sie in ihren einzelnen Produkten so schön scheint wie sie im ganzen häßlich ist.251 Und diese ab-gründige Häßlichkeit kommt dem sinnsuchenden Auge notwendig entgegen als das Bisherige, die als Welt-Begriff entdeckte Mode-Kategorie des Gestrigen, die in jenem zwar ihre Legitimation hat, wiewohl sie sich über das Bisherige ebenso wie über das Künftige täuscht, das ihr nur ein anderes Produkt und nicht die Produktion selbst, die »Utopie«, ist und daher protentional auch nur das Bisherige. So schließt Nietzsche die von Hegel ausgehende Rechenschaft mit einem Blick zurück auf seinen eignen Anfang in der »Geburt der Tragödie« und darin durch das Bisherige in den geschichtlichen Ursprung: »Die Täuschung Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung »so soll es immer sein!« / Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit.252 Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.« Der aristokratische Traum ist ausgeträumt, der Gedanke der Ewigkeit in die Hände der »letzten Menschen« geraten, der apollinische Schein zur Simulation geworden, dem wahren Thema von »Der Fall Wagner«. Aber es gab Dionysos, und wenn Heidegger lehren wird, daß die Geschichte des Seins mit der Seinsvergessenheit begonnen habe, daß das Sein als Sein nie gedacht worden sei, ist die Nietzschesche Parallele die, daß es nie eine dionysische Philosophie gegeben habe – mit einem bezeichnenden Zögern, das auch Heidegger nicht fremd sein wird: »Vor mir giebt es diese Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die tragische Weisheit, – ich habe vergebens nach Anzeichen davon selbst bei den grossen Griechen der Philosophie, denen der zwei Jahrhunderte vor Sokrates, gesucht. Ein Zweifel blieb mir zurück bei Heraklit[…].«253 Schon in der 1873 geschriebenen »Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen« heißt es: »Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung,

251

Vgl. z. B. Henry James’ Erzählung »The Spoils of Poynton« von 1897. Der Grund von Nietzsches zwar parodistischem, aber doch leidenschaftlichem Votum für Bizets »Carmen«, vgl. DFW 1 f. 253 EH, GT 3. 252

Die Unschuld des Werdens

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in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich.«254 Den Künstler hat Nietzsche hinzuerfunden, wie sein Interpretieren überhaupt den Charakter des Wiederfindens hat, das ihm insbesondere den Heraklitischen Gedanken unter der Hand in »Artisten-Metaphysik«255 umschlagen läßt. Darum schließlich ist es zu tun: um eine Produktion, die den Schein nicht scheut, weil er ihr in seiner reinen Übergänglichkeit nie zum »Ding«, zur »Substanz« gerinnt, sie nur immer zur andern Seite des Schaffens herausfordert, zum Zerstören – denn was von ihr allein zerstört würde, ist das zur Simulation, zum Antlitz der Medusa, zum Tod sich fixierende Leben. Dies reine durch alles Geschaffene, dinghaft Gewordene hindurch zuletzt nur sich selbst schaffende, sich selber zu sich als zur Welt bringende »Leben« ist freilich das Ideal, das übrigbleibt, weil es nicht bloß ein Entwurf – der Entwurf ist das moderne Analogon des Ideals –, sondern der Entwurf des Entwerfens selber ist, der ursprünglichen Produktion, wie Nietzsche sie im Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen konzipiert hat. Wie Zarathustra seinen Schülern geraten hatte, ihn zu verlieren,256 wurde es Heidegger sauer, den »Nietzsche«, den er geerbt hatte, loszuwerden, und zuletzt konnte er die ewige Wiederkunft nur als den vollendenden Gedanken der Metaphysik, d. h. der Technik selbst verstehen: »das Wesen der modernen Technik« sei »die ständig rotierende Wiederkehr des Gleichen«.257 Erkauft ist die Gleichsetzung damit, daß sie Nietzsches Paradox wegbringt – das Paradox ist das moderne Analogon des spekulativen Satzes – und so den Gedanken der Wiederkehr der Produktion in den der Reproduktion verkehrt als ins »Gestell«. Das ist durchaus janusgesichtig. Denn wohl wird Nietzsches Gedanke dadurch nachhaltig verstellt, aber Heidegger bekommt auch seinen eignen Gedanken frei, der anders als jener nicht poietisch, sondern praktisch ist im Abstoß vom operational-theoretischen Denken, wie es ihm exemplarisch in der Phänomenologie seines Lehrers Husserl begegnet war. Angesichts der Gewalt dieses Welt-Entzugs wagte Heidegger zwar schon in der ersten Vorlesung von 1919 den Schritt zurück in das »Welt-

254

F. Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 7, KGA III.2, S. 324. 255 GT, Versuch einer Selbstkritik 5. 256 AsZ I.22, Von der schenkenden Tugend 3. 257 M. Heidegger: Was heißt Denken?, Tübingen 1961, S. 47. Vgl. ders.: Nietzsche, Pfullingen 1961, Band I, S. 255–472, Band II, S. 7–30.

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anschauungsproblem«, geriet aber eben damit auch in den Sog des die »Weltanschauungen« oder Ideologien treibenden sekundär-poietischen Motivs, denn die Ideologien ersetzen allesamt den von Marx und Nietzsche formulierten Gedanken einer ursprünglich-geschichtlichen Verwandlung des produktiven Menschenwesens durch das Projekt ihrer umgehenden politisch-technischen Herstellung, d. h. Massenfertigung (und also auch Massenvernichtung), wodurch die in »Sein und Zeit« kurzfristig aufgefangene praktische Unruhe sich in den frühen dreißiger Jahren derart poietisiert, daß in der Rektoratsrede und den mit ihr zusammenhängenden Texten Philosophie von bloßer Ideologie nur noch gewaltsam zu unterscheiden ist. Die Behauptung dürfte kaum zu weit gehen, daß Heideggers gesamte weitere Entwicklung nach 1933 die Arbeit war, sich von dieser poietischen Identifikation zu lösen. Er selber verstand das insbesondere nach 1945 wohl als Abschied vom Nationalsozialismus, hat aber diesen selbst offenbar bis zuletzt nur für ein Beispiel des technischen Denkens überhaupt gehalten und glaubte genug zu tun, dagegen seine »anders-anfängliche« Besinnung auf den Weg zu bringen. So konnte er nachträglich, und ohne dies eigens als späteren Einschub zu kennzeichnen, die auf den Nationalsozialismus bezogene Wendung von der »inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung« bona fide durch eine Klammer uminterpretieren, die ihr die »Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen« substituiert.258 Was Heidegger in den dreißiger Jahren tatsächlich gelingt, ist die Auseinanderlegung der ποησις in ihre beiden Seiten der Technik oder Reproduktion hier und einer ursprünglichen ποησις da, die er seither der Dichtung Hölderlins ablas. Jene wird an das theoretische oder »vorstellende« Denken im Sinn der Husserlschen Phänomenologie, diese an die ursprüngliche Praxis (»Gelassenheit«) der »anders-anfänglichen« Besinnung selbst als der an sie ergehende »Zuspruch« gebunden. Entsprechend dieser Tendenz konnten die 1961 überarbeitet veröffentlichten Nietzsche-Vorlesungen der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre gar keine andere Absicht haben, als das bei Nietzsche gedachte Schaffen und damit den Nietzscheschen Gedanken überhaupt der »Metaphysik« zuzuschlagen. Unbeschadet also der geschichtlichen Tatsache, daß Heideggers Nietzsche-Interpretation einen Denk-Raum der Moderne eröffnet hat, der in deren innerste Motive blicken läßt, ist doch auch zu sehen, daß dieser Nietzsche ein Surrogat ist, sein Entwurf des Entwerfens selbst im Heideggerschen Prisma eine simulierte Metaphysik.

258

M. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, S. 152.

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Am Gedanken der ewigen Wiederkunft zeigt sich dies daran, daß deren Interpretation als Reproduktion in jenem Entwurf nichts anderes mehr sehen lassen kann als eine bare Umkehrung des Schopenhauerschen Pessimismus, kurzum eine veränderte »Einstellung« zur Schopenhauerschen Welt des Willens. Aber Nietzsche war sich sehr wohl darüber im klaren, daß sein Wille zur Macht etwas ganz anderes ist nicht nur als der Wagnersche, sondern auch als der Schopenhauersche Wille zum Leben, der gerade darum verneint werden muß, weil er sich überhaupt nicht von seinem Produkt, dem Individuum trennen läßt. An sich ist er die unendliche Langeweile seiner selbst – Nietzsches Ekel –, die in der Reproduktion nur immer der λη verfällt: »Was für das Individuum der Schlaf, das ist für den Willen als Ding an sich der Tod. Er würde es nicht aushalten, eine Unendlichkeit hindurch das selbe Treiben und Leben, ohne wahren Gewinn, fortzusetzen, wenn ihm Erinnerung und Individualität bliebe. Er wirft sie ab, dies ist der Lethe, und tritt, durch diesen Todesschlaf erfrischt und mit einem andern Intellekt ausgestattet, als ein neues Wesen wieder auf.«259 Genau dies aber ist der Trost, den Zarathustras Tiere dem Genesenden zu spenden wissen,260 der seinen »abgründlichsten Gedanken […] an’s Licht gestülpt« hat: »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. / Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. / In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.« Worauf Zarathustra antwortet: »Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! […] wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen mußte: – / – und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte! Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir. / Und ihr, – ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus?« Es gehört zu den auf den Dionysos-Gedanken und das darin liegende Verhältnis Zarathustra-Dionysos deutenden Geheimnissen des Buchs »für Alle und Keinen«, daß Zarathustra sich hier mit dem Hirten des »Gesicht[s] des Einsamsten« identifiziert.261 Das Tertium comparationis ist der Gedanke der ewigen Wiederkunft, der dem Schopenhauerschen Uroboros der Reproduktion den Kopf abbeißt. Aber genau diese Schlange und ihre λη preisen die Tiere, die Zarathustra darum Drehorgeln nennt und ihre Verherrlichung des Naturkreislaufs des Willens zum Le259 260 261

WWV Kap. 41, S. 582. AsZ III.13, Der Genesende 2. AsZ III.2, Vom Gesicht und Räthsel.

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ben ein Leier-Lied. Und wenn sie nach Zarathustras Schaudern über die »ewige Wiederkunft auch des Kleinsten« mit einem neuen Trost beginnen und zuletzt die Sterbe-Rede Zarathustras simulieren, dann ist darauf zu achten, daß Zarathustra ihnen schon nicht mehr zuhört, »denn er unterredete sich eben mit seiner Seele«. Sie ist das Schaffen, das von ihm lernt, als ewige Wiederkunft des Gleichen im Namen des »Namenlose[n]«, den Zarathustra nicht, wohl aber Nietzsche sonst Dionysos nennt, sich auch noch als Reproduktion zu überwinden in einem Singen, das darum auch kein Leier-Lied mehr ist.262 Die eigentümliche Gefahr der Postmoderne, die ihre ironischste Lektüre an den auf sie ausgestellten Totenscheinen hat, ist allerdings die, daß sie, nur scheinbar ihrer Herkunft eingedenk, zur automatischen Reproduktion der Moderne gerät. Denn der Gedanke, der erdrückende – ängstigende – Zirkel der Zeit könne nur von außen, von einem Un-Ort aus aufgebrochen werden, in dem wir nicht sind, gehört offenbar zur Moderne von Anfang an. Schopenhauers Nichts, Feuerbachs Du, Kierkegaards göttlicher Lehrer, der dem Schüler nicht nur die Wahrheit, sondern die Möglichkeit, sie zu verstehen, brächte, auch Marxens geschichtliche Notwendigkeit der Revolution, Wittgensteins mystisches Gefühl, Heideggers Ereignis, Adornos Nichtidentität, Lévinas’ Illeität, Derridas outre-clôture, sie alle fügen sich als dasselbe Verhältnis zum Nietzscheschen Gedanken der schaffenden Seele, die sich selber darein überwunden hätte, den ursprünglich schaffen-machenden Gott zu empfangen. So bestimmt sich dies Denken auch immer als vor-läufig, und schon der Schopenhauersche Gedanke unterscheidet sich von aller Metaphysik darin, daß auch für ihn gilt, es komme darauf an, die Leiter, sich selber, zuletzt wegzuwerfen. Darum hört Zarathustra seinen Tieren nicht mehr zu, weil seine Genesung diejenige zum Zwiegespräch mit der Seele ist, die er gelehrt hat, Ariadne zu sein, vor-zu-laufen in den ερ$ς γ*μος mit Dionysos. Wenn die ewige Wiederkunft nichts weiter wäre als die ganz ohne Paradox denkbare Einheit von Schaffen und Zerstören, die allerdings das Prinzip des Reproduktion ist, hätte Nietzsche getrost schreiben können: das ewig Schaffende als das ewig Zerstörende; stattdessen heißt es – und Nietzsche unterstreicht –,: »das Ewig-Schaffende als das ewig-ZerstörenMüssende«. Denn das »Leben« als die nicht länger metaphysisch gedachte Produktivität will unmittelbar gar nicht zerstören, weil es in seine Produkte verliebt ist. Es bedarf daher, um zu sich zu kommen, d. h. um überhaupt erst schaffend zu werden, der Selbstüberwindung in die rechte Liebe und dafür wiederum das, was Nietzsche Zucht und Züchtung 262

AsZ III.14, Von der grossen Sehnsucht.

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nennt. Die ersten drei Teile von »Also sprach Zarathustra« sind die Geschichte dieses Heran-Ziehens (der vierte Teil richtet sich im wiewohl selber wieder als vorläufig gedachten Ausbleiben der Parusie ein). Aber was, wenn ganz und gar nicht das Schopenhauersche Leben, das sich selber will, ist jene Seele, die Zarathustra in der Rede »Von den Verächtern des Leibes«263 »ein Etwas am Leibe« genannt hatte? Zuletzt erweist sie sich als Ariadne, und »Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist! …« ruft der Nietzsche des »Ecce homo« aus.264 Der nächste Schlüssel ist abermals seine Wagner-Interpretation: »Siegfried und Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe; der Aufgang des goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral – das Uebel ist abgeschafft …« – Zarathustra und die Seele, Dionysos und Ariadne. Denn Nietzsche wußte sehr wohl, daß Wagner seinen »Beethoven« mitten in der Arbeit am Schluß des »Siegfried« geschrieben hatte und mit Siegfried – dessen Erbe Parsifal sein wird – ursprünglich die ersehnte »unendlich tief begründete Neugeburt« des deutschen Volkes zu symbolisieren gedachte.

Die weibliche Vernunft In seiner Beethoven-Schrift hatte Wagner Goethes ewig Weibliches als den »Geist der Musik« interpretiert, der »nun über ihm schwebt« und ihn »den Weg der Erlösung leitet«, eben den Weg, den »aus tief innerstem Erlebnis […] der deutsche Geist sein Volk zu führen [hat], wenn er die Völker beglücken soll, wie er berufen ist«. Denn dieser Geist der Musik, dies ewig Weibliche, ist im Verlauf der Geschichte von den Griechen über das Christentum zu den Deutschen gelangt, wo er nunmehr jener Neugeburt harrt. Das erklärt, warum für Wagner das eigentlich Empörende der französischen Mode ihre Herrschaft über das »deutsche Weib« ist: über die ursprüngliche Produzentin. Und das erklärt auch, warum die temporären Identifikationen des Künstlers mit dem Weltwillen so unüberhörbar erotisch konnotiert sind wie der Schluß des ersten Akts der »Walküre« oder des dritten Akts von »Tristan und Isolde«.265 Dieser Unterschied allein schon, daß der schopenhauerisierende Wagner den Willen als weiblich denkt, verurteilt jeden Versuch, sein reifes Werk mit den Mitteln Schopenhauerscher Philosophie zu erklären, zum bloßen Nachreden. Denn als weiblich hat Schopenhauer seinen Wil-

263

AsZ I.4. EH, AsZ 8. 265 Ein Werk, dessen Absicht verfehlt wird, wenn es wie üblich verkürzt mit »Der Tristan« zitiert wird. 264

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len nicht gedacht, von dem er vielmehr als das andere Extrem der nach Wille und Vorstellung entfalteten Welt die Vernunft unterschied. Diese nämlich »ist weiblicher Natur; sie kann nur geben, nachdem sie empfangen hat. Durch sich selbst allein hat sie nichts, als die gehaltlosen Formen ihres Operirens. Vollkommen reine Vernunfterkenntniß giebt es sogar keine andere, als die vier Sätze, welchen ich metalogische Wahrheit beigelegt hatte, also die Sätze von der Identität, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Erkenntnißgrunde«,266 die sich allesamt als Tautologien ausweisen lassen. Und dadurch, durch diese Leere, die sich anders als der ewig ungesättigte Wille nicht durch sich selber, sondern nur durch anderes, durch die Anschauung sättigt, ist die Vernunft eigentlich die Repräsentantin des ganz Anderen des Willens im Individuum, des Nichts. Kommt sie wahrhaft zu sich, dann ist es nichts mehr mit dem Willen als mit der Produktion von Welt. Weist also wohl auch Wagners Musik den »Weg der Erlösung«, dann führt dieser den Willen in die genau entgegengesetzte Richtung des von Schopenhauer gewiesenen, nämlich in sich selbst als in die ursprüngliche, d. h. nicht länger der Mode unterworfene und also »natürliche« Produktivität zurück. Wobei deren Natürlichkeit, Wagners Paradies der Produktivität, nach allem keineswegs als der Zustand der alten handwerklichen Produktion zu denken ist – Wagner ist in der Tat absolument moderne –, sondern als diejenige Produktion, die sich nicht ins Produkt entzöge, vielmehr in diesem, durch es, dem Produzenten zurückkehrte, wie Marx notierte: »Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete.«267 Darin freilich liegt das Paradoxon der Moderne, das die Brutstätte jenes Triumphs des technischen Todes wurde, den die Ideologien des 20. Jahrhunderts brachten. Die innovative technische Produktion, die die wahre Moira der Moderne ist – und insofern ist es lächerlich, die Rede vom Geschick als reaktionär aus dem Sprachgebrauch streichen zu wollen –, entzieht die Produktivität als das Menschenwesen ins Produkt, verdinglicht dieses zu einer Welt der Waren, in der menschliche Existenz selber den Charakter einer undeutbaren Chiffre, einer bloßen zufälligen Spur annimmt; und die einzig – nicht die einzig denkbare, wohl aber die (darin lag das Unglück) einzig vorstellbare Alternative ist ein unwiderruflich Vergangenes, nämlich die zuletzt homerisch-partriarchalische Welt der Handarbeit, die dann im Nationalsozialismus als »Blut und Boden« selber zum seriellen Produkt technischer Produktion pervertiert wurde. Diese Alternativelosigkeit technischer Allgegenwart ließ 266 267

WWV § 10, S. 89. MEW Erg.-Bd. 1, S. 463.

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das Denken utopisch werden und rechtfertigt im nachhinein, und unbeschadet aller hier nötigen Einwände, Heideggers und seiner Nachfolger erbitterten Kampf gegen das »Vorstellen« als gegen die Produktion des Unproduzierbaren – nicht unmittelbar gegen die Simulation, sondern gegen die Simulation der Grenze der Simulation, deren Verführung – Nietzsche lernte es mit Entsetzen – auch Wagner zum Opfer fiel, nachdem sein Schiff »auf einer conträren Weltansicht« festgefahren war. Denn die Erlösung als Theater ist die politisch-ästhetische Gestalt dieser Simulation der Grenze der Simulation. Aber dazu war nötig, daß der Schopenhauersche Wille zuerst einmal, um es so zu sagen: Vernunft annehmen, d. h. weiblich werden mußte. Interessanterweise hat bereits der frühe Hegel, der hier einerseits an Giordano Bruno, anderseits an die Frühromantiker anknüpfen konnte, in einem kühnen Bild die Vernunft als weiblich bestimmt. Die Philosophie selbst, nicht ihre einseitigen Reflexionsgestalten, sei es, »welche den Tod der Entzweyten, durch die absolute Identität zum Leben erhebt, und durch die, sie beyde in sich verschlingende, und beyde gleich mütterlich setzende Vernunft nach dem Bewußtseyn der Identität des Endlichen und Unendlichen, d. h. nach Wissen und Wahrheit strebt«.268 Die hier gedachte absolute Produktivität, das Thema der klassischen deutschen Philosophie im Umdenken der Kantschen Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, als die sich die Frage nach der Produktivität im geschichtlichen Ort der sich vollendenden Metaphysik bestimmte, ist mit Kant wohl »setzende« Vernunft, aber um 1800, nachdem Schelling die erste Philosophie aus der Transzendental- oder Ich-Philosophie in Natur-Philosophie verwandelt hatte, organisch gedacht als gebärende und darum als mütterliche Vernunft. Anderseits ist sie als absolut setzende notwendig auch absolut aufhebende Vernunft, wodurch ihr Gebären ebenso Verschlingen und die mütterliche Vernunft zugleich Kronos/Chronos ist, der seine Kinder frißt, die Zeit, oder genauer gesagt – und eben dies hält den Hegelschen, wie übrigens auch den Schellingschen Gedanken im Horizont der Metaphysik – das (logische) Wesen der Zeit. In dem geschichtlichen Augenblick allerdings, wo dies logische Wesen der Zeit nicht länger den Charakter der Synthesis a priori, und so den von Urteil und Schluß hat, sondern in die neue Logik von Funktion und Argument umschlägt, ist das »Wesen« der Zeit grundlos geworden; und geradeso, wie sich das metaphysische Wesen des Menschen entzieht 268

G.W.F. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler, Hamburg 1968, S. 92.

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und, mit dem treffenden Ausdruck Heideggers, dem Menschenwesen geschichtlichen Raum gibt, entzieht sich mit seiner Vollendung in Hegels »Wissenschaft der Logik« das metaphysische Wesen der Zeit und gibt dem Zeitwesen Raum, d. h. überantwortet die bisher im Prinzip der Natur (Gott) gedachte Produktivität dem Menschenwesen, aber paradoxerweise so, daß sich solche Überantwortung unmittelbar als Entzug erweist, denn diese initiale Apotheose des Menschen ist vielmehr die seiner Produkte, zu denen nicht nur die dinghaften technischen Produkte, sondern ebenso die Interpretationen: die Entwürfe zählen – Welt selbst wird hinfort zum Entwurf. Denn wenn eine kapitalistische Maxime »time is money« lautet, dann spricht sich, hält man sie mit Marx’ Diktum zusammen, die Logik sei das Geld des Geistes, darin selber in Gestalt gängiger Münze eine abgründige und darum keineswegs zu verachtende Wahrheit der Philosophie und näher der Moderne aus: Zeit ist angeschaute Produktivität, ist überhaupt gar nicht anders zu denken denn als Produktivität, und im Zurückhören ist das Sterbegeläut der sich vollendenden Metaphysik bereits zu vernehmen in Kants transzendentaler Ästhetik, die die Zeit als Form der inneren Anschauung entdeckt. Der innere Sinn nämlich ist das reine Sich-Erscheinen der Spontaneität als der transzendental gedachten Produktivität, so daß Hegels »Wissenschaft der Logik« schließlich, nachdem Fichte seine Wissenschaftslehre als »pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« gedacht hatte,269 die systematische Ausfaltung der Vernunft der Zeit, d. h. deren Präsenz und Gegenwart als Sprache vor aller Vorstellung ist.270 Entzieht sich dieser nun die metaphysische Vernunft, dann bleibt logisch nur noch die Tautologie übrig, Schopenhauers »gehaltlose[–] Formen ihres Operirens«, ein leeres Denken, als das dann Feuerbach die Hegelsche »Wissenschaft der Logik« entlarvte, und die Sprache als »das erste Erzeugniß und das nothwendige Werkzeug« der menschlichen Vernunft, die als diese für sich leere Reflexion nichts anderes ist als das Bewußtsein der Zeit: »Dieses neue, höher potenzierte Bewußtseyn, dieser abstrakte Reflex alles Intuitiven im nichtanschaulichen Begriff der Vernunft, ist es allein, der dem Menschen jene Besonnenheit verleiht, wel269

J.G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794), Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I,2, hrsg. von R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, S. 365. 270 Vgl. C.-A. Scheier: Die Sprache und das Wort in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 24 (1982) 94–103; sowie: ders.: Der vulgäre Zeitbegriff Heideggers und Hegels lichtscheue Macht, in: Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen, hrsg. von H.M. Baumgartner, Freiburg/München 1993, S. 51–73.

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che sein Bewußtseyn von dem des Thieres so durchaus unterscheidet […]. Sie leben in der Gegenwart allein; er dabei zugleich in Zukunft und Vergangenheit. […] Das Thier lernt den Tod erst im Tode kennen; der Mensch geht mit Bewußtseyn in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst Dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzen Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat. Hauptsächlich dieserhalb hat der Mensch Philosophien und Religionen.«271 Schopenhauers Vernunft erweist sich so als Kants innerer Sinn, der, bezogen auf die Selbsterhaltung des blinden Willens zum Leben, sexualisiert und darum als das Organ der Rezeptivität sogleich als weiblich erscheint. Nicht, daß sie darum bloß rezeptiv wäre, denn sie gibt, nachdem sie empfangen hat und ist so gegenüber Anschauung und Verstand eine eigene Funktion: »Wie der Verstand nur EINE Funktion hat: unmittelbare Erkenntniß des Verhältnisses von Ursach und Wirkung, und die Anschauung der wirklichen Welt, […] so hat auch die Vernunft EINE Funktion: Bildung des Begriffs,«272 und dieser hat zu seiner Voraussetzung die Sprache, die darum »das erste Erzeugniß« nicht länger der, nämlich metaphysisch gedachten, Vernunft, sondern der Vernunft des Menschen ist. Was diese Vernunft erstlich erzeugt, ist ihr »nothwendige[s] Werkzeug«, denn: »Offenbar ist die Rede, als Gegenstand der äußeren Erfahrung, nichts Anderes als ein sehr vollkommener Telegraph, der willkürliche Zeichen mit größter Schnelligkeit und feinster Nüancirung mittheilt. […] Es ist die Vernunft, die zur Vernunft spricht, sich in ihrem Gebiete hält, und was sie mittheilt und empfängt, sind abstrakte Begriffe, nichtanschauliche Vorstellungen, welche ein für alle Mal gebildet und verhältnißmäßig in geringer Anzahl, doch alle unzähligen Objekte der wirklichen Welt befassen, enthalten und vertreten. Hieraus allein ist es erklärlich, daß nie ein Thier sprechen und vernehmen kann«.273 Es ist mithin die weibliche Vernunft, deren instrumentelles Produkt alle menschliche Gemeinschaft gründet, und darum nur konsequent, daß die Sprache, die ihre weltaufschließende Vollkommenheit im Trauerspiel erreicht, dort verstummt, wo die »gesteigerte Kraft« des Künstlers, »endlich des Spiels müde, den Ernst ergreift«, d. h. wo die Künstlernatur des Menschen durch Resignation sich in die des Heiligen

271

WWV § 8, S. 72 f. Ebd., S. 75. 273 Ebd., § 9, S. 76. Bis zu diesem bereits technisch konnotierten Sender-Empfänger-Modell ist die Genese der geläufig gewordenen Rede von den »Literaturmaschinen« zurückzuverfolgen. 272

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verwandelt.274 Das Mitleiden gilt existenziell nicht dem sprechenden, sondern dem in seiner Qual stummen Andern, und wie die Musik die bildlose Sprache des Weltwillens selbst ist, öffnet sich jenseits der Sprache überhaupt der Weg in sein Nichts. Zu seiner eigenen Sprache kommt der Andre aber als das Feuerbachsche Du. Feuerbach denkt sie darum auch nicht länger instrumental, sondern poietisch: »Die Tiere sprechen nicht, weil es ihnen an Poesie fehlt. Der Gedanke äußert sich nur bildlich; die Äußerungskraft des Gedankens ist die Einbildungskraft, die sich äußernde Einbildungskraft aber die Sprache. Wer spricht, bannt, fasziniert den, zu dem er spricht […]. Sprechen ist ein Freiheitsakt; das Wort ist selbst Freiheit. Mit Recht gilt deswegen die Sprachbildung für die Wurzel der Bildung. Wo das Wort kultiviert wird, da wird die Menschheit kultiviert.«275 Feuerbach kann darum das Fazit ziehen: »Das Wort Gottes ist die Göttlichkeit des Wortes«, und den Scheincharakter der Musik, den die Schopenhauersche Ästhetik gegen alle andere Kunst als das zutiefst Verführerische der ästhetischen Existenz herausgestellt hatte, so energisch auf die Seite setzen wie alsbald Kierkegaard und gegen Ende des Jahrhunderts wieder Stefan George: »Das Wort ist in der Tat nicht ärmer, nicht seelenloser als der musikalische Ton, obwohl der Ton unendlich mehr zu sagen scheint als das Wort und deswegen, weil ihn dieser Schein, diese Illusion umgibt, tiefer und reicher als das Wort erscheint.«276 Sind die menschlichen Beziehungen, die erotischen wie die familiären, gesellschaftlichen, politischen, für Schopenhauer allesamt Manifestationen des blinden Willens zum Leben und dienen darum einzig der Reproduktion, und das heißt zugleich: der Reproduktion des Leidens, der einzig das stumm ins Nichts strebende Mitleiden widersteht, dann kehrt Feuerbach diese Ethik so um, daß das Glück nicht länger der Schein des Selbsterhaltungstriebs, sondern dieser vielmehr der existenzielle Ausdruck des »Glückseligkeitstrieb[s]« ist,277 und die »Glückseligkeit, aber nicht die in eine und dieselbe Person zusammengezogene, sondern die auf verschiedene Personen verteilte, Ich und Du umfassende, also nicht die einseitige, sondern die zwei- oder allseitige, ist das Prinzip der Moral«.278 Darin hat sich Schopenhauers γ*πη und caritas,279 das Mitleiden in den ρως verwandelt: »Die Wahrheit des Lebens, die Wahrheit der Indivi274 275 276 277 278 279

Ebd., § 53, S. 353. WCh, GW 5, S. 158, 160 Ebd. S. 160. SM, GW 11, S. 61. Ebd. S. 75. WWV § 66, S. 483.

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dualität stützt sich nur auf die Wahrheit der Sinne. Das Leben des Lebens ist die Liebe«,280 und die »Liebe ist nichts andres als das Selbstgefühl der Gattung innerhalb der Geschlechtsdifferenz«.281 Nun ist »das Bewußtsein Gottes nichts andres […] als das Bewußtsein der Gattung«,282 und da die »höchste und tiefste Liebe […] die Mutterliebe« ist, ist die Liebe überhaupt »an und für sich weiblichen Geschlechts und Wesens«.283 D. h. das Selbstgefühl der Gattung, in dem der Mensch allererst ganz Mensch ist, ist weiblich. Dem männlichen Ich kommt daher seine Vernunft, als die Schopenhauersche Verwandlung des Kantschen innern Sinns, entgegen im weiblichen Du: »Wo kein Du, ist kein Ich; aber der Unterschied von Ich und Du, die Grundbedingung aller Persönlichkeit, alles Bewußtseins, ist nur ein realer, lebendiger, feuriger als der Unterschied von Mann und Weib. Das Du zwischen Mann und Weib hat einen ganz andern Klang als das monotone Du zwischen Freunden.«284 Das »Leben des Lebens«, die Liebe ist das weibliche Prinzip und erweist sich darin als das noch natürlich gedachte Prinzip der Produktion. Im Weib vernimmt der Mann seine ursprüngliche und daher »göttliche« Produktivität (und auch daran ist zu sehen, wie sehr noch der schopenhauerisierende Wagner Feuerbachianer geblieben ist). »Herr Feuerbach, ein Hegelianer (c’est tout dire)«, spottete Schopenhauer,285 aber dies »c’est tout dire« wird uns etwas andres sagen als Schopenhauer, für den es schlicht den »Unsinn« bezeichnete, den Feuerbach allerdings auch selber der spekulativen Theologie angesehen hatte. Ein »Hegelianer« ist Feuerbach nicht nur seiner Herkunft nach, sondern durch die umkehrende Tat, das spekulative Prinzip absoluter Produktivität aus dem göttlichen Geist der Neuzeit ins moderne Menschenwesen zu versetzen. Jenes spekulative Prinzip war die absolute Identität von Denken und Sein, weshalb Feuerbach auf die Frage, was denn die Liebe, das Selbstgefühl der Gattung, sei, antworten kann: »Die Einheit von Denken und Sein. Sein ist das Weib, Denken der Mann.«286 Das verdeutlicht auch, was es meint, daß Feuerbach im § 27 der »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« das Sein als »die Position des Wesens« bestimmt.287 Das Wesen ist die Gesamtheit der Qualitäten von 280

SM, GW 11, S. 104. WCh, GW 5, S. 273. 282 Ebd., S. 443. 283 Ebd., S. 146 f. 284 Ebd., S. 178. 285 A. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral (PGM), § 11, Anm. 2, W III, S. 540. 286 L. Feuerbach: Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen curriculum vitae, GW 10, S. 164. 287 G § 27, GW 9, S. 306. 281

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etwas, wie in der menschlichen Gattung alle möglichen Qualitäten des Menschen liegen; und »Die Existenz, das Sein ist so verschieden, als die Qualität verschieden ist.«288 Die Position des Wesens ist daher – und abermals ist auf Heidegger vorzugreifen – die Anwesenheit des Wesens oder: das Anwesen, das für Feuerbach allemal das sinnliche Individuum ist: »Fleisch und Blut ist Leben, und Leben allein die Realität, die Wirklichkeit des Leibes.«289 Ist Sein also das Weib, Denken der Mann, beide aber sinnliche Individuen als Du und Ich, und beide Position der menschlichen Gattung, deren Selbstgefühl die Liebe ist, dann ist das Weib offenbar diese Position als Position, der Mann als Negation, oder anders gewendet: das Weib ist die Identität von Denken und Sein, vormals Hegels »mütterlich setzende Vernunft«, der Mann ihre Differenz. In der Liebe also, die als Selbstgefühl der Gattung selber die Identität von Sein und Denken ist, kommt das Weib zum Bewußtsein seines Seins, der Mann hingegen zum Sein seines Bewußtseins, und weil das Sein notwendig das Prius des Bewußtseins ist, ist das Feuerbachsche Du, unbeschadet seiner notwendigen empirischen Verteilung an Mann und Weib, ursprünglich weiblich – wenig verwunderlich, wenn das weibliche Prinzip das Prinzip der Produktivität, der mit Feuerbach gedachten »Einbildungskraft« ist. Daß diese Liebe nicht stumm, nicht länger nur der reproduktive Schopenhauersche Geschlechtsakt sein kann, liegt in ihrer Bestimmung als Anwesen der menschlichen Gattung. In der Liebe vernehmen die Liebenden einander, und da »die Äußerungskraft des Gedankens […] die Einbildungskraft, die sich äußernde Einbildungskraft aber die Sprache« ist, vollendet sich die menschliche Existenz in der Geschlechtsliebe als Gespräch: »Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.«290 Ist darum die »Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen […] das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit«,291 denn »Fragen und Antworten sind die ersten Denkakte. Zum Denken gehören ursprünglich zwei«,292 dann ist die »Konversation des Menschen mit dem Menschen«, aus der die Ideen entspringen,293 die ästhetische Vollendung seiner Produktivität, die Poiesis als (gesellschaftliche) Poesie: »[D]ie Liebe, ein gemeinschaftlicher Akt, ohne Erwiderung darum

288 289 290 291 292 293

WCh, GW 5, S. 57. Ebd., S. 177. G § 64 [B § 62], GW 9, S. 339. G § 42 [B § 41], S. 324. WCh, GW 5, S. 167. G § 42 [B § 41], S. 324.

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der größte Schmerz, ist der Urquell der Poesie –, und nur wo der Mensch mit dem Menschen spricht, nur in der Rede, einem gemeinsamen Akte, entsteht die Vernunft.«294 Zwei Jahre später heißt es in den »Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie«: »Der Schmerz ist die Quelle der Poesie«,295 eben die im »Wesen des Christentums« genannte Liebe ohne Erwiderung. Damit verdeutlicht Feuerbach auf der einen Seite den Kompensations- bzw. Surrogatcharakter der modernen Poesie, und mit ihr der modernen Kunst überhaupt, angesichts des Entzugs natürlicher menschlicher Gemeinschaft, der Entfremdung von Ich und Du unter der Herrschaft des restaurativen, »theologischen«, Bewußtseins, auf der andern die vollkommene Gegenwart menschlicher Produktivität dort, wo diese Gemeinschaft gelänge – schon der Titel »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« annonciert ja den zwar noch nicht utopischen, aber doch gegenwärtig entzogenen Charakter der Konversation. Die Sprache also als Konversation ist die wirkliche Vernunft, denn »Universalität liegt im Wesen der Liebe«.296 Wie das weibliche Sein die Identität von Denken und Sein und das männliche Denken beider Differenz ist, ist das Denken als Vernunft überhaupt mittelbar selbstbezüglich, man könnte auch sagen: in sich reflektiert, wiewohl dieser Ausdruck für Feuerbach eine andre Bedeutung haben muß als für Hegel, insofern Feuerbach mit der Differenz, als δι*στημα, anfängt. »Der Gedanke äußert sich nur bildlich; die Äußerungskraft des Gedankens ist die Einbildungskraft, die sich äußernde Einbildungskraft aber die Sprache«297 – das Innerste der menschlichen Existenz ist der Gedanke, nämlich das Selbstgefühl der menschlichen Gattung und so die Liebe: »Zum Denken gehören ursprünglich zwei. Erst auf dem Standpunkt einer höhern Kultur verdoppelt sich der Mensch, so daß er jetzt in und für sich selbst die Rolle des andern spielen kann. Denken und Sprechen ist darum bei allen alten und sinnlichen Völkern identisch; sie denken nur im Sprechen, ihr Denken ist nur Konversation.«298 Das Innerste der menschlichen Existenz, das Selbstgefühl der menschlichen Gattung, die Liebe ist da als die Sprache, in der Ich und Du einander dies ihr Wesen zusprechen, als die, ursprünglicher, das Du dem Ich sein Wesen zuspricht, und dies produktive Menschenwesen ist weiblich: »Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken. Sein ist aus sich und durch sich – Sein wird nur durch Sein ge-

294 295 296 297 298

WCh, GW 5, S. 166 f. VTh, GW 9, S. 248. WCh, GW 5, S. 438. Ebd., S. 158, 160. Ebd., S. 167.

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geben – Sein hat seinen Grund in sich, weil nur Sein Sinn, Vernunft, Notwendigkeit, Wahrheit, kurz, alles in allem ist. – Sein ist, weil Nichtsein Nichtsein, d. h. nichts, Unsinn ist.«299 Oder noch kürzer: »Sein ist das Weib«.300 Zwar war Schopenhauer daran gelegen, dem Wort »Sein« die Aura zu nehmen. Es ist »die Bedeutung der Kopula, daß im Subjekt das Prädikat mitzudenken sei – nichts weiter. Jetzt erwäge man, worauf der Inhalt des Infinitivs der Kopula, ›SEYN‹, hinausläuft. Dieser nun aber ist ein Hauptthema der Professorenphilosophie gegenwärtiger Zeit«301 – und darin schon zeigt sich die Depotenzierung der Copula im Zug der Heraufkunft der funktionalen Logik –, aber wie für Schelling ist auch für Schopenhauer das »Ursein«, nämlich das »Ding an sich« Wollen, wiewohl blindes. Und als blinder steht der Wille zum Leben noch weiter ab von der Vernunft als bei Kant die blinde Anschauung vom leeren Begriff. Der Feuerbachsche Gedanke läßt beide Seiten zusammenfallen, die blinde Produktivität wird vernünftig, und d. h. sie wird weiblich. Anders als der Schopenhauersche Wille ist sie damit aber nicht länger absolut, sondern bedarf eines Anstoßes von außen. Aber hier wie sonst erweist sich der Feuerbachsche Gedanke im Rückblick als den Schopenhauerschen aufschließend. Genau betrachtet ist der Wille zum Leben nur scheinbar absolut. Denn was zersetzt ihn immer in den hungrigen Willen und seine Nahrung, in Subjekt und Objekt – in Funktion und Argument? Nichts – oder der (mit Heidegger gedachte) Unter-Schied. Und so ist schon in der ersten Gestalt des ursprünglichen Denkens die ontologische Differenz oder die Différance da, zu allem Seienden und Sein das Nichts, das Schopenhauer wieder, bon gré, mal gré, vorstellt, wenn er es als Nirwana denkt. Ist die trockene Wahrheit der technischen Produktion deren fortwährendes Verschwinden ins Produkt, dann hat Schopenhauer diesen Entzug, wie nachmals Marx, negativ gedacht, Feuerbach positiv. Denn in der Liebe – und was wären Dionysos und Ariadne anderes als die nachwagnersche, nach-marxsche Gestalt der Feuerbachschen Liebe? – verkehrte sich dieser Entzug in die Fülle der Gabe, gesetzt freilich, die Liebe ist wahrhaftig, d. h. wirklich das »Selbstgefühl der Gattung innerhalb der Geschlechtsdifferenz«, und also das Weib das Sein und der Mann das Denken. Indem der Schopenhauersche Andere, der hier und jetzt anwesende Wille, aus seiner Stummheit erwacht und zur Vernunft kommt, wird auch das Nichts beredt im Denken. Feuerbach läßt keinen Zweifel 299 300 301

VTh, GW 9, S. 258. Vgl. Anm. 286. WWV Kap. 9, S. 123.

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daran, daß das Denken für sich – »Der Spekulant ist ein Tautolog«302: – die Abstraktion von allem Sein ist, das nämlich »so verschieden [ist] als die Dinge, welche sind.«303 »Ein nur, und zwar abstrakt, denkendes Wesen hat gar keine Vorstellung von Sein, Existenz, Wirklichkeit. Sein ist die Grenze des Denkens; Sein als Sein ist kein Gegenstand der, wenigstens abstrakten, absoluten, Philosophie. Die spekulative Philosophie spricht dies selbst indirekt dadurch aus, daß ihr das Sein gleich Nichtsein – nichts ist. Nichts ist aber kein Gegenstand des Denkens.«304 Das Denken für sich ist leer, die Tautologie, deren Subjekt und Prädikat nichts als diese selbst sind, und in diesem »nichts als« ist es Nichts, das sie entzweit und eint. Wenn Heidegger sagen wird, der Tod sei »der Schrein des Nichts«,305 dann ist dieser Schrein demzuvor das Denken. Im Denken ist das Nichts – nicht anwesend, sondern: – gegenwärtig. Ebenso in der mit Schopenhauer und Feuerbach gedachten Produktivität. Das Denken ist das Innesein ihres Anstoßes, dessen was, vor allem Produkt, die Produktion sein läßt. Darum bedarf bei Feuerbach das (weibliche) Sein des (männlichen) Denkens und umgekehrt, insofern das Nichts nur das Nichts des Seins ist.

Metamorphosen der Sexualität Entsprechend der progredierenden technischen Zersetzung der natürlichen Lebenswelt denkt das 19. Jahrhundert zwar nicht mehr natürlich, aber doch noch in natürlichen Kategorien (was notwendig den Schein seiner Kontinuität mit der Neuzeit befestigt). Das gilt, wie für Wagner, auch noch für Marx, entschieden erst nicht mehr für Husserl. Aber auch dies bleibt bis in unsre unmittelbare Gegenwart hinein eine Frage der Gewichtungen. Noch Derridas unermüdliche Attacken gegen die »metaphysische« Syntax sind der verzweifelte Versuch, zu einer reinen Sprache der Moderne zu kommen. Freilich ist der Wille zur Reinheit – Kants »reine« Vernunft war nur die theoretische – nicht ohne Skepsis zu betrachten, und nicht erst Freud hat das bemerkt: als der Versuch, jener Spannung der Differenz, zuletzt dem Widerspruch zu entkommen, der die Welt selbst ist. Insofern könnte man die Geschichte des europäischen Denkens schreiben als die des Spiels der Akzentverschiebungen im »spe-

302 303 304 305

L. Feuerbach: Zur Kritik der »positiven Philosophie«, GW 8, S. 195. G § 27, GW 9, S. 305. G § 26, GW 9, S. 305. M. Heidegger: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 177.

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kulativen Satz« als dem Verhältnis von Identität und Differenz, und diese Geschichte wäre zugleich die der europäischen Religionen und ihrer Häresien und so auch der gesellschaftlichen Wirklichkeiten nach der Wittgensteinschen Einsicht, daß jedes Sprachspiel zugleich eine Lebensform ist. Die Formulierung des produktiven Menschenwesens in den natürlichen Kategorien des Willens zum Leben oder der Geschlechtsdifferenz darf also nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht mehr die Rede ist vom metaphysischen Wesen des Menschen. Das In-sich-Zirkulieren des Schopenhauerschen Willens als das ewige Umschlagen von Funktion und Argument ineinander ist grundlos, prinzipienlos oder tautologisch, weil gleichsam herausgefordert einzig vom Nichts, und Kierkegaards Analyse der Angst läßt sich mutatis mutandis auf den Schopenhauerschen Gedanke retrojizieren. Wie der Kierkegaardsche Geist im Umschlag der Angst vor der Angst in die Furcht vor der Angst sich seiner selbst entfremdet, wirft Schopenhauers Wille sich sich selber entgegen in der »Objektität« der Welt als Vorstellung, in der er, sich selber als sein eignes Produkt unkenntlich geworden, sich selber verzehrt, auch er Kronos/Chronos, aber anders als bei Hegel nicht als die Vernunft, sondern als die Un-Vernunft: »blinder« Wille. Von Feuerbach und Kierkegaard her ist es möglich, diesen Willen, das Schopenhauersche πρ!τον, als ein δε3τερον auszuweisen und sozusagen in einem Gedankenexperiment entstehen zu lassen. Es schien bisher, als hätten Schopenhauer und Schelling den Gedanken des Willens als »Urseyn« so gemein, daß der Schopenhauersche Pessimismus diesen Willen, der für Schelling sogar noch das, sich als der dreifaltige Gott a posteriori offenbarende, »Prius« ist,306 negiert, weil »das Ansich des Lebens, der Wille, das Daseyn selbst, ein stetes Leiden und theils jämmerlich, theils schrecklich ist«.307 Aber was ist es denn am Willen selbst, das ihn dem Denken nicht länger als (christlichen) creator mundi, sondern als (gnostischen) Demiurgen entgegenkommen läßt, der blind an sich selber leidet? Offenbar die moderne, nicht länger neuzeitliche, nicht länger spekulative Einsicht, daß dieser Wille nicht absolut ist, sondern relativ, und zwar relativ zum Nichts, das sich im Rückblick bestimmt als der Entzug der natürlichen Produktivität oder als das Produkt im Augenblick seines Entspringens. Ist der Wille bei Schopenhauer nun zwar immer schon als häßlich vorausgesetzt, dann liegt ihm doch notwendig ein »Sündenfall« voraus, weil anders Schopenhauer auch gar nicht legitimiert wäre, von Schuld 306 307

SW S. 129. WWV § 52, S. 353.

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zu sprechen, was er in aller Selbstverständlichkeit tut. Analog also zu Kierkegaards Analyse der Angst wäre zu sagen, daß auch bei Schopenhauer Eines dem Nichts begegnet, sich davor ängstet und im Umschlag der Angst vor der Angst in die Furcht vor der Angst davon abkehrt und darin sich sich vorstellt. Und erst in dieser ursprünglichen, immer schon geschehenen, daher von Schopenhauer auch niemals thematisierten Umkehr wird das Eine zum Willen, genauer, was der Wille bei Schelling nicht war, zum Willen zum Leben. Als der Tod ist das Nichts der absolute Herr jenes Einen, und das Leben erweist sich als der ewige Selbstverzehr des Willens. Kierkegaard wird das Eine, das durch die Abkehr vom Nichts, durch die Furcht vor der Angst, erst zum Willen wird, »Geist« nennen und diesen als das Selbst bestimmen, das er so definiert: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.«308 Die moderne Genealogie dieses Geistes, der offensichtlich der Hegelsche Geist sowenig wie die neuzeitliche Mens überhaupt ist, springt in die Augen. Er ist die Kierkegaardsche Gestalt der Schopenhauerschen Vernunft, mithin das ursprüngliche Sprachwesen. Denn die Sprache ist dies Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder in allem Welt- und Selbstverhältnis des Menschen »das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält«. Das Prius des Willens zum Leben wäre danach das ursprüngliche Sprachwesen des Menschen, das zuerst bei Feuerbach aus der Gefangenschaft im geschichtlichen Ort Schopenhauers freigelassen wird. Gesetzt also, das durch die Schopenhauer-Philologie unstreitig nicht legitimierte Wagnis sei geglückt, im Schopenhauerschen Gedanken selber ein Prius des Willens zum Leben auszuweisen, das gleichwohl nicht das Nichts selbst wäre, sondern in einem ersten, »paradiesischen« Verhältnis zu ihm stünde, dann ergäben sich hier einige fruchtbare Folgerungen: 1. der Schellingsche und der Schopenhauersche Wille, beide »Urseyn«, unterscheiden sich nicht nur durch ihre positive bzw. negative Interpretation, sondern diese folgt der Sache, indem Schellings Wille das Prius des personalen Gottes und so des Geistes, Schopenhauers Wille hingegen das Posterius des produktiven Sprachwesens als des ursprünglichen Menschenwesens ist. 2. Schopenhauers Vernunft kommt nicht lemmatischerweise zu Anschauung und Verstand als ein weiteres Vermögen des Menschen, als das Abstraktionsvermögen hinzu, sondern ist als offenes Selbst-Verhält308

S. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, übs. von W. Rest, München 1976 (Köln 21968), S. 31.

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nis das ursprüngliche Sprachwesen, das als »Vernunft des Menschen« seinen »Sündenfall« angesichts des Nichts, durch den es erst zum Willen zum Leben wurde, nämlich die »Erbsünde (Bejahung des Willens)«309 vergessen hat, diesem Willen jetzt empfangend gegenübersteht, ihn aber als philosophische Vernunft abweist und in der Gestalt des Heiligen durch »Askesis« oder Weltverneinung Buße tut: »Weil nun […] jene Selbstaufhebung des Willens von der Erkenntniß ausgeht, alle Erkenntniß und Einsicht aber als solche von der Willkür unabhängig ist; so ist auch jene Verneinung des Willens, jener Eintritt in die Freiheit, nicht durch Vorsatz zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältniß des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von Außen angeflogen.«310 3. Als eine neue, so bereits kritische, d. h. sich nicht nur polemisch, sondern negativ ihren geschichtlichen Ort bestimmende Gestalt des ursprünglichen Denkens entbindet die Feuerbachsche Anthropologie den produktiven Grund des reproduktiven Schopenhauerschen Willens als das ursprüngliche Selbst-Verhältnis der Sprache. Das so zu seiner Vernunft gekommene produktive Menschenwesen erweist sich darin als weiblich, eines unvordenklichen Anstoßes bedürftig, der sich dem Feuerbachschen Vergegenwärtigen im (männlichen) Denken verbirgt. In der anthropologisierenden Sprache Feuerbachs werden die beiden Seiten des Produktionsverhältnisses, Sein (Weib) und Denken (Mann), zusammengehalten durch die Liebe, die als das »Selbstgefühl der Gattung« an sich schon das ganze Verhältnis ist. Obwohl Schopenhauer lehrt, »daß der Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist«, und hinzufügt: »Daher die Jagd, die Angst und das Leiden«,311 ist die Angst weder für seinen noch für den Feuerbachschen Gedanken konstitutiv. Weil das Nichts vom Willen zum Leben immer schon verdeckt ist, kann die Schopenhauersche Vernunft es gleichsam besinnungslos als ihr Telos ersehnen; und weil es in Ich und Du verteilt ist, und im einen als das liebende Denken des Seins, im andern als das liebende Sein des Denkens immer schon verdeckt ist von der Gegen-Ständlichkeit, kann die Feuerbachsche Vernunft es als solches exteriorisieren und in den »Unsinn« der Theologie versenken: »Dieses Angstgefühl, diese Unsicherheit, diese den Menschen stets begleitende Furcht vor Übeln ist die Wurzel der religiösen Einbildungskraft«.312

309 310 311 312

WWV § 70, S. 521. WWV § 70, S. 520. Ebd., § 28, S. 217. L. Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion, GW 6, S. 221.

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Hat Feuerbach also wohl aus dem geschichtlichen Ort Schopenhauers die Vernunft des produktiven Menschenwesens als die Vernunft der ursprünglich-poietischen Sprache entbunden, ist bei beiden doch das Nichts als die conditio sine qua non der dem Menschenwesen übereigneten Produktivität verborgen geblieben. Bei Schopenhauer erscheint es verklärt als der Terminus ad quem der Weltverneinung, bei Feuerbach als der religiöse Terminus a quo der neuen Philosophie. Gleichwohl bleibt es das geheime Motiv des sprachproduktiven Geschlechtsverhältnisses und muß daher zum Vorschein kommen, wo der Kierkegaardsche Gedanke das ganze Verhältnis als solches aufnimmt, welches das Feuerbachsche Vergegenwärtigen in seine beiden Seiten zerfällt hatte. Die Liebe ist da als das liebende Ich und das liebende Du, die freilich als Mann und Weib ihrer Bestimmung als Instantiierungen der Gattung nach schon das ganze Verhältnis sind – der Mann die Differenz, das Weib die Identität von Denken und Sein, das Denken für sich daher die Notwendigkeit des Nichts für das Sein. Kierkegaard denkt das Verhältnis als solches und daher als »Geist«, als das vernünftige Sprachwesen: »Die Unvollkommenheit in der Erzählung, daß jemand darauf gekommen sein sollte, Adam etwas zu sagen, was er wesentlich nicht verstehen konnte, fällt fort, wenn wir bedenken, daß der Sprechende die Sprache ist und daß es also Adam selbst ist, der redet.«313 »Die Sprache spricht« schon hier, indem sie als »das absolut geistig bestimmte Medium und also [als] das eigentliche Medium der Idee« deren »Wesen« ist.314 Das Sprachwesen ist medial: Information. »Die Arbeit an der Sicherstellung des Lebens muß […] selber ständig sich neu sichern. Das Leitwort für diese Grundhaltung des heutigen Daseins lautet: Information«, wird Heidegger sagen, aber wenn er fortfährt: »Wir müssen das Wort in der amerikanisch-englischen Aussprache hören«,315 dann entzieht er sich die Möglichkeit, die Information und das »anders anfängliche« Sprachwesen zusammenzudenken in der Kehre, wie Adorno Schrift- und Sprachcharakter zusammendenken wird im Kunstwerk. Schon Schopenhauers »Platonische« Ideen waren das vorgestellte Programm der Welt, und im Unterschied zum metaphysischen Wesen der Sprache, die selber ποησις war, Übersetzung aus dem Nichtgesehenwerden ins Gesehenwerden, ist das moderne Sprachwesen als Programm oder Ur-Schrift Produktionsanweisung. Spengler hat das auf seine Weise genau gesehen, wenn er schreibt: »Das Sprechen erfolgt nicht 313 314 315

BA, S. 48. EO, S. 81. M. Heidegger: Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 202.

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monologisch, sondern dialogisch, die Satzreihen folgen nicht als Rede, sondern zwischen mehreren Menschen als Unterredung. Der Zweck ist nicht ein Verstehen aus dem Nachdenken heraus, sondern eine wechselseitige Verständigung durch Frage und Antwort. Welches sind denn die ursprünglichen Formen des Sprechens? Nicht das Urteil, die Aussage, sondern der Befehl, der Ausdruck des Gehorsams, die Feststellung, die Frage, die Bejahung, die Verneinung. Es sind Sätze, die sich stets an einen anderen wenden, ursprünglich sicher ganz kurz: Tu das! Fertig? Ja! Anfangen!«316 Und das erste Sprachspiel in Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen« (Nr. 2) lautet, ausgehend von seiner Interpretation der Augustinischen Confessiones I.8: »Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ›Würfel‹, ›Säule‹, ›Platte‹, ›Balken‹. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.« Das mag verdeutlichen, warum das, was Kierkegaards Adam ursprünglich zu sich spricht, den Charakter des Befehls hat: »das Verbot und die Strafandrohung«.317 Der Sündenfall, mit dem »das Sexuelle gesetzt« ist – »und ohne Sexualität keine Geschichte«318 –, geschieht, obwohl als »qualitative[r] Sprung«, nicht unmittelbar, sondern als Folge einer Verführung, die im Mythos, der dasjenige äußerlich vor sich gehen läßt, was innerlich ist,319 so dargestellt wird, daß »die Frau zuerst verführt wird und daß sie darauf den Mann verführt«. Angst ist nämlich »weibliche Machtlosigkeit«320: »Der Frau ist mehr angst als dem Mann«, was daran liegt, »daß sie sinnlicher ist, und doch wesentlich geistig bestimmt ist, so wie der Mann.«321 Und daß »die Frau sinnlicher ist als der Mann, zeigt schon ihre leibliche Organisation«, denn ästhetisch ist ihr »ideale[r] Gesichtspunkt« die Schönheit, ethisch die Fortpflanzung (»Procreation«).322 Die Schönheit als solche schließt nun den Geist aus, und dies ist die, für sich noch nicht sündhafte, Sinnlichkeit, »ein unerklärtes Rätsel, das ängstigt; darum ist die Naivität von einem unerklär316

Spengler: Der Mensch und die Technik. Beiträge zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, S. 29 f. 317 BA, S. 47. 318 Ebd., S. 49 f. 319 Ebd., S. 47. 320 Ebd., S. 64. 321 Ebd., S. 70. 322 Ebd., S. 68.

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lichen Nichts begleitet, das dasjenige der Angst ist«.323 Im Sexuellen verbirgt die Angst sich dann in der Scham, und weil Kierkegaard den Einzelnen denkt, der bei Feuerbach immer in der Gattung aufgehoben bleibt, und deshalb auch das Nichts entdeckt, das die »neue Philosophie« jüngst in den Unsinn des Absoluten versenkt hatte, wird ihm das Sexuelle zum »Ausdruck jenes ungeheuren Widerspruches,324 daß der unsterbliche Geist als genus [mit dem Doppelsinn von Gattung] bestimmt ist. Der Widerspruch äußert sich als die tiefe Scham, die ihn verdeckt [κρ3πτει] und es nicht zu verstehen wagt.«325 Wenig später heißt es: »Wie nun in der Scham die Angst gesetzt ist, so ist sie in jeglichem erotischen Genuß vorhanden […]. Aber weshalb diese Angst? Weil der Geist an der Kulmination des Erotischen nicht teilnehmen kann. […] Der Geist ist zwar anwesend; denn er ist es, der die Synthese konstituiert; aber er kann sich im Erotischen nicht ausdrücken, er fühlt sich fremd. Er sagt gleichsam zum Erotischen: Teurer! Hier kann ich nicht Dritter sein; deshalb will ich mich so lange verbergen. Das aber ist eben die Angst, und das ist zugleich die Scham […]. Im Augenblick der Empfängnis ist der Geist am weitesten fort und darum die Angst am größten. In dieser Angst entsteht das neue Individuum. Im Augenblick der Geburt kulminiert die Angst zum zweiten Mal in der Frau, und in diesem Augenblick kommt das neue Individuum zur Welt. […] Aber je mehr Angst, desto mehr Sinnlichkeit.«326 Kierkegaard denkt das Individuum als solches, den unfeuerbachschen Widerspruch, »daß das Allgemeine als das Einzelne gesetzt ist«,327 als das menschliche und als solches »existierende« Individuum, »denn ein Tiergeschlecht […] bringt niemals ein Individuum hervor.«328 Als solches ist der Mensch »eine Synthese aus Seelischem und Leiblichem«,329 worin das einigende Dritte der Geist ist. Dieser ist als das Prinzip des Selbst-Verhältnisses das menschliche Sprachwesen, das Kierkegaard in den drei Stadien des Schlafens, Träumens und Wachens denkt, die darum auch Stadien des Unterschieds zwischen mir selbst und dem Andern sind. Dieser Unterschied ist im – bereits projektierenden – Träumen ein »angedeutetes Nichts«. D. h. die Angst, die es demzufolge beim Tier gar nicht gibt, bestimmt bereits den Zustand der Unschuld, den Zustand also vor dem Umschlag der Angst in die Furcht. Als auf den Geist, das 323 324 325 326 327 328 329

Ebd., S. 68. Kierkegaard setzt hier das deutsche Wort in Klammern. BA S. 73. Ebd., S. 75–77. Ebd., S. 83. Ebd., S. 33. Ebd., S. 44.

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Sprachwesen, hin bestimmt ist die Unschuld nun Unwissenheit.330 Die notwendige Konkretion des anfänglichen Nichts ist darum »ein rätselhaftes Wort«: »Noch besteht die Unschuld; aber es braucht nur ein Wort zu verlauten, so ist die Unwissenheit konzentriert. Dieses Wort kann die Unschuld natürlich nicht verstehen; aber die Angst hat sozusagen ihre erste Beute, anstelle von Nichts hat sie ein rätselhaftes Wort erhalten.«331 Dies rätselhafte Wort, das Ur-Wort des Kierkegaardschen Sprachwesens, ist Verbot, Drohung, und setzt deshalb die Angst frei, die im ersten Zustand der Unschuld noch latent war. Und umgekehrt: weil die Unschuld bereits Angst ist, kann sie als Unwissenheit das Wort nur als Drohung verstehen. Der Sündenfall, als der Sprung aus dem Unwissen ins Wissen, ist darum die Bewahrheitung des Ur-Worts, die -λεια zu dessen ursprünglicher λη. Nun ist dieser Sprung zwar, als qualitativer Sprung, das Unmittelbare, daher Unableitbare,332 hat aber gleichwohl eine Voraussetzung, insofern der Sprecher zu ihm verführt wird. Und hier wiederholt Kierkegaard Feuerbachs Ich-Du-Verhältnis. Denn die Sexualität ist wohl erst mit der Sünde gesetzt, nicht aber die Geschlechtsdifferenz. Der Mensch ist die geistige Einheit von Seele und Leib, wobei er im Zustand der Unschuld nicht als diese Einheit bestimmt ist, »sondern seelisch bestimmt, in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit«;333 und die Geschlechtsdifferenz besteht darin, daß beim Mann der Akzent auf dem Geist, der Synthese als solcher, bei der Frau auf der Natürlichkeit, Leiblichkeit, Sinnlichkeit liegt. Denn die Frau ist, ästhetisch unter dem Gesichtspunkt der Schönheit, ethisch unter dem der Prokreation stehend, die natürliche Produzentin. Feuerbach dachte den Mann als die (denkende) Differenz von Denken und Sein, das Weib als ihre (seiende) Identität. Indem sie sich also zueinander verhalten wie Nichts und Sein, wäre zu erwarten, daß Kierkegaards Mann mehr Angst hat als die Frau. Kierkegaard denkt dies jedoch umgekehrt mit der Begründung, »daß sie sinnlicher ist, und doch wesentlich geistig bestimmt ist, so wie der Mann.«334 Das Feuerbachsche Mehr an Sein ist auch bei Kierkegaard ein Mehr an Sinnlichkeit; daß es also ein Mehr an Angst sei, kann nur daran liegen, daß die Sinnlichkeit als natürliche Produktivität bestimmt ist (die eigentlich geistige, weil sprachliche Produktivität ist die »Verfasser-Tätigkeit«) – denn nach dem

330 331 332 333 334

Ebd., S. 37. Ebd., S. 44. Vgl. BA § 2. Ebd., S. 41. Ebd., S. 70.

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Umschlag in das rätselhafte Wort der Drohung ist das Nichts ja »die ängstigende Möglichkeit zu können«.335 Deshalb gibt es für Kierkegaard eigentümlich weibliche, aber keine eigentümlich männlichen Ereignisse der Angst: die Empfängnis und die Geburt. Sie sind, als menschliche Produktivität, aber jeweils vom Geist bestimmt. In der, noch gemeinsamen, »Kulmination des Erotischen« ist der Geist zwar anwesend, aber er verbirgt sich, bei der Empfängnis ist er »am weitesten fort und darum die Angst am größten«, bei der Geburt endlich, der die Angst des Todes entspricht,336 »zittert« der Geist, weil er in diesem Augenblick keine Aufgabe hat, »sozusagen suspendiert« ist. Ist er nun das produktive Sprachwesen überhaupt, dann ist hier der Terminus ad quem der neuen Philosophie Feuerbachs, die liebende Konversation zwischen Ich und Du, herabgesetzt zu einem uneigentlichen Verhältnis. Die Konversation des Menschen mit dem Menschen ist nicht die Offenbarung, sondern vielmehr die Verbergung seines ursprünglichen Sprachwesen, das »Gelächter und Gurren« (Lévinas) nur eine freundliche Gestalt des ästhetischen Stadiums, denn das Ur-Wort ist die Drohung. In der Empfängnis ist die Frau bereits für sich, d. h. am tiefsten in die Natürlichkeit versenkt, das Sprachwesen daher abwesend. Und abwesend ist es auch beim eigentlich natürlich-produktiven Akt, der Geburt. Kierkegaard braucht hier die merkwürdige Wendung vom Zittern des Geistes. Ist der Mensch nämlich eine geistige Synthese aus Seelischem und Leiblichem und die Frau unter der Geburt »wieder an dem äußersten Punkt des einen Extrems der Synthese«, dann wäre dies als Zustand deren Auflösung, der Tod. So aber stellt die Synthese sich in jedem Augenblick wieder her, d. h. die Frau wiederholt hier die Erfahrung Adams beim Vernehmen des Ur-Worts, die Todes-Drohung. Freilich hat sie diese Drohung bereits vernommen, im Mythos durch Adam, existenziell vom Mann überhaupt: »Wenn ich mir ein junges unschuldiges Mädchen denke und nun einen Mann einen begehrlichen Blick auf sie heften lasse, so wird ihr angst. […] Denke ich mir dagegen, eine Frau hefte einen begehrlichen Blick auf einen unschuldigen jungen Mann, so wird seine Stimmung nicht die der Angst sein, sondern höchstens eine mit Widerwillen gemischte Scham, eben weil er mehr als Geist bestimmt ist.«337 Schopenhauers und Feuerbachs Vernunft waren weiblich. Jene brachte die Sprache als ihr erstes Instrument hervor, diese war selbst schon die Sprache. Kierkegaards Tat ist nun die, mit Feuerbach zwar 335 336 337

Ebd., S. 45. Ebd., S. 100 Anm. Ebd., S. 70.

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festzuhalten am Sprachwesen der Vernunft, aber gegen ihn in der ποησις selber einen Unterschied zu machen, der den traditionellen Unterschied von unmittelbarer und reflektierter (sprachlicher) Produktion, wie er auch bei Schopenhauer und Feuerbach noch selbstverständlich ist, gleichgültig werden läßt, indem er ihn insgesamt auf die Seite der Natürlichkeit, des Ästhetischen, fallen läßt gegen das andere als das religiöse Extrem. Hinter dem konversationellen und dem instrumentalen Sprachwesen entdeckt Kierkegaard das bei Schopenhauer latent gebliebene, bei Feuerbach mit dem irdischen Paradies und so mit dem Willen selbst identifizierte Prius des Willens als das Sprachwesen, das erst durch seinen Sündenfall Wille wird,338 den Kierkegaard nun differenzierend Trieb nennt: »In der Scham ist die geschlechtliche Differenz gesetzt, aber nicht im Verhältnis zu ihrem Anderen. Das geschieht im Trieb. Da aber der Trieb nicht Instinkt oder nicht nur Instinkt ist, hat er eo ipso ein τ&λος, nämlich die Propagation […]. Durch den Genuß der Frucht der Erkenntnis kam die Differenz zwischen Gut und Böse herein, zugleich aber die sexuelle Verschiedenheit als Trieb.«339 Diese Unterscheidung der ursprünglichen ποησις in sinnliche und religiöse hat zur Folge, daß das Sprachwesen nicht mehr Produkt der weiblichen Vernunft oder die weibliche Vernunft selbst ist, sondern männliche Vernunft. Ihr Ur-Wort ist die göttliche Drohung, die Adam sich selbst zuspricht. Und damit hat das moderne Geschlechter-Verhältnis wiederum einen neuen Status erreicht. Bei Schopenhauer war es das des männlichen Herzens zur weiblichen Vernunft, denn bei den »psychischen« Eigenschaften »werden wir finden, daß das Weib durchgängig von den Eigenschaften des Herzens oder Charakters im Manne angezogen wird, – als welche vom Vater erben. Vorzüglich ist es Festigkeit des Willens, Entschlossenheit und Muth, vielleicht auch Redlichkeit und Herzensgüte, wodurch das Weib gewonnen wird. Hingegen üben intellektuelle Vorzüge keine direkte und instinktmäßige Gewalt über sie aus; eben weil sie nicht vom Vater erben. Unverstand schadet bei Weibern nicht: ehe noch könnte überwiegende Geisteskraft, oder gar Genie, als eine Abnormität, ungünstig wirken. […] Männer hingegen werden in der instinktiven Liebe nicht durch die Charakter-Eigenschaften des Weibes 338

Benjamin wird schreiben: »Die paradiesische Sprache des Menschen muß die vollkommen erkennende gewesen sein […]. Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namensprache, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst).« (W. Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von R Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972 ff., Bd. II.1, S. 152 f.) 339 BA S. 73, 81.

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bestimmt; […]. Wohl aber wirken hier die intellektuellen Eigenschaften ein; weil sie von der Mutter erben: jedoch wird ihr Einfluß von dem der körperlichen Schönheit, als welche, wesentlichere Punkte betreffend, unmittelbarer wirkt, leicht überwogen.«340 Bei Feuerbach war das ganze Verhältnis Sprachwesen, aber so, daß es da ist als die weibliche Vernunft, die als männliches Denken zum Bewußtsein kommt. Oder anders gesagt: in der Liebe kommt der Mann zur Vernunft, die das Weib ist. Diese sinnliche Immanenz des Sprachwesens ist bei Kierkegaard wieder entzogen. Die ursprüngliche Produktivität, das Gebären, »ist dem Gott vorbehalten, dessen Liebe gebärend ist«.341 Dies Paradox eines gebärenden Vaters kann kaum im Sinne einer Androgynie des Kierkegaardschen Gottes interpretiert werden, verweist vielmehr auf den Entzug der göttlichen Gegenwart, der Gott nur im »absoluten Paradox« denken läßt.342 Da ist das göttliche Sprachwesen – die Sprache, die selber spricht –, darum nur im Inkognito des Geistes Adams, der nicht zu Eva, sondern zu sich selbst spricht, und insofern ist es männlich. Der Kierkegaardsche Adam verhielte aber vor der unverstandenen Drohung des Todes, wenn er nicht von Eva verführt würde. Sie, Feuerbachs Sein, ist die natürliche Produzentin, d. h. die dem Menschenwesen übereignete Produktivität, und die Verführung ist darauf aus, die Drohung zu bewahrheiten, die Produktivität zur Produktion werden zu lassen. Diese Produktion ist die Selbstreproduktion des Menschen als die unendliche Serialität des Verschwindens der Produktion ins Produkt und des Produkts in die Produktion, d. h. als das natürliche Gesetz von Geburt und Tod. Das Ur-Wort des Kierkegaardschen Sprachwesens ist darum zweideutig. Einerseits warnt es vor der Reproduktion überhaupt als vor der Reproduktion der göttlichen Produktion. Schon bei Schopenhauer ist ja das Kunstwerk nicht wie noch im Idealismus die Manifestation, Offenbarung der Idee, sondern die (willkürliche) »Wiederholung«343 der »Platonischen Ideen« als des Programms der Welt; und wie diese Reproduktion überstiegen werden muß in die Askesis, so bei Kierkegaard das ästhetische oder erotische und ethische oder legale Stadium ins religiöse. Anderseits warnt das Ur-Wort vor der natürlichen Produktion als der unmittelbaren Reproduktion, weshalb es verfehlt wäre, den Kierkegaardschen Gedanken hier regressiv vor der technischen Produktion als

340 341 342 343

WWV Kap. 44, S. 632 f. PhB S. 30. PhB Kap. III. WWV § 37, S. 264.

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solcher zurückschrecken zu lassen. Ist es doch gerade die natürliche Produktion, in der sich das serielle Wesen der technischen Produktion, sie als Reproduktion, ästhetisch unmittelbar darstellt. Nicht also um einen modernen retour à la nature ist es Kierkegaard zu tun, sondern wie im ursprünglichen Denken sonst auch um eine Rückkehr aus der Reproduktion überhaupt in die ursprüngliche Produktion bzw. in deren Motiv, bei Schopenhauer also ins Nichts, bei Feuerbach in die liebende Konversation (die ja ebenfalls nicht als eherechtliches Reproduktionsverhältnis zu denken ist), bei Wagner in die musikalische Weltseele, bei Nietzsche in das zu Ariadne gewordenen Leben. Wovon wird also, genauer gedacht, Kierkegaards Adam verführt? Das Menschenwesen ist wie bei Schopenhauer und Feuerbach das göttliche Sprachwesen und dieses, nicht länger das metaphysische Wesen der Sprache, ist die ursprüngliche Produktivität. Nicht erst mit dem Sündenfall, sondern schon mit der ihm vorausgehenden Schöpfung, also im paradiesischen Urzustand, ist das göttliche Du, das Sprachwesen als solches entzogen, weil in die beiden Extreme entzweit, die bei Feuerbach Sein und Denken waren, hier in die (weibliche) Möglichkeit der Reproduktion und in das (männliche) Wort ihres Verbots – so daß im geschichtlichen Ort Kierkegaards die Feuerbachsche Konversation des Menschen mit dem Menschen als Möglichkeit in den unvordenklichen Ursprung retrojiziert und als Wirklichkeit zur erotischen Verführung depraviert ist. Solange dies Verbot nicht übertreten wird, herrscht paradiesischer »Friede und Ruhe«,344 aber weil das Paradies der Produktivität das Paradies der Produktivität und diese nicht zu denken ist ohne ihr Motiv, wirkt bereits das Nichts: »Welche Wirkung hat das Nichts? Es gebiert Angst.«345 Die künftige menschliche Produktivität ist daraufhin nur die Reproduktion dieses Gebärens, dessen Produkt immer in die Furcht umschlägt und so die Reproduktion unterhält. Dem Nichts also vermöchte Adam zu widerstehen, aber faktisch – der Sündenfall bleibt ja ein »qualitativer Sprung« – nicht dem Tun des Nichts in der Gestalt Evas. Denn anders als das Nichts ist Eva als die im Extrem der Sinnlichkeit akzentuierte Synthese die gesetzte Möglichkeit der Reproduktion: »Adam war also geschaffen, hatte den Tieren Namen gegeben (hier haben wir also die Sprache, wenn auch in ähnlich unvollkommener Weise, wie die Kinder sie lernen, wenn sie in der Fibel ein Tier erkennen), hatte aber für sich keine Gesellschaft gefunden. Eva war erschaffen, aus seiner Rippe gebildet. Sie stand zu ihm in einem so innerlichen Verhältnis wie möglich; aber dennoch war es noch ein äußer344 345

BA, S. 41. Ebd., S. 42 (Hervorhebung von mir).

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liches Verhältnis. Adam und Eva sind nur eine numerische Wiederholung.«346 Im letzten Satz liegt, daß beide unbeschadet der sexuellen Differenz – männlicher Geist versus weibliche Sinnlichkeit – noch nicht die sexuelle Beziehung kennen, d. h. die wirkliche Reproduktion. In der bloßen numerischen Wiederholung ist zwar jeder der andere, aber doch ist Eva aus Adam gebildet und damit die erste, noch göttliche, Reproduktion des göttlichen Produkts. Man kann Kierkegaards Eva insofern das Programm der Reproduktion nennen, so daß das Nichts im paradiesischen Zustand das göttliche produktive Sprachwesen auseinanderlegt in das Programm der Reproduktion und das Verbot seiner Durchführung. Geschichtlich gesehen heißt das dann allerdings, daß der Übergang in die industrielle Produktion im Kierkegaardschen Ort die allgemeine Wirklichkeit des Sündenfalls ist, angesichts deren aber der Rückweg in natürliche Produktionsweisen verwehrt bleibt, nicht etwa der geschichtlichen Eigendynamik der industriellen Produktion wegen, sondern weil diese sehen läßt, daß die Natur selbst schon nichts anderes als Reproduktion ist, wie sie bereits Schopenhauer beschrieben hatte.347 Die Rückkehr in die Natur – Thoreaus »Walden«, Coopers Romane oder der »Moby Dick« belegen es – ist, weil Rückkehr in die Natur, darum keine Rückkehr in die φ3σις der Metaphysik. Adam wird also vom Nichts geängstigt, aber daß seine Angst in Furcht vor der Angst umschlägt, ist erst Folge seiner Verführung durch das Programm der Reproduktion, und der Umschlag deren Beginn, der Sündenfall. Seine Not hat Kierkegaard hier nur mit der Schlange, mit der er, wie er gesteht, »keinen bestimmten Gedanken verbinden kann«.348 Vermutlich haben wir es nach Nietzsche etwas leichter, und Kierkegaard selber gibt beiläufig einige Hilfe. Einmal bemerkt er, Adam sei »doch eigentlich nur auf dem Wege über Eva von der Schlange verführt« worden,349 dann, »daß jeder von sich selbst versucht wird«,350 endlich spricht er vom »bannende[n] Blick der Schlange«.351 Adam wird demnach, indem er von Eva versucht wird, doch nur von sich selbst versucht, was sich aus der bloß »numerische[n] Wiederholung« bei beiden erklärt; ebenso wird Eva nur von sich selbst versucht, indem sie von der Schlange versucht wird, und zwar von deren Blick,

346 347 348 349 350 351

Ebd., S. 47. WWV Kap. 41, S. 582. BA S. 48. Ebd., S. 70. Ebd., S. 49. Ebd., S. 113.

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also nicht sprachlich. Danach ist die Schlange einfach genug das Bild der Reproduktion. Und es wirft Licht auf Nietzsches Gedanken, wenn Zarathustras Rede »Vom Gesicht und Räthsel« verglichen wird mit dem Hinweis, den »Ecce homo« gibt: »Theologisch geredet – man höre zu, denn ich rede selten als Theologe – war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntniss legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein … Er hatte Alles zu schön gemacht … Der Teufel ist bloss der Müssiggang Gottes an jedem siebenten Tage …«352 In Zarathustras Rede »Von der unbefleckten Erkenntnis« heißt es: »Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. / Wo ist Schönheit? Wo ich mit allem Willen wollen muß; wo ich lieben und untergehn will, daß ein Bild nicht nur Bild bleibe.«353 Der Teufel ist der Müßiggang Gottes, dieser göttliche Müßiggang die Schlange, die Schlange das zweideutige Bild ebensowohl der ewigen Wiederkunft wie der Reproduktion – als Selbstreproduktion und Reproduktion der ursprünglichen Produktion oder Simulation –, und das Bild, das nicht Bild bleiben soll, ist das dem Menschen übereignete Programm der Produktion, der Selbstverwirklichung des Menschenwesens. In diesem Sinn spricht Nietzsche von der »Unschuld des Werdens«: »Heute, […] giebt es in unsern Augen [sc. der Immoralisten] keine radikalere Gegnerschaft als die der Theologen, welche fortfahren, mit dem Begriff der ›sittlichen Weltordnung‹ die Unschuld des Werdens durch ›Strafe‹ und ›Schuld‹ zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine Metaphysik des Henkers …«354 Das ist in der Tat die radikale Abkehr vom Kierkegaardschen Christentum, aber eine Abkehr im Selben als in der Anerkennung des Ereignisses der Übereignung der göttlichen Produktivität an das Menschenwesen, nur daß Nietzsche wie Wagner und Marx nicht nur diese Produktivität, sondern die Produktion selbst rechtfertigt, während der Kierkegaardsche Gedanke auf die Spitze einer doppelten Negation gestellt ist. Er wiedersteht einerseits der Verführung, in die Natur der vormaligen Metaphysik zurückkehren zu wollen, ins »ästhetische Stadium« – das macht Kierkegaard überhaupt zu einem modernen Denker –, wie er anderseits den Übergang aus der Produktivität, dem Paradies, in die wirkliche Produktion nur, wie Schopenhauer, als Übergang in die Reproduktion und so als Sündenfall denken kann, so daß ihm auf seine Weise wie Schopenhauer nur »Nichts« übrigbleibt. 352 353 354

EH, JGB 2. AsZ II.15, Von der unbefleckten Erkenntniss. GD, Die vier grossen Irrthümer 7.

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Dies heißt zum einen, daß die menschliche Existenz hier als schlechterdings ausdehnungslos gedacht werden muß, als spröder Punkt, der das Individuum radikal vereinzelt, zum andern, daß die Bewährung dieser Einzelheit nicht in der Welt liegen, sondern allein in der vollkommen gegen sie verschlossenen Innerlichkeit stattfinden kann. Dieser Entzug von Welt eigentlich ist Kierkegaards »Christentum«, das insofern anachoretischen Charakter hat (in einiger Nachbarschaft zu Flauberts heiligem Antonius). Seine »Verfasser-Tätigkeit«, insbesondere die Polemiken seiner Zeitschrift »Der Augenblick« gegen die dänische Staatskirche sind kein Einwand, da sie eben das »weltliche« Christentum vor die Entscheidung des Entweder – Oder als des Alles oder Nichts stellen. Kierkegaards Forderung konnte von der Kirche sowenig angenommen werden – der Einsatz wäre ihre Existenz gewesen –, wie Kierkegaard selber Pfarrer werden konnte.

Die Sprache des Ursprungs Nach allem ist Kierkegaards geschichtlicher Ort der einer radikalen und in dieser Radikalität nicht wieder erreichten Aporie der Moderne. Sie ist für einen geschichtlichen Augenblick suspendiert. Nachdem es schon bei Schopenhauer und Feuerbach kein Zurück mehr gab – womit die akademische Tradition des Idealismus (der noch lebende Schelling war zum vereinsamten Nachlebenden geworden) als restaurativ erkannt war –, scheint hier nun auch das Vor unmöglich geworden zu sein. Freilich entfalten sich gleichzeitig Wagners politische Ästhetik und Marx’ politische Ökonomie, und die geschichtliche Wirklichkeit ist in Einem die Verwandlung des Menschenwesens als die des Sprachwesens. Als dessen reine Latenz erwies sich die Schopenhauersche Willenslehre. Sie ist ihrerseits das Resultat nicht der Metaphysik (als spekulativer Theologie), aber des Entzugs ihrer Sache, als die von der Moderne her die anfängliche Produktivität zu denken ist, die sich durch die Natur, das Universum der Selbstbewegung, mit dem Wesen des Menschen, des animal rationale, vermittelt hatte. Das Wesen des Menschen war das Sein-für-sie als νο ς , intellectus, Vernunft. Die geschichtliche Vollendung der Sache der Metaphysik ist darum der Entzug dieser Vernunft und so auch, wie insbesondere Nietzsche und Heidegger gesehen haben, der Entzug der Bestimmung des Menschen als animal rationale. Der Mensch ist hinfort, in der zugespitzten Formulierung Nietzsches, das noch nicht festgestellte Tier, und der berühmte letzte Satz von Foucaults »Les mots et les choses«, der Mensch würde verschwinden wie am Saum des Mee-

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res ein Gesicht aus Sand,355 läßt erwägen, daß dies Menschenwesen sich auch am Saum des 21. Jahrhunderts noch unabsehbar verwandelt. Es scheint aber deutlicher denn je das Sprachwesen zu sein, und was nicht »festgestellt« ist, ist zuletzt dieses. Umso anziehender, seiner Selbstentfaltung nachzudenken. Daß es bei Schopenhauer latent sei, ist insofern keine erschöpfende Auskunft, als dies nur für das Sprachwesen als Ursprung des Willens, für es also als ursprüngliche Produktion gilt. Als Vernunft hingegen ist es anwesend und so auch als instrumentale Sprache, deren erstes Produkt. Diese Schopenhauersche Vernunft erwies sich als das Analogon von Kants innerem Sinn, und es ist leicht zu sehen, warum es in der Anknüpfung an Kant nicht anders sein kann. Daß Schopenhauer freilich überhaupt an Kant anknüpft, liegt insofern nahe, als er im Abstoß vom Idealismus hinter diesen zurückgehen muß – wie Feuerbach an Luther, Kierkegaard an Lessing anknüpfen wird – und bei Kant neben den Lehrstücken vom Willen und vom Ding an sich die irreduziblen Dualitäten findet, die übrig bleiben, wenn es mit der metaphysischen Vernunft nichts mehr ist. Denn diese war es, die in der Gestalt der Spontaneität alle Kantschen Dichotomien zusammenhielt. Und da die Spontaneität sich, theoretisch, als produktive Einbildungskraft manifestierte,356 konnte die neue Vernunft, wie ohnehin nicht von der transzendentalen Einheit der Apperzeption, dem Verstand, der äußeren Anschauung und Empfindung, auch nicht von dieser Einbildungskraft hergenommen werden. Übrig blieb allein der innere Sinn,357 der nun im sich eröffnenden Horizont des produktiven Menschenwesens sogleich als weiblich gedacht wird. Die Schopenhauersche Erbin jener Einbildungskraft, die Phantasie, wird aber zum Sprachwesen, wo dieses aus seiner Latenz tritt als die po(i)etische Konversation zwischen dem (weiblichen) Du und dem (männlichen) Ich. Prospektiv ist diese von Feuerbachs »neuer Philosophie« konzipierte produktive Sprachgemeinschaft des Menschen mit dem Menschen das Paradies auf Erden, das des alten Himmels nicht mehr zu bedürfen scheint; aber sogleich bei Kierkegaard öffnet sich der 355

Übs. nach B.H.F. Taureck: Michel Foucault, Hamburg 1997, S. 71. Weshalb noch Heidegger in seinem Kant-Buch den verzweifelten Versuch machen wird, sie aus dem Gefüge der Kantschen Vernunft herauszubrechen, vgl. C.-A. Scheier: Die Zeit der Spontaneität. Zu Kants Lehre von der transzendentalen Funktion der Einbildungskraft. Mit einer Fußnote zu Descartes’ Regeln der Methode, in: Facetten der Wahrheit. Festschrift für Meinolf Wewel, hrsg. von E.G. Valdés und R. Zimmerling, Freiburg/München 1995, 423–455. 357 Es ist diese Vernunft, die Derrida als die »phonozentristische« Autoaffektion dekonstruiert und damit das Paradox der Moderne bestätigt, die genau da in sich verschlossen bleibt, wo sie die Metaphysik treffen will, und ihr da begegnet, wo sie ins Eigne zu kommen meint. 356

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Abgrund, das Nichts, das von der Feuerbachschen Versammlung auf das sinnliche Hier und Jetzt temporär verdeckt worden war. Ist Schopenhauers geschichtliche Tat darin zu sehen, daß er mit dem Verhältnis von Wille (Reproduktion), Platonischen Ideen (Programm) und Nichts den Horizont der dem Menschenwesen übereigneten ursprünglichen Produktivität überhaupt erschlossen hatte, und die Tat Feuerbachs in deren prospektiver Vergegenwärtigung, die die ursprüngliche Produktivität als Sprachwesen freisetzt, dann ist dies erwartete Paradies bei Kierkegaard gedacht als das eschatologische Einst, von dem her die geschichtliche Gegenwart des Menschen als der sinnlose Leerlauf seiner Reproduktion – dies analog zu Schopenhauer, aber nunmehr: in der beständigen Bewährung des einzig in der Weise ihres Verbots gegenwärtigen Sprachwesens erscheint. Die Wagnersche Position könnte man, auch im Vorblick auf Nietzsche, die Rache des ästhetischen Stadiums an der Suspension seiner Welt nennen. Die Suspension wird ihrerseits suspendiert, indem um die Mitte des Jahrhunderts der technische Fortschritt, wie Marx ihn sogleich exemplarisch denkt, das zeitgenössische Bewußtsein zu bestimmen beginnt. »Diess, ja diess allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ›Es war.‹«358 Insofern rächt sich die Moderne immer an der Metaphysik um ihres Versprechens willen, das gleichwohl nicht die Metaphysik, sondern die von ihr hinterlassene Welt brach. Aber näher ist die erste geschichtliche Gegend der Moderne noch nicht die der Position der Rache.359 Konstitutiv wird sie erst bei Wagner, denn erst bei ihm hat der Andere schuld, und die zur Furcht gewordene Angst äußert sich als Ressentiment. Indem die Wagnersche Produktionsästhetik Kierkegaards religiöses in das ästhetische Stadium zurückzieht, wird die (menschliche) Reproduktion mit der (göttlichen) Produktion identifiziert, wodurch sie sich zugleich verdoppelt. Negativ ist sie die Reproduktion als solche, die »Mode«, positiv erscheint sie als das absolute Produkt, das »Gesamtkunstwerk«. Die poetische Konversation des Menschen mit dem Menschen hatte kraft ihrer Prospektivität nicht den Charakter des Produkts, verhielt als Produzieren (worin eben der heimliche Grund der Unmöglichkeit ihrer Vergegenwärtigung liegt). Das von der Wagnerschen Kunst dargestellte Sprachwesen hingegen ist Produkt, und als solches Musik, insofern bereits Schopenhauer die Künste zwar als Reproduktionen des Welt-Programms, die Musik aber als die unmittelbare 358

AsZ II.20, Von der Erlösung. Eine bedeutende Rolle spielt sie bereits im erzählerischen Werk Mérimées (z. B. »Matteo Falcone« und »Carmen«), ein zentrales Thema ist sie in den Opern Verdis. 359

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Präsenz der Produktion dieses Programms gedacht hatte, als das sich produzierende Programm oder dessen Syntax. Darin, daß diese Syntax Musik ist, verrät sich das latente Sprachwesen des Schopenhauerschen Willens, und daß Wagners Musik ursprünglich gestisch ist, Nietzsches »Attitüde«, bezeugt ihren Produktcharakter – denn die Gebärde ist der momentan zum Zeichen gemachte Leib – und ist die Reaktion des »Lebens«, als der Produktivität selbst, auf den von Wagner vorausgesetzten Einbruch der Schrift in deren Paradies. Damit kommt zum Vorschein, daß die Anwesenheit des Sprachwesens im Kierkegaardschen Paradies als Verbot der Reproduktion selber schon Schriftcharakter hat, indem die unmittelbare Reproduktion des Sprache die Schrift ist. Der Sündenfall ist die Bewahrheitung des Verbots und Kierkegaards Verfasser-Tätigkeit darum die existenziell-christliche Gestalt des, mit Schopenhauer gesprochen, sich selber negierenden Willens. Nietzsches Definition der Rache aber entspricht das Wagnersche Ressentiment genau darin, daß es das »Es war« rückgängig zu machen sucht, nämlich die durch das Verbot provozierte Vertreibung aus dem Paradies.360 Dies Paradies, das ursprüngliche Sprachwesen als (gestisches) Leibwesen oder die Feuerbachsche Konversation als Sexualität, ist das Paradies der »freien Liebe«, aber was sich auf der Bühne in den Wagnerschen Liebespaaren inkarniert – hier ist das härteste, weil älteste Verbot das von Siegmund und Sieglinde übertretene Inzestverbot –, ist in Wagners politischer Ästhetik das Verhältnis des (männlichen) Künstlers zur (weiblichen) Produktivität als zum Weltwillen, zur Weltseele, zum Weltgeist, zum deutschen Geist usw. Wagner wiederholt und verwandelt darin das Kierkegaardsche Geschlechtsverhältnis: der Künstler der aus dem religiösen Einst ins religiös-ästhetisch-politische Jetzt versetzte Adam, Eva die »allmächtige« Produktivität-Reproduktivität. Auch hier ist das nunmehr zu übertretende, für die Seite der reinen Reproduktivität, der Mode, jedoch unverbrüchlich weiter geltende Verbot das der wirklichen Produktion, d. h. zuerst ihres Verschwindens ins Produkt. Daß es nicht getilgt ist, sondern übertreten werden muß, bezeugt die Sühne der temporären Identifikation des Künstlers mit dem allmächtigen Weltwillen als der Jammer seiner gesellschaftlichen Existenz. Aber da das Verbot nun selber nicht länger ein göttliches, sondern ein geschichtliches ist, wird es verständlich (bei Kierkegaard ist es notwendig unverständlich – und eben darum göttliches Verbot): als die Herrschaft der (bloßen) Reproduktion (»Mode«) über die ursprüngliche Produktion-Reproduktion. 360

Alle Opern Wagners, von den »Feen« und dem »Liebesverbot« an, meditieren über das Verbot, seine Übertretung und ihre Sühne.

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Nietzsche Einwand wird hier der sein, daß nicht die anderen schuld sind am Ausbleiben der paradiesischen Gegenwart, sondern der reproduktive Charakter der mit Wagner gedachten Produktivität selbst, ihr Charakter als der eines Produkts, das gar nichts anderes sein kann als die Simulation der Produktion. Denn das Paradies findet nicht in Wirklichkeit, sondern auf der Bühne statt, und deren Verlängerung in die politische Wirklichkeit, die dem deutschen Geist zugesprochene Aufgabe, die anderen Völker zu »beglücken«, kann im Wagnerschen Ort – und darin unterscheidet er sich von den Erben seiner Ideologie – in der Tat noch gar nichts anderes meinen als die universale Herrschaft dieser Ästhetik der Simulation, die von Nietzsche so genannte Theatrokratie,361 konkret die absolute Herrschaft des Wagnerschen Kunstwerks mit Bayreuth als dem neuen Rom. Das ist der Wahrheitsgehalt der Nietzscheschen Bosheit: Erwägt! Noch steht ihr an der Pforte … Denn was ihr hört, ist Rom, – Roms Glaube ohne Worte!362 Dagegen Naxos … Aber was ist Ariadne? Zweifellos die ewige Wiederkunft gedacht in ihrer Beziehung auf Dionysos, den verwandelten Zarathustra, wie Ariadne selber dessen verwandelte Seele ist. Und Zarathustra ist Nietzsches Gedanke, der das Ressentiment überwunden hat, das von der Verdoppelung der Reproduktion in die verbotene Reproduktion und den Schein der Produktion ausgebrütet worden war, denn: »mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!« 363 Diese Einsicht vollendet das Denken des 19. und eröffnet das des 20. Jahrhunderts: die göttliche Produktion ist nur als Reproduktion, aber die Reproduktion ist Produktion. Das ist »das goldne Gleichgewicht aller Dinge«,364 worin kein Verbot, kein Sündenfall, kein Ressentiment, keine Rache, kurz all das nicht mehr wäre, was Nietzsche »Christentum« nennt: »Aus der Höhe gesehn, bleibt diese fremdartigste aller Thatsachen, eine durch Irrthümer nicht nur bedingte, sondern nur in schädlichen, nur in leben- und herzvergiftenden Irrthümern erfinderische und selbst geniale Religion ein Schauspiel für Götter, – für jene Gottheiten, welche zugleich Philosophen sind, und denen ich zum Beispiel bei jenen berühmten Zwiegesprächen auf Naxos begegnet bin.«365

361 362 363 364 365

DFW, Nachschrift. NW, Wagner als Apostel der Keuschheit 1, zuerst in JGB 256. GD, Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde. F. Nietzsche an Jacob Burckhardt am 4. Januar 1889. DA 39.

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Feuerbachs unschuldige Konversation des Menschen mit dem Menschen ist hier aus der Wagnerschen, durch die Identifikation von religiösem und ästhetischem Stadium freigesetzten Sexualität wiederhergestellt, aber um den Preis – und Nietzsche selbst hat diese Rechnung beglichen –, daß nicht Mensch mit Mensch, sondern Gottheit mit Gottheit konversieren. Da Nietzsche einiges von diesen Konversationen aufgezeichnet hat, wissen wir, daß sie Dialoge waren wie die zwischen Zarathustra und seiner Seele. Zarathustra mußte untergehen, weil er zu den Menschen hinabwollte; und er lehrte seiner Seele den Untergang in Ariadne. Und wenn hier eine Vermutung erlaubt ist – und Nietzsches Rätsel-Ort erlaubt philosophische Vermutungen nicht nur, er fordert sie, denn »wo ihr errathen könnt, da hasst ihr es, zu erschliessen« 366 –, dann lehren der in Dionysos verwandelte Gedanke und das in Ariadne verwandelte Sprachwesen einander den Untergang der Gottheit in den Menschen – deshalb ist jenes Christentum ein »Schauspiel für Götter«. So heißt es zum Schluß eines jener »berühmten Zwiegespräche«: »Dergestalt schwätzend gab ich mich zügellos meinem Lehrtriebe hin, denn ich war glückselig, Jemanden zu haben, der es aushielt, mir zuzuhören. Doch gerade an dieser Stelle hielt Ariadne es nicht mehr aus – die Geschichte begab sich nämlich bei meinem ersten Aufenthalte auf Naxos –,: ›aber mein Herr, sprach sie, Sie reden Schweinedeutsch!‹ – ›Deutsch, antwortete ich wohlgemuth, einfach Deutsch! Lassen Sie das Schwein weg, meine Göttin! Sie unterschätzen die Schwierigkeit, feine Dinge deutsch zu sagen!‹ – ›Feine Dinge! schrie Ariadne entsetzt auf: aber das war nur Positivismus! Rüssel-Philosophie! Begriffs-Mischmasch und -Mist aus hundert Philosophien! Wo will das noch hinaus!‹ – und dabei spielte sie ungeduldig mit dem berühmten Faden, der einstmals ihren Theseus durch das Labyrinth leitete. – Also kam es zu Tage, daß Ariadne in ihrer philosophischen Ausbildung um zwei Jahrtausende zurück war.«367 Genauer gesagt um die siebzig Jahre.

366 367

AsZ, Vom Gesicht und Räthsel 1. KGA VII.3, 37[4].

Anhang: Baudelaires Spleen von Paris

Falschgeld368 »Wie wir uns vom Tabakladen entfernten, nahm mein Freund eine sorgfältige Geldsonderung vor; in seine linke Westentasche ließ er das kleine Gold gleiten; in die rechte das kleine Silber; in seine linke Hosentasche eine Menge Zweisoumünzen und schließlich in die rechte ein silbernes Zweifrancstück, das er eingehend geprüft hatte. / ›Eine absonderliche und peinlich genaue Umverteilung!‹ sprach ich bei mir.« Die beiden Freunde sind in Bewegung, ihr Terminus ad quem bleibt unbekannt, der Terminus a quo ist ein Tabakladen. Die Wirkung des Tabaks auf den Autor teilt das Sonett »Die Pfeife« mit. In der Erstausgabe der »Fleurs du Mal« von 1857 beschloß es den ersten Zyklus »Spleen und Ideal«: Ich bin die Pfeife eines Autors; Man sieht, wenn man mein Gesicht betrachtet – Das Gesicht einer Abessinier- oder Kafferin –, Daß mein Meister ein großer Raucher ist. Wenn der Schmerz ihm zusetzt, Dampfe ich wie die Kate, Wo der Tisch bereitet wird Zur Heimkehr des Ackermanns. Ich umstricke und wiege seine Seele Im beweglich-blauen Netz, Das meinem Feuermund entsteigt, und ich entrolle einen wirksamen Diptam, Der sein Herz bezaubert und seinen Geist Von seinen Mühen heilt.369 368

Charles Baudelaires »La fausse monnaie« (Falschgeld) erschien zuerst am 1. November 1864 in »L’Artiste«. Vgl. o. Anm. 100. Die folgende Interpretation wurde angeregt durch J. Derridas dekonstruktive Lektüre des Textes in: J. Derrida: Donner le temps, 1. La fausse monnaie (DT), Paris 1991. 369 Je suis la pipe d’un auteur; / On voit, à contempler ma mine / D’Abyssinienne ou de Cafrine, / Que mon maître est un grand fumeur. // Quand il est comblé de douleur, / Je fume comme la chaumine / Où se prépare la cuisine / Pour le retour du labou-

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Anhang: Baudelaires Spleen von Paris

Das Aussehen der Pfeife hat den Reiz exotischer Weiblichkeit, der Baudelaire auch sonst fasziniert,370 sie tröstet den Autor, wenn ihn der Schmerz des Ackermanns packt,371 wiegt seine Seele in ihrem Rauch, bezaubert sein Herz372 und heilt seinen Geist von den Mühen der poetischen Produktion;373 kurzum sie entfernt ihn von seiner täglichen Wirklichkeit, z. B. der Niederschrift des Prosagedichts, das zuerst erzählt, wie zwei Freunde sich von dem Ort entfernen, wo sie sich offensichtlich das Mittel verschafft haben, sich auf diese Weise von der Erde zu entfernen.374 Der Autor jedenfalls kann sich dies Mittel nur dank seiner literarischen Produktion leisten. Hier scheint sich also ein Zirkel aufzutun. Der Autor produziert, um das Geld zu verdienen, das ihm das Mittel verschafft, sich dieser Arbeit in ein künstliches Paradies zu entziehen. Daß es sich nicht so verhält, ist freilich von Baudelaires existenzieller Poetik zu lernen, in engstem Zusammenhang mit dem Prosagedicht vom 1852 publizierten Aufsatz »L’école paienne« (Die heidnische Schule), der den Keim von »Falschgeld« enthält.375 Dort heißt es:

reur. // J’enlace et je berce son âme / Dans le réseau mobile et bleu / Qui monte de ma bouche en feu, // Et je roule un puissant dictame / Qui charme son coeur et guérit / De ses fatigues son ésprit. (FdM LXVIII) Vgl. auch »Le calumet de paix. Imité de Longfellow« (Poèmes de l’édition posthume). 370 Vgl. »Parfum exotique« (FdM XXII), »La chevelure« (FdM XXIII), »A une dame créole« (FdM LXI), »A une Malabaraise« (»Deine Aufgabe ist es, die Pfeife deines Herrn zu entzünden«, v. 6) (NFdM IV). 371 Vgl. Gen 3, 17–19. 372 Der Tabak wird dem Eschenwurz, Diptam (fr. dictame), von lat. dictamnus/dictamnum, verglichen: »Das Kraut ist benannt nach dem Dikte-Gebirge auf Kreta, […] es vermag allein kraft seiner Blätter Pfeile auszuziehen« (J. Facciolati, Ae. Forcellini, Totius latinitatis lexicon, Leipzig / London 1839, s. v.), vgl. Vergil: Aeneis 12.411–424. Die Pflanze gehört zum Kultbereich der Eileithyia. Auf der Dikte soll Zeus geboren oder aufgezogen worden sein: ein naheliegendes Thema der heidnischen Schule. Baudelaire hat das Wort noch in »Le portrait« (Un fantôme, FdM XXXVIII/IV): »Die Krankheit und der Tod machen Asche […] // Aus diesen Küssen, kraftvoll wie ein Diptam«, und »Tout entière« (FdM XLI): »Da in ihr alles Diptam ist, / Kann nichts vorgezogen werden«. 373 Sie sind zurückzubeziehen auf den Schmerz des Ackermanns; Heidegger wird diese Beziehung auf seine Weise herstellen im Spruch: »Das Denken zieht Furchen in den Acker des Seins« (Das Wesen der Sprache I, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 173). Das Tertium comparationis ist jeweils das Schreiben. 374 Nur hingewiesen sei auf Mallarmés Sonett von 1895 »Toute l’âme résumée«. 375 Bedauerlicherweise ist J. Derrida die Stelle, wie er in »Donner la mort« anmerkt, erst nachträglich bekannt geworden. Vgl. J. Derrida: Donner la mort, in: L’Éthique du don. Jacques Derrida et la pensée du don. Colloque de Royaumont décembre 1990, éd. par J.-M. Rabaté et M. Wetzel, Paris 1992, S. 11–108, hier S. 108, Anm. 12.

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»Die Leidenschaft und die Vernunft verabschieden heißt die Literatur töten. Die Anstrengungen der voraufgegangenen christlich-philosophischen Gesellschaft verleugnen heißt Selbstmord begehen, heißt die Kraft und Mittel der Vervollkommnung verweigern. Sich ausschließlich mit den Verführungen der physischen Kunst umgeben heißt mächtige Möglichkeiten von Verdammnis schaffen. […] Der Irrsinn der Kunst kommt dem Mißbrauch des Geists gleich. Eine dieser beiden Gewaltherrschaften zu schaffen, erzeugt Torheit, Hartherzigkeit und eine Unermeßlichkeit von Hochmut und Egoismus. Ich erinnere mich, einen Spaßvogel von Künstler, der ein falsches Geldstück erwischt hatte, sagen gehört zu haben: Ich behalte es für einen Armen. Der Elende fand ein teuflisches Vergnügen daran, den Armen zu bestehlen und zugleich die Segnungen eines Rufs von Mildtätigkeit zu genießen. […] Die Zeit ist nicht fern, wo man begreifen wird, daß alle Literatur, die sich weigert, brüderlich zwischen der Wissenschaft und der Philosophie voranzuschreiten, eine mörderische und selbstmörderische Literatur ist.« Der Freund, ein »Spaßvogel von Künstler«, steht also in den Augen des Ich-Erzählers jener heidnischen Schule nahe, über die der Aufsatz das Verdikt »Pastiche, pastiche!« (Simulation, Simulation!) ergehen läßt. Daß dem so ist, läßt sich aus der merkwürdigen Umständlichkeit ersehen, mit der die Geldumverteilung erzählt wird. Links Gold, rechts Silber, links Kupfer und schließlich wieder rechts, also wie das Silber leichter greifbar, das falsche Geldstück. Das ist die spielerische Evokation des goldnen, silbernen, ehernen376 und eisernen Zeitalters377 in der modernen Zirkulationssphäre, nur daß die vierte Geldsorte, die die Gegenwart bedeuten würde,378 durch ein Pastiche des silbernen Zeitalters – Juppiters und des Ackerbaus – ersetzt ist. »Viele«, heißt es im Aufsatz, »haben mit ihren Silberlingen und ihrem Beifall diesen jämmerlichen Wahn gefördert, der geeignet ist, aus dem Menschen ein träges Wesen und aus dem Schriftsteller einen Opiumesser zu machen.« Baudelaires Kritik an der heidnischen Schule trifft diese darin, daß sie die ästhetische Aufgabe der gemeinsamen Gegenwart verleugnet, die »Anstrengungen der voraufgegangenen christlich-philosophischen Gesellschaft« mit Leidenschaft und Vernunft und also an der Seite von Wissenschaft und Philosophie auf ihre Weise fortzusetzen, nämlich statt einer »physischen« eine geistige Kunst zu schaffen, die dazu beitrüge, dem Proletariat (aux pauvres) »den Stolz und das

376

Ovid spricht Met. 1.115 vom fulvum aes: Kupfer. Ovid, Met. 1.89–150. 378 Met. 1.129: »es flohen die Scham, das Wahre, die Treue« (fugêre pudor, verumque fidesque). 377

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Leben«379 wiederzugeben. Stattdessen zieht die simulierte Kunst sich als Falschgeld in die selbstvergessene Geschichtslosigkeit der künstlichen Paradiese zurück als in die »Torheit, Hartherzigkeit und eine Unermeßlichkeit von Hochmut und Egoismus«. Daß der Freund das falsche Geldstück eingehend prüft, ehe er es wegsteckt, verrät, daß er es im Tabakladen, dem kommerziellen Ursprung des künstlichen Paradieses Rauchen, erhalten hat, wo er es offensichtlich auf Verdacht hin, und weil ihm dabei der im Aufsatz berichtete Einfall kam, stillschweigend angenommen hatte. Dies Falschgeld ist die unmittelbare Wirklichkeit, die »Währung« jener falschen Kunst, die ihrerseits eine falsche Existenz ist, das Leben als egoistische – »mörderische und selbstmörderische« – Simulation. Was mit dem Geldstück geschieht, ist die Probe der Kunst aufs Exempel der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit begegnet den beiden, nach allem notwendig, in der Gestalt des Proletariers; oder vielmehr sie müssen als Künstler die Begegnung ins Werk setzen (Nous fîmes la rencontre), weil das Kunstwerk gemäß der Baudelaireschen Ästhetik nichts anderes ist als die Verwandlung der Wirklichkeit, sei es als scheinbare Verwandlung durch die Simulation, sei es als wahrhafte durch die »Alchemie des Schmerzes«. »Es traf sich, daß wir einem Armen begegneten, der uns zitternd seine Mütze hinhielt. – Ich kenne nichts Beunruhigenderes als die schweigende Beredtheit dieser flehenden Augen, in denen für den fühlenden Menschen, der darin zu lesen weiß, soviel Demut und soviel Vorwürfe zugleich geschrieben stehen. Er findet etwas der Tiefe dieses vielschichtigen Gefühls sich Näherndes in den tränenden Augen gepeitschter Hunde.« Das Nächste ist die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Gestalt des Bettlers. Sein Zittern ist kein Gemeinplatz der sentimentalen Beschreibung à la Sue, Dumas etc. In ihm wird die Seele dieser Gesellschaft sichtbar, das Schopenhauersche Pendeln der modernen Existenz zwischen Schmerz und Langerweile gesellschaftlich fixiert im Extrem des Schmerzes. Es ist deswegen für den fühlenden Menschen, dessen Organ der Wirklichkeit die Seele ist, zugleich das Beunruhigendste, d. h. das ursprüngliche Motiv seiner Existenz: seit Schopenhauer das Mitleiden, das nicht dem sprechenden, sondern dem stummen Andern gilt, wie auch die Sprache, zuletzt die des Trauerspiels, versiegt, sobald die »gesteigerte Kraft« des Künstlers, »endlich des Spiels müde, den Ernst ergreift«.380 379 380

Ch. Baudelaire: Verprügeln wir die Armen! (PPP XLIX) WWV § 53, S. 353.

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So bleibt der Proletarier stumm,381 und die Beredtheit seiner Existenz liegt nur in seinem Blick (vielleicht ist es Baudelaire, der dies große Thema der Moderne entdeckt hat). In diesem Blick weiß der fühlende Mensch zu lesen, und was in der Moderne ursprünglich gelesen wird, ist stets deren Programm (cette profondeur). Hier ist es die existenzielle Befindlichkeit des Armen, das komplizierte Gefühl dieser »tiefen« Einheit von Demut und Vorwurf. Unscheinbar ist damit das Grundmotiv des Gott-Menschen in Knechtsgestalt zugegen, indem die Demut für die Knechtsgestalt und die Vorwürfe dafür stehen, daß die von der Demut an die Menschen gerichtete Frage keine andere Antwort gefunden hat als die Demütigung. Die unmittelbar leidende Existenz ist die Tierheit im Menschen, und, sagt Schopenhauer, »Mitleid mit Thieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Thiere grausam ist, könne kein guter Mensch seyn.«382 Man müsse »wahrlich«, hatte er kurz zuvor bemerkt, »an allen Sinnen blind, oder vom foetor Judaicus [sc. von der jüdisch-christlichen Religiosität] total chloroformiert seyn, um nicht zu erkennen, daß das Wesentliche und Hauptsächliche im Thiere und im Menschen das Selbe ist, und daß was Beide unterscheidet, nicht im Primären, im Prinzip, im Archäus, im innern Wesen, im Kern beider Erscheinungen liegt, als welcher in der einen wie in der andern DER WILLE des Individuums ist, sondern allein im Sekundären, im Intellekt […].«383 Dem philosophischen, die Schopenhauersche Terminologie transformierenden Rückblick zeigt der Wille sich als die ursprüngliche Produktivität, die dem modernen Menschen im Tier als sein entzogenes natürliches Wesen entgegentritt. Der Hund ist näher »der treue Hund«,384 das Tier mit der fides,385 weswegen es kaum verwunderlich ist, in Baudelai381

K. Marx notiert in den Auszügen aus Mills »Élémens d’économie politique« (MEW Erg.-Band 1, S. 461): »Die einzig verständliche Sprache, die wir zueinander reden, sind unsre Gegenstände in ihrer Beziehung aufeinander. Eine menschliche Sprache verständen wir nicht, und sie bliebe effektlos; sie würde von der einen Seite als Bitte, als Flehen und darum als eine Demütigung gewußt, empfunden und daher mit Scham, mit dem Gefühl der Wegwerfung vorgebracht, von der andren Seite als Unverschämtheit [vgl. »Die Augen der Armen«, PPP XXVI] oder Wahnwitz aufgenommen und zurückgewiesen werden. So sehr sind wir wechselseitig dem menschlichen Wesen entfremdet, daß die unmittelbare Sprache dieses Wesens uns als eine Verletzung der menschlichen Würde, dagegen die entfremdete Sprache der sachlichen Werte als die gerechtfertigte, selbstvertrauende und sichselbstanerkennende menschliche Würde erscheint.« 382 PGM § 19, S. 599. 383 Ebd., S. 598. 384 Ebd., S. 597. 385 Vgl. noch einmal Ovid: Met. 1.129.

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re, dem Sänger der Katzen, auch den Sänger der Hunde zu finden.386 Allerdings entdeckt der fühlende Mensch im Blick der gequälten Hunde nur »etwas der Tiefe dieses vielschichtigen Gefühls sich Näherndes«. Die eigentliche Tiefe des Blicks gehört allein dem Menschen an: »Mensch, niemand hat den Grund deiner Abgründe ausgelotet«,387 und ohnehin der gegenwärtige Mensch gehört einer Gesellschaft an, deren Vorgängerin »christlich-philosophisch« war. »Das Opfer meines Freundes war sehr viel beträchtlicher als das meine, und ich sagte zu ihm: ›Sie haben recht; nach dem Vergnügen, erstaunt zu werden, gibt es kein größeres als das, eine Überraschung zu bereiten. – Das war das falsche Geldstück‹, antwortete er mir ruhig, wie um sich für seine Verschwendung zu rechtfertigen.« Nicht Gabe, nicht Almosen, sondern »offrande«: das Opfer für den Gott-Menschen in Knechtsgestalt. Das erste Sich-Entfernen der beiden Freunde war das vom Tabakladen, dem ökonomischen Ursprung eines künstlichen Paradieses; das zweite Sich-Entfernen ist das von einem Gottes-Dienst, von einem modernen Akt des Opfers. Wird ökonomisch auf dessen Größe gesehen, dann hat der Freund gottgefälliger gehandelt als der Erzähler. In solcher Ungleichheit der religiösen Tat tritt dieser aus seinem bisherigen Schweigen heraus – denn seine Worte im ersten Sich-Entfernen waren Selbstgespräch – und erkennt die Tat des Freundes an: »Vous avez raison« – die »ratio«, das Verhältnis des modernen Menschen zu seinem Wesen, dem Gott-Menschen in Knechtsgestalt, scheint sich im Tun des Freundes ereignet zu haben. Das größte Vergnügen, sagt der Erzähler, ist es, erstaunt zu werden, und darin bleibt er der klassischen Ästhetik verbunden. Denn für Aristoteles ist das Erstaunliche (τ$ αυμαστ ν) der von der Dichtung zu erreichende äußerste Ort, worin sie die Philosophie berührt, die in ihm anfängt.388 Nun vermöchte dies Erstaunen sich zuhöchst in der plötzlichen Begegnung mit dem Gott-Menschen ereignen (wie es mittelbar in 386

Vgl. »Die guten Hunde«, PPP L. Ihr Preis ist sowenig uneingeschränkt wie die Achtung vor den Armen, vgl. »Der Hund und das Fläschchen« (PPP VIII), »Verprügeln wir die Armen!« (PPP XLIX), und o. S. 44 f. 387 Homme, nul n’a sondé le fond de tes abîmes (L’homme et la mer, FdM XIV). 388 Für Descartes freilich ist das Erstaunen »ein Übermaß an Bewunderung, das nie anders als schlecht sein kann«, denn es bewirkt, »daß der Körper unbeweglich bleibt wie eine Statue, und daß man sich vom Gegenstand nur der ersten Seite, die sich darbot, bewußt werden und von ihm folglich keine genauere Erkenntnis erlangen kann« (Les passions de l’ame LXXIII). Baudelaire hingegen spricht im »Maler des modernen Lebens« (III) vom »Ich, unersättlich nach dem Nicht-Ich, welches es in jedem Augenblick in Bildern wiedergibt und ausdrückt, die lebendiger sind als das immer unbeständige und flüchtige Leben selbst«, und vom »Gehorsam gegenüber dem Eindruck, als eine Schmeichelei gegenüber der Wahrheit« (IV).

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der Kunst geschieht), nicht aber in der mit dem Gott-Menschen in der gewöhnlichen Knechtsgestalt des Armen. Hier wäre die Aufgabe umgekehrt die, erstaunen zu machen oder wenigstens eine Überraschung zu bereiten.389 Die überraschte Bemerkung des Erzählers signalisiert, daß das dem Freund gelungen ist, aber dieser überrascht ihn erneut, bereits zum dritten Mal, mit dem »ruhigen«, d. h. den Kalkül anzeigenden Hinweis,390 es sei das falsche Geldstück gewesen. Die zweite Überraschung erscheint ihm offensichtlich als eine zu rechtfertigende Verschwendung. Die Rechtfertigung liegt in diesem Fall darin, daß gar nichts ausgegeben, also in der Tat auch kein Opfer erbracht wurde. Für den Freund war die Gabe kein Gottes-Dienst. Ökonomisch gesehen hatte er freilich zuvor einen Schaden von der Größe der scheinbaren Verschwendung erlitten, als er das falsche Geldstück erhielt. Gesetzt also, dies sei im Tabakladen geschehen, hätte er nach der Prüfung der Münze nicht umkehren können, um es zurückzutauschen? Aber dies setzt seinen Kredit beim Tabakhändler bzw. dessen Gutmütigkeit voraus, und damit schien hier nicht zu rechnen zu sein. Geschäft ist Geschäft. Der Freund faßt darum den Plan, das Geldstück anderweitig zu verwenden, nämlich den Verlust durch einen Gewinn anderer Art wettzumachen. Der »Spaßvogel von Künstler« aus der heidnischen Schule sagt ja: »Ich behalte es für einen Armen.« »Aber meinem elenden Gehirn, immer damit beschäftigt, den Mittag um vierzehn Uhr zu suchen (mit welch ermüdendem Vermögen hat die Natur mich da beschenkt!), kam plötzlich der Gedanke, daß dergleichen Verhalten von Seiten meines Freundes nur entschuldbar sei mit dem Wunsch, im Leben dieses armen Teufels Ereignis zu machen, vielleicht sogar die verschiedenen verhängnisvollen oder andern Folgen kennenzulernen, die ein falsches Geldstück in der Hand eines Bettlers verursachen kann. Konnte es sich nicht zu echtem Geld vermehren? konnte es ihn nicht auch ins Gefängnis bringen? Ein Schankwirt, ein Bäcker zum Beispiel konnte ihn vielleicht als Falschmünzer oder Verbreiter von Falschgeld arretieren lassen. Ebensogut wäre das falsche Geldstück für einen armen kleinen Spekulanten vielleicht der Keim eines Reichtums von einigen Tagen. Und so ging meine Phantasie ihren Gang, lieh dem Geist meines Freundes Flügel und zog alle möglichen Folgerungen aus allen möglichen Hypothesen.«

389

Vgl. wieder »Verprügeln wir die Armen!« Die Banalität des modernen Todes spricht Baudelaire im vermutlich frühen »Le rêve d’un curieux« (FdM CXXV) so aus: »Ich war tot ohne Überraschung« (J’étais mort sans surprise). 390 Die bezeichnende Reihe ist: tremblant – inquiétant – tranquillement.

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Aus dem Gedicht selbst war vom Erzähler bisher zu erfahren, daß er ein genauer, zum Erstaunen neigender Beobachter ist, beunruhigt vom ökonomisch-religiösen Grund der modernen Existenz. Hier spricht er sich nun ein »elendes Gehirn« zu. Der Grund des Elends ist die Naturgabe eines »ermüdenden Vermögens«, nämlich ohne Unterlaß damit beschäftigt zu sein, »den Mittag um vierzehn Uhr zu suchen«. Der Erzähler reflektiert also angesichts der dritten Überraschung – sein Freund gibt einem Bettler absichtlich Falschgeld – auf seine ihm von der Natur, nicht von der Gesellschaft, d. h. ihm als ursprünglicher Individualität geschenkte Einstellung zur Überraschung überhaupt. Die »fatigante faculté« erinnert über die »fatigues« des letzten Verses von »La pipe« an den Schmerz des »Gehirntiers« (Arno Schmidt). Es ist der Schriftsteller, der stellvertretend für den modernen Menschen überhaupt den fortwährenden Schmerz der Existenz auf sich nimmt, »den Mittag um vierzehn Uhr zu suchen«. Was mag dies heißen? Die ersten drei Überraschungen hat der Freund ihm bereitet, die vierte ereignet sich in seinem Gehirn als die plötzliche Anwesenheit des Gedankens, daß die Rechtfertigung der Verschwendung ihrerseits einer Rechtfertigung bedürfe. Wenn der Freund dem Bettler Falschgeld gibt, dann um in dessen Leben Ereignis zu machen wie der Erzähler in »Verprügeln wir die Armen!«. Die Gabe ist nur gerechtfertigt als Experiment, das Almosen zu ersetzen durch die Erweckung, die dem Armen »den Stolz und das Leben« wiedergäbe. Hieß es in der »heidnischen Schule«, die Literatur habe »brüderlich zwischen der Wissenschaft und der Philosophie voranzuschreiten«, dann wäre das Falschgeld hier wie die Schläge dort ein philosophischer Versuch, dessen Resultat das Verhalten und Schicksal des Armen sein würde, und wissenschaftlichen Charakter erhielte er, wenn, wie in »Verprügeln wir die Armen!«, seine Folgen zudem vom Experimentator beobachtet werden könnten.391 Das »ermüdende Vermögen« des literarischen Gehirns erweist sich also darin, daß die Phantasie des Autors, mag er wollen oder nicht, ihren Gang geht im Ausdenken von »conséquences diverses, funestes ou autres« – Freud wird Denken einmal als »Probehandeln« definieren392 –, in391

So heißt es in »Verprügeln wir die Armen!« (PPP XLIX): » – o Wunder! o Genuß des Philosophen, der die Vortrefflichkeit seiner Theorie verifiziert!« 392 S. Freud: Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, in: Gesammelte Werke VIII, London 1945, S. 233; ferner: »Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen, ähnlich wie die Verschiebungen kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt«, in: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke XV, London 1944, S. 96.

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dem sie »dem Geist meines Freundes Flügel leiht«. Denn dieser Gang der Phantasie393 ist ein Aufschwung aus dem Spleen zum – unerreichbaren – Ideal.394 Dies also, immer fortgerissen zu sein durch die experimentelle Simulation als durch den Gang der Phantasie, die »alle möglichen Folgerungen aus allen möglichen Hypothesen« zieht, hier aus dem durch den Versuch provozierten hypothetischen Verhalten des Armen, heißt, den Mittag um vierzehn Uhr suchen. Der Mittag, Nietzsches »Augenblick des kürzesten Schattens«,395 ist dessen Drehung, »Revolution«, aus der westlichen in die östliche Richtung. Das ist ein Ereignis, das im Unterschied zu dem im Leben des »armen Teufels« nicht »gemacht«, nicht einmal gesucht werden kann. Denn ist der Mittag da, muß er nicht gesucht werden, und ist er nicht da, ist es unmöglich, ihn zu finden. Insofern ist das Gehirn des Schriftstellers immer auf der Suche nach dem Unmöglichen, den Mittag zwei Stunden zu spät zu finden. Das »ermüdende Vermögen«, mit dem die Natur den Autor beschenkt hat, ist das Bewußtsein der Vergeblichkeit.396 Anderseits aber heißt den Mittag um vierzehn Uhr suchen seine Abwesenheit denken, die das Maß der Zeit und wodurch vierzehn Uhr erst vierzehn Uhr ist. Jenes ermüdende Vermögen ist so nicht nur das des rastlosen Ausheckens von Hypothesen, als des immer erneuten Aufschwungs zum Ideal, und des damit verbundenden Bewußtseins der Vergeblichkeit, sondern das Gedächtnis des entzogenen Maßes der Gegenwart, dem gegenüber die Vertreter der heidnischen Schule, die die »Anstrengungen der voraufgegangenen Gesellschaft verleugnen«, mit der λη geschlagen sind. Wenn darum nach Aristoteles τ$ αυμαστ ν der Mittag ist, in dem die Dichtung sich in die Philosophie wendet, dann ist der Mittag, den das Gehirn des Autors unablässig im nachhinein sucht, das »étonnement«, indem die Muse397 ihre Mutter, die Mnemosyne 393

Er hat selber methodischen Charakter, indem er durch die Mitte der »conséquence funeste« auf die andere zurückkommt: 1) Vermehrung zu echtem Geld, 2) Gefängnis (als Folge der Suche nach Wein und Brot!), 3) Reichtum von einigen Tagen. 394 Vgl. z. B. »Élévation« (FdM III) und »Les plaintes d’un Icare« (NFdM XV). 395 F. Nietzsche: GD, Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde. 396 Vgl. z. B. »L’ennemi« (FdM X), »Le guignon« (FdM XI), »L’irréparable« (FdM LIV) und »L’irrémédiable« (FdM LXXXIV). 397 Vgl. »La muse vénale« (FdM VIII) und »La muse malade« (FdM VII), wo es heißt: »Ich wollte, daß, den Duft der Gesundheit ausströmend, / Dein Busen stets von starken Gedanken heimgesucht würde, / Und daß dein christliches Blut in rhythmischen Fluten rollte, // Wie die Wohlkänge der antiken Silben, / Wo abwechselnd herrschen der Vater der Lieder, / Phoebus, und der große Pan, der Herr der Ernten.« (Je voudrais qu’exhalant l’odeur de la santé / Ton sein de pensers forts fût toujours fréquenté, / Et que ton sang chrétien coulât à flots rythmiques, // Comme les sons nom-

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berührt, und »causer une surprise« bezeichnet die Aufgabe der Dichtung. Den Mittag um vierzehn Uhr suchen, d. h. auf poetische Weise erstaunen machen, ist das Bewußtsein der Simulation – das ist das ermüdende Geschenk der Natur in der modernen Gesellschaft. »Er aber unterbrach abrupt meine Träumerei, indem er meine eignen Worte brauchte: ›Ja, Sie haben recht; es gibt kein köstlicheres Vergnügen, als einen Menschen dadurch zu überraschen, daß man ihm mehr gibt, als er sich erhofft.‹« Die poetische Tätigkeit des Autorenhirns, die Träumerei,398 wird abrupt von der Wirklichkeit unterbrochen, nämlich von den Worten des Freundes, der, seinerseits ins Nachdenken geraten über die Gnome des Erzählers, unmittelbar an seine eigne Bemerkung »Das war das falsche Geldstück« anknüpft und sie auslegt. Damit kreuzen sich zwei Wirklichkeiten und zwei Poetiken, die des Autors und die des Anhängers der heidnischen Schule. Die Poetik des Autors versenkt sich, als Träumerei die unmittelbare Realität verlassend, in die ursprüngliche Wirklichkeit der Welt; die Poetik der Simulation hingegen erweist sich, indem sie diese Träumerei »abrupt« unterbricht, als eins mit der unmittelbaren Realität, die sie vielmehr außer Kraft zu setzen behauptet. D. h. die unmittelbare Realität ist selber schon die Simulation von Wirklichkeit, und »pastiche« ist die Kunst der heidnischen Schule nicht nur, weil sie in einer Gesellschaft, deren Erbe Christentum und Philosophie sind, so tut, als ob keine Geschichte stattgefunden habe, sondern auch, weil sie im scheinbaren Gegensatz zu ihrer Gesellschaft deren Un-Wesen bloß reproduziert. Dies latent reproduktive Wesen der Simulation kommt dadurch zum Vorschein, daß der Freund die eignen Worte des Autors reproduziert, nämlich nicht nur das Dem-Andern-Rechtgeben, sondern implizit auch dessen poetisches Axiom. Die Unversöhnlichkeit der beiden Poetiken zeigt sich aber sogleich darin, wie der Freund dies Axiom interpretiert. War es beim Autor die Formel für die Bewegung des »Geistes«, als der poetischen Instanz, vom Spleen zum Ideal, d. h. von der unmittelbaren Realität, dem gesellschaftlichen Schein, zur Existenz, religiös gesprochen also zur Nachfolge des Gott-Menschen in Knechtsgestalt, erweist sie sich beim Freund als Formel der Reproduktion des Scheins. Das breux des syllabes antiques, / Où règnent tour à tour le père des chansons, / Phoebus, et le grand Pan, le seigneur des moissons.) Die Forschung spricht von einer »neuheidnischen Periode« Baudelaires, und die beiden Gedichte lassen allerdings ahnen, wer zuletzt der Freund in »Falschgeld« ist. 398 In »Le gouffre« (NFdM XIV) heißt die poetische Steigerungsreihe der (experimentellen) Simulation: »Handlung, Begehren, Traum, / Wort!« (action, désir, rêve, / Parole!).

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Mehr der unmittelbaren Realität ist hier nicht deren existenzielle Tiefe, sondern ihre bloße Verdoppelung durch Reproduktion, das photographische Prinzip. Im Kapitel »Das moderne Publikum und die Photographie« aus dem »Salon 1859« heißt es: »Zu erstaunen suchen durch Mittel des Erstaunens, die der fraglichen Kunst fremd sind, ist der Rettungsanker (la grande ressource) von Leuten, die nicht von Natur Maler sind. […] ich betrachte diese Schrecklichkeiten als eine dem französischen Volk verliehene besondere Gnade. Daß diese Künstler ihm den Geschmack dafür inokulieren, ist wahr; daß es von ihnen verlangt, dies Bedürfnis zu befriedigen, ist nicht weniger wahr; denn wenn der Künstler das Publikum verdummt, lohnt es ihm dies gut. Hier ist zweierlei korreliert, was mit gleicher Kraft aufeinander einwirkt. Bewundern wir also, mit welcher Geschwindigkeit wir auf der Bahn des Fortschritts dahinstürzen (ich verstehe unter Fortschritt die progressive Herrschaft der Materie) […]. Der Wunsch, erstaunen zu machen und erstaunt zu werden, ist ganz legitim. It is a happiness to wonder, ›es ist ein Glück, erstaunt zu werden‹; aber auch: it is a happiness to dream, ›es ist ein Glück zu träumen‹ [Poe, Morella]. Wenn Sie verlangen, daß ich Ihnen den Titel Künstler oder Liebhaber der schönen Künste gebe, ist die ganze Frage die, zu wissen, kraft welcher Verfahren Sie das Erstaunen hervorbringen oder fühlen wollen. Weil das Schöne immer erstaunlich ist, wäre es absurd, anzunehmen, was erstaunlich ist, sei immer schön. Nun will unser Publikum, das absonderlich unfähig ist, das Glück der Träumerei oder der Bewunderung zu fühlen (Zeichen kleiner Seelen), durch Mittel erstaunt werden, die der Kunst fremd sind […] ›Ich glaube an die Natur und ich glaube an nichts als die Natur (es gibt gute Gründe dafür). Ich glaube, daß die Kunst nichts ist und sein kann als die genaue Reproduktion der Natur (eine ängstliche, dissidente Sekte will, daß die abstoßenden Naturgegenstände verworfen werden, etwa ein Nachttopf oder ein Skelett). Darum wäre die Industrie, die uns ein mit der Natur identisches Resultat lieferte, die absolute Kunst.‹ Ein Rachegott hat die Wünsche dieser Menge erhört. Daguerre war sein Messias. Und also sagte sie sich: ›Da die Photographie uns alle wünschbaren Garantien der Genauigkeit gibt (das glauben sie, die Unsinnigen!), ist die Photographie die Kunst.‹ Von diesem Augenblick an stürzte sich die unreine Gesellschaft wie ein einziger Narziß darauf, ihr triviales Abbild im Metall zu betrachten.« Hier scheint der Gegensatz zunächst einfach der von Kunst und Natur zu sein. Näher aber ist die gemeinte Kunst, als moderne, die experimentelle Simulation (erstaunen machen und erstaunt werden = Träumerei); und die Natur, zu der eben auch Kulturprodukte wie Nachttöpfe gehören, ist nicht die natürliche, sondern die gesellschaftliche Natur, zu

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der vor allem Schopenhauers »Fabrikwaare der Natur«, der Mensch selbst gehört. Was dieser aber bewundert, ist nicht solche Natur, sondern deren Reproduktion. D. h. der Gegensatz ist der von ursprünglicher (künstlerischer) Produktion und (industrieller) Reproduktion. Sie hat den Charakter dessen, was Derrida »Autoaffektion« nennt und dem »Phonozentrismus« der »Metaphysik« unterschiebt (der sich vielmehr als Signatur der Moderne erweist).399 Weiter ist die Reproduktion die gesetzte Differenz des Produkts. Was reproduziert ist, ist produziert als produziert (daher Derridas Wendung gegen das identifizierende »als«). Daß schließlich diese Reproduktion nicht unschuldige Reproduktion oder einfach industrielle Produktion ist, liegt dann darin, daß sie als die wahre Kunst (die wahre »Träumerei«) behauptet wird. Als solche ist sie die gesellschaftliche Wirklichkeit noch einmal, aber zugleich unkenntlich geworden; als ihre eigne Träumerei ist sie die Simulation ihrer selbst. Und die Rache des »Rachegottes« ist die, daß nicht nur die Reproduktion Simulation, sondern daß diese Simulation Reproduktion ist, oder daß durch sie die reproduzierte gesellschaftliche Existenz selber Simulation wird: nicht nur die Reproduktion, sondern schon das von ihr Reproduzierte. Und dies wiederum ist der Schein, diese Kunst, die darum die »wahre« heißt, sei die gelebte Existenz selber: der Fall des Freundes in »Falschgeld«. »Ich schaute ihm ins Weiß der Augen und war erschrocken, als ich sah, daß seine Augen von unbestreitbarer Arglosigkeit leuchteten. Da sah ich klar, daß er gleichzeitig hatte ein Almosen geben und ein gutes Geschäft machen wollen; vierzig Sou gewinnen und Gottes Herz; das Paradies auf ökonomische Weise erlangen; schließlich gratis den Ausweis ergattern, ein mildtätiger Mensch zu sein.« Nach dem dritten Absatz weiß der fühlende Mensch in den Augen des Andern zu lesen. Die Wendung »dans le blanc des yeux« meint umgangssprachlich nicht mehr als »direkt in die Augen«; aber wörtlich genommen liest der Erzähler in ihrem Weiß, d. h. in dem Teil, mit dem sie selber nicht sehen. Das Weiß steht so für den blinden Fleck im Auge, mit dem bereits Schopenhauer das moderne Ich verglichen hatte. Es sei »der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfindlich, der Sonnenkörper finster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht«.400 Es ist darum nicht die »persona«, sondern das Ich des Freundes selbst, das von unbestreitbarer Arglosigkeit leuchtet. Es ist »de bonne 399 400

Vgl. o. Anm. 211, 357. WWV Kap.41, S. 570.

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foi« und nicht »de mauvaise foi«, seine Simulation keine experimentelle, sondern unmittelbare Simulation, eben die der zeitgenössischen Gesellschaft, die der »Salon 1859« beschreibt. Und diese bona fides der Moderne – fugêre pudor, verumque fidesque (Ovid) – besteht darin, deren intentionales Prinzip, das Tertium non datur zu verleugnen, das Kierkegaards Titel »Entweder-Oder« programmatisch formuliert hatte: 1) entweder ein Almosen geben oder ein gutes Geschäft machen wollen; 2) entweder vierzig Sou gewinnen oder Gottes Herz; 3) entweder das Paradies erlangen oder auf ökonomische Weise denken und so 4) gratis den Ausweis ergattern, ein mildtätiger Mensch zu sein, den die religiöse Existenz gar nicht (ökonomisch) »ergattern« wollte. Das Entweder-Oder hat prinzipielle Bedeutung für die Moderne, weil das eine Extrem mit dem »Bisherigen«, nach dem Schopenhauerschen Ausdruck, inquiniert ist – der Wille (Schopenhauer), das theologische Bewußtsein (Feuerbach), das ästhetische Stadium (Kierkegaard – es wird bei Baudelaire repräsentiert von der heidnischen Schule), das Kapital (Marx – bei Baudelaire die ökonomische Existenz), die Moral (Nietzsche), die metaphysischen Sätze (Wittgenstein), das Gestell (Heidegger), die verwaltete Gesellschaft (Adorno), die Hypostase (Lévinas), die clôture (Derrida). Diese Seite ist jeweils die der Verkehrung. Immer wird das vergegenständlicht, was auf keine Weise Gegenstand (Argument) ist, und dadurch wird die Differenz getilgt zwischen dem Gegenstand und seinem Horizont oder zwischen Ding (Ware) und Welt. Diese Differenz ist die religiöse Dimension, wie sie sich bei Kierkegaard und Baudelaire christlich ausspricht, aber als die religiöse Dimension der Moderne wird ihre Sprache auch »dionysisch« (Nietzsche) oder »dichterisch« (Heidegger) oder jüdisch (Rosenzweig und Lévinas) sein; daß sie auch »metaphysisch« zu sein vermöchte, scheint bei Wittgenstein und Adorno vor.401 Die Zeilen lassen unmittelbar gelesen den Freund als einen gemeinen Heuchler erscheinen. Seine Ökonomie ist zugleich (à la fois) Religion (nach der calvinistischen Maxime des Frühkapitalismus), aber solche Religion ist im Horizont der industriellen Produktion nur Ökonomie, insofern diese sich jetzt als Religion reproduziert, d. h. simuliert. Und da die wahre Religion der Baudelaireschen Moderne die des Gott-Menschen in Knechtsgestalt ist, dem der Erzähler und sein Freund als dem

401

»Es gibt eine universale Religion, gemacht für die Alchemisten des Gedankens, eine Religion, die sich vom Menschen, betrachtet als göttliches Memento, ablöst.« (Il y a une religion universelle, faite pour les Alchimistes de la Pensée, une religion qui se dégage de l’homme, considéré comme mémento divin.) Ch. Baudelaire: Mon coeur mis à nu, vgl. o. Anm. 83, hier S. 636, Nr. 46(31).

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Armen begegneten, steht sie hier ein für die moderne Poetik des Erstaunens und der Träumerei, die die Maxime des Erzählers zusammenfaßte, und die das Echo des Freundes korrumpierte. Dessen Gott ist in Wahrheit nicht der Gott-Mensch in Knechtsgestalt, sondern der »Rachegott« des »Salon 1859«, der seine Anbeter in der Simulation festhält, der sie durch ihre Reproduktion zu entkommen hoffen – sei diese Reproduktion naiv, wie bei der photographiegläubigen Menge, sei sie gelehrt, wie bei der heidnischen Schule: »Pastiche, pastiche!« »Ich hätte ihm beinahe das Begehren nach dem kriminellem Genuß verziehen, dessen ich ihn soeben für fähig hielt; ich hätte es merkwürdig, absonderlich gefunden, daß er sich damit vergnügte, die Armen bloßzustellen; aber ich werde ihm niemals die Albernheit seines Kalküls verzeihen. Man ist niemals entschuldbar, boshaft zu sein, aber es liegt einiges Verdienst darin, zu wissen, daß man es ist; und das schlechterdings nicht wieder gutzumachende Laster ist dies, das Üble aus Dummheit zu tun.« Hier kommt zum Vorschein, daß der Freund nicht der Andere ist; denn dem Anderen – er erschien in der Gestalt des Armen – hat das moderne Ich nichts zu verzeihen, indem vielmehr einzig er es ist, der zu verzeihen vermöchte. Aber sich selber gegenüber ist das Ich in der Möglichkeit, zu verzeihen, und so ist der Freund das alter ego des Erzählers. Baudelaire hatte ja selber, wie die beiden Gedichte »La muse vénale« und »La muse malade« sehen lassen, seine »neuheidnische« Phase. Nun ist das moderne Ich seit Poe und De Quinceys »On Murder Considered as One of the Fine Arts« (1827) gezeichnet vom »Begehren nach dem kriminellem Genuß«,402 der unmittelbar vier Motive hat: 1) er ist das Ausscheren aus der Durchschnittlichkeit oder Normalität, die die Signatur der industriellen Massengesellschaft ist;403 2) dadurch eine Bewußtseinserweiterung im Sinn der künstlichen Paradiese und so 3) eine Steigerung des Machtgefühls des intentionalen Ich, das als der Rächer – des Entzugs von Gegenwart – am Bisherigen auftritt,404 und 4) die Regression in den vorbewußten, und so auch vorgeschichtlichen, »vitalen« Ursprung von Gegenwart. Diese Motive finden sich bereits in Mary Shelleys »Frankenstein« (1818) und dann im Werk Poes. Baudelaire par402

Dies Begehren, der Metaphysik im ganzen und insbesondere der Renaissance nicht unbekannt, scheint u. a. in de Sade seinen Vorfahren zu haben. Aber das Verbrechen im neuzeitlichen Horizont ist die Verkehrung der absoluten moralischen Weltordnung, während das moderne Verbrechen, schon bei Poe, den Charakter der Verkehrung der positiven sozialen Ordnung hat. Je nach dem kann es darum Verbrechen in der Anerkennung des (entrechteten) Andern oder auch solipsistischer Natur sein. 403 Vgl. J. Link, o. Anm. 3. 404 Vgl. AsZ, Von der Erlösung.

Falschgeld

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tizipiert an ihnen durch die literarische Strömung des Satanismus,405 den noch das Prosagedicht »Der schlechte Glaser«406 bezeugt, wo es zum Schluß heißt: »Aber was bedeutet die Ewigkeit der Verdammnis dem, der in einer Sekunde das Unendliche des Genusses gefunden hat?« Es wird darum verständlich, warum der Erzähler dem Freund das Begehren nach dem kriminellen Genuß beinahe verzeiht, aber auch nur beinahe. Hat er solchen Genuß doch selber im Ausdenken der Möglichkeiten oder als Gedankenexperiment, d. h. gleichsam im voraus genossen. Das Vergnügen, die Armen bloßzustellen, hat die Charakteristika des Erstaunlichen. Es ist »merkwürdig, absonderlich« – absonderlich war schon die Umverteilung des Geldes, die der Freund anfangs vornahm und dadurch die Aufmerksameit des Erzählers weckte. Daß dieser aber nur beinahe und nicht wirklich verzeiht, gründet darin, daß der Freund das alter ego ist. Der Preis, die experimentelle Simulation oder die Poesie in Wirklichkeit zu transformieren, wäre der, das Leben selber zur Simulation werden zu lassen, wie in »Verprügeln wir die Armen!« die Praxis der Weltverbesserer parodiert wird. Der Erzähler taucht hier aus einer vierzehn Tage währenden Lektüre von Büchern auf, »wo von der Kunst gehandelt wird, die Völker binnen vierundzwanzig Stunden glücklich, weise und reich zu machen«. Und in »Der schlechte Glaser« heißt es nach der Tat: »Und trunken von meinem Wahn rief ich ihm wild zu: ›Das Leben in Schönheit! Das Leben in Schönheit!‹«. Aber etwas anderes wird der Erzähler dem alter ego niemals verzeihen – das »niemals« weist darauf hin, daß der Gedanke hier aus der Zeit als dem Horizont möglichen Tuns zurückgeht in dessen poietischen Grund, wie das Ich soeben »ins Weiß der Augen« des Freunds geschaut hatte. Wie die Kunst aus dem Ewigen und Unveränderlichen einerseits und dem Transitorischen, Flüchtigen, Kontingenten anderseits besteht,407 besteht das poetische Talent aus dem unwillkürlichen Vermögen (faculté gratuite) der Inspiration, das durch die »bewundernswerte Methode« von Analyse, Kombination und Kalkül ins Werk gesetzt wird.408 Und was der Erzähler dem alter ego nicht verzeihen kann, ist die Albernheit seines Kalküls. Er gehört nach »Die Entstehung eines Gedichts« der Seite des Willens zu gegenüber der »faculté gratuite« der Inspiration. Der poetische Wille ist es, zu dem der Künstler dies unwillkürliche Vermögen zu bilden hat. Wenn er sich daran nicht von früh an

405

Vgl. die drei Gedichte »Le reniement de Saint Pierre«, »Abel et Cain« und »Les litanies de Satan« der Abteilung »Révolte« der FdM. 406 PPP IX. 407 Der Maler des modernen Lebens, IV. 408 Vgl. o. Anm. 93, hier S. 153.

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gewöhnt – und »was der Mund sich zu sagen gewöhnt, daran gewöhnt das Herz sich zu glauben«409 –, dann ergeht es ihm wie dem Vertreter der heidnischen Schule: »Das Nützliche, das Wahre, das Gute, das wahrhaft Liebenswürdige, all diese Dinge werden ihm unbekannt bleiben. Eingelullt (infatué) in seinen ermüdenden Traum, wird er die andern in ihn einlullen und mit ihm ermüden wollen.«410 Auch das alter ego hat das ermüdende Vermögen der Träumerei; aber solcher Traum, der den Willen dazu drängt, auch die andern in ihn einzulullen, ist die egoistische, »mörderische und selbstmörderische«, die bewußtlose, d. h. die reproduktive Simulation. Deshalb ist nicht der Kalkül als solcher albern, nicht der poetische Kalkül Poes, sondern der Kalkül der Reproduktion, der das existenzielle Entweder-Oder tilgt. Die Bosheit als solche ist unentschuldbar, aber religiös gesprochen ist sie Erbteil der Menschheit, geschichtlich, als das ökonomische Denken, die Signatur der gegenwärtigen Gesellschaft. In ihr gilt aber für Baudelaire nicht minder wie dann für Nietzsche der Imperativ des Wachseins. Nunmehr, schreibt Nietzsche in der Vorrede zu »Jenseits von Gut und Böse«, wo der »langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer«, nämlich der Platonismus »überwunden ist, wo Europa von diesem Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen – Schlafs geniessen darf, sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist, die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irrthum grossgezüchtet hat«. Wie Baudelaire in »Die heidnische Schule«, freilich in anderer Perspektive, erkennt auch Nietzsche, daß die Anstrengungen der voraufgegangenen Gesellschaft verleugnen Selbstmord begehen, die Kraft und Mittel der Vervollkommnung verweigern heißt. Wie für ihn ist für Baudelaire die Aufgabe das Wachsein selbst, nämlich, anders als für Schopenhauer, aber wie für Wagner, Marx und Nietzsche, die Bejahung des Willens, d. h. der ursprünglichen Produktivität, als bewußte Intentionalität, die, wie die Vorrede zur Übersetzung von Poes »Philosophie der Komposition« sehen läßt, der poetische Wille ist. Die Albernheit des Kalküls ist die Bewußtlosigkeit über das ursprüngliche Motiv der geschichtlichen Gegenwart. Zu wissen, daß ihr und ihrem Übel nicht zu entkommen ist, hat daher genau genommen nicht nur »einiges Verdienst«, sondern ist alles in dieser Gegenwart mögliche Verdienst. Sehr genau spricht das der Schlußteil des Gedichts »L’irrémédiable«411 aus, wo es

409 410 411

Die heidnische Schule. Ebd. FdM LXXXIV.

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nach der Evokation von fünf Gestalten des Falls in die Verschlossenheit der Existenz412 heißt: Zweisamkeit, düster-hell: Ein Herz, sich sein Spiegel geworden! Schacht der Wahrheit, leuchtend-schwarz, Wo ein fahler Stern zittert, Ein Leuchtturm ironisch-infernal, Fackel satanischer Huld, Einzige Linderung und Glorie – Das Bewußtsein im Übel!413 In »Falschgeld« ist freilich nicht vom Unheilbaren, sondern vom schlechterdings nicht wieder gutzumachenden Laster die Rede, das Üble aus Dummheit zu tun. In »L’irréparable«,414 »L’irrémédiable« nah verwandt, nagt das nicht wieder Gutzumachende »mit seinem verfluchten Zahn / An unsrer Seele«.415 Es selbst oder doch sein Begleiter ist das Unaufhebbare (l’irrémissible), die Reue (le Remords), die Kierkegaard entdeckt hatte als das Bewußtsein der vertanen Existenz. Entsprechend wird Nietzsche sie bestimmen als »Rache an sich selber«.416 Ist also das Irreparable die Existenz als die eigentliche Zeit, selber schon Reue, dann ist das schlechterdings irreparable Laster die Bewußtlosigkeit der Existenz, die Baudelaire hier wie sonst Dummheit (bêtise) nennt, nicht eigentlich das Tierische im Menschen, sondern seine selbstverschuldete Vertierung, Bewußtlosigkeit der Welt in der Welt, die selber das Übel ist.

412

Die achte Strophe faßt sie zusammen: »– Deutliche Embleme, ein vollkommnes Bild / Eines unheilbaren Schicksals, / Das zu denken gibt, der Teufel / Mache immer gut, was immer er macht!« (– Emblèmes nets, tableau parfait / D’une fortune irrémédiable, / Qui donne à penser que le Diable / Fait toujours bien tout ce qu’il fait!). 413 Tête-à-tête sombre et limpide / Qu’un coeur devenu son miroir! / Puits de Vérité, clair et noir, / Où tremble une étoile livide, // Un phare ironique, infernal, / Flambeau des grâces sataniques, / Soulagement et gloire uniques / – La conscience dans le Mal! Das ist das Bewußtsein des Gott-Menschen in Knechtsgestalt in einer gegen das »Ideal« (»l’azur« der ersten Strophe – vgl. Mallarmés gleichnamiges Gedicht) in sich verschlossenen Welt, die, in einer für die Moderne charakteristischen gnostisierenden Analogie, Produkt eines teuflischen Demiurgen ist. 414 FdM LIV. 415 Vgl. »L’ennemi« (FdM X): »[…] Die Zeit verzehrt das Leben, / Und der dunkle Feind, der uns am Herzen nagt, / Wächst und gedeiht vom Blut, das wir verlieren!« ([…] Le Temps mange la vie, / Et l’obscur Ennemi qui nous ronge le coeur / Du sang que nous perdons croît et se fortifie!) Vgl. als Pendant zu »L’irréparable« auch »Réversibilité« (FdM XLIV). 416 F. Nietzsche, KGA VII.1.16[90], S. 558.

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Und hier kommt, über die Mitte des Begriffs des Irreparablen bzw. der Reue, die Identität zum Vorschein, die den Freund zum alter ego des Erzählers macht. Baudelaire selber war einen existenziellen Augenblick lang Anhänger der heidnischen Schule, und der Freund ist der Repräsentant der eignen vertanen Existenz – Falschgeld –, die sein Echo der poetischen Maxime des Erzählers diesem plötzlich, wiewohl mit einem Erstaunen, das alles andre ist als ein »Vergnügen«, vor das innere Auge stellt. Was ihm aufgeht, ist die Existenz als das Unheilbare. Ihrer nicht bewußt (gewesen) zu sein, nicht immer schon bereut zu haben, ist das nicht wieder Gutzumachende. Und dem Freund, d. h. jetzt sich selber niemals verzeihen zu können, ist die Wahrheit der Existenz als diese Reue, das im Augenblick erreichte Ziel der modernen Poesie Baudelaires: »Einzige Linderung und Glorie – Das Bewußtsein im Übel!«

… ein modernes und abstrakteres Leben417 »Mein lieber Freund, ich sende Ihnen ein Werkchen, von dem man ohne unrecht zu tun nicht sagen könnte, es habe weder Schwanz noch Kopf, weil im Gegenteil darin alles zugleich Kopf und Schwanz ist, wechselweise und wechselseitig. Beachten Sie bitte, was für bewundernswerte Bequemlichkeiten diese Kombination uns allen bietet, Ihnen, mir und dem Leser. Wir können unterbrechen (couper), wo wir wollen, ich meine Träumerei, Sie das Manuskript, der Leser seine Lektüre; denn ich hänge dessen widerspenstigen Willen nicht am endlosen Faden einer überflüssigen Intrige auf. Nehmen Sie einen Wirbel fort, und die beiden Stücke dieser gewundenen Fantasie werden sich mühelos wieder vereinigen. Zerhauen Sie sie in zahlreiche Fragmente, und Sie werden sehen, daß jedes für sich existieren kann. In der Hoffnung, daß einige dieser Bruchstücke lebendig genug sind, Ihnen zu gefallen und sie zu unterhalten, wage ich, Ihnen die Schlange ganz zu dedizieren. / Ich habe Ihnen ein kleines Geständnis (confession) zu machen. Es war, als ich, mindestens zum zwanzigsten Mal, den berühmten Gaspard de la Nuit von Aloysius Bertrand durchblätterte (hat ein Ihnen, mir und einigen unsrer Freunde bekanntes Buch nicht alles Recht, berühmt genannt zu werden?), daß mir der Gedanke kam, etwas Ähnliches (d’analogue) zu versuchen und auf die Beschreibung des modernen Lebens, oder eher eines modernen und abstrakteren Lebens, das Verfahren anzuwenden, das er auf die Schilderung des alten, so befremdlich pittoresken Lebens ange417

Die Widmung an Arsène Houssaie erschien zusammen mit zwanzig Prosagedichten im August/September 1862 in »La Presse«.

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wandt hatte. / Wer von uns hat sich in seinen ehrgeizigen Tagen nicht das Wunder einer poetischen Prosa erträumt, musikalisch ohne Rhythmus und ohne Reim, biegsam genug und verknappt (heurtée) genug, sich den lyrischen Regungen der Seele anzupassen, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Erschütterungen (soubresauts) des Bewußtseins? / Es ist vor allem das sich Umtun (fréquentation) in den maßlosen (énormes) Städten, das Sichkreuzen ihrer unzähligen Beziehungen, woraus dies obsedierende Ideal sich gebiert. Haben Sie nicht selbst, mein lieber Freund, versucht, den gellenden Ruf des Glasers in ein Lied zu übersetzen und in einer lyrischen Prosa all die trostlosen Suggestionen auszudrücken, die dieser Ruf bis in die Mansarden trägt durch die dichtesten Nebel der Straße? / Aber um die Wahrheit zu sagen fürchte ich, daß mein Eifer mir kein Glück gebracht hat. Sobald ich mit der Arbeit begonnen hatte, bemerkte ich, daß ich nicht nur weit ab blieb von meinem geheimnisvollen und glänzenden Modell, sondern auch, daß ich etwas absonderlich Verschiedenes machte (wenn derlei sich Etwas nennen kann), ein unerwartetes Ergebnis (accident), auf das jeder andre als ich zweifellos stolz gewesen wäre, das aber einen Geist nur tief demütigen kann, der es als die größte Ehre des Dichters betrachtet, genau (juste) das zustandezubringen, was er sich zu tun vorgesetzt hat. Ihr Ihnen sehr ergebener C. B.« Arsène Houssaye, in den gängigen Literaturgeschichten nicht erwähnt und von Marcel A. Ruff kurz als »Homme de lettres, poète médiocre (1815–1896)«418 apostrophiert, war seinerzeit Herausgeber der Journale »La Presse« und »L’artiste«. Baudelaire hatte ihm bereits 1861 als Sammeltitel seiner Prosagedichte vorgeschlagen: »Der Schimmer und der Rauch« (La Lueur et la Fumée). Die Anrede »Mon cher ami« erlaubt nicht, auf eine wirkliche Freundschaft zu schließen419 – man kannte einander im Kreis der Pariser Literaten, und selbstverständlich ist der freie Schriftsteller von seinen Herausgebern ökonomisch abhängig. Was Baudelaire zuletzt von ihnen hielt, ist nachzulesen in »Mon coeur mis à

418

Vgl. o. Anm. 83, hier S. 302, Nr. 47. Anders z. B. als mit Baudelaire war Houssaye mit dem Verleger Hetzel auf Du. Vgl. den Brief, mit dem Hetzel Houssaye zur Publikation der Prosagedichte auffordert (in der Einleitung zur Ausgabe Paris 1962, éd. H. Lemaitre, S. III): »Ich möchte Dir dies in Flammenlettern schreiben […]. Baudelaire ist unser alter Freund, was nichts heißt, denn wir haben zu viele Freunde; aber er ist gewiß der originellste Prosaautor und der persönlichste Dichter dieser Zeit«. 419

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nu«420: »Les directeurs de Journaux […] Liste de canailles«;421 unter den neun Namen findet sich auch Houssaye. Einem freien Assoziieren à la Derrida gibt der Houssaie vorgeschlagene Titel »La Lueur et la Fumée« zu denken. Denn von »Arsène« zu »arsenic« ist weder assoziativ noch etymologisch ein weiter Weg,422 und »fumée d’arsenic« oder »fumée arsenicale« heißt »Hüttenrauch« (der Industrie). So stünde »Lueur« für »Idéal« und »Fumée« für »Spleen« (»de Paris«). Da Baudelaire den Dichter als Alchemisten versteht, könnte er leicht mit dem alchemistischen Terminus Arsenicum vertraut gewesen sein. C. G. Jung schreibt: »Nicht alles nämlich, was die Alchemie als ›Arsen‹ bezeichnet, ist wirklich As. ›Arsen‹ heißt ursprünglich das ›Männliche‹ (=ρσην) und ist wesentlich Arcanum wie das RULANDsche Lexikon von 1612 noch beweist. Dort ist Arsenicum ein ›hermaphrodith, das Mittel dadurch Schwefel und Mercurius zusammen vereiniget werden, hat Gemeinschafft mit beyden Naturen, darumb wirdt er Sol und Luna genennet‹. Oder Arsenicum ist ›Luna, unser Venus, Schwefels’ Gesell‹ und die ›Seele‹. Hier ist Arsenik nicht mehr der männliche Aspekt der Arkansubstanz, sondern der hermaphroditische, ja sogar weibliche. Damit gerät der Arsenik in die verdächtige Nähe des Mondes und des rohen Schwefels und büßt seine Sonnenverwandtschaft ein. Als ›Schwefels’ Gesell‹ ist er darum wohl giftig, wie dieser brennend ist.«423 Wenn sich der Derrida durch die Analogie von »Falschgeld« und »Die Augen der Armen« nahelegende Verdacht einer homoerotischen Beziehung zwischen den beiden Freunden erhärten ließe, dann hier und in diesem Sinn. Denn das alchemistische Arsen erweist sich als das Tertium comparationis zwischen dem Freund in »Falschgeld« und dem »lieben Engel« von »Die Augen der Armen«, wo es heißt: »[…] ich tauchte in Ihre so schönen und so bizarr-sanften Augen, die von der Laune (le Caprice) bewohnt und vom Mond (la Lune) inspiriert werden«. Ist das Arsen »Luna, unser Venus, Schwefels’ Gesell«, dann läßt sich mit Jung weiter assoziieren: »Seiner durchgehenden Doppelheit entsprechend, ist der Schwefel einerseits körperlich und irdisch, andererseits ein okkultes, geistiges Prinzip. Als irdischer Stoff stammt er aus der ›Fettigkeit der Erde‹ (ex pinguedine terrae), worunter das humidum radicale als die prima materia zu verstehen ist. Er wird gelegentlich bezeichnet als ›cinis extractus a cinere‹ (Asche aus Asche ausgezogen). ›Asche‹ ist ein 420

Vgl. o. Anm. 401, hier S. 636, Nr.43(28). In derselben Notiz ist die Rede von der »Pedanterie« (cuistrerie) und den »netten großen Männern des Tages«. 422 Literarisch à la mode war Arsen durch »Madame Bovary«; Baudelaire hatte Flauberts Roman noch im Jahr seines Erscheinens 1857 ausführlich besprochen. 423 C.G. Jung: Mysterium conjunctionis (GW 14/1), Olten 1971, S. 179. 421

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Inbegriff des ›untenbleibenden‹ Körperlichen und der zurückbleibenden Schlacke, womit die chthonische Natur des Schwefels fast hyperbolisch betont ist. Er ist als männlich gedacht, insofern er rot ist. Unter diesem Aspekt stellt er das Gold resp. Sol dar.«424 Eine Art von Eisen(III)-oxyd, die durch Glühen von Eisensulfaten mit Zusätzen gewonnen wird und sich durch schöne rote Farbe auszeichnet, hieß bei den Alchemisten caput mortuum,425 was Baudelaire ebenfalls bekannt gewesen sein dürfte. Das führt auf das Gedicht »L’amour et le crâne (Vieux cul-de-lampe)«,426 das den Baudelaireschen Amour-Begriff und sein Urteil über die heidnische Schule engführt. Es übersetzt einen Stich von Hendrik Goltzius (1558–1617) mit dem Titel »Wer wird entrinnen?« (Quis evadet?). Das erste Distichon darunter lautet: »Dies kurze mit Gewißheit dem Tod verfallene Leben vergeht im Augenblick wie der Rauch, die Seifenblase und die Blüte.«427 Der alchemistische Kontext läßt näher sehen, warum die Poetik des Falschgelds ihren Ausgang vom Tabakladen nimmt. »Es wird immer nützlich sein«, hieß es in der Vorrede zur Übersetzung von Poes »Philosophie der Komposition«, »die Weltmenschen sehen zu lassen, was für eine Mühe dieser Luxusgegenstand abverlangt, den man Poesie nennt«. Sie ist ein Luxusgegenstand wie der Tabak, der sich durch Verbrennung in Rauch (fumée) und Asche (cendres) trennt. Hierzu Jung: »Da die Alchemie sich bestrebt, ein unverwesliches corpus glorificationis herzustellen, so hat sie, wenn ihre Absicht gelingt, in der albedo (Weißung) jenen Zustand des Körpers erreicht, welcher, als makellos, der Zersetzung keine Möglichkeit mehr bietet. Daher wird der weiße Körper der Asche (cinis) als ›diadema cordis‹ oder unter dem Synonym ›terra alba foliata‹ (geblätterte weiße Erde) als ›corona victoriae‹ bezeichnet. […] Cinis ist bei SENIOR synonym mit ›vitrum‹ (Glas), das um seiner Inkorruptibilität und diaphanitas willen dem gesuchten Körper nahezukommen schien.«428 »Tu m’as donné ta boue et j’en ai fait de l’or«, hieß es in der Skizze zum Epilog der zweiten Auflage der »Fleurs du Mal«.429 Über Arsen, Schwefel, Asche sind Alchemie, Tabak, Poesie, Poetik und speziell die Prosagedichte miteinander verknüpft. Das Arsenicum ist »Schwefels’ Gesell«, der als »Asche aus Asche« wiederum für das alchemisch-poeti424

Ebd., S. 122 (ohne die Belege). Der große Brockhaus, Wiesbaden 1953, s. v. 426 FdM CXVII. 427 Momento breuis haec, certeque obnoxia morti / Vita, quasi fumus, bullula, flosque perit. 428 C.G. Jung: a. a. O., S. 261 f. 429 S. o. Anm. 88. 425

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sche Gold steht.430 Dieses ist »terra alba foliata«, das aus dem Kot von Paris gemachte Buch als das poetische Glas, das der ästhetische Erzähler in »Der schlechte Glaser« sich als »La vie en beau!« vom armen Glaser wünscht, der seine Rolle auch in der Widmung der Prosagedichte an Arsène Houssaie spielt. Sie ist ihrerseits eine Poetik. Baudelaire denkt die Serie der Prosagedichte als eine anfangs- und endelose Kette, die gleichwohl das selbständige Leben einer Schlange lebt. Dies technisch-organische Amalgam431 ist eine Beschreibung der modernen Schönheit.432 Das nur um den Preis des Schmerzes poetisch aufzuhaltende Verschwinden der Produktion im Produkt spricht Baudelaire am Anfang von »Die philosophische Kunst« so aus: »Was ist die reine Kunst nach der modernen Konzeption? Dies, eine suggestive Magie zu schaffen, die zugleich das Objekt und das Subjekt, die dem Künstler äußere Welt und den Künstler selbst enthält.«433 Der Schönheit als Schlange sind zwei Gedichte gewidmet, eines ohne Titel,434 eines unter dem Titel »Le serpent qui danse«.435 Das erste lautet: Mit ihrem wallenden Kleid im Perlmutterglanz Möchte man glauben, daß sie auch tanzt, wenn sie geht, Wie diese langen Schlangen, die die heiligen Gaukler An der Spitze ihrer Stäbe im Takt wiegen. Wie der matte Sand und das Azur der Wüsten, Unempfindlich beide für das menschliche Leiden, Wie die langen Netze der Dünung der See, Entfaltet sie sich mit Gleichgültigkeit.

430

In »Un fantôme« (FdM XXXVIII/IV) heißt es: »Die Krankheit und der Tod machen Asche / Aus all dem Feuer, das für uns leuchtete […] // Schwarzer Mörder des Lebens und der Kunst [sc. die Zeit], / Niemals wirst du in meinem Gedächtnis / Die töten, die meine Lust und meine Glorie war!« (La Maladie et la Mort font des cendres / […] / De tout le feu qui pour nous flamboya […] // Noir assassin de la Vie et de l’Art, / Tu ne tueras jamais dans ma mémoire / Celle qui fut mon plaisir et ma gloire!). Vgl. das Gedicht ohne Titel »Je te donne ces vers afin que si mon nom« etc. (FdM XXXIX). 431 Baudelaire braucht das Wort in »Der Thyrsus« (PPP XXXII): »allmächtiges und ununterscheidbares Amalgam des Genies, welcher Analytiker wird den abscheulichen Mut haben, euch zu unterscheiden und zu trennen?« (amalgame tout-puissant et indivisible du génie, quel analyste aura le détestable courage de vous diviser et de vous séparer?) 432 Vgl. »La beauté«, FdM XVII. 433 Qu’est-ce que l’art pur suivant la conception moderne? C’est créer une magie suggestive contenant à la fois l’objet et le sujet, le monde extérieur à l’artiste et l’artiste lui-même. Vgl. o. Anm. 47, hier S. 503. 434 FdM XXVII. 435 FdM XXVIII.

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Ihre glatten Augen sind aus bezaubernden Mineralen gemacht, Und in dieser fremdartigen und symbolischen Natur, Wo der unberührte Engel sich mit der antiken Sphinx mischt, Wo alles nur Gold, Stahl, Licht und Diamanten ist, Funkelt für immer, wie ein unnützer Stern, Die kalte Majestät der sterilen Frau.436 Die Reihe der Gedichte ist also Kopf – Schwanz – Kopf – Schwanz … (alternativement) und zugleich Schwanz – Kopf – Schwanz – Kopf … (réciproquement). Jedes Glied der ganzen Schlange ist wie jedes andere, indem jedes zugleich die ganze Schlange ist; oder das poetische Produkt ist nicht nur Element einer Serie, sondern zeigt an ihm selbst seine Serialität. Es ist ein technisches Produkt wie die Ware und hat daher auch deren Vorteile für den Zwischenhändler (vous), den Produzenten (moi) und den Konsumenten (le lecteur). Denn jeder kann die Serie nach Belieben abbrechen, der Produzent die poetische Produktion (ma rêverie), der Zwischenhändler die Verteilung im Journal (le manuscrit), der Konsument den Gebrauch (sa lecture). Dessen Wille ist widerspenstig, weil der Wille überhaupt die ursprüngliche Produktivität ist. Die Rhetorik der Ware besteht darin, 1) den Menschen, der an sich Produzent ist, dadurch zum Konsumenten zu machen, daß er seiner ursprünglichen Produktivität in der Ware zu begegnen glaubt, und dadurch umgekehrt 2) den Konsumenten glauben zu machen, daß er durch den Gebrauch/Verbrauch der Ware an der ursprünglichen Produktivität partizipiert. In der Warenwelt ist dies allerdings Simulation – nicht so in der Kunstwelt, in der das Produkt kraft des in ihm erinnerten Schmerzes437 den Konsumenten transitorisch in sein Menschenwesen zurückruft.438 Ganz im Sinn der Poeschen »Philosophie der Komposition« erteilt Baudelaire der Kunstform des Romans (dessen hervorragendste zeitgenössische Vertreter für ihn Balzac und

436

Avec ses vêtements ondoyants et nacrés, / Même quand elle marche on croirait qu’elle danse, / Comme ces longs serpents que les jongleurs sacrés / Au bout de leurs bâtons agitent en cadence. // Comme le sable morne et l’azur des déserts, / Insensibles tous deux à l’humaine souffrance, / Comme les longs réseaux de la houle des mers, / Elle se développe avec indifférence. // Ses yeux polis sont faits de minéraux charmants, / Et dans cette nature étrange et symbolique / Où l’ange inviolé se mêle au sphinx antique, // Où tout n’est qu’or, acier, lumière et diamants, / Resplendit à jamais, comme un astre inutile, / La froide majesté de la femme sterile. 437 In »Falschgeld« etwa ist dies die im Bewußtsein des Erzählers reflektierte Begegnung mit dem Armen. 438 Zum prekären Status des Wagnerschen Bühnenkunstwerks in dieser Hinsicht vgl. o. Kapitel III, Die Verschiebung der Schuld, S. 136.

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Flaubert waren) eine schroffe Absage: was der Roman einzig hinzubringt, ist der »endlose Faden einer überflüssigen Intrige«. Poe hatte geschrieben: »Es erscheint evident, […] daß es für alle Werke der literarischen Kunst hinsichtlich der Länge eine bestimmte Grenze gibt – die Grenze einer einzigen Sitzung – und daß, obwohl in gewissen Klassen der Prosakomposition, wie ›Robinson Crusoe‹, (die keiner Einheit bedürfen), diese Grenze mit Vorteil übertreten werden darf, sie niemals schicklich übertreten werden kann in einem Gedicht. […] denn es ist klar, daß die Kürze in direktem Verhältnis zur Intensität des beabsichtigten Effekts stehen muß«.439 Die »gewundene Fantasie« der Serie, das Produkt der Serialisierung der produktiven Träumerei, kann also jederzeit und überall aufgebrochen werden; auch die Gewalttätigkeit des technischen, kommerziellen bzw. konsumptiven Umgangs mit ihr (»Zerhauen Sie sie in zahlreiche Fragmente«) kann der poetischen Existenz als dem Leben des Produkts nichts anhaben. Im Gegenteil erweist sich darin erst die untrennbare Einheit von Produkt und Produktivität. Soviel, im ersten Absatz, zum Produkt; der zweite geht über zur Produktion, die zunächst den Charakter bloßer Reproduktion zu haben scheint. Baudelaire hat Houssaie »ein kleines Geständnis« zu machen – kein großes, wie es in »Confession«,440 einem Herzstück der »Fleurs du Mal«, aufklingt; aber wenn bei Baudelaire von Geständnis die Rede ist, dann, wegen des Zusammenhangs mit der Reue, auch vom Menschenwesen, hier also von der poetischen Produktion: Er hat versucht, das poetische Verfahren des »Gaspard de la Nuit« zu reproduzieren und anders anzuwenden. Im Entwurf des Briefes spricht er von »imitieren«;441 in einem Brief an Houssaie von Weihnachten 1861 heißt es sogar »pastiche«442 – und »Pastiche, pastiche!« ist der Vorwurf, den er der heidnischen Schule macht. Bertrands Verfahren wollte er nicht auf »das alte und pittoreske«, sondern »auf das moderne und abstrakte Leben« anwenden.443 Der ursprüngliche Plan war mithin der, das Verfahren, den Kalkül Bertrands zu reproduzieren, die Anwendung hingegen kraft einer neuen Inspiration zu transformieren: statt des alten das moderne und also statt des pittoresken das abstrakte Leben zu

439

Vgl. o. Anm. 93. FdM XLV. 441 »Und dann, daß ich von Anfang an etwas anderes machte, als was ich imitieren wollte. » (Et puis dès le principe, que je faisais autre chose que ce que je voulais imiter.) 442 »Aber ich habe sehr bald das Gefühl gehabt, daß ich in diesem Pasticcio nicht fortfahren könne und daß das Werk unnachahmlich sei« ([…], mais j’ai bien vite senti que je ne pourrais pas persévérer dans ce pastiche et que l’oeuvre était inimitable.) 443 Entwurf. 440

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beschreiben. Dem pittoresken Leben, dem Genre, wird als das geschichtlich neue das abstrakte, genauer, im endgültigen Text, ein modernes und abstrakteres Leben gegenübergestellt, nämlich das der maßlosen Städte444 im Sichkreuzen ihrer unzähligen Beziehungen. Das ist von Anfang an das Thema der modernen Poetik Baudelaires, der den »Salon 1846«445 mit dem Satz schließt: »Denn die Helden der Ilias können Euch nicht das Wasser reichen, oh Vautrin, oh Rastignac, oh Birotteau – und Euch, oh Fontanarès,446 der Ihr nicht gewagt habt, dem Publikum Eure Schmerzen zu erzählen unter dem verkrampften Trauerfrack, den wir alle tragen; – und Euch, oh Honoré de Balzac, der heroischsten, absonderlichsten, romantischsten und poetischsten von allen Gestalten, die Ihr je aus Eurem Busen gezogen habt.« Die »Kleinen Prosagedichte« verwirklichen mithin zugleich das Programm, die exemplarisch modernen Werke Balzacs (und Flauberts »Madame Bovary«)447 durch Verzicht auf den »endlosen Faden einer überflüssigen Intrige« an Modernität zu überbieten. Nun besteht das poetische Talent nach der Vorrede zur Übersetzung von Poes »Philosophie der Komposition« aus dem unwillkürlichen Vermögen der Inspiration und der Methode von Analyse, Kombination und Kalkül,448 der gegenüber jener »faculté gratuite« der Seite des Willens zugehört: »Der Stab ist Ihr Wille, gerade, fest und unerschütterlich; die Blüten das sich Ergehen Ihrer Fantasie um Ihren Willen […].«449 Bemerkenswert ist, daß die Inspiration hier als Ranke des Thyrsus erscheint. Im Unterschied zum willentlichen Kalkül ist sie sprachlichen Wesens, und wovon sie alle in ihren »ehrgeizigen Tagen« geträumt haben, ist »dies obsedierende Ideal« einer modernen Prosa, die vor allem das Produkt der maßlosen Städte im Sichkreuzen ihrer unzähligen Beziehungen ist. Bezeichnenderweise fehlt diese Einsicht noch im Brouillon. Sie lag aber gleichsam in der Luft. Auch Houssaye hatte ja, ebenfalls angeregt vom »Gaspard de la Nuit«, ein Phänomen nicht »des alten, so

444

Die Wendung »ville énorme« dürfte Baudelaire in Hugos »La ville disparue« in »La Légende des siècles« (1859) gefunden haben. 445 XVIII. Der Heroismus des modernen Lebens. 446 Gestalt aus Balzacs Stück »Les Ressources de Quinola« von 1842, das im Jahr 1588 spielt. 447 Baudelaire spricht in seiner Rezension vom »nervösen, pittoresken, subtilen, exakten Stil« und vom »pittoresken Arrangement«. 448 Baudelaire zitiert in diesem Zusammenhang ein »Lieblingsaxiom« Poes und fährt fort: »Dank dieser bewundernswerten Methode kann der Schriftsteller (compositeur) sein Werk am Schluß anfangen und, wenn er dazu Lust hat, an jedem beliebigen Teil arbeiten.« 449 Der Thyrsus, PPP XXXII.

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befremdlich pittoresken Lebens«, sondern eben dieses »modernen und abstrakteren Lebens« in ein chanson zu übersetzen versucht: »Er war ein Mann von fünfunddreißig Jahren, groß, bleich, mager, lange Haare, roter Bart: Jesus Christus und Paganini. Es war vier Uhr. Nichts als die untergehende Sonne zeigte sich in den Fenstern. Nicht Eine Stimme von oben stieg herab wie Manna auf den, der unten war. Dann wird unsereiner also Hungers sterben müssen, murmelte er zwischen seinen Zähnen. / Oh! Glaser!«450 Die Probe mag belegen, wie geläufig die Vorstellung des Gott-Menschen in Knechtsgestalt war.451 Was Baudelaire anziehen mußte, war das Mitleid; womit er keine Nachsicht haben konnte, war dessen Übersetzung in Sentimentalität statt in die erträumte moderne Prosa. Houssaye liefert eine Karikatur des Bertrandschen Verfahrens der Schilderung (peinture) des pittoresken Lebens, während es angesichts des Themas – Baudelaires »Der schlechte Glaser« zeigt, wie man das macht – darauf angekommen wäre, die Schilderung überhaupt durch die Beschreibung (description) zu ersetzen. Wie Baudelaire also in der »heidnischen Schule« mit einer Phase seiner eignen poetischen Existenz abrechnet, beschreibt er in der Widmung an Houssaye seine Ablösung von der Halbheit der »Schilderung«. Schien es doch den Verehrern des »Gaspard de la Nuit«, sie könnten dessen Thema durch ein moderneres ersetzen und gleichwohl an der Bertrandschen Prosa festhalten. Was Baudelaire in seinen ersten Versuchen à la Houssaye widerfährt, ist die Einsicht, daß das moderne Thema nur die Geburtsstätte, nicht die Inspiration des Prosagedichts sein kann. Sentimentalität und ihr ästhetischer Träger, der Kitsch, entstehen, wenn die Bedeutung die Form, die Semantik die Syntax unter sich begräbt: »Oh! Glaser!« Gewiß lehrte Bertrands Buch »das Wunder einer poetischen Prosa«, aber sie durfte gleichwohl nicht länger die Bertrandsche sein, wenn ihre Bestimmung nicht länger Schilderung, sondern Beschreibung zu sein hatte. Die ins Programm, Bertrands Verfahren festzuhalten und die Thematik zu verändern, unvermittelt einfallende Erinnerung an den gemeinsam geträumten Traum einer modernen Prosa belehrt also im Blick auf die Einleitung zu Poes »Philosophie der Komposition« wie »Der Thyrsus« darüber, daß nicht der Wille dem Kalkül, sondern dieser dem Willen zu folgen habe, der seinerseits nichts anderes zu tun hat, als die

450

PPP, S. 9, Anm. »Jesus Christus und Paganini«. Zur Christus-Künstler-Identifikation vgl. o. Anm. 30. 451

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Inspiration ins Werk zu setzen. Und diese Inspiration ist sprachlichen Wesen, die Inspiration derjenigen modernen Prosa, deren Geburtsstätte die »ville énorme« Paris ist. Der Vergleich zwischen »Der Thyrsus« und dem Kapitel »Die Modernität« aus dem »Maler des modernen Lebens« läßt sehen, daß der Stab des Thyrsus »l’éternel et l’immuable«, die Ranke hingegen »le transitoire, le fugitif, le contingent« ist. Das war es, was Houssaye nicht begriffen und was Baudelaire zu begreifen gelernt hatte. Der Abschied von der Poetik des »Gaspard de la Nuit« konnte nur ein vollständiger sein, weil er zugleich ein Abschied von der Reproduktion (imitation, pastiche) zu sein hatte. Das Thema ändern, aber das Verfahren festhalten wollen, hieße die Inspiration ersticken, denn diese hat nicht thematische (semantische), sondern sprachliche (syntaktische) Gestalt. Es ist daher weit mehr als die Ironie der Bescheidenheit, wenn Baudelaire zum Schluß bemerkt, daß die Entdeckung, Bertrand nicht folgen zu können, »einen Geist nur tief demütigen« konnte, »der es als die größte Ehre des Dichters betrachtet, genau das zustandezubringen, was er sich zu tun vorgesetzt hat«. Denn dies, sieht Baudelaire ein, ist allerdings die größte Ehre des Dichters, wie entsprechend in »Der Thyrsus« der Wille des Komponisten als »gerade, fest und unerschütterlich« gepriesen wird. Es ist gleichwohl nicht die höchste Ehre der Dichtung. Entsprechend glaubt Baudelaire Poe in »Die Entstehung eines Gedichts« entschuldigen zu müssen: »Hat er sich durch eine seltsame und unterhaltende Eitelkeit viel weniger inspiriert gemacht als er es von Natur war? Hat er das unwillkürliche Vermögen, das in ihm war, verkleinert, um den Anteil des Willens schöner zu machen? Ich wäre geneigt genug, es zu glauben; wiewohl man darüber nicht vergessen darf, daß sein Genie, so glühend und beweglich es war, leidenschaftlich eingenommen war von der Analyse, den Kombinationen und den Kalkülen.«452 Zum Schluß also demütigt sich der Dichter vor der Dichtung, lernt, daß nicht sein Wille gilt, sondern dessen Inspiration. Und diese Inspiration, nicht ein neues Thema, sondern ein neues Verfahren, ist der Traum der Sprache selbst, der der Gegenwart entspringt. Es ist daher auch weit mehr als die Ironie der Bescheidenheit, wenn Baudelaire daran zweifelt, daß das, was er im Unterschied zu dem Vorbild, das er reproduzieren wollte – und er wollte hervorbringen, was die heidnische Schule in der Tat hervorbrachte: Imitation und Pastiche –, überhaupt noch Etwas ist. Denn in der Tat ist diese Baudelairesche Hervorhebung in Klammern – »(si cela peut s’appeler quelque chose)« – der heimliche 452

Vgl. o. Anm. 93.

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Drehpunkt der ganzen Widmung. Die »petits poèmes en prose«, diese neuen Produkte der modernen Poesie, sind eben darum Produkte der modernen Poesie, weil sie die ursprüngliche Produktivität (»Inspiration«), die von den Produkten der modernen Welt verschluckt wird, so sehr zum Vorschein bringen, daß darüber ihr Produktcharakter (»Etwas«) fraglich wird. Darin übertreffen sie noch die Gedichte der »Fleurs du Mal«, daß sie, »musikalisch ohne Rhythmus und ohne Reim, biegsam genug und verknappt genug« sind, »sich den lyrischen Regungen der Seele anzupassen, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Erschütterungen des Bewußtseins«, d. h. den Prozeß der Produktion selbst widerspiegeln. Die Widmung hat, eingefaßt von der als Titel dienenden Anrede und der Signatur, fünf Absätze. Der erste Absatz handelt von den Gedichten rein als Produkten, d. h. als Waren. Sie haben die Aufgabe, zu gefallen und zu unterhalten, sind, wie es »Die Entstehung eines Gedichts« sagt, Luxusgegenstände wie auf seine Weise der Tabak. Der zweite Absatz handelt von der Produktion, aber nur von der Produktion von Waren, d. h. von der Reproduktion. Das von Bertrand entwickelte Verfahren soll lediglich auf ein anderes Material angewandt werden. Der dritte Absatz fällt unversehens in die Widmung ein, deren Gedankengang hiermit einen Sprung macht. Aus dem Kalkül der Reproduktion findet der Leser sich versetzt in den Traum des modernen Menschenwesens, der der Traum der Sprache der modernen Seele und ihres Bewußtseins bzw. Gewissens ist. Bezeichnenderweise kehrt Baudelaire hier die Reihenfolge des Brouillons um, in dem er noch gleichsam ohne Widerstand fortgegangen war vom Traum zu dessen erster Verwirklichung im Werk Bertrands. In der endgültigen Fassung, wo der Traum vielmehr Einspruch zu erheben scheint gegen die geplante Reproduktion – und in der übrigens der »Geist« des Brouillons ersetzt ist durch die »Seele« –, bedarf der Sprung einer Begründung: Der vierte Absatz gibt sie, indem er 1) das neue Thema als die Geburtsstätte des jetzt als obsedierendes, d. h. sogleich auch: nicht durch Bertrand verwirklichtes Ideal bezeichneten Traums entdeckt und 2) indirekt zeigt, was für ein Produkt entsteht, wenn der im zweiten Absatz skizzierte Plan der Reproduktion ausgeführt wird. Mit Imitation und Pastiche entsteht die Simulation der Moderne, wie die heidnische Schule sie auf ihre Weise ins Werk gesetzt hat. Der Traum der modernen Sprache verbietet die Reproduktion – wie das erste Wort von Adams Sprache bei Kierkegaard Verbot und Strafandrohung453 und das Thema 453

Vgl. o. Kapitel III, Metamorphosen der Sexualität, S. 165.

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der frühen Moderne bis zu Nietzsche einschließlich überhaupt die gegen die Reproduktion gewandte Produktion ist.454 Im fünften Absatz ereignet sich darum die Absage des Dichters an seinen Stolz oder Eigenwillen und die Unterwerfung unter die »faculté gratuite« als unter die Gabe der modernen Sprache, wie der Erzähler in »Falschgeld« sich der schweigenden Beredtheit im Anblick des GottMenschen in Knechtsgestalt aussetzt, den der Freund verbrecherisch zu hintergehen sucht.455 Das Opfer Dies also ist »Le Don du Poème«, die Gabe, wie sie im geschichtlichen Ort Baudelaires einzig zu erscheinen vermag: als das obsedierende Ideal, dem zu entsprechen der Dichter das Produkt selbst, das sein Stolz wäre, aufs Spiel setzen muß. Es wird fraglich, ob sein Entsprechen überhaupt noch den Charakter eines Produkts, Etwas, haben kann. Die existenzielle Poetik Baudelaires erreicht damit die innerste Tiefe der frühmodernen Existenz als den Ort des Opfers, von dem Heidegger schreiben wird: »Das Denken, dessen Gedanken nicht nur nicht rechnen, sondern überhaupt aus dem Anderen des Seienden bestimmt sind, heiße das wesentliche Denken. Statt mit dem Seienden auf das Seiende zu rechnen, verschwendet es sich im Sein für die Wahrheit des Seins. Dieses Denken antwortet dem Anspruch des Seins, indem der Mensch sein geschichtliches Wesen dem Einfachen der einzigen Notwendigkeit überantwortet, die nicht nötigt, indem sie zwingt, sondern die Not schafft, die sich in der Freiheit des Opfers erfüllt. Die Not ist, daß die Wahrheit 454

Erst nach Nietzsche, exemplarisch bei Husserl, kommt die Reproduktion als solche unter dem Namen »Konstitution« zu ihrer unhintergehbaren Gegenwart. 455 Die Widmung und »Falschgeld« lassen sich als spiegelbildlich gebaut auffassen, indem die Widmung von der existenziellen Poetik, das Gedicht von der poetischen Existenz handelt. 1) Dem ersten Absatz der Widmung entspricht die Beobachtung der pekuniären Kombinatorik (Verteilung) in den ersten zwei Absätzen des Gedichts. 2) Während der Gedanke im zweiten Absatz der Widmung den poetischen Prototyp aufsucht, begegnen die beiden Freunde im dritten Absatz des Gedichts dem Gott-Menschen in Knechtsgestalt als dem Prototyp des Menschenwesens. 3) Der dritte Absatz der Widmung vergegenwärtigt die poetische Gabe, der vierte des Gedichts das Axiom der poetischen Existenz. 4) Der vierte Absatz der Widmung deutet an, daß die Reproduktion des Prototyps zur Simulation führen muß, und der fünfte Absatz des Gedichts gibt sich einer poetischen Rêverie hin, die der siebte als »Begehren nach dem kriminellem Genuß« entdecken wird. 5) Im fünften Absatz der Widmung schließlich entsagt der Dichter eingedenk der poetischen Gabe seinem Eigenwillen, während das Ich im sechsten und siebten Absatz des Gedichts in der Reflexion des Freundes den Schlüssel zur Einsicht entdeckt, daß die wesentliche Existenz die Bestimmung der Reue hat.

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des Seins gewahrt wird, was immer auch dem Menschen und allem Seienden zufallen möge. Das Opfer ist die allem Zwang enthobene, weil aus dem Abgrund der Freiheit erstehende Verschwendung des Menschenwesens in die Wahrung der Wahrheit des Seins für das Seiende. Im Opfer ereignet sich der verborgene Dank, der einzig die Huld würdigt, als welche das Sein sich dem Wesen des Menschen im Denken übereignet hat, damit dieser in dem Bezug zum Sein die Wächterschaft des Seins übernehme. Das anfängliche Denken ist der Widerhall der Gunst des Seins, in der sich das Einzige lichtet und sich ereignen läßt: daß Seiendes ist. Dieser Widerhall ist die menschliche Antwort auf das Wort der lautlosen Stimme des Seins. Die Antwort des Denkens ist der Ursprung des menschlichen Wortes, welches Wort erst die Sprache als die Verlautung des Wortes in die Wörter entstehen läßt. […] Die Sucht nach Zwecken verwirrt die Klarheit der angstbereiten Scheu des Opfermutes, der sich die Nachbarschaft zum Unzerstörbaren zugemutet hat.«456 Was Heidegger hier die lautlose Stimme des Seins nennt, ist das Sprachwesen der Welt, das schon der 8περουρ*νιος τ πος des Schopenhauerschen Willens ist und das Feuerbach und Kierkegaard als den Ursprung hervordenken. Auch bei Baudelaire erscheint es zuletzt in der Schärfe des Entweder – Oder. Entweder der Mensch nimmt sich für den ursprünglichen Produzenten und produziert Waren, die Ursprünglichkeit nur simulieren, oder er tut den letzten Schritt der Reue und läßt sein Menschenwesen ins Sprachwesen verschwinden, verzichtet damit aber auch auf die Sprache als sein Produkt, ein Sich-Verschwenden457 und (im doppelten Sinn) Sich-Vergeben, das ebenso das Ende des Denkwegs von Kierkegaard und Nietzsche bestimmte. Im 1862 veröffentlichten Gedicht »Die Klagen eines Ikarus«458 kommt dies Opfer so zur Sprache: Die Liebhaber der Prostituierten Sind glücklich, zufrieden und satt; Was mich angeht, sind meine Arme zerschlagen, Weil sie Wolken umschlungen haben.

456

M. Heidegger: Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, in: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1967, S. 99–108, hier S. 105 f. (GA 9, Frankfurt a.M. 1976, S. 309 f.). 457 J. Derridas Problem des Potlatch, in: DT, S. 55 ff. – hinter der Frage nach der Gabe steht, wie insbesondere der Schluß des Buchs verdeutlicht, die nach dem Opfer. 458 NFdM XV. Nach einem Stich von Hendrik Goltzius.(Les amants des prostituées / Sont heureux, dispos et repus; / Quant à moi, mes bras sont rompus / Pour avoir étreint des nuées. // C’est grâce aux astres nonpareils, / Qui tout au fond du ciel flamboient, / Que mes yeux consumés ne voient / Que des souvenirs de soleils. // En vain j’ai voulu de l’espace / Trouver la fin et le milieu; / Sous je ne sais quel oeil de

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Ich verdanke den unvergleichlichen Sternen, Die ganz im Grund des Himmels flammen, Daß meine verzehrten Augen nichts sehen Als die Erinnerungen an Sonnen. Vergebens habe ich des Raumes Ende und Mitte finden wollen; Unter ich weiß nicht welchem Feuerauge Fühle ich meinen Flügel zerbrechen; Und verbrannt von der Liebe zum Schönen Werde ich nicht die erhabene Ehre haben, Meinen Namen dem Abgrund zu geben, Der mir zum Grab dienen wird. Das Ich des Gedichts ist nicht Ikarus, sondern ein Ikarus, wie es in der Widmung der Prosagedichte um ein modernes und abstrakteres Leben als das zu tun ist, das Bertrand geschildert hat: die Welt im poetischen Prisma des intentionalen Ich. Der Dichter ist nicht länger der Liebhaber der Prostituierten, d. h. des Warencharakters des Schönen, weil er gleichwohl unverwandt dem Ideal gefolgt ist. Als ein anderer Ixion459 umschlingt er statt der Juno Wolken.460 Als ein anderer Phaeton461 sind seine Augen »konsumiert« vom Licht der Sonne(n). Sein Sehen ist nur noch Erinnerung, aufgehobene als poetische Wirklichkeit. Der end- und mittelose Raum ist nach der Widmung zu lesen als der Traum der Sprache, die als obsedierendes Ideal zugleich das unbekannt bleibende »Feuerauge« ist: der Blick des ganz Anderen. Erst hier und in der letzten Strophe spricht der poetische Ikarus, der, »verbrannt von der Liebe zum Schönen«, d. h. den Dichter um der Dichtung willen aufopfernd (daher auch die Aufspaltung in die drei Gestalten), zuletzt

feu / Je sens mon aile qui se casse; // Et brûlé par l’amour du beau, / Je n’aurai pas l’honneur sublime / De donner mon nom à l’abîme / Qui me servira de tombeau.) 459 Von Ixion, mit der Wolke Vater der Kentauren (eine Feuer-Wasser-Konjunktion), der im Tartaros auf ein feuriges Rad gebunden ist, heißt es bei Ovid: »volvitur Ixion et se sequiturque fugitque« (Met. 4.461). Das Rad steht still, als Orpheus singt: »stupuitque Ixionis orbis« (Met. 10.42). 460 Vgl. die Prosagedichte »Der Fremde« (PPP I) und »Die Suppe und die Wolken« (PPP XLIV), zur Unvereinbarkeit von Ideal und Welt »Welche ist die wahre?« (PPP XXXVIII). Über die Wolkenbilder M. Boudins schreibt Baudelaire im »Salon 1859« (VIII. Die Landschaft), sie seien »ihm ins Gehirn gestiegen wie ein berauschendes Getränk oder wie die Beredsamkeit des Opiums«. 461 Goltzius hatte mit Ikarus, Ixion und Phaeton drei vom Himmel stürzende Körper dargestellt.

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noch, wie Derrida hervorhebt, darauf verzichtet, den »Abgrund« zu signieren,462 der sein Grab wird – denn dieser Abgrund ist die Sprache selbst.463 Zur ersten Strophe schreibt Benjamin: »Der Dichter, der Platzhalter des antiken Helden, wie der Titel des Stücks es sagt, hat dem modernen Helden, von dessen Taten die ›Gazette des tribunaux‹ berichtet, weichen müssen. In Wahrheit ist im Begriff des modernen Heros dieser Verzicht bereits angelegt. Er ist zum Untergang vorbestimmt und um dessen Notwendigkeit darzustellen, braucht kein Tragiker aufzustehen. Ist ihr aber ihr Recht geworden, so ist die Moderne abgelaufen. Dann wird die Probe auf sie gemacht werden. Nach ihrem Ende wird sich erweisen, ob sie selber je Antike wird werden können.«464 Vielleicht ist die Moderne »abgelaufen«, wenn die Notwendigkeit des Untergangs ihres Helden nicht mehr die Notwendigkeit des Opfers ist. Denn das moderne Selbst-Opfer ist nicht länger das der natürlichen Welt der Metaphysik, sondern ein Zug der Identifikation mit dem GottMenschen in Knechtsgestalt, ein Zug jenes Mitleids und Selbst-Mitleids, das Nietzsche decouvriert hatte. Nietzsche denkt aber, später als Baudelaire, diese Identifikation hervor, und statt ihr zum Opfer zu fallen, bringt er sich ihr zuletzt selber zum Opfer. Baudelaire hingegen ist es erst, weil er noch nicht vom Produkt als Produkt lassen kann. Während die »Petits poèmes en proses« also im Begriff sind, aufzuhören, Etwas zu sein, Produkt zu sein, auf dem Weg ins Schweigen sind, in dem nur noch die Sprache selber spräche, nehmen Baudelaires letzte Versgedichte, die »Amoenitates Belgicae«, eine andere Entwicklung. Als Versgedichte bleiben sie wohl Produkte, stellen aber an ihnen selbst die Vernichtung des Produkts dar. Hier explodiert das Produkt gleichsam, d. h. die Gedichte werden zu poetischen Bomben. Sowenig wie Nietzsches Botschaften vom Januar 1889 darf man sie demnach als bloß indivuelle Zeugnisse der Erkrankung ihres Autors abtun. Wie Nietzsche in seinen Botschaften vom Januar 1889 Philosoph, bleibt Baudelaire in seinen letzten Gedichten Dichter: die Stimme aller als das Gewissen aller. Es mag scheinen, als sei Nietzsches Opfer vergeblich gewesen. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Grauen unvorstellbar – der Tod als Produkt unvorstellbar. Aber Nietzsches Aktualität am Ende des 20. Jahr-

462

In der Umschrift des Goltziusschen Stichs heißt es hingegen: »Icarus Icariis nomina donat aquis«. 463 Zum Abgrund vgl. »L’homme et la mer« (FdM XIV). In den NFdM geht den »Plaintes d’un Icare« »Le gouffre« (NFdM XIV) voraus. 464 W. Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, GS I.2, S. 584.

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hunderts deutet darauf hin, daß der Gegenwart nach Moderne und Postmoderne langsam bewußt wird, was geschehen ist: daß wir jeder Identifikation mit dem Gott-Menschen in Knechtsgestalt abzusagen haben, daß wir uns nicht selbst vergeben können. Die Mnemosyne der Metaphysik wäre gegen jenes Sich-selbst-Vergeben die Anerkennung, daß das Opfer ein für allemal erbracht ist. Dazu bedarf es nicht des Rückzugs in die Grenzen traditionellen Christentums; die ganze Metaphysik, keineswegs nur christlicher Prägung, war diese Tat. Das Opfer ist aber noch einmal das Problem des Buchs von Derrida, das sich zum Schluß polemisch gegen Lyotards postmodernen Preis des Erhabenen wendet: »Eine Gabe signiert nicht, sie rechnet nicht einmal mit der Zeit, die ihr Gerechtigkeit angedeihen ließe. Heute eine Seltenheit, und die ›Modernität‹ Baudelaires hat die schöne Unverschämtheit, uns daran noch zu erinnern, er glaubt nicht mehr ans Erhabene, er gibt ihm keinerlei Kredit. Das Erhabene: Spekulation, Falschgeld, das man nach ›sorgfältiger Sonderung‹ der hoffnungslosen, der grausamen, der prostituierenden, der tötenden Liebe zum Schönen substituieren möchte.«465 Das ist erstaunlich – denn die Liebe zum Schönen heute, nicht zu dem oder jenem Schönen, sondern zum Schönen selbst, ist die Liebe zur Metaphysik und ihrer Kunst, das Schöne ist ihre Gabe. Deren Ankunft aber hat der Derridasche Gedanke sich verschlossen; stattdessen geht er den von Heideggers »Brief über den ›Humanismus‹« angezeigten Weg zu Ende: »Das Denken ist auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens.«466 Gleichwohl ist die Armut des Derridaschen Gedankens noch nicht die äußerste, denn noch wiederholt sie die Baudelairesche Geste des Opfers, um selber noch zu geben. Die Gabe kann nicht sein in der geschlossenen Welt des ökonomischen Zirkels, sagt dieser Gedanke, aber sie muß sein, wie »die hoffnungslose, die grausame, die prostituierende, die tötende Liebe zum Schönen« bezeugt. Sie muß sein, weil Glück, das doch im ökonomischen Zirkel nur ein Schein sein kann, gleichwohl ist. So vermag der Gedanke nicht, in der clôture zu bleiben, und nicht, sie zu verlassen. Er vermag sich in der Tat auch nicht aufzuopfern; er kann nur »so leise wie möglich«467 Baudelaires Verse nach-sagen: nur den andern für sich sprechen lassen. Dieser andre ist die Moderne selbst. Und hier berührt deren Gedanke seine äußerste Armut. In seiner vollkommenen Leere vernimmt

465

DT, S. 216. M. Heidegger: Brief über den »Humanismus«, in: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1967, S. 145–194, hier S. 194. 467 DT, S. 217. 466

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er rein den Zuspruch seiner Herkunft – und widerlegt sich darin selbst als der Gedanke des absoluten Vergessens,468 als der er glaubte, geben zu können. Würde er dessen inne, dann vernähme er auch den Zuspruch der Herkunft der Herkunft.

468

»Wir sprechen hier also von einem absoluten Vergessen – auch von einem Vergessen, das absolviert, das absolut entbindet, unendlich viel mehr, folglich, als die Entschuldigung, die Verzeihung, die Tilgung. […] Obwohl es nichts zurücklassen darf, obwohl es alles auslöschen muß, und bis hin zu den Spuren der Verdrängung, kann dies Vergessen, dies Vergessen der Gabe nicht eine einfache Nicht-Erfahrung sein, ein einfaches Nichterscheinen, eine Selbstauslöschung, die sich entzieht mit dem, was sie auslöscht. Daß Ereignis (wir sagen nicht Akt) der Gabe sei, ist nötig, daß etwas eintritt, in einem Augenblick, einem Augenblick, der zweifellos nicht zur Ökonomie der Zeit gehört, in einer Zeit ohne Zeit, so, daß das Vergessen vergißt, daß es sich vergißt, aber so, daß dies Vergessen, ohne etwas Anwesendes, zur Anwesenheit zu Bringendes, Bestimmbares, Sinnhaftes oder Bedeutendes zu sein, nicht nichts ist.« (DT, S. 30)