Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671-1920: Institutionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug 9783205157991, 370280112X, 3486490516, 9783205778967


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Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671-1920: Institutionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug
 9783205157991, 370280112X, 3486490516, 9783205778967

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STEKL ÖSTERREICHS ZUCHT- UND ARBEITSHÄUSER 1671—1920

SOZIAL- U N D WIRTSCHAFTSHISTORISCHE

STUDIEN

Herausgegeben von ALFRED H O F F M A N N und M I C H A E L M I T T E R A U E R Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschidhte Universität Wien

B A N D 12

Wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte steht in einem besonderen Spannungsfeld. Die Geschichtswissenschaft erkennt immer klarer die Bedeutung gesellschaftlicher Grundlagen f ü r die Beantwortung ihrer Fragestellungen. Traditionelle Themen müssen unter diesem Aspekt neu durchdacht werden. Von Seiten der Sozialwissenschaften erfährt die historische Dimension stärkere Beachtung — ein reiches Aufgabenfeld für die ihr nahestehenden historischen Teildisziplinen. Die „Sozial- und wirtschaftshistorischen Studien" bemühen sich um einen möglichst weiten thematischen Rahmen. Sowohl Spezialuntersuchungen wie Überblicksdarstellungen werden Aufnahme finden. Neuzeitliche und mittelalterliche Arbeiten sollen einander das Gleichgewicht halten. Von Problemstellung und Quellenlage her ergibt sich insofern ein räumlicher Akzent — im Mittelpunkt stehen Österreich und seine Nachbarländer —, als die veröffentlichten Untersuchungen in erster Linie aus der Forschungsarbeit am Institut für Wirtsdiafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien hervorgehen.

HANNES STEKL

ÖSTERREICHS ZUCHT- UND ARBEITSHÄUSER 1 6 7 1 — 1 9 2 0 Institutionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug

Θ VERLAG FÜR GESCHICHTE UND POLITIK WIEN 1978

Publiziert mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung.

© 1978. Verlag f ü r Geschichte und Politik Wien Druck: R. Spies & Co., 1050 Wien Umschlagentwurf: Renate Uschan-Boyer ISBN 3-7028-0112-X Audi erschienen im R. Oldenbourg Verlag München ISBN 3-486-49051-6

INHALT 1. ZUCHT- UND ARBEITSHÄUSER ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND

7

2. DAS ÖSTERREICHISCHE ARMENWESEN VON LEOPOLD I. BIS ZUM AUSGANG DER MONARCHIE

23

2.1. Bettelgesetze in der Epoche des Merkantilismus 2.2. Das Modell der josephinischen Pfarrarmeninstitute . . . 2.3. Industrialisierung und Sozialfürsorge 3. ZUR INSTITUTIONELLEN ENTWICKLUNG DER ZUCHT- UND ARBEITSHÄUSER 3.1. Ausländische Vorbilder 3.2. Die österreichischen Gründungen 4. OFFIZIELLE PROGRAMMATIK UND IMPLIZIERTE ZIELSETZUNGEN

23 35 41

53 53 62

88

5. TRÄGER UND FINANZIERUNG

108

6. DIE ANSTALTENGEBÄUDE

128

6.1. S t a n d o r t - u n d Objektwahl 6.2. Bauliche Gestaltung 7. DAS ANSTALTENPERSONAL 7.1. Kompetenzen und Hierarchie 7.2. Qualifikation und Rekrutierung 7.3. Besoldung

128 137 149 149 166 174

8. DIE ANSTALTSINSASSEN

181

9. DAS ANSTALTSLEBEN

203

9.1. Aufnahme und Verhaltensvorschriften 9.2. Straf- und Privilegiensysteme

203 208

Inhalt

6

9.3. Die Koordination des Tagesablaufs 9.3.1. Primat der Arbeit 9.3.2. Religiöse u n d sittliche F o r m u n g 9.3.3. Fortbildung 9.3.4. Freizeitgestaltung u n d Kontaktbereiche 9.4. Die Anstaltsleistungen 9.4.1. L o h n 9.4.2. Kleidung u n d Bedarfsgegenstände 9.4.3. Verköstigung 9.4.4. Krankenpflege 9.5. Anhaltefristen u n d Entlassung

220 220 240 244 246 252 252 260 264 279 283

10. FUNKTIONEN UND E F F I Z I E N Z D E R Ö S T E R REICHISCHEN ZUCHT- UND A R B E I T S H Ä U S E R

294

10.1. Ausbau der Armenpflege

295

10.2. 10.3. 10.4. 10.5.

298 304 308 313

N u t z u n g des P r o d u k t i o n s f a k t o r s Arbeit I n s t r u m e n t des Strafvollzugs Resozialisierung Verwahrung u n d Prävention

ANMERKUNGEN

318

QUELLEN-UND LITERATURVERZEICHNIS

388

Abbildungsnachweis Leihgeber: Archiv der Stadt und des Landes Wien: Nr. 1. Historisches Museum der Stadt Wien: Nr. 3. Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien: Nr. 4. österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv: Nr. 5, 6. Tiroler Landesarchiv: Nr. 2.

1. ZUCHT- UND ARBEITSHÄUSER ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND Die Frage nach Notwendigkeit und Ausmaß von Reformen in den Bereichen Strafrecht und Strafvollzug steht derzeit auch in Österreich im Mittelpunkt einer engagiert geführten Diskussion. In den Debatten um die Zurückdrängung der Freiheitsstrafen in geschlossenen Anstalten wurde eine Reihe von Alternativen präsentiert, die bei edler Bedachtnahme auf den notwendigen Schutz der Gesellschaft für den verstärkten Einsatz breit gefächerter Resozialisierungsmaßnahmen eintraten (1). Gegen diese Vorschläge sprachen sich zahlreiche kriminalpolitisch wie kriminalsoziologisch argumentierende Stellungnahmen aus. Der überwiegende Teil dieser Äußerungen zeigte recht deutlich, daß im gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewußtsein Repressivgedanken wie Strafe und permanente Überwachung noch eng mit dem Phänomen Delinquenz verbunden sind. Von dieser Gegenwartsproblematik ausgehend erweist es sich als reizvolle Aufgabe des Historikers, die Entwicklung und damit auch die Veränderung bei der Beurteilung abweichenden Verhaltens darzustellen und zugleich Statik wie Dynamik des staatlichen Sanktionspotentials vorzuführen. Das Ziel einer solchen Studie liegt keineswegs in der selbstzweckhaften Beschreibung geschichtlicher Abläufe, sondern vielmehr darin, ob aus der Kenntnis von Einstellungen gegenüber Randgruppen bzw. aus Hilfs- wie Kontrollmaßnahmen gegenwärtige Haltungen verständlich gemacht und auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden können. Als Thema dafür wurde ein Bereich ausgewählt, der wie kaum ein anderer eine Mischform von Strafvollzug, sozialer Kontrolle und Fürsorge gebildet hat: die Institution der Zucht- und Arbeitshäuser. Reflexionen über Wesen und Aufgaben dieser Anstaltstypen reichen bereits ins ausgehende 16. Jahrhundert zurück, wo die im calvinistischen Arbeitsethos verwurzelte und primär auf Resozialisierung abzielende Freiheitsstrafe von Amsterdam ausgehend vorerst

8

Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

in den protestantischen Territorien Norddeutschlands und später in ganz Kontinentaleuropa Verbreitung fand. Die bedeutendsten Rechtswissenschaftler sowie führende kameralistische Theoretiker dieser Zeit setzten sich von unterschiedlichen Ansätzen her mit der Bedeutung dieses neuen Strafmittels auseinander (2). Die schonungslose Nutzung der Anstalten für ökonomische Interessen merkantilistischer Prägung, die wahllose Verwendung für Kriminelle und sozial Bedürftige (Alte, Arme, Waisen), die unzureichende Finanzierung mit der daraus resultierenden Vernachlässigung der baulichen Einrichtung und der hygienischen Verhältnisse, die Anstellung von unqualifiziertem Personal und die Mißachtung der angestrebten Ordnungsprinzipien schufen im ausgehenden 18. Jahrhundert nahezu unhaltbare Zustände. Die Veröffentlichungen des englischen Philanthropen J o h n Howard (3), welcher sich auf mehreren Besichtigungsfahrten gründliche Kenntnisse von den Gefängnissen des Inselreiches und eines großen Teils von Europa verschafft hatte, riefen in den deutschen Staaten ein reges Echo hervor. Die Gelehrten Gesellschaften mehrerer deutscher Städte stellten als „Preisfragen" die optimale Einrichtung der unter mannigfaltigen Bezeichnungen (Zucht- und Werkhaus, Stockhaus, Korrektionshaus u.a.) bestehenden Anstalten zur Diskussion. Ergebnis dieser Vorhaben waren Schriften wie jene Carl Eberhard Wächters oder August Friedrich Rulffs', welche überregionale Verbreitung fanden (4). Größten Bekanntheitsgrad vermochte wohl das Werk von Heinrich Balthasar Wagnitz zu erreichen, der 1784 bis 1814 als Prediger am Zuchthaus Halle an der Saale wirkte und seine Tätigkeit ganz in den Dienst der „moralischen Verbesserung" der Häftlinge stellte. Die intensive Beschäftigung mit dieser umfangreichen Thematik führte Wagnitz zur Behandlung eines vielschichtigen Fragenkomplexes, der Arbeitsorganisation, bauliche Gestaltung, Klassifikation der Insassen, Ernährungsformen, Erlassung von Disziplinarvorschriften u.a.m. umfaßte. Die Ordnung des gesamten Vollzugs unter dem Aspekt der Menschenrechte bildete den zentralen Aspekt seiner Arbeiten (5). Diese Reformbewegung hat auch an den Höfen des aufgeklärten Absolutismus Niederschlag gefunden. In Preußen hielten Carl Gottlieb Svarez und Wilhelm Heinrich Julius dem Kronprinzen Vorträge über die Grundzüge derGefängniskunde (6). Am österreichischen Hof erhielt der Gefängnisreformer Howard die Möglichkeit, Joseph II.

Schrifttum des 18. und 19. Jahrhunderts

9

auf die Mängel der österreichischen Haftanstalten hinzuweisen. Als einflußreicher Staatsmann, Polizei- und Kameralwissenschaftler setzte sich hier auch Joseph von Sonnenfels eingehend mit dem Problemkreis Zucht- und Werkhäuser auseinander (7). Diese Initiativen trafen sich mit der Neuformulierung der Wohlfahrtspflege, wobei starke Einflüsse von der italienischen Aufklärung, vor allem von Muratori, ausgingen (8). Auf dem Anstaltensektor setzten Veränderungen auf zwei Ebenen ein. Einerseits wurde eine langsame Umgestaltung des Haftvollzugs und eine Verbesserung der Haftbedingungen angestrebt. Darüber hinaus kam es zur Schaffung gesonderter Strafgefängnisse für Kriminaldelinquenten. Damit war eine Entflechtung der früheren Aufgabenpluralität der Zuchthäuser eingeleitet, welche sich in der konsequenten Ausdifferenzierung von Spezialanstalten für physisch Unterstützungsbedürftige (Kranken-, Irren-, Siechen-, Gebärhäuser), für Kinder und Alte (Findel- und Waisen- bzw. Armenhäuser) sowie für Randgruppen verschiedener Provenienz (Freiwillige Arbeitsanstalten und Zwangsarbeitshäuser) fortsetzte. Gerade die letzteren Einrichtungen erhielten unter den staatlichen Versuchen zur Bettelbekämpfung und zur Verwahrung wie Resozialisierung von Außenseitern, namentlich Vagabunden, Landstreichern und Dirnen, großen Stellenwert. Im Gegensatz zum Strafgesetz, das eine Einkerkerung vom Urteilsspruch qualifizierter Gerichte abhängig machte, hat man hier am Prinzip der außergerichtlichen Inhaftierung (den sogenannten Notionierungen) weiterhin festgehalten. Das Schrifttum des beginnenden 19. Jahrhunderts rechtfertigte diese Polizeimaßnahme als unabdingbare Voraussetzung für eine geregelte staatliche Wohlfahrtspflege. Die einschlägigen Veröffentlichungen unterbreiteten teils konkrete Reformvorschläge - so die speziell auf Tirol zugeschnittenen Anregungen Nikolaus Ferdinand Högweins (9) - , teils begnügten sie sich damit, den bestehenden Einrichtungen größeren Bekanntheitsgrad zu sichern (10). Trotz der Neugründung bzw. Revitalisierung zahlreicher Zwangsarbeitshäuser in den meisten Ländern des Habsburgerreichs war jedoch die publizistische Diskussion über Zielsetzungen und Zweckmäßigkeit dieser Institutionen im Vormärz wie in der neoabsolutistischen Ära erlahmt. Man bezog die Ordnungsvorbilder über weite Strecken von den Strafanstalten, welche damals im Spannungsfeld der verschiedenen, international gebräuchlichen Haftsysteme

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Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

standen (11). Da sich die kompetenten Justizstellen nur langsam zu einer klaren Lösung durchrangen, waren auch die Zwangsarbeitsanstalten in organisatorischer Hinsicht auf keine bestimmte Vollzugstechnik festgelegt (12). Die nächste große Publikationswelle über den Themenbereich Zwangsarbeitsanstalten setzte in Österreich erst im späten 19. Jahrhundert ein. Die ökonomischen und sozialen Umwälzungen im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung hatten in großem Maßstab neue Formen der Existenzgefährdung sowie eine starke Bevölkerungsmobilität geschaffen. Die gesetzgebenden Körperschaften der liberalen Ära begegneten diesen Phänomenen zu einem guten Teil mit Repressivmaßnahmen: so mit der strafrechtlichen Verfolgung von Landstreicherei und Bettel sowie der Umwandlung der Zwangsarbeit in eine gerichtlich verhängte Nebenstrafe (1873), weiters (1885) mit verschärften Bestimmungen über die Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeitsanstalten sowie mit der Schaffung reichsgesetzlicher Grundlagen für Bau und Erhaltung solcher Einrichtungen (13). Die Frage der Kontrolle und der Detention von Randgruppen wurde in der Frühzeit des Verfassungsstaates vorab im Rahmen allgemeiner Publikationen über Bettel und Vagabundage erörtert (14). Berichte über ausländische Einrichtungen im Stil beschreibender Reiseliteratur blieben dabei in der Minderzahl (15). Besonders in den 1890er Jahren entstand aus der praktischen Arbeit von Rechtswissenschaftlern eine Reihe von Veröffentlichungen, welche mit verschiedenartig gelagerten Akzenten auch das Problem der Zwangsarbeit aufgriffen (16). Es seien hier nur exemplarisch einzelne Typen herausgegriffen. Einige Studien waren in erster Linie als Behelfe für die Tätigkeit von Juristen gedacht und beschränkten sich auf den Abdruck der einschlägigen Gesetzestexte samt Verordnungen und höchstgerichtlichen Entscheidungen, wie z.B. Fürstls Informationen über die strafrechtlichen Nebengesetze (17). Weit häufiger waren jedoch kritische Stellungnahmen zum geltenden Strafgesetz in der Art Ferdinand Lentners, der die Strafbarkeit von Bettel als „polizeiliches wie criminelles Unrecht" angriff (18). Zahlreiche Beiträge bezogen schließlich auch sozio-ökonomische und kriminalpolitische Aspekte mit ein. Sie verfolgten vielfach die Tendenz, Alternativen zu den gängigen geschlossenen Vollzugsformen anzubieten. Dabei kamen Gedanken der Individualisierung der Bestrafung sowie Zweifel

Statistische Erhebungen und Vereinspublikationen

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an der liberalrechtsstaatlichen Generalpräventions- und Vergeltungstheorie zum Ausdruck, wie sie der Rechtswissenschaftler Wilhelm Emil Wahlberg in Österreich schon Ende der 1860er Jahre vertreten hatte (19). Gleichzeitig kam die Diskussion über ausländische Lösungsversuche zusehends in Schwung. Die Debatten über verschiedenartige Formen sozialer Devianz und die Notwendigkeit verstärkter Differenzierung auf den Internationalen Gefängniskongressen in Rom (1885) und Paris (1895) brachten zusätzliche Anregungen (20). Von der Pariser Tagung kamen auch erste Anstöße für zusammenfassende statistische Erhebungen über die österreichischen Zwangsarbeits- und Besserungshäuser. Informationen über die Wirksamkeit der einzelnen Anstalten waren bisher nach recht unterschiedlichen Gesichtspunkten in die Tätigkeitsberichte der einzelnen Landesausschüsse aufgenommen worden. Erst als das französische Kongreßkomitee auch die der Zwangserziehung dienenden Institutionen in das Programm einbezog, ordnete das Innenministerium 1894 eine Bestandsaufnahme an. Sie war als Arbeitsgrundlage für die österreichischen Vertreter gedacht, konnte jedoch infolge Zeitknappheit keinen voll befriedigenden Überblick vermitteln (21). Angesichts der großen und vielfältigen Bedeutung, welche man den Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten im Rahmen von Strafrechtspflege, Polizeiverwaltung und Fürsorgeerziehung zuschrieb, wurde 1896 eine zweite Erhebung eingeleitet. Sie vermochte die Mängel der früheren Untersuchung auszuschalten und ein detailliertes Bild der Institutionen und Insassen zu zeichnen (22). Da ab diesem Zeitpunkt den Verwaltungsorganen eine einheitliche Berichterstattung aufgetragen wurde, war es möglich, die Tätigkeit der Anstalten im Rahmen größerer statistischer Untersuchungen exakt zu dokumentieren (23). Aus dem Selbstverständnis des Anstaltenpersonals werden erste ausführliche und regelmäßige Stellungnahmen über Organisation und Effizienz der Einrichtungen erst mit der Gründung eines eigenen Beamtenvereins und mit der Schaffung spezieller Publikationsorgane ab 1902 faßbar (24). Die Breitenwirkung dieser Veröffentlichungen war beschränkt, die Unterstützung der Behörden anfangs bescheiden, die Standpunkte vieler Organe noch in überkommenen Vorstellungen verhaftet. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß von der Vereinigung doch zahlreiche Denkanstöße für eine Revision

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Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

überkommener Vollzugsformen ausgingen. Die Tätigkeit des Vereins konzentrierte sich aber bald immer mehr auf den Bereich der Jugendfürsorge und vernachlässigte das Kapitel Zwangsarbeit für Erwachsene nahezu vollständig. Durch die Umwandlung in Verwahrungsorte für Rückfallsverbrecher (1920) erhielten die Zwangsarbeitshäuser in Österreich eine grundlegend neue Aufgabe. Damit änderte sich auch ihr Stellenwert im Rahmen der gemischt strafrechtsdogmatisch, kriminologischempirischen und kriminalpolitischen Literatur (25). In Deutschland hingegen, wo die Arbeitshäuser weiterhin zur Anhaltung Kleinkrimineller dienten, hat sich die herkömmliche Diskussion über die Effizienz bestehender Organisationsstrukturen länger gehalten (26). Die Valenz der Strafanstalten und Zwangsarbeitshäuser im sozialen Kontrollsystem der Staaten drängte im ausgehenden 19. Jahrhundert auch zur Aufarbeitung der historischen Entwicklung dieser Institutionen. Die mehr oder weniger umfangreichen geschichtlichen Abrisse in den deutschen Handbüchern für Gefängniskunde erwiesen sich oft nur als unbefriedigende Kompilationen der älteren Literatur. Erst Robert von Hippel hat im Rahmen seiner Studien zur Entstehung der Freiheitsstrafe Gründung und Entwicklung der Zuchtund Arbeitshäuser des europäischen Raumes einer grundlegenden Neuinterpretation unterzogen. Er leitete aus seinen Erkenntnissen ein konkretes kriminalpolitisches Programm ab, wobei ihm die Vereinigung general- und spezialpräventiver Ansätze auf dem gesamten Gebiet des Strafrechts vorschwebte (27). Weitere Studien, welche auf ähnliche Weise historische Forschung in den Dienst der Gegenwartsbewältigung gestellt hätten, blieben aus. An verdienstvollen Spezialarbeiten sind neben dem Aufsatz von Rosenfeld (28) hervorzuheben: Die gründliche Darstellung von Eberhard Schmidt über die Vollzugseinrichtungen in Brandenburg-Preußen, spezielle Anstaltsgeschichten meist in Form von Dissertationen sowie Saarns vergleichende Zusammenschau deutscher Anstaltsordnungen (29). Einer ähnlichen Forschungskonstellation begegnet man auch in Österreich. Auch hier enthielten die einschlägigen Kapitel der bekanntesten Nachschlagewerke nur kurze historische Rückblicke. In seiner Spezialstudie über die Strafe des Schiffziehens hat Friedrich von Maasburg aufgrund gegenwärtig nicht mehr verfügbaren Aktenmaterials einen ersten genaueren Rückblick auf die Entwicklung der österreichischen Strafanstalten geworfen. Eine gründliche Behänd-

Rechtsgeschichtliche Studien

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lung der Materie nahm bald darauf Hugo Hoegel, Generalprokurator und Professor der Konsularakademie, vor. Seine Darstellungen zur Geschichte obrigkeitlicher Maßnahmen gegen Landstreicherei und Arbeitsscheu sowie zur Entwicklung von Freiheitsstrafe und Gefängniswesen in Österreich waren aus der praktischen Tätigkeit des Strafrechtlers im Dienste kritischer Reformtätigkeit hervorgegangen (30). Die Rechtshistorie hat in der Folge nur wenige neue Aspekte zur Geschichte der europäischen Zucht- und Arbeitshäuser aufgezeigt. Lediglich die Frage nach den Ursprüngen der Freiheitsstrafe stand mehrmals im Mittelpunkt von Diskussionen. Versuche, der ältesten kontinentalen Anstalt in Amsterdam den Besserungszweck abzusprechen (31), fanden aber ebensowenig durchschlagende Anerkennung wie das Bemühen, den Erziehungsstrafvollzug aus anderen Wurzeln - aus Formen der operae publicae wie aus italienischen Stadtrechten - abzuleiten (32). Diesen Forschungsstand geben auch die gegenwärtig gängigen Standardwerke zur Geschichte der Strafrechtspflege wieder. Neue institutionengeschichtliche Forschungen auf Quellenbasis sind im gesamten deutschsprachigen Raum verhältnismäßig spärlich geblieben (33). Einen willkommenen Beitrag für Österreich bietet daher die jüngst erschienene Skizze der Entwicklung des Grazer Zucht- und Arbeitshauses im 18. Jahrhundert (34). Andere Wissenschaftszweige haben sich mit den Phänomenen sozialer Abweichung und staatlicher Gegenmaßnahmen nur punktuell beschäftigt. Eine Göttinger pädagogische Dissertation, welche vor allem die erzieherische Komponente in der Geschichte des Freiheitsentzuges in den Mittelpunkt stellte, besaß unter den Arbeiten an philosophischen Fakultäten Seltenheitswert(35). Eine eingehende Forschungstätigkeit in diesen Grenzbereichen entfaltete lediglich das Seminar für Fürsorgewesen und Sozialpädagogik an der Universität Frankfurt, vor allem unter der Leitung von Christian Jasper Klumker und Hans Scherpner. Bei den Versuchen, das Wesen der Fürsorge und ihre Gestaltungsformen verständlich zu machen, wurden auch wertvolle Interpretationsansätze für die Entwicklung des Anstaltensektors gewonnen (36). Von einer völlig andersgearteten Position gingen die Studien am Internationalen Institut für Sozialforschung in Frankfurt aus. 1939 erschien in der amerikanischen Emigration ein Manuskript von Georg Rusche in der Überarbeitung von Otto Kirchheimer, das

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Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

Zusammenhängen zwischen Arbeitsmarkt und Strafvollzug nachging (37). Durch die Verbindung von historischen und soziologischen Fragestellungen sollte der Konnex zwischen Entwicklung von Strafmethoden und gesellschaftlichen Verhältnissen im Zuge der Entfaltung kapitalistischer Produktionsweise aufgedeckt werden. Die Darstellung neigte über weite Strecken zu einem betonten Ökonomismus, der alternativen Erklärungsmöglichkeiten nur beschränkten Spielraum offen ließ. Die Fragenkomplexe Devianz und Einrichtungen zur Isolierung von Marginalen haben nachdem Zweiten Weltkrieg eine ganze Reihe neuer Impulse erhalten. Vielen der organisationssoziologischen Arbeiten aus dem anglo-amerikanischen Bereich (38) ging es in erster Linie um die Ausarbeitung von Anstaltsmonographien, um die Darstellung der Beziehungen zwischen den einzelnen Positionsträgern, um detaillierte Rollenanalysen als Grundlagenmaterial für die Bewältigung bzw. Modifikationen des gängigen Vollzugssystems. Weit fruchtbarere Anregungen für historische Studien vermittelte dagegen Goffmans Theorie „totaler Institutionen", der die sozialpsychologischen Aspekte verschiedener Arten von Anstaltsaufenthalten mit größter Akribie beschrieben und dabei auf die engen Verbindungen zwischen gesellschaftlicher Stabilisierung und der Beurteilung von Außenseitern und Anormalen verwiesen hatte (39). Mit der vielfach vernachlässigten historischen Kriminologie beschäftigte sich jüngst Dirk Blasius im Rahmen einer Strukturanalyse des vormärzlichen Preußen (40). Diese eingehende Untersuchung jener Mechanismen und sozialen Einrichtungen, durch die Kriminalität bekämpft und verwaltet, gleichzeitig aber erhalten und von neuem produziert wurde, beleuchtete das Wechselspiel von Staat und Gesellschaft vor allem in der Entstehungszeit der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands. Zu Vergleichszwecken konnte eine Anzahl neuerer englischer Arbeiten herangezogen werden, welche sich mit stark sozialgeschichtlicher Orientierung mit den Verbindungen von Bevölkerungswachstum, industriellem Fortschritt und Verbrechen auseinandersetzten. Spezielle Fragen des Anstaltslebens in historischer Sicht beleuchtete aus einer Fülle von Perspektiven Foucault in seiner Studie über die „Geburt des Gefängnisses" (41). Aufgrund französischen Materials hob die mit reichen psychologischen und soziologischen Querverbindungen ausgestattete Arbeit vor allem jene Zieländerung her-

Historische Arbeiten

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vor, welche seit der Abschaffung peinlicher Strafen im Strafvollzug einsetzte. Das rationale Machtkalkül der Herrschenden war nicht nur um eine Verringerung der Sanktionskosten, sondern auch um den Aufbau weit wirkungsvollerer Disziplinierungsmechanismen bemüht, die über Gefängnis, Arbeitshaus und Waisenhaus hinausgriffen bis in Büros u n d Fabriken und dabei zu einer verstärkten Normierung des Individuums beitrugen. Die deutschsprachige Geschichtsschreibung hat sich häufig im Rahmen größerer Überblicksarbeiten über Entstehung und Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen mit dem Stellenwert sämtlicher „Zwangsanstalten" beschäftigt. Chronologisch blieben die Fragestellungen auf das 17. und 18. Jahrhundert beschränkt. Darüber hinaus fand das Anstaltenwesen in Darstellungen zur Geschichte des Armenwesens bestimmter Städte bzw. Territorien adäquate Berücksichtigung (42). Neuere Beiträge von Wissenschaftlern aus der DDR versuchten besonders den Einfluß der Anstalten auf den Prozeß der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals" in den brandenburgisch-preußischen Territorien aufzuzeigen (43). Auf detaillierten Quellenstudien beruhende Monographien blieben aber im „bürgerlichen" wie im marxistischen Lager in der Minderzahl (44). In Österreich werden ähnliche Forschungslücken bei der Geschichte von Spezialanstalten für Kinder und Jugendliche zusehends geschlossen. Gernot Heiß untersuchte jüngst die Geschichte des Wiener und Grazer Waisenhauses im 18. Jahrhundert (45). Gemeinsam mit Fachkollegen und dem Kriminalsoziologen Arno Pilgram bereitet Peter Feldbauer eine Geschichte der österreichischen Kinderund Jugendfürsorge vor, wobei auch der Anstaltensektor gebührende Beachtung findet (46). Neben den Studien über soziale Außenseiter und deren Institutionalisierung hat auch die Literatur über Randgruppen und Kriminelle in letzter Zeit interessante Bereicherungen erhalten. Man knüpfte dabei teilweise an Vorläufer einer Kriminalsoziologie an, die sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, seit der Wende zum 20. Jahrhundert aber von Einzelforschern und koordinierten Forschungsstellen forciert vorangetrieben wurden (47). Hobsbawms Studien über die Typen des „Sozialrebellen" und „Banditen" haben für die Inangriffnahme weiterer historischer Forschungen sicher wesentliche Anregungen vermittelt. Zuletzt beschäftigte sich Carsten Küther mit den kriminellen, meist dem länd-

16

Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

liehen, vagierenden „Lumpenproletariat" entstammenden Banditen in Deutschland (48). Dieses Werk hat in Österreich noch kein gleichwertiges Gegenstück gefunden. Immerhin informiert aber auch Hartls Studie über das Wiener Kriminalgericht ausführlich über Delikte und Tätergruppen (49). Gegenwärtig scheint sich die Tendenz zur historischen Betrachtung des mehr oder weniger straff organisierten Gauner- und Räubertums zu verstärken. Edith Saurer beschäftigte sich im Rahmen des 14. österreichischen Historikertages mit der Gruppe der Schmuggler im Vormärz und Neoabsolutismus (50), Paul W. Roth analysierte steirische Gaunermandate des 16. Jahrhunderts als sozialgeschichtliche Quellen (51). Dieser kurze Blick auf den gegenwärtigen Forschungsstand läßt eine sozial- und wirtschaftshistorisch ausgerichtete Untersuchung über die obrigkeitlichen Reaktionen auf Entstehen und Ausbreitung von Randexistenzen sicherlich in ein Vakuum stoßen. Als zentrales Thema bieten sich die Zucht- und Arbeitshäuser schon deshalb an, weil sie im Grenzraum der Kriminaljustiz lagen. Kaum auf einem anderen Sektor des Strafvollzugs werden die Eingriffe landesfürstlicher „Polizeikompetenzen" und die Anwendung spezifischer Vollzugstechniken auf Außenseiter und Verhaltensgestörte derart deutlich faßbar wie in diesem Bereich des „Kerker-Archipels" (52). Nichtsdestoweniger scheint es durchaus berechtigt, die Arbeit mit einem Überblick über die Organisationsformen der öffentlichen und privaten Armenpflege in den habsburgischen Ländern einzuleiten, welcher die wichtigsten Entwicklungszüge vom Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende der Monarchie zu skizzieren versucht. Auch das österreichische Armenwesen war keinesfalls ausschließlich das Ergebnis christlich geprägten Almosengebens mittelalterlicher Tradition. Es stand vielmehr stets in einem deutlichen Spannungsfeld zwischen Anliegen sozialer Fürsorge und sozialer Kontrolle. Dabei gilt es in erster Linie die wichtigsten Methoden in der Bekämpfung der sich wandelnden Erscheinungsformen von Existenzgefährdung vorzustellen und das Motivengeflecht für jene vielfältige Ausweitung des Sicherungsnetzes darzulegen, das schließlich in Form der Sozialversicherungsgesetzgebung immer breitere Bevölkerungsgruppen erfaßte. Gleichzeitig wird damit der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen den Arbeitshäusern bis weit ins 19. J a h r h u n d e r t hinein eine Mehrfachfunktion vorab sicherheits- u n d armenpolizeilicher Art zukam.

Fragestellungen

17

Ein knapper Abriß der Geschichte westeuropäischer Anstalten seit dem 16. J a h r h u n d e r t leitet zur institutionellen Entwicklung der Zucht- u n d Arbeitshäuser im habsburgischen Herrschaftsgebiet über. Dabei lassen sich vor allem zwei langgedehnte Gründungsphasen in der Ära Karls VI. und Maria Theresias sowie in der ersten Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s feststellen. Erst nach der reichgesetzlichen Regelung des Zwangsarbeitswesens (1885) setzte eine konzentriertere Gründungswelle ein; selbst diese erfaßte aber keineswegs sämtliche Länder der Monarchie. - Ein wesentliches Erkenntnisinteresse dieses Abschnittes besteht darin, die Vorbehalte deutlich zu machen, mit denen der Begriff „ A n s t a l t e n " in Umfang und Inhalt unseres Gegenwartsverständnisses auf die älteren Institutionen anzuwenden ist. Diese Einrichtungen folgten keineswegs einheitlichen Idealkonzepten. Zahlreiche retardierende Faktoren, deren Wirkungsweise von Fall zu Fall nachzugehen ist, führten zu mannigfachen u n d in ihrer beabsichtigten Effizienz stark beeinträchtigten Provisorien. Damit ist ein zweites Anliegen vorgestellt, nämlich die Beschreibung des nur langsam fortschreitenden Abbaues der Aufgabenpluralität der älteren Einrichtungen. Erst seit der R e g i e r u n g J o s e p h s I I . läßt sich eine konsequente Ausdifferenzierung von neuen Spezialanstalten verfolgen. Ab diesem Zeitpunkt dienten die Zwangsarbeitshäuser der Anhaltung bestimmter Randexistenzen, die Freiwilligen Arbeitsanstalten einer - recht zweifelhaften - Form produktiver Arbeitslosenunterstützung. Damit ist bereits die Frage nach den Zielsetzungen der Anstalten angeschnitten, wobei allerdings deutlich zwischen den programmatisch deklarierten Vorstellungen und den implizierten I n t e n t i o n e n zu unterscheiden ist. Eine wichtige Vorbedingung für die Klärung dieser Frage besteht darin, das enge Geflecht verschiedenartigster Ansätze zu entwirren und deren jeweilige Valenz im Verlauf der Entwicklung von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft aufzuzeigen. Dabei wird z.B. für die Epoche des Merkantilismus im besonderen die These zu überprüfen sein, ob die Anstalten in den Dienst expansiver Wirtschaftskonzepte gestellt wurden u n d für die Bereitstellung von Arbeitskräften mit niedrigen L o h n k o s t e n zu sorgen h a t t e n . Für die josephinische Ära wieder sind der langsame Wandel in der Einschätzung des Phänomens A r m u t u n d daraus resultierende Konsequenzen für die Neuorganisation des Anstaltensektors zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist dabei der hinter den

18

Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

offiziellen Erklärungen stehende Motivationshorizont deutlicher zu beleuchten. Dieses Vorgehen gestattet es, die o f t als Fürsorgeakte oder notwendige Korrektive im Interesse der Marginalen ausgegebenen Maßnahmen entscheidend zu korrigieren und den Stellenwert von Repressiv- wie Abschreckungszielen der Anstalten zu ermitteln. Daß die Zucht- und Arbeitshäuser letztlich nicht mit den erwarteten vielseitigen Erfolgen aufwarten konnten, lag zu einem guten Teil an ihrer völlig unzureichenden Finanzausstattung. Ein eigenes Kapitel wird den oft komplizierten Finanzierungsmodalitäten der einzelnen Anstalten nachzugehen haben, welche namentlich im 18. Jahrhundert noch deutlich die Schwächen des gesamten Staatshaushaltes spiegeln. Aber auch das 19. Jahrhundert war noch voll von Widersprüchen. Den offiziellen Beteuerungen über die Notwendigkeit der Zwangsarbeitsanstalten stand eine beschränkte Zahlungsbereitschaft der Finanzierungsträger - vor allem Staat und Länder, aber auch Bezirke und Gemeinden - gegenüber. Es wird in diesem Zusammenhang der Frage nachzugehen sein, inwieweit das Bestreben nach Minimierung der Sanktionskosten einerseits, die Abneigung gegen Schwierigkeiten der Kapitalaufbringung andrerseits Sicherheitsbedenken beseitigten und einzelne Länder zum Verzicht auf die Errichtung von Anstalten bewogen. Die bescheidene Dotierung der Anstalten ließ auch auf dem baulichen Sektor vielfach nur Notlösungen zu. Es ist dabei die Distanz der o f t bloß behelfsmäßig adaptierten Altbauten zum international anerkannten Standard abzuschätzen; ebenso daraus resultierende Hindernisse für eine durchschlagende Verbesserung der häufig tristen sanitären Verhältnisse. Andrerseits werden auch jene Fälle zu würdigen sein, bei denen man bewußt neue Lösungen wählte oder auf ausländische Erfahrungen zurückgriff. - Dieser Abschnitt soll aber nicht nur Standort- und Objektwahl sowie Details der baulichen Gestaltung dokumentieren. Zumindest in Ansätzen wird auch der Versuch unternommen, den Auswirkungen der baulichen Struktur auf die Mentalität der Insassen nachzugehen. Die Reduzierung des Vollzugs auf die Bereiche „Arbeiten" und „Schlafen" ließ eine Simulation der Außenwelt mit gesonderten Sphären für Arbeit, Wohnen, Freizeit etc. lange nicht zu und erschwerte damit die Resozialisierungsbestrebungen der Institutionen ganz wesentlich. Es wird" dabei die Zählebigkeit überkommener Bewußtseinsinhalte, namentlich die Dominanz von Strafgedanken als Haupthindernis

Fragestellungen

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für Neuerungen im Vollzugsbereich entsprechend zu berücksichtigen sein. Ähnliche Konsequenzen konnten auch aus festgefahrenen Einstellungen des Anstaltenpersonals erwachsen. Ein einschlägiges Kapitel hat daher Selektionsmechanismen, Qualifikationserfordernisse und Kompetenzen der Verwaltungs- und Aufsichtsbediensteten zu beschreiben. Es sind dabei im einzelnen die Wirkungsbereiche der verschiedenen Positionsträger abzustecken, mögliche Spannungsherde mit teilweise nicht fix angestellten und außerhalb der engeren Hierarchie stehenden Beschäftigten (Ärzte, Seelsorger) aufzuspüren, der Kreis geforderter Kenntnisse und Verwaltungserwartungen zu erschließen, die Diskussion um eine spezifische Berufsausbildung abzuklären. Es werden bei diesen Fragen Zusammenhänge mit dem Durchdringen

des

Bürokratisierungsprozesses

herzustellen

sein,

welcher seit dem Zeitalter des Absolutismus den gesamten Bereich der öffentlich-rechtlichen Herrschaft erfaßte. Dabei sind sowohl Beharrungstendenzen, Trends zur Versteinerung archaischer Befugnisse und Haltungen zu beachten als auch stärker reformorientierte Ansätze. Daraus abgeleitete Schlüsse über den Grad der Berufszufriedenheit des Anstaltenpersonals erhalten durch eine Analyse der Besoldungsverhältnisse eine zusätzliche Abstützung. Im Rahmen dieser Untersuchungen ist aber auch stets auf mögliche Auswirkungen der Machtkonstellationen auf die Lage der Insassen Bedacht zu nehmen. Der sozialen und altersmäßigen Zusammensetzung der Insassen von Zucht- und Arbeitshäusern ist ein weiterer Abschnitt gewidmet. Sowohl die formalen Einweisungsvorschriften als auch detaillierte Angaben über die Verstöße der Zucht- und Arbeitshäusler lassen auf einen äußerst inhomogenen Personenkreis schließen. Zu Kriminalverbrechern

gesellten sich kleine Diebe, Betrüger,

Fälscher,

Schmuggler, Wilderer, Dirnen, Bettler, Landstreicher, aber auch unbotmäßige Dienstboten und andere hausrechtlich abhängige Personen. Teile dieses Spektrums zeigen deutlich, daß nicht allein strafbare Handlungen, sondern bereits bloße Beanstandungen in der Lebensführung eine Einlieferung veranlassen konnten. Es wird eingehend zu überprüfen sein, ob die Insassenstruktur im Zuge gesetzlicher Neuregelungen eine entscheidende Änderung erfuhr. Die kriminelle Karriere einzelner Zwangsarbeiter kann aufgrund von Personalakten u.ä. ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgt werden. Dabei ist vor allem die Potenzierung verschiedener

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Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

Hypotheken ökonomischer, sozialer und psychischer Art in ihren Auswirkungen auf das Entstehen von Kriminalität zu beobachten. Exakte Angaben über Alters- und Berufsstruktur der Insassen können erst mit dem Vorliegen statistischen Materials gegeben werden. Sie gestatten es, zeitgenössische Stereotypen bei der Beurteilung der Anstaltsinsassen durch Gesetzgeber und Öffentlichkeit auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Gleichzeitig ist damit eine etwaige Ersatzfunktion der Zwangsarbeitshäuser für andere soziale Hilfseinrichtungen (Altenheime, Trinkerheilstätten, Spezialanstalten für Jugendliche etc.) zu diagnostizieren. Eine zusätzliche Erklärungshilfe bieten hier Berichte der Verwaltungsorgane über psychische und körperliche Konstitution der Insassen. Diese Informationen lassen die Frage beantworten, ob zahlreiche Zwangsarbeiter therapeutisch zu behandelnde „Fälle" darstellten, welche ein fortgeschrittener medizinischer Erkenntnisstand in Spezialanstalten übernommen hätte. Breiter Raum kommt der detaillierten Beschreibung des Anstaltslebens zu. Dabei wird der gesamte Komplex des Vollzugs - von der Aufnahme über die Gestaltung des Tagesablaufs bis zur Entlassung - auf seine Konstanten wie Veränderungen vom ausgehenden 17. bis ins beginnende 20. Jahrhundert hin überprüft. Es sind dabei im besonderen für die Gegenwartswissenschaften klärende Bezüge angestrebt, welche die Haftanstalten als Produkt der historischen und damit veränderbaren - Entwicklung erkennen lassen. Gewisse Schwächen dieserDarstellung liegen in Quellenproblemen begründet. Es ist verhältnismäßig einfach, die verschiedenen Schattierungen im Beziehungsgeflecht des Sozialgebildes „Anstalt" von normativen Vorschriften und Satzungen her in den Griff zu bekommen. Ein wesentliches Anliegen besteht dabei darin, die Auswirkung von miteinander vielfach kollidierenden Zielvorstellungen auf die Anstaltsstrukturen festzustellen. Weit größeren Hindernissen begegnet man aber bei Aussagen über die Vollzugswirklichkeit. Da es an Selbstdarstellungen von Häftlingen mangelt und auch deren Angaben etwa in protokollarischer Form fehlen, ist man auf Schlußfolgerungenausden spärlichen, gefilterten Informationen von Verwaltungsorganen oder auf themenspezifische Diskussionen innerhalbvon Behördenangewiesen. Spezielle Enquetenbzw. die Behandlungwesentlicher Anliegen in der wissenschaftlichen wie Tagespublizistik ermöglichen namentlich im ausgehenden 19. Jahrhundert zusätzliche Anhaltspunkte.

Quellenmaterial und Zielsetzungen

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Zusammenfassend werden abschließend die tatsächlichen Funktionen der österreichischen Zucht- u n d Arbeitshäuser im Ubergang von der „alteuropäischen" zur industriellen Gesellschaft aufgeschlüsselt. Zielsetzungen u n d F u n k t i o n e n sind keineswegs als dekkungsgleich anzusehen. Vielmehr m u ß j e d e Umschichtung bzw. die jeweils entscheidende Gewichtung innerhalb der Aufgabenpluralität der Anstalten beachtet werden. In einer synthetischen Betrachtung sind die T r i e b k r ä f t e für die Setzung b e s t i m m t e r Prioritäten zu ermitteln. Die Diskrepanzen zwischen den o f t nur undeutlich deklarierten Vorhaben, den eingesetzten Mitteln zur Erreichung dieser Ziele u n d den empirisch überprüfbaren Ergebnissen ermöglichen Hinweise auf die Effizienz der Anstalten im R a h m e n des sozialen Sicherungs- u n d Kontrollsystems des Habsburgerreichs. Der zeitliche R a h m e n der Untersuchung ist durch die Gründung des ersten österreichischen Zuchthauses in Wien (1671) u n d durch die Umwandlung der Zwangsarbeitshäuser in Anstalten für Rückfallstäter (1920) gegeben. Die Studie b a u t auf umfangreichen handschriftlichen Quellen des Allgemeinen Verwaltungsarchivs, des Hofkammerarchivs, des Wiener Stadt- u n d Landesarchivs, des Niederösterreichischen Landesarchivs, des Oberösterreichischen Landesarchivs u n d des Tiroler Landesarchivs auf. Diese Bestände enthalten sowohl allgemeine Angaben über Sicherheits-und Armenpolitik von Staat u n d L ä n d e r n als auch Detailinformationen zur Geschichte einzelner Anstalten. Mit der Vernichtung wesentlicher Bestände der Hofkanzlei im J a h r 1927 ist wichtiges Material zentraler Instanzen in Verlust geraten. Dieser U m s t a n d machte ebenso wie die große Streuung des Archivmaterials die gleichwertige Behandlung sämtlicher Zucht- u n d Arbeitshäuser des Reiches unmöglich; der böhmischmährische Raum sowie die Randgebiete der Monarchie treten leicht in den Hintergrund. Ein gewisses Korrektiv bieten hier gedrucktes Quellenmaterial u n d zeitgenössische Darstellungen. Durch ihre Verwendung wird die Gefahr vermieden, die Arbeit an T y p e n zu orientieren, über deren Allgemeingültigkeit keine volle Klarheit besteht. Analoge Schwierigkeiten sind für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht gegeben. Hier verfügt m a n mit Protokollen von Abgeordnetenhaus, Herrenhaus, Landtagen u n d Gemeinderäten, mit den Tätigkeitsberichten der Landtage sowie mit z u n e h m e n d e n zeitgenössischen Publikationen über eine solide Materialbasis, welche breit angelegte Vergleiche zuläßt. Dadurch ist es möglich, Aussagen

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Zucht- und Arbeitshäuser als Forschungsgegenstand

über die Beharrungskraft gesellschaftlicher Strukturen und der von ihnen geprägten Wertvorstellungen zu treffen. Mit dem vorliegenden Thema wird ein bislang offenes Interessenfeld der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte berührt. Dabei war die Arbeit bestrebt, den engeren Fachbereich gelegentlich zu überschreiten und mit Nachbardisziplinen wie anderen Wissenschaftszweigen in einen Meinungsaustausch zu treten. Namentlich in den Abschnitten über das österreichische Armenwesen, die Gestaltung des Haftvollzugs und über die Funktion der Anstalten wurden einige Fragestellungen der sozialwissenschaftlichen Literatur aufgegriffen. Damit war eine gewisse Erweiterung der Perspektiven historischer Forschung angestrebt. Der Typus des alten Zucht- und Arbeitshauses hat im Strafvollzug der Gegenwart keinen Platz mehr. Lange jedoch erfüllten diese Anstalten auch die Aufgabe von Gefängnissen, zahlreiche Mechanismen dieser archaischen Einrichtungen wurden nach der institutionellen Differenzierung von den Strafanstalten übernommen und haben in wenngleich modifizierter Form im gegenwärtigen System des Freiheitsentzugs einen festen Platz behalten. Den Gegenwartswissenschaften sollte daher das Geflecht der Funktionszusammenhänge wie Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen dieser spezifischen Vollzugstypen vorgestellt werden. Vielleicht ist es damit gelungen, einen Beitrag zur Überprüfung scheinbar überzeitlicher und daher nicht ausreichend hinterfragter Sanktionsnormen zu leisten.

2. DAS ÖSTERREICHISCHE ARMENWESEN VON LEOPOLD I. BIS ZUM AUSGANG D E R MONARCHIE 2.1. Bettelgesetze

in der Epoche des

Merkantilismus

Der Dreißigjährige Krieg h a t t e in den österreichischen Kronländern zu einer gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation beigetragen. Zwar waren nur B ö h m e n , Mähren, Schlesien u n d das nördliche Niederösterreich von den Auseinandersetzungen unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen worden. Steuern u n d Abgaben belasteten indessen sämtliche Länder. Der Abbruch alter Handelsbeziehungen u n d der Verlust traditioneller Märkte leiteten eine Rezession bei den meisten Exportgewerben ein. Selbst die Alpenländer als Zentren der Edelmetall- und Eisengewinnung blieben von Schwierigkeiten nicht verschont. Die vorerst stagnierende Bevölkerungsentwicklung verschlechterte auch die Absatzmöglichkeiten der Landwirtschaft u n d führte auf diesem Sektor zu einer schweren Existenzkrise, welche bis in die achtziger J a h r e des 17. J a h r h u n d e r t s anhielt (1). Die von verschiedenen F a k t o r e n bedingte Einengung des Arbeitsmarktes beschleunigte die Verarmung breiter Bevölkerungskreise. „Herren- u n d Dienstloses Gesinde, Banditen u n d Spieler, so dem Müßiggang u n d f r e y e n Leben nachgehen" (2) h a t t e n die österreichischen Landesfürsten schon seit Ferdinand I. eher erfolglos b e k ä m p f t . Nun aber waren diese gesellschaftlichen Randgruppen, welche teilweise ohne festen Wohnsitz u n d daher keiner Grundobrigkeit unterw o r f e n d u r c h das Land streiften, in ständiger Z u n a h m e begriffen. Diese Marginalen wurden in den Mandaten, Banntaidingen u n d D o r f o r d n u n g e n stets als inhomogene F o r m a t i o n beschrieben (3): Arbeitsscheue Bettelleute, die sich gern als Nonnen, Pilger, Eremiten oder Sammler für abgebrannte Kirchen ausgaben bzw. körperliche Schäden vortäuschten; Zigeuner; entlassene Landsknechte, welche in die herrschende Arbeitsorganisation nur schwer wiedereinzu-

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Das österreichische Armenwesen

gliedern waren; Vertreter unehrlicher Berufe, wie Abdecker, Spielleute u.ä. Davon kaum auseinandergehalten wurden die infolge Krankheit und Gebrechen arbeitsunfähigen Personen, die breite Schicht der durch Kriegsereignisse und Rezession unverschuldet Verarmten, arbeitssuchende Kurzarbeiter, Saisonarbeiter, reisende Handwerksgesellen. Die verschiedenen Quellen, aus denen der Strom einer fluktuierendenBevölkerung mit äußerst beschränkten Existenzmöglichkeiten entstand, sind vielfältig und noch nicht durchgehend aufgedeckt (4). Die Grenzlinie zwischen Armen und Kriminellen war keineswegs klar zu ziehen; daher auch die undifferenzierte Einstellung der Obrigkeit gegen diese sozialen Außenseiter. Der verstärkte Zuzug dieser Elemente in die Städte entstand nicht allein aus der H o f f n u n g auf Erwerbsmöglichkeiten, sondern war auch ganz wesentlich durch die Gestaltung der Armenfürsorge mitbedingt (5). Schon die ausführliche Polizeiordnung von Kaiser Ferdinand I. von 1552 hatte allen Gemeinden die Versorgungspflicht für ihre Armen übertragen. Diese entledigten sich ihrer Aufgabe durch die Austeilung von Almosen oder von Abzeichen, welche die Berechtigung zum Bettel erkennen ließen. Dieses Prinzip wurde jedoch von den finanziell schwachen ländlichen Gemeinden wieder durchbrochen. Ihnen war die Ausstellung von Bescheinigungen gestattet, womit auch an anderen Orten gebettelt werden durfte. Somit erlangten gerade die größeren Siedlungen eine verstärkte Anziehungskraft, da hier kirchliche Institutionen, Ordens- und Bürgerspitäler sowie Bruderschaften im Geist mittelalterlicher Caritas weiterwirkten und die Anwesenheit des stadtsässigen Adels wie der wohlhabenden Bürgerschaft reichere Spenden erhoffen ließ. Von dieser Entwicklung war Wien, mit rund 80 000 Einwohnern in Innerer Stadt und Vorstädten um 1680 die größte Stadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, stark betroffen (6). Leopold I. trachtete durch eine rege Bautätigkeit dem Glanz ausländischer Metropolen nachzueifern. Die Ausgestaltung des Hofstaates zog den Adel und mit ihm ein Heer von Bediensteten an. Die wachsende Prachtentfaltung der Kaiserstadt war ausschließlich von den Oberschichten getragen. Das städtische Bürgertum wurde im Hausbesitz von Aristokratie, Klerus und Beamtenschaft überflügelt, das Handwerk in die Vorstädte verdrängt. Die Schaffung einer großartigen Residenz besaß jedoch eine düstere Kehrseite: Die namentlich im Verlauf der zweiten Türkenbelagerung wachsenden Bettler-

Anwachsen von Randgruppen

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zahlen, derer m a n weder durch A b s c h a f f u n g noch durch eine R e f o r m der Fiirsorgeeinrichtungen Herr werden k o n n t e . Die Zweitveröffentlichung eines Patents aus dem J a h r e 1662 am 8. April 1682 schilderte die damalige Situation recht drastisch: „... inmassen es auch die tägliche Erfahrung gibet, daß allenthalben von d e m Land herein unterschiedlich krancke Personen hiesiger Stadt zugehen, u n d ... folglich bey d e m Burger-Spitall, u n d Portzmayrischen H a u ß im tieffen Graben nidersetzen, oder gar niderlegen: dergestalten, daß m a n sie, w a n n die änderst nicht auff der Gassen sterben, oder verderben sollen, gleichsamb aus N o t h einzunehmen, u n d zu verpflegen getrungen wird; w o d u r c h dann hiesiger Stadt unnothwendige u n d in der Länge unerschwingliche Unkosten auffgebürdet w e r d e n " (7). Diese Beschreibung kann als beispielhaft für viele ähnliche zeitgenössische Berichte gelten, die v o m 16. bis ins 18. J a h r h u n d e r t die ständige Massierung von Bettlern, Siechen u n d Vagabunden in Wien verzeichnen (8). Nicht nur im habsburgischen Herrschaftsbereich, sondern auch in den deutschen Staaten, in Frankreich u n d England f o r d e r t e die Z u n a h m e von R a n d g r u p p e n verstärkte G e g e n m a ß n a h m e n . In Paris schätzte man u n t e r der RegierungLudwigs XIV. die Zahl der Bettler auf 40 000, etwa ein Fünftel aller Einwohner. Ähnliche Prozentsätze sind für das 18. J a h r h u n d e r t u.a. aus R o u e n u n d Tours, aber auch aus Köln u n d H a m b u r g überliefert (9). Es war daher ein ganzes Bündel von Erwägungen, welches zu G e g e n m a ß n a h m e n drängte: An der Spitze standen sicherheitspolizeiliche Überlegungen, die an wiederholte Brandschatzungen u n d andere Gewaltakte auf dem flachen Land a n k n ü p f t e n (10). Es erhob sich dabei die Befürchtung, daß ähnliche A k t i o n e n bei einem völlig unzureichend versorgten u n d n u r m a n g e l h a f t kontrollierbarengroßen A r m e n p o t e n t i a l bedrohliche Breitenwirkung erlangen k ö n n t e n (11). Wesentliches Gewicht besaßen außerdem finanzielle Motive. Nach scholastischer Auffassung war das Almosengeben eine religiös-ethische Verpflichtung gewesen, die nicht zwischen lasterhaften u n d würdigen A r m e n unterschieden hatte (12). Das Fortwirken einer derartigen Einstellung b e d e u t e t e aber eine fühlbare Beeinträchtigung der regelmäßigen Sammlungen, welche n u n m e h r ausschließlich genau überprüften Bedürftigen zugute k o m m e n sollten; außerdem war der A u f w a n d für die ständig einsickernden Siechen u n d Kranken nur schwer einzuplanen. - Zu diesen A r g u m e n t e n kam auch noch die

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Das österreichische Armenwesen

Abneigung gegen die wiederholte Belästigung der Städter durch Bettler in vielen Phasen des Tagesablaufs (13); dazu gesellten sich unter Eindruck der Pestjahre 1679 und 1692 gesundheitspolizeiliche Rücksichten (14). Bei den nunmehrigen Versuchen zur Lösung der Armenfrage läßt sich ein breites Spektrum verschiedenartigster Bestrebungen verfolgen, welches von scharfen Repressivmaßnahmen bis zur Arbeitserziehung und zum Ausbau bestehender Fürsorgeeinrichtungen reichte. Diese stark divergierenden, mitunter aber auch miteinander verzahnten Ansätze sind in zweifacher Hinsicht aufschlußreich: Einerseits zeigen sie die langsam durchdringende Neubewertung des Phänomens Armut, welche sich seit dem Einsetzen der Aufklärung vollzog; andererseits lassen sich die vielfältigen Schwierigkeiten erkennen, denen die aufstrebende absolutistische Fürstenmacht als Ordnungsfaktor begegnete. Es wird noch eingehend darzustellen sein, daß der neuartigen Institution des Zucht- und Arbeitshauses gewissermaßen als Synthese verschiedenster Funktionen dabei großer Stellenwert zukommen sollte. Eine unabdingbare Voraussetzung für die Abstellung des Bettels sah man in der Einhaltung der ferdinandeischen Reichspolizeiordnung. Offene und geschlossene Armenpflege als Aufgabe von Grundherrschaften und Gemeinden sollten nicht nur eine verschärfte Kontrolle über die vagabundierenden Leute, sondern auch eine Entlastung des Fürsorgeaufwands der Städte-vor allem Wiens - gewährleisten. Als Anreiz wurde den Obrigkeiten die Möglichkeit gegeben, die Befürsorgten als Äquivalent zu Arbeitsleistungen heranzuziehen (15). Trotz wiederholter Betonung des Heimatprinzips blieb die Kompetenzfrage in Armensachen ein ständiger Problembereich. Neue organisatorische Grundsätze versuchte Maria Theresia in der „Bettlerschub- und Verpflegsordnung" vom 22. November 1754 festzulegen (16). Dabei wurden die Hilfsbedürftigen in drei Kategorien eingeteilt: Für behauste und unbehauste Bürger sowie für alle durch mindestens zehn Jahre an einem Ort ansässigen Inwohner sollte eben diese Aufenthaltsgemeinde sorgen; für Gesinde mit mehr als zehnjähriger Dienstzeit galt dieselbe Regelung (lediglich für die Dienstleute der Ortsobrigkeit haftete die Herrschaft selbst); Personen mit wechselndem Aufenthalt wurden an ihren Geburtsort verwiesen. Damit hatte man die administrative Kompetenz möglichst

Konzentration der Armenfonds

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den tatsächlichen Lebensverhältnissen anzugleichen versucht und Armenversorgung hinsichtlich der erstgenannten Personenkategorien als eine Art Entgelt für frühere ökonomische Leistungen oder Dienste aufgefaßt. Diese Ordnungsvorstellungen der Landesfürsten blieben jedoch aus materiellen Gründen überwiegend unrealisiert. Viele Herrschaften versahen in Not geratene Untertanen nach wie vor mit Bettelbriefen und schickten sie in die nächsten Städte. Auch die nachdrücklichen Strafandrohungen für Unterbleiben derHilfeleistungen erwiesen sich mangels durchgreifender Kontrollinstanzen letztlich als wirkungslos. Weitere positive Maßnahmen zur Eindämmung der Armut konnten sich vor allem in Wien entwickeln. Sie bestanden in der Gründung verschiedener Wohltätigkeitsanstalten nach zeitgenössischem Verständnis, in der Schaffung neuer Fonds zur Bestreitung der Armenauslagen. Während die Hofalmosen- und Konvertitenkasse vor allem die obligaten Gaben und Zuschüsse des Hofes abdeckte, bezweckte die 1704 erstmals erwähnte cassa pauperum eine Zusammenfassung sämtlicher Almosen aus der Wiener Bevölkerung (17). Die Parallelen, welche die Organisation von Kapitalaufbringung und -Verteilung noch mit der Almosenverwaltung spätmittelalterlicher Städte aufwies, sind unverkennbar: Regelmäßige Sammlungen bei Hof, in den Kirchen und Privathäusern unter Aufsicht des Stadtrates speisten den Fonds, dessen Gebarung der Überwachung von Statthalter, Landmarschall und Erzbischof unterlag; eine strenge Individualisierung der Armenpflege mit ihren Kontrollmechanismen garantierte widmungsgemäße Beteilung; die wiederholten Verweise auf die „Richtschnur Christlicher Liebe" (18) vertieften die religiöse Motivation. Bald jedoch dehnte man den Aufgabenbereich der Armenleutkasse von den bloßen Handbeteilungen auf die Mitfinanzierung der zahlreicher werdenden Anstalten aus. 1724 ließ Karl VI. ausdrücklich festhalten, daß letztere Auslagen den Vorrang genossen (19). Somit konnte trotz namhafter außerordentlicher Dotationen von sehen der Regierung wie Kapitalinteressen, Strafgelder (darunter 1745 die Herrschaft Ebersdorf bei Wien), Versteigerungsprozente u.a.m. die Kasse den an sie gestellten Anforderungen keineswegs in vollem Ausmaß nachkommen. Dieses Phänomen ist in engem Zusammenhang mit Veränderungen im sozialen Gefüge der österreichischen Bevölkerung zu sehen.

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Das österreichische Armenwesen

Strukturell numerische Quellen für das 17. und frühe 18. Jahrhundert sind bereits punktuellfüreinigeStädteaufgearbeitetworden(20). Aus diesen Untersuchungen läßt sich eine zunehmende haushaltliche Verselbständigung ehemals hausrechtlich abhängiger Personengruppen feststellen. Die zunehmende Abschichtung des Gesindes erfaßte sämtliche Primärgruppen der vorindustriellen Gesellschaft - Adels-, Handels-, Gewerbe- und Bauernhaus. Diese Entwicklung wurde durch die landesfürstliche Politik der Hofbefreiungen u n d der Förderung unzünftiger Gewerbe beschleunigt. Auch im ländlichen Bereich dominierte, wenn man die Daten der maria-theresianischen und josephinischen Erhebungen zurückprojiziert, die Gruppe der kleinen Landwirte und Häuselleute o f t deutlich (21). Freilich sind bei der Frage der Betriebsgrößen regionale Unterschiede nach Wirtschaftsform und Erbrecht zu berücksichtigen. Generell waren jene Bevölkerungsgruppen in Zunahme begriffen, welche auf keinerlei Schutzfunktionen eines „ganzen Hauses" oder genossenschaftlicher Sicherungseinrichtungen zurückgreifen konnten. Es handelte sich dabei um unterbäuerliche Schichten, desintegriertes Gesinde, Lohnarbeiter in den entstehenden Manufakturen und Fabriken, welche Conze unter dem Sammelbegriff „Pöbel" vereinigt hat (22). Jegliche Absicherung gegen die Risken Armut, Arbeitslosigkeit, Unfall, Krankheit und Alter - wie sie etwa Zünfte und Gesellenverbände boten (23) - fiel hier weg. Bereits geringfügige Konjunkturschwankungen mit Nachfragerückgängen im In- und Ausland stellten diese unterständischen Grenzexistenzen in bitterste Notsituationen. Zwar hatte die rasche Bevölkerungsvermehrung in den österreichischen Ländern seit den 1680er J a h r e n zu einer Belebung des Agrarmarktes geführt, welche etwa vier Jahrzehnte anhielt. Auf dem gewerblich-industriellen Sektor gelangen ebenfalls erste Erfolge. Infrastrukturelle Verbesserungen ermöglichten eine Erweiterung des inländischen Angebotes vorab bei gesuchten Luxusgütern (Seide, Porzellan). Diese Auftriebstendenzen können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß hochgesteckte Ziele der Handels- und Gewerbepolitik Karls VI. nicht erreicht wurden (24). Die Blütezeit der Orientalischen Kompagnie und ihrer Gründungen währte nur knapp ein Jahrzehnt, die Ostindienkompagnie scheiterte am Widerstand der europäischen Seemächte. Diese Mißerfolge waren in erster Linie auf das Fehlen wichtiger Voraussetzungen merkantilistischer Wirtschaftspolitik zu-

Absolutistische Repressionsmafinahmen

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rückzufiihren. Es mangelte an ausreichenden Finanzmitteln, einer einheitlichen zentralstaatlichen Administration und einem geschlossenen inländischen Absatzgebiet zur Erhöhung kaufkräftiger Nachfrage. Durch die Wechselhaftigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung kam den verschiedenen Repressivmaßnahmen, mit denen die absoluten Herrscher dem Bettel beizukommen trachteten, nur beschränkte Wirksamkeit zu. Dies gilt vor allem für die lange Reihe von Bettelverboten. Vom Patent Leopolds I. vom 26. März 1693 für Österreich unter der Enns zur Resolution Maria Theresias über „Bettler Abstellung und Respektierung der Polizey-Wache" vom 16. April 1769 (25) zieht sich ein breiter Bogen einschlägiger Verordnungen für die einzelnen österreichischen Kronländer. Ihre Einhaltung sollte durch verschiedene flankierende Maßnahmen garantiert werden (26). Dazu zählte in erster Linie der Versuch, die Landesgrenzen gegen fremde Vaganten möglichst hermetisch abzuschließen. In diesem Sinne bemühte man sich um eine verstärkte Kontrolle der Hauptverkehrswege. Den Mautnern und Aufschlägern wurde größte Aufmerksamkeit auf sämtliche Einreisende nahegelegt, die Schiffsleute erhielten bei schwerer Strafandrohung das strikte Verbot, verdächtige Müßiggänger zu befördern. Parallel dazu verlief der Ausbau der Sicherheitseinrichtungen im Inneren (27). Da die Landesfürsten des ausgehenden 17. Jahrhunderts noch über keine stehende Polizeitruppe verfügten, mußte man sich auf die Kräfte der bestehenden Verwaltungseinheiten stützen. Zu den immer wiederkehrenden Verfügungen an die Grundobrigkeiten zählten der Auftrag zur Abtragung von Bettlerhütten, den Schlupfwinkeln der Randexistenzen, dann das Verbot, fahrenden Leuten Unterstand zu gewähren. Weiters wurde den Herrschaften oder Ständen die Aufstellung von Fahndungskontigenten aus ausgedienten Soldaten anbefohlen, welche eine regelmäßige Patrouillentätigkeit durchführen sollten - womit man sich gleichzeitig zumindest teilweise dieses brennende Versorgungsproblems entledigt hätte. Als überaus wirkungsvoll jedoch schätzten die Hofstellen die Landesvisitationen ein, die sie in umfangreichen, miteinander weitgehend identischen Reskripten zu wiederholten Malen anordneten. Diese vorerst auf das Erzherzogtum unter der Enns beschränkten Streifungen dehnte man nach und nach auch auf die anderen

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Das österreichische Armenwesen

Kronländer aus. Unter Beteiligung von Beamten und Untertanen jeder Herrschaft wurden unvermutet Säuberungsaktionen vorgenommen, sämtliche Verdächtigen aufgegriffen und eingehend verhört. Die sofort zu informierende Regierung hatte den Entscheid über Art der Versorgung oder Abschiebung zu treffen. Daß diese Anordnungen aber nur geringe Durchschlagskraft besaßen, beweist schon ihre wiederholte Erneuerung. Mißerfolge wurden der „sträflichen Hinläßlichkeit einiger Beamten, Richter und Vorsteher" zugeschrieben (28). Leichter überprüfbar gestaltete sich die ebenfalls verstärkte Überwachungstätigkeit in der Residenz, wenngleich sich auch hier die Erfolge in Grenzen hielten. Zu den neuen Verfahren zählten die von Leopold I. angeordneten Einwohneraufnahmen und Meldevorschriften sowie der Ausbau der Sicherheitsorgane durch die Niederösterreichische Regierung (29). Neben die alte Stadtguardia (sie bestand bis 1741) war 1646 die Rumorwache getreten, unter deren Kontrolle wieder eine eigene Sicherheitsnachtwache stand. Ausschließlich zur „Abtreibung der Bettelleut" diente seit 1732 die ca. 30-köpfige Tagwache, im Volksmund „Bettelfanger" genannt. Unter Maria Theresia wurde eine Reihe von Reformplänen zur Verbesserung der städtischen Sicherheitsverhältnisse verwirklicht. Den ersten Schritt bildete 1751 die Schaffung gesonderter Polizeireviere in Stadt und Vorstädten. Die geringe Zuverlässigkeit, die mangelnde Ordnung und die Unbeliebtheit der Wachkörper bei der Bevölkerung waren die Hauptursachen für ihre Auflösung und die Aufstellung einer neuen, militärisch organisierten Polizeiwache (1776). Bei den Razzien, Armenvisitationen und der Anlage von Bettlerverzeichnissen griff man auf Methoden zurück, wie sie den städtischen Obrigkeiten schon seit dem Mittelalter bekannt waren. Dabei versuchte man armenpolizeiliche Gesichtspunkte - Trennung der Einheimischen von Fremden wie Sonderung der Arbeitsuntüchtigen und Arbeitsunfähigen (30) - mit zentralen Verwaltungsinteressen zu verbinden. Diese Absichten scheiterten jedoch wieder an Unverständnis und Unwillen der lokalen Instanzen, die „sothane Verzeichnisse zwar dem Schein nach eingereichet, dieselbe aber so dunkel und unvollkommen entworfen" hatten, daß daraus keine verläßlichen Daten entnommen werden konnten (31). Die Strafordnungen für aufgegriffene Bettler wiesen in sämtlichen europäischen Ländern übereinstimmende Härten auf. Verschärfung

Schub und Zwangsarbeit

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der Bettelverbote, Schub, harte körperliche Bestrafung bzw. Einweisung in ein Werkhaus bildeten die Grundkonzeptionen obrigkeitlichen Vorgehens auch in den deutschen Kleinstaaten, in Frankreich und England (32). Die Einstellung den Armen gegenüber blieb von der Auffassung geprägt, daß die Ursachen für Verarmung und Bettelei im Eigenverschulden des Betreffenden zu suchen seien. Ein Reskript Leopolds I. von 1679 mit dem Geltungsbereich Wien faßte die beim damaligen Vorgehen üblichen graduellen Abstufungen zusammen. Bei den jährlichen Armenvisitationen sollten alle Bettler ohne Stadtzeichen ausgewiesen, bei abermaliger Anhaltung jedoch „durch den Scharfrichter am Pranger öffentlich gestrichen, und zum Fahl dieses alles noch nicht Warnung genug wäre, das dritte mahl in Band und Eysen, gewisse J a h r auff ein Graenitz-Orth, oder wol gar umbs Leben, andern zum Exempel, abgestrafft werden" (33). Das mildeste und bequemste Mittel, sich unwillkommener Vagabunden zu entledigen, war der Schub in die Heimatgemeinde. Einen ersten Versuch, die bisher vagen Anordnungen über das „Abschaff e n " des Bettelvolkes durch ein festes System zu ersetzen, bildeten die Schubpatente Karls VI. Es kam zur Einführung fester Termine, zur Bezeichnung der Schubwege und Verpflegsorte, zur Festsetzung des Ausmaßes der Wegzehrung, zu Verordnungen hinsichtlich der Begleitmannschaft u.a.m. (34). Entsprechend der kontinuierlichen Aktualität des Bettlerproblems hat auch Maria Theresia den Angelegenheiten des Schubwesens größtes Augenmerk geschenkt und verschiedenste Änderungen bzw. die Anpassung an das neue Administrativmodell der Kreisverfassung durchgeführt (35). In Kreisen bekannter Aufklärer ist allerdings die Zweckmäßigkeitdieser Maßnahmen auf heftige Kritik gestoßen, da man bei Aufgreifung und Abtransport der Verdächtigen nicht gerade wählerisch vorging, und die zwangsweise Wegschaffung von Arbeits- und Unterstandslosen am Kern dieses Problems vorbeiging (36). Die weitgehende Identifikation von Bettel und Kriminalverbrechen ist aus analogen Methoden des Strafvollzugs zu ersehen. Ihnen begegnet man in Österreich ebenso wie in anderen europäischen Ländern; es sei hier nur auf die berüchtigten französischen Galeeren verwiesen

(37). Seit dem 17. Jahrhundert übernahm man zu-

nehmend das System der Verurteilung zu öffentlichen Zwangsarbeiten und dehnte es auch auf Bettierund Vagabunden aus. Feldarbeiten auf den Herrschaften oder in den Entwicklungsgebieten öst-

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Das österreichische Armenwesen

licher Reichsteile, Einsatz für Straßen- u n d Wegerhaltung bzw. Gassenreinigung in den Städten waren dabei noch leichterer Natur u n d his weit ins 18. J a h r h u n d e r t hinein a n z u t r e f f e n . Ungleich schwerer erwies sich j e d o c h die Heranziehung zu Schanzarbeiten, die angesichts der p e r m a n e n t e n Tiirkengefahr sowohl an den Grenzen (38) als auch in der Residenz selbst von außerordentlicher Dringlichkeit waren. Diese Strafe w u r d e wahrscheinlich schon seit der Ersten Türkenbelagerung verhängt; sie scheint auch in der peinlichen Landesgerichtsordnung Ferdinands II. von 1656 auf u n d ist seitdem in zahlreichen landesfürstlichen Mandaten anzutreffen (39). Die damit verbundene körperliche Überbeanspruchung der Verurteilten m a c h t e j e d o c h jeden Resozialisierungseffekt aussichtslos u n d diese F o r m der Zwangsarbeit zu einem recht zweifelhaften Mittel zur B e k ä m p f u n g der Armenfrage. Unterdrückung u n d Abschreckung der Randgruppen bildeten auch die Leitlinien für zwei andere M e t h o d e n der B e t t e l b e k ä m p f u n g : Die Verurteilung zur Zwangsarbeit in den ungarischen Bergstädten (40) bzw. die Zwangsrekrutierung (41). Bei diesem Vorgehen, das gleichzeitig die körperliche Züchtigung langsam verdrängte, läßt sich ein neues Bestreben orten. Der Staatswirtschaft bzw. den Interessen des absoluten Herrschers sollten zu besonders vorteilhaften Bedingungen sämtliche verfügbaren Arbeitskräfte n u t z b a r gemacht werden. Diese Forderung stand in Einklang sowohl mit den merkantilistischen Wirtschaftstheorien, die später eine Synthese mit physiokratischen Lehrmeinungen eingingen, als auch mit dem G e s a m t k o n z e p t des aufgeklärten Absolutismus. In b e t o n t e m Rigorismus unterwarf ein „säkularisiertes Weltverständnis" (42) den gesamten Staat u n d alle seine Einrichtungen einer grundlegenden N e u o r d n u n g . Die Rolle des Herrschers wurde dabei als die eines Sachwalters u n d Beauftragten des Volkes definiert, der alle seine K r ä f t e in den Dienst seiner Untertanen stellte. In Österreich gab die Beendigung des Erbfolgekrieges den Startschuß zur Realisierung umfassender wirtschaftspolitischer Initiativen (43). Die B e h ö r d e n r e f o r m e n Haugwitz' führten den A u f b a u zentraler Wirtschaftsinstitutionen weiter. Das ,,Directorium in publicis et cameralibus", Vorläufer der k.k. vereinigten böhmischösterreichischen Hofkanzlei, zog als oberste Behörde für die politische u n d Finanzverwaltung z u n e h m e n d wirtschaftliche Agenden an

Intensivierung des Produktionsfaktors Arbeit

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sich. Der Erlaß einer neuen Zollordnung (1775), der Ausbau der Verkehrsverbindungen sowie umfangreiche statistische Erhebungen (in Form der Manufakturtabellen) arbeiteten zusätzlich auf die Schaffung eines „Universalkommerz" hin, auf den Zusammenschluß aller Länder zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Die Gewerbepolitik suchte weiterhin Mißstände und Produktionseinschränkungen abzubauen, die aus den alten Zunftordnungen erwuchsen. Änderung und Reduzierung der Handwerksprivilegien sowie Schaffung „freier" Gewerbe bildeten neben der Reorganisation der Gewerbebehörden (1762) die einschneidendsten Reformen. Gezielte Förderungsmaßnahmen konzentrierten sich auf die frühe Industrie. Mit Subventionen, Krediten, Steuerbegünstigungen, Anwerbungszuschüssen und anderen Lockmitteln forcierte man den Ausbau namentlich bislang unbekannter Fabrikationszweige. Die angestrengten Bemühungen um Entwicklung und Wachstum der Wirtschaft bedurften aber auch quantitativer und qualitativer Verbesserungen des Produktionsfaktors Arbeit, der angesichts der bescheidenen technischen Entwicklung als Kostenfaktor entscheidend ins Gewicht fiel. Der Disziplinierungsprozeß des Staates umfaßte daher nicht nur den Abbau der unregelmäßigen vorindustriellen Arbeitsgewohnheiten, sondern auch zusätzliche Maßnahmen, wie Förderung der Kinderarbeit, Abschaffung des Müßigganges und Aufhebung aller Armengesetze, die eine hinreichende Unterstützung Bedürftiger garantierten. Die Durchsetzung dieser Vorstellungen war Sache der landesfürstlichen „Polizei", wenngleich diese begrifflich bereits auf den Bereich der inneren Verwaltung und der Wirtschaft eingeengt war. Diese Konzeptionen entsprachen dem neuen, im Geist Pufendorfs entwickelten Naturrecht. Sie bildeten auch die Grundlage für die Prinzenerziehung im aufgeklärten Absolutismus (44). Eine grundsätzliche Änderung in der Einschätzung des Phänomens Armut war damit noch nicht verbunden. Überwiegend blieb sie sozialer Devianz gleichgestellt. Die Ansätze zur Umsetzung der Theorien in konkrete Administrativmaßregeln blieben deutlich von dieser Haltung geprägt. Die Kompetenzen der 1749 gegründeten „Polizeihofkommission" umfaßten Polizei-, Armen-, Verpflegungs-, Sicherheits- und Schubsachen. 1751 wurde dieser Behörde noch die zur Finanzierung der Armenfürsorge geschaffene Stiftungskommission einverleibt (45).

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Das österreichische Armenwesen

Unter diesen Bedingungen war die Einsicht in den Konnex zwischen Wirtschaftsablauf und Lage des Arbeitsmarktes auf Einzelphänomene beschränkt. Schon die Bettler- und Leinwandordnung für Österreich ob der Enns (1728) interpretierte die sprunghafte Zunahme des Bettels als Resultat einer regionalen Wirtschaftskrise: des Rückgangs des Leinenexports, welchem durch verschärfte Produktions- und Qualitätskontrollen begegnet werden sollte (46). Bei derartigen Anlässen konnte auch eine veränderte Einstellung der breiten Schicht von Armen gegenüber Fuß fassen. Dabei verzichtete man auf ihre gewöhnlich pauschale Verurteilung als moralisch verkommene Subjekte. Man entdeckte darunter vielmehr auch das reiche Potential von Arbeitssuchenden, die „keine genügsame Arbeit, oder andere ehrliche Unterkunft finden, und daher auf das Betteln sich verlegen" (47). Die Erkenntnis über die vielfältigen Ursachen und Erscheinungsformen von Armut drängten erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts langsam zu publizistischer Verbreitung. Dabei erwies sich in Deutschland die Befangenheit in traditionellen Denkformen als schwerer Hemmschuh (48). Auch im Habsburgerreich blieben die politischen Maßnahmen lange durch ein eigenartiges Gemisch von Förderungsmaßnahmen und Zwangsbehandlung gekennzeichnet. Bei ausgebildeten Gesellen war die Regierung bestrebt, eine möglichst reibungslose Eingliederung in das jeweilige Handwerk anzubahnen (49). Als Alternative wurde die Einbeziehung Beschäftigungsloser in das Verlagssystem vorgeschlagen, wie es z.B. bereits bei der Gründung der Linzer Wollzeugfabrik (1672) der Fall gewesen war (50). Parallel dazu liefen Versuche zur Einführung des allgemeinen Spinnzwanges. Eine ähnliche Doppelgleisigkeit von Straf- und Vorsorgeintentionen ist auch charakteristisch für die neugeschaffenen Zucht-und Arbeitshäuser. Diese Überlegungen entsprachen dem Arbeitsethos und Erziehungsideal der Aufklärung, dessen Grundlagen bereits der Humanismus des 16. Jahrhunderts geschaffen hatte (51). Die dahinter stehenden Zielvorstellungen konnten angesichts der beschränkten Kenntnisse der Armen notfalls mit Druck durchgesetzt werden und suchten mehrere Bereiche abzudecken (52): Befreiung des Armen aus seiner Notlage und moralische Förderung, zugleich aber Beseitigung von Gefahrenquellen für die Gesellschaft und Förderung des Gedeihens der Staatswirtschaft.

Reformen Josef II. 2.2. Das Modell der josephinischen

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Pfarrarmeninstitute

Die josephinischen R e f o r m e n leiteten eine neue Ära der österreichischen Wohlfahrtspflege ein. Bereits in den letzten Regierungsj a h r e n Maria Theresias war in diesem Bereich eine Reihe von Reorganisationsvorschlägen ausgearbeitet worden. Sie f a n d e n das rege Interesse des Mitregenten J o s e p h II., der sich auch auf seinen Auslandsreisen eingehend mit dem A u f b a u von Fürsorgeeinrichtungen auseinandersetzte. Die politische Umsetzung seiner Vorstellungen vom Wesen echter Caritas ist in engem Zusammenhang mit dem kirchenpolitischen G e s a m t k o n z e p t des Kaisers zu sehen, welches den Herrscher als Oberherrn der Kirche betrachtete. Die daraus erwachsende enge Verbindung zwischen geistlichen u n d weltlichen Belangen, wie sie sich auch auf dem Sektor des Armenwesens durchsetzte, ist in der Literatur unterschiedlich beurteilt worden (53): Einerseits als reformkatholische Maßnahme im Geiste Muratoris, die der Kirche - wenngleich zwangsweise - den A u f t r a g tätiger Nächstenliebe frühchristlicher Prägung übertrug (54); andrerseits als Nutzung der Kirche in erziehungs- u n d sicherheitspolitischem Interesse (55). Das Vorbild für die josephinischen Pfarrarmeninstitute bildete das Armeninstitut, welches Graf J o h a n n N e p o m u k B u q u o y 1779 auf seiner südböhmischen Herrschaft Gratzen gründete. Die kirchliche Bestätigung durch Pius VI. erfolgte 1781 u n t e r dem Namen „Vereinigung aus Liebe des Nächsten". Diese noch ganz im Geist kirchlicher Bruderschaften konzipierte Einrichtung bestach vor allem durch den Appell an Privatinitiative sowie durch das verstärkte Engagement der Pfarrer, deren patriarchalische Stellung innerhalb der Gemeinde durch neue F u n k t i o n e n angereichert w u r d e (56). Dieses Modell der Pfarrarmeninstitute wurde von J o s e p h II. nach groß angelegter propagandistischer Vorbereitung bis 1787 auf die meisten Länder der Monarchie übertragen. V o m späteren Territorialbestand des Reiches blieben lediglich Dalmatien, Istrien u n d Görz ausgenommen; weiters Salzburg, wo bereits ähnliche Einrichtungen bestanden; in Galizien u n d der Bukowina k o n n t e die Institution nie richtig Fuß fassen. Diese von Grundobrigkeiten bzw. Regierung kontrollierten Armeninstitute ersetzten die zahlreichen geistlichen Bruderschaften, welche sich von ihren ursprünglich karitativen Aufgaben weit e n t f e r n t h a t t e n u n d ihr reiches Kapital vielfach widmungswidrig verwendeten (57).

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Das österreichische Armenwesen

J e d e r Pfarrbezirk einer Herrschaft erhielt nunmehr ein eigenes Armeninstitut unter Leitung des Pfarrers, dem Armenväter bzw. ein Rechnungsführer beigestellt waren. Das Stammkapital bildete die Vermögenshälfte der aufgelösten Bruderschaften. Die laufenden Dotationen setzten sich zusammen aus dem Erträgnis regelmäßiger Sammlungen, Subskriptionen, Legate, Feilbietungsprozente sowie bestimmten Strafgeldern. Die Zuteilung der befristeten oder dauernden Unterstützungen erfolgte nach den sogenannten Abhörungen durch die Armenväter. Wo man auf Naturalbeteiligungen verzichtete, war die Maximalhöhe des Almosens mit täglich 8 kr. (einem Drittel des üblichen Taglohnes) festgelegt. Diese Summe gelangte aber nur an gänzlich Erwerbsunfähige und Mittellose zur Auszahlung. Die häufigeren Teilportionen von 6,4 u n d 2 kr. wurden nach dem Grad der Arbeitsunfähigkeit bemessen. Darüber hinaus gab es neben kostenloser Krankenpflege noch die Möglichkeit, in berücksichtigungswürdigen Fällen erhöhte Aushilfen zu erlangen (58). Diese Bestimmungen erstrecken sich jedoch ausschließlich auf Zuständige und setzten mit wenigen Ausnahmen einen zehnjährigen, ununterbrochenen Aufenthalt an dem betreffenden Ort vorausjsubsidiär trat die Geburstgemeinde ein. Damit blieb die Armenversorgung an die Bestimmungen über die Zuständigkeit gebunden, deren selbständige Erwerbsmöglichkeit immer mehr erschwert wurde. Die Zielvorstellungen, welche sich mit der Verbreitung des Armeninstituts verbanden, waren keineswegs revolutionär: Der „muthwillige Bettler" sollte die „Strenge der Gesetzgebung" zu spüren bekommen, dem „wahren und zur Arbeit unfähigen A r m e n " hingegen sein begründeter Anspruch auf das „allgemeine Mitleiden" gewahrt bleiben. In erster Linie ging es dabei um die geregelte Versorgung all jener Personen, die in den sich immer stärker auffächernden Anstaltstypen kein Unterkommen finden konnten (59). Das Novum bei der Abstellung des „Unordnungen" verursachenden, .jedermann überlästigen Bettels" bestand jedoch im Versuch, die Privatwohltätigkeit bewußt „aufzuklären", d.h. sie nach rationellen Gesichtspunkten im Interesse von Staat wie Armen optimal einzusetzen. Zur Erschließung und Erhaltung dieser regelmäßigen Einnahmequellen war die Einführung der neuen Institution von zahlreichen Bettelverboten begleitet (60). Durch diese administrativen Begleitmaßnahmen sollten die Pfarrarmeninstitute genau wie die auf prophylaktische Wirkung gegen Verarmung abgestimmten Industrieschulen (61) im

Effizienz der Pfarrarmeninstitute

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Wohl und der vielzitierten Glückseligkeit der Untertanen ihren Endzweck erreichen. Der Erfolg des Buquoy'schen Armeninstituts im Komplex einer Grundherrschaft lag in verschiedenen Umständen begründet: Es war in einem geschlossenen Herrschaftsbereich entwickelt worden, dessen von Wald- und Ackerbau geprägte Wirtschaftsstruktur keineswegs neuartige Krisen- und Ausfallserscheinungen entstehen ließ und eine hochgradige Naturalversorgung gestattete. Dazu kamen der intensive persönliche Einsatz des Gutsbesitzers sowie die permanente obrigkeitliche Kontrolle und Aufmunterung, welche dem Institut große Wirkung - gemessen an der möglichst lückenlosen Erfassung u n d Beteilung der Armen - verschafften. In mehreren ländlichen Gebieten stieß diese neue Einrichtung jedoch auf beträchtliche Hindernisse. 1793 sahsich Franz II. genötigt,in Österreich ob der Enns die Wiedereinführung der Bettelgelder als „freywilliges, menschenfreundliches Allmosen" überall dort zu gestatten, wo die Pfarrarmeninstitute „nicht wohl ausführbar" waren (62). Auch in Wien begegnete die Einführung des Pfarrarmeninstituts (1783) mannigfaltigen Schwierigkeiten, obwohl der Verordnung eine grundlegende Reorganisation des Anstaltenwesens vorausgegangen war (63). Die spezifisch lokalen Verhältnisse fanden nur insofern Berücksichtigung, als man die Leitung des sämtliche Pfarrbezirke umfassenden Hauptbezirks nicht einer der in Wien zahlreichen Grundobrigkeiten, sondern der Regierung übertrug. Außerdem wurden noch Einschränkungen in der Anspruchsberechtigung sowie ein differenziertes Vorgehen bei den Spendensammlungen beschlossen. Die Gründe, weshalb das Armeninstitut an Effizienz hinter den Erwartungen seiner Gründer zurückblieb, sind zahlreich. Der Eklektizismus in der wirtschaftspolitischen Grundhaltung Josephs II.hatte sich die Ausgestaltung eines rationell verwalteten Staates zu einem einheitlichen Wirtschaftskörper zum Ziel gesetzt. Die umstrittene Reformtätigkeit des Monarchen übte vorerst auf vielen Sektoren eine stimulierende Wirkung aus. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen Österreich seit 1788 für mehr als ein Vierteljahrhundert betroffen war, machten jede bescheidene Hebung des Wohlstandes wieder zunichte. Die prekäre Lage der Staatsfinanzen leitete eine allgemeine Wirtschaftskrise ein und beschleunigte die Verarmung breiter Kreise (64).

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Das österreichische Armenwesen

ökonomische Probleme potenzierten sich in den Großstädten. Die häufigen konjunkturell bedingten Arbeitsstockungen und unvermutet anschwellende Armenzahlen ließen keine exakten Aufwandsschätzungen für das Armenetat zu (65). Einen weiteren Unsicherheitsfaktor stellte die große Zahl von Zuwanderern dar, welche zwar kein Anrecht auf Unterstützung besaßen, aber in dringenden Bedarfsfällen mit außerordentlichen Almosen bedacht werden mußten bzw. die üblichen Zuflüsse des Armeninstituts beeinträchtigten. Zu diesen Schwierigkeiten gesellten sich weitere. Ein großer Teil der Bevölkerung hielt an traditionellen Formen des Almosengebens fest und begegnete der neuen Vereinigung mit Zurückhaltung (66); die Passivität vieler von der josephinischen Kirchenpolitik enttäuschter Pfarrer bildete ein zusätzliches Hemmnis (67). Durch die große Ausdehnung der Armenbezirke in den Städten (in Wien 29 innerhalb und drei außerhalb der Linien) erwies sich der Wirkungsbereich für ehrenamtliche Funktionäre unüberschaubar. Das Zusammenwirken sämtlicher Faktoren macht es verständlich, daß die Wiederbelebung archaischer Formen und urchristlicher Vorbilder unter völlig veränderten sozioökonomischen Verhältnissen zum Scheitern verurteilt sein mußte. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn zeitgenössische Autoren am Ende des 18. Jahrhunderts die Armenfrage als eines der gravierendsten Probleme der Residenz bezeichneten. Aus diesem Grund beabsichtigte Kaiser Franz in Wien eine neuerliche Reform der Armenpflege, welche der Hamburger Kaufmann und Philanthrop Caspar Voght nach dem Vorbild der 1788 in seiner Heimatstadt begründeten Armenanstalt in die Wege leiten sollte (68). Die Grundgedanken dieser Einrichtung stimmten mit jenen der Pfarrarmeninstitute über weite Strecken überein. In Fragen der Detailorganisation lag jedoch noch größeres Gewicht auf den Initiativen der Privathand, welche exakte Diagnosen über Ursachen und Grad der Verarmung erstellen sollte, sowie auf dem Sektor der Arbeitsvermittlung. Die grundlegenden Vorerhebungen für die abermals angestrebte Individualisierung der Armenpflege zogen sich über mehrere J a h r e hin. 1807 vorliegende Ergebnisse wiesen, wahrscheinlich als Folgeerscheinung der Kriegsjahre, erschreckend hohe Armenziffern aus: Etwa 37 000 Arme, rund 18 % der Wiener Bevölkerung, wovon man allerdings nach genauerer Prüfung nur die Hälfte als tatsächlich bedürftig anerkannte. Da die erforderliche

Vormärzliche Wohlfahrtspflege

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Unterstützungssummen von rund 1/2 Mill. fl. pro J a h r nicht aufzubringen gewesen wären, mußte man schließlich das gesamte Werk als gescheitert betrachten. Die Wohlfahrtspflege in der Residenz wie im gesamten österreichischen Kaiserstaat lief in der Folgezeit in den vom Josephinismus vorgezeichneten Bahnen weiter (69). Der stark zentralistische Regierungsstil Franz I., die umständliche Verwaltungstätigkeit der vormärzlichen Bürokratie und die permanenten Finanzschwierigkeiten konnten keine günstige Ausgangsbasis für eine grundlegende Neuordnung der Armenpflege bieten. Die Pfarrarmeninstitute mit der konstanten Höhe der Pfründen erwiesen sich als viel zu wenig flexibel gegenüber Teuerungswellen, wie sie im Laufe der Finanzkrise von 1811 und in den J a h r e n nach dem Wiener Kongreß auftraten. Zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen blieben nach Umfang und Zeit begrenzt (70). Darunter fielen die obligaten S p e n d e n d e s Herrscherhauses, die fallweise Vergabe von Notstandsarbeiten sowie außerordentliche staatliche Zuwendungen als Katastrophenhilfen. Längerfristiger Erfolg war dem Wirken der Wohltätigkeitshofkommission in Wien (1801 bis 1816) beschieden. Sie entwickelte sich vom Beratungsgremium zur Durchführung der Voght'schen Reformen allmählich zu einer autonomen Wohltätigkeitsanstalt, die sich hauptsächlich verarmten Bürgern widmete und dabei in gewisse Konkurrenz zum Armeninstitut trat. Spätere Administrativmaßnahmen, wie 1842 die Ubergabe der zentralen Leitung des Wiener Armenwesens an den Magistrat, vermochten keine durchgreifenden Verbesserungen herbeizuführen (71). Ein deutliches Indiz für die Lücken im bestehenden System der öffentlichen Wohlfahrtspflege ist die verstärkte Mobilisierung privater Wohltätigkeitsvereine, deren Bildung Franz I. ausdrücklich begünstigte. Im großen und ganzen stand der vormärzliche Staat der fallweisen Zunahme der Armenzahlen mit einem unzureichenden Instrumentarium gegenüber. Die Epoche erwies sich als wirtschaftliche Übergangszeit, in der die einzelnen Kronländer eine recht unterschiedliche Entwicklung durchmachten (72). Die Voraussetzung für die Verbreitung großbetrieblicher Organisationsformen mußten erst geschaffen werden. Technologische Neuerungen, ein ausreichender Kapitalmarkt, ein industrielles Unternehmertum waren noch in Ausbildung begriffen. Dennoch entstanden Lohndruck oder Arbeitslosigkeit als neue Formen der Existenzgefährdung - mochten

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Das österreichische Armenwesen

sie aus mangelnder Disziplinierungsbereitschaft, kurzfristigen strukturellen Krisen oder verstärkter Mechanisierung bei gleichbleibender Produktionskapazität entspringen - auch in klein- und mittelbetrieblichen Strukturen und namentlich in städtischen Ballungsräumen. Daneben blieben aber Schwankungen auf dem landwirtschaftlichen Sektor, dem größten Wirtschaftszweig Österreichs, bestehen. Hungersnöte größeren Ausmaßes waren u.a. durch den Ausbau des Warenverkehrs ausgeschaltet. Fortschritte in der Agrartechnik indessen fanden nur langsam Aufnahme, die alte Herrschaftsverfassung erwies sich als zusätzliches retardierendes Element. Rasante Produktionssteigerungen waren dadurch ebenso wenig zu erwarten wie durchgreifende Qualitätsverbesserungen. Mißernten und in ihrem Gefolge Lebensmittelteuerungen bildeten weiterhin auslösende Faktoren für ein Anwachsen des Elends. Nach den Mißernten der J a h r e 1845 - 1847 läßt sich in den meisten österreichischen Ländern eine rasche Zunahme der Erwerbs- und Unterstandslosen sowie Bettler feststellen (73). Die wachsenden Unruheherde und die allgemeine Verschlechterung der Volksstimmung bildeten ein auslösendes Moment für die Revolution des Jahres 1848. Die Vorgangsweise der vormärzlichen Regierung gegen Bettler und Vagabunden entsprach inhaltlich weitgehend den Aktivitäten der absolutistischen Ära. Seit den napoleonischen Kriegen erhoben sich wiederholte Klagen über die Unsicherheit auf dem flachen Land. Die größte Gefährdung ging von sozialen Randexistenzen aus, von Kriminellen, die sich häufig zu Gruppen zusammenschlossen und vor Erpressung und Gewalttaten nicht zurückschreckten. Besonders in Streusiedlungs- oder Einzelhofgebieten hatten die Bauern zu befürchten, „daß, wenn sie herumstreunenden Bettlern nicht Brot, oder eine Geldgabe abreichen, ihre ... Häuser abgebrannt werd e n " (74). Derartige Vorkommnisse boten die Legitimation für rigorose Gegenmaßnahmen der Obrigkeit. Im Interaktionsbereich von Familie, Schule und Pfarre setzten strengste Bettelverbote an. Zu deren Einhaltung wurde auf die bereits in mittelalterlichen Städten anzutreffenden Bettelvögte zurückgegriffen, welche nunmehr Stadt oder Pfarrarmeninstitut besoldeten. Außerdem waren Prämien für die Uberführung von Bettlern ausgesetzt (75). Die Zwangsrekrutierung von Müßiggängern nach Feststellung ihrer körperlichen Tauglichkeit läßt sich, in wenngleich unterschiedlicher Intensität, bis über das

Entstehung der „sozialen Frage"

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J a h r 1848 hinaus verfolgen (76). Gängige u n d anhaltend wirkungslose M a ß n a h m e n blieben der Schub sowie der A u f t r a g an die Obrigkeiten, Marginale für öffentliche Arbeiten einzusetzen (77). Die moralisch negative Wertung von A r m u t sowie Sicherheitsinteressen gaben neuerlich den Impuls zur Gründung bzw. zum Ausbau von Zwangsarbeitshäusern. Die verbreitete Einschätzung der Armenfrage lief in herkömmlichen Bahnen weiter. Der Schluß, daß die Z u n a h m e des Bettels mit d e m übertriebenen Wohltätigkeitssinn der Bevölkerung in Zusammenhang stehe (78), mag als exemplarisch für vielfach gängige Vorstellungen gelten. Nur schrittweise b a h n t e sich bei den offiziellen Stellen eine neue, ökonomische Betrachtungsweise an. Ein Regierungserlaß an den Wiener Bürgermeister aus dem J a h r 1847 war gleichbedeutend einer Bankrotterklärung bestehender Organisationselemente: „Versorgungsanstalten gehören einer Zeit a n , . . . w o man nicht so sehr mit der durch Zeitumstände hervorgerufenen Arbeitslosigkeit entstandenen gänzlichen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit zu t u n h a t t e " (79). Zahlreiche Reformvorschläge kamen auch von der kritischen Publizistik. Ihre Gegnerschaft zum „System M e t t e r n i c h " ließ j e d o c h f r u c h t b a r e Ansätze verkümmern.

2.3. Industrialisierung

und

Sozialfürsorge

Bevölkerungswachstum, verstärkte Binnenwanderung u n d fortschreitende Urbanisierung bildeten die wichtigsten Teilaspekte des Industrialisierungsprozesses im westeuropäischen R a u m . Die Neuordnung des Staatswesens u n d der entscheidende D u r c h b r u c h wirtschaftlich-technischer Neuerungen in der franzisko-josephinischen Epoche (80) k o n f r o n t i e r t e auch die Habsburgermonarchie mit dem Problemkomplex der „sozialen Frage". Die grundlegende gesellschaftliche Umstrukturierung, die Bildung neuer Schichten u n d Klassen, Veränderungen in Lebensgewohnheiten und Wertsystemen um nur einige Begleiterscheinungen dieser Umbruchszeit anzuführen waren j e d o c h erst nach einem langen Bewußtwerdungsprozeß u n d in schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen zu bewältigen. Besonders die Anfangsperiode der Industrialisierung blieb durch vielschichtige soziale Desintegrationserscheinungen gekennzeichnet. Bereits im Vormärz waren vorab systemkritische Publikationen zur

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Das österreichische Armenwesen

Einsicht gelangt, daß die neuen Erscheinungsformen von Armut nicht mehr allein mit persönlichen oder zufälligen Ursachen, sei es nun charakterliche Labilität oder mangelnde Arbeitsfähigkeit durch Unfall, Krankheit etc., erklärt werden könnten (81). Das Phänomen des Pauperismus, der Massenarmut im Gefolge der Industrialisierung, ist in der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung zu einem gängigen und heftig diskutiertenBegriff geworden (82). FürDeutschland wurden die am Rand des Existenzminimums lebenden und in Krisenzeiten besonders gefährdeten Menschen auf 50 - 60 % der Bevölkerung geschätzt (83); für Österreich werden wohl ähnliche Verhältniszahlen anzunehmen sein. Die österreichische Armengesetzgebung trug den sozio-ökonomischen Veränderungen keinerlei Rechnung (84). Die heimatrechtlichen Normen, aus denen das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Armenversorgung erwuchsen, waren im Konskriptionspatent von 1804 noch sehr weit gesteckt gewesen. Seine vielfältigen Bestimmungen über den Erwerb der Zuständigkeit bildeten in einer dominant agrarisch-gewerblichen Wirtschaftsstruktur faktisch die verwaltungsrechtliche Bestätigung bestehender Aufenthalts- und Lebensverhältnisse. Das provisorische Gemeindegesetz von 1849 und die Reichsgemeindeordnung von 1862 hielten zwar am Versorgungsanspruch der Gemeindeangehörigen im Falle nachgewiesener Bedürftigkeit fest, schränkten jedoch die Bedingungen für den Erwerb des Heimatrechts wesentlich ein. Diese Tendenz verfolgte das Heimatgesetz von 1863 rigoros weiter, indem es die Heimatberechtigung in Geburt, Verehelichung einer Frau, Erlangung eines öffentlichen Amtes begründet sah und jede Verleihung dem Gutdünken der Gemeinde überließ. Das verstärkte Auseinanderfallen von wirtschaftlicher Tätigkeit und rechtlicher Zugehörigkeit blieb unberücksichtigt. Im gesamtösterreichischen Durchschnitt war der Anteil der Heimatberechtigten in ständigem Rückgang begriffen: 1869: 78,7 %; 1880: 69,7 %; 1890: 63,9 %. Weit augenfälliger war die Entwicklung in den Großstädten. In Wien lagen die Zahlen der Gemeindeangehörigen im Vergleichszeitraum wesentlich tiefer: 1869: 44,6 %; 1880: 35,2 %; 1890: 34,9 %. Es entstand daher ein wachsender Personenkreis, welcher im Falle von Notsituationen - in welchen Ursachen sie auch immer begründet sein mochten - am Aufenthaltsort keinen Unterstützungsanspruch

Neue Landesarmengesetze

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anmelden konnte. In vielen Fällen waren auch die Heimatgemeinden nicht in der Lage, den Betroffenen Möglichkeiten zur eigenständigen Rettung ihrer wirtschaftlichen Existenz anzubieten. Die Bindung der Armenpflege an die Heimatberechtigung geriet dadurch von verschiedenen Standpunkten zunehmend in das Feuer heftiger Kritik (85). Mit den Gemeindegesetzen hatte der Staat für den Bereich der Wohlfahrtspflege nur einen Rahmen ohne nähere inhaltliche Bestimmungen abgesteckt. Der weitere Ausbau blieb der Landesgesetzgebung vorbehalten. Dabei wurden in folgenden Ländern die Pfarrarm eninstitute aufgehoben und die Armenpflege durch Spezialgesetze geregelt: Böhmen (Übergabe der Vermögensbestände der Armeninstitute an die Bezirksämter 1849-1854, Armengesetz 1868), Niederösterreich (Aufhebung 1870 / Armengesetze 1882, 1885, 1893), Oberösterreich (1869/1873), Kärnten (1870/1886), Krain (1883/1883). Trotz spezieller landesgesetzlicher Regelungen des Armenwesens in der Steiermark (1873 bzw. 1896) und Vorarlberg (1883) blieben die Pfarrarmeninstitute hier in Wirksamkeit; letzteres war auch in Mähren und Tirol der Fall. In Schlesien wurden die Armeninstitute 1869 aufgehoben, ohne daß ein Landesarmengesetz erlassen worden wäre; in Salzburg ersetzte das Armengesetz aus dem Jahr 1874 die Vielzahl älterer Verordnungen über die Unterstützung Bedürftiger (86). Die Ursachen für diese stark divergierenden Regelungen sind vielfältig und können hier nur grob umrissen werden: Historisch gewachsene Traditionen und der Einfluß kirchlicher Kreise in den Landtagen neigten zur Beibehaltung der Pfarrarmeninstitute; die engen Schranken des Heimatrechts ließen von vornherein nur halbe Lösungen der Armenfrage zu und dämpften die Neigungen für eine eingehende Behandlung des Problems; Bewußtseinsrückstände ließen echte Neuansätze verkümmern. Trotz oft beträchtlicher Unterschiede wiesen die Landesarmengesetze mehrere übereinstimmende Grundsätze auf. Hier ist in erster Linie die allgemein übliche Trennung in Versorgung (vollständige Erhaltung) und Unterstützung nichtvollständig Erwerbsfähiger zu nennen. Als Versorgung kam entweder eine geschlossene in Anstalten oder eine offene mittels regelmäßiger Beteiligungen in Betracht, welche wiederum dauernd oder nur vorübergehend gewährt werden konnten. Analoge Prinzipien galten für die Unterstützungen in Form

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Das österreichische Armenwesen

von Natural- oder Geldleistungen. Die Einlege, die zeitweilige Aufnahme von A r m e n in den Haushalt eines Gemeindemitgliedes, stellte eine Sonderregelung dar, welche in mehreren ländlichen Regionen auf eine lange Vergangenheit zurückblicken konnte. Sonderbereiche, wie Armenkinderpflege, Siechenpflege etc., k o n n t e n durch spezielle Vorschriften geordnet sein. Die Mittel für Armenzwecke w u r d e n aus den k o m m u n a l e n Arm e n f o n d s beigestellt, welche die Vermögensnachfolge der Pfarrarmeninstitute angetreten h a t t e n u n d durch freiwillige Spenden wie gesetzlich festgelegte Einnahmen gespeist wurden. Gesonderte Verwaltungs- oder Betreuungsorgane existierten vor allem in kleineren Gemeinden nicht. Die meisten der städtischen A r m e n s t a t u t e n hingegen k a n n t e n trotz großer Bandbreite der Bestimmungen o f t eine Vielzahl solcher Instanzen, deren Aufgabenbereiche sich überwiegend an das organisatorische Vorbild der Armeninstitute anlehnten (87). Während den Bezirken lediglich in Teilbereichen der geschlossenen Armenpflege größere Wirksamkeit zukam, spielte das Land als Träger der „Landes-, Humanitäts- u n d Wohltätigkeitsanstalten" eine wesentliche Rolle auf dem Fürsorgesektor. Es finanzierte in erster Linie die Armenkrankenpflege, obwohl die Heimatgemeinden bei der Unterbringung von Ortsarmen in Kranken-, Gebär-, Findelanstalten etc. zu gewissen Beitragsleistungen verpflichtet waren. A u ß e r d e m erfolgte eine Kostenübernahme durch die Landesarmenpflege in all jenen Fällen, wo die Heimatzuständigkeit des A r m e n nicht klar feststand. Die Auslagen für diese Zwecke w u r d e n in manchen Ländern durch eigene L a n d a r m e n f o n d s , in anderen wieder durch Spezialfonds oder Stiftungen bestritten (88). Die Modalitäten der Gemeindearmenpflege sind wiederholt auf herbe Kritik gestoßen: „Wortreich u n d reich an Paraphrasen u n d Selbstverständlichkeiten, zeigen wenig Originalität, enthalten vielfach Belehrungen an Stelle von Rechtssätzen u n d Gesetzesbefehlen", wie es Ernst Mischler, wohl einer der p r o f u n d e s t e n Kenner der Materie, formulierte (89). Seit den achtziger J a h r e n b a h n t e sich eine heftige Reformdiskussion an, der sowohl Einzelpublikationen (90) wie Zeitschriftenbeiträge (91) breiten R a u m schenkten. Die Sozialdemokraten wollten das Modell der Versicherungseinrichtungen u n t e r Selbstverwaltung der Arbeiterschaft an der Stelle der alten Wohlfahrtseinrichtungen setzen u n d so alle daraus erwach-

Städtische und private Fürsorge

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senden Rechtsminderungen (Ausschluß vom Wahlrecht) ausschalten (92). Den bürgerlichen Reformern wieder ging es in den Diskussionen vorab um eine Neugestaltung der städtischen Wohlfahrtspflege nach dem Elberfelder System (93), wobei allerdings der Eigenart der österreichischen Verhältnisse durch verschiedene Modifikationen (Beibehaltung der Versorgung von Alten und Arbeitsunfähigen, ortsangepaßte naturalwirtschaftliche Beteilung) Rechnung getragen werden sollte. Vom Ersatz der bürokratischen Armenpflege der Magistrate durch ehrenamtliche Selbstverwaltung der Einwohner und von der Individualisierung jedes einzelnen Ansuchens an Stelle bloß schematischer Behandlung erwartete man sich eine Bereinigung aller seit Dezennien ungelösten Probleme: Beteilung der nach dem Zeitverständnis „ w a h r h a f t " Armen, Entlastung der Budgets, Wiedereingliederung Bedürftiger in den Produktionsprozeß, Beseitigung des Haus- und Straßenbettels. Ab 1889 wurde das Elberfelder System auch tatsächlich in einer Reihe österreichischer Klein- und Mittelstädte eingeführt, ohne allerdings die von seinen Befürwortern erhoffte Zugkraft zu erlangen (94). Außerhalb des Bereichs der öffentlichen Verwaltung lag noch das weite Feld kirchlicher Armenpflege, dessen Wirkungskraft in der allgemeinen Krankenfürsorge, in Hilfsaktionen für bestimmte Alters- oder Berufsgruppen sowie in jeweils auftauchenden Krisensituationen von eminenter Bedeutung war (95). Dabei kam vor allem der katholischen Kirche großes Gewicht zu, die in jenen Ländern der Monarchie noch die unmittelbare Trägerin der Armenpflege war, in welchen sich die alten Pfarrarmeninstitute gehalten hatten. Eine nicht zu unterschätzende Ergänzung der öffentlichen Fürsorge bildete ferner die Tätigkeit der Ordensgemeinschaften, die sich vielfach einem bestimmten Bereich des Anstaltenwesens gewidmet hatten. Als weiteres Hilfsmittel, welches Lückenim Netz der öffentlichen Fürsorge ausfüllen sollte, sind die privaten humanitären sowie die konfessionellen Vereinigungen zu erwähnen. Eine starke Konzentration der Vereinstätigkeit läßt sich im großstädtischen Bereich verfolgen. In Wien bestanden an der Wende zum 20. J a h r h u n d e r t 530 Wohltätigkeitsvereine verschiedenster Zielsetzung (96), deren isoliertes Wirken aber grundlegende organisatorische Probleme aufwarf. Die Aufsplitterung von Vermögen wie Arbeitseinsatz ließ Entwürfe von mehr oder weniger losen Kooperationsmodellen entstehen,

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Das österreichische Armenwesen

derer man sich jedoch nur in bescheidenem Ausmaß bediente (97). Ähnlich scheiterte auch eine engere Zusammenarbeit mit dem Magistrat an partikularistischen Interessen, welche die archaischen Formen individueller Liebestätigkeit vom Moloch der Bürokratisierung bedroht sahen. Nicht einmal die Schaffung eines völlig unverbindlichen Zentralarmenkatasters (1898) als Evidenzstelle über die persönlichen Verhältnisse der Unterstützten und als Auskunftsstelle für Hilfsbedürftige wie Wohltäter konnte die gewünschte Rationalisierung einleiten. Eine beiderseits zufriedenstellende Mitarbeit der Privaten an Aufgaben der öffentlichen Fürsorge konnte letztlich erst durch den Abschluß privatrechtlicher Verträge oder Vereinbarungen in der Zweiten Republik ermöglicht werden. Gegenüber all jenen Personen, die durch das löchrige Netz der Armeneinrichtungen fielen, legte die öffentliche Hand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ambivalente Haltung an den Tag. Bei der Auseinandersetzung mit Problemen der Migration, Arbeitslosigkeit und Armut drang bei Verwaltungsstellen wie namhaften Juristen nur zögernd die Einsicht durch, daß Gegenmaßnahmen sinnvoll erst von Untersuchungen über „die Quellen, die Natur der A r m u t h " abhängig zu machen seien (98). Auch die vereinzelt aufdämmernde Erkenntnis der Zusammenhänge von Konjunkturbewegung und Ausmaß der Vagabundage blieb vorläufig ohne Konsequenzen (99). Überwiegend herrschte noch das Stereotyp vom Landstreicher als „arbeitsscheuen Menschen, der weder Arbeit suchen noch annehmen will", und man plädierte dafür, dieses Übel „mit der Wurzel auszurotten" (100). Dieser Einstellung entsprechend wurde auf den Landtagen die Bettlerfrage vorrangig unter sicherheitspolitischen Aspekten diskutiert (101). Es entsprach ganz der liberalen Erneuerung kommunaler Selbstverwaltungsrechte, wenn man vom Idealbild einer reibungslos funktionierenden Gemeindeadministration ausgehend den Gemeindevorstehern verstärkte Kontrollmöglichkeiten einräumte (102). Die Forderungen an den Staat u m f a ß t e n keine grundlegenden Neuansätze: Abschirmung der Grenzen vorab gegen Zigeuner und Hausierer (103); Beschränkungen bei der Ausstellung von Reisepässen; Einführung von Arbeitsbüchern für sämtliche Unselbständigen; Verbot des Mitführens von Kindern in schulpflichtigem Alter. Die Einhaltung dieser Vorschriften sollte durch ein engmaschiges Gendarmerienetz gewährleistet werden; eine Forderung, welche an-

Kriminalisierung von Marginalen

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gesichts der restriktiven Reform dieser Sicherheitskräfte im J a h r 1860 vorläufig illusorisch blieb (104). Vereinzelt lebten polizeistaatliche Ideen wieder auf, so z.B. als man die Suspendierung von Artikel 9 des Staatsgrundgesetzes über die Unverletzlichkeit des Hausrechtes anregte (105). Die ultima ratio gegenüber aufgegriffenen nichtzuständigen Subsistenzlosen oder Vagabunden blieb weiterhin der Schub. Er erfolgte gelegentlich mittels Zwangspasses auf vorgeschriebener Marschroute, gewöhnlich aber unter Eskortierung von Wachorganen. An der Unwirksamkeit dieses Verfahrens konnten weder die alten landesgesetzlichen Bestimmungen (106) noch die reichsgesetzliche Regelung von 1871 (107) etwas ändern. Sie gingen von der anachronistisch gewordenen Annahme noch vorhandenen Bindungen des Individuums an die Heimatgemeinde aus. Die Wirksamkeit erzieherischer Gemeinschaftsfunktionen, wie man sie in bewußter Anknüpfung an mittelalterliche Gemeindetypen voraussetzte, war jedoch durch die wachsende Mobilisierung der Bevölkerung zum Wunschtraum geworden. Laufend mußten die Behörden daher zur Kenntnis nehmen, daß alle Vorkehrungen gegen eine Rückkehr Abgeschobener in städtische Bereiche versagten. Offiziell suchte man die Gründe dafür jedoch nicht primär in der verunglückten Gesetzeskonstruktion, welche das Vorhandensein von Arbeitsgelegenheiten und Subsistenzmitteln in den Heimatgemeinden voraussetze, sondern im persönlichen Versagen von Verwaltungsstellen: dem geringen Ausbildungsgrad und der Abneigung der Bürgermeister kleiner Gemeinden vor Schreibgeschäften, ihrer Furcht vor Gewalttätigkeiten der Abgeschobenen, dem Fehlen entsprechender Hilfs- und Kontrollorgane (108). Geblieben war außerdem das Hauptübel des Schubs, welches durch die polizeistrafrechtlichen Verfügungen gegen Landstreicher und Arbeitsscheue von 1873 noch verschärft wurde (109): die fehlende Unterscheidung zwischen Arbeitsscheuen und Arbeitssuchenden. Die Bestimmung, „wer ohne bestimmten Wohnort oder mit Verlassung seines Wohnortes geschäfts- und arbeitslos umherzieht, und sich nicht auszuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalte besitze oder redlich zu erwerben suche", barg große Härten in sich. Gerade Taglöhner und Saisonarbeiter vermochten in den seltensten Fällen den geforderten Nachweis zu erbringen. Zudem ließen sich Polizei und Gendarmerie vielfach von

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Das österreichische Armenwesen

äußerer Erscheinung und Auftreten der einfachen Leute beeinflussen. Durch undifferenziertes Eingreifen der Sicherheitsdienste gelangten viele Unschuldige, besonders in jungen Jahren, zu Vorstrafen oder in den Teufelskreis des Schubs, dessen Makel sie in der Heimatgemeinde keinen Arbeitsplatz finden ließ und erneut auf die Landstraße trieb. Der ständige Kontakt mit professionellen Nichtstuern, welche die Schubstationen nicht selten als Versorgungsmöglichkeiten nützten, verringerte die Besserungschancen erheblich. Ein weiteres Glied in der Kette von Palliativmaßnahmen bildeten auch die Zwangsarbeitsgesetze des Jahres 1885 (110). Die eine Vorlage traf strafrechtliche Bestimmungen über die Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten; die zweite beschäftigte sich mit Kompetenz- und Finanzfragen bei der Errichtung derartiger Anstalten. Die vorwiegend aus Landgemeinden stammenden Initiatoren hatten ihre Anträge mit sicherheitspolizeilichen (wachsende Beeinträchtigung der Sicherheit von Person und Eigentum infolge Unwirksamkeit der bestehenden Gesetze) und finanziellen Argumenten (hohe Schubauslagen der Länder, zusätzlich indirekte Belastung der Landbevölkerung durch Nötigung zu Almosen) begründet. Der Extremfall der Kontrolle von Marginalen in geschlossenen Anstalten war nun nicht mehr sicherheitspolizeiliche Maßregel, sondern Rechtsfolge einer gerichtlichen Verurteilung wegen Landstreicherei, Bettel, Arbeitsscheu, Arbeitsverweigerung, gewerblicher Unzucht und Bruch der Polizeiaufsicht. Der gerichtliche Spruch über die Zulässigkeit der Anhaltung konnte durch eine Kommission der zuständigen politischen Landesbehörde in Vollzug gesetzt werden. Damit war die Entwicklung fortgesetzt, die eine Kriminalisierung all jener Fälle von Armut nach sich zog, welche als atypisch außerhalb des bestehenden Sicherungsnetzes lagen. In der Ersten Republik verstärkte sich die Tendenz, neben diesen sogenannten „Kleinkriminellen" auch Rückfallsverbrecher in die Anstalten einzuweisen. Den Endpunkt dieser Entwicklung stellte das Arbeitshausgesetz von 1932 dar, welches die Anordnung der Arbeitshauseinweisung für beide Gruppen in eine strafrechtliche Maßnahme umwandelte (111). Ansätze eines grundlegenden Wandels in der Einstellung gegenüber Vagabundage und Bettel sind jedoch in all jenen Stimmen festzustellen, welche Bettel nicht allein als Folge von Arbeitsunlust,

Präventivmaßnahmen gegen Verarmung

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sondern auch von Arbeitslosigkeit u n d diese wieder als Konsequenz von Krisen der kapitalistischen Produktionsweise e r k a n n t e n . Die in ganz E u r o p a einzigartigen Gesetze, welche auch aus unverschuldetem Mangel jeglicher Subsistenzmittel entstandenen Bettel, einen letzten Ausweg der Selbsthilfe, strenger als Diebstahl b e s t r a f t e n , stießen bald auf heftige Kritik (112). Bereits 1874 erhob sich in den A u s s c h u ß d e b a t t e n um ein neues Strafgesetz die Forderung, von den polizeistrafrechtlichen Bestimmungen des J a h r e s 1873 abzugehen. Diese Vorschläge wurden j e d o c h mit überwältigender Mehrheit überstimmt, da eine Revision des Gesetzes einer Bankrotterklärung des Armensystems gleichgekommen wäre (113). Einen besonderen Rang u n t e r den als Alternative präsentierten Präventivmaßnahmen sollten die Naturalverpflegsstationen erhalten (114). Ihre Einführung war nach Vorbildern aus Teilen Deutschlands, Hollands u n d der Schweiz seit Beginn der achtziger J a h r e wiederholt b e f ü r w o r t e t worden. Auf Initiative Josef Schöffeis u n d nach Beseitigung schier unüberwindlicher Vorbehalte (115) entschloß sich Niederösterreich 1886 als erstes Kronland zur Übern a h m e dieser Einrichtung. Unabhängig vom Zuständigkeitsprinzip sollten sie allen erwerbs- u n d mittellosen, jedoch arbeitsfähigen „ R e i s e n d e n " gegen vorherige Arbeitsleistung für einen b e s t i m m t e n Zeitraum U n t e r k u n f t , Verpflegung u n d Arbeitsvermittlung bieten. Die mit der S c h a f f u n g dieser Einrichtungen verbundenen Intentionen erweisen sich als äußerst vielschichtig. Mit allem Nachdruck versuchte m a n der Kriminalisierung breiterer Bevölkerungsgruppen vorzubeugen sowie die Entstehung eines latenten u n d zudem nur mehr schwer in den Arbeitsprozeß reintegrierbaren U n r u h e p o t e n tials auszuschalten. In einem solchen K o n z e p t n a h m e n auch humanitäre u n d moralisch-edukative Ziele eine vorrangige Position ein: Zufällig subsistenzlose Personen „sind nicht blos vor d e m Verfall des Scham- u n d Sittlichkeitsgefühles, vor Gelegenheitsdiebstählen, u n d sohin vor Abschiebung, A b s t r a f u n g u n d vor dem vollkommenen moralischen R u i n " zu schützen (116). Im besonderen ging es auch u m materielle Interessen von Bevölkerung wie Staat, welche durch die A b s c h a f f u n g des Almosengebens bzw. die Entlastung von Strafvollzugskosten Vorteile erzielen sollten („Die Bevölkerung von der plagenden Belästigung u n d den hiemit v e r b u n d e n e n materiellen O p f e r n , ... Staat, Land u n d die G e m e i n d e n vor Strafvollzugs-, Schub- u n d anderen K o s t e n " zu bewahren). Und schließlich ver-

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Das österreichische Armenwesen

sprach man sich von den Stationen noch die Möglichkeit zur Trennung von Arbeitswilligen und Arbeitsscheuen, wodurch die Möglichkeit wirksamerer Maßregeln gegen Professionsbettler eröffnet wurde („Sonderung der gefährlichsten Sorte der professionsmässigen Bettler und arbeitsscheuen Taugenichtse und Strolche ... von arbeitsfähigen Leuten, die nur durch die Umstände zur Anrufung der Mildthätigkeit gezwungen werden"). Wie resümierende Berichte beweisen, vermochten die in zahlreichen Ländern - Mähren, Steiermark, Oberösterreich 1888, Vorarlberg 1891, Schlesien 1892, Böhmen 1895 - eingerichteten Verpflegsstationen diese Zielsetzungen zumindest im quantitativ meßbaren Bereich der Abnahme von Verurteilungen und der Senkung von Schubauslagen auch tatsächlich zu erreichen (117). Länder wie Tirol, welche vom Ausbau eines Herbergsnetzes Abstand nahmen, motivierten dies mit geringen Schubziffern, drohender Mehrbelastung der Gemeinden und mit Hinweisen auf die tiefe Verwurzelung des Almosengebens „als Dankespflicht gegenüber der Vorsehung, welche den Menschen mit Feldfrüchten segnet" (118). Auch in Salzburg verkannte man keineswegs die „sozialen Gründe", welche für diese Institution sprachen, befürchtete jedoch ein Mißverhältnis von Aufwand und Wirkung (119). Die Naturalverpflegsstationen stellen einen Teilbereich jener Gegenvorschläge zu den Strafbestimmungen dar, welche primär die Wiedergewinnung der selbständigen wirtschaftlichen Existenz des Individuums und dessen Eingliederung in den Arbeitsprozeß anstrebten. In diese Richtung zielten auch die Bemühungen, die Naturalverpflegsstationen zunehmend ihrer „sozialen Bestimmung" anzupassen (120) und den Ausbau der bisher vielfach vernachlässigten Arbeitsvermittlung zu forcieren. Damit sollten zusätzliche Mechanismen zur Regulierung des Arbeitsmarktes geschaffen werden, welche neben die berüchtigten gewerblichen Stellenvermittlungen, berufsgenossenschaftlichen und gewerkschaftlichen Organisationen, Vereine sowie die öffentlichen Anstalten der Gemeinden traten. Zeitgenossen haben allerdings noch recht deutlich das Bestreben durchschaut, daß damit über individuelle Hilfe hinaus auch aus Arbeitslosigkeit entstandene Klassengegensätze harmonisiert und Sicherheitsrisiken ausgeschaltet werden sollten (121). Eine einheitliche Lösung kam erst 1917 mit der Einrichtung der Landesstellen für Arbeitsvermittlung, den Vorläufern der Arbeitsämter, zustande.

Reform des Heimatrechts

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Die zusätzliche Forderung, die Naturalverpflegsstationen als Ersatz für die (in Österreich erst 1 9 2 0 eingeführte) Arbeitslosenversicherung (122) als Instrument vorbeugender Armenfürsorge einzusetzen, konnte aber nur teilweise durchdringen. Im Niederösterreichischen Landtag z.B. kam es 1903 anläßlich einer Debatte über die Abkürzung der Wanderfristen und die Verschärfung der Aufnahmebestimmungen zu wilden Auseinandersetzungen

zwischen

Sozialdemokraten und Christlichsozialen. Die Divergenz der Meinungen beweist deutlich, wie stark überkommene Auffassungen weiterwirkten und sich mit systemstabilisierenden Bestrebungen verbanden (123). Den geänderten politischen Verhältnissen in der Ersten Republik trug die Umwandlung der Stationen in Herbergen für reisende Arbeitssuchende bzw. deren Neueinrichtung in den einzelnen Bundesländern Rechnung. Nunmehr hatte sich das Bewußtsein über die Funktion dieser Einrichtungen bereits allgemein durchgesetzt. Das Oberösterreichische Landesgesetz von 1923 etwa strich deutlich das Ziel heraus, „schweren gesundheitlichen und moralischen Gefahren zu begegnen" (124). Einen weiteren Ausbau positiver Schutzmaßnahmen bedeutete die Neufassung des Heimatgesetzes, welches auch das damit verquickte Armenwesen auf eine neue Grundlage stellte. Seit den 1880er Jahren waren zahlreiche Alternativen zu den bestehenden Regelungen vorgelegt worden. Die meisten dieser Vorschläge traten für die Einführung kürzerer Aufenthaltsfristen für den Erwerb des Heimatrechts ein. Die enge Verflechtung dieser Materie mit anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung (Aufenthaltsrecht, Heeresergänzung) schob eine Novellierung bis 1896 hinaus. Erst dann führte man mit Wirksamkeit ab 1901 das Recht auf Aufnahme in den Heimatverband nach zehnjährigem ununterbrochenen Aufenthalt in einer Gemeinde ein. Diese Maßnahme mußte allerdings gegen den heftigen Widerstand der Städte durchgesetzt werden, die eine verstärkte Mehrbelastung ihrer Armenbudgets befürchteten (125). Die inhaltliche Ausgestaltung der Arrnenfürsorge blieb weiterhin als Angelegenheit des selbständigen Wirkungskreises der Gemeinden im Rahmen der geltenden Landesgesetze geregelt. Eine fühlbare Entlastung der öffentlichen wie privaten Armenpflege erwartete man sich von den Sozialversicherungsgesetzen, deren Genese und Ausbau jüngst ausführlich dargestellt wurden (126).

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Das österreichische Armenwesen

Die nur schrittweise Einbeziehung einzelner Berufsgruppen in das obligatorische Sicherungssystem sowie die Aussetzung der Altersversicherung für Arbeiter bis 1939 ließen der traditionellen Fürsorge in der Ersten Republik ein weites Tätigkeitsfeld offen. Nachhaltige Beeinträchtigungen zog allerdings die Geldentwertung der Nachkriegsjahre nach sich, welche nicht allein die Zahl der Fürsorgebedürftigen wesentlich erweiterte, sondern auch die finanzielle Basis zahlreicher Hilfseinrichtungen zerstörte (127). Aus dem Zwang derartiger Verhältnisse heraus konnten bislang latente ideologische VorstellungeneinegrundlegendeNeugestaltung des Fürsorgewesens herbeiführen, wie dies etwa in Wien nach dem Wahlsieg der Sozialdemokraten der Fall war. Ausgehend von den Leitsätzen: Verpflichtung der Gesellschaft zur Hilfeleistung für alle Bedürftigen und Gewährung indivdueller Fürsorge wurde von Julius Tandler einReformwerk in die Wege geleitet, das die ehemals isoliertenTeilbereiche in einem zentralen Wohlfahrtsamt zusammenfaßte (128). Dennoch kam auch eine durchgehend neustrukturierte Fürsorgeorganisation wie die Wiener nicht ohne Bettlerordnung aus. Die Grundeinstellung gegen soziale Abweichung ist im wesentlichen ähnlich geblieben wie in Zeiten des Absolutismus: Der verstärkte Ausbau der Sozialversicherung sowie die Notstandsaktionen der Gemeinde galten als hinreichende Auffangmechanismen für soziale Risken, womit eine strenge Bestrafung von sämtlichen Formen sozialer Devianz legitimiert wurde (129). Daß auch bei einem ständigen Ausbau sozialer Sicherheit im Wandel ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse ständig neue strukturelle und individuelle Notstände entstehen, zu deren Behebung entsprechende Förderungsmaßnahmen getroffen werden müssen, ist eine Erkenntnis, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend durchgesetzt hat (130). Hinsichtlich der Trägergruppen der Armenpflege kam es in der Ersten Republik zu keinerlei Änderungen. Das nach Artikel 12 des Bundesverfassungsgesetzes fällige Grundsatzgesetz, auf dem Ausführungsgesetze und Vollziehung der Länder hätten aufbauen können, wurde bis heute nicht erlassen. Bis 1938 galten in den Bundesländern weiterhin die entsprechenden Abschnitte des alten Heimatgesetzes, welche 19 20 als Landesgesetze übernommen worden waren. Nach dem Abschluß trat das deutsche Fürsorgerecht an ihre Stelle, das nach dem ZweitenWeltkriegbeibehaltenunderstab 1971 schrittweise durch die Sozialhilfegesetze mehrer Bundesländer ersetzt wurde (131).

3. ZUR INSTITUTIONELLEN ENTWICKLUNG DER UND A R B E I T S H Ä U S E R 3.1. Ausländische

ZUCHT-

Vorbilder

Die Entstehung der europäischen Zuchthäuser hat bei Untersuchungen über das A u f k o m m e n der m o d e r n e n Freiheitsstrafe in erster Linie Rechtshistoriker u n d Rechtswissenschaftler beschäftigt. In den einzelnen Forschungsarbeiten w u r d e übereinstimmend Bridewell, begründet 1555 u n t e r dem englischen König E d u a r d VI., als die älteste derartige Anstalt bezeichnet (1). Ihre Entstehungsgeschichte stand in enger Verbindung mit tiefgreifenden ökonomischen u n d sozialen Veränderungen sowie mit einer grundlegenden Neubewertung der Armenfrage durch den Humanismus. In England hatten die Einhegungen u n d der Übergang von Getreidebau zu Schafzucht kleine Grundbesitzer und Pächter von ihren Gütern vertrieben. Diese O p f e r frühkapitalistischer Interessen des weltlichen u n d geistlichen Großgrundbesitzes, der mit seinem Vorgehen eine verstärkte Expansion der Wollproduktion anstrebte, vereinigten sich mit ehemaligen Söldnern u n d im Zuge monopolistischer Preisbildung vermehrt entlassener Dienerschaft. Gegen die viel diskutierte Verarmung breiter Schichten h a t t e auch T h o m a s Morus in Umrissen ein breit angelegtes wirtschaftspolitisches K o n z e p t entwickelt. Als Kanzler m u ß t e er j e d o c h u n t e r veränderten Machtkonstellationen von seinen ursprünglichen Vorstellungen erhebliche Abstriche vornehmen. Das Bettlergesetz von 1531 griff unterschiedslos auf brutale Strafen durch Durchsetzung präventiver Abschreckungsu n d Sicherungsbestrebungen zurück. Neue A n s t ö ß e speziell für eine Änderung der L o n d o n e r Armengesetzgebung kamen von dem spanischen Humanisten J u a n Luis Vives, der enge Verbindungen zum englischen Hof unterhalten hatte. Sein in der Schrift ,,De subventione p a u p e r u m " e n t w o r f e n e s Programm bildete das Resultat einer Übergangszeit, die katholische

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Instititutionelle Entwicklung

Lehrmeinungen mit humanistischen Grundsätzen zu verbinden suchte. „Nicht die Aufhebung des einzelnen materiellen (oder geistlichen) Mangels durch den Akt des Almosens, sondern .Beseitigung der Armen' war der Zweck, auf den alle armenpflegerischen Maßnahmen ausgerichtet sein m u ß t e n " (2). Diesem Gedanken entsprach eine konsequente Individualisierung der Armenfürsorge mit grundsätzlicher Arbeitspflicht und lückenloser Arbeitsversorgung aller arbeitsfähigen Armen. Als der 1550 ernannte Londoner Bischof Ridley und Vertreter der Stadt dem König Planungen für eine Reorganisation der städtischen Armenpflege vorlegten, folgten sie in vieler Hinsicht dem detailliert ausgearbeiteten Schema von Vives. Die Entwürfe mit dem beantragten Kategorisierungsraster der Hilfsbedürftigen bewogen Eduard VI. zur Schaffung von drei neuen Anstalten. Das Christusspital wurde zum Waisenhaus, die Spitäler St. Thomas und St. Bartholomäus zur Unterbringung von Kranken und Krüppeln bestimmt; der alte königliche Palast Bridewell ging in das Eigentum der Stadt über und diente zur Anhaltung der „sturdy vagabonds", von Vagabunden, Dirnen und Müßiggängern. In der Zielsetzung der Anstalt findet sich bereits die gekoppelte Intention, durch Anhaltung zur Arbeit abschreckend und bessernd zugleich zu wirken. Von diesem Ansatz her wurde Bridewell zum Vorbild für andere Zuchthäuser Englands, z.B. von Bury (1588). Zeitgenössische Berichte aus dem 17. Jahrhundert deckten aber bereits verbreitete Mängel im Haftsystem auf, wie sie auch im Habsburgerreich entstehen sollten: Mangelnde Differenzierung sowohl nach den verschiedenen Anstaltstypen wie auch nach dem Vergehen der Insassen. Die Frage nach unmittelbaren Einflüssen Bridewells auf die Gründung des Zuchthauses Amsterdam ist in der bisherigen Forschung überwiegend verneint worden (3). Die erste kontinentale Institution bestand aus getrennten Anstalten für Männer (Tuchthuis, Rasphuis; 1595) und Frauen (Spinhuis, Netoria domus; 1597) sowie einer Abteilung für Söhne aus besseren Familien (Separates oder Secretes Zuchthaus; 1603). Geistig wußte sich ein Teil der Proponenten noch humanistischen Traditionen verpflichtet. Angehörige führender städtischer Geschlechter waren der humanistisch beeinflußten Richtung der „Libertijnen" zuzuzählen. Nach dem Durchbruch des strengen Calvinismus verstärkte sich die Verbindung zwi-

Das Zuchthaus Amsterdam

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sehen „protestantischer Ethik und Geist des Kapitalismus" (4), welche auf die Anstaltsorganisation nicht ohne Wirkung blieb. Die Direktiven fiir Verwaltung und Insassen verfolgten ein Ordnungsschema, das sich als beispielgebend für die protestantischen deutschen Territorien wie für das katholische Habsburgerreich erweisen sollte. Sämtliche Anweisungen blieben auf das Ziel ausgerichtet, „die mutwillige Jugend zu einem ehrlichen Leben in der Furcht Gottes zu bringen und die Stadt soviel als möglich von dem Gesindel zu säubern" (5). Damit war eine starke Auffächerung der Abgabekriterien vorbereitet. Es dominierte die Einweisung durch die Obrigkeit, und zwar sowohl aufgrund eines gerichtlichen Urteils nach strafprozessualem Verfahren als auch in Form einfacher polizeilicher Verfügung. Damit wurden in erster Linie arbeitsfähige Bettler, Vaganten und Prostituierte erfaßt. Später dehnte sich der Kreis der Delinquenten auch auf Schwerverbrecher aus. Die Überstellung hausrechtlich abhängiger Personen auf Wunsch des Hausvaters wies dagegen nur bescheidenes Ausmaß auf. Dadurch gestalteten sich die Detentionsfristen als überaus wechselhaft. Für Bettler lag der Strafrahmen zwischen sechs Wochen und sechs Monaten, bei gerichtlichen Urteilen weit höher (bis zu 20 Jahren); in Einzelfällen sind auch kurze Strafen von wenigen Tagen faßbar. Das hierarchisierte Autoritätsgefüge innerhalb des Zuchthauses war den Abhängigkeitsverhältnissen im Sozialgebilde Haus deutlich nachgebildet und den Erfordernissen der Stadtverwaltung angepaßt. Den ehrenamtlichen städtischen Regenten bzw. Regentinnen unterstanden der Hausvater sowie die Hausmutter, diesen wieder spezielle Fachkräfte (Raspel-, Web-, Schulmeister) sowie ausgewählte Zuchthäusler, die Schaffer. Eine ausführliche Hausordnung regelte sämtliche Belange des Anstaltslebens: Aufnahmemodalitäten, Disziplinarvorschriften, Strafkodex, Verpflegung, ärztliche Betreuung, Seelsorge und Unterricht. Im Mittelpunkt aber stand die Regelung des Arbeitsbetriebs. Die Männer waren vornehmlich mit dem anstrengenden Zerkleinern brasilianischer Farbhölzer, die Jugendlichen und Frauen mit Web-, Spinn-, Flecht- oder Strickarbeiten beschäftigt. Arbeit diente dabei nicht nur als erprobtes asketisches Mittel zur Unterdrückung und Beseitigung edler Untugenden. Der innerste Zweck der calvinistischen„castigatio" war noch nicht erreicht, wenn man junge Nichtstuer oder „starke" Bettler von ihrer parasitären Lebensführung abhielt. Die Läuterung im Zuchthaus strebte viel-

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Institutionelle Entwicklung

mehr einen grundlegenden Persönlichkeitswandel an. Eine neue Einstellung zur Arbeit als Sinn und Ziel des Lebens sollte die Entlassenen bewegen, sich dem Arbeitsmarkt freiwillig zur Verfügung zu stellen. Diese Erwartungen trafen sich mit den ökonomischen Interessen Amsterdams, der damaligen Drehscheibe des Welthandels und Warenverkehrs. Die hohen Produktionskosten auf dem gewerblichen Sektor, das ständige Anwachsen der Flotte sowie der Ausbau überseeischer Handelsniederlassungen - um nur einige Faktoren zu nennen - machten eine Mobilisierung sämtlicher verfügbarer Arbeitskräfte höchst willkommen. Vorhandene Interpretationen über Zusammenhänge zwischen Arbeitskräftebedarf einer Teilökonomie und Tendenzen zur Umgestaltung des Strafvollzugs in Zwangsarbeit mögen gewisse Unzulänglichkeiten aufweisen - im Falle von Amsterdam dürfte jedenfalls der Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktmechanismus, Glaubensethik und institutioneller Entwicklung des Zuchthauses nicht von der Hand zu weisen sein. Die Glorifizierung der Erfolge der Amsterdamer Anstalt gipfelte 1612 in der Flugschrift über die Miracula San Raspini Redivivi, worin den fingierten Heiligen Sanctus Raspinus (der zwölffachen zum Raspeln bestimmten Säge) sowie Sanctus Ponus und Sanctus Labor (der Zuchthausarbeit) verschiedenste Wundertaten zugeschrieben wurd e n ^ ) . D i e s e polemisch konfessionelle Schrift erlebte binnen kurzem Verbreitung in holländischer, französischer und deutscher Sprache. Nicht zuletzt auf diesem publizistischen Weg erlangte das Amsterdamer Zuchthaus in ganz Westeuropa großen Bekanntheitsgrad, der zuerst mehrere deutsche Territorien zur Nachahmung veranlaßte. Die engen Beziehungen der alten Hansestädte mit den holländischen Handelszentren hatten bereits lange einen regen Informationsaustausch gefördert. Dabei wurde das Modell des Zuchthauses zuerst im norddeutschen Raum verbreitet, von wo es in andere Länder ausstrahlte. Bei der Gründung der Anstalt Bremen (1609) ist eine direkte Übernahme der Amsterdamer Ordnung nachzuweisen. Ebenfalls weitgehende Übereinstimmung im Vollzugssystem zeigten die Zuchthäuser Lübeck (1613), Hamburg (zwischen 1614 und 1622) und Danzig (1629). In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehrten sich die Gründungen mit dem Ausbau der absoluten Fürstenmacht: Leipzig 1671, Lüneburg 1676, Braunschweig 1678, Frankfurt am Main 1679, München 1682, Spandau und Magdeburg 1687 - um nur einige zu nennen (8).

Die deutschen Zucht- und Arbeitshäuser

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Die Unterschiede zwischen den einzelnen Institutionen erwiesen sich insgesamt als geringfügig. Im Bereich der Arbeitsorganisation entsprangen sie regionalen Strukturbedingungen, auf dem Verwaltungssektor dem spezifischen Aufbau städtischer bürokratischer Apparate. Intentionen des herkömmlichen Strafvollzugs blieben jedenfalls erhalten. Weiterhin trafen sich die Bestrebungen, Delinquenten unschädlich zu machen und gleichzeitig ihre Arbeitskraft zum Nutzen von Stadt oder Staat einzusetzen, mit dem Ansatz, potentielleNachahmungstäter abzuschrecken. Zu diesen beiden Tendenzen trat als dritte der Besserungszweck. Durch zwangsweise Arbeitsgewöhnung mit flankierender geistlicher Betreuung und grundlegender Wissensvermittlung wurde eine umfassende Resozialisierung des gemeinschädlichen Individuums angestrebt. Aus diesen Gründen waren die Anstaltsträger auch bemüht, stets am „ehrlichen" Charakter der Zuchthäuser festzuhalten. In den lutherischen Territorien spiegelte sich die geistige Basis, die radikale Anwendung des neuen Arbeitsbegriffs, sogar aus den Hausinschriften. „Labore nutrior, labore plector: Durch Arbeit ich ernehre mich, durch Arbeit man bestrafet mich" lautete z.B. das Hamburger Motto. Im Einzelfall muß allerdings erst festgestellt werden, ob es sich bei dieser neuen Einschätzung der Arbeit um Wirkungen der Reformation oder um den Einsatz protestantischen Denkens für politisch-wirtschaftliche Zwecke handelte (9). Der Zusammenhang zwischen Zuchthausgründungen und allgemeinen Reformen der Wohlfahrtspflege barg jedoch auch stark retardierende Momente in sich. Zwar setzte sich verbreitet die Überzeugung durch, daß zwischen der Unterstützung unverschuldet Verarmter und der zwangsweisen Anhaltung arbeitsscheuer Elemente eine Unterscheidung zu treffen sei. Praktische Konsequenzen hingegen ließen mitunter auf sich warten. Vielmehr wurden die Anstalten als Aufbewahrungsort für verschiedenste Marginalgruppen, für Arme wie Unangepaßte, benützt. Das ganze 18. Jahrhundert läßt sich eine Mischung von Bettlern, Irren, Kindern und Alten in zahlreichen Zuchthäusern (Spandau, Magdeburg, Nürnberg u.a.m.) belegen (10). Eine wichtige Zäsur in der Weiterentwicklung der deutschen Zuchthäuser bildete das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Die Multifunktionalität der älteren Anstalten hatte deren Einsatz zur Bekämpfung von Bettel und Vagabundage

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Institutionelle Entwicklung

in den Hintergrund gedrängt. Es ergab sich daher für den Gesetzgeber die Notwendigkeit, nach neuen Wegen zur Unterdrückung dieser Erscheinungen zu suchen. Dabei vermochte sich der Schöpfer dieses Kodifikationswerkes, Carl Gottlieb Svarez, nicht von traditionellen F ormen in der Β ehandlung von Randgruppen zu lö sen. Die neugeschaffenen Landarmenhäuser erhielten eineDoppelfunktion als Armenversorgungseinrichtung sowie Zwangsarbeitsanstalt für arbeitsscheue Bettler. Deren Einweisung erfolgte aufgrund einer einfachen Polizeimaßregel. Für Diebe und Prostituierte konnte die Detention als korrektionelle Nachhaft verhängt werden. Diese Verfügungen fanden später Aufnahme in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871. In einzelnen Bundesstaaten blieben allerdings Sonderregelungen bestehen. Generell unterschiedensich die Anstalten in ihrer inneren Einrichtung nur wenig von den als Strafanstalten fungierenden Zuchthäusern. Die enge Verbindung zwischen Armen- und Korrektionswesen hat sich mitunter bis in das 20. Jahrhundert gehalten. Bei der Auseinandersetzung um eine Abänderung der deutschen Armengesetzgebung bildete dieser Konnex einen wichtigen Diskussionspunkt (11). Die Funktionsvielfalt der deutschen Zuchthäuser ist o f t als einer der Hauptgründe für den Niedergang der Institution hervorgehoben worden. Gerade die Verknüpfung verschiedenster Kompetenzen bildete das hervorstechende Kennzeichen der französischen H3pitaux gineraux. Diese Anstalten waren als zentral verwaltete Synthese von Armen-, Arbeits-, Zucht-, Waisenhäusern und Altersheimen konzipiert. Ausgehend von Lyon (1613) wurden sie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einer ganzen Reihe von Städten errichtet (Reims, Marseille, Dijon u.a.m.). Die gelegentlich anzutreffende Bezeichnung „höpital ge'neral et manufacture" verrät den engen Zusammenhang mit Erfordernissen merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Die geringe Investitionsbereitschaft von Privatunternehmern bewog den Staat zu weitreichenden Eigeninitiativen. Dabei versuchte man in erster Linie auf die Textilherstellung zurückzugreifen, die aufgrund ihrer überregionalen Bedeutung beste Entwicklungschancen für den Außenhandel versprach. Die verstärkte Ausnützung des Produktionsfaktors Arbeit stand in Einklang mit anderen Bestrebungen der Regierung. Die Verordnungen Ludwigs XIII. zur Förderung der Kinderarbeit etwa dienten bewußt der Versorgung sämtlicher Wirtschaftsbranchen mit einer ausreichenden Zahl von Arbeitskräften (12).

Die Anstalten Frankreichs

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Die Zielvorstellungen der Hopitaux waren bereits in einer Zeit formuliert w o r d e n , ehe der Colbertismus den Kurs der französischen Wirtschaftspolitik b e s t i m m t e : „... d'oster la mandicite et l'oivisite et d'empScher tous les desordres qui viennent de ces deux sources", wie es in einer Broschüre Mitte der 1660er J a h r e heißt (13). G r ö ß t e n Bekanntheitsgrad erwarb sich, hauptsächlich der räumlichen Ausdehnung wegen, die Pariser Anstalt. 1679 sollen sich allein in der Salpetriere, der Abteilung für Frauen u n d Kinder, 3 9 6 3 Personen b e f u n d e n haben. Sämtliche Institutionen folgten dem Auftrag zur Einführung verschiedener A r t e n von M a n u f a k t u r e n u n d zur Gestaltung eines Arbeitssystems, das bloß kranke u n d arbeitsunfähige Insassen vom Produktionsprozeß ausschloß. Handschuherzeugung, Teppichwirken, Spinnen, Stricken, Wäschefertigung, Posamentier- u n d Stickarbeiten dominierten. Innovatorischen Charakter besaß die Herstellung von englischem Trikot, w o f ü r man eigens qualifizierte F a c h k r ä f t e vom Inselreich holte. Als Mittel zur Produktionssteigerung war den Insassen eine gewisse Gewinnbeteiligung in Aussicht gestellt, welche den m o n o t o n e n u n d peinlich genau geregelten Alltag einigermaßen erträglich gestaltete. Ein königliches Edikt von 1662 ordnete die Ausbreitung der HSpitaux über das gesamte Land an. Maßgebliche Unterstützung erhielt die Krone von den Jesuiten. Diese Hilfsaktion des Ordens ist recht einseitig als theoretische Konzession u n d als praktischer Beitrag des Katholizismus zur Philosophie der a u f k o m m e n d e n Bourgeoisie interpretiert worden. Viel eher scheinen j e d o c h Zusammenhänge mit caritativem Sendungsbewußtsein der J e s u i t e n u n d namentlich der drei tragenden K r ä f t e des Unternehmens andrerseits bestanden h a b e n (14). Der französische Minister Necker schätzte die Zahl sämtlicher Anstalten vor dem Ausbruch der Revolution auf ca. 800, die Zahl der Verpflegten auf r u n d 210 000 (15). V o n diesen Angaben kann jedoch keineswegs auf eine Bewältigung der Armenfrage geschlossen werden. Ein Teil der Anstalten blieb ausschließlich der alten Hospitaltradition verhaftet u n d trug zur Beseitigung des Bettels nur wenig bei. Mißstände in der Gebarung verhinderten die widmungsgemäße Verwendung der zusammengebrachten Gelder. Die Verwaltungspositionen gingen z u n e h m e n d an wohlhabende Unternehmer u n d Kaufleute über. Großzügige Dispositionsmöglichkeiten u n d ausgeprägtes Gewinnstreben ließen diese Leute mehr in die eigene Tasche als zum N u t z e n der Anstalt wirtschaften.

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Institutionelle Entwicklung

Auch die Staaten der Appeninenhalbinsel und Spanien verfügten über Arbeitshäuser mit spezifischen, im Grunde aber vielfach übereinstimmenden Organisationsmodi. Der bekannte englische Philanthrop J o h n Howard hat anläßlich einer Besichtigungsfahrt im ausgehenden 18. Jahrhundert die erste internationale Dokumentation der wichtigsten Einrichtungen erstellt (16). Unmittelbare Einflüsse bestimmter Anstalten auf den österreichischen Raum sind kaum anzunehmen. Auch die Anregung für die Gründung des ersten Zuchthauses in Wien dürfte nicht von einer bestimmten Anstalt als Idealbild ausgegangen sein. Der Hinweis auf „andere wolbestelte Republiquen und vornehme Stätten" (17) im Privileg von 1671 läßt auf einen umfangreichen allgemeinen Informationsstand über die verschiedenen Institutionen schließen. Direkte Bezugnahme auf ausländische Einrichtungen mehrten sich in Österreich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Namentlich liberale Politiker stellten das berüchtigte englische Arbeitshaus, welches durch das Armengesetz von 1834 geschaffen worden war, wiederholt als nachahmenswertes Beispiel hin. Auf dem Inselreich hatte bereits der bis in Elisabethanische Zeit (1601) zurückreichende Gesetzeskomplex des „Old Poor L a w " (18) die Institution der Arbeitshäuser als Vorbedingung für eine öffentliche Unterstützung gekannt. Die Grenze zum Armenhaus war keineswegs scharf gezogen, da es an einer Kategorisierung der Insassen völlig fehlte. Zudem teilten diese „unreformed workhouses" das Hauptübel der meisten zeitgenössischen Anstalten - „overcrowding, insanation, filth and gross indecency of ... life" (19). Daneben konstituierten sich auf privater Basis Aktiengesellschaften, welche den Bau von öffentlichen Arbeitshäusern als profitable Unternehmungen vorantreiben wollten; der erwartete Erfolg blieb allerdings aus. Hatten bereits die rasche Industrialisierung, die Folgen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sowie die Politik der Großgrundbesitzer zahlreiche Gewerbetreibende und Bauern ins Elend gestürzt, so verschärften sich die sozialen Probleme zu Beginn des 19. Jahrhunderts erneut. Die Entlassung großer Teile der Armee nach 1815 und die Wirtschaftsrückschläge im Gefolge der englischen Kornpolitik zogen eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit nach sich. Das 1782 geschaffene „Rundesystem" mit öffentlichen Lohnzuschüssenfür die Beschäftigung Arbeitsloser und das SpennhamlandSystem von 1795 (Messung des Existenzminimums am Brotpreis

Die englischen „workhouses"

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und Zahlung der Differenz zum Lohn aus dem Armenetat) stabilisierten die katatstrophale Lage der „arbeitenden Armen". Aus den großen regionalen Unterschieden sowie den Mißbräuchen der Selbstverwaltung und aus Sonderinteressen resultierten weitere Mißstände. Das Parlament begegnete dieser Situation vorerst mit einer Verschärfung armenpolizeilicher Maßnahmen, mit der Androhung von Korrektionshaus und Körperstrafen für arbeitsfähige Bettler (z.B. Vagrant's Act von 1824). Das Armengesetz von 1834 als Grundlage des „New Poor L a w " brachte durch eine verstärkte Zentralisierung und Kontrolle der Lokalbehörden nur organisatorische Verbesserungen (20). Obwohl man an der Fürsorgepflicht des Staates für die Arbeitsunfähigen und deren Kinder sowie für die Beschäftigung der Arbeitsfähigen festhielt, war man unter Einfluß malthusianischer Anschauungen um eine durchgehende Einschränkung der Armenunterstützungen bemüht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen reduzierte sich Hilfeleistung auf die Institution der Armenhäuser, welche als Prüfstein für eine wirkliche Unterstützungsbedürftigkeit galten. Schwerarbeit, erbärmliche Kost und brutale Disziplinarvorschriften gestalteten diese „poor law Bastilles" zu einem abstoßenden und entwürdigenden Aufenthaltsort. Die Schilderung haarsträubender Fälle ist durch zeitgenössische Beschreibungen und zahlreiche literarische Produkte hinreichend belegt. Bei der Diskussion um eine Reform der österreichischen Zwangsund Freiwilligen Arbeitshäuser vermittelte das englische workhouse den österreichischen Liberalen vielfältige Anregungen. Durch Modifikationen der inneren Ordnung war ebenfalls die Schaffung möglichst ungünstiger Lebensbedingungen angestrebt. Dieses Vorgehen stand in Einklang mit der kontinuierlichen Marginalisierung von Randgruppen, wie sie in Österreich seit den 1860er Jahren für mehrere Jahrzehnte charakteristisch werden sollte. Zahlreichen Bemerkungen in Landtags- und Gemeinderatsdebatten kann entnommen werden, daß der Informationsfluß in erster Linie über Fachliteratur bzw. über offizielle Amtsauskünfte lief. Unmittelbare Besichtigungsfahrten, wie sie etwa der Arzt Carl Endlicher 1863 unternommen hatte, blieben der Eigeninitiative von Interessenten überlassen. Auf Unterstützung aus öffentlichen Mitteln konnte zur „Ersparung von Zeit und Kosten" nicht gerechnet werden; mit Hinweis auf die unterschiedlichen Verhältnisse wurden solche Reisen mitunter als „ziemlich überflüssig" abgelehnt (21).

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Institutionelle Entwicklung

3.2. Die österreichischen

Gründungen

Die Grundsteinlegung für das erste Zuchthaus im habsburgischen Herrschaftsgebiet erfolgte 1668 in Breslau (22). Aus der Formulierung der Zielvorstellungen geht eindeutig hervor, daß es sich dabei um eine rein städtische Anstalt handelte, „worinnen solche Gott, der Obrigkeit, den Eltern und Herrschaft ungehorsame Leute, faule starke Bettler, und liederlich Gesindel zu ihrer Besserung gebracht, auß ihrer zeitlich und ewigen Gefahr des Verderbens gerettet werden, und ihr täglich Brot durch gehörige Arbeit ehrlich erwerben lernen mögen". Der lokal gebundene Wirkungsbereich kann auch aus den Finanzierungsmodalitäten abgeleitet werden. Da die verfügbaren Gelder der Stadt für Neubau und Einrichtung nicht ausreichten, wurden durch Veranstaltung eines Glückshafens Beiträge der gesamten Einwohnerschaft mobilisiert. Das Eröffnungsjahr wird unter Berufung auf ältere Literatur meist mit 1670 angegeben. Eine genaue Zuchthausordnung nach den Vorbildern der deutschen Hansestädte datiert allerdings erst aus dem Jahr 1680. Ob die Breslauer Anstalt den entscheidenden Anstoß für die anderen Zuchthausgründungen in den österreichischen Ländern gab, muß offen bleiben. Für eine spezifisch städtische Initiative spricht neben den vorgebrachten Argumenten auch die alte Rolle Breslaus als Oberhof, die in peinlichen Verfahren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts größte Breitenwirkung erreichte. Die unmittelbare Einflußnahme staatlicher Verwaltungsorgane ist jedenfalls bei der Einrichtung des Zuchthauses in der Wiener Leopoldstadt nachzuweisen. Das Privileg Leopolds I. setzte in Österreich einen neuen und wegweisenden Akzent in der langen Reihe von Verordnungen gegen Bettel und Müßiggang. Es verstand sich als Maßnahme der landesfürstlichen „Polizei", welche zum direkten Eingreifen der wachsenden Herrschermacht in sämtliche Bereiche des entstehenden Flächenstaates berechtigte. Aus dieser Perspektive bildete das Zuchthaus ein Sammelbecken für alle jene Personen, welche sich nicht in eine der Grundtypen primärer Gruppenbildung ein „ganzes Haus" im Sinne Otto Brunners - eingliedern ließen. Die Ursache für die Auflehnung gegen jede Form von Herrschaft, sei es eines Hausvaters oder der Krone, wurde primär als moralisches Versagen des Individuums interpretiert. Daher überwog in der Zielsetzung der Anstalt ein Konglomerat von Ansätzen. Strafzwecke

Erste Gründungen und unrealisierte Projekte

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vereinigten sich mit Anliegen reaktiver Kontrolle u n d Resozialisierungsvorstellungen. Anhaltung zu regelmäßiger Arbeit, religiöse Betreuung und die Vermittlung verschiedener elementarer Kenntnisse bildeten - zumindest intentional - dafür die Rahmenbedingungen (23). Nach Wiener Vorbild wurde unter Karl VI. und Maria Theresia die Einführung von Zucht- und Arbeitshäusern im gesamten habsburgischen Machtbereich intensiviert. Der bereits unter Joseph I. 1702 in Olmütz gegründeten Anstalt folgten weitere in Innsbruck (1725), Graz (1735), Prag (1737), Troppau (1753), Klagenfurt und Laibach (1754), Triest (1762), Altbreisach in Vorderösterreich (1769), Ackerghem bei Gent und Vilvoorde in den österreichischen Niederlanden (1772), Linz (1775) und Görz (1779). Im unmittelbaren Nahbereich der Stadt Wien fand zudem das Schloßgebäude der ehemals kaiserlichen Herrschaft Ebersdorf, welche Maria Theresia 1745 der Wiener Armenkasse zum Geschenk gemacht hatte, bis 1750 sowie zwischen 1766 und 1779 teilweise als Arbeitshaus Verwendung (24). Und auch in Salzburg hatte - um dieses später österreichische Territorium miteinzubeziehen - Erzbischof Sigmund von Schrattenbach anfang der 1750er Jahre ein Arbeitshaus einrichten lassen (25). Eine Anzahl weiterer Projekte blieb im 17. und 18. Jahrhundert unrealisiert. In Wiener Neustadt stand J o h a n n Joachim Becher 1671 knapp vor dem Vertragsabschluß mit Bischof Leopold Kollonitsch über die Errichtung eines Werkhauses, doch torpedierten städtische Händler und Gewerbetreibende das Vorhaben (26). Planungsmängel und Bedeckungsschwierigkeiten waren die Ursachen für das Scheitern anderer Konzepte. Im Falle Pilsen (1757) fehlte es an detaillierten Ausarbeitungen (27); beim Projekt Voitsberg meldeten die Behörden Bedenken hinsichtlich Arbeitsorganisation und Finanzierungsplänen an, da Adolph Graf Wagensperg als geistiger Vater dieses Entwurfs schon bei der Revitalisierung des Arbeitshauses Graz keine glückliche Hand bewiesen hatte (28). Bei den Vorschlägen für den Banat liefen Projekte für ein „Haubt- und Universal Zucht-Hauß" in Temeswar mit der Errichtung einer regional gebundenen Einrichtung parallel, welche sich als erste Starthilfe für Deportierte wie als Strafgefangenenhaus verstand. Anträge des Lemberger Magistrats wurden 1797 mit Hinweis auf die Kostenfrage und die ohnehin schlechten Lebensbedingungen der Bevölkerung abgelehnt (29).

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Institutionelle Entwicklung

In Wien ging man bei der Einrichtung der neuen Anstalt mit durchaus realistischen Einschätzungen ans Werk: „Ob nun wohl dieses werk wegen des darauff beruhenden grossen Unkostens und anderer circumstantien unzweiffentlich mit unterschidtliche difficulteten erwekhen wurdt,so ist doch fürdissmahl mehrers zugedenkhen, wie sie so hailsambe intentio nur den anfang gewinnen, so dann nach und nach fortgepflanzt und verbessert werden k ö n t e " (30). Tatsächlich verlief die Entwicklung zahlreicher Zuchthäuser keineswegs nach den ursprünglichen Konzepten von Zentralstellen und Regionalbehörden. Eine monokausale Erklärung wird angesichts der großen Komplexität hiefür maßgeblicher Faktoren kaum befriedigen können. Als Haupthindernisse erwiesen sich jedenfalls die mangelhafte Kapitalausstattung der Institute; ihre im Bedarfsfall praktizierte Umwandlung etwa zu Spitälern oder Kasernen; Rückschläge im Zuge von Kriegsereignissen; fehlende Eignung der Verwaltungsorgane zur konsequenten Einhaltung der Vorschriften; unzureichende Arbeitsversorgung. Die Vielfalt retardierender Einflüsse läßt sich beim Zucht- und Arbeitshaus Olmütz deutlich verfolgen (31). Obwohl man eine schrittweise Ausgestaltung anstrebte und bereits 1722 eine eigene Kapelle einrichtete, zögerte sich die Vollendung des Objekts immer wieder hinaus. Im Zuge der Ausbaupläne mährischer Strafanstalten erließ Karl VI. 1739 den Befehl, den Bau durch die Einbeziehung von zwei Nachbarhäusern zu erweitern, um so ausreichend Raum für „die Bößwichte zur Straff, die Faule zur Correction u n d Arbeit" zu schaffen. Das Olmützer Zuchthaus erhielt somit, „weillen alda bereits ein Anfang gemacht w o r d e n " war, eindeutigen Vorrang gegenüber der im Planungsstadium befindlichen Brünner Anstalt. Die Übergabe der Stadt an Preußen und die Schäden der Besetzung von 1741 rückten die Befolgung dieser Anordnung in weite Ferne; der folgende Wiederaufbau der Festungswerke setzte andere Prioritäten. - Nach Auffassung der mährischen Repräsentation und Kammer konnte die Anstalt 1762 „nur denominative für ein Zucht- u n d Spinnhaus angesehen werden ..., in re ipsa aber wegen Mangel an genügsamer Dotirung nicht dafür zu halten sei, maßen praeter castigionem sonst keine Arbeit als in opere publico für die Insitzenden vorhanden wäre, selbe sich mithin auch nichts verdienen könnten, sondern nothwendig dem Magistrate und dem Publico zur Last fallen" müßten. Beim weiteren Ausbau der Fortifikationsanlagen

Mängel und entwicklungshemmende Faktoren

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wurde 1763 ein Teil des Objekts niedergerissen, wodurch es trotz gegenläufiger Bemühungen und Reorganisationsplänen des Staates weiter an Bedeutung einbüßte. Als 1770 der (später modifizierte) Beschluß zum Neubau eines Zucht- und Arbeitshauses in Brünn fiel, erwies sich die Auflassung der Olmützer Anstalt als notwendige Konsequenz. Schlechte sanitäre Verhältnisse, ungeordnete Finanzen und mangelhafte Kontrolleinrichtungen galten als hervorstechende Mängel des Laibacher Zuchthauses, das mit Genehmigung Maria Theresias 1754 in einer ehemaligen Kaserne untergebracht worden war (32). Bei seiner Inspektionsfahrt durch Innerösterreich mußte Graf Vilana-Perlas, Hofrat bei der Obersten Justizstelle, 1761 feststellen, daß die Institution gänzlich in Verfall geraten war. Es dauerte acht Jahre, bis endlich ein neues Gebäude mit einem Fassungsraum für 100 Personen zur Verfügung stand und alle administrativen Fragen bis ins Detail geklärt waren. Die Inbetriebnahme der Anstalt in der Doppelfunktion von Strafort und Arbeitshaus für Bettler und Vaganten zog sich allerdings noch bis 1773 hin. Doch ein Jahrzehnt später handelte sich das Institut abermals scharfe Kritik ein, diesmal aber unter geänderten Vorzeichen: Als Joseph II. 1784 in Laibach weilte, rügte er die bequeme Unterbringung und die geringen Arbeitsanforderungen. Einen ähnlichen Verweis - „die Einrichtung ist mehr die eines Verpflegshauses" - erhielt übrigens auch 1773 das Zuchthaus für die österreichischen Vorlande in Altbreisach. Dahinter standen in erster Linie fiskalische Interessen, welche eine rasche Eindämmung des hohen Defizits der Anstalt anstrebten und Petitionen um zusätzliche Staatshilfe zu unterbinden versuchten. Der Institution war allerdings kein langer Bestand beschieden; 1792 fiel sie der Zerstörung durch die Franzosen zum Opfer (33). Eine Verbindung von finanziellen Engpässen mit landespolitischen Maßnahmen verzögerte die Eröffnung des Zuchthauses in Brünn (34). Hier war 1770 ein Neubau genehmigt und zwei J a h r e darauf in Angriff genommen worden. Nach der Fertigstellung (1777) fehlten jedoch hinreichende Betriebsmittel. Als Maria Theresia 1778 mehrere zentrale Bildungseinrichtungen (Universität, Priesterseminar, Ritterakademie) von Olmütz nach Brünn verlegte und in interimistisch für Wohlfahrtszwecke gewidmeten Klöstern unterbrachte, verwendete man das noch unbenützte Zuchthausgebäude

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Institutionelle Entwicklung

bis 1786 als Waisenhaus. Erst dann w u r d e das Gebäude zumindest teilweise seiner früheren Bestimmung entsprechend, nämlich ausschließlich als Provinzialstrafgefängnis, benützt. Doch auch in Wien, dem Modell für sämtliche Zucht- u n d Arbeitshäuser des habsburgischen Herrschaftsgebietes, stimmte die Betriebspraxis keineswegs mit den programmatischen Vorstellungen überein. Im Verlauf der Türkenbelagerung von 1683 wurden die Baulichkeiten schwer beschädigt, im Zuge der Pestepidemie f a n d e n sie zwischen 1713 u n d 1718 als Lazarett Verwendung. Infolge bedeutender Abweichungen vom ursprünglichen Organisationsschema entwickelte sich die Einrichtung danach z u n e h m e n d zu einem Detentionsort für R a n d g r u p p e n verschiedenster Spielart u n d Altersstufen (35). Das langsame Durchdringen merkantilistischer Ideen sowie eklatante sanitäre Mißstände (die 1722 zu einer Epidemie mit zahlreichen T o t e n führten) leiteten in den J a h r e n 1723-1726 eine R e f o r m der Institution ein (36). Nach der baulichen Neugestaltung wies der K o m p l e x einen stark erweiterten Fassungsraum für mehr als 500 Personen auf. Dies gestattete endlich die gesonderte Unterbringung der Kriminellen im alten Gebäudeteil, welcher nach einer Beschreibung von 1783 acht Zimmer für je zehn Frauen u n d 13 Zellen für jeweils neun Männer aufwies. Damit bildete dieser T r a k t eine fühlbare Entlastung für die häufig überfüllten Wiener Strafvollzugsstätten, wie K ä r n t n e r t u r m , Kasematten oder R u m o r h a u s . Das neue Arbeitshaus dagegen f a ß t e die „nicht so s t r a f m ä ß i g e n " Personen, zusätzlich aber auch noch Waisenkinder. Die Unterscheidung zwischen den beiden Anstaltstypen wurde aber weder intern exakt eingehalten noch in der Öffentlichkeit als solche registriert (37). Mit diesen Neuerungen begann man eine Schwachstelle auszumerzen, welche für viele der damaligen Zuchthäuser im gesamten europäischen Raum charakteristisch war: ihre Multifunktionalität als Kriminalgefängnisse, Armen-, Irren-, Kranken-, Waisen- u n d Korrektionshäuser für Personen, die nach der Rechtsauffassung des 18. J a h r h u n d e r t s nicht wegen eigentlicher Kriminaldelikte belangt werden k o n n t e n (38). Bei den Bemühungen um eine E n t f l e c h t u n g dieser Vielfalt stellten sich immer wieder Rückfälle ein, welche als Indiz für die Beharrungskräfte traditioneller Einstellungen gegenüber Randgruppen gewertet werden können. N o c h 1770 genehmigte Kaiserin Maria Theresia einen Vorschlag der Hofkanzlei, das neu zu

Differenzierung der Aufgabenvielfalt

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errichtende Brünner Zuchthaus für Zivildelinquenten, aufrührerische Untertanen, Bettler, Vagabunden, Dirnen, alle Übertreter der Polizei- und Dienstbotenordnungen, aber auch zur Unterbringung von Irren und Debilen zu verwenden (39). Es ist zudem für diese pragmatischen Rücksichten bestimmte Inkonsequenz bezeichnend, daß man trotzdem um eine Übernahme der Wiener Organisation bemüht war (40). Die Entwicklung der Zuchthäuser innerhalb des habsburgischen Herrschaftsgebietes zeigt im Verlauf des 18. Jahrhunderts somit keine einheitliche Tendenz. Fälle von Mehrfachfunktionen konnten durchaus erhalten bleiben. Darunter sind neben Laibach die niederländischen ,,maisons de f o r c e " Ackerghem und Vilvoorde zu nennen (41). Die beiden Gründungen waren aus dem Versuch entstanden, die nach zeitgenössischen Schätzungen mit nahezu 15 % der Bevölkerung bezifferte Armenzahl Flanderns einzudämmen. Daher liefen die Projekte auf Zentralanstalten für sämtliche Randgruppen, vom Verbrecher bis zum unverschuldet Armen, hinaus. Die detaillierten Planungen von Vicomte Vilain und seinen Mitarbeitern für Ackerghem gingen von einem Fassungsraum von 1 300 - 1 400 Personen aus. Obwohl bis 1775 nur knapp die Hälfte des Vorhabens bewältigt war, erlangte es durch die sorgfältige Trennung der Risikogruppen und durch das System der Einzelhaft richtungsweisende Bedeutung für den Strafvollzugsbau. Die für 992 Personen konzipierte Schwesteranstalt Vilvoorde hatte das Handikap feuchter Lage und unzureichender Fundamentierung zu tragen. 1775 wurde der Bau mit seinen 500 vollendeten Zellen eingestellt, da die von Gewerbetreibenden beeinflußten Stände aus Konkurrenzangst eine weitere Finanzierung verweigerten. Zudem waren die seinerzeitigen Voranschläge von 400 000 fl. um mehr als ein Drittel überzogen worden. Ein zweiter Entwicklungsstrang in der Geschichte der österreichischen Zucht- und Arbeitshäuser ging zur Umwandlung der Institutionen in reine Strafvollzugsanstalten. Die verschiedenen Stufen dieser Entwicklung lassen sich an mehreren Beispielen verfolgen. Das Innsbrucker Zuchthaus hatte seit seiner Gründung (1725) als Waisen- und Arbeitshaus sowie als Kriminalgefängnis für das Land Tirol gedient (42). Die Modalitäten des Anstaltsbetriebes in diesen drei voneinander räumlich getrennten Institutionen war auch noch nach der Neuorganisation von 1769 geringfügig. Sie beschränkten

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Institutionelle Entwicklung

sich lediglich auf eine zugunsten besserer Schulbildung verkürzte Arbeitszeit für Kinder sowie auf Ausgangsmöglichkeiten bzw. auf bessere Ausstattung der Schlafräume für Arbeitshäusler. Das J a h r 1785 brachte einschneidende Veränderungen: die als Militärspital verwendeten Teile des Objekts wurden geräumt und die Waisen in einem eigenen Heim untergebracht. Die Anstalt bestand fortan unter der Bezeichnung „allgemeines Landes-Criminal-Zuchthaus" weiter. Ähnlich gestaltete sich das Schicksal des Wiener Zuchthauses. Der allgemeine Disziplinierungsvorgang, welcher das Werden des modernen Staates begleitete, erfaßte unter dem Einfluß merkantilistischer Theorien im speziellen auch elternlose Kinder. Diesen Überlegungen entsprechend erfolgte 1743 deren Umsiedlung in das Waisenhaus am Rennweg, wo die klerikale Leitung mehr eine religiös-militärisch-handwerkliche Erziehung - im Gegensatz zur sonst gängigen Manufakturarbeit - anstrebte (43). Im Zuge der Reformversuche Josephs II. wurde 1783 auch das Arbeitshaus aus der bisherigen Anstaltskombination ausgegliedert. Zwei Jahre später kam es zur Umwandlung des Zuchthauses in ein Inquisitenspital und Frauengefängnis, 1787 zu einem Männer- und Frauenzuchthaus für Wien und Niederösterreich unter dem Namen „k.k. niederösterreichisches Provinzialstrafhaus" (44). Auch das Klagenfurter Zucht- und Arbeitshaus hatte seine ursprünglich zugedachte Aufgabe - Internierung und Beschäftigung von Kriminellen und Marginalen - ohne ausgeklügeltes System der Arbeitsbeschaffung nur beschränkt erfüllt und sich immer mehr zu einem „bloß für abgeurtheilte Kriminalverbrecher bestimmten Strafort" (1793) entwickelt (45). - Ebenso das Troppauer Zuchthaus: 1758 niedergebrannt, erst 1773 wiedereröffnet, wurde es 1787 aufgelassen und seine Insassen in die Strafanstalt Brünn überstellt (46). Das kleine, nur 40 Personen fassende Görzer Zuchthaus diente von Anfang an allein zur Anhaltung von Verbrechern, 1783 ließ man die Arrestanten mangels entsprechender Beschäftigungsmöglichkeiten wie Geldmittel nach Triest transportieren. Erst 1790 wurde den Ständen ein neuerliches Ansuchen zur Errichtung eines Zucht- und Arbeitshauses bewilligt und ihnen Teile des Kastells sowie das Vermögen des aufgehobenen Karmeliterklosters überlassen (47). Eine institutionelle Differenzierung zwischen Strafgefangenenanstalt und Arbeitshaus wurde außerdem noch in Linz, Prag und

Gründe für die Schaffung von Spezialanstalten

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Graz vorgenommen. Es hieße allerdings die Bewußtseinslage des 18. Jahrhunderts überschätzen, wenn man diese Maßnahmen ausschließlich als planmäßige Kategorisierung und Ansatz zu einer verstärkten Individualisierung des Strafvollzugs bzw. zur Internierung sicherheitsgefährdender Randgruppen interpretieren wollte. Vielmehr war es o f t der Druck äußerer Verhältnisse, welcher ein derartiges Vorgehen einleitete. Erste Anregungen zur Errichtung eines Zucht- und Arbeitshauses in Linz waren bereits in der Bettler- und Leinwandordnung für Österreich ob der Enns im J a h r 1728 aufgetaucht. Das dafür ausersehene Gebäude, der Stockhof, gelangte zwar 1731 in das Eigentum der Stände, wurde aber zu vordringlicheren Versorgungsaufgaben, nämlich als Invalidenspital, verwendet (48). Nach mehrfachen Anläufen kam es erst 1773-1775 auf dem Areal zwischen der sogenannten Wasserkaserne und der Linzer Wollzeugfabrik zum Neubau einer Anstalt, welche jedoch fünf Jahre nach ihrer Eröffnung durch einen Brand wieder vernichtet wurde. Dadurch sah man sich genötigt, 1784/85 Sträflinge und Zwangsarbeiter in das säkularisierte Kloster Baumgartenberg zu verlegen. Das Arbeitshaus wurde in der Folge aufgelassen. Erst 1811 erfolgte die Rückkehr der Strafgefangenen in das nach Kriegsschäden wiederinstandgesetzte Linzer Schloß (49). Pragmatische Zwänge zeigten auch in Prag ihre Wirkung (50). Hier bestand bereits in den dreißiger J a h r e n des 18. Jahrhunderts ein Zuchthaus, das in Anlehnung an die Wiener Anstalt gezielt zur Ergänzung patriarchalisch-häuslicher Sozialisation diente und namentlich von Eltern, Vormündern und Lehrherrn abgegebene Jugendliche aufnehmen sollte. Da diese Frühform eines Jugenderziehungsheims aber an einer völlig unzureichenden Raumsituation litt und zudem keinerlei nennenswertes Vermögen besaß, ordnete Karl VI. 1737 die Ausmittlung neuer Baulichkeiten - ebenfalls auf dem Altstädter Tummelplatz - und die funktionelle Erweiterung zu einer Strafanstalt an. Pläne zur Ausdifferenzierung eines Arbeitshauses für die bloßen Korrigenden (Dirnen, Bettler, Vagabunden, aufgegriffene Betrunkene etc.) reichten im Zuge von Beratungen über eine Rentabilitätssteigerung der Anstalten bis in die sechziger Jahre zurück. Zu greifbaren Reaktionen kam es allerdings erst nach wiederholten Vorstellungen wegen Überfüllung der 230 Personen fassenden Anstalt: 1775 erfolgte die Übersiedlung des

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Arbeitshauses in das ehemalige kaiserliche Zeughaus auf der Prager Kleinseite. Primär finanzielle Erwägungen bewogen die Behörden zur Teilung des Grazer Zucht- und Arbeitshauses (51). Erste Baupläne datierten bereits in die Errichtungszeit des Armenhauses (1724) zurück, doch erst 1732 war in dessen unmittelbarer Nachbarschaft ein geeignetes Grundstück gefunden, drei J a h r e später den Bau vollendet. Da jedoch das nötige Geld für die Einrichtung fehlte, stand das Objekt bis 1737 leer; in der Zwischenzeit steckte man Bettler und Vagabunden kurzerhand ins Armenhaus. Weitere Störungen erfuhr der mühsam angelaufene Betrieb in den 1740er Jahren, wo man wiederholt Kriegsgefangene in der Anstalt internierte. Neben Eigentums- und Sittlichkeitsverbrechern sowie Schmugglern wiesen die Landgerichte später zunehmend Schwerverbrecher ein. Einwände der Verwaltung wegen Umwidmung des ursprünglichen Anstaltszweckes blieben wirkungslos. Eine Änderung der bisherigen Passivität der Hofstellen zeichnete sich erst aufgrund der Initiativen von Adolph Graf Wagensperg ab. Vorab „zur Hindanhaltung des schädlichen Müssigganges" und der „von dem weiblichen Geschlecht ausübenden Laster-Thaten" wollte der Präsident des steirischen Kommerzienkonsesses ein zweites Arbeitshaus errichten und die Produktion in beiden Institutionen auf eine solide Basis stellen. Da dieses Vorhaben eine Bereinigung aller Finanzschwierigkeiten versprach, war die Zustimmung der Hofkanzlei verhältnismäßig leicht zu erreichen. 1761 wurde eine zweite Anstalt im Grazer Vorort Geidorf errichtet, das alte Haus seit 1766 auch formell in ein Strafgefängnis umgewandelt. Der erhoffte wirtschaftliche Nutzen blieb jedoch bald aus. Wagenspergs Absichten, unter Verwendung von Eigenmitteln und mit staatlichen Zuschüssen eine Textilmanufaktur einzurichten, scheiterten. Obwohl daraufhin innerhalb des steirischen Guberniums geteilte Meinungen über die Fortsetzung ähnlicher Versuche herrschten, setzte die Hofkanzlei schließlich die Eröffnung einer hinreichend dimensionierten Arbeitsanstalt durch. 1769 transferierte man sie in das ehemalige kaiserliche Jagdschloß Karlau, doch bereits 1784 ordnete Joseph II. wieder ihre Rückübersiedlung in das Objekt des ehemaligen Grazer Waisenhauses an. Die Argumente, mit denen der Monarch diesen Schritt begründete, signalisieren den Beginn einer Tendenzwende in der bisher ziemlich undifferenzierten Einschätzung von Armut und Arbeits-

Arbeitshäuser als Mittel produktiver Arbeitslosenfürsorge

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losigkeit: „Das Arbeitshaus muß vorzüglich in einer solchen Lage sein, daß es nahe an der Stadt liegt und die Freiwilligen darin arbeiten können, ohne jedoch allda zu wohnen; hingegen haben sie auch nebst dem kleinen Verdienst im Hause nichts anderes zu genießen als die Behältnisse und die Instrumente zur A r b e i t . . . " (52). Die Prioritäten lagen nunmehr eindeutig auf der Schaffung Freiwilliger Arbeitsanstalten, welche sich als Mittel produktiver Arbeitslosenfürsorge verstanden und auf die Anwendung von Zwangsmaßnahmen weitgehend verzichten wollten. Diese Bemühungen standen in engem Kontext mit den Versuchen des staatlichen Verwaltungsapparats, für jeden neu diagnostizierten sozialen Problembereich eine spezielle Therapie anzuwenden. Dabei trachtete sich Joseph II. nicht nur auf die neugeschaffenen Pfarrarmeninstitute zu stützen, sondern auch das gesamte Anstaltenwesen der Großstädte durchgreifend zu reorganisieren und klare Richtlinien für eine verstärkte Anstaltendifferenzierung zu erlassen (53). Wie schwer man sich dabei jedoch von alten Ideologien und Usancen löste, zeigt das Beispiel des Wiener Arbeitshauses, das sich seit 1783 im aufgehobenen Siebenbüchnerinnenklosterbefand (54). Das Organisationsmodell entsprach im wesentlichen einem Antrag des niederösterreichischen Regierungspräsidenten Graf Pergen und ersetzte einen viel weiter reichenden Reformvorschlag des Regierungsrates Wallenfeld. Die Betriebspraxis deckte aber derart gravierende Mängel des Konzepts auf, daß Joseph II. die Anstalt ein J a h r nach ihrer Übersiedlung in das Dorotheerkloster (1786) wieder auflöste. Die Kombination des Spinnhauses mit einem Arrest für schwere Polizeiübertretungen und mit einer Korrektionsanstalt für Bettler und Vagabunden verstärkte trotz angestrebter räumlicher Trennung den diskriminierenden Charakter der Anstalt. Es entstanden bei den Arbeitslosen ähnliche Ressentiments, wie sie Nicolai bei analogen Einrichtungen in Berlin beobachtet hat (55). Graf Buquoy hatte bereits 1784 diese Entwicklung vorausgesehen und sich vergeblich bemüht, die Institution von der Aufsicht durch die Polizei in die Leitung des Armeninstituts zu übertragen (56). Dazu gesellten sich noch weitere Faktoren, welche die Attraktivität der Einrichtung erheblich herabminderten: Das Festhalten an gewissen Zwangsmaßnahmen in der Hausordnung (57); die große Entfernung von den Vorstädten mit den ärmeren Bevölkerungsschichten sowie das verhältnismäßig niedrige Lohnniveau (58); die Beschränkung

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auf Textilarbeiten, die eine Weiterbeschäftigung in erlernten Berufen vereitelte (59). Nachdem der Versuch gescheitert war, in einem institutionellen Rahmen Sicherung von Existenzmöglichkeiten mit der Einübung von Arbeitstechniken und -disziplin zu verbinden, sah man sich angesichts der unverändert hohen Bettlerzahlen in der Residenz zur Suche nach neuen Lösungen gedrängt. Man ging nunmehr auf die Vermittlung von überwiegend verlagsmäßiger Heimarbeit durch die Grundgerichte über und konnte Ende 1788 bereits 1 305 Beschäftigte zählen (60). Zur möglichst lückenlosen Erfassung aller Arbeitsfähigen griff man auch auf bislang perhorreszierte Methoden zurück, indem man sogar gelegentlich Spinngerätschaften unentgeltlich verteilte, um , j e d e Classe von Armen, selbst Kinder und schwächliche Personen, mit einer ihren Kräften und Kenntnissen angemessenen Beschäftigung" zu versorgen (61). Obwohl auch diese Mischform von merkantilistischen und liberalen Experimenten langfristig nicht das Niveau der Anfangserfolge zu halten vermochte, hielten die Behörden am Prinzip der Dezentralisierung weiterhin fest. Anfang der neunziger J a h r e entstanden in den Wiener Vorstädten Rossau und Wieden „Arbeits- und Spinnstuben", welche arbeitsfähigen, aber dienstlosen Personen „ohne vieles Beschwerniß, und nur bloß mit ihrem Fleiße den nöthigen Unterhalt für sich und ihre Familien" bieten sollten (62). Diese Institutionen wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiter ausgebaut, ohne allerdings die von Kaiser Franz gewünschte Wirkung erreichen zu können (63). Daß diese Alternativen zu Zwangsarbeitsanstalten in ihren Ansätzen stecken blieben, war unter anderem nicht zuletzt Spannungen zwischen verschiedenen Verwaltungsstellen zuzuschreiben. Die Wiener Stadthauptmannschaft lehnte sämtliche Operate der Wohltätigkeitshofkommission rundweg ab und zeichnete (1807!) ein völlig realitätsfernes Bild von Dauerbeschäftigung, Kapitalbildung bzw. Betriebs- und Verwandtschaftshilfe in zeitlich begrenzten Notsituationen. Sie sah vielmehr in der Vermehrung Freiwilliger Arbeitsanstalten eine echte Bedrohung der Produktivität und verwahrte sich gegen staatliche Interventionen und Arbeitsgarantien als Auffangnetz für Menschen, welche sich dem allgemeinen Disziplinierungsprozeß zum willigen Arbeiter und untertänigen Staatsbürger nicht unterwerfen wollten oder konnten (64). Man bevorzugte daher

Ausbau der Zwangsarbeitsanstalten im Vormärz

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die Einführung von Kundschaftsämtern als Dienstvermittlungsstellen, da deren Leitung durch die Polizei eine bessere Kontrolle ermöglichte. „Das war nun freilich besser gedacht als getan. Denn mit der Polizei wollte niemand gerne etwas zu tun haben, am wenigsten stellenlose Dienstboten oder Fabriksarbeiter, die sich zur Uberwindung länger dauernder Arbeitspausen just solcher Mittel bedienen mußten, für die die Polizei keine Hilfe, sondern nur einen reichhaltigen Strafkodex zur Verfügung h a t t e " (65). Während die Arbeitshäuser der meisten österreichischen Länder in den napoleonischen Kriegen ihre Wirksamkeit stark einschränken mußten oder überhaupt aufgelöst wurden, nahm Wien eine Ausnahmestellung ein. Im Gegensatz zu den liberalen Mechanismen zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit und Bettel griff man erneut auf Maßnahmen zurück, welche sich von denen des 17. Jahrhunderts nur wenig unterschieden. Am 1. Oktober 1804 wurde im ehemaligen Karmeliterkloster in der Vorstadt Laimgrube ein neues Zwangsarbeitshaus für die Stadt Wien u n d das Land Niederösterreich mit einem Fassungsraum von 450 Personen eröffnet (66). Die Zielvorstellungen, welche die Regierungsstellen und vorab Staats- und Konferenzminister Karl Graf Zinzendorf damit verbanden, scheinen bereits durch das Anstaltsmotto „Der Arbeitsamkeit des Menschen" hinreichend charakterisiert. Doch ging es dabei nicht vordringlich um Anliegen grundlegender oder ergänzender Berufsausbildung, sondern um Wahrung von Sicherheitsinteressen durch Beschäftigungszwang. Diese Absichten wurden durch ein rigoroses polizeiliches Einweisungssystem, die sogenannten Notionierungen, unterstützt, deren Willkür schon damals sogar die Kritik einzelner Behörden erregte (67). Mit diesem Ansatz waren die Weichen für den Neuaufbau bzw. die Reorganisation der österreichischen Zwangsarbeitshäuser in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestellt. Da diese Institutionen als „Provinzialanstalten" Sache der Landstände waren, stand ihre Gründung o f t in Zusammenhang mit der Bewältigung regionaler Struktur- oder Sicherheitsprobleme. Die Gründung eines Zwangsarbeitshauses für Tirol etwa empfing nachhaltige Impulse von den Bemühungen um den Wiederaufbau des damaligen Marktes Schwaz. Der Ort vermochte sich von den schweren Kriegsschäden kaum zu erholen. Eine 1817 angestellte Erhebung wies unter den insgesamt 3 839 Einwohnern nur einen

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verschwindend kleinen Anteil (3,8 %) von Bemittelten aus; 43,1 % vermochten sich nur kümmerlich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, der Rest der Leute war arbeitslos oder gänzlich verarmt (68). Im Zuge von Verhandlungen über staatliche Stützungsmaßnahmen regte Kreishauptmann Mensi 1819 die Etablierung einer Arbeitsanstalt für das Unterinntal in Schwaz an, um damit d e m lokalen Handel u n d Gewerbe eine neue Absatzmöglichkeit zu erschließen (69). Dem innerhalb der Stände höchst aktiven Vorstand der Schwazer Armenkommission, Alois Graf Tannenberg, hingegen ging es u m die Schaffung einer Mischung von Zwangsarbeitshaus u n d Freiwilligem Arbeitshaus, w o m i t der „Beschäftigungslosigkeit u n d Entsittung so vieler verwahrloster Bewohner ... abgeholfen w e r d e n " sollte. Berufliche Umschulung der großteils Tätigkeit im Bergbau bzw. Stickarbeiten gewohnten Bevölkerung sowie G e w ö h n u n g „arbeitsscheuer Müssiggänger" u n d „liederlichen Gesindels" zu „ordentlicher Lebensart u n d nützlichem Fleiß" bildeten die Hauptintentionen, die durch flankierende Maßnahmen wie verstärkte Aufsicht über Einhaltung des Schulbesuchs abgestützt werden sollten. O b w o h l Tannenbergs von Regionalinteressen wie von persönlichem Gewinnstreben bestimmte Vorschläge (70) schließlich aus finanziellen Rücksichten unrealisiert blieben, bildeten sie doch einen wichtigen Beitrag zu der einmal angelaufenen Diskussion. A m weitesten gingen dabei die Pläne der Stände, welche aufgrund der verschiedenen Lebensformen u n d Wirtschaftsstrukturen der Landesteile insgesamt drei Anstalten in Schwaz (für die Kreise Ober- u n d Unterinntal), Trient (für Rovereto u n d Trient) u n d Brixen oder Bozen (für Etsch- u n d Pustertal) vorschlugen. Aus finanziellen Rücksichten drängte das G u b e r n i u m aber auf die Schaffung einer einzigen Provinzialanstalt, welche 1824 im ehemaligen Kloster der Augustinerinnen in Schwaz untergebracht wurde. Die Rückwirkungen auf eine gesteigerte Prosperität des Ortes waren j e d o c h überschätzt worden; erst die Etablierung mehrerer Fabriken vermochte ab 1830 wieder einen bescheidenen Aufschwung einzuleiten (71). Eine andere Konstellation ergab sich in Krain, wo das Zwangsarbeitshaus während der vorübergehenden A b t r e t u n g des Landes aufgelassen worden war. Seit den zwanziger J a h r e n des ^ . J a h r h u n derts liefen Verhandlungen über eine Wiedererrichtung der Anstalt, welche das Gubernium vor allem als Drohmittel gegen die „Rakovnj a c i " einzusetzen bemüht war. Bei diesen G r u p p e n handelte es sich

Planungsprobleme und Bedeckungsschwierigkeiten

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um von den Österreichern gegen die französischen Besatzer unterstützte Partisanenverbände, die in Friedenszeiten aber ihre Bandenorganisation beibehielten und vor allem reiche Besitzungen in der Oberkrain wiederholt gefährdeten (72). Trotz ständiger Klagen über die Gefährdung der inneren Sicherheit des Landes dauerte es bis 1844, ehe man sich unter dem Termindruck finanzieller Verfügungen zur Ausführung der Planungen entschloß. 1847 konnte die Anstalt, welche einen Fassungsraum von 60 Personen aufwies, endlich eröffnet werden (73). Gewöhnlich erhielten die Zwangsarbeitshäuser nun die Funktion eines Anhaltungsortes für Personen, welche infolge individuellen Versagens oder aufgrund wirtschaftlicher Gegebenheiten aus den sozialen Integrationsformen einer in Umstrukturierung befindlichen Gesellschaft herausfielen. Es waren weiterhin keine strafgesetzlich verfolgbaren Tatbestände, sondern als moralische Insuffizienz interpretierte Delikte, die eine Einweisung begründeten: Müßiggang, Arbeitsscheu, Bettel, Vazieren von Dienstboten, polizeiwidriges und sittenloses Verhalten von Unruhestiftern und Dirnen. Auf diese Unangepaßten sollten die Anstalten eine Mischung von Abschreckungsund Besserungseffekt ausüben. Diese Grundsätze erwiesen sich als Stereotypen in der amtlichen Korrespondenz und als Zentralpunkte vormärzlicher Anstaltsdirektiven (74). Eine von den napoleonischen Kriegen nur kurz unterbrochene Kontinuität kann im Fall Prag angenommen werden. Allerdings handelte es sich hier nur um eine städtische Lokaleinrichtung, die 1833 offenbar in der neugegründeten Landesanstalt aufging (75). Eine ähnliche Entwicklung nahm das Zwangsarbeitshaus Graz, welches 1832 im ehemaligen Zuchthausgebäude untergebracht wurde und nach dem Organisationsschema von 1835 ausdrücklich als kommunale Institution galt. Erst 1840 gestattete ein Hofkanzleidekret auch die Aufnahme Auswärtiger nach Maßgabe des verfügbaren Raumes und gegen Vergütung der den Arbeitsverdienst überschreitenden Anhaltungskosten durch den Bezirk (76). Als stark retardierendes Element hatte sich, wie noch genauer auszuführen sein wird, zu wiederholtem Male die Finanzierungsfrage erwiesen. Wurde auch im Fall Görz (1845) die Anstalt als „schon lange gefühltes Bedürfnis" betrachtet (77), so besaß keine andere Institution eine derart lange Vorgeschichte wie die Brünner (78). Erste Gründungsabsichten waren 1737 unrealisiert geblieben, die

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Institutionelle Entwicklung

Inbetriebnahme in den 1770er Jahren kurzfristig abgeblasen worden. Doch auch die folgende Zeit blieb reich an Widersprüchen bzw. Passivität. 1737 verweigerte die Hofkanzlei die Umwidmung des Siechenhauses in eine Zwangsarbeitsanstalt und schlug für diese Zwecke die Ermittlung eines anderen verfügbaren Staatsgebäudes vor. Dieser Schritt wurde allerdings 1808 wieder revidiert, nachdem sich das Gubernium zur Errichtung eines Ersatzbaues für das Siechenheim bereiterklärt hatte, weil es dafür aufgrund kaiserlicher Zusagen reiche Zuschüsse, unter anderem aus Mitteln des Religionsfonds erwartete. Da es jedoch in den inflationistischen Nachkriegsjahren nicht gelang, den geforderten Erhaltungsfonds zu schaffen, blieb die Sache auf sich beruhen. Neue Initiativen kamen 1813 vonseiten des Brünner Wohltätigen Männervereins, dessen bescheidene Mittel Privatspenden und geringe staatliche Subventionen - aber nicht einmal für den Bau einer kleinen städtischen Anstalt ausreichten. So schlummerte die Angelegenheit, unterbrochen von gelegentlichen (meist unerfüllt gebliebenen) Aufträgen zu Recherchen und Berichterstattungen bis 1833. Erst dann drängte die Hofkanzlei zwecks durchgreifender Realisierung polizeistaatlicher Intentionen vehement auf eine Lösung. Doch immerhin dauerte es mit Vorlage von Plänen, Kostenberechnungen, Fondsbildung und Durchführung der Renovierungsarbeiten bis 1841, ehe die Anstalt im ehemaligen Czerny'schen Haus in der Großen Neugasse ihre Pforten öffnete. In Österreich ob der Enns zögerten Unterbringungsschwierigkeiten und Kompetenzdiskussionen die Eröffnung eines Zwangsarbeitshauses während des Vormärz lange hinaus (79). 1811 hatte die politische Verwaltung schon eine Revitalisierung der alten Einrichtung erwogen; 1823 wurde der Gedanke vom Kreishauptmann des Mühlkreises und der Linzer Armenkommission erneut ventiliert. Nach den Vorstellungen der Projektanten sollte die Institution eine Scheidung zwischen Arbeitsscheuen und Bedürftigen in der Landeshauptstadt ermöglichen, wo man den Nachwirkungen der Notjahre 1816/1 7 noch nicht Herr geworden war. Eine Vereinigung mit dem Strafgefängnis wurde abgelehnt; die vom Ärar angebotenen Objekte erwiesen sich bei näherer Begutachtung als völlig zweckwidrig. Eine gemischte Kommission ging daher 1827 auf eine Grundsatzdebatte über die Alternativen Lokal- oder Landesanstalt ein und entschied sich zugunsten letzterer. Doch nun liefen die Verhandlungen über die Geldaufbringung nur schleppend an, die Suche nach geeigneten

Zusammenlegung von Gefängnissen und Arbeitsanstalten

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ärarischen Gebäuden zog sich wegen langwieriger Korrespondenzen mit der Hofkammer und wegen fehlender Gutachten dahin. 1833 endlich wurde das Zwangsarbeitshaus abermals im seinerzeitigen Objekt des Zucht- und Arbeitshauses als Anstalt für Oberösterreich und Salzburg eröffnet. Dieser Wirkungsbereich deckte sich mit jener der Reichsorganisation, da Salzburg bis 1848 von Linz aus verwaltet wurde. Nach verhältnismäßig kurzer Bestandsdauer erfolgte bereits 1849 wieder die Schließung. Eine Vielzahl von Faktoren war dafür ausschlaggebend: Dekretierte Einschränkung der Anhaltefristen, Effizienzmängel der Einrichtung, fehlende Finanzierungsbereitschaft des Landes. Zahlreiche Interessenten meldeten sich beim Verkauf des Baues; er wurde schließlich zur Erweiterung der benachbarten „Wasserkaserne" als Pionierkaserne verwendet. In der neoabsolutistischen Ära leiteten pragmatische Rücksichten in einzelnen Ländern jedoch vorübergehend Gegenbewegungen zur zunehmenden Anstaltsspezialisierung ein. Die Unterbringung des Knabenseminars der Erzdiözese Wien im ehemaligen Karmeliterkloster auf der Laimgrube zog 1856 die Auflassung des Wiener Zwangsarbeitshauses nach sich. Die niederösterreichische Männerstrafanstalt Stein und die Frauenstrafanstalt Wiener Neudorf erhielten daraufhin (allerdings unzureichend dimensionierte) Zwänglingsabteilungen (80). Ähnliche Tendenzen waren auch in der Steiermark anzutreffen, wo das Strafgefängnis Karlau 1854-1864 männliche, Lankowitz seit 1854 weibliche Zwangsarbeiter aufnahm (81). Auch in Prag (1854-1865) und Laibach (1854-1858) waren Zwangsarbeits- und Strafhaus kurzfristig zusammengelegt (82). Die unterschiedslose Behandlung von Strafgefangenen und bloß aus sicherheitspolizeilichen Erwägungen verwahrten Personen rief jedoch auf den Landtagen wachsende Bedenken hervor. Die Argumentation gegen diese Zustände nahm allerdings keine einheitliche Richtung. Während man verschiedentlich die Intention der Besserung und Bildung zur Arbeitsamkeit in den vorwiegend auf Bußzwecke ausgerichteten Gefängnissen nicht hinreichend berücksichtigt sah (83), betonte man andrerseits wieder den Zwang zur Selbsterhaltung „moralischer Taugenichtse" als Hauptziel einer eigenen Zwangsarbeitsanstalt (84). Außerdem gerieten die Landtage durch die hohen Transportspesen und Kostenvergütungen an Nachbarländer überall

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Institutionelle Entwicklung

dort unter Zugzwang, wo ausreichende Haftanstalten fehlten und die Polizeiorgane rigoros durchgriffen. Als Konsequenz kam es schließlich wieder zu einer verstärkten Differenzierung u n d zur Sonderverwahrung männlicher Zwänglinge in Niederösterreich (im sogenannten Klosterhof des Wiener Vororts Weinhaus, 1868) u n d in der Steiermark (Messendorf 1872). Zu berücksichtigen ist allerdings auch, daß das Innenministerium angesichts des Anwachsens der Sträflingszahlen gelegentlich auf eine Aussiedlung der Abteilungen für Zwangsarbeiter drängte (85). Bei weiblichen Internierten hingegen hat sich infolge der weit niedrigeren Einweisungsziffern die Kombination von Straf- und Zwangsarbeitshaus weit länger und häufiger gehalten: So neben V

Wiener Neudorf und Lankowitz noch in Lemberg (86), Repy / Böhmen (87), Wallachisch-Meseritsch / Mähren (88) u n d Schwaz (89). Abgesehen von der räumlichen Separierung erschöpfte sich die Unterscheidung zwischen den beiden Häftlingsgruppen bloß in Kennzeichen der Kleidung (90). Gegenläufige Tendenzen zu dieser Entwicklung blieben bloß ein Zwischenspiel. Die innerhalb des Zwangsarbeitshauses Laibach 1868 geschaffene Frauenabteilung wurde fünf J a h r e später wieder aufgehoben, die Notionierten wie bisher nach Lankowitz überstellt (91). Die Regelung der Zwangsarbeitsfrage durch reichseinheitliche Gesetze bahnte sich erst seit den siebziger Jahren an. Die polizeistrafrechtlichen Verfügungen gegen Landstreicher und Bettler hatten die wenigen Gegner der Zwangsarbeitsanstalten eines schlagkräftigen Arguments beraubt - des Fehlens strafbarer Handlungen als Einweisungsgrund (92). Diese verstärkte Unterdrückung von Marginalen ist nur aus einem miteinander verschränkten Komplex von Faktoren erklärbar. Das Anwachsen der Randgruppen vertrug sich weder mit dem Streben nach Wahrung der inneren Sicherheit noch längerfristig mit ökonomischen Interessen. „Schutz des Eigent u m s " war eines der Schlagworte, womit man die Ausschaltung systembedrohender Elemente durch Beseitigung der im Strafgesetz vorgeschriebenen Individualisierung bei Betteldelikten zu rechtfertigen versuchte (93). Aus fiskalischen Motiven waren außerdem die Anhaltungs- und Schubgemeinden bestrebt, die ihnen vom Gesetz auferlegten Lasten abzuwälzen (94). Angesichts der verschärften Sanktionsmöglichkeiten schien die Kapazität der vorhandenen Internierungsstätten völlig unzureichend.

Neugründungen nach 1885

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Ein Überblick über den Fassungsraum der österreichischen Zwangsarbeitshäuser zu Beginn der 1880er Jahre muß sich auf die Männeranstalten beschränken, da Angaben über die Frauenabteilungen nicht durchgehend faßbar sind. Die Gesamtzahl von ca. 970 Plätzen verteilte sich auf die damals fünf Anstalten folgendermaßen: Weinhaus 100, Brünn 170, Prag 300, Laibach 250, Messendorf 150. Die Auslastung lag meist bei 95 %, Brünn wies einen Überbelag auf, Prag dagegen war bloß zu etwa zwei Dritteln gefüllt (95). Am 27. Feburar 1883 brachten daher Vertreter der Landgemeinden im Abgeordnetenhaus einen Antrag ein, der für Maßnahmen plädierte, „wodurch der Landstreicherei arbeitsscheuer Personen vom Standpunkte allgemeiner Sicherheit wirksamer als es nach den bisherigen Vorschriften angeht, Einhalt geboten, insbesondere aber die Unterbringung gemeinschädlicher oder gefährlicher Individuen in Zwangsarbeits- bzw. Correctionsanstalten bestmöglichst gefördert werden möge" (96). Damit war der Anstoß zur Ausarbeitung von Entwürfen gegeben, die am 24. Mai 1885 zum Gesetz erhoben wurden (97). Die Anhaltung einer Person in einer Zwangsarbeits- oder Besserungsanstedt verstand sich nunmehr als korrektioneile Nachhaft, welche nach Verbüßung einer Abstrafung wegen Landstreicherei, Bettel, Arbeitsscheu, Arbeitsverweigerung gegenüber der Unterstützungsgemeinde, gewerbsmäßiger Unzucht und Zuwiderhandeln gegen die Beschränkungen einer Polizeiaufsicht verhängt werden konnte. Die Errichtung und Erhaltung der Anstalten in „einer den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit entsprechenden Anzahl" galt als Länderkompetenz, wobei der Staat gewisse Baukostenzuschüsse in Aussicht stellte. Für Jugendliche unter 18 J a h r e n war der Bau eigener Besserungsanstalten oder die Schaffung besonderer Korrigenden-Abteilungen vorgesehen. Gleichzeitig wurden Fragen der Aufnahme und Aufenthaltsdauer allgemeinverbindlich geregelt, die Kostenaufbringung für den Anstaltsbetrieb bzw. eine gemeinschaftliche Finanzierung durch mehrere Länder blieb der Landesgesetzgebung vorbehalten. Dieses Gesetz leitete vor allem in den stärker industrialisierten Teilen der Monarchie eine rasche Vermehrung der Zwangsarbeitsanstalten ein (98). In Niederösterreich entstand 1887 das Zwangsarbeitshaus in Korneuburg (Fassungsraum 1 000 Männer, 200 Korrigenden), 1888 die Landes-Besserungsanstalt für Unmündige beiderlei

80

Institutionelle Entwicklung

Geschlechts in Eggenburg (450 Knaben, 150 Mädchen). Gleichzeitig wurde der Fassungsraum für weibliche Zwänglinge in der Strafanstalt Wiener Neudorf, die seit ihrer Gründung die Kongregation der „Frauen zum Guten Hirten" leitete, auf 300 erhöht und das Mutterhaus des Ordens in Wien für 150 weibliche Korrigenden adaptiert. In Böhmen errichtete man 1888 inOpatowitz eine Besserungsanstalt für 200 Knaben, 1891 ein Zwangsarbeitshaus für 4 5 0 Männer in Pardubitz, 1892 eine Anstalt für 67 Frauen und 23 Mädchen in Kostenblatt. Mähren eröffnete 1889 gleich vier Anstalten: MährischSchönberg (Fassungsraum 400 Männer), Znaim (210 Männer, 90 Frauen), Iglau (100 Männer, 110 Frauen) und Neutitschein (180 Knaben, 70 Mädchen). Tirol widmete 1905 ein Gut in der Gemeinde Pfatten als Besserungsanstalt für 50 Jugendliche. Die Gesamtkapazität sämtlicher Einrichtungen belief sich Ende des 19. Jahrhunderts auf ca. 3 400 Erwachsene (88 % Männer, 12 % Frauen) sowie 1 650 Jugendliche (79 % Knaben, 21 % Mädchen). - Oberösterreich, Salzburg, Steiermark (im Falle der Überfüllung von Messendorf), Tirol (nur für Männer) und Vorarlberg hatten Abgabeübereinkommen mit Korneuburg und Laibach getroffen, wo die Anstaltskapazität beträchtlich erweitert worden war (99). Diesen Vereinbarungen waren in den einzelnen Landtagen jedoch zum Teil heftige Diskussionen über die Schaffung eigener Zwangsarbeitsanstalten vorausgegangen. In Kärnten (100) hatten die regionalen Bürgermeisterkonferenzen 1874 und 1885 nachdrücklich für den Bau eines Arbeitshauses Stellung genommen. Die stereotypen Klagen über unzureichende Sicherheitsorgane und Belästigungen der ländlichen Bevölkerung bildeten das tragende Gerüst der Petitionen. Ein zusätzlicher Hintergedanke lag in dem Bestreben, der Landwirtschaft via Institutionalisierung geschulte bzw. unmittelbar einsetzbare und billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Von nationaler Seite kamen zusätzlich Vorbehalte gegen die Überstellung Notionierter in das sprachlich von Slowenen dominierte Nachbarland. Als der Landesausschuß 1888 auftragsgemäß erste Planungen über die Einrichtung einer Zwangsarbeitsanstalt in Waidmannsdorf bei Klagenfurt vorlegte, wurden die Pro-Argumente Punkt für Punkt zerpflückt. Die Landtagsmehrheit scheute besonders vor hohen Investitionskosten zurück. Außerdem schätzte man die Einsatzmöglichkeiten der Zwangsarbeiter, den Abschreckungseffekt wie auch den Resozialisierungseffekt der Institution recht gering ein.

Scheitern von Gründungsprojekten

81

Seit 1863 war auch in Salzburg die Errichtung eines Zwangsarbeitshauses aus finanziellen Gründen wiederholt zurückgestellt worden (101). Ein grundlegend neues Ordnungsmodell präsentierte hier 1878 der Abgeordnete und Oberlandesgerichtsrat Georg Lienbacher. Noch ziemlich vage schlug er eine mildere Vollzugsform mit stärkerer Berücksichtigung der pädagogischen Komponente vor. Mannigfaltige Bedenken verhinderten die Realisierung dieses Projekts. Mit niedrigen Einweisungszahlen (1884-1888 durchschnittlich 14) schnitt Salzburg in den Bedarfserhebungen schlecht ab. Das Innenministerium war zu staatlichen Zuschüssen wenig geneigt, da die „für eine solche Beitragsleistung geforderten Voraussetzungen der Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Errichtung ... im Hinblick auf die geringe ... Zahl der Notionierungen nicht gegeben erscheinen". Die unentschlossene Haltung der Landesbehörden ließ auch die neuerliche Errichtung einer Zwangsarbeitsanstalt für Galizien scheitern (102). Im Strafhaus Lemberg waren zwar 70 Plätze für Korrigenden beiderlei Geschlechts reserviert, doch galt diese Internierungsmöglichkeit nur als „ungenügendes Surrogat" einer Spezialanstalt. Das Galizische Gubernium befaßte sich daher seit den 1870er Jahren wiederholt mit der Beseitigung dieses Provisoriums, ohne dabei in ein konkretes Planungsstadium einzutreten. Die Regierung ließ sich dabei nicht aus der Reserve locken und zu finanziellen Zugeständnissen bewegen. Sie wartete vielmehr verstärkte Aktivitäten der Statthalterei ab, und dort versickerte schließlich das Anliegen. Erneute Planungen Mitte der neunziger Jahre liefen dann auf die Schaffung einer „Ackerbau-Besserungs-Colonie" für Jugendliche hinaus. In Oberösterreich lassen sich wiederholt Verselbständigungstendenzen beobachten, so auch 1887 (103). Bei der Aufnahme von Zwangsarbeitern in die Anstalt Laibach hatten sich entgegen den bestehenden Vereinbarungen Wartefristen bis zu einem halben Jahr ergeben. In dieser Zeit mußten die Verurteilten wieder auf freien Fuß gesetzt werden, ein Großteil entwischte. Die hohen Kosten des Regiebetriebs und die Unrentabilität des Arbeitssystems kleinerer Anstalten bewogen das Land aber weiterhin zur Abgabe an Großinstitutionen. Garantien der Krainer Behörden, die bisherigen Unzukömmlichkeiten zu beseitigen, erleichterten diesen Entschluß.

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Einweisungsdelikte

201

Neben derartigen Sonderfällen wies jedoch bereits in Schwaz während der 1850er Jahre die Gruppe der vorbestraften Gewohnheitsdiebe und Betrüger ein beträchtliches Ausmaß, etwa ein Drittel des vorhandenen Samples, auf. Damit kündigte sich der verstärkte Einsatz des Zwangsarbeitshauses als Internierungsstätte für völlig degradierte Außenseiter an, welche die Behörden mit vernichtenden Qualifikationen belegten wie „es ist das Tauf Chrisam an ihm verloren" (45). Diese Tendenz setzte sich in der Folgezeit verstärkt fort. Das Zwangsarbeitsgesetz von 1885 hatte entsprechend den Wünschen der Landgemeinden die Anstalten in erster Linie zur Anhaltung von Bettlern und Landstreichern konzipiert. Tatsächlich machten diese im Mittelpunkt sicherheitspolizeilicher Initiativen stehenden Marginalen anfangs mit über 60 % den Großteil der Insassen aus. Ihr Anteil sank jedoch innerhalb eines Jahrzehnts um etwa ein Drittel auf 40 %, während im gleichen Zeitraum die Zahl der wegen Diebstahls und Betruges in Verbindung mit einem anderen Delikt eingewiesenen Personen auf mehr als die Hälfte aller Anstaltsinsassen anwuchs. Die Gruppe von Gewalttätern und Raufbolden wechselte an Umfang ziemlich stark, ohne aber jemals größere Dimensionen anzunehmen. Die von Winckler im Stichjahr 1897 für sämtliche Zwangsarbeitsanstalten der Monarchie erhobenen Daten lassen keinen brauchbaren Vergleich zu, da mit den gesetzlich verankerten Einweisungsursachen verbundene Delikte nicht berücksichtigt wurden. Auf die Bestimmungen des Gesetzes von 1885 reduziert ergab sich folgende Verteilung: Landstreicherei 38,9 %, Bettelei 7,0 %, Arbeitsscheu 1,3 %, Arbeitsverweigerung 2 %, gewerbsmäßige Unzucht 1,7 %, Bruch der Polizeiaufsicht 4 %, Kombination mehrerer Vergehen 34,5 %, Diverse (Übernahmen von anderen Anstalten, aus Spitälern, gefangene Flüchtlinge etc.) 10,6 % (46). Es wäre allerdings verfehlt, die Insassen von Zwangsarbeitshäusern entsprechend einem in der Öffentlichkeit verbreiteten Klischee als kraftstrotzende Faulpelze oder Gauner zu betrachten. Es wurde bereits wiederholt darauf hingewiesen, daß die Direktiven zentraler Verwaltungsstellen immer wieder gegen die Aufnahme physisch schwer beeinträchtigter Personen ankämpften. Auch die Berichte der Landesausschüsse sind voll von Klagen über die gänzlich herabgekommene Gesundheit der Zwänglinge, über chronische Erkrankungen ebenso wie über akute Leiden, vorab Leistenbrüche, Augen-

202

Die Anstaltsinsassen

krankheiten, beginnende Tuberkulose. Diese Defekte machten die Leute nur zu einem geringen Prozentsatz für schwere Arbeit geeignet. „Wenn die Leute in die Anstalt abgegeben werden, so sind über 50 Percent in einem solchen Grad herabgekommen, daß sie erst wochenlang aufgefüttert werden müssen, um auch nur zu leichter Arbeit fähig zu sein", berichtete der Direktor von Weinhaus 1882 (47). Mehrere Ministerialerlasse trachteten daher gewissenhafte ärztliche Untersuchungen auf Anordnung der Gerichte durchzusetzen. Dadurch gelang es, die Zahl der Arbeitsunfähigen in den Zwangsarbeitsanstalten wesentlich zu reduzieren. Dennoch mußten 1897 im gesamtösterreichischen Durchschnitt noch immer etwa 8 % der Insassen wegen Siechtums oder Krüppelhaftigkeit schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit in eine Heil- oder Siechenanstalt bzw. an die Fürsorgeeinrichtungen von Gemeinden abgegeben werden (48). Eine häufige Ursache für beschränkte Arbeitsfähigkeit bildeten Folgeerscheinungen des Alkoholismus. Obwohl man auch in Österreich den Mangel an rationeller Ernährung und eines halbwegs behaglichen Heims als Mitursachen der Trunksucht keineswegs verkannte und auf internationaler Basis Gegenmaßnahmen ausarbeitete, verfügte man weder über Vorbeuge- und Entziehungseinrichtungen, noch griff man zu Strafsanktionen wie in Frankreich, Holland und Belgien (49). Bereits in den 1850er Jahren hat man in Schwaz bei mehr als 40 % der Neuaufgenommenen Alkoholismus festgestellt. Darunter befanden sich ein ehemaliger Bauer, Vater von zwei Kindern, welcher im Suff Eltern und Familie mißhandelte und wegen Vergeudung seines Vermögens unter Kuratel gestellt wurde; ein ehemals wohlhabender Süßwarenerzeuger und Hausbesitzer, der infolge seiner Neigung zum Alkohol nach und nach abwirtschaftete und schließlich seinen gesamten Besitz verlor; weiters eine Reihe von Leuten, die in periodischen Räuschen zu Exzessen und Schlägereien neigten (50). Auch in den 1890er J a h r e n besserten sich die Verhältnisse nicht. Irren- und Zwangsarbeitsanstalten wurden weiterhin zur Abschiebung von Alkoholikern benützt; bei beiden Anstaltstypen hat sich ihr Anteil weiterhin bei rund 40 % gehalten (51). Versuche einer verstärkten inneren Differenzierung der Insassen scheiterten nach Einwänden der Verwaltung.

9. DAS ANSTALTSLEBEN 9.1. Aufnahme

und

Verhaltensvorschriften

Mit dem Eintritt in ein Zucht- u n d Arbeitshaus waren die Personen für einen gewissen Zeitraum von der Außenwelt mehr oder weniger stark abgekapselt u n d zu einem abgeschlossenen u n d formal reglementierten Leben bestimmt. Bereits bei der A u f n a h m e kam eine Vielzahl von Formalitäten zur A n w e n d u n g , welche dem Neuankömmling nicht nur die tiefe Zäsur zu seinem früheren Leben u n d den Verlust bisheriger Rollen klarmachten, sondern ihn auch zu einem von der Verwaltungsroutine leicht f a ß b a r e n u n d behandlungsfähigen O b j e k t zu f o r m e n trachteten. Die Mechanismen, die dafür bereits d e m 18. J a h r h u n d e r t zur Verfügung standen, unterschieden sich in vieler Hinsicht n u r wenig von jenen Gepflogenheiten, wie sie auch gegenwärtig in „ t o t a l e n I n s t i t u t i o n e n " verschiedenster Prägung üblich sind (1). Unmittelbar nach der Einlieferung (2) n a h m ein Mitglied des Verwaltungsstabes eine genaue Personsbeschreibung des Betreffenden vor. Name, Beruf, religiöses Bekenntnis, Geburtsort, außergewöhnliche Kenntnisse wurden nebst Einweisungsgrund u n d D a t u m der A u f n a h m e im Standesprotokoll vermerkt. Dieses Anlegen von Dossiers als einer Sammlung aller, auch der diskriminierenden Fakten über die Vergangenheit der Insassen bildete einen ersten Schritt in einer langen Reihe von Demütigungen u n d Entpersönlichungsakten, denen ein Zwängling f o r t a n ausgesetzt war. Nach A u f n a h m e der persönlichen Daten wurde der N e u e genau durchsucht, sämtlicher persönlicher Habe entledigt - „demselben all e t w o bey sich habende Messer, Gabel, blecherne Löffel, Tabackp f e i f e n , Feuerzeug, nebst allenfalls bey ihm erfindenden Geldwerk g e n o m m e n " - u n d diese bis zur Entlassung an einem unzugänglichen Ort a u f b e w a h r t . Der mit Sicherheitsrücksichten motivierte Entzug von Gegenständen persönlichen Bedarfs bedeutete für den Insassen

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Das Anstaltsleben

einen partiellen Identitätsverlust. Dieses Vorgehen mußte umso schwerer wiegen, als alle Ersatzleistungen seitens der Anstalt, wie Kämme, Handtücher etc. nur mehr eine bloße Leihgabe darstellten. Die Abnahme persönlicher Sachen wurde noch durch die Tatsache verschärft, daß die Zimmer über keine eigenen verschließbaren Einrichtungsstücke wie Truhen oder Schränke verfügten und etwa angesammelte oder entwendete Dinge bei regelmäßigen Überprüfungen vor Entdeckung kaum geschützt waren. Aus sanitären Rücksichten erfolgte hierauf prinzipiell eine gründliche Reinigung des Aufgenommenen sowie die Übergabe einer speziellen Anstaltskleidung. Die Kleidungsstücke, als Eigentum der Anstalt gekennzeichnet und „so viel als möglich von gleichem Zeuge verschaffet", wiesen größte Standardisierung und Uniformität auf. Wahrscheinlich wahllos zugeteilt, häufig schlecht passend oder abgetragen, ohne Möglichkeiten zum Verwahren von Gegenständen, beeinträchtigten sie die Wahrung letzter Reste von Selbstgefühl. Noch vor der Zuweisung einer Schlafstätte sollte die ärztliche Untersuchung jedes Neulings erfolgen, welche nicht allein der Ausbreitung ansteckender Krankheiten vorbeugte, sondern auch den Grad der Arbeitsfähigkeit des Zwänglings festzustellen hatte. Häufig gaben die Urteile des Medicus auch für die Vollziehung des im Urteilsspruch vorgesehenen „Empfangs-Tractaments" Ausschlag. Obwohl diese körperliche Züchtigung nur bei Kriminalverbrechem vorgenommen werden sollte, wurde sie auch auf Eingewiesene ausgedehnt, denen man ein Vergehen nicht einmal nachzuweisen vermocht hatte. 1776 schickte man z.B. die des Kindesmordes verdächtigte, aber nicht eindeutig überführte Vaszilia Knesevichauf ein J a h r ins Klagenfurter Zuchthaus und ließ ihr „zur künfftig desto gewisseren Besserung" bei Ein- und Austritt je 15 Karbatschhiebe versetzen. Eine derartige Strafverschärfung blieb bis 1867 ein legales Mittel, wenngleich dessen Häufigkeit im 19. Jahrhundert abnahm (3). Da man der körperlichen Züchtigung u.a. nachhaltige Abschrekkungswirkung zumaß, ist keineswegs auszuschließen, daß man die dabei vorgesehene Unterscheidung zwischen Zucht- und Arbeitshäuslern auch tatsächlich einhielt. An den skizzierten Vorschriften, wie sie 1769 für das Zucht-und Arbeitshaus Innsbruck erlassen worden waren, erfolgten während der gesamten Bestandsdauer von Zwangsarbeitsanstalten keine grundlegenden Änderungen (4). Wie weit dieser normative Rahmen

Abb. 1. Frontispiz im Zuchthausprivileg Leopolds I. vom 13. Juli 1671.

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Abb. 2. Zweites Stockwerk des Zucht- und Arbeitshauses Innsbruck, 1768.

Abb. 3. Hof des Asyl- und Werkhauses Wien-Leopoldstadt, Aquarell von Franz Reinhold, 1887.

Abb. 4. Arbeitssaal im Werkhaus Wien-Simmering, 1913.

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Aufnahmeformalitäten

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auch gewissenhaft eingehalten wurde, hing vom betreffenden Anstaltspersonal ab. Die zahlreichen Klagen der Regierungsstellen lassen für das 18. Jahrhundert jedoch darauf schließen, daß auf dem Administrativsektor gravierende Mißstände bestanden. Erst im 19. Jahrhundert hat der durchgreifende Bürokratisierungsprozeß auch den Anstaltensektor erfaßt und die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften erzwungen. Die Modifikationen bei der Aufnahme beschränkten sich auf Details, wie z.B. Veränderungen in der Reihenfolge des Verfahrens oder gründlichere Informationen über das Vorleben der Insassen aufgrund des vorhandenen Aktenmaterials. Nichtsdestoweniger läßt sich eine langsame Verfeinerung des Uniformierungsprozesses verfolgen. Auf zusätzliche Akte der Degradierung - wie etwa das Kahlscheren - verzichtete man in den Zwangsarbeitshäusern, um eine gewisse Trennlinie zu den Strafgefängnissen zu wahren (5). Dennoch ließ man den Männern die Bärte abnehmen und das Haar kurz schneiden; Frauen trugen das Haar glatt gekämmt, am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten, der in einfacher Rundung zusammengewickelt war (6). Angesichts der inhomogenen Struktur der Aufgenommenen mußten daher auch die einzelnen Abteilungen aus b u n t zusammengewürfelten Elementen bestehen. An den alten Bemühungen um eine gewisse innere Differenzierung - „die anoch wohl geartete leute nicht zu denen ruchloß und verkehrten bößwichten spörren" hat man unverändert festgehalten (7). Nur vereinzelt versuchten die Landesbehörden im Vormärz ein gewisses Mischprinzip zu verfolgen, das bewußt von einer Einteilung nach gleichen Klassifikationskriterien Abstand nahm, um so „den moralisch schlechten Subjecten gute Beispiele an die Seite" zu stellen. Lediglich die strikte Absonderung von Jugendlichen unter 16 (Mädchen) bzw. 18 Jahren (Burschen) wurde vor der Einrichtung spezieller Korrigendenabteilungen einigermaßen eingehalten. Besonderes Gewicht auf die ausgewogene Einschätzung der Ankömmlinge legte das Statut der Zwangsarbeitsanstalt für Frauen in Schwaz, wo die definitive Zuweisung in Kleinabteilungen o f t erst nach einwöchiger eingehender Beobachtung durch eine der Ordensfrauen erfolgte. Diese Verhängung einer Art Einzelhaft bildete eine erste Bewährungsprobe, woraus das Personal den Grad der Anpassungsbereitschaft abzulesen trachtete. Foucault hat dem Prinzip der Klausur, hier durch klösterliche Traditionen eingesetzt, im Rahmen des Disziplinarapparates von Gefäng-

206

Das Anstaltsleben

nissen und anderen totalen Institutionen besonderes Augenmerk geschenkt. Eine zusätzliche Absicherung gegen spontane Störversuche und Protestaktionen bildete die sofortige Aufklärung der Insassen über die von ihnen gewünschten Verhaltensformen. „Gottesfurcht, Frömmigkeit und Eingezogenheit der Sitten" entsprach das Unterlassen von „Fluchen, Schwören, Schelten, unehrbaren Reden, Gezänken" sowie überhaupt aller Handlungen, die „Anständigkeit, Fried, Ruhe und gute Sitten" verletzten. Die Analogie zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert ist unverkennbar (8). Zudem wurde jedem „Arbeiter", wie die Anstaltsinsassen später hießen, im besonderen nahegelegt, „alle aufwicklung complotte zu unterlassen, noch weniger aber zum ausbrechen Anlaß zu geben, oder dazu anzuführen" und jedes Zuwiderhandeln mit schweren Strafen bedroht (9). An die Stelle der verbalen Belehrungen trat im Laufe des 19. Jahrhunderts die sofortige Aushändigung einer schriftlich formulierten Hausordnung, die überdies den Insassen einmal wöchentlich in Erinnerung gerufen werden sollte. Mit zunehmender Präzision wurde dabei ein formalisiertes System von verbindlichen Verhaltensmaßregeln erstellt (10), welches die Anerkennung der Verwaltungsautoritäten gewährleisten, die sozialen Beziehungen zwischen den Zwänglingen regeln und damit die Verwirklichung der offiziell deklarierten Anstaltsziele vorantreiben sollte. Einzelne der dabei formulierten Anforderungen entbehrten jedoch der notwendigen Eindeutigkeit. Der Befehl, allen Mitgliedern des Verwaltungsstabes „mit gebührender Achtung zu begegnen und ihren Anweisungen ohne die geringste Widerrede die pünktlichste Folge zu leisten", stabilisierte nicht nur die permanente Untertanenstellung der Insassen wie die an Allmacht grenzende Position des Personals, sondern ließ auch der Auslegung über die Qualität des Benehmens breiten Spielraum (11). Sichtbare Zeichen von Ehrerbietung bestanden im Aufstehen von den Sitzen, sobald einer der Beamten den Arbeitsraum betrat, sowie im Abnehmen der Kopfbedeckung bei zufälligen Begegnungen. Bei Aufsehern und Wachleuten konnten diese Ehrenbezeigungen der häufigen Kontakte wegen unterbleiben, doch war in Gesprächen unbedingt die Anrede „Herr" zu verwenden (12). Neben Verhaltensformen des bürgerlichen Lebens und Subordinationsmerkmalen aus dem militärischen Bereich flössen bei den von Ordensangehörigen geleiteten Anstalten auch Organisationsstrukturen des klöster-

Verhaltenskodex

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liehen Lebens in den Anstaltbetrieb ein. Dies äußerte sich u.a. in bestimmten Gruß- u n d Anredeformeln sowie in verstärkter Besitzaufgabe u n d Gehorsamspflicht. Derartige Grundzüge lassen sich auch noch gegenwärtig in den von Orden geführten Schulen oder Altenheimen feststellen (13). Die Integration in eine Zwangsarbeitsanstalt wurde den Insassen keineswegs mit rationalen Argumenten nahegebracht, sonder deklarativ unter A n d r o h u n g von Sanktionen vermittelt: „Die Zwänglinge ... haben die über sie verhängte A n h a l t u n g mit R u h e zu ertragen, um sich zu solchen Menschen umzubilden, welche nach Wiedererlangung ihrer Freiheit als nützliche Glieder der Gesellschaft behandelt werden k ö n n e n " (14). In diesem imperativen Stil waren auch die individuellen Verhaltensvorschriften abgefaßt. Reinhaltung von Körper, Kleidung, Arbeitsgeräten u n d Räumlichkeiten (15), hervorragende Arbeitsmoral (16), Schonung des Anstaltsinventars (17) sowie „ R u h e u n d O r d n u n g " in allen Bereichen des Anstaltslebens bildeten die Zentralpunkte der Reglements. Die Vorschriften der Freiwilligen Arbeitsanstalten zeigen diesbezüglich weitgehende Übereinstimmung (18). Da diese A n o r d n u n g e n von den Zwangsarbeitern als verhaltensleitende G r u p p e n n o r m e n akzeptiert werden sollten, m u ß t e n auch die K o m m u n i k a t i o n s m u s t e r eine ausgewogene Balance von gegenseitiger Unterstützung u n d Kontrolle aufweisen. Dieses Ziel verfolgten einerseits die A u f f o r d e r u n g e n zu friedfertigem Betragen (19), zu gegenseitiger A u f m u n t e r u n g u n d Hilfeleistung während der Arbeit u n d in d r o h e n d e n Konfliktsituationen (20), aber auch die Anzeigepflicht von Beleidigungen, Kränkungen, Fluchtversuchen. Namentlich zur Verabredung von K o m p l o t t e n trachtete man den A u f b a u umfassender Interaktionsnetze zu u n t e r b i n d e n u n d gegenseitige Abhängigkeiten oder Verpflichtungen einzuschränken, wie sie etwa aus d e m Verleihen oder Verschenken von Kost u n d Kleidung entstehen k o n n t e n (21). Als erste Kontrollinstanzen kannte man - genau wie in den Versorgungshäusern - schon im 18. J a h r h u n d e r t Stubenväter bzw. Stubenmütter, deren F u n k t i o n e n durch mehr als eineinhalb Jahrhunderte nahezu unverändert blieben: Vorbildliche Gestaltung des eigenen Benehmens, Überwachung des Betragens der unterstellten R a u m b e w o h n e r , Aufsicht bei gemeinschaftlichen Gängen innerhalb des Hauses, Leitung der täglichen Gebete, Vorlesetätigkeit an Sonn-

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Das Anstaltsleben

tagen (22). Durch die Ernennung von Vertrauensleuten, deren Anordnungen unbedingt Folge zu leisten war, verfügte die Anstaltsverwaltung über ein I n s t r u m e n t , das G r u p p e n b e w u ß t s e i n u n d Loyalisierung von Zwangsarbeitern ein gewisses Hindernis entgegenstellte. Vorschläge z u m A u f b a u genossenschaftlicher Organisationsmodelle, bei denen u n t e r ständig gleichbleibender Aufsicht gewählte Vertreter die Interessen ihrer Kleingruppe wahrten, h a t t e n in einem derartigen G e s a m t k o n z e p t keinen Platz (23). Die gesamte A u f n a h m e p r o z e d u r u n d die K o n f r o n t a t i o n mit einem völlig veränderten Verhaltensbild signalisierten jedenfalls einen vollzogenen Bruch mit den bisherigen Lebensgewohnheiten des Individuums. Auch die Eingliederung in eine Freiwillige Arbeitsanstalt oder in eine Institution wie das Wiener Asyl- u n d Werkhaus erforderte Gehorsam u n d Integrationsbereitschaft (24). Die Abschließung von der Außenwelt erfolgte nicht derart hermetisch wie bei den Zwangsarbeitshäusern. Ausgang an Sonntagen sowie Möglichkeiten zur Arbeitssuche ließen eine gewisse Kontaktsphäre offen. Dennoch kann a n g e n o m m e n werden, daß sich die Insassen bereits aus ihrem sozialen Interaktionsbereich teilweise oder ganz gelöst h a t t e n u n d etwa n o c h vorhandene Bindungen z u n e h m e n d in Verfall gerieten. Ein derartiges V a k u u m k o n n t e für das Einsetzen des Dressuraktes in den Anstalten m i t u n t e r günstige Voraussetzungen bieten.

9.2. Straf- und

Privilegiensysteme

Unter den Disziplinierungsmechanismen von Strafinstitutionen hat Foucault neben den Elementen hierarchische Überwachung u n d Prüfung auch die Bedeutung der normierenden Sanktionen in den Vordergrund gestellt (25). Es gelang ihm dabei überzeugend der Nachweis, daß ein kalkulierter Einsatz dieser Mittel im R a h m e n totaler Institutionen wesentlich der „guten A b r i c h t u n g " von Individuen diente. Über ein ähnlich ausgewogenes Nebeneinander von differenzierten Techniken der Beschränkung u n d Belohnung verfügten auch die österreichischen Zucht- u n d Arbeitshäuser. Dabei ist j e d o c h grundsätzlich anzumerken, daß das Potential zur Erteilung negativer Sanktionen eindeutig überwog.

Ältere Strafbestimmungen

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Vordergründig bezweckten die S t r a f b e s t i m m u n g e n die Unterw e r f u n g unter die Grundregeln der Hausordnung, die Einhaltung der Verhaltensvorschriften sowie die A h n d u n g von Übertretungen u n d Vergehen im Sinne des Strafgesetzes - kurz die Wahrung der Disziplin. Parallel zur durchgreifenden Reglementierung u n d organisatorischen S t r a f f u n g des Anstaltsbetriebs setzte sich eine immer weitere Präzisierung der Strafkataloge durch. Der innerste Kern dieser Sanktionen war bereits in den ersten Z u c h t o r d n u n g e n vorgef o r m t : Einschränkung der von der Anstalt gewährten Leistungen, körperliche Strafen sowie (mit dem verstärkten Einbau der Anstalten in ökonomische K o n z e p t e u n d Rentabilitätsplanungen) E r h ö h u n g der Arbeitsverpflichtungen. Beispiele aus A m s t e r d a m , Lübeck, Hamburg u.a.m. zeigen, daß man damit d e m allgemein verbreiteten Vorgehen der Obrigkeit gegenüber Randexistenzen folgte (26). Die erste Hausordnung für das Wiener Zuchthaus von 1673 h a t t e noch ganz d i f f u s bei ,,Ungehorsam" die Halbierung der täglichen Brotration, d e n gänzlichen E n t z u g von Speise u n d T r a n k durch 24 S t u n d e n sowie maximal sechs Stockstreiche vorgesehen. V o r allem Prügelstrafen scheinen dominiert zu haben. Bis zu drei Hieben (Kopfschläge waren untersagt) k o n n t e der Z u c h t k n e c h t nach eigenem Ermessen, bis zu sechs Streichen der Zuchtmeister vollziehen, Strafverschärfungen sowie das Anlegen von K e t t e n blieb einer Genehmigung durch den S u p e r i n t e n d e n t e n vorbehalten (27). Im 18. J a h r h u n d e r t dürfte die Behandlung der Zucht- u n d Arbeitshäusler häufig unerträgliche F o r m e n a n g e n o m m e n haben. Selbst den Behörden schien die Z u n a h m e der Gotteslästerung - ein dem Rechtsverständnis der Zeit nach unüberbietbares Laster - ein Indiz für das „üble T r a c t a m e n t " am Wiener Zucht- u n d Arbeitshaus (28). Um diese Entwicklung zu stoppen, ergingen an den Zuchtmeister wiederholte Befehle, die Körperstrafen zu reduzieren u n d überdies die Insassen mit ausreichender Nahrung zu versorgen. Angesichts derartiger Verhältnisse zeichneten sich bereits früh Bestrebungen ab, eine gewisse A b s t u f u n g des Strafkatalogs nach Art u n d Schwere des Delikts vorzunehmen: Verschärfter Arbeitszwang im Fall von Trägheit; Lohnentzug, Verkürzung der Ruhepausen, Arrest mit Kosteinschränkung, A n k e t t u n g u n d schließlich körperliche Züchtigung im Fall von R a u f h ä n d e l n , Streit, unerlaubten Gesprächen u n d „anderer Ungebühr" (29). Insassen des Arbeitshauses wurden,

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Das Anstaltsleben

sofern diese Strafen keine Wirkung zeigten, in das Zuchthaus überstellt und dort einer besonders strengen Behandlung unterzogen (30). Diese Grundsätze und die damit verbundenen weitreichenden Kompetenzen der Verwaltung, deren Herrschaftsposition mithin eine weitere Stützung erfuhr, erwiesen sich als richtungsweisend für spätere Verfügungen (31). Derartige Bestimmungen ließen den Anstaltsorganen einen recht breiten Spielraum für willkürliche Entscheidungen und sahen nur bei Meutereien eine Beschlußfassung durch die nächsthöhere Instanz vor (32). Grundsätzliche Veränderungen der ehemals kritisierten Zustände zeichneten sich nicht ab. Ein Bericht aus dem Jahr 1773, welcher als Korrektiv für die als zu mild interpretierte Situation im Zuchthaus für die vorderösterreichischen Territorien dienen sollte, zeigt recht ungeschminkt die tatsächliche Lage der Anstaltsinsassen. Wer nach Auffassung des Personals die Arbeit begriffen hatte, aber nicht Hand anlegen wollte, wurde mit Schlägen zum gewünschten Einsatz gezwungen und erhielt überdies weniger Lohn (33). Übergriffe scheinen dabei keineswegs Ausnahmeerscheinungen gewesen zu sein, da man den Zuchtmeistern wiederholt Mäßigung, Vernunft und Vermeidung übertriebener Härte gegenüber den Internierten nahelegen mußte (34). Diese Sanktionsformen berührten somit Bereiche, welche von der allgemeinen Justiz nicht erfaßt wurden. Diese „Mikro-Justiz ... der Zeit, ... des Körpers, ... der Moral" machte jedes Subjekt „zu einem Universum von Strafbarkeiten und Strafmitteln" (35). Dabei wurden nicht nur offensichüiche Vergehen geahndet, sondern ebenso jedes Verfehlen der Norm, jedes persönliche Versagen. Die Strafen dienten zwar noch wesentlich der Reue und Sühne, darüber hinaus aber der Korrektur von Fehlentwicklungen, der Einschärfung von Anpassungszwängen, der „Abrichtung". Diese Grundtendenzen lassen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiterverfolgen. Der verstärkten Bürokratisierung entsprechend waren die vormärzlichen Zentralbehörden bemüht, für sämtliche Anstalten gleichermaßen verbindliche Strafbestimmungen auszuarbeiten (36). Dabei nahm man erstmals eine detaillierte Aufstellung der leichten und schweren Vergehen vor. Zu ersteren zählten Zank, Tätlichkeiten, nicht vollbrachtes Arbeitspensum, Nachlässigkeit bei der Arbeit, Verderben von Material oder Produktionsmitteln aus Fahrlässigkeit, ungebührliches Betragen gegen Vorgesetzte, unsittliches Reden, Erzählen früherer Missetaten. Als erhebliche Über-

Disziplinarrecht des 19. Jahrhunderts

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tretungen galten mutwilliges Verderben von Arbeitsgeräten oder Rohstoffen, boshafte und tätliche Widersetzlichkeit gegen Vorgesetzte, schwere Raufhändel, Diebstahl, Religionsstörungen, gefährliche Anschläge, Komplotte, Fluchtversuche. Zur Ahndung dieser Verstöße stand dem Verwalter eines Zwangsarbeitshauses eine ausgedehnte Strafskala zur Verfügung, die nach Charakter und physischer Konstitution des betreffenden Zwänglings in stufenweiser Abfolge anzuwenden war: Ermahnung und Verweis vorerst in persönlicher Aussprache, dann vor den übrigen Arbeitern; „Anhängen" von Unruhestiftern und Zänkern in den Arbeitssälen; Abzug des eintägigen Uberverdienstes zugunsten des Anstaltsvermögens; Kosteinschränkung für die Dauer eines Tages; Zuteilung härterer Arbeiten auf kurze Zeit; eintägige Einzelhaft; Züchtigung mit maximal sechs Schlägen mit Karbatsche oder Ochsenzähmer bzw. mit höchstens zehn Rutenstreichen. Die Verurteilung zu Wasser und Brot, die Versetzung in eine niedrigere Qualifikationsklasse sowie eine Ausdehnung der vorgesehenen Strafen bedurften einer Genehmigung durch die vorgesetzte Dienststelle. Diese Befugnisse entsprachen in vieler Hinsicht den von Gefängnisdirektoren. Anträge auf Einführung archaischer Strafformen, wie das regelmäßige Anlegen leichter oder schwerer Ketten, fanden keine Berücksichtigung mehr; dagegen wurde imGörzer Zwangsarbeitshaus die häufigere Verwendung im Tretrad durchaus toleriert (37). Im Rahmen dieser Kompetenzabsteckung fehlten Appelle an den Gerechtigkeitssinn der Beamten ebensowenig wie Mahnungen, die Vollstreckung der Strafen „mit feyerlichem Ernste, und ohne alle Aeußerung einer Leidenschaft" vorzunehmen. Von einer Koppelung bestimmter Delikte und Strafen hatte man aber Abstand genommen. Da das Personal überdies nicht fix an die Einhaltung der Reihenfolge des Katalogs gebunden war, blieben ihm die renitenten Insassen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Trotz dieser Härten schoben die Verfügungen Verfahrensweisen einen Riegel vor, wie sie noch zu Beginn des Jahrhunderts möglich gewesen waren. Als 1805 acht Wiener Zwänglinge bei einem Ausbruchsversuch ertappt wurden, bestrafte man sie im Beisein aller Anstaltsinsassen mit 15 35 Karbatschhieben und stellte die Tauglichen daraufhin zum Militär ab (38). Mit gewissen Modifikationen erhielten die vormärzlichen Vorschriften aufgrund einer Verordnung des Ministeriums des Inneren

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Das Anstaltsleben

1860 reichseinheitliche Verbindlichkeit. Dieser Schritt brachte außerdem die Gleichstellung von Marginalen und Kriminalverbrechern in allen Belangen des Disziplinarrechts und damit eine weitere Degradierung der Zwangsarbeiter in den Augen der Öffentlichkeit. Die Härte der Disziplinarstrafen entsprach ganz jenen Repressivtendenzen, wie sie sich im Neoabsolutismus in vielen Bereichen der Rechtspflege durchsetzten (39). Auf dem Disziplinarweg konnten nunmehr folgende Sanktionen zur Anwendung gelangen: 1. Verweis in der Stille oder vor anderen Häftlingen 2. Zuweisung einer unbeliebten, schweren oder kleineren Überverdienst abwerfenden Arbeit 3. Zeitweiliger Entzug von Vergünstigungen (Korrespondenz, Besuche, Spaziergänge, Verwendung des Überverdienstes zur Kostaufbesserung etc.) 4. Fasten (maximal drei Mal pro Woche an nicht aufeinander folgenden Tagen) 5. Krummschließen (höchstens 48 Stunden) 6. Hartes Lager (Bedingungen wie bei Fasten) 7. Einzelhaft (längstens einMonat mit „angemessener Β eschäftigung") 8. Dunkelhaft (maximal drei Tage mit wöchentlicher Unterbrechung; Höchstdauer 30 Tage pro Jahr) 9. Versetzung in eine niedrigere Qualifikationskategorie 10. Körperliche Züchtigung (bis zu 20 Streichen) Die Zwangsarbeitsgesetze von 1885 hielten im wesentlichen an diesen Bestimmungen weiter fest (40). Lediglich die körperliche Züchtigung war 1867 in der gesamten Monarchie abgeschafft worden (41). Eine zusätzliche Verschärfung hingegen bedeutete es, wenn bei Verhängung einer Strafe automatisch sämtliche Vergünstigungen gestrichen wurden (42). Durch die ausdrückliche Erstreckung der Strafgewalt des Anstaltsdirektors auf sämtliche Verletzungen der Hausordnung (und wie bisher auf alle strafbaren Handlungen und Unterlassungen, welche nach dem Strafgesetz nicht als Verbrechen anzusehen waren) verfügte das Personal weiterhin über die Möglichkeit, einen engen und restriktiven Apparat sozialer Kontrolle wirkungsvoll einzusetzen. Die permanente Überwachung sowie Ermessensfragen bei der Auslegung der Verhaltensvorschriften gestatteten es im Bedarfsfall, Neuankömmlinge wie Alteingesessene in permanenter Furcht vor Übertretungen zu halten (43).

Einsatz von Korrektionsmitteln

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Ganz wesentlich trug dazu die Verschärfung der Anstaltsordnungen bei. Unter dem Druck von Einsparungsrücksichten führte der Niederösterreichische Landtag 1875 - getreu dem Sprichwort: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" - den Zwangsarbeitern den Wert der Arbeit recht drastisch vor Augen. Bei „beharrlichem Unf l e i ß " verfiel ein Zwängling nicht nur der vorgesehenen Disziplinarstrafe, sondern auch einer Kosteinschränkung auf etwa die Hälfte der täglichen Ration (44). Reflexionen über Effizienz u n d H u m a n i t ä t solcher M a ß n a h m e n m u ß t e n Trägergruppen verschlossen bleiben, die trotz gegenteiliger Beteuerungen in den Anstaltsstatuten primär u m D e t e n t i o n u n d Repression von Zwangsarbeitern bemüht waren. Bewußtseinsmäßig tradierte Auffassungen - wie: „Es darf keinem A u f b e w a h r t e n ein Uebel zugefügt werden, das zur Besserung nicht nothwendig i s t " (45) - bildeten einen guten N ä h r b o d e n für ein derartiges Vorgehen. Versuche zu einer Revision überkommener Einstellungen u n d daraus erflossener Verfügungen k o n n t e n nur Teilerfolge verzeichnen. In Mähren hatte man z.B. 1888 als Stufe drei des Strafkodex der Zwangsarbeitshäuser das „Anhängen an einen Pfahl bis zu zwei S t u n d e n " wieder eingeführt. 1893 drängte die Statthalterei auf A b s c h a f f u n g dieser Variante, da sie in folgerichtiger Einschätzung einer solchen Behandlung dauernde Verbitterung u n d Auflehnung des B e t r o f f e n e n erwartete. Direktionen u n d Landesausschuß lehnten diesen Vorschlag aber ab, da nach ihrer Auffassung „gegen einzelne Individuen nur mit den schärfsten M i t t e l n " vorgegangen werden konnte. Die Bemühungen der Statthalterei führten nur insofern eine Änderung herbei, als man in Übereinstimmung mit anderen Ländern diese Strafe künftig nur mehr als eine der äußersten Sanktionen u n d überdies u n t e r ärztlicher Überwachung einsetzte (46). Es wird noch zu erwähnen sein, wie wenig m a n sich an diesen K o m p r o m i ß hielt. Angesichts derartiger Ansichten über die Effizienz von Zwangsmitteln ist es nicht verwunderlich, daß ein Großteil der leitenden Anstaltsbeamten noch zu Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s für die Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung eintrat. Allerdings erachtete m a n es für o p p o r t u n , eine Agitation dafür zu unterlassen, da man eine Bewilligung für chancenlos hielt u n d m a n die in Besserungsanstalten für Jugendliche noch gängigen S t r a f f o r m e n gefährdet sah (47).

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Das Anstaltsleben

Daten über Art und Häufigkeit der tatsächlich verhängten Disziplinarstrafen sind sogar für das 19. Jahrhundert noch recht rar. Ein Überblick über die Zahl der Disziplinarfälle in der Zwangsarbeitsanstalt Weinhaus zeigt recht deutlich, daß der Verwaltungsstab besonders in den ersten Betriebsjahren um ein verschärftes Durchgreifen bemüht war (48). Zwischen 1866 und 1874 schwankte der Anteil Straffälliger noch zwischen einem Fünftel und einem Drittel sämtlicher Insassen. In der Folge läßt sich ein starkes Absinken der Verurteilungen auf ca. 10 % aller Zwangsarbeiter beobachten. Diese Erscheinung dürfte als Konsequenz mehrerer Einflüsse zu interpretieren sein. Einerseits mag schon bei Ansätzen von Ungehorsam ein rigoroses Vorgehen zu Unterwerfung und Abschreckung voll ausgereicht haben. Dafür spricht die ständige Abnahme der Zahl jener Zwangsarbeiter, welche innerhalb eines Jahres zwei Mal oder öfters bestraft wurden. Ihr Anteil sank von ursprünglich mehr als der Hälfte (1868) auf ein Fünftel (1878) aller Straffälle. Zum anderen war aber der Direktion keineswegs daran gelegen, durch überharte Maßnahmen sich sowohl den Haß der Insassen wie die Aufmerksamkeit der vorgesetzten Stellen zuzuziehen. Es würde sich jedoch als äußerst problematisch erweisen, von den am Beispiel von Weinhaus gewonnenen Informationen auf analoge Verhältnisse in anderen Zwangsarbeitsanstalten zu schließen. J e d e dieser Institutionen besaß bis zu einem gewissen Grad ihr Eigenleben, die Anstaltsatmosphäre hing von den jeweiligen Ordnungsvorstellungen des Personals ebenso ab wie von Form und Umfang der Devianz aller Insassen. Vergleichende Erhebungen über sämtliche österreichische Zwangsarbeitshäuser aus dem J a h r 1897 zeigen ein Bild, welches sich von dem der Anstalt Weinhaus in ihrer Mittelund Spätphase wesentlich unterscheidet. 1897 wurden 30 % aller männlichen und 23,9 % aller weiblichen Internierten mit einer Disziplinarstrafe belegt (49). Trotz ziemlich lückenhafter Mitteilungen lassen sich auch die häufigsten Strafarten rekonstruieren: Einfacher Arrest, Arrest mit Kostschmälerung oder Fasten, Dunkelhaft, Kurzschließen, Anbinden an einen Pfahl. Diese Übersicht ist ein deutliches Indiz dafür, daß leichtere Strafen o f t gar nicht zur Anwendung gelangten und die Direktionen eher dazu neigten, aus Abschreckungsgründen sofort zu schärferen Mitteln zu greifen. Die Form der Strafen war nicht zuletzt von den räumlichen Verhältnissen einer Anstalt abhängig. Das Zwangsarbeitshaus Weinhaus

Häufigkeit von Disziplinarverstößen

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(Fassungsraum 100 Personen) verfügte bei der Inbetriebnahme nur über zwei Arrestzellen, obwohl Direktor Rosenbaum in seinem Organisationsentwurf für die zehnfache Anzahl plädiert hatte. Erst nach Abschaffung der körperlichen Züchtigung wurde gewissermassen als Ersatz ein separiertes Arrestlokal mit fünf Zellen eingerichtet. Im Falle von kollektiver passiver Resistenz erwiesen sich jedoch diese Einrichtungen als völlig unzureichend. Als 1880 23 Zwänglinge die Arbeit aus Protest gegen die unzureichende Kost einstellten, sah sich die Verwaltung genötigt, die Leute in Waschküchen, Kellerräumen und Badezimmern einzusperren (50). Beim Neubau von Anstalten wurde später stets auf eine hinreichende Anzahl von Isolierungsmöglichkeiten Bedacht genommen. Korneuburg erhielt ein zweistöckiges Arrestgebäude mit 42 Einzelzellen und zwei großen Gemeinschaftszellen, welche im Bedarfsfall ein strenges Vorgehen auch gegen einen größeren Kreis von Insassen gestatteten (51). Im Zuge der Erhebungen von 1897 hatte lediglich die Anstalt Pardubitz in Mähren auch die Art von Disziplinarvergehen angeführt (52): Arbeitseinstellung: 53 Fälle, Grobheit: 32, Fluchtversuche: 30, Simulierung von Krankheit: 28, Trunkenheit: 17, Rauferei: 10, Faulheit: 8, Unfolgsamkeit: 5. Diese Angaben zeigen ein Nebeneinander von individuellen und kollektiven Protestaktionen. Die starken Spannungen, welche der Zwangsaufenthalt in einer Anstalt auslöste, entluden sich im verbalen und motorischen Abbau von Aggressionen gegenüber Personal wie Mitinsassen. Wiederholt suchten die Zwangsarbeiter nach Möglichkeiten, dem auf sie lastenden Druck entweder durch Verstellung und Vortäuschen von Krankheiten oder durch Ausbruchsversuche zu entgehen. Andrerseits deutet der hohe Anteil von Arbeitseinstellungen auf ein beträchtliches Maß von Gemeinschaftshandeln hin. Die Bereitschaft zur Solidarisierung in der gleichen Lebenslage bestand offenbar auch in Zwangsarbeitsanstalten. Die Ordnungsmechanismen der Zucht- und Arbeitshäuser beruhten jedoch auf einem „Zweitaktmechanismus", der neben dem System von Sanktionen auch eines der Vergünstigungen kannte. Jede Annäherung an die optimalen Normen der Hausordnung wurde entsprechend belohnt. Dadurch war es möglich, auf eine äußerst subtile Art und Weise eine Differenzierung der Insassen vorzunehmen, Abstände herzustellen, Fähigkeiten und Qualitäten zu hierarchisieren. Die umfassende Macht des „Normalen" wurde dabei nicht im ge-

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Das Anstaltsleben

ringsten angetastet. Vielmehr sollten Homogenität und Individualisierung, unterschiedliche Niveaus, Besonderheiten nutzbringend aufeinander abgestimmt werden. Damit schuf man die Basis für Verhaltensformen, wie sie neue Produktionsorganisationen - wie Manufaktur und später Fabrik - forderten, wie sie aber auch von gehorsamen Untertanen des Staates erwartet wurden (53). Zur Förderung der Anpassung und Schaffung einer konfliktarmen Atmosphäre gewährte man in den Zucht- und Arbeitshäusern bereits früh für verstärkte Integrationsbereitschaft verschiedene Begünstigungen. Gehorsam, Gottesfurcht und Verträglichkeit gegen Schicksalsgenossen und Verwaltung, überdurchschnittliches Engagement bei der Arbeit wurden als Ausdruck guten Willens, als erste Zeichen einer Besserung gewertet und dementsprechend honoriert. Schon die Gestaltung der frühesten Privilegien (54) für die Insassen eines Arbeitshauses läßt eine mehrfache Zielrichtung erkennen: Koppelung mit der Arbeitsorganisation der Anstalt (bei Fleiß u n d Wohlverhalten „die schwere Arbeit in der Zeit zu mindern"); die Rückwidmung gewisser in der Freiheit selbstverständlicher Rechte („einen mehrern, doch mäßigen Zucht-Hauß-Lohn zu geben"; „mit Verwilligung des Verwalters an Sonn- und Feyertagen auf die eine oder andere Stunde aus dem Haus zu gehen"); Abstimmung der Entlassung mit evidenter Besserung („Milderung an der Straf ... angedeihen ... zu lassen"). Bestimmte Bereiche blieben allerdings im 18. Jahrhundert vom Privilegiensystem ausgeschlossen. Etwaige Geldsendungen an Insassen sollte der Verwalter wohl „zum Besten" des Empfängers verwenden, ohne dabei aber seine Verköstigung zu verbessern. Da man gerade die Einschränkung elementarer Lebensbedürfnisse als Teil des Strafvollzugs betrachtete, war es auch allen Zuchthausbediensteten streng untersagt, den Insassen Lebens- und Genußmittel zu besorgen. Angesichts der rigorosen Strafbestimmungen u n d der strengen Disziplinarvorschriften bildeten Bevorzugungen ein wichtiges Mittel zur „persönlichen Reorganisation" (55) des vielfach gedemütigten, von der Außenwelt abgeschnittenen und in seiner Selbstverwirklichung beschränkten Insassen. Ein fest umrissenes Privilegiensystem wurde in den vormärzlichen Anstalten geschaffen (56). Jeder erstmals Notionierte kam in die zweite, jeder Rückfällige in die dritte Kategorie. Versetzungen wurden als Belohnungen oder Strafen ge-

Begünstigungen bei Anpassung

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wertet und von den monatlich zusammentretenden Hauskommissionen vorgenommen. Entsprechend den Anstaltszielen galten gutes sittliches Betragen und regelmäßige Überschreitung des Arbeitspensums als Vorriickungskriterien, Aufsässigkeit, Trägheit u n d Disziplinarvergehen als Gründe für eine Rückversetzung. Dieser Maßstab setzte also bereits eine gewisse Verinnerlichung der Anstaltsintentionen oder opportunistische Anpassung voraus. Die beste Stufe als Voraussetzung für die Entlassung sollten nur jene Individuen erreichen, welche „ein entsprechendes Benehmen an den Tag legten, und sich kein gröberes Vergehen zu Schulden kommen ließen, woraus auf moralische Bösartigkeit oder Arbeitsscheu geschlossen werden k ö n n t e " . Innerhalb dieses Drei-Kategorien-Schemas besaßen die Angehörigen der oberen Qualifikationsstufe gegenüber den tiefer Rangierenden bestimmte Vorrechte. Form und Ausmaß der Vergünstigungen wiesen innerhalb verschiedener Anstalten eine nur geringe Variationsbreite auf. Die inhaltlichen Grundzüge zeigen deutliche Übereinstimmung mit älteren Usancen. Allgemein stellten diese Privilegien weiterhin eine gewisse Verbindung mit Verfügungsmöglichkeiten und Lebensgewohnheiten der Außenwelt wieder her. Die Einstufung eines Zwangsarbeiters besaß nämlich Konsequenzen für die Güte der Verpflegung (in Wien ein bis drei Fleischspeisen pro Woche) wie für die Erlaubnis zurGeschenkannahme. Zwar wurden Kleidungsstücke und Eßwaren nur in Ausnahmefällen verteilt, dann aber kamen sie ausschließlich Angehörigen der besten Klasse zugute. Ebenso war die zusätzlich honorierte Position eines Stubenvaters oder einer Stubenmutter bzw. die Zuteilung zu leichteren und lukrativeren Hausarbeiten an beispielgebendes Verhalten gebunden (57). Auch die Behandlung bei Verstößen gegen die Hausordnung richtete sich nach der Klassifikation des Betreffenden. Ein weiteres wichtiges Privileg bildete die beschränkte Dispositionsfähigkeit über einen Teil des Geldlohns. Bei Überschreitung des festgesetzten Mindestpensums an Arbeit gelangte ein sogenannter Überverdienst zur Auszahlung. Bei Angehörigen der schlechtesten Kategorie fiel jedoch diese Summe häufig an die Anstalt zurück. Alle anderen Insassen konnten jedoch einen unterschiedlichen Teil (zwischen einem Drittel und der Hälfte) dieser Arbeitsprämie zur Anschaffung von „Nebengenüssen" verwenden. Darunter verstand man vor allem zusätzliche Nahrungsmittel, aber auch in bescheidenem

218

Das Anstaltsleben

Ausmaß Wein (0,35 Liter), Bier (0,7 Liter), Branntwein (im Wert von einem Kreuzer pro Mahlzeit), Schnupftabak (mit ärztlicher Genehmigung) sowie andere Kleinigkeiten persönlichen Bedarfs (Seife, Briefpapier etc.; 58). Ein auf dem Ausmaß von Vorstrafen aufbauendes Schichtungsmuster wurde für Weinhaus 1866 ausgearbeitet. In die erste Kategorie reihte man jene Neuankömmlinge, welche noch nie in gerichtlicher Untersuchungshaft gestanden oder niemals als Verbrecher abgestraft worden waren; in die zweite alle jene Personen, über die ein Gericht bereits einmal mangels an Beweisen einen Freispruch verhängt hatte; in die dritte Klasse jene Männer, die sich bereits in einer Zwangsarbeits- oder Strafanstalt befunden hatten bzw. die „einen besonderen Hang zur Liederlichkeit ... u n d wenig Moralität" zeigten (59). Diese Gliederung diente jedoch primär der Eingrenzung des Kreises der gefährlichsten Insassen und potentiellen Unruhestifter. Die mit der Kategorisierung verbundenen Unterscheidungen bezogen sich nämlich hauptsächlich auf Strafverschärfungen für die Angehörigen der schlechtesten Gruppe: Sie durften nie zu leichteren Hausarbeiten verwendet werden, keine Geschenke erhalten und nur alle sechs Wochen einen Brief schreiben oder empfangen. Außerdem war ihnen gegenüber „unnachsichtige Strenge" anzuwenden, wobei selbst , jedes ungeziemende Wort strengstens geahndet" und ein verschärfter Arbeitseinsatz vorgenommen wurde. Lediglich im Küstenland hatte das Gubernium, dem Versuchscharakter der Anstalt entsprechend, jegliche Begünstigung gestrichen. Auf Anraten der Hofkanzlei gewährte man schließlich Überverdienste, legte diese aber als Startkapital für die Entlassung zurück (60). In den anderen österreichischen Zwangsarbeitshäusern (mit Ausnahme der Frauenanstalten Lankowitz und Schwaz) hielt man das gesamte 19. J a h r h u n d e r t hindurch an wesentlichen Grundsätzen des Progressivsystems fest. Die Statuten der 1880er J a h r e reihten jeden Neuling prinzipiell in die dritte Klasse ein u n d ließen ihn nach Maßgabe von Fleiß, Wohlverhalten und Verwendbarkeit vorrücken. Rückversetzungen waren nur dann vorgesehen, wenn sich „gelindere Strafmittel" als fruchtlos erwiesen hatten (61). Die Einteilung band weiterhin die Entlassung an eine längere Zugehörigkeit zur ersten Diszplinarklasse, regelte die Zuteilung der einträglicheren Arbeiten, gestattete bestimmte Lohngutschriften (in

Klassifikation der Insassen

219

Mähren z.B. 35, 25 u n d 20 % vom Taglohn; in Böhmen 30, 25 u n d 20 %). Die n u n m e h r klar normierten „Nebengenüsse" waren aus d e m Privilegienkreis eliminiert worden. Generell hatte die gesamte Staffelung etwas an Inhalt verloren. Sie wandelte sich partiell zu einem administrativen Hilfsmittel, das eine leichtere Etikettierung, Uberschaubarkeit u n d damit auch Einsatzmöglichkeit der Zwangsarbeiter gewährleisten sollte. Auch R e f o r m e n zu Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s änderten nichts an diesen Prinzipien. „Körperkonstit u t i o n u n d Grad der V e r d o r b e n h e i t " galten nach den 1903 neu formulierten S t a t u t e n für die mährischen Anstalten als Einteilungskriterien. Die A u t o n o m i e der Administrativorgane w u r d e dabei insofern vergrößert, als Vor- u n d Rückreihung n u n m e h r in den Kompetenzbereich des Direktors fielen (62). Angaben über die Klassenzugehörigkeit lassen erkennen, daß ein Vorrücken in die erste Klasse überall d o r t selten erfolge, w o dieser Schritt nicht als Vorbedingung für eine Freilassung galt. In Iglau gelangten zwischen 1890 u n d 1901 maximal 5 % der Insassen in den Genuß optimaler Vergünstigungen; ein Drittel bis höchstens die Hälfte b e f a n d e n sich jeweils in der zweiten Klasse. Die Tendenz zu härterer Beurteilung signalisieren die Daten aus Brünn. Hier war in den 1870er J a h r e n die durchschnittliche Verteilung etwa bei 15 55 - 30 % gelegen. Im Untersuchungszeitraum 1889 - 1912 war der Anteil von Zwangsarbeitern sowohl in der ersten (5 - 10 %) als auch in der zweiten G r u p p e (ca. 25 %) deutlich niedriger. Ähnliche Verhältnisse k ö n n e n aufgrund punktueller I n f o r m a t i o n e n auch für andere Anstalten a n g e n o m m e n werden, wobei starke jährliche Schwankungen Ausnahmeerscheinungen blieben (63). Unabhängig von den einigermaßen fest umrissenen Vergünstigungen im R a h m e n der Kategorisierung gab es für die Anstaltsinsassen n o c h andere Unterbrechungen ihres m o n o t o n e n Tagesablaufs, die n o c h im Zusammenhang mit der Gestaltung der arbeitsfreien Zeit erwähnt werden. Rauchen, Spaziergänge, Pausen, Leseerlaubnis u.ä. wurden in der Hand des Verwaltungsstabes zu I n s t r u m e n t e n , welche bei der geringsten Unbotmäßigkeit oder auch nur u n t e r fadenscheinigen V o r w ä n d e n beschränkt oder entzogen werden k o n n t e n . Diese allgemein beliebten F i x p u n k t e im Leben eines Zwangsarbeiters entwickelten sich d a d u r c h zu Mechanismen, welche auf Umwegen in das Privilegiensystem der Anstalt eingeschleust u n d zur Beschleunigung individueller Anpassung eingesetzt werden k o n n t e n .

Das Anstaltsleben

220 9.3. Die Koordination

des Tagesablaufs

Mit der Erledigung sämtlicher Aufnahmeformalitäten war eine gewisse Grundlage oder zumindest eine Ausgangsposition dafür geschaffen, den Neuling an Verhaltensformen und Lebensrhythmus einer geschlossenen Anstalt zu gewöhnen. Die Institutionalisierung äußerte sich in radikal veränderten Lebensbedingungen, die rund um die Uhr einer strengen Reglementierung ausgesetzt und einer fixen Terminisierung unterworfen waren. Sämtliche Lebensäußerungen wurden intentional auf das Ziel hin koordiniert, die moralische Besserung und Umwandlung der Insassen in arbeitsame, gottesfürchtige und nützliche Menschen zu bewirken. Gleichzeitig bereitete man damit die Anpassung an die neue Arbeitsdisziplin des arbeitsteiligen Produktionsprozesses vor, wo exakte Zeiteinteilung und Pünktlichkeit zum Maß aller Dinge geworden waren. Zur Durchsetzung dieser Absichten war nahezu der gesamte Tagesablauf der eigenen Planung der Insassen entzogen und einer Fremdbestimmung durch die Institution unterworfen (64). Die Tagesordnungen der verschiedenen Anstalten blieben diesem Grundsatz mit nur geringfügigen Abweichungen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert verpflichtet. Abweichungen bestanden nur in Details: In Zeitverschiebungen bei Weckruf und Nachtruhe sowie in unterschiedlicher Dimensionierung von Ruhepausen oder Unterrichtszeiten. Grundsätzlich erfolgte das Wecken stets zwischen vier und fünf Uhr, die Mittagspause zwischen elf und zwölf Uhr, der Arbeitsschluß zwischen 19 und 20 Uhr. In den Wintermonaten war das Tagesprogramm meist geringfügig verkürzt, für Sonn- und Feiertage bestanden Sonderregelungen. Analoge Tagesordnungen waren auch in den Freiwilligen Arbeitsanstalten eingeführt. Ein grundsätzlicher Unterschied bestand hier im freien Ein- und Austritt, weiters im Ausgang zum Zweck der Arbeitssuche während der Mittagszeit, nach dem Abendessen bzw. an Sonn- und Feiertagen.

9.3.1. Primat der Arbeit Die Intemierungszwecke Abschreckung, Vergeltung und Resozialisierung, das Bemühen um eine Verringerung gesamtgesellschaftlicher Sanktionskosten sowie um die Einführung neuer Formen der

Konzentration auf Textilherstellung

221

Arbeitsorganisation erweisen sich als K o m p o n e n t e n , welche mit unterschiedlicher Intensität die F o r m e n der Arbeitsverwertung in der Geschichte der österreichischen Zwangsarbeitsanstälten b e s t i m m t haben. Das gegenseitige Spannungsverhältnis der verschiedenen K o n z e p t i o n e n f ü h r t e in der Praxis allerdings o f t dazu, daß sich die einzelnen Zielsetzungen entweder neutralisierten oder bestimmte Teilbereiche vernachlässigt wurden. O b w o h l nach übereinstimmender Auffassung die vorzüglichsten Besserungsmittel in der G e w ö h n u n g an Arbeit, Ordnung, Nüchternheit, in religiös-sittlicher Bildung u n d der Auffrischung elementarer Schulkenntnisse lagen, war der Z e i t a u f w a n d für diese Bereiche überaus ungleichgewichtig verteilt. „Da die G e w ö h n u n g an Arbeit eines der wirksamsten Mittel zur Besserung ist, m u ß Alles, was die Lust zur Arbeit weckt, angewendet, u n d idles, was diese Lust unterdrükken u n d vermindern kann, vermieden w e r d e n " (65). Diese Forderung, welche durch das angestrebte Prinzip maximaler Kostendekkung an N a c h d r u c k gewann, begründete die vorrangige Bedeutung der Arbeitstätigkeit innerhalb des Tagesablaufs. D e m e n t s p r e c h e n d hat sich die Länge der Arbeitszeit, die schon im 18. J a h r h u n d e r t zwischen elf u n d 13 S t u n d e n betrug, weiterhin in ähnlichen Dimensionen gehalten (66). Sie erreichte damit ein Ausmaß, wie es auch in den Sektoren Landwirtschaft, Gewerbe u n d Industrie im 1 Q.Jahrh u n d e r t weithin üblich war. Die frühesten Pläne für die Nutzung der Arbeitskräfte eines Zuchthauses waren fest im Bezugsrahmen merkantilistischer Wirtschaftslehren verankert. In Österreich s t a m m t e n die ersten Vorschläge dafür von J o h a n n J o a c h i m Becher. Seine Vorstellungen von der Einrichtung des Wiener Zuchthauses sowie sein Projekt für ein Werkhaus in Wiener Neustadt sollten sich in vieler Hinsicht als richtungsweisend für diverse spätere Organisationsformen erweisen (67). Die Beschäftigung bisher u n p r o d u k t i v e r Marginalgruppen schien vorab im Bereich der Textilherstellung erfolgversprechend. Dieser Produktionszweig hatte sich bislang auf die Leinen- u n d Lodenerzeugung konzentriert, welche überwiegend in F o r m von Heimarbeit erfolgte. Die hochentwickelte Tuchmacherei Böhmens, Mährens u n d Schlesiens k o n n t e nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges n u r langsam frühere Marktverbindungen w i e d e r a u f n e h m e n u n d dadurch nur zögernden Aufschwung verzeichnen.

Das Anstaltsleben

222

Taf. 8. Tagesordnung in österreichischen 19. Jahrhundert*)

Zeit 4-5 5-6

Weinhaus 1866 Werktage**)

Wecken Morgengebet Arbeit

Wecken Morgengebet

Hl. Messe, Pause

8 -9 9 -10

Arbeit

10-11 11-12

Wecken Morgengebet Erbauungslektüre Beichlgelegenheit Hl. Messe Religiöse Unterweisung Lektüre Unterricht in Elementargegenständen

Mittagessen, Gebete Pause

Mittagessen, Gebete Pause Religionsunterricht

Arbeit

Geistliche Übungen

12-13 13-14

im 18. und

Innsbruck 1769 Werktage**) Sonn- und Feiertage

6-7 7-8

Zwangsarbeitshäusern

Arbeit (9.30-11: Gruppenweiser Unterricht in Elementargegenständen

Mittagessen, Gebete Spaziergang

Arbeit

14-15 Beschäftigungen nach Anweisung des Seelsorgers

15-16 16-17

Pause

17-18

Arbeit

18-19

Abendessen, Pause

Abendessen, Pause

Abendessen

19-20

Arbeit

Arbeit

20-21

Gebet, Nachtruhe

Andacht, hierauf Nachtruhe

Gebet, Nachtruhe

*) Quelle: Ordnung Innsbruck, 8 ff.; Protokolle Niederösterreich, Beilage II ex 1869, 22 ff., Weinhaus, § 1 7 - 2 1 ; Hausordnung Schwaz, § 32 - 42. **) Während der Wintermonate (September bis März) erfolgte das Wecken eine, in Schwaz eine halbe Stunde später.

223

Der Tagesablauf

Weinhaus 1866 Sonn- und Feiertage

Schwaz 1892 Werktage**) Sonn- und Feiertage

Wecken Morgengebet Ausbessem von Kleidern und Wäsche

Wecken

Wecken

Hl. Messe Religionsunterricht Frühstück

Hl. Messe danach Frühstück

Spaziergang Lektüre

Hl. Messe

Arbeit

Religionsunterricht

(1/2 Stunde Unterricht, 1/2 Stunde Spaziergang)

Mittagessen, Gebete

Ausbessern von Kleidern und Wäsche Spaziergang Lektüre

Alternierend Unterricht für Italienerinnen und Deutsche bzw. Lektüre Schulaufgaben freiwillige Arbeiten Spaziergang

Mittagessen, Gebete, Mittagessen, Gebete, Pause Pause

Arbeit (1/2 Stunde Spaziergang; 16 Speisemöglichkeit)

Lektüre Spaziergang Schulaufgaben freiwillige Arbeiten 1 d Speisemöglichkeit Unterricht in gemeinnützigenGegenständen

Abendessen Lektüre Lektüre Gebet, Nachtruhe

Gebet Pause Nachtruhe

Nachtruhe

224

Das Anstaltsleben

Bei Feintuch- wie auch Seidenwaren für den gehobenen Bedarf zeigte sich eine starke Importabhängigkeit Österreichs, welche einen großen Passivposten in der Handelsbilanz begründete. Eine vermehrte Deckung der Nachfrage schien nun durch die neue Betriebsform der Manufaktur mit Arbeitsteilung, mechanischen Verfahren und Intensivierung der Arbeitsleistung gewährleistet. In den Zucht- und Arbeitshäusern ließen sich jedoch vorerst nur leicht erlernbare Arbeitsgänge einführen. Anfang des 18. Jahrhunderts folgte man in Wien dem Leitgedanken, daß die Arbeit „nach denen Leibs-Kräften und Gelehrsamkeit denen Büssenden und Gefangenen, zumalen auch mit der Beschaffenheit des Orts ... ausgetheilet" werden sollte (68). Jugendliche unter 18 J a h r e n waren vornehmlich mit einfachen Näh- und Flickarbeiten beschäftigt. Ältere Insassen unterrichtete man im Stricken von Schlafhauben, Strümpfen u n d Kaminsols (Unterleibchen oder Unterjacken) aus Garn, Zwirn, Schaf- u n d Baumwolle. Die körperlich kräftigen Züchtlinge wurden zum Kotzenmachen (der Herstellung größerer Werkstücke) und Wollkardetschen (dem feinen Krempeln) eingeteilt. Die Tätigkeit der weiblichen Züchtlinge verlief in ähnlichen Bahnen: Spinnen, Nähen, Stricken, Wollzupfen (das Reinigen vor dem Kämmen u n d Spinnen) und Wollkämmen. Die Trennung von Zucht- u n d Arbeitshaus (1723-1726) hatte auf die Auswahl der Arbeitsgattungen keinen nennenswerten Einfluß. Die Anstaltsträger strebten aber eine weitere Verbesserung der Produktionsstruktur an (69). Defizitäre Tätigkeiten, wie die Herstellung wollener Winterstrümpfe, wurden gezielten Anlernprozessen unterworfen. Bislang vernachlässigte Bereiche erhielten neue Impulse. Dazu zählte vor allem die Baumwollspinnerei. Man betrachtete das Zucht- und Arbeitshaus als Experimentierfeld, auf dem die Rentabüität dieses Verfahrens im Anstaltenbereich erprobt werden sollte. Im Falle zufriedenstellender Ergebnisse war daran gedacht, diese Arbeiten in größerem Stil in Spitälern und Armenhäusern sowie namentlich „zu Beschäftigung müssiger J u g e n d " einzuführen. Daneben wurden gewohnte Tätigkeiten, z.B. das für Anfänger geeignete Spinnen von Haar und Werg, fortgesetzt und bei günstigen Absatzchancen ausgebaut. Im Zuge der Verbesserung des Arbeitskonzepts trachteten die Zentralbehörden enge Verbindungen mit staatlichen Unternehmungen herzustellen. Die Beschaffung der Rohmaterialien sollte in aus-

Projekte für Schwerarbeit

225

gewogener A b s t i m m u n g mit den berechneten Bedarfsmengen durch die Orientalische Kompagnie erfolgen. Diese Gesellschaft war 1719 z u m Ausbau des Großhandels mit der Türkei geschaffen w o r d e n , gegenoß darüber hinaus aber auch zahlreiche Vorrechte bei Betriebsgründungen, so z.B. 1723 bei der Errichtung der Schwechater Baumwollwarenfabrik. Die Verlagsorganisation dieses Unternehmens u m · f a ß t e weite Teile des nördlichen Niederösterreich u n d die östliche Umgebung Wiens; ihr wurden auch die Arbeitsanstalt u n d die Wiener Armenhäuser angegliedert. Diese Kooperation f a n d später beim Arbeitshaus in Schloß Ebersdorf eine Fortsetzung (70). Es bestand außerdem die Bereitschaft, von diesen Betrieben „schwere, zu einer Büß der ad labores c o n d e m n i r t e n L e u t h e dienende .. A r b e i t e n " zu übernehmen. Dieses K o n z e p t war schon beim Neubau des Wiener Arbeitshauses verfolgt worden. Um die Arbeitstätigkeit in den G e s a m t k o n t e x t der Anhaltung wirkungsvoll einzuordnen, h a t t e man damals' zahlreiche Männer „in Partem Poenae, zur Abbüssung des Müssiggangs" zu Aushubarbeiten bei der Fundamentierung herangezogen. Ähnliche Überlegungen klangen auch in späteren J a h r z e h n t e n wieder an. 1732 verordnete Karl VI., körperlich kräftige Leute beim Holzschneiden, Marmorschneiden, Steinstoßen u n d Küttmachen einzusetzen (71). Man folgte dabei dem älteren Vorbild Amsterdams, das auch für zahlreiche deutsche Anstalten beispielgebend geworden war (72). Zur durchgreifenden Realisierung dieser Pläne kam es nicht. Als der englische E x p e r t e Howard u m 1780 das Wiener Zucht- u n d Arbeitshaus besuchte, f a n d er die Frauen mit Krempeln u n d Spinnen, die Männer zusätzlich mit Weben, der Herstellung von Decken u n d Schneiderarbeiten beschäftigt (73). Zur Erzielung der größtmöglichen Rentabilität der Zwangsarbeit war bereits Becher für die Verleihung von Privilegien zwecks Einführung einer nicht zünftisch gebundenen P r o d u k t i o n eingetreten (74). Damit h a t t e er auf einen der wichtigsten Impulse zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung hingewiesen, w o m i t die Landesfürsten die Gebundenheit des alten Gewerbesystem durchbrechen k o n n t e n . Zu einer formellen Verleihung an die Wiener Anstalt kam es erst 1726, als Karl VI. die Herstellung von Spinn- u n d Strickwaren aus Baumwolle „absque Privilegio Privato, per consequens, o m n i m o n o p o l i o " als Vorrecht der Stadt Wien bestätigte (75). Der Absatz der Erzeugnisse w u r d e auf dem Wiener T a n d e l m a r k t

226

Das Anstaltsleben

sowie auf den verschiedenen J a h r m ä r k t e n vorgenommen. Darüber hinaus verfügte die Stadt über ein eigenes Verkaufsgewölbe. Gleichzeitig erwog m a n auch, andere Wiener Wohlfahrtseinrichtungen mit P r o d u k t e n aus der Anstalt zu versorgen. Dabei griff die landesfürstliche Wirtschaftsplanung tief in die ehemalige A u t o n o m i e der Zünfte ein. Zur F ö r d e r u n g der Kotzenmacherei z.B. wurden in Wien sämtliche N e u a u f n a h m e n von Meistern an gesonderte Bewilligungen der Niederösterreichischen Regierung gebunden (76). Dadurch e n t s t a n d ein zusätzlicher Spannungsherd im Konkurrenzverhältnis zwischen Gefangenenarbeit u n d „freier A r b e i t " . Ähnliche Dispositionen wie in Wien t r a f e n Gubernien u n d Hofkanzlei später auch für die Zwangsarbeitshäuser der anderen österreichischen Länder. Nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges m e h r t e n sich die Versuche, den Grundsätzen merkantilistischer Wirtschaftspolitik mit allem Nachdruck Geltung zu verschaffen. Für die Arbeitsorganisation der Versorgungsanstalten u n d Detentionseinrichtungen b e d e t u e t e dies ab 1764 einen erneuten Anlauf zur Einführung mechanisierter arbeitsteiliger P r o d u k t i o n . Bei den zentralen Leitungsstellen der Wirtschaft herrschte volle Klarheit darüber, daß „diese Häuser nicht so wohl zu einer Fabrik selbst, als vielmehr zur Vorbereitung u n d Zurichtung der zu einer fabricatur nöthigen Materialien schicklich" waren (77). Daher trachtete m a n abermals die Zucht- u n d Arbeitshäuser in umfassende Verlagssystem e einzugliedern. Während in Wien die K o o p e r a t i o n in den bisherigen Bahnen weiterlief (78), orientierte sich das R e f o r m k o n z e p t für die Anstalten der innerösterreichischen Länder am Beispiel der Klagenfurter T u c h m a n u f a k t u r des Holländers J o h a n n Thys. Dieser getreu den Prinzipien merkantilistischer Einwanderungsförderung angeworbene F a c h m a n n sicherte sich rasch das Wohlwollen von Kaiserin u n d Zentralbehörden. Er v e r m o c h t e nicht n u r die begehrten hochwertigen Waren herzustellen, sondern auch Spinnschulen u n d Waisenhäuser ganz im Sinn großangelegter Beschäftigungspolitik in ein weitgespanntes Produktionsnetz einzubeziehen (79). Besonders vordringlich erwies sich die Reorganisation der Arbeitsbeschaffung am Grazer Zucht- u n d Arbeitshaus (80). Entgegen den ursprünglichen Planungen war erst 1745 mit der Textilherstellung begonnen worden. Nach anfänglichen Mißerfolgen in Eigenregie bestellte man 1749 einen Leinenweber, der sich j e d o c h bald

Alternative Regie - Unternehmensbetrieb

227

mit dem Zuchthausverwalter überwarf. Dieser versuchte seinerseits die Baumwollspinnerei einzuführen, erlitt jedoch binnen Jahresfrist (1754) Schiffbruch. Zwei daraufhin als Verleger tätige Grazer Tucherzeuger zogen sich rasch wieder aus dem Geschäft zurück. Anfang der 1760er Jahre unternahm Graf Wagensperg als Präses des steirischen Kommerzienkonsesses verstärkte Bemühungen, durch eine Kooperation der beiden Anstalten mit der Linzer Wollzeugfabrik größere Gewinne zu erwirtschaften. Die steirischen Faktoreien dieses Unternehmens waren damals noch recht unbedeutend, sodaß eine Vermehrung der Spinnerleute durchaus erwünscht war (81). Weder die Anschaffung neuer Produktionsmittel noch die Konsulententätigkeit des „polizey- und manufakturen-commissions-assesors" Baron Peter Pittoni brachten den gewünschten Erfolg. Viele Häftlinge blieben beschäftigungslos, da die Rohstoffversorgung stockte und dies, obwohl der Verwalter Franz von Azula (1761-1772) auch als Faktor des Linzer Unternehmens fungierte. Wie beim Waisenhaus scheiterte die Reform aber nicht nur an Koordinationsfehlern, sondern auch an den geringen Verdienstmöglichkeiten der Verlagsarbeit. Die Hofkanzlei schlug daher die Übernahme von „mehr ins Geld laufender Stricker Arbeit" vor (82). Die gewünschten Kontakte mit der Grazer Strickerzunft scheinen jedoch ergebnislos geblieben zu sein, da man schon im Zuge der Verlegung der Anstalt in das ehemalige Jagdschloß Karlau einen Verlag durch die Kottonfabriken Schwechat bzw. Friedau diskutierte. In der Folge kam es zu einem Vertragsabschluß mit einem Grazer Bandmacher. Eine regelrechte Pachtung durch einen Unternehmer, wie sie in Preußen häufig anzutreffen war, wurde jedoch vermieden (83). Das Vorbild der Klagenfurter Unternehmungen Thys' stand auch bei der Auswahl der Beschäftigungszweige im reformierten Zucht- und Arbeitshaus Krain Pate. Die verhältnismäßig geringen Erträge der Wollspinnerei wurden hier durchaus realistisch eingeschätzt. Dennoch hielt die Hofkanzlei an ihrem ursprünglichen Plan fest, mindestens ein Drittel der Anstaltsinsassen für eine Tätigkeit im Dienste der Laibacher Tuchfabrik freizustellen (84). Kooperationsprobleme zwischen der ärarischen Wollzeugfabrik und dem Straf- bzw. Arbeitshaus ergaben sich in Linz. 1781 nahm das Unternehmen eine allgemeine Herabsetzung der Löhne vor, die zu größeren Auseinandersetzungen mit den oberösterreichischen Webern führte. Obwohl nach Aussage der Betriebsleitung die An-

228

Das Anstaltsleben

stalten stets mit genügend Rohmaterial versorgt worden waren u n d auch ein hinreichendes Entgelt bezogen hatten, suchte die Verwaltung lukrativere Beschäftigungsmöglichkeiten. 1782 wurde die Geschäftsverbindung unter Billigung der Hofkammer gelöst (85). Günstigere Vorbedingungen für eine Einbeziehung der Anstalten in merkantilistische Produktionsorganisationen bestanden Uberall dort, wo sich Unternehmungen in einer Ausbau- bzw. Expansionsphase befanden. Dies war etwa in Troppau der Fall, wo die Textilherstellung bereits auf eine lange Tradition zurückblicken konnte (86). Bei der Revitalisierung des dortigen Zuchthauses, die u.a. ausdrücklich zur Wiederbelebung der Wollspinnerei eingeleitet worden war, pflog die Landesstelle enge Verbindungen mit städtischen Tuchhändlern. Diese hatten bereits umfangreiche Investitionen zur Herstellung feiner Tuchwaren vorgenommen. Nun benötigten sie die billigen Kräfte der Anstalt für Vorbereitungsarbeiten, besonders für das Sortieren und Zurichten der Wolle und für die Garnspinnerei. Trotz verschiedener Schwierigkeiten forcierte man auch in Tirol, Vorderösterreich und im Küstenland die Textilerzeugung als dominierende Gefängnisarbeit. Das Zucht- und Arbeitshaus Innsbruck konzentrierte sich auf die Herstellung von Floretseide und teilte die einzelnen Arbeitsgänge gemäß dem Eignungsgrad der Insassen auf. 1763 regte die Stadtverwaltung die Einführung der T u c h - u n d Strumpfherstellung an, da diese Produkte zu wichtigen Importposten zählten (87). Die Verlagsarbeit in der Anstalt Altbreisach wurde 1777 als nachahmenswertes Beispiel hervorgehoben. Da der „comercial geist der genie des volks noch nicht eingenatürt" schien und Manufakturgründungen mehrfach gescheitert waren, erhoffte man sich von einer konsequenten Arbeitserziehung der Außenseiter neue Impulse (88). In Görz wieder ging man auf die sonst aus Rentabilitätsrücksichten gemiedene Eigenregie über. Man begründete den Betrieb der Walkmühle nicht nur mit den in einem ehemaligen Fabriksgebäude vorhandenen Produktionseinrichtungen, sondern auch mit der hermetischen Abschließung dieser Versuchsanstalt von der Außenwelt (89). Im Zuge der Ausbaupläne böhmischer Zucht- und Arbeitshäuser versuchten Hof- und Landesstellen mehrere Lösungen miteinander zu verbinden. Einerseits debattierten sie einen verstärkten Einsatz bei den üblichen Strafarbeiten, wie Festungs- und Straßenbau, Mar-

Effizienz merkantilistischer Arbeitsorganisation

229

morschneiden u.ä. Die Erfolge einer florierenden Salpetererzeugung in der Prager Anstalt wiederum bewogen den Koinmerzienkonsess 1762, das Projekt für einen neuen Regiebetrieb auszuarbeiten. Zur Verringerung kostspieliger Importe sollte das Raspeln von Farbhölzern eingeführt werden. Die expandierenden Textilmanufakturen meldeten für hochwertige Farben steigenden Bedarf an. Protektionistischen Ideen entsprechend wollte man die Zukunft des Unternehmens durch Einfuhrbeschränkungen gefördert sehen. Hinter diesen Planungen standen auch fiskalische Interessen. Zahlreiche Händler hatten es sich nämlich zur Gewohnheit gemacht, die hohen Zollsätze unterliegenden Farbstoffe anderen Waren beizumengen. Diese Hinterziehungen sollten durch eine gewisse Monopolstellung der Zuchthäuser wesenüich eingedämmt werden. Die Realisierung dieser Konzepte blieb freilich ein bloßer Wunschtraum. Noch in den 1790er Jahren dominierte in den Anstalten die Textilverarbeitung, ältere Leute wurden zum Federnschleißen angehalten (90). Zusammenfassend kann somit festgestellt werden, daß die Betriebsorganisation von Zucht- und Arbeitshäusern von der Regierung Leopolds I. bis in die Ära Maria Theresias den Planungsschwerpunkten absolutistischer Wirtschaftspolitik untergeordnet blieb. Die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der österreichischen Textilwaren machte verstärkte Neuerungen auf diesem Sektor der Verbrauchsgütererzeugung notwendig. Eine qualitative Verbesserung nach ausländischen Vorbildern wie die Erhöhung der Produktionsziffern zur verstärkten Deckung des Inlandbedarfs standen dabei im Mittelpunkt der Bestrebungen. Großzügige Förderungsmaßnahmen für die Anlage von Fabriken, rege innovatorische Initiativen und tiefe Eingriffe in die alten Zunftrechte bildeten die spektakulärsten Aktionen der Regierung. Einen wichtigen Beitrag sämtlicher Arbeits- und Wohltätigkeitsanstalten zu diesem Gesamtkonzept erblickte man in deren Einbeziehung in neue Produktionsprozesse bzw. in der Arbeitsdisziplinierung bisher arbeitsunwilliger respektive ungeschulter Kräfte. Die Realisierung der mitunter enthusiastisch formulierten Konzepte indessen ließ viele Wünsche offen. Die am Beispiel Graz dargelegten Probleme waren keine Einzelfälle. Vorschüsse an den Verleger des Innsbrucker Zucht- und Arbeitshauses erwiesen sich angesichts minimaler Gewinne in den ersten Betriebsjahren als unein-

230

Das Anstaltsleben

bringlich. Es handelte sich dabei wahrscheinlich u m denselben Seid e n f a b r i k a n t e n n a m e n s Fornaro, der auch das Zuchthaus Hüfingen im Schwarzwald b a n k r o t t gemacht hatte (91). Ein resümierender Bericht über die Textilarbeiten am Wiener Zucht- u n d Arbeitshaus m u ß t e 1783 (bei der T r e n n u n g beider Einrichtungen) resigniert feststellen, daß Herstellung wie Absatz mit erschreckender Planlosigkeit betrieben w o r d e n waren. Hinweise auf „allerhand U n f u g u n d Bevortheilungen" bezogen sich o f f e n b a r auf die Gebarung des Verwalters, der die auf eigene R e c h n u n g betriebene Seidenprod u k t i o n den anderen G e s c h ä f t e n gegenüber ungebührlich bevorzugte (92). Beim gelegentlichen Einsatz zu A u ß e n a r b e i t e n blieb der gewünschte Erfolg ebenfalls aus. 1799 w u r d e n wegen Überfüllung der böhmischen u n d mährischen Straf- u n d Zwangsarbeitsanstalten insgesamt 125 Arrestanten zu Bauarbeiten am Wiener Neustädter Kanal in die Residenz abgeschickt. Plötzliche Kriegsunruhen drohten das teilweise von Soldaten ausgeführte U n t e r n e h m e n nämlich lahmzulegen. Bald j e d o c h erhoben beide Vertragspartner Einwände. D e m Ärar erwuchsen zusätzliche Auslagen, da die L ö h n e Verpflegungs- u n d Bewachungskosten nur teilweise a b d e c k t e n ; die Kanalbaugesellschaft verweigerte wegen des geringen Einsatzes der Sträflinge L o h n e r h ö h u n g e n . Mehrere gelungene Fluchtversuche b o t e n ein zusätzliches A r g u m e n t , d e n Einsatz bereits nach fünf Monaten, im O k t o b e r 1799, wieder abzublasen (93). Die vormärzlichen Regierungsstellen hielten am ü b e r k o m m e n e n Schema der Arbeitsverwertung nahezu unverändert fest. Bereits 1802 kündigte man für die projektierte Wiener Anstalt die Übernahme jeder Arbeitsgattung an, „die nicht schwer zu erlernen ist, u n d die einen Verdienst a b w i r f t , w o m i t sich ein Mensch sowohl in dem Arbeitshause selbst, als auch nach seinem Austritte hinlänglich ernähren k a n n " (94). Tatsächlich gelang es, eine Reihe von einschlägigen Beschäftigungen zu übernehmen: Das Hecheln, Spinnen u n d Weben von Flachs, das K ä m m e n u n d Spinnen von Floretseide, das Verfertigen von Wolldecken. Die nahezu bruchlose Weiterführung des ü b e r k o m m e n e n Systems der Straf- u n d Zwangsarbeit kann auf verschiedene F a k t o r e n zurückgeführt werden. Die leichte Erlernbarkeit routinemäßiger Handgriffe dürfte angesichts des niedrigen Bildungsgrades sowie der häufig schlechten Konstitution der Insassen ein wesentliches Mo-

Zwangsarbeit im Vormärz

231

tiv gebildet haben. Der hohe Anteil der Textilerzeugung am Gesamtwert der gewerblichen Produktion (im Vormärz rund 46 %) schien den Institutionen günstige Ansatzmöglichkeiten, den Zwangsarbeitern sichere Beschäftigungschancen nach der Entlassung zu bieten (95). Die Erwerbstätigkeit gestaltet sich daher in sämtlichen österreichischen Zwangsarbeitshäusern ziemlich gleichartig. Das anfangs von Regionalinteressen getragene Projekt für Schwaz hatte von einer Wiederbelebung des Bergbaues den wirtschaftlichen Aufschwung der gesamten Gegend erhofft (96). Diese Überlegungen wurden aber infolge der geringen Abbauwürdigkeit der Fundstätten hinfällig. Aus Rentabilitätsrücksichten nahm man daher eine enge Zusammenarbeit mit der Textilherstellung (Spinnen von Flachs, Wolle, Seide; Strickerei und Stickerei) am Strafhaus Innsbruck auf und führte die Zwangsarbeitsanstalt gleichsam als Filialbetrieb. Nach einer kurzen Versuchsperiode erwies sich dieses Kooperationsmodell als hoch defizitär; Das Gubernium bemühte sich daher um eine Trennung und die Einführung rentabler Produktionszweige, wie etwa der Feinweberei. Alle Versuche scheiterten. Die Mängel der Eigenregie waren nicht mehr zu übersehen. Die bescheidene Kapitalausstattung der Institution verhinderte eine günstige Einkaufspolitik, die geringe Unterstützung einheimischer Händler den gewünschten Absatz. An eine kontinuierliche Arbeit wie in Industriebetrieben war nicht zu denken, da Unterricht, Gottesdienst, Verhöre, totale Hausreinigung u.a.m. für ständige Unterbrechungen sorgten. Zudem hatte man sich hinsichtlich der Fähigkeiten und des Einsatzwillens der Insassen übertriebenen Hoffnungen hingegeben. Feinere Waren konnten mangels geübter Kräfte kaum hergestellt werden, selbst die Qualität einfacher Leinenwaren ließ viele Wünsche offen. Aus diesen Gründen entschloß man sich in Tirol 1846 zur Verpachtung der Arbeitskräfte an Privatunternehmer. Die Landesstelle folgte dabei dem Beispiel anderer Strafgefangenen· und Zwangsarbeitshäuser. Die Anstalt Wien wurde bereits seit 1834 als Unternehmensbetrieb geführt (97). Gegen Zahlung eines bestimmten Entgelts, teils in Stücklohn, beschäftigte ein Pächter die Zwangsarbeiter mit Spinnen sowie Baumwoll- und Leinenweberei. Damit war die Verwaltung von langfristiger Kapitalbindung und zusätzlichem administrativen Aufwand entlastet. Der Erlös erreichte aufgrund analoger Probleme wie in Schwaz keineswegs das pro-

232

Das Anstaltsleben

gnostizierte Ausmaß. Informierte Personen reklamierten daher verschiedentlich die Rückkehr zur zumindest teilweisen Eigenregie. Angesichts etwa 20 %iger Profite der Verleger schienen Gewinne bei scharfer Kalkulation und Verbesserung der Produktionstechniken durchaus realistisch. Dunkle Andeutungen über den bisherigen ,,schläfrigen, fehlerhaften Betrieb" und „schädliche Einverständnisse" lassen den Schluß zu, daß die Ausschaltung von Eigeninteressen des Personals auch im 19. Jahrhundert ein ungelöstes Kapitel blieb. Eine konsequente Durchführung der Vorschläge hätte auch die Aufgabe aller leichten Gelegenheitsaufträge (Dochtziehen und -schneiden, Schlingen von Modewaren u.ä.) sowie einen verstärkten Arbeitszwang nach sich gezogen. Das städtische Arbeitshaus Innsbruck suchte diesen Schwierigkeiten durch langfristige Verträge mit heimischen Unternehmern zu entgehen (98). 1830 erklärten sich mehrere Repräsentanten des Handelsstandes in „nachahmenswertem Bürgersinne" bereit, mindestens 20 Zwänglinge durch sechs Jahre gegen einen festgesetzten Arbeitslohn zu beschäftigen, „einige arme Kinder" im Weben zu unterrichten u n d 150 Arme mit dem erforderlichen Spinnmaterial sowie mit Abnahmegarantien zu versehen. Eine Mischung aus Prestige· und Gewinnstreben bewog zur Übernahme gewisser Risken, wie „die Gefahr des Verlustes ... bei ungeschickten Anfängern". Mitunter verfügten die Anstalten sogar über verhältnismäßig moderne mechanische Einrichtungen. Das Zwangsarbeitshaus Linz konnte gegen eine Abgeltung die Walke im Zweigwerk Kleinmünchen der Linzer Wollzeugfabrik benützen. Darüber hinaus hatte die Verwaltung auf diesem Areal eine Kotzenfilzmaschine aufstellen lassen. Diese eigenmächtige Investition zog zwar eine Rüge der vorgesetzten Stellen nach sich, als die Hofkammer im Rahmen von Verkaufsverhandlungen des Werkgeländes die Schaffung eines Servituts zugunsten der Anstalt ablehnte (99). Die Anlage einer Mange (für die Lodenstampfe) u n d einer Lodenwalke in der Anstalt selbst wurden nachgesehen, da der Anstalt hieraus kein Schaden erwachsen war. Im Gegensatz zum 18. J a h r h u n d e r t gestatteten die vormärzlichen Institutionen auch die Ausübung handwerklicher Beschäftigungen. Die Wahlmöglichkeiten unterlagen jedoch vorerst starken Beschränkungen. In Wien und später auch in Schwaz war die Ausübung erlernter Berufe nur unter der Bedingung gestattet, daß die

Handwerkliche Beschäftigung

233

„Ordnung des Hauses" nicht gestört wurde, die Verwahrungskosten gedeckt waren u n d Verwandte oder Zuständigkeitsgemeinde für die erforderlichen Produktionsmittel aufkamen. Damit war eine Tätigkeit außerhalb des gängigen Fertigungsbetriebes praktisch ausgeschlossen. In Wien wich man Anfang der 1820er J a h r e von diesem Konzept ab u n d führte Schneiderei, Schusterei sowie Tischlerei ein. Als Grund dafür wurde doppeldeutig „wesentlicher N u t z e n " der Anstalt angegeben (100). Erst die Ordnung für Brünn bezog offiziell eine klare Stellungnahme. Sie wies 1841 mit aller Deutlichkeit darauf hin, daß der Einsatz der Insassen keineswegs primär von Rentabilitätserwägungen bestimmt werden sollte. Vielmehr war auf jene Tätigkeiten Rücksicht zu nehmen, welche den Resozialisierungszweck am wirkungsvollsten förderten. Aus diesem Grund hatte man Korbflechten, Tischler- und Papparbeiten ausdrücklich in das Reglement aufgenommen. Die Verrichtung qualifizierter Tätigkeiten bot sich überwiegend im Rahmen der sogenannten Hausarbeiten an. Für mannigfaltige Reparaturen und Herstellungen benötigte man laufend Schuster, Schneider, Maurer und andere ausgebildete Leute. Diese Beschäftigungen waren unter den Anstaltsinsassen äußerst begehrt. Sie unterlagen einer geringeren Kontrolle, schufen neue Kontakte, boten zusätzlichen Verdienst und befreiten von Monotonie und Leistungsdruck. Aus diesen Gründen hat man dazu ebenso wie zu Küchenund Reinigungsarbeiten stets nur vertrauenswürdige Zwangsarbeiter bestellt (101). Hinsichtlich der Bemessung des Arbeitsquantums der Insassen wurden der früheren Autonomie der Anstaltsleitung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schranken gesetzt. Die Innsbrucker Anstaltsordnung von 1769 hatte noch den Verwalter „nach vernünftigem Ermessen" bestimmen lassen, „in wieviel Zeit diese oder jene Arbeit bey Strafvermeidung gut und erforderlichermassen zu verrichten sey" (102). Im Vormärz hingegen wurde für jede der betriebenen Arbeitsgattungen ein festes, verbindliches „Pensum" ermittelt und durch Anschlag offiziell bekannt gemacht. Die Festsetzung dieses Plansolls war vom Verwalter nach dem Gutachten von Innungen oder Fabrikanten vorzunehmen und an die Genehmigung der Landesstelle gebunden. Formal handelte es sich dabei um jenes Leistungsniveau, das „von einem Menschen mit gewöhnlichen Kräften und Fleiße" erreicht werden konnte (103). Detaillierte

234

Das Anstaltsleben

Angaben über die Anforderungen sind lediglich für die Freiwillige Arbeitsanstalt und das Zwangsarbeitshaus Wien (Stand 1821) überliefert (104). Das hervorstechendste Positivum dieser Regelung bestand in der Ausschaltung von Zufälligkeiten und Willkürakten bei der Arbeitsbemessung. In Brünn hatte man ein tägliches Mindesterfordernis vorgeschrieben, „weil der Hauptzweck der Anstalt zunächst die Verbannung der Arbeitsscheue bleibt, welcher auf diese Art am besten entgegengewirkt wird". In anderen Anstalten wieder mußte das Pensum wöchentlich abgeliefert werden. Tägliche Leistungsschwankungen waren damit leicht auszugleichen. Grundsätzlich blieb aber das Arbeitsengagement in das Straf- und Privilegiensystem einer Zwangsarbeitsanstalt eingegliedert. J e d e r Arbeiter wurde „unnachsichtlich und selbst mit S t r a f e " zur Erfüllung des Pensums verhalten. Mehrarbeit hingegen belohnte man mit den sogenannten Überverdienstgeldern, welche die Finanzierung gewisser Haftvergünstigungen ermöglichten. Die Bestimmungen über die Quantifizierung und Honorierung der Arbeiten wurden in der Folge nicht nennenswert modifiziert. Das Pensum orientierte sich weiterhin an der mittleren Leistung eines gesunden, branchenkundigen Arbeiters und an den Gesundheitsverhältnissen des Zwangsarbeiters. Die Bemessung erfolgte überwiegend durch den Anstaltsleiter nach Einvernahme des Werkmeisters, in den böhmischen Anstalten durch die Hauskonferenz. Bei Beschäftigungen ohne fixes Arbeitsmaß wurden die Insassen nach Geschicklichkeit und Körperkraft in Arbeitsgruppen mit global definierten Kapazitäten eingeteilt (105). Diese Vorschriften rückten erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Blickfeld kritischer Betrachtung (106). Bei einer heterogenen Insassenstruktur war eine gleichmäßige Leistungsfähigkeit noch weniger zu erwarten als bei freier Lohnarbeit. Zudem erregte die o f t von pragmatischen Rücksichten bestimmte Einteilung bei den Zwangsarbeitern Widerwillen und Arbeitsunlust. Mehrere Anstaltsleiter plädierten daher für die Schaffung von legalen Möglichkeiten, von der Schablone zu individuellen Bemessungskriterien überzuwechseln. Die Alternative Regie- oder Unternehmensbetrieb beschäftigte die kompetenten Stellen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch. Aufgrund mehrerer bitterer Erfahrungen mußte man das Experiment einer verstärkten Mechanisierung von Arbeitsvorgängen in der

Ungünstige Auftragslage

235

Textilerzeugung als gescheitert betrachten. In Weinhaus gelang es nach zahlreichen Fehlschlägen erst über Vermittlung der Handelsund Gewerbekammer, den bekannten Fabriksbesitzer Leopold Abeles 1867 zur Aufstellung von 60 Regulatorwebstühlen für Baumwolle zu gewinnen. Die beschränkte Zahl voll arbeitsfähiger Zwangsarbeiter, die unerwartet langen Anlernfristen und das verhältnismäßig starke Fluktuieren der Insassen führten jedoch bald zur Auflösung des Vertrags. Nach dem Ratschlag von Experten hielt man daraufhin nur etwa zehn Webstühle für grobe Leinenarbeiten in Betrieb, worauf Produkte für den Hausbedarf sowie für Wohltätigkeitsanstalten des Landes hergestellt wurden. Klagen der Gebär- und Findelanstalt über gravierende Qualitätsmängel führten jedoch 1873 zum Entzug weiterer Aufträge (107). Aber auch in anderen Sparten gestaltete sich die Auftragslage äußerst mäßig. Die Anstaltsverwaltung von Weinhaus übernahm daher in bunter Reihenfolge Papier-, Buchdruck- und Buchbinderarbeiten, man stellte Rouleaux her, flocht Stroh- und Seegrasmatten, tischlerte Kisten, drechselte Stöcke für Regenschirme u.ä. Eine ständige Konkurrenz bildeten die Strafanstalten, welche die Arbeitskräfte zu weit niedrigeren Lohnsätzen anboten. Ertragreiche längerfristige Arrangements blieben aus. Selbst an Konjunkturaufschwüngen vermochte die Anstalt nur wenig Anteil zu nehmen. 1871, in einem Jahr großen Arbeitskräftemangels, mußten „seit einigen Wochen" beschäftigungslose Zwangsarbeiter mit dem Zuschneiden und Sortieren von Wollresten, also einer ausgesprochenen Verlegenheitsarbeit, beschäftigt werden. Hoffnungsvolle Ansätze zu einer offeneren Form des Vollzugs und zu lukrativeren Engagements erstickten im Keim. 1871/72 wurden Insassen, die sich aufgrund ihres Wohlverhaltens einen Vertrauensvorschuß erworben hatten, bei Wiener Bauunternehmungen als Maurer oder Taglöhner angestellt. Bei dem damaligen Bauboom in der Residenz lagen Nachfrage wie Löhne in dieser Branche auf einem hohen Niveau. Nach etwa einem Jahr aber mußte dieser Versuch wieder eingestellt werden, da trotz regelmäßiger Überwachung sich die Fälle von Alkoholmißbrauch und Flucht gehäuft hatten (108). Klagen von Gewerbetreibenden über die „unlautere Konkurrenz" der Tätigkeit von Zwangsarbeitern und Strafgefangenen reichen bis in die Frühzeit des Freiheitsstrafvollzugs zurück. Diese Vorwürfe wurden und werden noch gegenwärtig in zwei Richtungen hin präzisiert.

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Speisezettel und Zusatzkost Ende des 19. Jahrhunderts

277

durchzusetzen. Vor allem die Deutschnationalen konnten sich nicht genug gegen die „Theorien gewisser Schwärmer für Humanität" ereifern (247). Eine weitere Angleichung der Zwangsarbeiter an die Strafgefangenen verordnete das Justizministerium 1881, als es die Sonntagskost für beide Gruppen auf insgesamt 16 Feier- und Festtage ausdehnte (248). Die neuen Anstaltsordnungen der späten 1880er Jahre brachten im Hinblick auf die Verköstigung keine nennenswerten Änderungen. Manche Institutionen verzichteten auf die Vorlage detaillierter Speisepläne und flüchteten sich in Gemeinplätze: „Die Verpflegung ... soll in Quantität und Qualität genau jenem Maße entsprechen, welches zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitskraft unbedingt erforderlich ist" (249). Oder: „Die Speisen und das Brot müssen nicht nur von dem vorgeschriebenen Ausmaße sein, sondern auch aus Materialien von durchaus guter Qualität und auf eine reinliche und der Gesundheit zuträglichen Weise bereitet sein. Das Detail der täglichen Verpflegung modifizirt sich nach der Erfahrung und nach den Produkten des Jahres" (250). Inwieweit man daraus für den Zwängling positive Konsequenzen zog, muß offen bleiben. In Korneuburg hatte man ohne großen Einfallsreichtum einen täglich wechselnden Speisezettel aufgestellt. Jeder Zwangsarbeiter erhielt morgens die Tagesration Brot (840 Gramm) und 0,75 Liter Einbrennsuppe oder 70 Gramm Speck nach Wahl. Das Mittagessen umfaßte von Montag bis Sonntag je einen Liter folgender Gerichte: Abgeschmalzenen Hirsebrei; Eingebrannte Fisolen; Erdäpfelschmarrn; Saure Linsen oder abgeschmalzene Nudeln; Sauerkraut und Erdäpfel gemischt; Selchfleisch (140 Gramm), Sauerkraut oder einen Knödel (120 Gramm; 251). Als einzigen Vorteil könnte man allenfalls den Trend zu größerer Fettanreicherung der Speisen bezeichnen. Sonst aber hielten sich althergebrachte Nahrungsgewohnheiten (Hülsenfrüchte, Kraut), lediglich die Kartoffel hatte einen festen Platz auf der Speisekarte gefunden. Kaffee, Tee, Zucker, Fisch, Aufstriche, wie sie z.B. 1900 im Hamburger Armen- und Werkhaus gängig waren (252), fehlten völlig. Derartige Zubesserungen überließ man nach jahrhundertealter Tradition dem Leistungswillen der Anstaltsinsassen. Die Hausordnungen der 1880er Jahre waren aber im Gegensatz zu früher um eine verstärkte Normierung dieser aus dem Überverdienst finanzierten Nebengenüsse bemüht. So betrug z.B. in der Männeranstalt

278

Das Anstaltslcben

Korneuburg die maximale Tagesration 560 Gramm Weißbrot, 50 Gramm Butter oder Speck, 100 Gramm Käse, 40 Gramm geschnittenen Tabak sowie (mit spezieller Erlaubnis der Verwaltung) 0,35 Liter Wein oder 0,7 Liter Bier (253). In der Frauenanstalt Schwaz lagen die Höchstsätze bei täglich 50 Gramm Speck, 0,25 Liter Milch, 0,25 Liter Wein oder 0,50 Liter Bier (254). Neben dem Alkohol (für die große Zahl von Trinkern ein gewisses Stimulans) war es vor allem fett- und vitaminreiche Nahrung, gelegentlich auch Obst und Eier, welche in Anlehnung an regionale Nahrungsgewohnheiten das Auftreten von Mangelerscheinungen unterbinden sollten (255). Man wird die quantitative Bedeutung dieser Nebengenüsse allerdings nicht überschätzen dürfen. Die dafür zu verausgabenden Höchstsummen schwankten nämlich zwischen bloß 15 kr. (Schwaz) und 70 kr. (Korneuburg) pro Woche. Ein Vergleich mit den Kleinhandelspreisen zeigt, daß diese Beträge nur den Ankauf kleiner Mengen von Lebens- und Genußmitteln ermöglichten (256). Die Mahlzeiten besaßen innerhalb der geschlossenen Anstalten stets besonderen Stellenwert, wenngleich bei der Massenabspeisung mit wahrscheinlich wenig liebevoll zubereiteten Gerichten und angesichts der Schweigepflicht nichts von dem in Freiheit üblichen Tischzeremoniell aufkommen konnte. Die Unterbrechungen, welche die Essenszeiten im monotonen Tagesrhythmus bildeten, boten allein genug Anlaß, sie herbeizusehnen. Diese bescheidenen Abwechslungen ließen die Zwangsarbeiter auch an allen mit der Ernährung verbundenen Begünstigungen festhalten. In Weinhaus erregte die Einschränkung der Ausgaben fiir Nebengenüsse 1876 heftige Entrüstung mit Arbeitsverweigerungen und anderen Ausschreitungen. Der Widerstand wurde durch „stramme Handhabung der Disziplin" (und zwar unter Einsatz von Militär) gebrochen (257). Dasselbe geschah 1898 bei einer Revolte von Korneuburger Zwangsarbeitern, welche ihre sonntägliche Arbeit in der Dampfwäscherei mit 2 1/2 Litern Bier abgegolten sehen wollten (258). Mehr Erfolg hatte die „drohende Haltung" der Brünner Außenarbeiter gegen Direktor und Wache, als sie die nur in den Wintermonaten ausgegebene Frühsuppe an einem kalten Apriltag nicht mehr erhielten. Ihr Ansinnen wurde bei aller Verurteilung des Verhaltens gewürdigt; nach einem Ubergangsstadium gelangte ab 1894 täglich eine Morgensuppe zur Ausgabe (259).

Krankenbetreuung

279

Inwiefern Änderungen in der Küchenorganisation Rückwirkungen auf die Speisenqualität besaßen, muß offen bleiben. Die Einführung der Eigenregie in Mähren (1889) verfolgte jedenfalls ein doppeltes Ziel: Beschaffung einer zufriedenstellenden Kost und Senkung des erforderlichen Aufwandes. Durch Engros-Einkäufe, geklügelte Sparmaßnahmen, Anstellung eines kontrollierbaren und weisungsgebundenen Küchenpersonals sowie durch den Arbeitseinsatz von Anstaltsinsassen versuchte man diese Absichten zu realisieren. Tatsächlich konnte man schon im ersten Betriebsjahr beträchtliche Einsparungen gegenüber dem System der Verpachtung verzeichnen (260). Die Eigenregie hat in den einzelnen Ländern aber unterschiedliche Beurteilung erfahren. Bedenken wegen Lokkerung der Disziplin, wegen Komplikationen bei der Verrechnung und wegen etwaiger Pflichtenkollisionen des Personals motivierten z.B. den Steirischen Landesausschuß zu einer ablehnenden Stellungnahme (261). In der Diskussion um die Zulassung von Genußmitteln hatten die Theoretiker der Strafrechtspflege unterschiedliche Positionen bezogen (262). Während zahlreiche deutsche Fachleute sich entschieden gegen die Abgabe von Tabak und Alkohol aussprachen, hatten österreichische Strafrechtler die Einführung dieser Begünstigung befürwortet. Bei der Realisierung dieser Anregungen gingen die böhmischen Anstalten beispielgebend voran. Die Reformen liefen in erster Linie darauf hinaus, menschenwürdigere Formen des Vollzugs zu schaffen. Daß durch Zufriedenheit mit der Verköstigung und durch gewisse kleine Freizügigkeiten der Ausbreitung von Unruheherden vorgebeugt wurde, bildete eine durchaus erwünschte Nebenwirkung.

9.4.4. Krankenpflege Die Krankenbetreuung in den österreichischen Zucht- und Arbeitshäusern wies in ihrem Organisationsaufbau vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert hochgradige Ubereinstimmung auf (263). Die medizinische Aufsicht lag je nach Größe der Anstalt bei einem eigenen Anstaltsarzt und / oder Wundarzt bzw. einem auf Vertragsbasis arbeitenden Medicus aus der Umgebung. Verschiedentlich

280

Das Anstaltsleben

stand auch eine eigene Hebamme zur Verfügung. Die Behandlung sowie die Abgabe der erforderlichen Heilbehelfe erfolgten grundsätzlich kostenlos. Zur ambulanten Versorgung waren regelmäßige tägliche Visiten, beim Auftreten akuter Fälle außerordentliche Konsultationen vereinbart. Die stationäre Betreuung erfolgte in nach dem jeweiligen Mindeststandard eingerichteten Krankenzimmern. Freiwillige Insassen übernahmen die Pflegerdienste. Bei Anzeichen von schweren oder infektiösen Erkrankungen beschränkte man sich vorerst auf eine Absonderung der Pfleglinge. Mit zunehmendem Ausbau der öffentlichen Krankenanstalten wurde die Einweisung in das nächstgelegene Spital verfügt. Namentlich im 18. Jahrhundert, als sich das staatliche Gesundheitswesen erst im Aufbau befand (264), bildete die regelmäßige ärztliche Versorgung im Bedarfsfall einen ganz wesentlichen Vorteil gegenüber den oft tristen sanitären Verhältnissen im ländlichen wie städtischen Bereich. Ständige Kontrolle und Pflege des Gesundheitszustandes dienten nicht nur der Vorbeugung von Massenerkrankungen; sie entsprachen vielmehr auch den arbeite- und bevölkerungspolitischen Grundsätzen merkantilistischer Ideen. Die Bemühungen um Formung arbeitswilliger Menschen mußten auch von gewissen Investitionen in die Erhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit begleitet sein. Man wird allerdings die tatsächliche Wirkung der Krankenpflege nicht überschätzen dürfen. Uber Qualität von Behandlung und therapeutischen Mitteln sind wir nicht unterrichtet. Eine Grenze setzten jedenfalls die oft haarsträubenden sanitären Verhältnisse in den Zucht- und Arbeitshäusern. „Mit wahrem Abscheu" tadelte Kaiser Franz anläßlich eines Besuches „den unordentlichen, fehler- und ekelhaften Zustand" der Prager Anstalten (265). Diese Klage über Raummangel, ungesunde Zimmer u.a.m. dürfte keinen Einzelfall dargestellt haben. Im Arbeitshaus Preßburg stieß die Krankenabteilung unmittelbar an den Arbeitssaal, wobei starke Lärm- und Schmutzbelästigung registriert wurde. An ärztlicher Betreuung fehlte es selbst bei akuten Fällen; erholte sich der oder die Betreffende nicht binnen kurzer Zeit, schaltete man erst das städtische Lazarett ein (266). Obwohl sich die Behörden auch bei anderen Anstalten vielfach nur mit Provisorien und unzureichenden Maßnahmen behalfen, scheint die Krankenpflege dennoch etwas günstiger zu beurteilen sein als jene in den meisten preußischen Zuchthäusern (267).

Ausbau der Pflegeeinrichtungen

281

Seit dem Vormärz wurden im Bereich „Gesundheit" deutliche Verbesserungen vorgenommen. Dafür sprechen die nunmehr ausführlichen Arztinstruktionen sowie zusätzliche Kontrollaufträge an die Verwaltung. Im Zuge von Anstaltsneubauten fand auch der medizinische Sektor adäquate Berücksichtigung. Der Krankentrakt des Zwangsarbeitshauses Prag, errichtet 1833, verfügte über hinreichend dimensionierte Zimmer und die wichtigsten Behandlungsbehelfe. Aufgrund dieser vergleichsweise großzügigen Ausstattung hoben medizinische Topographien diese Abteilung als Vorbild auch für Strafgefangenenhäuser hervor, die in der gesamten Organisation der Krankenbetreuung nahezu gleiche Wege gingen (268). Parallel zum Ausbau der Pflegeeinrichtungen lief ein verschärftes Vorgehen der Anstaltsordnungen gegen Simulanten. Gelungene Täuschungsmanöver lohnten gewiß das Risiko; bedeutete doch die stationäre Behandlung nicht nur Arbeitsfreistellung, sondern auch die Verabreichung einer besseren Krankenkost, worunter weichgekochte Eier, Weinsuppe und eingemachtes Fleisch fielen - also durchaus erstrebenswerte Leckerbissen. Daß deshalb bei den Untersuchungen ein strenges Regiment herrschte, deuten Anweisungen für die Wahrung von „Menschlichkeit und Sorgfalt" an (269). Für die interne Ausgestaltung der Krankenbetreuung, welche sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fortsetzte, waren aber nicht nur medizinischer Fortschritt oder humanitäre Erwägungen maßgeblich. In Weinhaus führte man entgegen den Bestimmungen des Anstaltsstatuts auch die Behandlung Schwerkranker in der Anstalt durch, da sich der Aufwand niedriger gestaltete als die Verpflegstaxe im Wiener Allgemeinen Krankenhaus und man zudem die Qualitäten des Hausarztes überaus schätzte (270). Denselben Effekt hatten auch Bedenken und Interventionen wegen erhöhter Ansteckungsgefahr bei Transporten, wie sie örtliche Gemeindeorgane wiederholt vorbrachten. Das Zwangsarbeitshaus Korneuburg erhielt daher 1887 eine eigene Abteilung für Schwer- und Infektionskranke innerhalb des Krankengebäudes. Ähnliche Vorkehrungen waren auch in der Frauenanstalt Schwaz getroffen worden (271). Es ist bereits in Zusammenhang mit der Analyse über die Insassen von Zwangsarbeitshäusern darauf hingewiesen worden, daß oft Personen mit schweren körperlichen Schäden in die Anstalt eingewiesen wurden. Auch die Altersstruktur wird zu starken Schwankungen in der Häufigkeit der Krankmeldungen beigetragen

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Das Anstaltsleben

haben. Dazu kamen noch regionale Abweichungen, die aus der Abweisung physisch ungeeigneter Personen bzw. aus der strikten Einhaltung der geltenden Hygienevorschriften zu erklären sind. Für die Frühzeit der Anstalten sowie für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sind jedoch keine verläßlichen Daten überliefert. Erste genauere, mitunter aber nur punktuelle statistische Erhebungen über die Morbilitätsquote stellten Landesausschüsse bzw. städtische Ämter auf. Besonders gründliche Informationen haben das Wiener Statistische Büro bzw. das Wiener Stadtphysikat für die Freiwillige Beschäftigungsanstalt erhoben. Im Jahresdurchschnitt 1863-1872 betrug die Zahl der Krankenfälle nur 9,5 % der Aufnahmezahlen. Obwohl die Anstalt „von den ärmsten, den Entbehrungen am meisten ausgesetzten Individuen frequentiert" wurde, hat man dieses Ergebnis überaus positiv eingeschätzt u n d auf den niedrigen Altersschnitt sowie auf das rasche Fluktuieren der Insassen zurückgeführt (272). Bis 1882 stiegen die Werte allerdings auf 13,5 % an. Die offiziellen Stellen interpretierten diese Zunahme als Resultat verschiedener restriktiver Bestimmungen (Einschränkung des sonntäglichen Ausgangs, Erhöhung des Arbeitspensums), welche jüngere, arbeitsunwillige Kräfte die Anstalt meiden ließen. Damit wuchs aber auch absolut wie relativ der Anteil physisch Defekter, für welche die Anstalt nur eine „Zwischenstation auf dem Weg zu Krankenhaus und T o d " darstellte (273). Vergleichbare Angaben für sämtliche österreichische Zwangsarbeitsanstalten sind erst aus dem J a h r 1897 überliefert (274). Ihnen zufolge erkrankte rund ein Drittel aller Insassen (35,3 % der Männer, 31,1 % der Frauen). Die Zahl der Krankheitstage lag mit durchschnittlich 2,6 % der Verpflegstage bei Männern bzw. 3,2 % bei Frauen ziemlich niedrig. Die Extreme betrugen 0,4 % (Prag) u n d 7 , 4 % (Znaim). Auch die Mortalität konnte im Verlauf des 19. Jahrhunderts wesentlich gesenkt werden. Bei der Wiener Freiwilligen Arbeitsänstalt lag die Sterblichkeit stets nur knapp über 1 %, bei den Zwangsarbeitshäusern meist geringfügig unter 3 % der Insassengesamtzahl (275). Bei auffallend hohen Ziffern wurden sofortige Gegenmaßnahmen getroffen. In Lankowitz z.B. starben zwischen 1855 u n d 1860 rund 40 % der Zwangsarbeiterinnen, ein großer Teil davon erst im zweiten Haftjahr (276). Der Landesausschuß unternahm daher rasche Schritte gegen „die verderblichen physischen

Bemessung der Freiheitsstrafen

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Einwirkungen der Correctionsanstalt". Global wird man jedoch diese niedrigen Sterblichkeitsquoten nicht nur als Fortschritte der ärztlichen Betreuung bewerten dürfen. Rund 10 % aller 1897 in der offiziellen Statistik unter „Ausgetretene" geführten Personen wurden nämlich an Kranken-, Irren-, Siechenhäuser oder örtliche Versorgungsanstalten überstellt (277). Das kalkulierbare Potential von Todeskandidaten war dadurch ausgeschieden und anderen Betreuungseinrichtungen zugewiesen.

9.5. Anhaltefristen

und Entlassung

Mit der Verhängung eines Freiheitsentzugs in Zucht- und Arbeitshäusern trat ein neues Strafmittel neben die überkommenen peinlichen Strafen bzw. Geldbußen. Unschädlichmachung des Täters, moralische Vergeltung und generalpräventive Abschreckung bildeten unveränderte Grundsätze dieser Vollzugsform. Während andere opera publica, wie Festungsbau oder Galeeren, eine bestimmte Art körperlicher Peinigung in Verbindung mit öffentlichem Nutzen anstrebten, verfolgten die jungen Anstalten eine grundlegend neue Intention: Die Resozialisierung der Gefangenen mittels Arbeitstherapie. Aus diesem Grund bildete die Abstimmung zwischen Entlassung und klar ersichtlicher Besserung von allem Anfang an ein zentrales Anliegen der Anstaltsträger (278). Bei der Bemessung der Freiheitsstrafen gingen die einzelnen europäischen Territorien verschiedene Wege. Die Zuchthausordnungen mehrerer deutscher Städte - Bremen (1609), Hamburg (1622), Danzig (1639) - machten die Dauer der Detention von der Anpassung der Marginalen abhängig. Andere Prinzipien gelangten in Amsterdam zur Anwendung. Ein Erlaß von 1614 terminisierte die Anhaltung von Betüern und Vagabunden nach der Rückfallshäufigkeit und nach der Art des Vergehens (279). Auf dieses Vorbild griff etwa ein Jahrhundert später die Niederösterreichische Regierung zurück. Ein Dekret vom 14. Mai 1706 verurteilte die Schwächeren und die Frauen unter den „unwürdigen Bettlern" im ersten Betretungsfall zu sechs Wochen, das zweite Mal zu drei Monaten Haft, das dritte Mal zu lebenslanger Abgabe in das Zuchthaus Wien - wobei letztere Sanktion zweifellos verstärkte Abschreckungsziele verfolgte. Wenn Personen aufgrund gerichtlicher Urteile eingeliefert

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Das Anstaltsleben

wurden, erstreckte sich die Anhaltefrist, sofern eine solche überhaupt festgelegt war, über mehrere Jahre. Es kann jeweils eine Anpassung an die Schwere des Verbrechens angenommen werden (280). Das Fehlen eines festen Strafrahmens und Abweichungen von den Aufsichts- und Kontrollpflichten führten jedoch häufig zu einer beträchtlichen Überschreitung der Detentionsfristen. 1725 kam der Niederösterreichischen Regierung zur Kenntnis, „daß gar vielle Persohnen ohne bestimbte straff-Zeit allein Biß auf weithere Verordnung in das Zucht-Hauß verschaffet, nachmahlen aber auf dergleichen Leuth öffters vergessen w o r d e n " sei (281). Man veranlaßte daher die Superintendenten zu einer Verstärkung ihrer Revisionstätigkeit u n d versuchte gleichzeitig die tatsächliche Haftdauer nach vorhandenen Zeichen der Besserung, nach dem Grad von Integration und Unterwerfung auszurichten (282). Bei den späteren österreichischen Zuchthausgründungen folgten die Regierungsstellen hinsichtlich der Entlassung keinen einheitlichen Richtlinien. Die Pläne für das Zuchthaus Olmütz sahen, abgestuft nach der Häufigkeit der Einweisungen (ein-, zweimal oder öfter) eine Anhaltungszeit von zwei oder drei Monaten bzw. zwischen einem halben u n d einem ganzen J a h r vor (283). Ein höchst differenziertes Strafmaß, das recht deutlich die damalige Einschätzung der Schwere von Vergehen erkennen läßt, wurde für die Anstalt Troppau ausgearbeitet. Unbändige Dienstboten hielt man durch maximal 14 Tage fest, die auf Antrag von Grundobrigkeiten eingewiesenen Untertanen ein bis zwei Monate, Müßiggänger und Bettler zwei Monate, Dirnen („liederlichen Lebenswandel u n d Umgang mit Soldaten pflegende Weiber") drei Monate; Handwerksburschen, die unter dem Vorwand der Arbeitssuche bettelten, mußten im Zuchtu n d Arbeitshaus das nötige Reisegeld verdienen (284). Größeren Abschreckungseffekt bezweckten die weit härteren Strafen in der Anstalt Graz-Karlau. Sie betrugen für Vaganten ein halbes J a h r , für alle anderen nicht kriminellen Delikte ein J a h r , in Wiederholungsfällen einheitlich zwei J a h r e (285). Für eine wachsende Verschärfung der Strafandrohungen, welche in Zusammenhang mit dem offensichtlichen Scheitern der Bettelbekämpfung zu sehen ist, spricht auch die Tatsache, daß sich die sonst sehr ausführliche Innsbrucker Zuchthausordnung von 1769 jeder Angaben über die Detentionsdauer enthielt und eine „einräthliche Strafzeit" für sämt-

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liehe nicht unter das Strafgesetz fallenden Verstöße den Vorschlägen der Grundgerichte überließ (286). Die Lage der enüassenen Zucht- und Arbeitshäusler erwies sich schon im 18. Jahrhundert als recht trist. Das Wiener Zuchthausprivileg von 1671 hatte zwar ein dem Umfang nach nicht näher definiertes Startkapital für Entlassene aus den Mitteln freiwilliger Spenden in Aussicht gestellt. Spätere Dekrete haben an diesen Leistungen ausdrücklich festgehalten (287). Ob diese Vorschriften auch tatsächlich eingehalten wurden, muß offen bleiben; in späteren Anstaltsordnungen fehlen sie jedenfalls. Es ist jedoch eher anzunehmen, daß die Freigelassenen, auf Almosen angewiesen, per Schub wieder in die Heimat zurückbefördert wurden. Zahlreiche landesfürstliche Mandate gaben den Zünften textilverarbeitender Gewerbe den Auftrag, entlassene Zucht- und Arbeitshäusler aufzudingen (288). Die stereotype Wiederholung dieser Verordnungen läßt es jedoch als sehr fraglich erscheinen, daß diesen Leuten tatsächlich eine neue Chance gegeben wurde. Die verstärkten Präventivfunktionen der vormärzlichen Zwangsarbeitshäuser wurden vordergründig mit Besserungsintentionen getarnt, wobei die Zentralbehörden wieder auf Organisationsprinzipien des 17. Jahrhunderts zurückgriffen: „Da Besserung der einzige Zweck ist, weswegen J e m a n d in die Anstalt aufgenommen wird, so hat diese Aufnahme für keine bestimmte Zeit, sondern ... auf unbestimmte Zeit und bis das aufgenommene Individuum überzeugende Beweise seiner Besserung gegeben hat, zu geschehen" (289). Zur Beurteilung der Einzelfälle verfügten die Anstaltsverwaltungen über einen ziemlich übereinstimmenden Kriterienkatalog. Ein zur Entlassung vorgemerkter Arbeiter mußte in die erste Qualifikationsgruppe vorgerückt sein und sich hier durch einige Zeit bewährt haben. Voraussetzung für diese Einstufung bildete ein Zeugnis des Seelsorgers, daß der Betreffende in religiösen Belangen u n d in moralischer Hinsicht ausreichend unterwiesen worden sei und größte Bereitschaft zur Erfüllung aller Ratschläge gezeigt habe. Anhand des Strafprotokolls war zu überprüfen, ob kurz zurückliegende Verstöße gegen die Hausordnung auf „Bösartigkeit des Charakters oder Arbeitsscheu" schließen ließen. J e d e Beanstandung zog einen Aufschub der Entlassung nach sich, der in Schwaz für kleinere Vergehen mit drei, für schwerwiegendere mit sechs Monaten bemessen war. Überdies sollte für jeden Entlassenen ein Arbeitsplatz gesichert

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Das Anstaltsleben

sein - eine Bedingung, die sich in der Praxis o f t als unrealisierbar erwies u n d deren Einhaltung daher nicht obligatorisch war. Die formellen Beschlüsse über die Freilassungen erfolgten in den monatlichen Sitzungen der Haupt- oder Hauskommission. Der Möglichkeit, daß einer der Anstaltsinsassen infolge von Schikanen der Verwaltungsorgane über Gebühr angehalten wurde, waren nur vereinzelt Grenzen gesetzt. Lediglich in Brünn hatte der zuständige Gubernialkommissar vierteljährlich außerordentliche Revisionen wegen etwa unberücksichtigter Entlassungen vorzunehmen. Im Rahmen des Entlassungsverfahrens dürfte dem Gutachten des Seelsorgers entscheidende Bedeutung zugekommen sein. Die Instruktion für den Wiener Anstaltsgeistlichen enthielt nämlich die vergleichsweise ausführlichsten Anleitungen. Vor allzu langer Haft wie vor übereilter Entlassung wurde gleichermaßen gewarnt: „Der richtige Zeitpunkt ... ist der, wenn gründliche Überzeugung von der Würde der Tugend, u n d einige Festigkeit der Grundsätze, welche sie gegen Leichtsinn und Liederlichkeit zu kämpfen in den Stande setzen, dann einige Gewöhnung auf sich ernstlich wachsam zu seyn, vorhanden seyn w i r d " (290). Die tatsächlichen Anhaltefristen aber zeigen einmal mehr die tiefe Kluft zwischen theoretischen Leitgedanken u n d Praxis (291). In Linz blieben die Notionierten anfangs meist ein J a h r oder noch länger in der Anstalt. Die Verwaltung begründete dieses Vorgehen mit mehreren Argumenten. Zur Wahrung des Abschreckungscharakters der Zwangsarbeitsanstalt galt eine längere Detentionszeit als unumgänglich. Außerdem schien eine halbwegs solide berufliche Ausbildung innerhalb eines kurzen Zeitraums ebensowenig möglich wie die notfalls gewaltsame Disziplinierung der Insassen: „Besonders schlechte Erziehung oder Gewohnheit u n d mehr als gewöhnliche Hartnäckigkeit können nur in längerer Zeit gebrochen werden ...". Diesen Überlegungen, welche für eine rasche Verinnerlichung der offiziellen Anstaltsziele beim Personal zeugen, konnten sich auch die übergeordneten Instanzen nicht verschließen. Dennoch sparten Hofkanzlei u n d Oberösterreichische Regierung nicht mit dem Tadel, die Verwaltung habe den Besserungszweck in „allzu strengem, buchstäblichem Sinne" verfolgt. Sie gaben den Auftrag, den Insassenstand umgehend auf eine „angemessene Zahl" zu reduzieren. Als Richtlinie sollte das Schema des Wiener Zwangsarbeitshauses dienen, welches die Haftdauer nach der Häufigkeit der Anhaltungen abstufte.

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