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German Pages 391 [393] Year 2016
Kriminalität, Justiz und Sanktionen Criminalité, Justice et Sanctions Criminalità, Giustizia e Sanzioni Crime, Justice and Sanctions
Andrea Baechtold Jonas Weber Ueli Hostettler Strafvollzug
KJS CJS CGS CJS
Band 17
Kriminalität, Justiz und Sanktionen Criminalité, Justice et Sanctions Criminalità, Giustizia e Sanzioni Crime, Justice and Sanctions
KJS CJS CGS CJS
Band 17
Gegründet von / Fondée par Nicolas Queloz Professor an der Universität Freiburg Professeur à l’Université de Fribourg Franz Riklin em. Professor an der Universität Freiburg Professeur émérite à l’Université de Fribourg Philippe de Sinner Ehemaliger Direktor SAZ Ancien Directeur du CSFPP
Herausgegeben von / Editée par Nicolas Queloz Professor an der Universität Freiburg Professeur à l’Université de Fribourg Franz Riklin em. Professor an der Universität Freiburg Professeur émérite à l’Université de Fribourg Thomas Noll Direktor des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal in Freiburg Directeur de Centre suisse de formation pour le personnel pénitentiaire à Fribourg
Stämpfli Verlag AG 2016
Andrea Baechtold Jonas Weber Ueli Hostettler
Strafvollzug Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen in der Schweiz
Dritte, neu bearbeitete und aktualisierte Auflage
Stämpfli Verlag AG Bern · 2016 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, der Verbreitung und der Übersetzung. Das Werk oder Teile davon dürfen ausser in den gesetzlich vorgesehenen Fällen ohne schriftliche Genehmigung des Verlags weder in irgendeiner Form reproduziert (z. B. fotokopiert) noch elektronisch gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© Stämpfli Verlag AG Bern · 2016 Gesamtherstellung: Stämpfli Publikationen AG, Bern Printed in Switzerland ISBN 3-7272-7204-X
Vorwort I. Das 2005 erstmals erschienene Lehrbuch ist 2008 in einer französischsprachigen, aktualisierten Version (Exécution des peines. L’exécution des peines et mesures concernant les adultes en Suisse. Bern 2008) und 2009 in einer zweiten, grundlegend überarbeiteten deutschensprachigen Auflage veröffentlicht worden. Bei der nun vorliegenden dritten Auflage der deutschsprachigen Ausgabe handelt es sich um eine Aktualisierung der zweiten Auflage. Die dritte Auflage berücksichtigt die zwischenzeitlich erfolgten Gesetzesänderungen auf Bundesebene, auf der Ebene der Strafvollzugskonkordate sowie im kantonalen Recht sowie die neue Rechtsprechung des Bundesgerichts. Des Weiteren sind die Literaturhinweise und die statistischen Angaben à jour geführt worden. Die Vollzugswirklichkeit hat in den vergangenen sechs Jahren ebenfalls etliche Änderungen erfahren. Diese wurden bestmöglich erfasst und nachgetragen. Die Aktualisierung ist im Dezember 2015 abgeschlossen worden. Wiederum werden in Form von Kästchen Einblicke in (historische) Quellen und in Institutionen gewährt, Übersichten zur Gesetzgebung, zu Statistiken, zur Literatur und neu auch zu Forschungsprojekten geboten und einzelne Themen, welche im Lehrbuch nicht vertieft dargestellt werden, kurz angetippt. Insgesamt möchte das Lehrbuch dem Anspruch genügen, sowohl die Rechtslage als auch die Vollzugswirklichkeit im Straf- und Massnahmenvollzug der Schweiz im Überblick abzubilden. Das Buch versteht sich dabei einerseits als vorlesungsbegleitendes Lehrmittel für den Unterricht am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal (SAZ), an Universitäten und Fachhochschulen. Andererseits möchte das Buch auch weiteren am Thema interessierten Leserinnen und Lesern einen interdisziplinären Überblick über den schweizerischen Straf- und Massnahmenvollzug vermitteln. II. In formaler Hinsicht sei wiederum darauf verwiesen, dass der Text im Interesse einer leserfreundlichen Darstellung normalerweise ausschliesslich die männliche Form verwendet. Diesem Interessen entspricht auch der Verzicht auf Fussnoten bzw. auf die Angabe von
V
Belegstellen innerhalb des Textes. An die Stelle dieser Hinweise treten die bereits erwähnten Literaturkästchen, welche die dem Text zugrunde liegende sowie vertiefende Literatur und weitere Quellen enthalten. III. Unser erster Dank geht an die beiden wissenschaftlichen Assistentinnen, Sara Grädel MLaw und Elvira Gmünder MLaw, welche die grosse Aufgabe, die aktuelle Literatur und Rechtsprechung zusammenzutragen und einzuflechten, mit Bravour gemeistert haben und darüber hinaus zahlreiche wertvolle Überarbeitungsvorschläge eingebracht haben. Des Weiteren möchten wir Prof. Dr. Ineke Pruin für die kritische Durchsicht des Manuskriptes danken. Ein besonderer Dank gebührt sodann den Vollzugsbehörden und Anstaltsleitungen sowie Daniel Laubscher vom Bundesamt für Statistik. Alle haben auf unzählige Nachfragen stets wohlwollend und engagiert geantwortet und damit die Nachführung des Lehrbuchs überhaupt erst ermöglicht. Last but not least danken wir dem Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal (SAZ), welches die Veröffentlichung dieser dritten Auflage grosszügig fördert, wobei das Lehrbuch selbstverständlich ausschliesslich die Meinung der Autoren wieder gibt. IV. Die dritte Auflage ist von einem Autorentrio realisiert worden. Zu Andrea Baechtold sind Jonas Weber (Strafrecht und Kriminologie) und Ueli Hostettler (Sozialanthropologie) hinzugetreten. So wird es möglich sein, den interdisziplinären Charakter des Lehrbuchs auch für weitere Auflagen sicherzustellen und das Lehrbuch weiterhin im Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern zu verankern.
Bern, Januar 2016
VI
Andrea Baechtold Jonas Weber Ueli Hostettler
Inhaltsverzeichnis Seite
Vorwort .............................................................................................. Inhaltsverzeichnis .................................................................................. Verzeichnis der Ergänzungstexte ........................................................... Abkürzungsverzeichnis ..........................................................................
V VII XIII XIX
Teil I: Einführung 1.
Strafrecht, Strafe, Strafvollzug ..................................................
3
2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs ................... 2.1 Einleitung ................................................................................. 2.2 «Strafrechtliche» Interventionen von der vorstaatlichen Zeit bis ins Mittelalter ..................................................................... 2.3 Vorbilder des strafrechtlichen Freiheitsentzugs ....................... 2.4 Vorläufer der Freiheitsstrafe in der Neuzeit ............................. 2.5 Die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe im 18. und 19. Jahrhundert......................................................................... 2.6 Die Gefängnisreformen in der Schweiz im 19. Jahrhundert ... 2.7 Die Entwicklung der Freiheitsstrafe im 20. Jahrhundert ..........
8 8
3. Pönologische Festlegungen ......................................................... 3.1 Ausgangslage ........................................................................... 3.2 Allgemeine Grundsätze im Vollzug der Freiheitsstrafe ........... 3.2.1 Der Vollzugsauftrag ..................................................... 3.2.2 Der Sicherheitsauftrag .................................................. 3.2.3 Die Gewährleistung der Rechtmässigkeit des Vollzugs 3.2.4 Die Normalisierung des Vollzugsalltags ...................... 3.2.5 Die Wahrnehmung der besonderen Fürsorgepflicht ..... 3.2.6 Kriminalitätsverhütung durch Einwirkung auf die Strafgefangenen ............................................................ 3.2.7 Die Förderung von Leistungen zur Wiedergutmachung 3.3 Konflikte bei der Umsetzung der Vollzugsgrundsätze ............ 3.4 Ausschluss generalpräventiver Zielsetzungen .........................
9 12 13 16 19 20 26 26 26 26 28 29 30 31 32 36 37 38
VII
Inhaltsverzeichnis 4.
Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse zu denWirkungen der Freiheitsstrafe ....................................................................... 4.1 Ausgangslage ........................................................................... 4.2 Stand der Wirkungsforschung ..................................................
40 40 44
5. Begriffserläuterungen und Abgrenzungen................................ 5.1 Begriffserläuterungen .............................................................. 5.2 Abgrenzungen ..........................................................................
49 49 50
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 1. Rechtsgrundlagen ........................................................................ 1.1 Ausgangslage ........................................................................... 1.2 Bundesrechtliche Grundlagen .................................................. 1.3 Kantonale Rechtsgrundlagen ................................................... 1.4 Völkerrechtliche Grundlagen ...................................................
57 57 57 58 61
2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs ......................... 2.1 Bund und Kantone ................................................................... 2.2 Strafvollzugskonkordate .......................................................... 2.3 Vollstreckungs- und Vollzugsorgane ....................................... 2.4 Private Vollzugsträger ............................................................. 2.5 Das Vollzugspersonal und seine Aus- und Fortbildung .......... 2.6 Organe zur Kontrolle des Vollzugs ..........................................
64 64 66 69 72 76 81
3. Das Strafensystem ....................................................................... 3.1 Strafarten.................................................................................. 3.2 Ordentliche Freiheitsstrafen ..................................................... 3.3 Kurze Freiheitsstrafen .............................................................. 3.4 Lebenslange Freiheitsstrafen.................................................... 3.5 Strafbefreiung .......................................................................... 3.5.1 Der Sinn der Strafbefreiung .......................................... 3.5.2 Strafbefreiung bei fehlendem Strafbedürfnis ................ 3.5.3 Strafbefreiung bei erfolgten Wiedergutmachungsleistungen ...................................................................... 3.5.4 Strafbefreiung bei Betroffenheit des Täters durch die Tatfolgen.......................................................................
85 85 89 89 90 91 91 92
VIII
93 94
Inhaltsverzeichnis 4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen .................... 4.1 Anordnung des Vollzugs .......................................................... 4.2 Vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug ............................ 4.3 Unterbrechung des Vollzugs .................................................... 4.4 Übernahme des Vollzugs durch einen anderen Kanton .......... 4.5 Abtretung des Vollzugs an einen anderen Staat ....................... 4.6 Strafaufhebung ......................................................................... 4.7 Die Tragung der Vollzugskosten .............................................
95 95 96 99 102 102 106 108
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug ........................................... 5.1 Die Einheitsfreiheitsstrafe ........................................................ 5.2 Allgemeine Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen . 5.3 Anstaltstypen ........................................................................... 5.4 Vollzugsformen ....................................................................... 5.4.1 Normalvollzug .............................................................. 5.4.2 Arbeitsexternat.............................................................. 5.4.3 Wohn- und Arbeitsexternat ........................................... 5.4.4 Einzelhaft ...................................................................... 5.4.5 Halbgefangenschaft ...................................................... 5.4.6 Tageweiser Vollzug ...................................................... 5.4.7 Abweichende Vollzugsformen ..................................... 5.4.8 Electronic Monitoring ................................................... 5.4.9 Versuchsweise Einführung neuer Vollzugsformen....... 5.4.10 Vollzugsformen nach kantonalem Recht ...................... 5.5 Planung und Individualisierung des Vollzugs .......................... 5.6 Zusammenfassend: Die Differenzierung des Vollzugs der Freiheitsstrafe ........................................................................... 5.7 Materielle Haftbedingungen .................................................... 5.8 Arbeit ....................................................................................... 5.9 Arbeitsentgelt ........................................................................... 5.10 Beziehungen zur Aussenwelt ................................................... 5.10.1 Briefverkehr .................................................................. 5.10.2 Empfang von Paketen ................................................... 5.10.3 Besuche......................................................................... 5.10.4 Veranstaltungen mit externen Personen innerhalb der Anstalt........................................................................... 5.10.5 Urlaube ......................................................................... 5.10.6 Besuch von Veranstaltungen und Anlässen ausserhalb der Anstalt ....................................................................
110 110 111 118 126 130 132 135 137 139 143 144 146 150 150 153 158 159 162 168 171 175 178 179 182 183 187
IX
Inhaltsverzeichnis 5.10.7 5.10.8
Telefonverkehr.............................................................. Internetkommunikation/Elektronisch gespeicherte Daten............................................................................. 5.10.9 Bezug von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern ........ 5.10.10 Radio und Fernsehen .................................................... Kontrollen und Untersuchungen sowie Anwendung unmittelbaren Zwangs .............................................................. 5.11.1 Kontrollen und Untersuchungen ................................... 5.11.2 Zwangsmassnahmen ..................................................... 5.11.3 Exkurs: Hungerstreik .................................................... Disziplinarrecht ........................................................................ Soziale Sicherheit .................................................................... Die Rechtstellung des Gefangenen .......................................... 5.14.1 Einleitung ..................................................................... 5.14.2 Das besondere Rechtsverhältnis und seine Grenzen ..... 5.14.3 Der Schutz der Grundrechte Strafgefangener ............... 5.14.4 Völkerrechtliche Verpflichtungen ................................ 5.14.5 Rechtsmittel .................................................................. Informationsrechte und -pflichten ............................................
188
6. Die Gefängnispopulation ............................................................ 6.1 Übersicht .................................................................................. 6.1.1 Quantitative Entwicklung und Gefangenenraten .......... 6.1.2 Zusammensetzung der Gefangenenpopulation ............. 6.2 Strafvollzug an speziellen Gefangenengruppen ....................... 6.2.1 Weibliche Strafgefangene ............................................. 6.2.2 Jugendliche in Vollzugsanstalten.................................. 6.2.3 Alte Menschen im Strafvollzug .................................... 6.2.4 Somatisch und psychisch Kranke ................................. 6.2.5 Drogenabhängige im Strafvollzug ................................ 6.2.6 Strafgefangene ausländischer Nationalität .................... 6.2.7 Strafvollzug an gemeingefährlichen Strafgefangenen ..
216 216 216 219 224 225 227 229 232 236 242 247
7. Die Strafanstalt als Organisation ............................................... 7.1 Die Strafanstalt als Organisationseinheit der kantonalen Verwaltung............................................................................... 7.2 Die interne organisatorische Differenzierung .......................... 7.3 Die Anstaltsdirektion ............................................................... 7.4 Die Hauptbereiche einer Strafanstalt .......................................
251
5.11
5.12 5.13 5.14
5.15
X
189 190 191 192 192 193 194 196 202 204 204 205 206 210 212 213
251 252 253 254
Inhaltsverzeichnis 7.4.1 Der Vollzugsbereich ..................................................... 7.4.2 Der Bereich der Arbeitsbetriebe ................................... 7.4.3 Der Sicherheitsbereich .................................................. 7.4.4 Der Bereich der Verwaltung und Logistik .................... 7.5 Spezielle Anstaltsdienste ......................................................... 7.5.1 Der Sozialdienst ............................................................ 7.5.2 Der Gesundheitsdienst .................................................. 7.5.3 Die Gefangenenseelsorge ............................................. 7.5.4 Bildungs- und Freizeitdienste ....................................... 7.6 Nebenamtliche Funktionen und freie Mitarbeit ....................... 7.7 Entwicklungstendenzen ...........................................................
254 255 256 257 257 257 258 260 262 263 263
8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe ...... 8.1 Die bedingte Entlassung als spezialpräventiv motivierte Vollzugsstufe ........................................................................... 8.2 Voraussetzungen der bedingten Entlassung ............................. 8.3 Das Verfahren bei der bedingten Entlassung ........................... 8.4 Die Ausgestaltung der bedingten Entlassung ........................... 8.5 Widerruf der bedingten Entlassung .......................................... 8.6 Bedingte Entlassung ausländischer Staatsbürger ..................... 8.7 Zuständigkeit, Funktion und Organisation der Bewährungshilfe ...................................................................... 8.8 Betreuungsaufgaben und Programme der Institution der Bewährungshilfe ...................................................................... 8.9 Durchgehende Betreuung und Entlassenenhilfe ...................... 8.10 Zusätzliche Aufgaben der Bewährungshilfe ............................
266
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug .......................... 9.1 Allgemeines Massnahmen- und Massnahmenvollzugsrecht .... 9.2 Stationäre therapeutische Massnahmen ................................... 9.2.1 Behandlung von psychischen Störungen ...................... 9.2.2 Suchtbehandlung .......................................................... 9.2.3 Massnahmen für junge Erwachsene ............................. 9.2.4 Die Aufhebung einer stationären therapeutischen Massnahme, die bedingte Entlassung und die im Anschluss daran zu treffenden Anordnungen ............... 9.3 Ambulante therapeutische Massnahmen .................................. 9.3.1 Voraussetzungen ........................................................... 9.3.2 Mit und ohne Aufschub des Strafvollzugs ....................
293 293 299 301 309 312
266 270 273 275 276 278 279 283 290 291
318 322 322 323
XI
Inhaltsverzeichnis 9.3.3
Vollstreckung und Vollzug der ambulanten Massnahme ................................................................... 9.3.4 Aufhebung der ambulanten Massnahme ....................... 9.3.5 Die Bedeutung der ambulanten therapeutischen Massnahmen als strafrechtliche Sanktion ..................... 9.4 Die Verwahrung ....................................................................... 9.4.1 Die ordentliche Verwahrung ......................................... 9.4.1.1 Anordnung ............................................................... 9.4.1.2 Vollstreckung und Vollzug der Verwahrung ........... 9.4.1.3 Aufhebung, bedingte Entlassung, Umwandlung ..... 9.4.2 Die lebenslängliche Verwahrung .................................. 9.4.3 Nachträgliche Verwahrung ........................................... 9.4.4 Die Bedeutung der Verwahrung als strafrechtliche Sanktion ........................................................................ 9.5 Weiterentwicklung des Massnahmen- und Massnahmenvollzugsrechts ..........................................................................
325 327 329 329 330 330 331 333 335 338 339 340
Teil III: Entwicklungsperspektiven 1. 2. 3. 4.
Künftige Entwicklungen als Konsequenz rechts- und gesellschaftspolitischer Festlegungen ............................................ Die Bedeutung der quantitativen Entwicklung der Freiheitsentziehung........................................................................ Die Entwicklung der Freiheitsentziehung in inhaltlicher Hinsicht ......................................................................................... Absehbare Veränderungen der Insassenpopulation .......................
Sachregister ..........................................................................................
XII
343 347 351 356 359
Verzeichnis der Ergänzungstexte I. II. III. IV. V. VI. VII.
Literatur Quellen Rechtsnormen und -quellen (inkl. «soft law») Statistik Vollzugseinrichtungen Diverses Exkurse
I.
Literatur
LI 1a LI 1b LI 2 LI 3 LI 4.1
Literatur zum Sanktionenrecht in Europa ..................................... Einführende Literatur zur strafrechtlichen Freiheitsentziehung ... Literatur zur Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs .. Literatur zur zeitgenössischen Pönologie ..................................... Literatur zu Rückfallanalysen in der Schweiz, zur Rückfallprävention und zur These «Nothing works» ................... Literatur zu den Wirkungen von Behandlungsinterventionen ..... Literatur zu den völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen .................. Literatur zur innerstaatlichen Organisation des Vollzugs ............ Literatur zum Sanktionenrecht ...................................................... Literatur zum vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug .......... Literatur zur Unterbrechung des Vollzugs.................................... Literatur zur Abtretung des Vollzugs an einen anderen Staat ...... Literatur zu den Strafaufhebungsgründen..................................... Literatur zur Programmatik der Freiheitsstrafe ............................ Literatur zu den Vollzugsformen .................................................. Literatur zur Gefangenenarbeit und Arbeitsentlohnung ............... Literatur zu den Beziehungen zur Aussenwelt ............................. Literatur zum Einsatz von Zwangsmassnahmen .......................... Literatur zum Exkurs: Hungerstreik ............................................. Literatur zum Disziplinarrecht ...................................................... Literatur zur Sozialen Sicherheit ................................................... Literatur zum besonderen Rechtsverhältnis .................................. Literatur zur Gefängnispopulation ................................................
LI 4.2 LII 1.4 LII 2 LII 3 LII 4.2 LII 4.3 LII 4.5 LII 4.6 LII 5.2 LII 5.4 LII 5.8/5.9 LII 5.10 LII 5.11.2 LII 5.11.3 LII 5.12 LII 5.13 LII 5.14.2 LII 6.1.1
Seite
4 6 10 27 41 48 62 65 86 97 101 103 106 111 126 163 173 193 194 196 202 205 217
XIII
Verzeichnis der Ergänzungstexte LII 6.2 LII 6.2.1 LII 6.2.2 LII 6.2.3 LII 6.2.4 LII 6.2.5 LII 6.2.6 LII 6.2.7
LII 9.2 LII 9.3 LII 9.4 LIII
Literatur zu besonderen Gefangenengruppen: Allgemeines ........ Literatur zu weiblichen Strafgefangenen ...................................... Literatur zu Jugendlichen im Vollzug........................................... Literatur zu alten Menschen im Strafvollzug ............................... Literatur zu somatisch und psychisch Kranken ............................ Literatur zu Drogenabhängigen im Strafvollzug .......................... Literatur zu Strafgefangenen ausländischer Nationalität.............. Literatur zum Strafvollzug an gemeingefährlichen Strafgefangenen ............................................................................. Literatur zur bedingten Entlassung ............................................... Literatur zur Bewährungs- und Entlassenenhilfe ......................... Literatur zum allgemeinen Massnahmen- und Massnahmenvollzugsrecht ............................................................ Literatur zu den stationären therapeutischen Massnahmen .......... Literatur zu den ambulanten therapeutischen Massnahmen......... Literatur zur Verwahrung .............................................................. Literatur zu den Entwicklungsperspektiven .................................
II.
Quellen
QI 2.4 QI 2.6 QI 2.7 QI 4.1
Das Schallenhaus in Bern ............................................................... Hausordnung für die Weiberarbeitsanstalt in Bern........................ Streiflichter aus der Geschichte der Strafanstalt Pöschwies .......... Quellen zum «Erziehungszweck» des Strafvollzugs in der Schweiz
III.
Rechtsnormen und -quellen (inkl. «soft-law»)
LII 8.1 LII 8.7 LII 9.1
RII 1.2 RII 1.3 RII 1.4 RII 2.2 RII 5.2 RII 5.4 RII 5.10.5a RII 5.10.5b RII 5.14.2
Zuständigkeiten von Bund und Kantonen: Art. 123 BV .............. Kantonale Rechtsgrundlagen ........................................................ Internationale Übereinkommen..................................................... Strafvollzugskonkordate................................................................ Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen ......................... Vollzugsformen: Konkordatliche Richtlinien............................... Richtlinien der Strafvollzugskonkordate zum Beziehungsurlaub Richtlinien der Strafvollzugskonkordate zu den Sachurlauben ... Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Anforderungen an allgemeine Strafvollzugserlasse ............................................... RII 5.14.3 Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Recht auf Spaziergang im Freien ........................................................................................
XIV
224 225 228 229 232 238 242 247 266 280 293 299 322 329 343
14 21 23 42
58 59 63 68 113 128 185 186 206 209
Verzeichnis der Ergänzungstexte RII 6.2.6
RII 6.2.7 RII 8 RII 8.7 RII 9.4.2
Richtlinien betreffend Ausländerinnen und Ausländer im Strafund Massnahmenvollzug vom 2. November 2007 (Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz; Auszug) ................. Begutachtende Kommissionen nach Bundesrecht........................ Rechtsprechung des Bundesgerichts zur bedingten Entlassung ... Richtlinien der Strafvollzugskonkordate zur Bewährungshilfe ... Art.123a BV ..................................................................................
IV.
Statistik
SI 4.1 SII 2.5.1
Statistische Befunde zum Rückfall in der Schweiz ....................... Mitarbeitende und Haftplätze nach Vollzugsformen für 82 Vollzugseinrichtungen gemäss der ersten gesamtschweizerischen Personalbefragung im Justizvollzug (Februar 2012) ..................... Zufriedenheit mit der Grundausbildung zur Fachfrau / zum Fachmann Justizvollzug am SAZ nach Aufgabenbereichen in Prozent gemäss der ersten gesamtschweizerischen Personalbefragung im Justizvollzug (Februar 2012) .......................................................... Entwicklung der Verstösse allgemein und der Gewalt im Strafund Massnahmenvollzug von 2011 – 2013 gemäss der ersten gesamtschweizerischen Erhebung und Analyse ............................ Entwicklung der Gefangenenraten (nach Haftform) ..................... Gefangenenraten im internationalen Vergleich ............................. Entwicklung der Aufenthaltsdauer im Straf- und Massnahmenvollzug ............................................................................................ Entwicklung der Gefangenenraten und der Aufenthaltsdauer im Straf- und Massnahmenvollzug......................................................
SII 2.5.2
SII 5.12
SII 6.1.1a SII 6.1.1b SII 6.1.2a SII 6.1.2b
V. VII 5.3a VII 5.3b
244 250 267 282 336
43
77
81
200 218 219 222 223
Vollzugseinrichtungen
Offener Strafvollzug: Strafanstalt Saxerriet, 9465 Salez/SG ........ Geschlossener Straf- und Massnahmenvollzug: JVA Solothurn, 4543 Deitingen ............................................................................... VII 5.3c Strafvollzug an Frauen: Strafanstalt Hindelbank, 3324 Hindelbank/BE ...................................................................... VII 6.2.4 Bewachungsstation am Inselspital (BEWA), 3010 Bern/BE ........ VII 9.2.1 Massnahmenzentrum St. Johannsen, 2525 Le Landeron/BE ........ VII 9.2.3 Massnahmenzentrum Uitikon (MZU), 8142 Uitikon/ZH .............
119 121 123 235 305 314
XV
Verzeichnis der Ergänzungstexte
VI.
Diverses
DI 3.2.6
«Resozialisierung»: Ein allgemein anerkanntes, aber unklares und missverständliches Konzept .................................................... Kriterien für den Erfolg von Behandlungsmassnahmen................ Kostgeldliste für die Jahre 2014/15................................................ Organe der Vollstreckung und des Vollzugs ................................. Stellungnahmen zur Privatisierung des Strafvollzugs ................... Übersicht über die Grundausbildung am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal (SAZ) ........... Die Aktivitäten des CPT................................................................. Risikoorientierter Strafvollzug ROS .............................................. Typologie der Vollzugsformen ...................................................... Tagesablauf für einen Insassen der JVA Solothurn ....................... Justizvollzugsanstalt Lenzburg/AG: Sicherheitstrakt .................... Vollzugskoordination und ihre Teilbereiche.................................. Massnahmen zur Wiedergutmachung im Strafvollzug ................. Differenzierung des Vollzugs der Freiheitsstrafe .......................... «Bildung im Strafvollzug» (BiSt) .................................................. «Relais Enfants Parents Romands» (REPR) .................................. Justizvollzugsanstalt Lenzburg/AG: Konzept der «Abteilung 60plus» ............................................................................................ Organisationen des Gesundheitswesens im Justizvollzug: «Konferenz Schweizerische Gefängnisärzte» (KSG), «Forum der Gesundheitsdienste im Schweizerischen Justizvollzug» und «Santé Prison Suisse» (SPS) .......................................................... Projekt «Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis» (BIG) ........................................................................... Spezielle Massnahmen zur «Harm reduction» im Strafvollzug an Drogenabhängigen ..................................................................... Leitlinien für die Zusammenarbeit der Gefängnisseelsorge mit den Leitungen der Institutionen des Freiheitsentzuges .................. Schuldensanierung – Die Schweizerische Stiftung für die Hilfe an Straffällige und ihre Familien .................................................... Zürcher Lernprogramme ................................................................ Übergangsmanagement .................................................................. Milieutherapie beim Vollzug stationärer therapeutischen Massnahmen in einer geschlossenen Strafanstalt ...................................
DI 4.2 DII 2.2 DII 2.3 DII 2.4 DII 2.5 DII 2.6 DII 5.2 DII 5.4 DII 5.4.1 DII 5.4.10 DII 5.5a DII 5.5b DII 5.6 DII 5.8 DII 5.10 DII 6.2.3 DII 6.2.4a
DII 6.2.4b DII 6.2.5 DII 7.5.3 DII 8.8a DII 8.8b DII 8.8c DII 9.2.2
XVI
33 47 69 72 74 80 83 117 128 131 152 155 156 158 165 175 231
236 237 241 261 285 287 288 307
Verzeichnis der Ergänzungstexte
VII.
Exkurse (zu Themen, welche im Lehrbuch nicht dargestellt werden)
EI 1 EI 5.2a EI 5.2b EII 3.1 EII 9.1
Straftheorien.................................................................................... Andere Formen der Freiheitsentziehung ........................................ Das schweizerische Jugendstrafrecht ............................................. Strafarten nach StGB (ohne unbedingt vollziehbare Freiheitsstrafe) ................................................................................ Andere Massnahmen ......................................................................
4 51 53 87 297
XVII
Verzeichnis der Ergänzungstexte
XVIII
Abkürzungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ABOG Abs. AG AHV AI AJP aStGB AR Art. ATSG Aufl. AuG BAKOM BBl Bd. BE bE BG BGE BGer BGG BGS BL BS BSG bspw. Bst. BV bzw. ca.
Amtsbericht Obergericht Absatz Kanton Aargau Alters- und Hinterlassenenversicherung Kanton Appenzell Innerrhoden Aktuelle Juristische Praxis Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. 12. 1937, in der Fassung vor der Revision vom 13. 12. 2002 Kanton Appenzell Ausserrhoden Artikel Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (SR 830.1) Auflage Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (SR 142.20) Bundesamt für Kommunikation Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft Band Kanton Bern bedingte Entlassung Bundesgesetz Bundesgerichtsentscheid Schweizerisches Bundesgericht Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) Solothurnische Gesetzessammlung Kanton Basel-Landschaft Kanton Basel-Stadt Bernische Systematische Gesetzessammlung beispielsweise Buchstabe Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. Dezember 1998 (SR 101) beziehungsweise circa
XIX
Abkürzungsverzeichnis CPT
DBH d. h. DI DO E. Eidg. EJPD EM EMRK EPO EU etc. EuGRZ EVG exkl. f. ff. FP FR GE ggf. GL GR i. d. R. inkl. IRSG i. S. IV JMR JStG JVV/ZH
XX
Europäischer Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe / Comité Européen pour la prévention de la torture et des peines ou traitements inhumains ou dégradants Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik das heisst Dienstag Donnerstag Erwägung Eidgenössisch Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Electronic Monitoring (elektronischer Hausarrest) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (SR 0.101) Etablissements de la Plaine de l’Orbe EPO, Orbe VD Europäische Union et cetera Europäische Grundrechte Zeitschrift Eidgenössisches Versicherungsgericht exklusive folgend folgende Forumpoenale Kanton Freiburg / Freitag Kanton Genf gegebenenfalls Kanton Glarus Kanton Graubünden in der Regel inklusive Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (SR 351.1) im Sinne (von) Eidgenössische Invalidenversicherung Jahrbuch für Migrationsrecht Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (RS 311.1) Justizvollzugsverordnung des Kantons Zürich vom 6. Dezember 2006 (LS 331.1)
Abkürzungsverzeichnis KKJPD KrimBull KrimJ KrimPäd LBR LU MI MO MschrKrim NE NK NPM NW OGer OHG OW Pra. publ. RSN RSVD s. SAR SAZ SBB SG SH SJZ SMV/AG
SMVG/BE SMVV/BE SO sog. SR
Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren Kriminologisches Bulletin Kriminologisches Journal Kriminalpädagogische Praxis Luzerner Beiträge zur Rechtswissenschaft Kanton Luzern Mittwoch Montag Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Kanton Neuenburg Neue Kriminalpolitik New Public Management Kanton Nidwalden Obergericht Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (SR 312.5) Kanton Obwalden Die Praxis des Bundesgerichts publiziert Recueil systématique de la législation neuchâteloise Recueil systématique de la législation vaudoise siehe Systematische Sammlung des Aargauischen Rechts Schweizerisches Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal Schweizerische Bundesbahnen Kanton St. Gallen Kanton Schaffhausen Schweizerische Juristen-Zeitung Verordnung über den Vollzug von Strafen und Massnahmen des Kantons Aargau vom 9. Juli 2003 (Strafvollzugsverordnung; SAR 253.1) Gesetz über den Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Bern (SMVG) vom 25. Juni 2003 (BSG 341.1) Verordnung über den Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Bern vom 5. Mai 2004 (BSG 341.11) Kanton Solothurn so genannt Systematische Sammlung des Bundesrechts
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Abkürzungsverzeichnis StGB StJVG/ZH StPO SUVA SZ SZK TaWi TG TI u. a. u. Ä. UH UNO unveröff. UR USA usf. u. U. ÜÜvP v. Chr. VD VerwGer vgl. VO VOOL/AG VS VStGB VStGB 1 VStGB 3 V-StGB-MStG ZAK
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Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0) Straf- und Justizvollzugsgesetz des Kantons Zürich vom 19. Juni 2006 (LS 331) Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO; SR 312.0) Schweizerische Unfallversicherungsanstalt Kanton Schwyz Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie Tataufbereitung und Wiedergutmachung (Modellversuch BE) Kanton Thurgau Kanton Tessin und andere und Ähnliches Untersuchungshaft Vereinte Nationen (United Nations) unveröffentlicht Kanton Uri Vereinigte Staaten von Amerika und so fort unter Umständen Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (SR 0.343) vor Christi Geburt Kanton Waadt Verwaltungsgericht vergleiche Verordnung Verordnung über die Organisation der Strafanstalt Lenzburg vom 21. Januar 2004 (SAR 253.331) Kanton Wallis Verordnung zum StGB Verordnung 1 vom 13. November 1973 zum Schweizerischen Strafgesetzbuch (SR 311.01) (aufgehoben) Verordnung 3 vom 16. Dezember 1985 zum Schweizerischen Strafgesetzbuch (SR 311.03) (aufgehoben) Verordnung vom 29. September 2006 zum Strafgesetzbuch und zum Militärstrafgesetz (SR 311.01) Zeitschrift für die Ausgleichskassen des AHV und ihrer Zweigstellen, IV-Kommissionen und IV-Regionalstellen
Abkürzungsverzeichnis z. B. ZBJV ZKE ZG ZGB ZGS ZH Ziff. ZP ÜÜvP Zs. ZStrR z. T.
zum Beispiel Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für Kindes- und Erwachsenenschutz Kanton Zug Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210) Zürcher Gesetzessammlung Kanton Zürich Ziffer Zusatzprotokoll 18. Dezember 1997 zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (SR 0.343.1) Zeitschrift Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht zum Teil
XXIII
Teil I: Einführung
1. Strafrecht, Strafe, Strafvollzug
1.
Strafrecht, Strafe, Strafvollzug
Die Aufgaben, welche im Vollzug von Strafen (und strafrechtlichen Massnahmen) zu verfolgen sind, lassen sich nicht autonom festlegen: Der Strafvollzug ist eine vom Instrument des Strafrechts abhängige Intervention des Staates zur Gewährleistung der sozialen Kontrolle. Das Strafrecht legt fest, unter welchen Voraussetzungen der Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern ja vorab Schutz, Sicherheit und Wohlfahrt gewährleisten soll, seine Garantenfunktion auch mit dem Mittel des Strafens wahrnehmen soll. Das Strafrecht lässt sich indessen nicht bloss auf eine «Technologie des staatlichen Strafens» reduzieren – es ist gleichzeitig auch Instrument zur Begrenzung des staatlichen Strafens. Das Strafpotential des Staates und dessen Begrenzung stehen letztlich im Dienst der Gewährleistung des Rechtsfriedens.
1
Die doppelte gesellschaftliche Funktion des Strafrechts muss sich offensichtlich auch in der Festlegung der Mittel niederschlagen, mit welchen das Strafrecht auf als strafwürdig definiertes Verhalten reagiert (auf die sog. «Rechtsfolgen»). Die im Strafrecht definierten Sanktionen (Strafen und strafrechtliche Massnahmen) müssen notwendig und geeignet sein, um den Schutz der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. An die Umsetzung dieser Sanktionen (also an den Vollzug) ist der Anspruch zu stellen, dass er dieser Logik ebenfalls folgt.
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Wenn wir die Anforderungen an die Ausgestaltung des Straf- und Massnahmenvollzugs aber von der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts ableiten sollen, dann setzt dies voraus, dass diese Funktion eindeutig bestimmt ist. Diese Voraussetzung ist nun leider gerade nicht erfüllt: Die Strafrechtler haben die gesellschaftliche Funktion des Strafrechts in etlichen sog. «Straftheorien» festzulegen versucht (EI 1), ohne dass sich eine dieser Theorien gegenüber allen anderen vorbehaltlos durchsetzen konnte.
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Die erwähnte Unsicherheit über die gesellschaftliche Funktion des Strafrechts muss hier nicht aufgelöst werden. Denn ein Blick auf die heute vertretenen Straftheorien (EI 1) macht deutlich, dass das Strafrecht mit seinen Sanktionen und deren Vollzug jedenfalls nicht bloss «gerecht» im Sinne der absoluten Straftheorien eingesetzt und wahrgenommen werden, sondern vorab präventiv wirken soll: Es soll dazu beitragen, dass die Bürgerinnen und Bürger künftig seltener oder von weniger schweren Straftaten betroffen werden. Dieser Auftrag ist
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Teil I: Einführung
EI 1 Straftheorien Straftheorie Absolute Straftheorien Relative Straftheorien – Generalprävention a. negative Generalprävention b. positive Generalprävention – Spezialprävention a. negative Spezialprävention b. positive Spezialprävention
Erwartete Wirkung Notwendige Reaktion auf Straftaten zwecks Schuldausgleich, Vergeltung, Sühne Verhinderung künftiger Straftaten Wirkung durch Strafandrohung auf die Bevölkerung im Allgemeinen Abschreckende Wirkung Normstabilisierende Bestätigung des Rechtsbewusstseins Wirkung auf den Straftäter Abschreckende Wirkung oder «Unschädlichmachung» des Straftäters Förderung der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft
LI 1a Literatur zum Sanktionenrecht in Europa Schweiz
Deutschland
Frankreich Ländervergleichend
SCHWARZENEGGER Christian / HUG Markus / JOSITSCH Daniel: Strafrecht II. Strafen und Massnahmen. 8. Aufl. Zürich 2007; STRATENWERTH Günter: Schweizerisches Strafrecht. Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen. 2. Aufl. Bern 2006. MEIER Bernd-Dieter: Strafrechtliche Sanktionen. 4. Aufl. Berlin 2015; STRENG Franz: Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen. 3. Aufl. Stuttgart 2012. PONCELA Pierrette: Droit de la peine. 2. Aufl. Paris 2001. DAEMS Tom / VAN ZYL SMIT Dirk / SNACKEN Sonja: European Penology? Oxford/Portland/Oregon 2013; VAN KALMTHOUT Anton / TAK Peter J.P.: Sanction-systems in the member-states of the Council of Europe. Part I. Deventer 1988. Part II. Deventer 1992.
bei der Festlegung der strafrechtlichen Sanktionen (LI 1a) und der Ausgestaltung ihres Vollzugs deshalb als verbindlich entgegenzunehmen. 5
Mit welchen «geeigneten» Mitteln das kriminalpräventive Ziel der strafrechtlichen Sanktionierung und des Sanktionenvollzugs angestrebt werden soll, ist damit allerdings noch nicht geklärt. Zwar wird auf als strafwürdig definiertes Verhalten traditionell mit Rechtsfolgen reagiert,
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1. Strafrecht, Strafe, Strafvollzug
welche von den Betroffenen als «Beschwernisse» erlebt werden, also als Einschränkung ihrer autonomen Handlungskompetenz. Obwohl die Androhung solcher Beschwernisse weiterhin zum Kanon des Sanktionenrechts gehört, muss nicht notwendigerweise immer tatsächlich so reagiert werden. Unter bestimmten Umständen darf auch auf eine Sanktionierung verzichtet werden (Teil II, Abschnitt 3.5). Die Anordnung einer strafrechtlichen Sanktion und deren Vollziehung gilt also nicht mehr in jedem Einzelfall und unter allen Umständen als ein geeignetes kriminalpräventives Mittel. Diese Einsicht ist eigentlich paradox: Das Interesse der Kriminalitätsprävention kann gebieten, dass die strafrechtlichen Sanktionen, welche zu eben diesem Zwecke geschaffen wurden, bewusst nicht eingesetzt werden. Nicht nur in der Schweiz werden die im Zentrum dieser Darstellung stehenden freiheitsentziehenden Strafsanktionen vom Gesetzgeber als geeignete Mittel des Strafrechts zur Kriminalprävention anerkannt (LI 1b). Ende 2013 waren weltweit rund zehn Mio. Menschen strafrechtlich inhaftiert. Eine vergleichbare Stellung kommt einzig noch der Geldstrafe zu (auf welche hier nicht eingegangen wird). Die tatsächliche quantitative Bedeutung der freiheitsentziehenden Sanktionen als Instrument der Kriminalitätskontrolle wird allerdings überschätzt: In weniger als einem Zehntel aller Strafurteile erkennt das Gericht in der Schweiz auf eine unbedingt vollziehbare freiheitsentziehende Sanktion. Blicken wir ein Jahrhundert zurück, dann wird ersichtlich, dass die Freiheitsstrafe in der Schweiz – in quantitativer Hinsicht – ihre besten Zeiten tatsächlich bereits hinter sich hat: Im Jahre 1900 waren noch beinahe 80% aller Strafen unbedingt vollziehbare Freiheitsstrafen. In absoluten Zahlen verzeichnen die unbedingten Freiheitsstrafen in der Zeit von 1900 bis 2000 allerdings einen Zuwachs (von 9’000 auf 11’000 also um 22%), doch ist zu berücksichtigen, dass sich die schweizerische Wohnbevölkerung in dieser Zeit deutlich mehr als verdoppelt hat (von 3,3 Mio. auf 8,3 Mio. Einwohner, also um 150%).
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Trotz der in quantitativer Hinsicht nicht überragenden Bedeutung der freiheitsentziehenden Sanktionen können wir uns ein Strafrecht ohne die Rechtsfolge des Freiheitsentzugs kaum vorstellen. Weshalb ist das so? Antworten auf diese Fragen gibt es viele – oder besser: Vermutungen. Der hohe Stellenwert freiheitsentziehender Sanktionen im Bewusstsein der heutigen Bevölkerung (und vieler in der Strafrechtspflege tätiger Juristen) mag vorab dadurch bedingt sein, dass diese Sanktionen seit mehr als 200 Jahren tatsächlich im Zentrum der öffentlichen Diskussion um die Kontrolle von Kriminalität stehen. Ferner zeichnen
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Teil I: Einführung
LI 1b Einführende Literatur zur strafrechtlichen Freiheitsentziehung Lehrbücher BÖHM Alexander: Strafvollzug. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2003; BOULOC Bernard: Pénologie. Paris 1991; HÖFLICH Peter / SCHRIEVER Wolfgang: Grundriss Vollzugsrecht. Das Recht des Strafvollzugs und der Untersuchungshaft für Ausbildung, Studium und Praxis. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg 2003; KAISER Günther / SCHÖCH Heinz: Strafvollzug. 5. Aufl. Heidelberg 2003; LAUBENTHAL Klaus: Strafvollzug. 7. Aufl. Berlin/Heidelberg 2015; PONCELA Pierrette: Droit de la peine, 2. Aufl. Paris 2001; WALTER Michael: Strafvollzug. 2. Aufl. Stuttgart/München 1999. Schweiz BRÄGGER Benjamin F. (Hrsg.): Das schweizerische Vollzugslexikon. Von der vorläufigen Festnahme zur bedingten Entlassung. Basel 2014; BRUNNER Matthias: Straf- und Massnahmenvollzug. In: Niggli Marcel Alexander / Weissenberger Philippe (Hrsg.): Strafverteidigung. Basel/Genf/München 2002, 223–294; FINK Daniel / SCHULTHESS Peter M. (Hrsg.): Strafrecht, Freiheitsentzug, Gefängnis. Ein Handbuch zur Entwicklung des Freiheitsentzugs in der Schweiz. Bern 2015; KUHN André: Détenus. Combien? Pourquoi? Que faire? Bern/Stuttgart/Wien 2000; SURBER Reto Andrea: Das Recht der Strafvollstreckung. Zürich 1998. Ländervergleichende Publikationen DÜNKEL Frieder (Hrsg.): Kriminalität, Kriminalpolitik, strafrechtliche Sanktionspraxis und Gefangenenraten im europäischen Vergleich. Mönchengladbach 2010; MATTHEWS Roger / FRANCIS Peter (Hrsg.): Prisons 2000. An International Perspective on the Current State and Future of Imprisonment. Houndmills/London 1996; STERN Vivien: A Sin Against The Future. Imprisonment in the World. London 1998; VAN ZYL SMIT Dirk / DÜNKEL Frieder (Hrsg.): Imprisonment Today and Tomorrow. 2. Aufl. Deventer/Boston 2001. Autobiographien LOOSLI Carl Albert: Anstaltsleben. Betrachtungen und Gedanken eines ehemaligen Anstaltszöglings. In: Anstaltsleben. Werke Bd. I. Zürich 2006. Zeitschriften (Schweiz) BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Hrsg.): Info bulletin – bulletin info; Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie (SZK); Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (ZStrR).
sich freiheitsentziehende Sanktionen durch eine gewissermassen theatralische Dramatik aus: Sie schliessen den Übeltäter aus dem gesellschaftlichen Leben aus – auch wenn dieser Ausschluss normalerweise nur auf Zeit (und nicht vollständig) erfolgt. Damit kommen die freiheitsentziehenden Sanktionen einem in der Bevölkerung verbreiteten Strafbedürfnis in hohem Masse entgegen. Weil für den Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben das Instrument der Einschliessung eingesetzt wird, wird diese Sanktion auch als wirksamer Schutz vor
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1. Strafrecht, Strafe, Strafvollzug
dem Risiko wahrgenommen, Opfer einer erneuten Straftat des Verurteilten zu werden. Diese letztgenannte Begründung für die «Attraktivität» freiheitsentziehender Sanktionen führt zurück zum oben begründeten Postulat, dass an freiheitsentziehende Sanktionen und deren Vollzug die Anforderung zu stellen ist, kriminalpräventiv zu wirken. Wie aber ist ein Freiheitsentzug auszugestalten, damit erwartbar wird, dass er die gewünschte kriminalpräventive Wirkung tatsächlich entfaltet, also eine «geeignete» Sanktion darstellt? Auf diese Frage gibt es zwei traditionelle Antworten. Erstens: Diese Wirkung soll dadurch erzielt werden, dass der Straftäter für die Dauer der Freiheitsentziehung in einer Vollzugsanstalt in (relativ) sicheren Gewahrsam genommen und dadurch für diese Zeitperiode (weitgehend) «unschädlich» gemacht wird. Zweitens: Da die strafrechtliche Freiheitsentziehung – mit Ausnahme der lebenslangen Freiheitsstrafe und der Verwahrung auf unbestimmte Zeit – zeitlich begrenzt ist, soll die Präventivwirkung dadurch erreicht werden, dass die Zeit des Freiheitsentzugs genutzt wird, um den Strafgefangenen auf ein straffreies Leben nach der Entlassung vorzubereiten (primär durch Einwirkungen auf den Strafgefangenen selbst, sekundär aber auch auf sein soziales Umfeld). Im ersten Fall wird die angestrebte Präventivwirkung also durch die Sicherung des Straftäters und seinen Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben erwartet, im zweiten durch dessen gesellschaftliche Integration. Ob bzw. inwieweit und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Straf- und Massnahmenvollzug dem kriminalpräventiven Anspruch tatsächlich gerecht wird, muss an dieser Stelle noch offen bleiben. Angemerkt sei immerhin, dass diesbezüglich Zweifel bestehen: Ist der Freiheitsentzug nicht eher Teil des Problems, das er zu lösen vorgibt?
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Teil I: Einführung
2.
Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
2.1
Einleitung
1
Die Freiheitsstrafe ist kein konstituierendes Element der Vergesellschaftung, welches sich bis in die Frühgeschichte der Menschheit zurückverfolgen lässt. Sie ist auch nicht in einem bestimmten Zeitpunkt erfunden oder eingeführt worden. Dessen ungeachtet beginnen Darstellungen zur Geschichte der Freiheitsstrafe häufig im 16. Jahrhundert mit der Beschreibung der ersten Vorläufer der modernen Freiheitsstrafe (Abschnitt 2.4; LI 2). Deren Frühformen sind im Verlaufe des 17. Jahrhunderts entstanden. Durchgesetzt hat sich die Freiheitsstrafe aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Abschnitte 2.5 und 2.6). Die Geschichte der Freiheitsstrafe im 16. Jahrhundert beginnen zu lassen ist, aus der Sicht des heutigen Verständnisses von Strafrecht zweifellos einleuchtend. Das moderne Strafrecht setzt ja voraus, dass eine öffentliche, auf ein staatliches Gewaltmonopol gestützte Strafrechtsordnung sich etabliert hat (öffentliches Strafrecht statt Privatstrafrecht), dass sich das Strafrecht von anderen Interventionen (etwa sozialpolitischen oder disziplinarrechtlichen) eindeutig abgrenzen lässt, dass es durch ein definiertes und strukturiertes Strafverfahren durchgesetzt wird, usf. Darüber hinaus setzt die Etablierung der Freiheitsstrafe voraus, dass sie in weitgehend stabilen Territorialstaaten vollstreckt werden kann und schliesslich: dass die (Bewegungs-)Freiheit, anders als in feudalen Untertanenverhältnissen, ein weitgehend allgemein verfügbares Gut darstellt, das mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe entzogen werden kann. Paradoxerweise vergewissert uns also gerade die Existenz der Freiheitsstrafe, dass es Freiheit tatsächlich gibt.
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Die Anordnung von Freiheitsentzug im Rahmen der Strafrechtspflege insgesamt (namentlich die Inhaftierung zur Sicherung eines «Strafverfahrens» oder die Inhaftierung als Zwangsmittel zur Einziehung einer Geldstrafe) lässt sich allerdings viel weiter zurückverfolgen. Ferner bewirkten einzelne, teilweise von der Antike bis in die frühe Neuzeit angewendete Sanktionen, welche als Körperstrafen gedacht waren (Zwangsarbeit, Verbannung an einen bestimmten Ort, Galeerenstrafe), ebenfalls einen der Freiheitsstrafe vergleichbaren Entzug der Bewegungsfreiheit. In diesen – und anderen – Vorbildern liegen offensichtlich die Wurzeln der «modernen Freiheitsstrafe» (Abschnitt 2.3). Es
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
drängt sich deshalb auf, den Rahmen der geschichtlichen Darstellung in zeitlicher und sachlicher Hinsicht etwas weiterzufassen (Abschnitt 2.2).
2.2
«Strafrechtliche» Interventionen von der vorstaatlichen Zeit bis ins Mittelalter
Formalisierte Konfliktlösungsverfahren zur Herstellung gesellschaftlicher Harmonie – wie die Einschaltung von Vermittlern oder Schiedsrichtern, die Ritualisierung von Konfliktlösungen oder die Anrufung des Wahrheitsspruches eines höheren Wesens – haben sich bereits in segmentären Agrargesellschaften herausgebildet, also ab dem zehnten Jahrtausend v. Chr. Auf schwere und wiederholte Schädigungen des Zusammenlebens wurde schon früh auch durch den Ausschluss des Schädigers aus der Gemeinschaft reagiert (also der Verbannung). Die Entstehung strafrechtlicher Normen ist aber eine unmittelbare Folge der Etablierung staatlicher Organisation: In den sog. Protostaaten, welche ab dem dritten Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien, Ägypten und China entstanden, verlangten die Herrschaftsinteressen dieser Staaten, dass das Verhalten der einzelnen Menschen nicht mehr ausschliesslich als private Angelegenheit der jeweiligen Familien oder grösserer, lokaler Verwandtschaftsverbände bewertet wurde. Aus dieser Zeit sind die ersten Gerichte bekannt, welche herrschaftsbedrohende Verhaltensweisen – Tötungsdelikte, Zauberei, Beleidigung des Herrschers – beurteilten und Todes- und Verstümmelungsstrafen aussprachen. Die ältesten bekannten Gesetze, welche strafrechtliche Normen enthalten, sind etwas jünger und stammen ebenfalls aus Mesopotamien: der CODEX URAMMU, ca. 2100 v. Chr. und der CODEX HAMMURABI, ca. 1700 v. Chr. (dessen Grundsatz «Auge um Auge, Zahn um Zahn» im Übrigen bereits als Maxime zur Beschränkung strafrechtlicher Interventionen zu verstehen ist). Die «normale Kriminalität» wird aber weiterhin als Konflikt zwischen verfeindeten Parteien betrachtet, welche nicht von staatlichen Gerichten zu beurteilen ist.
3
Die Vorherrschaft dieses «Privatstrafrechts» bleibt im antiken Griechenland und im Römischen Reich erhalten. Dies, obwohl die Straftatbestände zunehmend ausdifferenziert und die traditionellen Strafen – Todesstrafe, Geldstrafe, Verbannung – durch die Prügelstrafe und die Zwangsarbeit erweitert wurden. Besonders ausgeprägt ist das Privatstrafrecht bei den Germanen, wo das öffentliche Strafrecht nur für militärische Vergehen zum Zuge kommt: Diebstahl, Körperverletzung,
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Teil I: Einführung
LI 2 Literatur zur Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs Einführende Literatur CAVADIGNO Michael / DIGNAN James: Penal Systems: A Comparative Approach. London 2006; GARLAND David: Kultur der Kontrolle: Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2008; GARLAND David: Punishment and Modern Society: A Study in Social History. Chicago 1990; KRAUSE Thomas: Geschichte des Strafvollzugs. Von den Kerkern des Altertums zur Gegenwart. Darmstadt 1999; MORRIS Norval / ROTHMAN David J. (Hrsg.): The Oxford History of Prison: The Practice of Punishment in Western Society. Oxford/New York 1995; SIMON Jonathan / SPARKS Richard (Hrsg.): The SAGE Handbook of Punishment and Society. Los Angeles 2013; WESEL Uwe: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 4. Aufl. München 2014. Literatur zur Schweiz ANSELMIER Henri: Les prisons vaudoises (1795–1871). Lausanne 1983; ANSELMIER Henri: Les prisons vaudoises 1872–1942. Lausanne 1993; APPENZELLER Gotthold: Strafvollzug und Gefängniswesen im Kanton Solothurn vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Solothurn 1957; CARLEN Louis: Schwyz und die Galeerenstrafe. Der Geschichtsfreund Bd. 135. Stans 1982; CORBOUD Théodore: Les maisons pénitentiaires du Canton de Fribourg. Fribourg 1890; CURTI Claudia: Die Strafanstalt des Kantons Zürich im 19. Jahrhundert. Zürich 1988; FUMASOLI Georg: Ursprünge und Anfänge der Schellenwerke. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Gefängniswesens. Zürich 1981; GERMANN Urs: Verbrechensbekämpfung als Kulturarbeit. Das Projekt einer interkantonalen Verwahrungsanstalt in der Linthebene in den 1920er-Jahren. In: Zeitschrift für Geschichte 2/2007, 110–124; GERMANN Urs: Kampf dem Verbrechen. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform in der Schweiz 1870-1950. Zürich 2015; GUILLAUME Louis: Die Reorganisation des Straf- und Gefängniswesens im Kanton Bern. Gutachten an die Justiz- und Polizeidirektion des Kantons Bern. Bern 1875; HAFNER Karl: Geschichte der Gefängnisreformen in der Schweiz. Bern 1901; HAFNER Karl / ZÜRCHER Emil: Schweizerische Gefängniskunde. Bern 1925; HESS-MASAT Helena: Die Strafrechtspflege des Kantons Zug im 19. Jahrhundert. Zürich 1988; JACOMELLA Sergio: Carceri. Carcerieri – Carcerati. Locarno 1992; LOOSLI Carl Albert: Entlassene Zuchthäusler, Bedingte Begnadigung, Unser Strafvollzug. In: Lerch Fredi / Marti Erwin (Hrsg.): Administrativjustiz. Werke Bd. 2.: Strafrecht und Strafvollzug. Zürich 2013, 68–71, 72–75, 419–421; LUDI Regula Marianne: Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750– 1850. Tübingen 1999; PESTALOZZI Johann Heinrich: Arners Gutachten über Kriminalgesetzgebung. Ein Schweizer-Blatt. Bd. VIII, 1782; PFISTER Willy: Die Gefangenen und Hingerichteten im bernischen Aargau: die Justiz des 16. bis 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Aargauergeschichte Bd. 5. Aarau 1993; RICHNER Heinrich: Die Strafanstalt Lenzburg mit Berücksichtigung der aargauischen Strafgesetzgebung 1864–1950. Lenzburg 1951; RICHNER Heinrich: Johann Rudolf Müller: Erster Lenzburger Strafhausdirektor und Pionier des humanen Strafvollzugs. Aarau 1989; ROTH Robert: Pratiques pénitentiaires et théorie sociale. L’exemple de la prison de Genève (1825–1862). Genève 1981; SCHAFFROTH J.G.: Geschichte des bernischen Gefängniswesens. Bern 1898; SCHULTHESS Peter M.: Hinter Gittern. Gefängnisse und Justizvollzug in der Schweiz. Basel 2006; SCHULTHESS Peter M.: Damals in «Lenzburg». Alltag in der Strafanstalt 1864–2014. Basel 2014; SCHWEIN-
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs GRUBER Max: Thorberg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Burgdorf 1981; STAPFERHAUS LENZBURG (Hrsg.): Strafen. Ein Buch zur Strafkultur der Gegenwart. Baden 2004; STRATENWERTH Günter / BERNOULLI Andreas: Der schweizerische Strafvollzug. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Bern 1983; VUILLEUMIER Christophe.: La Prison de Champ-Dollon 1977–2007. Genève 2007; WAGNITZ Heinrich Balthasar: Zuchthäuser in der Schweiz. In: (ders.): Historische
Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Halle 1792, 227–286; WEISS Irma: Schweizerischer Straf- und Massnahmenvollzug der Gegenwart in der Perspektive moderner poenologischer Behandlungsmethoden. Zürich 1970; ZINNIKER Fritz: Die Strafanstalten Baden und Aarburg und die aargauischen Filialanstalten. 1803–1864. In: Beiträge zur Geschichte des Strafvollzuges und des Gefängniswesens im Kanton Aargau 4/2000; ZURBUCHEN Walter: Prisons de Genève. Genève 1977; ZWICKY Jürg Stefan: Das Gefängniswesen zur Zeit der Helvetik. Zürich 1982. Allgemeine Literatur BADINTER Robert: La prison républicaine (1871–1914). Paris 1992; DE BEAUMONT Gustave / DE TOCQUEVILLE Alexis: On the Penitentiary System in the United States and Its Application in France. Carbondale 1964 (Erstausgabe 1833); DICKENS Charles: Notizen aus Amerika. Berlin (-Ost) 1980; EVANS Richard J.: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987. Berlin 2001; FOUCAULT Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 15. Aufl. Frankfurt a.M. 2015; HOWARD John: The State of the Prisons in England and Wales, with preliminary Observations, and an Account of some foreign Prisons and Hospitals. London 1792; PETIT Jacques-Guy et al.: Histoire des galères, bagnes et prisons. XIIIe– XXe siècles. Bibl. hist. Privat. Toulouse 1991; RADBRUCH Gustav: Strafvollzug. Gesamtausgabe Bd. 10. Heidelberg 1994; RUSCHE Georg / KIRCHHEIMER Otto: Sozialstruktur und Strafvollzug. Frankfurt 1975 (Erstausgabe 1939).
Tötungsdelikte etc. sind Verletzungen privater Rechte der Geschädigten oder deren Sippe. Die Sippe des Geschädigten darf gegenüber der Sippe des Täters Rache üben, es sei denn, der Konflikt werde durch die Bezahlung einer Busse und einer Genugtuung für das widerfahrene Unrecht bereinigt. Es versteht sich von selbst, dass in einer bis ins Mittelalter vom Privatstrafrecht geprägten Rechtsordnung die Freiheitsstrafe kaum Platz hatte, obwohl bereits KAISER KARL DER GROSSE in einer Anordnung aus dem Jahre 813 die Freiheitsentziehung für Straftäter des gehobenen Standes vorsah. Das Mittelalter (Sachsenspiegel, 1220) war die Epoche der grausamen Körperstrafen (Hängen, Enthaupten, Rädern, Vierteilung, Lebendigbegraben, Ertränken, Verbrennen, Sieden in Wasser und Öl, Abschneiden von Händen, Füssen, Fingern, Nasen, Ohren und Zunge, Einbrennen von Zeichen im Gesicht, Prügelstrafen etc.), aber auch der Geldbusse und der Verbannung. Ab dem 12. Jahrhundert beginnt sich das öffentliche Strafrecht zulasten des Privatstrafrechts zunehmend durchzusetzen: Der Zentralstaat beansprucht das «Gewalt-
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5
Teil I: Einführung
monopol», ist aber noch lange nicht stark genug, dieses auch tatsächlich durchzusetzen. Einerseits haben auch Teilstaaten, Städte und Gemeinden weiterhin eigenständiges Strafrecht angewendet, andererseits beanspruchte auch die Kirche eine eigene Strafgewalt, um mit dem «kanonischen Strafrecht» die biblische Ordnung auf Erden durchzusetzen. 6
Ab dem 16. Jahrhundert verdrängte ein umfassendes öffentliches Strafrecht das Privatstrafrecht. Damit war eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung der Freiheitsstrafe gegeben.
2.3
Vorbilder des strafrechtlichen Freiheitsentzugs
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Nach dem heutigen Verständnis von Strafrecht ist die Freiheitsstrafe somit ein Kind der Neuzeit. Wer die Entstehung der Freiheitsentziehung indessen unter einem weitergefassten Blickwinkel untersucht, also die Strafrechtspflege und strafrechtliche Rechtsfolgen insgesamt sowie auch «parastrafrechtliche» Interventionen einschliesst, stösst auf teilweise wesentlich ältere Formen des Freiheitsentzugs.
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So ist beispielsweise die Anordnung von Untersuchungshaft – welche sich vor der Herausbildung des modernen Strafrechts nicht durchwegs eindeutig von Strafhaft abgrenzen lässt – seit jedenfalls 3’000 Jahren belegt. Auch die bereits in den Anfängen der Geschichtsschreibung dokumentierte Strafe der Zwangsarbeit bedeutete – etwa für zu Zwangsarbeit verurteilte römische Sklaven, welche gefesselt in einem «Sklavenzwinger» untergebracht wurden – eine sehr einschneidende Beschränkung der Bewegungsfreiheit und damit Freiheitsentzug. Dies gilt auch für die Verbannungsstrafe (entweder als Ausgrenzung aus einem bestimmten Gebiet – etwa einer Stadt – oder als Verbannung an einem bestimmten Ort – etwa eine Festung oder eine Insel). Mit einer Verbannung konnte ebenfalls eine eingehende Beschränkung der Bewegungsfreiheit einhergehen; in jedem Falle bewirkte sie aber – wie die Freiheitsstrafe – einen Ausschluss aus dem angestammten gesellschaftlichen Umfeld.
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Massnahmen, welche aus heutiger Perspektive nicht als strafrechtlich, sondern als «disziplinarrechtlich» bezeichnet würden, bedeuteten im Ergebnis ebenfalls Freiheitsentziehung: So war der römische Haushaltsvorstand (pater familias) ermächtigt, Familienmitglieder (und zur Familie gehörige Sklaven) zur Strafe in privaten, in seinen Liegenschaften errichteten Strafzellen einzusperren. Auch bei der seit dem 4. Jahrhundert belegten «Klosterhaft» handelte es sich ursprünglich um 12
2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
eine innerklösterliche Disziplinarmassnahme. Mit der Erweiterung der kirchlichen Gerichtsbarkeit im 9. Jahrhundert wurde die Klosterhaft aber zunehmend auch auf Weltgeistliche und Laien ausgedehnt. Die zu diesem Zwecke errichteten kirchlichen Gefängnisse dienten ausdrücklich der sittlichen Besserung der Täter durch reuevolle Busse. Die «Klosterhaft» gilt deshalb als bedeutendstes Vorbild der staatlichen Freiheitsstrafe. Seit dem frühen Mittelalter belegt sind schliesslich zwei Formen der Ersatzfreiheitsstrafe: Konnten zu einer Geldstrafe Verurteilte diese nicht leisten, so wurde die Geldstrafe nachträglich in eine Freiheitsstrafe umgewandelt (Schuldhaft). Eine gnadenweise Umwandlung in lebenslange Haft konnte ferner auch für zur Todesstrafe Verurteilte erfolgen. Neuere Forschungen haben schliesslich nachgewiesen, dass Freiheitsstrafen gemäss partikulären mittelalterlichen Strafrechtsordnungen für leichtere Delikte sogar als Hauptstrafe verhängt werden konnten – in der Sache aber eher Körper- oder gar besonders qualvolle Formen der Todesstrafe darstellten. Dass diese Möglichkeit offenbar insgesamt eher selten und für eine kurze Haftdauer genutzt wurde, lässt sich wohl in erster Linie damit erklären, dass die Inhaftierten – für welche keine Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung standen – dem Gemeinwesen wirtschaftlich zur Last fielen.
2.4
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Vorläufer der Freiheitsstrafe in der Neuzeit
Der Erlass der Peinlichen Halsgerichtsordnung KAISER KARLS V. (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) wird in der Literatur vielfach als Ursprung des strafrechtlichen Freiheitsentzugs bezeichnet. Dies deshalb, weil hier die Freiheitsstrafe für das ganze Reich nicht bloss als Ersatzfreiheitsstrafe, sondern auch als Hauptstrafe ausdrücklich vorgesehen wurde («ewiges Gefängnis» als Alternative zur Todesstrafe; in der Sache aber ein Vorläufer der Verwahrung auf unbestimmte Zeit). Mit diesem Gesetz, das im Wesentlichen das mittelalterliche Strafrecht und damit die Körperstrafen übernahm, sollte der Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung im Deutschen Reich entgegengewirkt werden. Allerdings beschränkte es sich auf schwere Straftaten. Da die Strafe des «ewigen Gefängnisses» kaum verhängt wurde und sich die Peinliche Halsgerichtsordnung in weiten Teilen des Reiches nicht durchsetzen konnte, wird die Bedeutung dieses Gesetzes für die Entstehung der Freiheitsstrafe indessen überschätzt.
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Teil I: Einführung
QI 2.4 Das Schallenhaus in Bern «Das besser unter dem Namen Schallenhaus bekannte Zuchthaus bekam seinen Namen von den Schellen, kleinen Glöcklein, welche die Häftlinge zu tragen hatten, um ein allfälliges Entweichen zu erschweren. In der beim Unteren Thor liegenden Anstalt wurden anfänglich Landstreicher, insbesondere Bettler, Dirnen und Übeltäter, verwahrt, die sich nur unbedeutender Vergehen schuldig gemacht hatten. Alle Insassen wurden gleich beim Eintritt mit einem Halseisen versehen, an dessen schnabelförmigem Fortsatz die Schelle klingelte. Gefährlichere Gefangene, oder solche, die versucht hatten zu flüchten, wurden in Ketten gelegt und damit an die Karren geschlossen, die sie zu ihrer Arbeit verwendeten. Das hatte gelegentlich verhängnisvolle Folgen. So stürzten 1753 sechs angekettete Schallenwerker mit ihren Wagen wegen eines Erdrutschs in die Aare und ertranken alle. Die Hauptbeschäftigung der Sträflinge bestand in der Strassenreinigung, die damals bitter nötig war, da die Abfälle, sofern sie nicht in den offenen Stadtbach geworfen wurden, einfach vor dem Haus liegen blieben. Jeden Tag fuhren seit der Errichtung des Schallenwerks nun sechs Wagen durch die Stadt, gezogen von fünf Männern oder Frauen und einigen Aufladern, die versorgten, was 22 Wischerinnen zusammengekehrt hatten. Zwei Aufseher oder Profossen führten die Aufsicht und hatten dafür zu sorgen, die Sträflinge nach getaner Arbeit wieder einzuschliessen. Zu ihren Pflichten gehörte auch das Einschmieden der Neulinge in das Halseisen, wozu meist ein Schlosser beigezogen wurde. Auch das Verteilen des Essens oblag dem Profossen. Die Verpflegung liess zu wünschen übrig: Abwechselnd gab es Gersten- oder Habermues, dazu das Bettlermütschli, immerhin zwei Pfund Brot. Fleisch und Wein bildeten seltene Ausnahmen für bestimmte Gelegenheiten. Die unzureichende, auf die Dauer ungesunde Ernährung beschäftigte den Rat mehrmals, nicht zuletzt deshalb, weil die Profossen etwa einen Teil der vorgesehenen Portionen für eigennützige Zwecke abzweigten. Nicht umsonst wurde ihnen schliesslich die Haltung von Schweinen, Hühnern und Tauben verboten. ... Für das geistige Wohl und die von der Obrigkeit angestrebte moralische Besserung sollten Theologiestudenten sorgen, die morgens und abends mit den Sündern beteten und ‹geziemende Gottesfurcht› mit ihnen praktizierten. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts verfügte das Schallenwerk über ein Dutzend Zellen, d.h. Räume, in denen nach Arbeitsschluss über hundert Häftlinge untergebracht waren, und in eigenen Stuben, aber unter dem gleichen Dach, auch noch 40 Frauen. Der Schallenmeister und die Profossen hausten in einer besonderen Wohnung. Frauen, die nicht mit der Strassenreinigung beschäftigt waren, verbrachten die Arbeitsstunden in einem grossen Raum mit Spinnen und Stricken, und für die erwähnte religiöse Betreuung stand eine Predigtstube zur Verfügung.» Quelle: GYGAX Max: Erbarmungslose Justiz im Alten Bern. Vom Schallenhaus zum Thorberg – Bernischer Strafvollzug einst und heute (Teil 1). Der Kleine Bund, 7. Juli 2001, 7.
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Die ersten folgenreichen Versuche mit dem Freiheitsentzug als strafrechtliche Sanktion wurden erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts mit der Errichtung von Arbeitshäusern und Schallenwerken eingeleitet. Diese
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
Einrichtungen wurden ursprünglich zur Bekämpfung des Bettlerunwesens und der Landstreicherei geschaffen, aus heutiger Sicht also aus sozialpolitischen Gründen, bald aber auch für die Bestrafung vorerst bloss geringerer Straftaten genutzt: Als Geburtsstunde dieser Entwicklung gelten das von König Edward VI. 1555 in seinem Schloss Bridewell eingerichtete Arbeitshaus und das 1595 speziell für diese Zwecke errichtete Männerzuchthaus in Amsterdam. Mit diesen Einrichtungen wurde bezweckt, arbeitsfähige «Randständige» mit dem Mittel der Zwangsarbeit zur Arbeit zu erziehen. Die Verbindung von Zwangsarbeit mit Freiheitsentzug wurde indessen auch in anderen Teilen Europas eingeführt: In Deutschland erstmals 1561 in Ulm («Springerstrafe»), ab Beginn des 17. Jahrhunderts z.B. auch in Hamburg und Danzig («Karrenstrafe»). Seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts weitete sich diese Form des Freiheitsentzugs auf weitere Teilstaaten aus. Im süddeutschen Raum und in der Schweiz wurden die entsprechenden Einrichtungen als «Schallenwerke» bezeichnet (1614–1661 Errichtung von Schallenwerken in Bern, Basel, Freiburg, Zürich, Genf und St. Gallen). Die in diesen Einrichtungen untergebrachten Gefangenen wurden allerdings überwiegend «ausser Haus» zur Arbeit angehalten, namentlich zur Strassenreinigung und Kehrichtabfuhr (QI 2.4). Anstaltsinterne Arbeitsplätze wurden demgegenüber in den dem Vorbild von Bridewell und Amsterdam folgenden Arbeitshäusern eingerichtet (1608 Bremen, 1613 Lübeck, 1618/22 Hamburg, 1629 Danzig; später weitere). In Frankreich wurde ab Mitte des 16. Jahrhunderts ebenfalls ein weitgehend flächendeckendes Netz solcher Arbeitshäuser («ateliers publics») geschaffen. In den Niederlanden entstanden in der Periode von 1598 bis 1620 acht weitere Zuchthäuser (weitere im 17. Jahrhundert namentlich in Belgien und Skandinavien). In diesen Arbeitshäusern hatten die Gefangenen körperlich sehr schwere Arbeiten zu verrichten (im Zuchthaus von Amsterdam namentlich Raspeln von Farbholz zur Gewinnung von Farbstoff für Textilien). Während der Nachtruhe wurden sie in kollektiven Schlafsälen mit häufig Dutzenden von Schlafplätzen untergebracht. Der für weite Teile Europas dokumentierte Siegeszug des Arbeitshauses (bzw. Zuchthauses oder Schallenwerkes), also der Verbindung von Zwangsarbeit mit Freiheitsentzug lässt sich vorab aus sowohl ökonomischen als auch ideologischen Faktoren erklären: Aus dem im merkantilistischen Wirtschaftssystem wachsenden Interesse an der Nutzung 15
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Teil I: Einführung
billiger Arbeitskräfte und am namentlich vom calvinistischen Gedankengut geprägten Bestreben, den sündhaften Müssiggang zu bekämpfen. 14
Eine besondere Form der Verbindung von Freiheitsentzug mit Zwangsarbeit stellt schliesslich die seit dem 16. Jahrhundert namentlich in England, Frankreich und Italien (und anderen Mittelmeerstaaten) häufig verhängte Galeerenstrafe dar. Die faktische Ausgestaltung der Galeerenstrafe (welche u.a. zu einer hohen Mortalität der Galeerensträflinge führte) lässt diese indessen auch als eine Form der Leibesstrafe erkennen (weit eindeutiger als der Freiheitsentzug im Arbeitshaus, obwohl auch dieser mit harter Arbeit und Disziplin verbunden war). Die Galeerenstrafe wurde übrigens auch in den schweizerischen Kantonen verhängt, erstmals im Jahre 1542 im Kanton Freiburg. Den Vollzug sicherten Verträge u.a. mit Sardinien, Venedig, Savoyen, Frankreich und Spanien. Einzelne Kantone unterhielten auch eigene Galeeren, so der Kanton Luzern auf dem Vierwaldstättersee ab 1533 bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts und der Kanton Bern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf dem Genfersee (welche allerdings vorab für die Unterbringung von «Vaganten» und Heimatlosen genutzt wurden). Ende des 18. Jahrhunderts verschwindet die Galeerenstrafe mit der Französischen Revolution, ebenso wie eine weitere, in vielen Kantonen angewendete Sanktion: die Übergabe von Straftätern in fremde Kriegsdienste.
2.5 15
Die Entstehung der modernen Freiheitsstrafe im 18. und 19. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert ist das Gefängniswesen in ganz Europa heruntergekommen und verwahrlost, teilweise auch korrupt. Die Anstalten beherbergten auch in den Kantonen der Schweiz undifferenziert Randständige aller Art: Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, psychisch Kranke, Invalide, Obdachlose und Verarmte. Die zu ihrem Betrieb zur Verfügung stehenden Mittel reichten gelegentlich kaum aus, um die Gefangenen zureichend zu ernähren und minimalsten hygienischen Anforderungen zu genügen. Die ursprüngliche Grundidee, Verurteilte durch harte Arbeit in die Gesellschaft einzugliedern, wich der blossen Verwahrung: Das Gefängnis wurde zur «Schule des Verbrechens».
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
Punktuelle Reformansätze lassen sich allerdings bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts belegen: Im Jahre 1703 errichtete PAPST CLEMENS XI. in Rom das «Böse-Buben-Haus», wo jugendliche Straftäter in Einzelzellen inhaftiert und zu Gemeinschaftsarbeit angehalten wurden. Es überrascht nicht, dass die Katholische Kirche bei diesen frühen Reformen eine gewisse Rolle spielte, gilt doch eine Schrift des Benediktinermönchs Jean MABILLON (Réflexions sur les prisons des ordres réligieux, 1690) als früheste pönologische Arbeit. In der Folge wurden in Italien weitere Zellengefängnisse errichtet (Turin, Mailand, Venedig; 1757–1760).
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Vor dem Hintergrund der im 17. Jahrhundert entstandenen frühen Strafrechtswissenschaft (Samuel PUFENDORF, 1634–1694: Straftheorie der General- und Spezialprävention) und dem Gedankengut der Aufklärung (John LOCKE, Charles MONTESQUIEU, Jean-Jacques ROUSSEAU) entwickelte sich im Europa des 18. Jahrhunderts in der Folge eine breite Bewegung der Gefängnisreform: Bannerträger dieser Bewegung war der Engländer John HOWARD (1726–1790), der als Sheriff der Grafschaft Bedfordshire auch mit der Aufsicht über die dortigen Gefängnisse beauftragt war. Er erforschte die Gefängnisse im englischen Königreich, in vielen Staaten Europas (auch in der Schweiz) sowie in den Vereinigten Staaten. Seine Erkenntnisse und Reformvorschläge (u.a. Unterbringung der Gefangenen in Einzelhaft, um kriminelle «Ansteckung» zu verhindern; Verbindung von Arbeitszwang mit finanzieller Arbeitsbelohnung; Gewährleistung der Gesundheit der Gefangenen durch entsprechende Ernährung und Hygiene; regelmässige Inspektion der Gefängnisse durch Dritte) fasste er in einem in viele Sprachen übersetzten und weltweit beachteten Werk (The State of the Prisons in England und Wales, 1777) zusammen. In Deutschland wurden die Arbeiten von HOWARD namentlich durch den Gefängnispfarrer Heinrich WAGNITZ (1755–1838) fortgesetzt. In der Schweiz war die 1786 in Zürich gegründete Asketische Gesellschaft Wegbereiter der Reformen, in welcher Johann Caspar LAVATER (1741–1801) eine massgebliche Rolle spielte. Eine besondere Beachtung verdienen auch die von Johann Heinrich PESTALOZZI (1746–1827) veröffentlichten kritischen Schriften zu Strafjustiz und Strafvollzug und deren Reform (Arners Gutachten über die Kriminalgesetzgebung, 1782).
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Teil I: Einführung 18
Die im Wesentlichen von bürgerlichen, meist auch religiös motivierten Philanthropen getragene Reformbewegung ebnete den Boden für einen grundlegenden Neuanfang im strafrechtlichen Freiheitsentzug – vorerst allerdings nicht in Europa, sondern in den Vereinigten Staaten: Im Jahre 1790 eröffneten die Quäker in Philadelphia im Bundesstaat Pennsylvania eine Reformanstalt, welche sich in betrieblicher und baulicher Hinsicht grundlegend von den traditionellen Anstalten unterschied («pennsylvanisches System»). Die Gefangenen wurden nicht mehr in Kollektivunterkünften untergebracht, sondern in Einzelzellen. Da auf die traditionelle Arbeitspflicht verzichtet wurde, bedeutete dies konsequente Einzelhaft. In dieser Einzelhaft sollte sich der Gefangene dem Studium der Bibel zuwenden und so den Weg zu innerer Einkehr und Besserung finden. Dieses als «solitarysystem» («Einsiedler-System») bezeichnete Vollzugskonzept bewährte sich allerdings nicht. In weiten Teilen Europas später übernommen (so auch in der Schweiz) wurde dagegen das bauliche Konzept der Anstalt: An eine zentrale Kommando- und Überwachungszentrale wurden strahlenförmig mehrere mehrstöckige Anstaltsflügel angegliedert, in welchen auf den Aussenseiten die Einzelzellen angeordnet waren. Im Innern wiesen die Anstaltsflügel Lichthöfe auf (mit balkonartigen Galerien, welche den Zugang zu den Einzelzellen ermöglichten), sodass von der Zentrale aus jede einzelne Zellentüre und alle Gefangenenbewegungen einsehbar waren (sog. panoptischer Anstaltsbau; nach Jeremy BENTHAM, 1748–1832). Eine zweite Reformanstalt wurde im Jahre 1823 in Auburn im Bundesstaat New York in Betrieb genommen, welche im Gegensatz zur Anstalt in Philadelphia die Gemeinschaftsarbeit einführte. Allerdings unterlagen die Gefangenen während der gemeinschaftlichen Arbeit einem strengen Schweigegebot. Dieses Vollzugskonzept («silent system» oder «Schweige-System») wurde 1829 auch in der in Philadephia neu errichteten Anstalt «Eastern Penitentiary» übernommen und zum Vorbild der europäischen Vollzugsreformen (erstmals realisiert 1842 im englischen Pentonville). Ein bis in die Gegenwart hinein wirkender europäischer Beitrag zur Gefängnisreform stellte schliesslich ein vom Irländer CROFTEN im Jahre 1851 veröffentlichtes Vollzugskonzept dar, welches auf Ideen des Reformers John HOWARD zurückgriff. Dieses «Stufenkonzept» (oder «Irisches Konzept» oder «Progressivkonzept») wurde vorerst in Irland und England eingeführt: Danach soll der Gefangene nicht die ganze Zeit der Inhaftierung durchgehend in Einzelhaft, unterbrochen von Gemeinschaftsarbeit, verbringen. Als erste Vollzugsstufe ist die strikte Einzelhaft obligatorisch, anschliessend werden dem
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
Gefangenen stufenweise («progressiv») immer mehr Gemeinschaftskontakte und Freiheiten zugebilligt. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in England viele zu Freiheitsstrafen Verurteilte als besondere Vollzugsstufe nach der britischen Kolonie in Australien deportiert (und dort vom britischen Gouverneur mit Auflagen «bedingt entlassen»). Ab Mitte des 19. Jahrhundert deportierte auch Frankreich Straftäter in grossem Umfang nach den Kolonien in Algerien, Guyana und Neu-Kaledonien. Diese Sanktion wurde erst 1938 aufgehoben; die letzten Deportierten kehrten im Jahre 1953 ins französische Mutterland zurück.
18a
Die Neuerungen (Unterbringung der Gefangenen in Einzelzellen, Gemeinschaftsarbeit mit Schweigegebot, Stufensystem, z.T. panoptische Anstaltsbauten) wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Politik und Wissenschaft – in den nationalen Parlamenten und internationalen Kongressen, beginnend mit dem Ersten Internationalen Gefängniskongress in London 1872 – breit diskutiert und von den meisten europäischen Staaten nach und nach übernommen.
19
2.6
Die Gefängnisreformen in der Schweiz im 19. Jahrhundert
Ende des 18. und anfangs der 19. Jahrhunderts führte die Zunahme der verhängten Freiheitsstrafen in den meisten Kantonen zu einem schweren Mangel an Haftplätzen. In einigen Kantonen wurden Freiheitsstrafen deshalb vorerst nur zögerlich eingesetzt (im Kanton Neuenburg z.B. wurde im Jahre 1783 erstmals eine Freiheitsstrafe verhängt und im Schloss Môtier vollzogen). Andere Kantone waren gezwungen, ihre Strafgefangenen in andere Kantone in Pension zu geben (auch beim Reichsgrafen zu Kastel in Oberdischingen bei Ulm). In etlichen schweizerischen Kantonen wurden die neuen Vollzugskonzepte indessen sehr rasch eingeführt. Eine Vorreiterrolle kam dabei der «Schweiz. Gemeinnützigen Gesellschaft» zu, welche bereits im Jahre 1826 einen umfassenden Bericht über die Zustand der Strafanstalten in der Schweiz veröffentlichte. Die ersten Zellengefängnisse mit konsequenter Einzelhaft wurden bereits 1825 und 1826 in Genf und Lausanne in Betrieb genommen. Und in den 1839 bzw. 1857 in den Kantonen St. Gallen und Aargau neu eröffneten Anstalten St. Jakob und Lenzburg (beide als panoptische Anstaltsbauten errichtet) wurde erstmals auf dem europäischen Kontinent das Stufensystem eingeführt. Der Alltag in diesen Anstalten wurde allerdings noch lange durch ein rigides Regel-
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Teil I: Einführung
werk geprägt (QI 2.6). Schliesslich wurde das Stufensystem noch vor Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Kantonen um die bedingte Entlassung (ursprünglich eine Form der Begnadigung; erstmals im Kanton Aargau 1868) als letzte Vollzugsstufe erweitert. 1881 wurde im Kanton Neuenburg der bedingte Vollzug von Freiheitsstrafen eingeführt. 21
Weltweites Interesse fand schliesslich die 1895 im Kanton Bern eröffnete Anstalt Witzwil, welche die grosse Mehrheit ihrer Gefangenen ausserhalb der Anstaltsmauern beschäftigte (überwiegend im Landwirtschaftsbetrieb) und damit als Vorbild für den offenen Strafvollzug gilt.
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Mit Ausnahme der kurzen Zeit der Helvetik (1798–1803), in welcher eine leicht angepasste Form des 1791 erlassenen Code Napoléon in Kraft war, verblieb das Strafrecht im Zuständigkeitsbereich der einzelnen Kantone. Im Auftrag des Bundesrates veröffentlichte der Berner Strafrechtsprofessor Carl STOOSS im Jahre 1893 einen Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch (welches in modifizierter Form allerdings erst im Jahre 1942 in Kraft treten sollte).
2.7 23
Die Entwicklung der Freiheitsstrafe im 20. Jahrhundert
In der Schweiz wurde seit der Jahrhundertwende der offene, mit einem Landwirtschaftsbetrieb verbundene Strafvollzug in vielen Kantonen ausgebaut (Anstalten Bellechasse/FR, Wauwilermoos/LU, Schöngrün/SO, St. Johannsen/BE, Hindelbank/BE, Saxerriet/SG etc.). Die Unterbringung der Gefangenen in Einzelzellen wurde ebenso zum Standard wie das Stufensystem. Letzteres wurde weiter differenziert und perfektioniert und mit einer autoritär-paternalistischen Führung umgesetzt. Ruhe und Ordnung prägten weiterhin den Vollzugsalltag, der durch detaillierte Regeln bestimmt war (QI 2.7). Die in den 1920erJahren in der Linthebene geplante interkantonale «Verwahrungsanstalt für Unverbesserliche» scheiterte aus finanziellen Gründen (die Schaffung einer schweizerischen Centralanstalt für schwere Verbrecher hatte im Jahre 1878 bereits der Schweiz. Verein für Straf- und Gefängniswesen gefordert). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden alle Vollzugsanstalten für längere Freiheitsstrafen entweder einer Gesamtsanierung unterzogen oder wichen einem Neubau (Ende des 20. Jahrhunderts stammte lediglich die ebenfalls umfassend sanierte Anstalt Lenzburg noch aus dem 19. Jahrhundert). Damit wurden die baulichen Voraussetzungen für weitere Vollzugsdifferenzierungen geschaffen.
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
QI 2.6 Hausordnung für die Weiberarbeitsanstalt in Bern 1. Morgens um 5 Uhr im Winter (vom 1. Oktober bis 1. Mai) und um 4½ Uhr im Sommer (vom 1. Mai bis 1. Oktober) sollen sämtliche Gefangene durch ein Glockensignal geweckt werden. 2. Beginn der Arbeiten nach dem Gebet, ¾ Stund nach dem Aufstehen. 3. Morgenessen um 7 Uhr, nachher Arbeit bis 12 Uhr. 4. Mittagessen um 12 Uhr, Wiederbeginn der Arbeit um ½1 Uhr. 5. Spazieren bei schönem Wetter von 2 bis 2½ Uhr. 6. Um 4 Uhr Nachmittags Pause von 15 Minuten zum Genuss des Vesperbrodes, dann wieder Arbeit. 7. Um 7 Uhr Nachtessen. 8. Um 8 Uhr Gebet und sodann Bezug der Schlafzimmer. 9. An Sonntagen wird erst um 6 Uhr Morgens geweckt, und sofort nach dem Morgengebet gefrühstükt, ebenso ist um 6½ Uhr Nachtessen und um 7½ Uhr Schlafengehen. 10. Das Abwaschen der Teller und Serwissen findet der Rangordnung nach statt und wechselt alle Wochen. 11. Ebenso findet das tägliche Reinigen der Zimmer dem Range nach statt, mit wöchentlichem Wechsel. 12. An den Wochentagen kann nach dem Nachtessen nur vorgelesen werden. An den Sonntagen kann jede Gefangene selbst lesen und ist am Abend das Vorlesen untersagt. 13. An Sonntagen gehen alle Gefangenen in die Predigt, und zwar die Katholiken Morgens ¼ vor 8 Uhr und die Reformierten um 9 Uhr. 14. Die Kehrordnung für die Benutzung des Abtrittes findet täglich 6 mal statt, 3 mal Vormittags und 3 mal Nachmittags. 15. Wer in der Zwischenzeit auf den Abtritt zu gehen genöthigt ist, muss die Erlaubniss der Aufseherin nachsuchen. 16. Die Aufseherinnen sind beauftragt, dafür zu sorgen, dass obige Vorschriften genau befolgt werden. Ebenso werden Wachtmeister und Verwalter, so wie die Frau des Verwalters nachsehen, dass obige Vorschriften pünktlich durchgeführt werden. Ausnahmen sind bloss in besonderen Fällen und nur mit Genehmigung des Verwalters zulässig. Bern, den 2. Januar 1889 Eingesehen und genehmigt der Direktor der Polizei Sig. Stockmar Der Verwalter der Strafanstalt J. Blumenstein
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Teil I: Einführung 24
In rechtlicher Hinsicht blieb der Strafvollzug auch nach Inkrafttreten des Schweizerischen Strafgesetzbuches im Jahre 1942 weiterhin Sache der Kantone. Diesbezüglich sind allerdings fünf Meilensteine hervorzuheben: Seit dem Inkrafttreten des StGB leistet der Bund namhafte Beiträge an Anstaltsbauten, seit 1987 auch an Modellversuche im Bereich des Straf- und Massnahmenvollzugs und nimmt damit (zunächst zögerlich) Einfluss auf die Entwicklung des Vollzugs. In den Jahren 1956 bis 1963 schliessen sich die Kantone zu drei regionalen Vollzugsgemeinschaften (den «Strafvollzugskonkordaten») zusammen, da kein Kanton in der Lage ist, sämtliche vom StGB geforderten Anstaltstypen zu betreiben. Ab dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sichert die Rechtsprechung des Bundesgerichts dem Bundesverfassungsrecht (Grundrechtsschutz) und dem Völkerrecht (EMRK und weitere internationale Übereinkommen) ein stärkeres Gewicht. Entsprechend nimmt die Autonomie der Kantone bei der Ausgestaltung des Strafvollzugs weiter ab. Im Jahre 1977 gründen Bund und Kantone die Stiftung «Schweizerisches Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal». Dieses trägt durch eine Professionalisierung des Berufsstandes der Vollzugsmitarbeitenden dazu bei, dass diese den komplexer gewordenen Aufgaben (vom «Gefangenenwärter» zum «Betreuer») besser Rechnung tragen können. Mit der seit den 1980er-Jahren vorbereiteten, aber erst am 13. Dezember 2002 von den eidgenössischen Räten verabschiedeten und auf den 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Gesamtrevision des Allgemeinen Teils des StGB verfügt die Schweiz erstmals über weitgehend umfassende – aber noch wenig detaillierte – einheitliche Vollzugsvorschriften. Ferner ist im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen eine Verfassungsänderung beschlossen worden (Volksabstimmung vom 12. März 2000; RII 1.2), welche den Bund generell zum Erlass von Vorschriften zum Straf- und Massnahmenvollzug ermächtigt. Damit zeichnet sich längerfristig die Möglichkeit eines Systemwechsels vom kantonalen zu einem Bundesvollzugsrecht ab.
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
QI 2.7 Streiflichter aus der Geschichte der Strafanstalt Pöschwies 1851 «Wenn man die Geschichte der Strafanstalt, namentlich in den letzten Dezennien durchgeht, so muss man sagen: das Glück hat ihr niemals gelächelt, ein eigentlicher Unstern waltet über ihr, und es scheint, als ob das Düstere, das in der Geschichte der Bewohner liegt, sich auch auf ihre Geschichte ausdehnte.» (Polizeidirektor Benz zur Strafanstalt Oetenbach, Vorgängerin der Strafanstalt Pöschwies/Regensdorf; Heft I, 8) 1901 «Eine Feier eigentümlicher Art ist letzten Sonntag in Regensdorf gehalten worden: Die Einweihung der Kirche in der neuen Strafanstalt (...) Es ist ein schmuckes, trauliches Gotteshaus, in hellbraunem Ton gehalten, mit farbigen Rundbogenfenstern und verziertem vorspringendem Balkenwerk an der Decke. Auf der Empore befindet sich die Orgel. Hier gibt es Plätze für Beamte und Gäste. Unten im Kirchenraum sitzen die Sträflinge. Kein schneidenderer Gegensatz lässt sich denken, als die Anmut dieses Kirchleins und der Anblick seiner Besucher, von denen jeder einzelne sorgsam eingeschachtelt ist in einen viereckigen Holzkasten, aus dem nur sein Kopf hervorschaut. Staffelförmig erheben sich diese Sperrsitze hinter einander vom Grund der Kirche unter der Empore bis hinan zur Rückwand. Es sind jeweils ca. 17 Sitzplätze neben einander. Durch die Mitte des Raumes geht eine hohe, hölzerne Wand. So dass sich die Insassen auf der anderen Seite nicht sehen können. Die untersten drei Reihen sind von den übrigen durch eine Holzwand abgetrennt. Hinter dieser sind Plätze für die Frauen. Als wir eintraten, war die Zuchthaus-Gemeinde schon versammelt. Ein erster flüchtiger Blick schweift über die Gefangenen, um erst nach und nach auf einzelnen Physiognomien zu verweilen. Die Männer haben nur die obere Partie ihrer Abteilung besetzt. Die Frauen, in weissen Häubchen und weissen, vorn spitz zulaufenden Tüchern um die Schultern, sitzen dicht unter der Empore. Alle Sträflinge tragen vorne links auf der Brust ein rotes Täfelchen mit ihrer Nummer, die dann, wenn sie in die Zellen zurückkehren, wieder aussen an ihrer Tür aufgehängt wird.» (Zürcherische Freitagszeitung Nr. 42 vom 18. Oktober 1901; Heft I, 13/14) 1912 Menuplan Sonntag Montag Dienstag
Mittags Kartoffelsuppe, Brot, Fleisch und ein Gemüse Erbsensuppe mit Kartoffeln, Brot Erbsensuppe mit Gerste, Brot, 250g Kartoffeln und 75g Käse Kartoffelsuppe, Brot und Fleisch
Mittwoch etc. (Heft I, 13/14)
Abends Griessuppe mit Milch aufgekocht Hafersuppe Hafersuppe Reissuppe mit Suppenknochen
1939 «Wasserbehandlung: Diese wurde mutmasslich um 1923 herum auf Vorschlag des Arztes, Dr. Bolleter eingeführt als Massnahme zur Beruhigung Renitenter, aber in der weiteren Anwendung haben sich die Grenzen zwischen ärztlich verordneter
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Teil I: Einführung Massnahme und Disziplinarmittel verwischt. Jährlich seien 12 bis 14 Behandlungen mit gutem Erfolg durchgeführt worden. (...) Im Souterrain des Frauenhauses waren zwei Badezellen. In diesen wurden die Männer nackt und die Frauen im Hemd bekleidet auf Distanz von 2,5 m abgespritzt und zwar im Sommer wie Winter. Der Arzt war anwesend und stoppte nach 2 oder 3 Minuten. Meistens sei der Gefangene gefügig geworden, so dass der Schlauch mit 18 mm Rohr versorgt werden konnte. Wegen dieser Behandlung habe es in den letzten 10 Jahren nie Klagen gegeben.» (Heft IV, 21) 1942 «Die volljährigen Gefangenen trugen braune, die Jugendlichen grüne Kleider. Die Strafarten wurden mit Tragnummern kenntlich gemacht. Diese Schilder mussten stets getragen werden. Schwarze Aufschläge an Rock und Weste bezeichneten zudem die Zuchthausstrafe; ebenso die Nummern von 1–200. Die Verwahrten trugen blaue Aufschläge und anfänglich eine gelbe Nummer ab 500. Selbst als später alle Schilder die gleiche rote Farbe hatten, wurde manchmal von den «Gelben» gesprochen. Die Gefängnisstrafe – früher Arbeitshaus genannt – blieb braun. Die Erziehungsstufen (Klassen) wurden mit farbigen Winkeln gekennzeichnet, die 2. Klasse hatte gelbe, später orange, die 3. Klasse grüne. Diese Winkel wurden auf Rock und Weste, bei den Frauenkleidern auf den linken Oberarm des Rockes genäht.» (Heft I, 36) 1946–1964 § 13 der Hausordnung: Tagesordnung a) an Werktagen: 05.45 Tagwache, Ordnen der Zelle, Morgenessen 07.00–12.00 Arbeit 12.00–13.30 Mittagessen und eine halbe Stunde Spazieren bzw. Turnen 13.30–18.00 Arbeit 18.00 Nachtessen 20.15 Lichterlöschen für 1. und 2. Klasse 21.00 Lichterlöschen für 3. Klasse b) an Sonntagen: 06.30 Tagwache, Ordnen der Zelle, Morgenessen 08.00–09.00 Kath. Gottesdienst 09.30–10.30 Ref. Gottesdienst 11.30 Mittagessen 14.00 Gesangstunde oder Veranstaltung 17.30 Nachtessen. Lichterlöschen wie an Werktagen (Heft III, 56) Quelle: BRÜTSCH Max: Kantonale Strafanstalt Pöschwies. Fragmente der Vergangenheit. Heft I–IV, Regensdorf 1996 bis 2006.
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2. Geschichte der Freiheitsstrafe und ihres Vollzugs
In der Schweiz wie im übrigen Europa lässt sich die Entwicklung des strafrechtlichen Freiheitsentzugs in konzeptueller Hinsicht im vergangenen Jahrhundert durch die folgenden fünf Tendenzen kennzeichnen: Die repressiven Zwecke des Vollzugs werden zugunsten kriminalpolitischer Zielsetzungen (der Verhütung künftiger Straftaten) zurückgedrängt. Die Freiheitsstrafe besteht im Entzug der Freiheit (und der sich unmittelbar daraus ableitenden Konsequenzen). Der Inhaftierte soll im Vollzug also nicht darüber hinaus «bestraft» werden, sondern auf ein straffreies Leben während und nach dem Vollzug vorbereitet werden (in Teilen der Vereinigten Staaten formiert sich dazu seit den 1990er-Jahren allerdings eine Gegenbewegung). Der Freiheitsentzug wird zunehmend differenziert und individualisiert: Für die unterschiedlichen Insassengruppen werden – vorab nach spezialpräventiven Gesichtspunkten – verschiedene Anstaltstypen und Vollzugsregimes geschaffen. Für die einzelnen Insassen erfolgt der Vollzug nach individuellen Vollzugsplänen. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende rigide Progressivsystem wird entsprechend zurückgedrängt. Die Vollzugsanstalten werden zunehmend nach aussen geöffnet: Der Freiheitsentzug bedeutet nicht mehr eine vollständige Isolation innerhalb des Gefängnisareals. Brief-, Telefon- und Besuchskontakte werden erleichtert, die Beurlaubungsmöglichkeiten erheblich ausgebaut. Die Rechtstellung der Inhaftierten wird verbessert. Diese sind nicht mehr rechtlose «Out-laws», sondern geniessen die verfassungsmässigen Grundrechte und erhalten zu ihrer Durchsetzung die erforderlichen Rechtsmittel. Die Einführung von alternativen Sanktionen und Vollzugsformen (1971 ambulante Massnahmen mit Strafaufschub; 1974 Halbgefangenschaft, Halbfreiheit/Arbeitsexternat, tageweiser Vollzug; 1990 gemeinnützige Arbeit; 1999 Electronic Monitoring) vermag den kurzen strafrechtlichen Freiheitsentzug zwar zurückzudrängen. Die Bezeichnung dieser Sanktionen als «Alternativen» macht indessen deutlich, dass der Freiheitsentzug weiterhin als Massstab strafrechtlicher Rechtsfolgen gilt. Der Freiheitsentzug bleibt damit weiterhin eine unverzichtbare Sanktion, obwohl an seiner kriminalpolitischen Wirksamkeit Zweifel bestehen. Die Zurückdrängung des Freiheitsentzugs verändert die Zusammensetzung der im Freiheitsentzug stehenden Population, vermag aber die Gesamtzahl der im strafrechtlichen Freiheitsentzug stehenden Personen nur in ganz wenigen Staaten zu reduzieren.
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25
Teil I: Einführung
3.
Pönologische Festlegungen
3.1
Ausgangslage
1
Der unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe kommt (auch im schweizerischen Recht) innerhalb des gesamten Sanktionensystems die Funktion einer Residual- und Auffangsanktion zu: Ihr Anwendungsbereich ist – abgesehen vom Bereich geringfügiger Kriminalität – umfassend. Ferner können alle anderen Sanktionen im Grundsatz in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden. Mit Ausnahme der Geldstrafe knüpft das Strafrecht die Anwendung der übrigen Sanktionen dagegen an prognostische und/oder persönlichkeitsbezogene Kriterien, verlangt also eine spezifische Indikation.
2
Das weitgehende Fehlen spezifischer Indikationsregeln für die Anordnung der Freiheitsstrafe hat zur Konsequenz, dass die im Freiheitsentzug zu verfolgenden Aufgaben weniger eindeutig und einheitlich bestimmbar sind als für den Vollzug anderer Sanktionen. Die in Art. 75 Abs. 1 StGB formulierten Grundsätze bedeuten indessen eine wichtige Klärung der im Vollzug der Freiheitsstrafe zu verfolgenden Aufgaben (Teil II, Abschnitt 5.2). Diese Grundsätze entsprechen der auf dem europäischen Kontinent vorherrschenden Strafvollzugslehre («Pönologie»; LI 3), sind aber nicht ganz vollständig. Nachstehend sollen die in der Pönologie anerkannten – und auch im schweizerischen Strafvollzugsrecht explizit oder implizit verankerten – Grundsätze für den Vollzug der Freiheitsstrafe summarisch dargestellt werden.
3
3.2
Allgemeine Grundsätze im Vollzug der Freiheitsstrafe
3.2.1
Der Vollzugsauftrag
An erster Stelle ist – scheinbar banal – die Aufgabe zu nennen, (vollstreckbare) Freiheitsstrafen auch tatsächlich zu vollziehen. Das setzt eine – in der Schweiz durch die Kantone zu gewährleistende – Vollzugsorganisation voraus, welche in der Lage ist, den Vollzug von Freiheitsstrafen in quantitativer und qualitativer Hinsicht sicherzustellen. Dies für alle zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten, ungeachtet ihrer persönlichen Merkmale, Eigenschaften und Umstände und nötigenfalls auch gegen ihren Widerstand. Diesem Leistungsauftrag ist in der Praxis
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3. Pönologische Festlegungen
LI 3 Literatur zur zeitgenössischen Pönologie Lehrbücher BÖHM Alexander: Strafvollzug. 3. Aufl. Neuwied 2003; BOULOC Bernard: Pénologie. Paris 1992; COMBESSIE Philippe: Sociologie de la prison. Paris 2009; COYLE Andrew: Understanding Prisons: Key Issues in Policy and Practice. Maidenhead 2005; FAUGERON Claude / CHAUVENET Antoine / COMBESSIE Philippe (Hrsg.): Approches de la prison. Perspectives criminologiques. Paris/Bruxelles 1996; HÖFLICH Peter et al.: Grundriss Vollzugsrecht. Das Recht des Strafvollzugs, der Untersuchungshaft und des Jugendvollzugs. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg 2014; KAISER Günther / SCHÖCH Heinz: Strafvollzug. 5. Aufl. Heidelberg 2003; LARGUIER Jean: Criminologie et science pénitentiaire. Paris 2005; LAUBENTHAL Klaus: Strafvollzug. 7. Aufl. Berlin/Heidelberg 2015; LIEBLING Alison / assisted by ARNOLD Helen: Prisons and Their Moral Performance: A Study of Values, Quality, and Prison Life. Oxford 2004; MATTHEWS Roger: Doing Time: An Introduction to the Sociology of Imprisonment. 2. Aufl. Basingstoke 2009; SCHWIND Hans-Dieter / BLAU Günter: Strafvollzug in der Praxis. 2. Aufl. Berlin/New York 1988; WALTER Michael: Strafvollzug. 2. Aufl. Stuttgart/München u. a.1999. Internationale Standards ASSOCIATION INTERNATIONALE DE RÉFORME PÉNALE: Making standards work. An international handbook on good prison practice. Paris 2001; BUNDESMINISTERIUM DER JUSTIZ (BERLIN) / BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ (WIEN) / EIDGENÖSSISCHES JUSTIZUND POLIZEIDEPARTEMENT (BERN) (Hrsg.): Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug 1962–2003. Mönchengladbach 2004; COYLE Andrew: A Human Rights Approach to Prison Management. Handbook for Prison Staff. London 2009; DÜNKEL Frieder: Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze von 2006. In: Preusker Harald / Maelicke Bernd / Flügge Christoph (Hrsg.): Das Gefängnis als RisikoUnternehmen. Baden-Baden 2010, 202–215; FLÜGGE Christoph: Internationale und nationale Kontrollmechanismen im Strafvollzug. In: Preusker Harald / Maelicke Bernd / Flügge Christoph (Hrsg.): Das Gefängnis als Risiko-Unternehmen. BadenBaden 2010, 216–230; VAN ZYL SMIT Dirk / SNACKEN Sonja: Principles of European Prison Law and Policy. Punishment and Human Rights. Oxford 2009. Weitere Literaturempfehlungen AEBERSOLD Peter: Risikomanagement und Freiheitsstrafe. In: Sutter-Somm Thomas et al. (Hrsg.): Risiko und Recht. Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 2005. Basel/Genf/München 2004, 557–574; ADELSBERG Geoffrey / GUENTHER Lisa / SCOTT Zeman (Hrsg.): Death and other Penalties. New York 2015; BESOZZI Claudio: Die (Un)fähigkeit zur Veränderung. Eine qualitative Untersuchung über Rückfall und Bewährung von erstmals aus dem Strafvollzug Entlassenen. Bern 1998/1999; BIENECK Steffen / PFEIFFER Christian: Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug. Forschungsbericht des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. (KFN). Hannover 2012; BRENZIKOFER Paul: Vom Schellenwerk zur Mutter-KindAbteilung: Entwicklungen der Gefängnisarchitektur in der Schweiz. In: Info Bulletin – bulletin info 1/2009, 7–10; CHANTRAINE Gilles: Prison, Désaffiliation, Stigmates. L’engrenage carcéral de l’«inutile du monde». Déviance et société 4/2003, 363–386; CLEMMER Donald: The Prison Community. New York 1968; FOUCAULT Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 15. Aufl. Frankfurt a.M. 2015; GOFFMAN Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten
27
Teil I: Einführung und anderer Insassen. Frankfurt a.M. 1972; JENNINGS William / KILKENNY Robert / KOHLBERG Lawrence: Moral Development. Theory and Practice for Youthful and Adult Offenders. In: Laufer W.S./ Day J.M. (Hrsg.): Personality Theory, Moral Development and Criminal Behavior. Lexington/Toronto 1983; KASPAR Johannes / MAYER Stefanie: Täter-Opfer-Ausgleich im Strafvollzug – Grundlagen und praktische Erfahrungen aus Modellprojekten. In: Forum Strafvollzug 4/2015, 261– 266; KUNZ Karl-Ludwig: Kriminalpolitik in der Schweiz. In: NK 2/2015, 131–135; MAEDER Christoph / BROSZIEWSKI Achim: Vom Umgang mit «Schwachen und Schwierigen» im offenen Strafvollzug. Ein soziologischer Evaluationsbericht über das Zusatzprogramm für Leistungsschwache Insassen in der Kantonalen Strafanstalt Saxerriet. St. Gallen 1997; MOORE Nina M.: The political roots of racial tracking in American criminal justice. New York 2015; RHODES Lorna A.: Total Confinement. Madness and Reason in the Maximum Security Prison. Berkeley 2004; RADZINOWICZ Leon / WOLFGANG Marvin E. (Hrsg.): The Criminal in Confinement. New York/London 1971; SEELICH Andrea: Wie bekommt man die Menschenrechte in die Gefängnisarchitektur? In: KrimPäd 40/2012, 31–34; SYKES Gresham M.: The Society of Captives. A Study of a Maximum Security Prison. Princeton 1958; WALTER Joachim / WASCHEK Uli: Die Peergroup in ihr Recht setzen. Das Just Community-Projekt in der Justizvollzugsanstalt Adelsheim. In: Bereswill Mechthild et al. (Hrsg.): Jugendstrafvollzug in Deutschland. Grundlagen, Konzepte, Handlungsfelder. Bd.33. Mönchengladbach 2002, 191–214.
keineswegs immer problemlos nachzukommen, etwa nach einer unvorhersehbaren Zunahme der Gefangenenpopulation oder im Freiheitsentzug an sprachunkundigen oder psychisch oder physisch beeinträchtigten Strafgefangenen oder auch an Verurteilten, welche als besonders fluchtoder «gemeingefährlich» gelten.
3.2.2
Der Sicherheitsauftrag
4
Der Vollzugsauftrag schliesst einen ausdrücklichen Sicherheitsauftrag ein. Dieser zielt auf die Verhütung von Straftaten während der Dauer des Freiheitsentzugs: einerseits auf die Verhinderung von Fluchten und nachfolgenden Straftaten, andererseits auf die Verhütung von Straftaten in der Anstalt selbst, sei dies gegenüber dem Anstaltspersonal oder den Mitgefangenen. Eine umfassende Sicherung der Strafgefangenen kann bloss durch bauliche und technische, fluchtverhindernde Massnahmen offensichtlich nicht ausreichend sichergestellt werden. Vorkehrungen dieser Art sind – sowohl mit Blick auf die Verhinderung von Fluchten als auch im Bereich der «inneren Sicherheit» – durch organisatorische und personelle Vorkehrungen zu ergänzen.
5
Dem Gebot der Verhältnismässigkeit entsprechend sind auf die Bevölkerung bezogene Massnahmen zur Sicherung von Strafgefangenen indessen differenziert einzusetzen: Besteht weder Fluchtgefahr noch das
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3. Pönologische Festlegungen
Risiko weiterer (nennenswerter) Straftaten, darf und soll der Sicherheitsauftrag durchaus auf eine blosse Anwesenheitskontrolle im Interesse der tatsächlichen Sicherstellung des Freiheitsentzugs beschränkt werden. Werden solche Risiken als gering, aber nicht als völlig ausgeschlossen beurteilt, dann genügen fluchthindernde bauliche, technische, organisatorische und personelle Massnahmen. Besteht dagegen eine erhebliche Flucht- und/oder Wiederholungsgefahr, sind fluchtvermeidende Massnahmen geboten. Für solche Verurteilte müssen also geschlossen geführte Vollzugsanstalten und besondere Sicherheitsabteilungen zur Verfügung stehen. Allerdings können Fluchten auch aus solchen Einrichtungen – namentlich nach Geiselnahmen – nicht völlig ausgeschlossen werden. Nach der in den vergangenen drei Jahrzehnten erfolgten Erweiterung geschlossener Vollzugsanstalten und der Einrichtung von Sicherheitsabteilungen sind Mängel in der Umsetzung dieses Auftrages allerdings noch immer darin zu erkennen, dass Flucht- oder Wiederholungsgefahr in einzelnen Fällen, namentlich bei ausländischen Staatsangehörigen, allzu ungeprüft vorausgesetzt wird («Übersicherung»).
3.2.3
Die Gewährleistung der Rechtmässigkeit des Vollzugs
Die Sicherstellung des Vollzugs, nötigenfalls mittels einschneidender Sicherheitsmassnahmen, kennzeichnet also bloss einen Teil des Leistungsauftrags an den Vollzug. Denn diese Aufgaben sind nicht «um jeden Preis» zu erfüllen, sondern haben immer im Rahmen der Rechtmässigkeit zu erfolgen. Dieser Rahmen wird durch die Gesamtheit der Rechtsordnung bestimmt, umfasst also das Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsrecht des Bundes und der Kantone, und nicht bloss das spezielle Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht. Das bedeutet beispielsweise, dass zur Sicherung der Strafgefangenen nicht beliebige Mittel eingesetzt werden dürfen, sondern nur solche, welche ihre verfassungsmässigen Grundrechte berücksichtigen und gesetzlich vorgesehen sind. Das Gebot des rechtmässigen Handelns richtet sich wohlverstanden nicht bloss an die kantonalen Vollstreckungs- und Vollzugsbehörden, sondern auch an das Anstaltspersonal. Angesicht der wenig transparenten und kohärenten Normierung des Strafvollzugs (Teil II, Kapitel 1) ist dieser Auftrag im Vollzugsalltag indessen nicht immer leicht umsetzbar.
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6
Teil I: Einführung
3.2.4
Die Normalisierung des Vollzugsalltags
7
Im Vollzug einer Freiheitsstrafe ist darüber hinaus die Erfahrung zu berücksichtigen, dass ein Freiheitsentzug in der «totalen Institution» einer Vollzugsanstalt leicht unerwünschte Folgen für die Inhaftierten haben kann: In der traditionell geführten Vollzugsanstalt wird der Tagesablauf detailliert vorgegeben, Konfliktpotential zwischen den Strafgefangenen und zwischen Strafgefangenen und Mitarbeitenden wird durch ein detailliertes Regelwerk bestmöglich beseitigt, für alles gibt es eine Regel und einen zuständigen Dienst. Unter solchen Voraussetzungen verliert der Strafgefangene die für ein Leben ausserhalb des Vollzugs erforderliche Eigenverantwortung für sein Handeln und wird zum fremdgesteuerten «Objekt» oder «Klienten». Die Konsequenzen derartiger Vollzugsbedingungen sind in der Gefängnisliteratur unter den Stichworten «Prisonisierung», «sekundäre Kriminalisierung» und «Betreuungsverwahrlosung» beschrieben worden. Dass sich unter solchen Voraussetzungen leicht auch spezielle «Gefängnissubkulturen» entwickeln können, ist nahe liegend. Ein sog. White Paper der britischen (Thatcher-)Regierung vom Februar 1990 bilanziert deshalb ernüchternd, die Freiheitsstrafe sei «an expensive way of making bad people worse».
8
Eine Antwort auf derartige Folgen des Freiheitsentzugs gibt das auch unter der Bezeichnung «Angleichungsgrundsatz» bekannte Konzept der Normalisierung des Vollzugsalltags, welches auch in der Schweiz als zentrales Vollzugskonzept anerkannt ist – vorerst durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts, welche mit Art. 75 Abs. 1 StGB ins geschriebene Recht übernommen wurde. Nach diesem Verständnis soll der Strafgefangene im Vollzug in realitätskonformer und situationsangepasster Weise als Verantwortung tragender, über autonome Entscheidungsbefugnisse verfügender Akteur seine Bedürfnisse geltend machen können und in die Lage versetzt werden, Interessen-, Rollen- und Wertkonflikte (sozialadäquat) auszutragen. Der Vollzugsalltag soll also möglichst realitätskonform ausgestaltet werden, damit Strafgefangene im Freiheitsentzug «das Leben nicht verlernen».
9
Es versteht sich von selbst, dass das Normalisierungskonzept im offenen Vollzug erheblich weitgehender umsetzbar ist als im geschlossenen, doch ist eine möglichst umfassende Normalisierung auch unter restriktiven Vollzugsbedingungen bestmöglich anzustreben. Normalisierung beginnt mit dem Verzicht auf eine lückenlos vorgegebene – z.B. durch Glockenzeichen strukturierte – Regelung des Tagesablaufs, mit
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3. Pönologische Festlegungen
der Übertragung von Verantwortung für die Ruhezeit, etwa mit dem Verzicht auf ein zentral gesteuertes, abendliches Lichterlöschen. Dazu kann weiter gehören: Im Rahmen eines «Gruppenvollzugs» die Übertragung von Verantwortung für die persönliche Kleinwäsche (was die Bereitstellung von Waschmaschinen in den Wohngruppen voraussetzt), für die Planung und Zubereitung einzelner Mahlzeiten (wofür Kochgelegenheiten und ein «Gruppenbudget» erforderlich sind), für die Verwendung der dem Strafgefangenen zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen sowie durch die Übernahme der Stellvertretung des ferienabwesenden Leiters eines Arbeitsbetriebes. Freizeitaktivitäten innerhalb und ausserhalb der Wohngruppe werden im normalisierten Vollzug nicht verbindlich vorgegeben, sondern durch fakultative Angebote ersetzt (ggf. mit Kostenfolge für den Strafgefangenen). Die Anforderungen im Arbeitsbereich werden jenen im normalen Arbeitsleben angepasst (die Arbeitszeit wird z.B. nicht mehr regelmässig durch vollzugsbezogene Aktivitäten wie Besprechungen, Besuche, Spaziergang unterbrochen). Die Zuteilung von Arbeitsplätzen und die Bemessung des Entgelts für die geleistete Arbeit erfolgt nach den im normalen Arbeitsmarkt geltenden Regeln. Zur Normalisierung gehört aber auch der Einbezug der Strafgefangenen in die Gestaltung und Bewältigung des Vollzugsalltags (etwa durch die Schaffung von «Insassenräten» oder die Benennung von Strafgefangenen als Verantwortliche für bestimmte Alltagsaufgaben). Von besonderer Bedeutung für die Normalisierung des Vollzugsalltags sind schliesslich Massnahmen, welche eine Abschottung des Anstaltsalltags von der Aussenwelt verhindern bzw. Kontakte zur Aussenwelt ermöglichen (Teil II, Abschnitt 5.10). Das Vollzugskonzept der Normalisierung ist im schweizerischen Strafvollzug im Verlaufe der vergangenen drei Jahrzehnte bereits recht weitgehend – aber anstaltsbezogen in sehr unterschiedlichem Masse – umgesetzt worden. Das Normalisierungspotential ist indessen noch keineswegs ausgeschöpft. Das aber ist pro futuro zu fordern: Ansonsten besteht weiterhin die Gefahr, dass der Freiheitsentzug nicht zur Lösung der Probleme (der Strafgefangenen und der Gesellschaft) beiträgt, sondern kriminalitätsfördernde Wirkungen entfaltet.
3.2.5
10
Die Wahrnehmung der besonderen Fürsorgepflicht
Weil auch mit einer optimalen Umsetzung des Normalisierungskonzeptes der Alltag im Freiheitsentzug nicht völlig den Verhältnissen ausserhalb der Anstaltsmauern angeglichen werden kann, ist im
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11
Teil I: Einführung
Auge zu behalten, dass Strafgefangene in ihrer Autonomie und Handlungskompetenz notwendigerweise weit mehr eingeschränkt sind als andere Personen. Die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf das Anstaltsareal sowie die Einschränkungen in Bezug auf Aussenkontakte haben zur Folge, dass Strafgefangene ausserstande sein können, elementare Bedürfnisse eigenständig zu befriedigen bzw. Probleme mit Aussicht auf Erfolg in eigener Verantwortung zu lösen. Dies gilt etwa für die ärztliche Versorgung, aber auch für Teile der Gesundheitsprophylaxe, für die Lösung rechtlicher oder finanzieller Probleme oder von Fragen der Sozialhilfe (für die Familie) oder für Bedürfnisse religiöser Natur. 12
In diesen Bereichen kommt den Vollzugsbehörden eine besondere Fürsorgepflicht zu, also die Verpflichtung, von sich aus die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um Schaden von unterstützungsbedürftigen Strafgefangenen abzuwenden (so sinngemäss bereits im revidierten StGB von 1971). In der Praxis wird dieser Auftrag namentlich durch die Einrichtung von Gesundheits- sowie Sozialdiensten (welche Strafgefangene auch in finanziellen und rechtlichen Fragen beraten oder eine fachgerechte Beratung vermitteln) und die Gefängnisseelsorge (auch für Strafgefangene nicht christlicher Bekenntnisse) wahrgenommen. Kleinere Vollzugseinrichtungen, welche nicht über eigene Dienste dieser Art verfügen, sind darauf angewiesen, entsprechendes Fachpersonal nötigenfalls ad hoc einzubeziehen. Sie sind deshalb nicht immer in der Lage, ihrer besonderen Fürsorgepflicht ausreichend nachzukommen.
3.2.6 13
Kriminalitätsverhütung durch Einwirkung auf die Strafgefangenen
Mit den angesprochenen Sicherheits- und Normalisierungsaufträgen sollen im Vollzug der Freiheitsstrafe Bedingungen geschaffen werden, welche weitere Straftaten Strafgefangener während dem Vollzug und nach der Entlassung aus dem Vollzug möglichst verhindern. Darüber hinaus ist diese spezialpräventive Aufgabenstellung aber mittels Einwirkungen auf den Strafgefangenen selbst zu verfolgen, was traditionell als sog. «Erziehungs- oder Resozialisierungsauftrag» des Vollzugs bezeichnet wird (DI 3.2.6). Das StGB verwendet den Begriff der «Resozialisierung» nicht, doch ist in Art. 75 Abs. 4 StGB von «Sozialisierungsbemühungen» die Rede, an welchen der Strafgefangene mitzuwirken habe. Das StGB vor der Revision von 2002 gab als
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3. Pönologische Festlegungen
DI 3.2.6 «Resozialisierung»: Ein allgemein anerkanntes, aber unklares und missverständliches Konzept Für die Kennzeichnung der Aufgabenstellung des Strafvollzugs oder die entsprechenden Methoden zur «Behandlung» Strafgefangener hat sich der Begriff der «Resozialisierung» durchgesetzt. In Abweichung von dieser allgemein üblichen Festlegung wird dieser Begriff im vorliegenden Lehrbuch nicht verwendet. Dies deshalb, weil «Resozialisierung» ein äusserst vages Konzept beschreibt, entsprechend unterschiedlich verwendet wird und zu missverständlichen Interpretationen Anlass gibt. Die Durchsetzung des Resozialisierungs-Konzeptes Im deutschsprachigen Raum ist dieser Begriff erstmals im Jahre 1918 bei Karl LIEBKNECHT belegt (Gegen die Freiheitsstrafe. In: Gesammelte Reden und Schriften. Bd. IX. Berlin 1971, 395). Der Begriff setzte sich in der pönologischen Fachliteratur aber erst nach dem 2. Weltkrieg durch. Er ersetzte die schon vor der Aufklärung etablierten Begriffe der «Besserung» und der «Erziehung» (so noch Art. 37 Abs. 1 aStGB). Die Attraktivität des Begriffes der Resozialisierung liegt in erster Linie darin, dass es sich dabei – anders als «Besserung» und «Erziehung» – um einen ideologisch nicht vorbelasteten, gewissermassen «neutralen» Begriff handelt. Ferner hat er den Vorteil, dass er sich in einen zeitgemässen sozialwissenschaftlichen Theorienkontext einordnen lässt (sog. Sozialisationstheorien). Der Kern des Resozialisierungs-Konzeptes Im Kern ist das Resozialisierungs-Konzept vorab eine Absage an das traditionelle Verständnis, wonach die Freiheitsstrafe der Ausgrenzung und Stigmatisierung der Verurteilten zu dienen habe. Ein resozialisierender Strafvollzug stellt sich demgegenüber entschieden die Aufgabe, Straffällige wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dieses Ziel setzt voraus, dass der Strafgefangene während des Freiheitsentzugs die erforderlichen Fähigkeiten erwirbt, um nach seiner Entlassung straffrei zu leben. Zur Problematik des Resozialisierungs-Konzeptes − Wird Resozialisierung als Oberbegriff für alle Arten von Einflussnahmen auf Strafgefangene verwendet, dann wird übersehen, dass sich dieses Konzept nicht auf alle Strafgefangenen anwenden lässt: Unter den Strafgefangenen finden sich auch Personen, welche als durchaus «sozialisiert» zu beurteilen sind (und welche deshalb entweder «bloss» von desozialisierenden Wirkungen der Freiheitsstrafe zu bewahren sind oder – sofern ihre Sozialisation nicht den Werten, Normen und Verhaltenstechniken unserer Gesellschaft entspricht – gewissermassen «umsozialisiert» werden müssten). – Wird Resozialisierung als Methode zur Einflussnahme auf das Verhalten der Strafgefangenen verstanden, dann wird übersehen, dass eine erfolgreiche Wiedereingliederung Strafentlassener in die Gesellschaft nicht bloss bei Verhaltensänderungen der Straftäter ansetzen kann (also auf Anpassungsleistungen des Straffälligen abzielt), sondern die Einflussnahme auf den «sozialen Empfangsraum» (insbesondere Familie, Partnerschaft, berufliche und private Sozialkontakte) einschliessen muss – u.U. auch die Einflussnahme auf allgemein gesellschaftliche Rahmenbedingungen (z.B. auf das Sozialversicherungsrecht und gesellschaftliche Einstellungen zu abweichendem Verhalten). – Das Verständnis von Resozialisierung als Methode zur Behandlung von Strafgefangenen suggeriert darüber hinaus, der Strafgefangene sei «Objekt» der resozialisierenden
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Teil I: Einführung Programme des Strafvollzugs und übersieht damit, dass eine erfolgreiche Wiedereingliederung – sofern Verhaltensänderungen dazu erforderlich sind – Lernprozesse beim Strafgefangenen voraussetzt, welche sich zwar fördern, aber nicht erzwingen lassen. Das Resozialisierungs-Konzept gerät dadurch leicht in Gefahr, überzogene Wirkungen in Aussicht zu stellen und den technokratischen Irrtum zu bedienen, verfeinerte Resozialisationsmassnahmen seien geeignet, Straffällige vollständig vor Rückfällen zu bewahren sowie rechtsstaatliche Grenzen resozialisierender Einflussnahmen zu verdrängen. − Schliesslich verdrängt das Resozialisierungs-Konzept den Sachverhalt, dass Strafgefangene notwendigerweise vorab in der Anstaltskultur sozialisiert werden müssen und die Widersprüche, welche sich aus dieser Sozialisation und den Bemühungen um eine gesellschaftliche Resozialisierung oder Integration ergeben. Literaturempfehlung ACHERMANN Christin: Ausländische Strafgefangene zwischen Resozialisierung und Wegweisung. In: Achermann Alberto et al. (Hrsg.): JMR 2013/2014, 69–112; CORNEL Heinz: Resozialisierung – Begriff, Inhalt und Verwendung. In: Cornel Heinz et al. (Hrsg.): Handbuch der Resozialisierung. 2. Aufl. Baden-Baden 2003, 13–53; DUGUID Stephen: Can Prison Work? The Prisoner as Object and Subject in Modern Corrections. Toronto 2000; KING Sam: Desistance transitions and the impact of probation. London 2015; MORGENSTERN Christine: Der Resozialisierungsgrundsatz: Social reintegration as the dominant narrative for community punishment in Germany? In: Gwen Robinson / Fergus McNeill (Hrsg.): Community Punishment. European perspectives. Oxon 2016, 72–94; WEAVER Beth: Offending and desistance. The importance of social relations. New York 2015.
eigentliches Vollzugsziel noch vor, der Strafvollzug solle «erziehend auf den Gefangenen einwirken und ihn auf den Wiedereintritt in das bürgerliche Leben vorbereiten». Diese Formulierung entspricht dem historisch im schweizerischen Recht stark verankerten «Erziehungsgedanken» bzw. dem Menschenbild, dass Straftäter als fehlgeleitete, unreife Menschen zu betrachten seien, welche durch geeignete erzieherische Massnahmen im Vollzug grundsätzlich wieder «auf den rechten Weg» gebracht werden können. Von diesem «pädagogisch» orientierten Verständnis entfernte sich ein Stück weit die in den 1960er-Jahren in den USA und in Europa breit vertretene «Behandlungsideologie», welche kriminelles Verhalten in Analogie zur Krankheit durch geeignete therapeutische Massnahmen beseitigen oder heilen wollte. Dieses Konzept hat in der Schweiz indessen nie richtig Fuss gefasst, weshalb spätere Zweifel an der Wirkung behandelnder Einwirkungen auf Strafgefangene (Abschnitt 4.1) keine Konsequenzen auf den Strafvollzug nach sich zogen. Die Strategie, weitere Straftaten Strafentlassener durch pädagogische oder behandelnde Einwirkungen während des Vollzugs massgeblich zu verhindern, hat sich zwar nur in Grenzen als wirksam erwiesen (Abschnitt 4.2). Dennoch bleibt jedenfalls in Europa der Auftrag an den Vollzug grundsätzlich unbestritten, die im Freiheitsentzug zur Verfügung stehende Zeit bestmöglich dazu zu nutzen, 34
3. Pönologische Festlegungen
weitere Straftaten auch durch geeignete Einwirkungen auf die Strafgefangenen zu verhindern oder zu mindern. Das derzeitige Verständnis einer spezialpräventiv wirksamen Einflussnahme auf Strafgefangene unterscheidet sich von den Konzepten der «Erziehungs- oder Behandlungsideologie» allerdings grundlegend. Zum einen ist heute anerkannt, dass eine Vermeidung von Rückfällen nicht dadurch abschliessend zu sichern ist, dass Strafgefangene mit geeigneten Methoden erzieherisch oder therapeutisch behandelt werden. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass ein straffreies Leben nach der Entlassung aus dem Vollzug vorab die Befähigung voraussetzt, sozialadäquat zu handeln. Zudem setzt eine wirkungsvolle Einflussnahme auf Strafgefangene voraus, dass diese selbst die Vermeidung von Rückfällen als ein sinnvolles Ziel anerkennen, dieses sozusagen zu ihrem eigenen Lebensentwurf machen. Die Wiedereingliederung Strafgefangener in die Gesellschaft setzt deshalb persönliche Leistungen des Strafgefangenen und Strafentlassenen voraus, welche durch entsprechende Angebote im Vollzug gezielt gefördert, den Betroffenen aber nicht einseitig aufgezwungen werden können. Insbesondere mit derartigen Themen und Fragestellungen befasst sich die DesistanceForschung. Zum anderen ergibt sich daraus im Gegensatz zu den älteren «Resozialisierungskonzepten», dass für behandelnde Einwirkungen – den individuellen Defiziten und Potentialen entsprechend – eine Vielzahl von Methoden und Techniken zur Verfügung stehen müssen.
14
Massnahmen zur Befähigung der Strafgefangenen, nach ihrer Entlassung sozialadäquat zu handeln, zielen auf eine Förderung der Verhaltenskompetenzen. Solche Massnahmen lassen sich unter der Bezeichnung «Soziales Training» zusammenfassen: Je nach den individuellen Defiziten kommen hier Angebote zum Zuge, welche den Umgang mit Geld und Schulden betreffen, oder mit Behörden und rechtlichen Normen, das Verhalten in der Arbeits- und Berufswelt, die Bewältigung der Freizeit oder die Gestaltung sozialer Beziehungen in der Familie, zu Partnern, Kollegen, in nachbarschaftlichen Beziehungen usf. Dazu kann die Vermittlung einfacher «Überlebenstechniken» gehören (das Ausfüllen eines Einzahlungsscheins oder einer Steuererklärung, das Aufstellen eines persönlichen Monatsbudgets, die Bedienung einer Waschmaschine, das Auftreten an einem Vorstellungsgespräch usf.), aber auch anspruchsvollere Techniken im Umgang mit Konfliktsituationen im persönlichen Nahbereich. Dabei genügt es nicht, entsprechendes Wissen zu akkumulieren – seine Umsetzung im Alltagsverhalten muss auch geübt und teilweise sogar internalisiert werden. Eine besondere Rolle spielen dabei auch Bildungsangebote, die sowohl auf
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35
Teil I: Einführung
die Vermittlung von grundlegenden Kulturtechniken (Stichwort «Basisbildung») und auf die Entwicklung beruflicher Kompetenzen (Berufslehre, Attestlehre, usw.) abzielen. Damit wird deutlich, dass Massnahmen zur «Entlassungsvorbereitung» der Strafgefangenen nicht erst gegen Ende der Strafverbüssung, sondern bereits ab Strafantritt einzuleiten oder anzubieten sind. 16
Noch anspruchsvoller ist es, bei einem erheblichen Teil der Strafgefangenen die Einsicht zu fördern, dass ein straffreies Leben eine für ihn erstrebenswerte und auch realistische Lebensperspektive darstellt. Voraussetzung dafür ist normalerweise, dass sich der Strafgefangene mit seiner Tat und deren Folgen auseinander setzt und zu erkennen vermag, dass er damit seinem Opfer und sich selbst Schaden zugefügt hat. Für einen Teil der Strafgefangenen setzt eine solche Auseinandersetzung mit der Tat bereits eine psychotherapeutische Begleitung voraus. Therapeutische Hilfen sind sodann anzubieten, wenn es darum geht, persönlichkeitsentwickelnd individuelle Defizite zu beseitigen (z.B. mangelnde Realitätskontrolle oder Empathie) und vorhandene Potentiale auszuschöpfen oder zu entwickeln. Es darf aber nicht übersehen werden, dass therapeutischen Förderungsmassnahmen im Vollzug enge Grenzen gesetzt sind. Denn die Institution der Vollzugsanstalt lässt für ihre Insassen nur beschränkte Entwicklungsmöglichkeiten zu und stellt deshalb normalerweise kein förderliches «therapeutisches Umfeld» dar. Diesem Dilemma kann im Vollzug in Teilen dadurch begegnet werden, dass spezielle therapieorientierte Abteilungen geführt werden. Nicht alle therapeutischen Interventionen im Vollzug dienen im Übrigen der Persönlichkeitsentwicklung der Strafgefangenen. Vielfach handelt es sich dabei um blosse «Kriseninterventionen», welche auf Nebenwirkungen des Freiheitsentzugs reagieren und deshalb als Massnahmen im Rahmen der besonderen Fürsorgepflicht zu verstehen sind.
3.2.7 17
Die Förderung von Leistungen zur Wiedergutmachung
Schliesslich wird dem Strafvollzug – allerdings erst seit den 1980er-Jahren – auch die Aufgabe übertragen, Leistungen zur Wiedergutmachung der Folgen begangener Straftaten zu fördern, also eine «friedensstiftende» Aufgabe. Im schweizerischen Recht erfolgte dieser Einbezug der Opferinteresse durch eine Ergänzung des StGB im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten im Jahre 1991 und wurde auch im StGB
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3. Pönologische Festlegungen
von 2002 bestätigt – indessen weniger deutlich als im alten Recht (vgl. Art. 37 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB und Art. 75 Abs. 3 StGB). Als eigenständige Vollzugsaufgabe hat sich die Förderung von Wiedergutmachungsleistungen allerdings noch nicht durchgesetzt. Sie wird – z.T. im Zusammenhang mit Massnahmen zur Tataufbereitung – meist als Teil der individuellen, auf die Verhütung von Rückfällen zielenden Vollzugsplanung verstanden (Teil II, Abschnitt 5.5). Denn es wird zutreffend davon ausgegangen, dass unbereinigte Folgen von Straftaten rückfallfördernde Konsequenzen haben können.
3.3
Konflikte bei der Umsetzung der Vollzugsgrundsätze
Die oben skizzierten, auch im schweizerischen Recht anerkannten Vollzugsgrundsätze stellen kein kohärentes, integral umsetzbares Vollzugskonzept dar. Denn die erwähnten Aufgabenstellungen stehen teilweise in einem Spannungsverhältnis zueinander und lassen sich nicht ohne Einschränkung gleichzeitig und vollständig umsetzen. Vom zwingend zu beachtenden Rechtmässigkeitsgrundsatz abgesehen, lassen sich die beschriebenen Aufträge auch nicht abstrakt hierarchisch nach ihrer Priorität gliedern.
18
Die Erfüllung des Vollzugsauftrags kann z.B. daran scheitern, dass ein Verurteilter durch den Aufenthalt in einer Vollzugsanstalt erhebliche und dauerhafte gesundheitliche Nachteile erleiden würde. Damit gerät die Pflicht zum Vollzug einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe in Konflikt mit der Fürsorgepflicht, welche gegeneinander abzuwägen sind. Der Vollzugsauftrag muss gegenüber der Fürsorgepflicht zurücktreten, wenn die zu erwartenden gesundheitlichen Schädigungen erheblich und nachhaltig sind: In diesem Falle kann die Vollzugsbehörde den Vollzug der Freiheitsstrafe unterbrechen, weil der Strafgefangene «straferstehungsunfähig» ist (Teil II, Abschnitt 4.3). Handelt es sich dabei um einen Verurteilten mit einer schlechten Rückfallprognose, dann würde eine Unterbrechung des Vollzugs indessen in Widerspruch zum Sicherheitsauftrag geraten. Wie solche Dilemmata in der Praxis aufzulösen sind, lässt sich nicht abstrakt angeben. Im konkreten Einzelfall sind alle Gesichtspunkte in die Entscheidfindung einzubeziehen und Lösungen zu treffen, welche alle drei Pflichten angemessen berücksichtigen. Im vorliegenden Fall heisst das: Ein Strafunterbruch wäre jedenfalls dann anzuordnen, wenn die gesundheitsschädigenden Folgen eines Aufenthaltes in der Vollzugsanstalt mit grosser Wahrscheinlichkeit sehr erheblich sind, sich die Gefahr eines Rückfalls aber
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37
Teil I: Einführung
auf wenig erhebliche Straftaten bezieht. Besteht dagegen ein erkennbares Risiko, dass der Verurteilte während des Strafunterbruchs schwere Straftaten (etwa gegen Leib und Leben) begehen würde, dann wäre vorab die Anordnung einer abweichende Vollzugsform (Teil II, Abschnitt 5.4.7) eine angemessene Lösung. 20
Es liessen sich unzählige vergleichbare Konfliktsituationen beschreiben. Im Vollzugsalltag treten solche denn auch regelmässig auf, namentlich Konflikte zwischen dem Sicherheitsauftrag und der Förderung der gesellschaftlichen Integration des Strafgefangenen. So etwa beim Entscheid über die Gewährung eines Urlaubs (Teil II, Abschnitt 5.10.5): Unter den Gesichtspunkten der Normalisierung des Anstaltsalltags und einer spezialpräventiv wirkungsvollen Förderung der «Lebenstüchtigkeit» des Verurteilten kann der Gewährung eines Urlaubs eine entscheidende Bedeutung zukommen, unter dem Blickwinkel des Sicherheitsauftrags dagegen nicht vertretbar sein – oder eben nur eingeschränkt, etwa in der Form eines begleiteten Urlaubs. Dilemmata entstehen indessen nicht bloss zwischen den mehr integrativ ausgerichteten Aufträgen und dem Sicherheitsauftrag: Der Normalisierungsauftrag kann z.B. durchaus in Widerspruch zur besonderen Fürsorgepflicht geraten (etwa im Bereiche der Gesundheitsprophylaxe).
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Diese Beispiele machen deutlich, dass die Vollziehung von Strafen nicht bloss eine ausführende Tätigkeit darstellt, sondern komplexe und anspruchsvolle Abwägungen voraussetzt. Sie zeigen auch auf, dass Vollzugsentscheide – selbst wenn sie mit grösster Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein gefällt werden, anfechtbar sind und sich jedenfalls dann für eine mediale Auswertung anbieten, wenn sich nachträglich erweisen sollte, dass sie zu erheblich unerwünschten Konsequenzen geführt haben, sei es zu neuen schweren Straftaten oder zu einem Suizid des Strafgefangenen.
3.4 22
Ausschluss generalpräventiver Zielsetzungen
Nach der – jedenfalls für den europäischen Kontinent – heute unbestrittenen Lehrmeinung haben generalpräventive Ziele (also erwartete Wirkungen auf die gesamte, nicht straffällige Bevölkerung) keine Bedeutung für die Ausgestaltung des Vollzugs, soweit diese nicht bereits im oben erwähnten Vollzugsauftrag aufgehen. Dies gilt auch für das – in früheren Jahrhunderten nachdrücklich vertretene – Ziel, bewusst durch besonders harte Vollzugsbedingungen Verurteilte davor abzuschrecken, künftig weitere Straftaten zu begehen. Natürlich muss
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3. Pönologische Festlegungen
auch die Freiheitsstrafe für den Verurteilten ein spürbares Beschwernis darstellen. Dieses Beschwernis liegt indessen ausschliesslich im Entzug der Freiheit und der sich daraus unmittelbar für ihn ergebenden Konsequenzen. Dieser Wandel im Verständnis der Freiheitsstrafe lässt sich an zwei Formulierungen aus dem angelsächsischen Sprachraum trefflich illustrieren: Am Torbogen des 1849 in England errichteten OldHolloway-Gefängnisses war noch der Sinnspruch zu lesen «May God preserve the City of London and make this place a terror to evil doers». Doch bereits aus den 1920er-Jahren ist die Feststellung des englischen Prison Commissioner Sir Alexander PATERSON überliefert: «Men are sent to prison as a punishment, but not for punishment».
39
Teil I: Einführung
4.
Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der Freiheitsstrafe
4.1
Ausgangslage
1
Nach dem aktuellen Wissensstand sind grundlegende Fragen zu den präventiven Wirkungen des Freiheitsentzugs noch immer nicht mit hinreichender Präzision zu beantworten: Trägt der Strafvollzug – über die «Unschädlichmachung» durch Sicherung während des Freiheitsentzugs hinaus – tatsächlich dazu bei, künftige Straftaten Strafentlassener zu vermeiden oder zu mindern? Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Ausmass lassen sich solche Wirkungen erfahrungswissenschaftlich belegen? Oder sind vom strafrechtlichen Freiheitsentzug umgekehrt kriminalisierende Nachwirkungen nachweisbar?
2
Diese Fragen lassen sich aufgrund blosser Rückfallstatistiken nicht beantworten. Wenn aus den Auswertungen des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahre 2009 zu entnehmen ist, dass in der Schweiz etwas mehr als 40% der aus dem Straf- und Massnahmenvollzug Entlassenen innert drei Jahren erneut strafrechtlich verurteilt, und knapp 14% wiederum mit einem Freiheitsentzug belegt werden, dann ergibt sich daraus lediglich, dass der Vollzug der Freiheitsstrafe Rückfälle Strafentlassener nicht vollständig oder überwiegend zu verhindern vermag. Welche diesbezüglichen Effekte tatsächlich der Freiheitsstrafe zuzurechnen sind und welche anderen Faktoren, lässt sich auf dieser Grundlage ebenso wenig beantworten wie die Frage, welche Rückfallraten zu verzeichnen wären, wenn das Gericht eine andere Sanktion verhängt hätte.
3
Die spezifische Wirksamkeit der Freiheitsstrafe lässt sich nur mittels aufwendiger Studien ermitteln, idealerweise durch vergleichende, prospektive Langzeitstudien mit einer experimentellen oder quasiexperimentellen Versuchsanordnung. Für die Schweiz sind zur Wirkung der Freiheitsstrafe zwar einige Einzelstudien veröffentlicht worden, umfassende Wirkungsanalysen fehlen indessen vollständig. Eine detaillierte Analyse der Rückfallraten vermittelt immerhin die Untersuchung von STORZ (1997), Einsichten in den Prozess der Bewährung und des Rückfalls eine qualitative Untersuchung von BESOZZI (1998/1999)
40
4. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der Freiheitsstrafe
LI 4.1 Literatur zu Rückfallanalysen in der Schweiz, zur Rückfallprävention und zur These «Nothing works» Rückfallanalysen Schweiz AEBERSOLD Peter: Risikomanagement und Freiheitsstrafe. In: Sutter-Somm Thomas et al. (Hrsg.): Risiko und Recht. Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 2004. Basel/Bern 2004, 557–574; BESOZZI Claudio: Die (Un)fähigkeit zur Veränderung. Eine qualitative Untersuchung über Rückfall und Bewährung von erstmals aus dem Strafvollzug Entlassenen. Bern 2000; BÜRGIN Christoph: Zur Frage der Rückfälligkeit nach Strafvollzug in den Rückfälligenanstalten. Diss. Basel 1983; STORZ Renate: Rückfall nach Strafvollzug. Rückfallraten. Kriminalstatistische Befunde zu Wiederverurteilungen und Wiedereinweisungen. Bern 1997; URBANIOK Frank et al.: Legalbewährung junger Straftäter nach Entlassung aus Arbeitserziehungsmassnahmen. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2/2007, 109–122. Rückfallprävention ANDREWS Donald Arthur / BONTA James: The psychology of criminal conduct. New York 2010; CHU Chi Meng / WARD Toni / WILLIS Gwenda M.: Practicing the Good Lives Model. In: McNeill Fergus / Durnescu Ioan (Eds.): Who Works?: Understanding Penal Practices. London 2014, 206–222; EZELL Michael Eugene / COHEN Lawrence E.: Desisting from crime. Continuity and change in long-term crime patterns of serious chronic offenders. Oxford 2005; NIEMZ Susanne: Sozialtherapie in Deutschland: eine Zwischenbilanz. In: Forum Strafvollzug 4/2014, 212–217; SCHMUCKER Martin: Kann Therapie Rückfälle verhindern? metaanalytische Befunde zur Wirksamkeit der Sexualstraftäterbehandlung. Herbolzheim 2004. «Nothing works» LAYTON MacKenzie Doris: What works in corrections. Reducing the criminal activities of offenders and delinquents. New York 2006; LIPTON Douglas / MARTINSON Robert / WILKS Judith: The Effectiveness of Correctional Treatment: A Survey of Treatment Evaluation Studies. New York 1975; MARTINSON Robert: What Works? Questions and Answers about Prison Reform. In: The Public Interest 1/1974, 22–54.
(LI 4.1, SI 4.1). Die bescheidenen Forschungsergebnisse mögen mit einer hier zulande weit verbreiteten Skepsis gegenüber der empirischen Erforschung des Strafvollzugs zusammenhängen, aber auch mit der schwachen Institutionalisierung der Kriminologie auf universitärer Ebene. Ferner widerspiegelt das weitgehende Desinteresse an Wirkungsforschung auch den Sachverhalt, dass in der Schweiz der «Erziehungszweck» der Strafe seit dem 19. Jahrhundert ein weitgehend unbestrittener Glaubenssatz darstellt, der nicht zu hinterfragen ist (QI 4.1).
41
Teil I: Einführung
QI 4.1 Quellen zum «Erziehungszweck» des Strafvollzugs in der Schweiz «Die Behandlung der Gefangenen gehört mit zu den Mitteln des Staats, den Quellen der Verbrechen Einhalt zu thun, und hier liegt der eigentliche Mittelpunkt der Richtschnur aller Grundsätze, der wahren und ausführbaren Menschlichkeit in der Behandlungsweise der Gefangenen. Gefängniss, Zucht- und Arbeitshaus, ist nichts anders, und soll nicht anders seyn als rükführende Schule des verirrten Menschen, in die Bahn und den Zustand, in welchem er gewesen wäre, ohne seine Verirrung.» (PESTALOZZI Johann Heinrich: Arners Gutachten über Kriminalgesetzgebung. Ein Schweizer-Blatt, Bd. VIII, 1782) «Das neue Strafrecht darf es nicht unterlassen, dem fundamentalen Gedanken, dass der Strafvollzug erziehend auf den Sträfling einwirken soll, Ausdruck zu geben. Er muss dies bei den Bestimmungen über die Zuchthaus- und Gefängnisstrafe tun. Bei der Haftstrafe mit ihrer kurzen Dauer dagegen spielt der Erziehungszweck praktisch keine Rolle.» (STOOSS Carl: Protokoll über die Beratungen der Subkommission der nationalrätlichen Kommission betreffend das Schweizerische Strafrecht. 1. Session vom 14.–16.7.1921) «Wir erhoffen von einem richtigen Vollzug der Freiheitsstrafe die Besserung des Verurteilten durch Erziehung zur Arbeit und durch moralische Einwirkungen jeder Art von Seiten der Anstaltsleitung.» (BOTSCHAFT DES BUNDESRATES an die Bundesversammlung zum Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches vom 23. Juli 1918) «Die Förderung des ‹sozialen Verhaltens› des Gefangenen, insbesondere seiner Fähigkeit, straffrei zu leben, wird an erster Stelle als eines während des Vollzuges anzustrebenden Ziele genannt. Daraus lässt sich die Aufgabe der Vollzugsbehörden herauslesen, in erster Linie Angebote für soziale Lernprozesse zu machen.» (BOTSCHAFT DES BUNDESRATES zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. September 1998; BBl Nr. 11 vom 23.3.1999, 1981–2417)
4
Für die USA und etliche europäische Staaten liegen dagegen seit den 1970er-Jahren umfangreiche Forschungsergebnisse zu den Wirkungen der Freiheitsstrafe vor. Ausgangspunkt dieser Aktivitäten bildete der von MARTINSON (1974) auf der Grundlage einer Metaanalyse von LIPTON, MARTINSON und WILKS (1975) formulierte Slogan des «Nothing works» (LI 4.1): Wie auch immer die Freiheitsstrafe ausgestaltet werde, Wirkungen auf das künftige Kriminalverhalten seien nicht nachweisbar. Diese – von MARTINSON später indessen stark relativierte – These ist nach dem aktuellen Stand der Wirkungsforschung allerdings widerlegt.
42
4. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der Freiheitsstrafe
SI 4.1 Statistische Befunde zum Rückfall in der Schweiz Erfasste Population: Im Jahre 2009 aus dem Vollzug entlassene Personen. Beobachtungszeitraum: drei Jahre nach der Entlassung. Entlassungen 2009
Total
Total
1’472
43.1
15.5
Nach Geschlecht Männer Frauen
1’312 160
43.8 37.5
15.9 12.5
Nach Alter 18-24 Jahre 25-34 Jahre 35-44 Jahre 45 Jahre und älter
273 405 400 394
56.0 46.2 47.0 26.9
17.9 17.5 18.0 9.1
Nach Anzahl Vorstrafen Keine Vorstrafen Eine Vorverurteilung Zwei Vorverurteilungen oder mehr
638 476 358
37.0 34.9 64.8
8.9 11.8 32.1
1’027 309 252 228 212
48.4 66.7 36.1 24.1 37.7
20.0 35.9 7.9 3.1 7.6
Nach ausgewählten Straftaten Strafgesetzbuch davon Diebstahl (Art. 139 StGB) davon Gewaltdelikte3) Strassenverkehrsdelikte Handel von Betäubungsmitteln (Art. 19 BetmG)
WiederWiederverurteilung1) einweisung2) in % in %
1)
Als Wiederverurteilung werden alle Schweizer Erwachsenen bezeichnet, die innerhalb von drei Jahren nach einer Entlassung aus dem Strafvollzug wieder ein Verbrechen oder Vergehen begehen und dafür erneut verurteilt werden. 2) Als Wiedereinweisung werden alle Schweizer Erwachsenen bezeichnet, die innerhalb von drei Jahren nach einer Entlassung aus dem Strafvollzug wieder ein Verbrechen oder Vergehen begehen und dafür erneut verurteilt und deshalb wieder in den Vollzug eingewiesen werden. 3) Art. 111–113 StGB, Art. 116 StGB, Art. 122 –123 StGB, Art. 133 –134 StGB, Art. 140 StGB, Art. 156 StGB, Art. 180–181 StGB, Art. 183–185 StGB, Art. 189–190 StGB sowie Art. 285 StGB.
Quelle: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Rückfall – Entlassene Personen. Kennzahlen zum Rückfall nach Strafvollzug. Bern 2009. Literaturempfehlung: JEHLE Jörg-Martin / ALBRECHT Hans-Jörg (Hrsg.): Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2007 bis 2010 und 2004 bis 2010. Mönchengladbach 2013.
43
Teil I: Einführung 4a
Die aktuelle Forschung zur Rückfallprävention orientiert sich – nicht bloss im angelsächsischen Bereich – überwiegend am «RNR-Modell» (ANDREWS / BONTA) und / oder am «Good Live Modell» (CHU / WARDS / WILLS). Das «RNR-Modell» identifiziert neben Risikofaktoren auch die Bedürfnisse des Strafgefangenen und dessen Ansprechbarkeit auf therapeutische und sozialpädagogische Interventionen. Das «Good Live Modell» sieht in der Erarbeitung einer hinreichend sinnerfüllten Lebensperspektive eine grundlegende Präventionsvoraussetzung. Meist in Verbindung mit diesen beiden Modellen hat sich in jüngster Zeit die «Desistance-Forschung» breit entwickelt (EZELL / COHEN), welche die (protektiven) Faktoren zu erfassen versucht, die Strafgefangene von einer Fortsetzung krimineller Aktivitäten abzuhalten vermögen.
4.2 5
Stand der Wirkungsforschung
Es ist heute weitgehend unbestritten (LI 4.2), dass von kurzen Freiheitsstrafen überwiegend negative, aber kaum positive Wirkungen auf das künftige Legalverhalten Strafgefangener zu erwarten sind. Dass die mit kurzen Freiheitsstrafen häufig verbundenen Faktoren wie Verlust des Arbeitsplatzes, Schwächung des Netzes tragender Sozialbeziehungen sowie das Stigma des ehemaligen Strafgefangenen zu negativen Nebenwirkungen führen müssen, ist unmittelbar einleuchtend. Nicht von vorneherein auszuschliessen ist indessen die Hypothese, dass diese Nebenwirkungen durch eine der kurzen Freiheitsstrafe traditionell zugeschriebene besondere «Denkzettelwirkung» kompensiert werden könnten. Diese Vermutung ist durch HÜSLER und LOCHER (1991) für die Schweiz nicht bestätigt worden: Die Untersuchung der Legalbewährung nach Verurteilung zu einer Busse, zu einer bedingt vollziehbaren und zu einer unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten ergab diesbezüglich keine signifikanten Unterschiede. Wenn aber die eingriffsstarke (und hohe Kosten verursachende) kurze Freiheitsstrafe im Vergleich zu anderen Sanktionen kein besonders wirksames Instrument der Kriminalitätsverhütung darstellt, sind andere – mit weniger negativen Nebenwirkungen behaftete – Sanktionen offensichtlich vorzugswürdig. Deshalb ist die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe und deren Ersatz durch alternative, nicht freiheitsentziehende Sanktionen ein grundlegendes Anliegen der sanktionenpolitischen Aktivitäten des Europarates (so die Empfehlung No R[92] 16; RII 1.4).
44
4. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der Freiheitsstrafe
Ein zweiter, als gesichert geltender Befund betrifft die Wirksamkeit von Freiheitsstrafen, welche unter gezielt harten Vollzugsbedingungen vollzogen werden: Zweifel an der Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen und eine verbreitete Renaissance des Vergeltungsdenkens haben in den 1980er-Jahren in den USA zu bislang verpönten Vollzugsformen geführt. Unter den Stichworten «intensive incarceration», «shock incarceration» und «boot camps» werden in etlichen Bundesstaaten paramilitärisch ausgestaltete Vollzugseinrichtungen betrieben, in welchen der Freiheitsentzug gezielt unter besonders abschreckenden, harten und in Teilen kaum als menschenwürdig zu wertenden Vollzugsbedingungen erfolgt (militärischer Drill, Ankettung der Gefangenen während der Arbeit, Unterbringung in einer Zeltstadt inmitten eines Wüstengeländes etc.). In England wurde ab 1980 für kurze Freiheitsstrafen unter dem Label «sharp short shock» versuchsweise ein ähnliches, aber weniger entwürdigendes Vollzugskonzept eingeführt. Diese Vollzugskonzepte sind zwischenzeitlich mehrfach evaluiert worden: Keine Studie konnte bislang den Nachweis erbringen, dass sich die Rückfallquote durch besonders harte Vollzugsbedingungen senken liesse (siehe WALTER 1999, 290). Indirekt bestätigt wird dieses Ergebnis auch durch die qualitative Studie von BESOZZI (1998/1999), welche keinen Zusammenhang zwischen dem subjektiven Erleben des Vollzugs und Rückfälligkeit feststellen konnte. Die Strategie, mittels besonders abschreckender Vollzugsbedingungen einen Beitrag zur Kriminalitätsverhütung zu leisten, kann somit nicht wissenschaftlich belegt werden. Dass derartige Vollzugsprogramme dennoch weitergeführt werden, ist also anderen Beweggründen zuzuschreiben.
6
Weniger eindeutig sind die vorliegenden Forschungsergebnisse zur Frage, ob ein gezielt behandlungsorientierter Vollzug künftige Kriminalität Strafentlassener besser zu verhüten vermag, als ein blosser «Verwahrungsvollzug». Wirkungen von behandelnden Interventionen während des Freiheitsentzugs lassen sich mit hinreichender Zuverlässigkeit bloss aus sog. «Metaanalysen» gewinnen, mit welchen die Ergebnisse einer Mehrzahl von Einzelstudien kritisch ausgewertet werden. Denn in Einzelstudien lassen sich nicht alle, für das künftige Legalverhalten möglicherweise wirksamen Faktoren kontrollieren und tatsächlich experimentelle Studien sind u.a. aus forschungsethischen Gründen nur selten realisierbar. Deshalb sind die Ergebnisse von Einzelstudien widersprüchlich, wobei sich zusammenfassend doch feststellen lässt, dass von Behandlungsmassnahmen im Freiheitsentzug insgesamt eine Reduzierung der Rückfälligkeit um jedenfalls rund 10% erwartet werden darf (DÜNKEL 2003).
7
45
Teil I: Einführung 8
Aufgrund des aktuellen Forschungsstandes lassen sich überdies Kriterien angeben, welche für den Erfolg von Behandlungsmassnahmen ausschlaggebend sind (DI 4.2; zusammenfassend auch MÜLLERISBERNER 2000). Allerdings scheinen auch weitere, in Wirkungsanalysen nicht leicht erfassbare Faktoren für die Wirkung von Behandlungsmassnahmen massgeblich zu sein: Namentlich das «institutionelle Klima» der Vollzugseinrichtung, in welcher die Behandlung stattfindet und die Stützung «protektiver Faktoren» im sozialen Umfeld der Gefangenen (LÖSEL 2001).
9
Es ist ferner zu bedenken, dass eine Bewertung der Wirkungen der Freiheitsstrafe unter dem blossen Gesichtspunkt der Verhütung von Rückfällen Strafentlassener eine allzu enge Betrachtungsweise darstellt. Einzubeziehen wären namentlich Nebenwirkungen der Freiheitsstrafe auf das soziale Umfeld des Verurteilten, insbesondere auf Partnerschaft und Familie (RIKLIN 2002). Auf dieses Umfeld können in einer längerfristigen Perspektive zusätzliche kriminogene Wirkungen ausgehen. Aus einer unveröffentlichten Studie, welche das Wohlbefinden inhaftierter Väter und Kinderlosen in drei Berner Vollzugsanstalten untersuchte, geht hervor, dass der Anteil Väter bei fast einem Drittel (31.6%) liegt und jeder vierte Eingewiesene Vater eines minderjährigen Kindes ist (WOLLEB et al. 2009). Zu solchen indirekten Wirkungen liegen derzeit aber bloss bescheidene Forschungsergebnisse vor (KURY und KERN 2003, TRAVIS und WAUL 2003).
9a
Wer sich also um einen integrativ wirkenden Strafvollzug bemüht, darf für sich durchaus in Anspruch nehmen, gesellschaftlich überaus nützliche Leistungen zu erbringen. Er muss sich aber auch bewusst sein, dass die Wirkung seines Bemühens im Einzelfall unsicher ist und deshalb akzeptieren, möglicherweise nicht optimal interveniert zu haben.
46
4. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der Freiheitsstrafe
DI 4.2 Kriterien für den Erfolg von Behandlungsmassnahmen Risiko-Klassifikation
Kriminogene Bedürfnisse
Programm-Integrität Empfänglichkeit
Behandlungsmodalitäten
Gemeindebezug
Risikoeinschätzung und Intervention entsprechend unterschiedlicher Risikogruppen (intensivere Programme sind stärker gefährdeten Verurteilten vorzubehalten). Orientierung an direkt die Strafbegehung begünstigenden Faktoren (z.B. anti-soziale Einstellungen, geringe soziale Handlungskompetenz). Programmdefinition und gute Implementation des Behandlungsprogramms. Ansprechbarkeit der Straftäter (Methoden der Behandlung müssen der Lernkompetenz und -form der Probanden angepasst werden; das bedeutet z.B., dass strukturierte Lernformen i. S. des sozialen Trainings unstrukturierten Gesprächsformen z.B. des counselings vorzuziehen sind). Orientierung des Behandlungsprogramms an der Vermittlung beruflicher Fähigkeiten, sowie sozialer Handlungs- und Problemlösungskompetenz einschliesslich der Stärkung positiver Einstellungen und Werthaltungen (eher verhaltenstherapeutische Formen des sozialen Trainings u. ä. anstelle ggf. unstrukturierter psychotherapeutischer Verfahren). Gemeindeorientierung von Behandlungsprogrammen.
Quellen ANDREWS Donald Arthur / BONTA James: The psychology of criminal conduct. New York 2010; BERGIN Tiffany: The evidence enigma. Correctional boot camps and other failures in research-based policymaking. Diss. Ashgate 2013; DÜNKEL Frieder: Der deutsche Strafvollzug im internationalen Vergleich. In: Maelicke Bernd / Flügge Christoph / Preusker Harald (Hrsg.): Perspektiven und Strategien zur Modernisierung des Strafvollzugs. Baden-Baden 2003, Ziff. 9; mit Verweis auf VENNARD J. / HEDDERMAN C.: Effective interventions with offenders. In: Nuttall Christopher Peter / Goldblatt Peter / Lewis Chris (Hrsg.): Reducing offending: an assessment of research evidence on ways of dealing with offending behavior. London 1998, 101– 119.
47
Teil I: Einführung
LI 4.2 Literatur zu den Wirkungen von Behandlungsinterventionen ANDREWS Donald Arthur / BONTA James: The psychology of criminal conduct. New York 2010; BERGIN Tiffany: The evidence enigma. Correctional boot camps and other failures in research-based policymaking. Diss. Ashgate 2013; BESOZZI Claudio: Die (Un)fähigkeit zur Veränderung. Eine qualitative Untersuchung über Rückfall und Bewährung von erstmals aus dem Strafvollzug Entlassenen. Bern 1998/1999; DÜNKEL Frieder: Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung. Eine empirische vergleichende Untersuchung anhand der Strafregisterauszüge von 1503 in den Jahren 1971–1974 entlassenen Strafgefangenen in Berlin-Tegel. Berlin 1980; DÜNKEL Frieder: Der deutsche Strafvollzug im internationalen Vergleich. In: Maelicke Bernd / Flügge Christoph / Preusker Harald (Hrsg.): Perspektiven und Strategien zur Modernisierung des Strafvollzugs. Baden-Baden 2003; DÜNKEL Frieder / GENG Bernd: Zur Rückfälligkeit von Karrieretätern nach unterschiedlichen Strafvollzugsund Entlassungsformen. In: Kaiser Günther / Kury Heinz (Hrsg.): Kriminologische Forschung in den 90er-Jahren. Freiburg i. Br. 1993, 193–257; EGG Rudolf et al.: Evaluation von Straftäterbehandlungsprogrammen in Deutschland: Überblick und Meta-Analyse. In: Rehn Gerhard et al. (Hrsg.): Behandlung «gefährlicher Straftäter». Grundlagen, Konzepte, Ergebnisse. Herbolzheim 2001; GENDREAU P. / ANDREWS D. A.: Tertiary Prevention: What the Metaanalysis of the Offender Treatment Literature Tell us About «What Works». In: Canadian Journal of Criminology 32/1990, 173–184; GESCHER Norbert: Boot CampProgramme in den USA. Diss. Mönchengladbach 1998; NUTTALL Christopher Peter / GOLDBLATT Peter / LEWIS Chris (Hrsg.): Reducing Offending: an assessment of research evidence on ways of dealing with offending behavior. London 1998; HÜSLER Gerhard / LOCHER Jakob: Kurze Freiheitsstrafen und Alternativen. Bern 1991; KURY Helmut / KERN Julia: Frauen und Kinder von Inhaftierten. Eine vergessene Gruppe. In: KrimJ 2/2003, 97– 110; LIPTON D. S.: The effectiveness of correctional treatment revisted thirty years later. Preliminary meta-analytic findings from the CDATE study. Paper zum 12. Internationalen Kongress für Kriminologie, Seoul 1998; LÖSEL Friedrich: Behandlung oder Verwahrung? Ergebnisse und Perspektiven der Interventionen bei «psychopatischen» Straftätern. In: Rehn Gerhard et al. (Hrsg.): Behandlung gefährlicher Straftäter. Herbolzheim 2001, 36–53; LÖSEL Friedrich / KÖFERL Peter / WEBER Florian: Meta-Evaluation der Sozialtherapie: Qualitative Analysen zur Behandlungsforschung in sozialtherapeutischen Anstalten des Justizvollzugs. Stuttgart 1987; MÜLLER-ISBERNER Rüdiger: Behandlungskonzepte für Aggressivtäter mit hohem Rückfallrisiko. In: Bauhofer Stefan / Bolle Pierre-Henri / Dittmann Volker (Hrsg.): «Gemeingefährliche» Straftäter. Délinquants «dangereux». Chur/Zürich 2000, 287–303; NOLL Thomas: Rückfallgefahr bei Gewalt- und Sexualstraftätern. Statistische Prognosemethoden. Bern 2007; ORTMANN Ruediger: Resozialisierung im Strafvollzug. Freiburg i. Br. 1987; ORTMANN Ruediger: Zum Resozialisierungseffekt der Sozialtherapie anhand einer experimentellen Längsschnittstudie zu Justizvollzugsanstalten des Landes NordrheinWestfalen. In: Müller-Dietz Heinz / Walter Michael (Hrsg.): Strafvollzug in den 90er-Jahren. Festgabe für Rotthaus K. Pfaffenweiler 1995, 86–114; REHDER Ulrich / WISCHKA Bernd: Behandlung von Sexualstraftätern: Meta-Evaluationsergebnisse und Folgerungen für die Entwicklung von Behandlungskonzepten. In: KrimPäd 42/2002, 70–76; REHDER Ulrich / SUHLING Stefan: Rückfälligkeit haftentlassener Sexualstraftäter. In: MschrKrim 4/2008, 250–268; REHN G.: Behandlung im Strafvollzug. Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung der Rückfallquote bei entlassenen Strafgefangenen. Weinheim 1979; RIKLIN Franz (Hrsg.): Mitgefangen: Die Gefangenen und die Angehörigen. Luzern 2002; WOLLEB Antonia et al.: Eingewiesene und ihre familiären Kontakte im Zusammenhang mit dem Wohlbefinden. Eine explorative Studie. In: SZK 2/2009, 3–13; TRAVIS Jeremy / WAUL Michelle (Hrsg.): Prisoners Once Removed; The Impact of Incarceration and Reentry on Children, Families, and Communities. Washington D.C. 2003; WALTER Michael: Strafvollzug. 2. Aufl. Stuttgart/München 1999.
48
5. Begriffserläuterungen und Abgrenzungen
5.
Begriffserläuterungen und Abgrenzungen
5.1
Begriffserläuterungen
Der Gegenstand des Straf- und Massnahmenvollzugs wird in der Literatur unterschiedlich eingegrenzt: Einige Autoren verstehen darunter bloss die Vollstreckung und Vollziehung freiheitsentziehender strafrechtlicher Sanktionen (engerer Begriff), andere die Vollstreckung und Vollziehung der strafrechtlichen Sanktionen schlechthin (weiterer Begriff).
1
Die Unterscheidung zwischen Vollstreckung und Vollziehung (oder Vollzug) von strafrechtlichen Sanktionen beginnt sich in der Schweiz erst seit wenigen Jahren durchzusetzen: Unter «Vollziehung» wird die Art und Weise der Durchführung von freiheitsentziehenden, strafrechtlichen Sanktionen verstanden, unter «Strafvollstreckung» dagegen die Anordnung, die Überwachung der Implementierung sowie die Beendigung der Sanktion.
2
Die freiheitsentziehenden Sanktionen unterscheiden sich von den nicht freiheitsentziehenden Sanktionen (oder freiheitsbegrenzenden Sanktionen) im klassischen Verständnis durch drei begriffsnotwendige Merkmale: Die Freiheit wird dem Verurteilten für eine bestimmte, abschliessend festgelegte Zeitdauer entzogen (zeitliche Dimension); der Freiheitsentzug beschränkt die Bewegungsfreiheit des Verurteilten auf eine bestimmte Örtlichkeit, i.d.R. auf das Anstaltsareal (räumliche Dimension); während des Freiheitsentzugs untersteht der Verurteilte einer speziellen, umfassenden Ordnung (normative Dimension). Die Unterscheidung zwischen freiheitsentziehenden und nicht freiheitsentziehenden Sanktionen verliert indessen zunehmend an Trennschärfe, weil der Freiheitsentzug Abweichungen von diesen Merkmalen vorsieht und weil andererseits nicht freiheitsentziehende Sanktionen ganz erhebliche Freiheitsbeschränkungen nach sich ziehen können.
3
Der Begriff der Sanktion wird als Oberbegriff für – freiheitsentziehende und nicht freiheitsentziehende – Strafen und Massnahmen verwendet.
4
49
Teil I: Einführung
5.2
Abgrenzungen
5
Gegenstand des Lehrbuches ist die Vollstreckung und Vollziehung freiheitsentziehender strafrechtlicher Sanktionen. Mitbehandelt werden aber auch Sanktionsformen (z.B. ambulante therapeutische Massnahmen), Vollzugsformen (z.B. Halbgefangenschaft) und Vollzugsstufen (z.B. bedingte Entlassung), welche nur teilweise oder keinen freiheitsentziehenden Charakter aufweisen, sofern sie im schweizerischen Recht eine besondere Form einer freiheitsentziehenden, strafrechtlichen Sanktion darstellen. Auf andere Sanktionen (z.B. Geldstrafen, gemeinnützige Arbeit, bedingt oder teilbedingt vollziehbare Freiheitsstrafen) wird bloss in Exkursen kurz verwiesen. Nicht Gegenstand dieser Darstellung sind ferner die nicht durch das Strafgericht angeordneten Formen der Freiheitsentziehung (z.B. Polizei- und Untersuchungshaft, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, fürsorgerische Freiheitsentziehung; EI 5.2a).
6
Gegenstand des Lehrbuches ist ferner die diesbezügliche Rechtslage und Rechtswirklichkeit in Bezug auf Erwachsene in der Schweiz. Die Darstellung der Rechtslage orientiert sich auf Bundesebene vorab am StGB und an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Das Recht der Kantone kann dagegen bloss themenbezogen summarisch oder in typischen oder kontroversen Ausprägungen einbezogen werden. Auch bei der Darstellung der Rechtswirklichkeit kann kein vollständiges Bild gezeichnet werden: Neben dem Versuch, die vorherrschende Rechtswirklichkeit im Überblick einzufangen, werden auch besonders innovative kantons- oder anstaltsspezifische Modalitäten aufgezeichnet.
7
Die Begrenzung der Darstellung auf den Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen schliesst eine Behandlung des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; EI 5.2b) grundsätzlich aus. Mitbehandelt wird der Vollzug von Strafen und Massnahmen an Minderjährigen immerhin insoweit, als solche Sanktionen – als seltene Ausnahmen – in Einrichtungen des Straf- und Massnahmenvollzugs an Erwachsenen vollzogen werden.
50
5. Begriffserläuterungen und Abgrenzungen
EI 5.2a Andere Formen der Freiheitsentziehung 1. Polizeilicher Gewahrsam Die meisten kantonalen Polizeigesetze (so BE, AG, AI, AR, BL, BS, GL, GR, LU, NE, NW, OW, SG, SH, SO, SZ, TI, TG, UR, ZG, ZH) ermächtigen die Polizeiorgane zur vorläufigen Inhaftierung Tatverdächtiger für eine Dauer von i.d.R. längstens 24 Stunden. Die Voraussetzungen zur Anordnung des polizeilichen Gewahrsams und dessen Modalitäten sind in den jeweiligen Polizeigesetzen geregelt. So kann z.B. die Kantonspolizei des Kantons Bern «eine Person in ihre Obhut nehmen und festhalten, wenn a. dies zum Schutz dieser oder einer anderen Person gegen eine Gefahr für die psychische, physische oder sexuelle Integrität erforderlich ist, insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt oder weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschliessenden Zustand befindet oder sonst hilflos ist; b. dies zur Verhinderung der unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer erheblichen Straftat erforderlich ist; c. sie sich dem Vollzug einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Massnahme durch Flucht entzogen hat oder d. dies zur Sicherstellung des Vollzugs einer durch die zuständige Instanz angeordneten Wegweisung, Ausweisung oder Auslieferung erforderlich ist» (Art. 32 Abs. 1 des Polizeigesetzes vom 8. Juni 1997 [PolG; BSG 551.1]). 2. Vorläufige Festnahme Die StPO verpflichtet die Polizei «eine Person vorläufig festzunehmen und auf den Polizeiposten zu bringen, die sie bei einem Verbrechen oder Vergehen auf frischer Tat ertappt oder unmittelbar nach der Begehung einer solchen Tat angetroffen hat» oder die «zur Verhaftung ausgeschrieben ist» (Art. 217 Abs. 1 StPO). Sie kann zudem auch dann «eine Person vorläufig festnehmen und auf den Polizeiposten bringen, die gestützt auf Ermittlungen oder andere zuverlässige Informationen eines Verbrechens oder Vergehens verdächtig ist» (Art. 217 Abs. 2 StPO). Schliesslich kann sie auch «eine Person, die sie bei der Begehung einer Übertretung auf frischer Tat ertappt oder unmittelbar nach Begehung einer solchen Tat angetroffen hat, vorläufig festnehmen und auf den Polizeiposten bringen, wenn: a. die Person ihre Personalien nicht bekannt gibt; b. die Person nicht in der Schweiz wohnt und nicht unverzüglich eine Sicherheit für die zu erwartende Busse leistet» oder «c. die Festnahme nötig ist, um die Person von weiteren Übertretungen abzuhalten» (Art. 217 Abs. 3 StPO). Die festgenommene Person ist in jedem Fall spätestens nach 24 Stunden zu entlassen (Art. 219 Abs. 4 StPO). 3. Untersuchungshaft und Sicherheitshaft Die StPO ermächtigt die Untersuchungsbehörden in Art. 220 bis 236, dringend Tatverdächtige in Untersuchungshaft zu nehmen, sofern ein sog. «spezieller Haftgrund» (Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr oder Wiederholungsgefahr) vorliegt. Die Anordnung von Untersuchungshaft bezweckt, die Durchführung des Strafverfahrens zu gewährleisten. Wenn diese Haftgründe nach Abschluss der Strafuntersuchung weiterhin vorliegen, wird die Inhaftierung fortgesetzt (sog. «Sicherheitshaft»; Art. 220 Abs. 2 StPO). Anwendung: «Am 25. November 2014 befanden sich insgesamt 1’892 Personen (27% der an diesem Tag 6’923 inhaftierten Personen) in Untersuchungshaft, davon
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Teil I: Einführung 116 Frauen. 13 Insassen (weniger als 0,7%) waren noch minderjährig (unter 18 Jahren) und 453 waren junge Erwachsene (zwischen 18 und 24 Jahren). Der Grossteil der Untersuchungshäftlinge waren Ausländerinnen und Ausländer (80%), davon 23% mit Aufenthaltsbewilligung, 71% ohne Aufenthaltsbewilligung und 6% Asylsuchende.» (Quelle: BUNDESAMT FÜR STATISTIK [Hrsg.]: Freiheitsentzug, Strafvollzug - Daten, Indikatoren Untersuchungshaft: Insassen am Stichtag, 2013– 2014. Bern 2014). Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten liegt die Schweiz mit 35 Untersuchungsgefangenen pro 100’000 Einwohner im Mittelfeld; einzelne vergleichbare Staaten weisen deutlich tiefere Raten auf (namentlich die skandinavischen Staaten mit 11–25 Untersuchungsgefangenen pro 100’000 Einwohner), andere erheblich höhere (z.B. Luxemburg und Albanien mit 55 bzw. 73 Untersuchungsgefangenen pro 100’000 Einwohner) (Quelle: WALSMLEY Roy: World Pretrial/Remand Imprisonment List. Second edition. London 2014). Literaturempfehlung: ALBRECHT Peter: Die Untersuchungshaft – eine Strafe ohne Schuldspruch? Ein Plädoyer für den Grundsatz der Unschuldsvermutung im Haftrecht. In: Donatsch Andreas / Forster Marc / Schwarzenegger Christian (Hrsg.): Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte. Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag. Zürich 2002, 355–372; BAECHTOLD Andrea: Schweiz/Switzerland. In: Frieder Dünkel / Vagg Jon (Hrsg.): Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvollzug. Waiting for Trial. Freiburg i.Br. 1994, 579–604; FORSTER Marc: Empirische Erkenntnisse zur strafprozessualen Haft. In: AJP 1996, 1522–1530; HÄFLIGER Arthur: Die Grundrechte des Untersuchungsgefangenen in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. In: ZStrR 1987, 257–275; STOJANOVSKI Voislav: Pretrial detention. Towards harmonized procedural standards throughout the European Union. Diss. Saarbrücken 2011; VAN KALMTHOUT Anton M. / BAHTIYAR Z.: Pre-trial detention in the European Union. An analysis of minimum standards in pre-trial detention and the grounds for regular review in the member states of the EU. Tilburg 2009; KÜNZLI Jörg / FREI Nula / SCHULTHEISS Maria: Menschenrechtliche Standards der Haftbedingungen in der Untersuchungshaft und ihre Umsetzung in der Schweiz. Studie des Themenbereichs Polizei und Justiz zuhanden des Lenkungsausschusses EDA/EJPD. Bern 2015; KÜNZLI Jörg / FREI Nula / SCHULTHEISS Maria: Menschenrechtliche Standards der Haftbedingungen in der Untersuchungshaft und ihre Umsetzung in der Schweiz. In: Jusletter 5. Oktober 2015; VON POLLERN BéatriceDorothée: La détention provisoire en Suisse en 1988. Bern/Stuttgart/Wien 1997. 4. Fürsorgerische Unterbringung (früher fürsorgerische Freiheitsentziehung) Nach 426 Abs. 1 ZGB darf eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Als ultima ratio kann diese Unterbringung auch in einer Vollzugsanstalt erfolgen. Anwendung: «Zwischen 2003 und 2015 befanden sich am Stichtag im Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz im Mittel jeweils 35 Personen in der fürsorgerischen Unterbringung bzw. im fürsorgerischen Freiheitsentzug» (in einer Vollzugsanstalt) (Quelle: BUNDESAMT FÜR STATISTIK [Hrsg.]: Freiheitsentzug, Insassenbestand am Stichtag. Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz, 1999–2014. Bern 2014). Literaturempfehlung: SPIRIG Eugen: Fürsorgerische Freiheitsentziehung und Drogensucht im Kanton Zürich. In: SJZ 19/1994, 321–330; SUHR BRUNNER Christina:
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5. Begriffserläuterungen und Abgrenzungen Fürsorgerische Freiheitsentziehung und Suchterkrankungen, insbesondere Drogensucht. Zürich 1994; GUILLOD Olivier: Art. 426 ZGB. In: Büchler Andrea et al. (Hrsg.): FamKommentar Erwachsenenschutz. 1. Aufl. Bern 2013, 700–729. 5. Zwangsmassnahmen an Ausländern Nach Art. 75 und 76 AuG kann eine Person zur Sicherung des Verfahrens über ihre Aufenthaltsberechtigung oder ihre Ausweisung in Haft genommen werden. Anwendung: «Am 27. November 2013 waren von den insgesamt 7’072 inhaftierten Personen in der Schweiz 375 in der Ausschaffungs- und Auslieferungshaft inhaftiert, was fünf Prozent der inhaftierten Personen ausmacht.» (Quelle: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: Insassenbestand am Stichtag nach Haftform und Aufenthaltsstatus, 2010– 2013. Bern 2013). Literaturempfehlung: ALBRECHT Peter: Illegaler Aufenthalt: Das Leben als «Dauerdelikt»? In: Asyl 4/2014, 3–7; MÜLLER Jörg Paul / SCHEFER Markus: Grundrechte in der Schweiz. 4. Aufl. Bern 2008, 74–82; ROHNER Ernst: Die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht. Ausschaffungshaft – ein neues Haftregime. In: Justizvollzug Kanton Zürich: Jahresheft 2004. Jubiläumsausgabe 1993–2004. Zürich 2004, 49–53; ZÜND Andreas: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht. In: ZBJV 1996, 72–96.
EI 5.2b Das schweizerische Jugendstrafrecht Für Personen, welche zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben, ist das Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG, in Kraft seit 1.1.2007) anwendbar. Die ergänzende Anwendung von Bestimmungen des StGB auf diese Altersgruppe präzisiert das Gesetz enumerativ (Art. 1 Abs. 2 JStG). Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich vom Strafrecht für Erwachsene im Wesentlichen wie folgt: – Für die Anwendung des Gesetzes sind der Schutz und die Erziehung der Jugendlichen wegleitend, weshalb den Lebens- und Familienverhältnissen des Jugendlichen und seiner Persönlichkeitsentwicklung besondere Beachtung zu schenken sind (Art. 2 JStG). Diese Grundsätze sind auch bei der ergänzenden Anwendung des StGB für Erwachsene zu beachten (Art. 1 Abs. 3 JStG). – Das für Jugendliche anzuwendende Sanktionenrecht unterscheidet zwischen Schutzmassnahmen und Strafen. – Schutzmassnahmen sind anzuordnen, wenn der Jugendliche einer besonderen erzieherischen Betreuung oder therapeutischen Behandlung bedarf, unabhängig davon, ob er schuldhaft gehandelt hat (Art. 10 Abs. 1 JStG). – Die nachstehenden Arten von Schutzmassnahmen können angeordnet werden: die Aufsicht (Bezeichnung einer Person oder einer Stelle, welche die Erziehung beaufsichtigt), die persönliche Betreuung (Bezeichnung einer Person, welche die Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt und den Jugendlichen persönlich betreut), die ambulante Behandlung (von Jugendlichen, welche an psychischen Störungen leiden, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt oder sucht-
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Teil I: Einführung mittelabhängig sind), die Unterbringung (bei Privatpersonen oder in Erziehungsoder Behandlungseinrichtungen – zur Gewährleistung des Schutzes des Jugendlichen oder seiner Behandlung oder auch zum Schutz Dritter, ggf. auch in einer geschlossenen Einrichtung). Schutzmassnahmen können jederzeit durch andere ersetzt werden. Sie enden spätestens mit Vollendung des 22. Altersjahres und werden ggf. mit zivilrechtlichen Massnahmen koordiniert (Art. 12–20 JStG). – Strafen werden zusätzlich zu einer Schutzmassnahme oder als einzige Rechtsfolge verhängt (Art. 11 JStG), wobei indessen ein erweiterter Katalog von Strafbefreiungsgründen zu berücksichtigen ist (Strafbefreiung u.a. für den Fall, wo der Jugendliche von seinen Eltern oder Dritten bereits ausreichend bestraft worden ist; Art. 21 Abs. 1 Bst. e JStG). – Die nachstehenden Arten von Strafen können angeordnet werden: der Verweis (die förmliche Missbilligung der Tat, ggf. verbunden mit einer Probezeit und Weisungen), die persönliche Leistung (zu Gunsten von sozialen Einrichtungen, von Werken im öffentlichen Interesse, von hilfsbedürftigen Personen oder des Geschädigten, ggf. auch als Verpflichtung zur Teilnahme an Kursen oder ähnlichen Veranstaltungen – dies für die Dauer von höchstens zehn Tagen, unter besonderen Voraussetzungen bis zu drei Monaten), die Busse (von höchstens 2'000 Franken, sofern der Jugendliche zur Zeit der Tat das 15. Altersjahr zurückgelegt hat), der Freiheitsentzug (bis zu einem Jahr, ggf. im tageweisen Vollzug oder in Halbgefangenschaft – unter besonderen, restriktiven Voraussetzungen bis zu vier Jahren; eine bedingte Entlassung ist bereits nach der Strafhälfte und zwei Wochen Freiheitsentzug möglich) (Art. 21–31 JStG). – Für den Freiheitsentzug an Jugendlichen sind spezialisierte Einrichtungen vorzusehen, welche besonderen Anforderungen genügen: Die Jugendlichen sind entsprechend ihrer Persönlichkeit erzieherisch zu betreuen und auf die soziale Eingliederung nach der Entlassung vorzubereiten. Die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen ist zu fördern, eine schulische oder berufsbildende Ausbildung oder Erwerbstätigkeit ist innerhalb oder ausserhalb der Einrichtung ebenso sicherzustellen wie ggf. eine therapeutische Behandlung. Bei einem Freiheitsentzug von mehr als einem Monat ist ferner eine geeignete, von der Einrichtung unabhängige Person zu bezeichnen, welche den Jugendlichen begleitet und ihm hilft, seine Interessen wahrzunehmen (Art. 27 JStG). – Das Gesetz enthält im Übrigen auch Vorgaben zur Strafuntersuchung: u.a. die Vorgabe, dass Untersuchungshaft bloss subsidiär zu allfällig vorsorglich angeordneten Schutzmassnahmen angeordnet werden darf, ferner die Option, ein Verfahren zum Zwecke der Mediation einzustellen (Art. 5–9 JStG). Es enthält auch Regeln zu Zuständigkeit, Verfahren und Vollzug: u.a. die Festlegung, dass für die Strafverfolgung normalerweise die Behörde am Aufenthaltsort des Jugendlichen zuständig ist, dass das Verfahren in der Regel nicht öffentlich ist sowie Garantien zur Verteidigung (Art. 38–43 JStG).
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
1.
Rechtsgrundlagen
1.1
Ausgangslage
Wie alle anderen Bereiche staatlichen Handelns bedürfen auch die strafrechtlichen Rechtsfolgen und deren Vollzug einer ausdrücklichen rechtlichen Grundlage (Art. 5 Abs. 1 BV). Die föderalistische Regelung des Strafvollzugs in der Schweiz hat zur Folge, dass sich das Bundesrecht und das kantonale Recht ergänzen. Einen dritten Pfeiler massgeblicher Rechtsgrundlagen bilden die durch die Schweiz eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen.
1.2
1
Bundesrechtliche Grundlagen
Allgemeine Grundlage des Straf- und Massnahmenvollzugs sind die entsprechenden Vorschriften im StGB. Die strafrechtlichen Sanktionen und deren Vollzug sind im Ersten Buch des StGB systematisch zusammengefasst: Der Dritte Titel (Art. 34 ff. StGB) regelt die einzelnen Strafen und Massnahmen, der Vierte Titel (Art. 74 ff. StGB) den Vollzug von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Massnahmen. Im Siebenten Titel des Dritten Buches (Art. 372 ff. StGB) finden sich ergänzende Vorschriften zur Anwendung des Gesetzes. Die bundesrechtlichen Vorschriften definieren abschliessend den Katalog der zulässigen Sanktionen und regeln die Grundsätze ihres Vollzugs. Zu einigen wenigen in Art. 387 StGB abschliessend aufgezählten Einzelfragen kann der Bundesrat ferner ergänzende Bestimmungen erlassen. In der Verordnung zum StGB (V-StGB-MStG) werden namentlich spezielle Fragen der Zuständigkeit der einzelnen Kantone geregelt (bei Gesamtstrafen, dem Widerruf bedingter Strafen und Rückversetzungen sowie beim Zusammentreffen von Sanktionen aus verschiedenen Kantonen), ferner das Zusammentreffen mehrerer Sanktionen im Vollzug. Die Vollstreckung und der Vollzug freiheitsentziehender Sanktionen wird bundesrechtlich aber weder umfassend noch detailliert normiert: Die bundesrechtliche Rahmenordnung bedarf weiterer Konkretisierungen im kantonalen Recht.
2
Dem StGB kommt allerdings keineswegs der Charakter einer exklusiven bundesrechtlichen Rechtsgrundlage für den Straf- und Massnahmenvollzug zu: Grundsätzlich ist auf ihn die Gesamtheit der übrigen Rechtsordnung anwendbar. Ferner enthalten etliche, nicht vollzugsspezifische Rechtsgrundlagen besondere vollzugsbezogene Regeln, etwa
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
RII 1.2 Zuständigkeiten von Bund und Kantonen: Art. 123 BV 1
Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Strafrechts und des Strafprozessrechts ist Sache des Bundes. 2
Für die Organisation der Gerichte, die Rechtsprechung in Strafsachen sowie den Straf- und Massnahmenvollzug sind die Kantone zuständig, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht. 3
Der Bund kann Vorschriften zum Straf- und Massnahmenvollzug erlassen. Er kann den Kantonen Beiträge gewähren: a. für die Errichtung von Anstalten; b. für Verbesserungen im Straf- und Massnahmenvollzug; c. an Einrichtungen, die erzieherische Massnahmen an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vollziehen.
das Sozialversicherungsrecht. Von unmittelbarer Bedeutung ist das Verfassungsrecht des Bundes, namentlich der Schutz der Grundrechte (Art. 7 ff. BV; Abschnitt 5.14.3), der auch Garantien gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen einschliesst (Art. 31 BV). 4
Die Zuständigkeit des Bundes für die Rechtsetzung im Straf- und Massnahmenvollzug könnte in Zukunft erweitert werden: Eine in der Volksabstimmung vom 12. März 2000 angenommene Änderung von Art. 123 Abs. 2 BV ermächtigt den Bund generell zum Erlass von Vorschriften zum Straf- und Massnahmenvollzug (RII 1.2). Konkrete Vorarbeiten zum Erlass eines bundeseinheitlichen Vollzugsgesetzes sind jedoch kurzfristig – und wohl auch mittelfristig – nicht geplant.
1.3 5
Kantonale Rechtsgrundlagen
Mit Blick auf die Revision des StGB von 2002 haben die meisten Kantone ihre Rechtsgrundlagen dem neuen Bundesrecht angepasst. Der Straf- und Massnahmenvollzug wird aber formell und materiell noch immer sehr unterschiedlich normiert, was die Übersicht über die kantonalen Rechtsgrundlagen veranschaulicht hat (RII 1.3): Spezialgesetzlich geregelt ist der Straf- und Massnahmenvollzug in den Kantonen AR, BE, BL, BS, GR, JU, LU, NE, NW, SO, TI, VD und ZH (FR verfügt ferner über ein Spezialgesetz für die Strafanstalt Bellechasse). Die Kantone AG, AI, FR, GE, GL, OW, SG, SH, SZ, TG, UR, VS und ZG regeln den Strafvollzug auf Verordnungsstufe.
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1. Rechtsgrundlagen
RII 1.3 Kantonale Rechtsgrundlagen Kantone mit einem Spezialgesetz zum Strafvollzug AR Gesetz vom 22. September 2014 über den Justizvollzug (JVG; bGS 341.1); Verordnung vom 16. Dezember 2014 über den Straf- und Massnahmenvollzug und die Bewährungshilfe (bGS 341.11); Verordnung vom 16. Dezember 2014 über die Vollzugseinrichtungen (bGS 341.12). BE Gesetz vom 25. Juni 2003 über den Straf- und Massnahmenvollzug (SMVG; BSG 341.1); Verordnung vom 5. Mai 2004 über den Straf- und Massnahmenvollzug (SMVV; BSG 341.11). BL Gesetz vom 21. April 2005 über den Vollzug von Strafen und Massnahmen (Strafvollzugsgesetz, StVG; SGS 261); Verordnung vom 11. Juni 1991 über den Straf- und Massnahmenvollzug (SGS 261.41); Verordnung vom 23. Dezember 1997 über die Bezirksgefängnisse und Haftlokale der kantonalen Polizeiposten (SGS 261.61). BS Gesetz vom 13. Dezember 2007 über den Vollzug der Strafurteile (Strafvollzugsgesetz; SG 258.200); Verordnung vom 11. Februar 2014 über den Justizvollzug (Justizvollzugsverordnung, JVV; SG 258.210). GR Gesetz vom 28. August 2009 über den Justizvollzug im Kanton Graubünden (Justizvollzugsgesetz; JVG; BR 350.500); Verordnung vom 22. Dezember 2009 über den Justizvollzug im Kanton Graubünden (Justizvollzugsverordnung; JVV; BR 350.510). JU Loi du 2 octobre 2013 sur l’exécution des peines et mesures (RSJU 341.1); Loi du 2 octobre 2013 sur les établissements de détention (RSJU 342.1); Ordonnance du 8 avril 2014 sur les établissements de détention (RSJU 342.11). LU Gesetz vom 3. Juni 1957 über den Straf- und Massnahmenvollzug (SRL 305); Verordnung vom 12. Dezember 2006 über den Justizvollzug (SRL 327). NE Loi du 3 octobre 2007 sur l’exécution des peines privatives de liberté et des mesures pour les personnes adultes (LPMPA; RSN 351.0); Arrêté du 9 mars 2011 sur l’exécution des peines et des mesures pour les personnes adultes (APMPA; RSN 351.01). NW Gesetz vom 25. Oktober 2006 über den Straf- und Massnahmenvollzug (Strafvollzugsgesetz, StVG; NG 273.3); Gesetz vom 25. Oktober 2006 über das kantonale Gefängnis (Gefängnisgesetz, GefG; NG 273.4). SO Gesetz vom 13. November 2013 über den Justizvollzug (JUVG; BGS 331.11) (); Verordnung vom 24. März 2014 über den Justizvollzug (Justizvollzugsverordnung; JUVV; BGS 331.12). TI Legge del 20 aprile 2010 sull’esecuzione delle pene e delle misure per gli adulti (4.2.1.1); Regolamento del 6 marzo 2007 sull’esecuzione delle pene e delle misure per gli adulti (4.2.1.1.1). VD Loi du 4 juillet 2006 sur l’exécution des condamnations pénales (LEP; RSV 340.01); Règlement du 24 janvier 2007sur le statut des condamnés exécutant une peine privative de liberté et les régimes de détention applicables (RSC; RSV 340.01.1). ZH Straf- und Justizvollzugsgesetz vom 19. Juni 2006 (StJVG; LS 331); Justizvollzugsverordnung vom 6. Dezember 2006 (JVV; LS 331.1).
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug Kantone, die den Strafvollzug auf Verordnungsebene geregelt haben AG Verordnung vom 9. Juli 2003 über den Vollzug von Strafen und Massnahmen (Strafvollzugsverordnung, SMV; SAR 253.111). AI Standeskommissionsbeschluss vom 4. April 1995 über das Kantonsgefängnis (Nr. 340.001); Standeskommissionsbeschluss vom 4. April 1995 über den tageweisen Strafvollzug und die Halbgefangenschaft (Nr. 340.002); Standeskommissionsbeschluss vom 11. Juni 1996 über die gemeinnützige Arbeit im Strafvollzug (Nr. 340.003). FR Verordnung vom 12. Dezember 2006 über den Vollzug der strafrechtlichen Sanktionen (SGF 340.12). GE Règlement du 27 octobre 2003 sur le régime progressif de l’exécution des peines et de l’internement des délinquants d’habitude (RRPEP; E 4 55.03); Règlement du 19 mars 2014 sur l’exécution des peines privatives de liberté et des mesures concernant les adultes et les jeunes adultes (REPPL; E 4 55.05); Règlement du 7 juillet 1999 sur l’exécution d’une phase du régime de fin de peine sous forme des arrêts domiciliaires (REFPAD; E 4 55.06); Règlement du 7 juillet 1999 sur l’exécution des courtes peines privatives de liberté sous forme des arrêts domiciliaires (RECPAD; E 4 55.08); Règlement du 27 octobre 2003 concernant l’octroi d’autorisations de sortie aux personnes condamnées adultes, primaires et récidivistes (RASPC; E 4 55.12); Règlement du 31 octobre 2013 concernant l’octroi d’autorisations de sortie aux personnes condamnées adultes et jeunes adultes (RASPCA; E 4 55.15). GL Verordnung vom 21. März 2006 über den Vollzug in den Bereichen Strafprozess, Straf- und Massnahmenvollzug und Opferhilfe (GS III F/7). OW Verordnung vom 19. Oktober 1989 über den Straf- und Massnahmenvollzug sowie die Bewährungshilfe (Strafvollzugsverordnung; GDB 330.11). SG Verordnung vom 13. Juni 2000 über die Gefängnisse und Vollzugsanstalten (sGS 962.14). SH Justizvollzugsverordnung vom 19. Dezember 2006 (SVV; SHS 341.101). SZ Haft-, Straf- und Massnahmevollzugsverordnung vom 19. Dezember 2006 (HSMV; SRSZ 250.311). TG Verordnung vom 12. Dezember 2006 des Regierungsrates über den Justizvollzug (Justizvollzugsverordnung; RB 340.31). UR Verordnung vom 20. Dezember 2006 über den Straf- und Massnahmenvollzug (VSMV; RB 3.9321). VS Verordnung vom 18. Dezember über die Rechte und Pflichten von Gefangenen 2013 (SGS 340.100). ZG Verordnung vom 7. Dezember 2010 über den strafrechtlichen Justizvollzug gegenüber Erwachsenen (BGS 331.2); Verordnung vom 6. Mai 2013 über die Strafanstalt Zug (BGS 331.1).
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1. Rechtsgrundlagen
Alle erwähnten kantonalen Rechtsgrundlagen enthalten die grundlegendsten (nicht immer aber alle notwendigen) Regeln zur Strafvollstreckung. Noch unterschiedlicher ausgestaltet ist das materielle Strafvollzugsrecht, sowohl bezüglich der Normierungsbreite als auch der Normierungstiefe: Teilweise finden sich lediglich rudimentäre Vollzugsvorschriften. Eine materiell insgesamt umfassende Normierung des Vollzugs findet sich namentlich in den Kantonen AG, AR, BE, BS, GR, JU, NE, SO, SG, TI, VD, VS und ZH.
6
Auch in Bezug auf das kantonale Recht ist die übrige Gesetzgebung grundsätzlich ebenfalls auf den Straf- und Massnahmenvollzug anwendbar. Von erheblicher Bedeutung ist mit Blick auf die Strafvollstreckung insbesondere das allgemeine kantonale Verwaltungsrecht.
7
1.4
Völkerrechtliche Grundlagen (LII 1.4)
Die Schweiz ist vertraglich etliche völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen, welche damit Teil der schweizerischen Rechtsordnung geworden sind (LII 1.4). Einige dieser Rechtsgrundlagen setzen dem Vollzug «verfassungsähnlich» grundlegende Schranken (namentlich die Europäische Menschenrechtskonvention und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte der UNO; RII 1.4). Andere regeln mehr «technische» Einzelfragen (z.B. das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen und das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen). Besonders hervorzuheben ist auch das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, dessen Kontrollmechanismus auch für die Schweiz ein erhebliches vollzugspolitisches Gewicht erhalten hat (Abschnitt 2.6).
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Als Folge der zunehmenden faktischen Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Staaten ist das Netz der für die Schweiz verbindlichen völkerrechtlichen Normen im Verlaufe der letzten Jahrzehnte immer dichter und damit bereits unübersichtlich geworden (RII 1.4). Dazu kommt, dass das die Schweiz formell nicht bindende übernationale «Soft-law» faktisch eine vergleichbare Wirkung entfalten kann wie Vertragsrecht (z.B. die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze des Europarates und der vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe[CPT] herausgegebene «Corpus of Standards»). Die aktuellen Bestrebungen (namentlich im Rahmen der EU), die zwischenstaatliche
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
LII 1.4 Literatur zu den völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen ASSOCIATION INTERNATIONALE DE RÉFORME PÉNALE: Making standards work. An international handbook on good prison practice. Paris 2001; BAECHTOLD Andrea / CERESOLI Alessandra (Hrsg.): Die Pflichten der Schweiz aus internationalen Übereinkommen zur Strafrechtspflege. Bern 1992; BUNDESMINISTERIUM DER JUSTIZ (Berlin) / BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ (Wien) / EIDGENÖSSISCHES JUSTIZ- UND POLIZEIDEPARTEMENT (Bern) (Hrsg.): Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug. 1962–2003. Mönchengladbach 2004; CERNKO Daniela: Die Umsetzung der CPT-Empfehlungen im deutschen Strafvollzug. Eine Untersuchung über den Einfluss des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) auf die deutsche Strafvollzugsverwaltung. Diss. Berlin 2012; CONSEIL DE L’EUROPE: Compendium des conventions, recommandations et résolutions relatives aux questions pénitentiaires. Strasbourg 2013; CONSEIL DE L’EUROPE: Les droits de l’homme dans les prisons. Strasbourg 1995; COYLE Andrew: A Human Rights Approach to Prison Management. Handbook for prison staff. London 2009; EUROPÄISCHES KOMITEE ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER UND UNMENSCHLICHER ODER ERNIEDRIGENDER BEHANDLUNG ODER STRAFE (CPT): Corpus of Standards. Deutsche Fassung. In: EuGRZ 7/8 2000 und Info Bulletin – bulletin info 2/2001; FROWEIN Jochen / PEUKERT Wolfgang: Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar. 3. Aufl. Kehl/Strassburg/Arlington 2009; HAEFLIGER Arthur / SCHÜRMANN Frank: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz. 2. Aufl. Bern 2014; KAISER Günther: Die Europäischen Antifolterkonventionen als Bestandteil internationalen Strafverfahrens- und Strafvollzugsrechts. In: ZStrR 1991, 213–231; KÄLIN Walter / MALINVERNI Giorgio / NOVACK Manfred: Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte. 2. Aufl. Basel/Frankfurt 1997; MATZINGER Othmar: Menschenrechte im Strafvollzug. Saarbrücken 2015; MORAWA Alexander H.E.: Die strafvollzugsrelevanten Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Sozialcharta und anderen internationalen Instrumenten. In: Bundesministerium für Justiz: Menschenrechte im Strafvollzug: Über die Menschenwürde zu einer Anhaltekultur in den Vollzugsanstalten. Wien 1998, 1–42; NOVAK Manfred: UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll. CCPR-Kommentar. Kehl/Strassburg/Arlington 1989; SCHÜRMANN Frank: Strafvollzug und europäische Menschenrechtskonvention. In: Baechtold Andrea / Senn Ariane (Hrsg.): Blickpunkt Strafvollzug. Regards sur la prison. Bern 2002, 255–267; TULKENS Françoise: La jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme en matière de détention: ses implications pour les professionnels chargé de l’exécution des peines. In: Queloz Nicolas et al. (Hrsg.): Das Personal im Sanktionenvollzug: Auftrag und Herausforderung. Bern 2003, 63– 91; UNITED NATIONS OFFICE ON DRUGS AND CRIME VIENNA: Compendium of United Nations Standards and Norms in Crime Prevention and Criminal Justice. New York 2008; VAN ZYL SMIT Dirk / SNACKEN Sonja: Principles of European Prison Law and Policy. Penology and Human Rights. Oxford 2009; VILLIGER Mark E.: Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage. 2. Aufl. Zürich 1999.
Zusammenarbeit im gesamten Bereich der Strafrechtspflege zu verstärken, lassen für die Zukunft einen erhöhten Druck auf eine weitergehende Harmonisierung des Vollzugs erwarten. Damit wird der Handlungsspielraum der nationalen Gesetzgeber weiter eingeschränkt.
62
1. Rechtsgrundlagen
RII 1.4 Internationale Übereinkommen Menschen- und Grundrechte (Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 14. November 1950, für die Schweiz in Kraft seit 28. November 1974 (SR 0.101) sowie die Zusatzprotokolle Nr. 6, 7, und 11 (SR 0.101.06, 0.101.07, 0.101.09). Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, für die Schweiz in Kraft seit 18. September 1992 (UNO; SR 0.103.2) sowie 2. Fakultativprotokoll (SR 0.103.22). Übereinkommen gegen Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlung oder Strafen vom 10. Dezember 1984, für die Schweiz in Kraft seit 26. Juli 1987 (UNO; SR 0.105) sowie Fakultativprotokoll vom 18. Dezember 2002, für die Schweiz in Kraft seit dem 24. Oktober 2009. Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26. November 1987, für die Schweiz in Kraft seit 1. Februar 1989 (SR 0.106). Strafvollstreckung Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983, für die Schweiz in Kraft seit 1. Mai 1988 (Europarat; SR 0.343) sowie Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997, für die Schweiz in Kraft seit 1. Oktober 2004. (Die Schweiz hat in den Jahren 1997 bis 2013 ferner mit dem Königreich Thailand, dem Königreich Marokko, der Republik Kuba, der Dominikanischen Republik, der Republik Kosovo, der Republik Paraguay, der Republik Peru und Barbados bilaterale Übereinkommen zur Überstellung von verurteilten Personen abgeschlossen; SR 0.344.745, 0.344.549, 0.344.294, 0.344.318, 0.344.475, 0.344.632, 0.344.641, 0.344.168.) Strafvollzug Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- und Pflichtarbeit vom 28. Juni 1930, für die Schweiz in Kraft seit 23. Mai 1941 (SR 0.822.713.9). Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963, für die Schweiz in Kraft seit 19. März 1967 (SR 0.191.02). Empfehlungen («Soft-law»; Auswahl) BUNDESMINISTERIUM DER JUSTIZ (Berlin)/BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ (Wien)/ BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Bern) (Hrsg.): Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug. 1962–2003. Mönchengladbach 2004. BUNDESMINISTERIUM DER JUSTIZ (Berlin)/BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ (Wien)/ BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Bern) (Hrsg.): Europäische Strafvollzugsgrundsätze. Godesberg 2007. EUROPÄISCHES KOMITEE ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER UND UNMENSCHLICHER ODER ERNIEDRIGENDER BEHANDLUNG ODER STRAFE (CPT): Corpus of Standards. Deutsche Fassung: EuGRZ 7/8 2000 und Informationen über den Straf- und Massnahmenvollzug, Sonderheft 2001/2. UNO: Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen vom 31. Juli 1957.
63
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
2.
Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
2.1
Bund und Kantone
1
Die verfassungsrechtliche Zuständigkeit (Art. 123 BV) zur Gesetzgebung im Strafrecht und Strafprozessrecht liegt beim Bund, jene für die Gerichtsorganisation, die Rechtsprechung in Strafsachen und den Straf- und Massnahmenvollzug bei den Kantonen. Im Straf- und Massnahmenvollzug ist der Bund befugt, den Kantonen für die Errichtung von Anstalten, für Verbesserungen im Straf- und Massnahmenvollzug und für Einrichtungen zum Vollzug erzieherischer Massnahmen an Minderjährigen und jungen Erwachsenen Beiträge auszurichten (Bundesgesetz vom 5. Oktober 1984 über die Leistungen des Bundes für den Straf- und Massnahmenvollzug [SR 341], Verordnung vom 21. November 2007 über die Leistungen des Bundes für den Straf- und Massnahmenvollzug [LSMV; SR 341.1]). Im Jahre 2014 hat der Bund an Bauvorhaben Beiträge von rund 45 Mio. Franken ausgerichtet, an Modellversuche Beiträge von etwas mehr als 600’000 Franken. Mit der Änderung von Art. 123 BV vom 12. März 2000 wurde klargestellt, dass sowohl die Durchführung des Straf- und Massnahmenvollzugs als auch die diesbezügliche Gesetzgebung in den Aufgabenbereich der Kantone fällt, dass der Bund indessen ermächtigt ist, auf Gesetzesebene in diese kantonalen Zuständigkeiten einzugreifen.
2
Damit wurde die seit den Beratungen zum Erlass eines StGB – also seit Beginn des 20. Jahrhunderts – umstrittene Frage neu entschieden, ob bzw. inwieweit der Bund zum Erlass strafvollzugsrechtlicher Vorschriften befugt sei. Vor der Änderung von Art. 123 BV vom 12. März 2000 war diese Frage nicht abschliessend geklärt. Nach herrschender Lehre hatte der Bund bloss eine beschränkte Gesetzgebungskompetenz: Ihm wurde die begrenzte Zuständigkeit zugebilligt, die Grundsätze der Strafvollstreckung und des Vollzugs so weit zu regeln, als dies für die Verwirklichung des materiellen Strafrechts erforderlich erscheint. Diesem Grundsatz entsprechen die Zuständigkeitsregeln im StGB auch nach der Revision des StGB von 2002 weiterhin (Art. 372–380 StGB). Die verfassungsrechtlich neu zulässige Verschiebung der rechtsetzenden Zuständigkeiten im Straf- und Massnahmenvollzug von den Kantonen zum Bund bedürfte, wie erwähnt, einer gesetzlichen Regelung.
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2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
LII 2 Literatur zur innerstaatlichen Organisation des Vollzugs BAECHTOLD Andrea: Le rôle de la Confédération en matière d’exécution des peines. In: Gottraux Martial (Hrsg.): Prisons, droit pénal: Le tournant? Lausanne/Genève 1987, 111–122; BEURRET-FLÜCK Fabia: Die Organisation interkantonaler Institutionen unter besonderer Berücksichtigung der interkantonalen Strafanstalt Bostadel in Menzingen/ZG. Basel/Frankfurt 1983; DELAQUIS Ernst: Das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen im Vollzug der Freiheitsentziehung gegenüber Erwachsenen. Bern 1936; FINK Daniel / TROXLER Walter: Die dezentrale Organisation des Freiheitsentzugs. In: Fink Daniel / Schulthess Peter (Hrsg.): Strafrecht, Freiheitsentzug, Gefängnis. Ein Handbuch zur Entwicklung des Freiheitsentzugs in der Schweiz. Bern 2015; ISENHARDT Anna / HOSTETTLER Ueli / YOUNG Christopher : Arbeiten im schweizerischen Justizvollzug. Ergebnisse einer Befragung zur Situation des Personals. Bern 2014; PEDRAZZINI Alexandre: Le concordat sur l’exécution des peines et mesures concernant les adultes dans les cantons romands: quelques dates importantes. In: Gottraux Martial (Hrsg.): Prisons, droit pénal: Le tournant? Lausanne/Genève 1987, 103–110; QUELOZ Nicolas et al. (Hrsg.): Das Personal im Sanktionenvollzug: Auftrag und Herausforderung. Les professionnels chargés de l’exécution des sanctions: quelles missions, quels défis. Bern 2003; RESTELLINI JeanPierre: Un nouveau mécanisme de visites de prison: le Protocol facultatif à la Convention contre la torture des Nations Unies. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Chêne-Bourg 2006, 13–19; DE ROUGEMONT François: Le contrôle préventif de la détention. In: ZStrR 2003, 448–466; DE ROUGEMONT François: Le droit de l’exécution des peines en Suisse Romande. Lausanne 1979; ROTH Robert: La judicarisation de l’exécution des peines. Présence et actualité de la constitution dans l’ordre juridique. In: Mélanges offerts à la Société suisse des juristes pour son congrès 1991. Basel/Frankfurt a.M. 1991, 301–322; VON SINNER Philippe: Die 25 Jahre des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal. In: Baechtold Andrea / Senn Ariane (Hrsg.): Brennpunkt Strafvollzug. Regards sur la prison. Bern 2002, 405–415; SURBER Reto Andrea: Das Recht der Strafvollstreckung. Zürich 1998; WADLE Nina: Privatisierung im deutschen Strafvollzug. Diss. Frankfurt a.M. 2013. Weiterführende Informationen Berichte der NATIONALEN KOMMISSION ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER (NKVF) über Besuche von Vollzugsanstalten. Einsehbar unter: www.nkvf.admin.ch Bericht des BUNDESRATS vom 1. Juli 2015: Verwahrungspraxis in der Schweiz; Bericht in Erfüllung des Postulats 13.3978 Rickli vom 27. September 2013. Bericht des BUNDESRATS vom 18. März 2014: Überprüfung des Straf- und Massnahmenvollzuges in der Schweiz; in Erfüllung des Postulats 11.4072 Amherd vom 15. Dezember 2011. BUNDESAMT FÜR JUSTIZ BJ: Strafen und Massnahmen in der Schweiz. System und Vollzug für Erwachsene und Jugendliche – ein Überblick. Bern 2010. DER BUNDESRAT: Bericht in Erfüllung des Postulats 13.3978 Rickli vom 27. September 2013: Verwahrungspraxis in der Schweiz. Bericht des BUNDESRATS vom 27. September 2010: Kosten des Strafvollzugs in der Schweiz; in Erfüllung des Postulats Rickli 10.3693 vom 27. September 2010. Informationsplattform des SCHWEIZERISCHEN AUSBILDUNGSZENTRUM FÜR DAS STRAFVOLLZUGSPERSONAL SAZ. Einsehbar unter: www.prison.ch
65
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
2.2
Strafvollzugskonkordate
3
Da in kleinen Kantonen für eigene Vollzugsanstalten kein Bedarf besteht und selbst grosse Kantone nicht in der Lage sind, alle bundesrechtlich vorzusehenden Anstaltstypen und -abteilungen zu betreiben, haben sich die Kantone in den Jahren 1956 bis 1963 zu drei regionalen «Vollzugsgemeinschaften», den sog. Strafvollzugskonkordaten zusammengeschlossen. Die drei Konkordatsverträge sind mit Blick auf das Inkrafttreten der Revision des StGB von 2002 in den Jahren 2004 bis 2007 einer vollständigen Überarbeitung unterzogen worden (RII 2.2). Mit dem Inkrafttreten von Art. 48a BV am 1. Januar 2008 können konkordatliche Vereinbarungen im Bereich des Straf- und Massnahmenvollzugs im Übrigen mit Bundesbeschluss allgemein verbindlich erklärt werden.
4
Die Konkordatsverträge regeln: - den Geltungsbereich des Konkordats; - die von den einzelnen Kantonen zu führenden Anstalten bzw. Anstaltstypen; - die Verpflichtung der Anstaltskantone zur Aufnahme Verurteilter aus den übrigen Konkordatskantonen; - die Zuständigkeit der Anstaltskantone und der einweisenden Kantone; - die Konkordatsorgane und deren Zuständigkeiten.
5
Diese Festlegungen werden in den drei Konkordatsverträgen allerdings nicht einheitlich getroffen. Mit den in den Jahren 2004 bis 2006 vorgenommenen Konkordatsrevisionen ist ihr Geltungsbereich indessen vereinheitlicht worden: Er betrifft in allen drei Konkordaten den Vollzug von (unbedingt vollziehbaren) Strafen und stationären Massnahmen in konkordatlichen Anstalten. Das Konkordat der Ostschweiz erstreckt sich zusätzlich auf alle Sanktionen dieser Art, welche in Konkordatskantonen ausgesprochen worden sind, während das Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz für planerische Aufgaben auch andere kantonale, nicht konkordatliche Einrichtungen für den Vollzug von Sanktionen sowie der Untersuchungshaft einschliesst. Namentlich Halbgefangenschaften und andere kurze Freiheitsstrafen dürfen die einzelnen Kantone aber auch in kantonalen, nicht-konkordatlichen Anstalten vollziehen. In allen Konkordaten sind die Rechtsgrundlagen des Anstaltskantons für die Durchführung des Freiheitsentzugs innerhalb des Anstaltsperimeters massgeblich, für alle übrigen Vollstreckungsentscheide verbleibt die Zuständigkeit grundsätzlich beim Einweisungskanton. Im Einzelnen gibt es aber unterschiedliche Regelungen in den Konkordatsverträgen: So
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2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
enthält das Konkordat der Ostschweiz im Gegensatz zu den anderen Konkordaten z.B. keine Festlegungen zum Versicherungsschutz der eingewiesenen Personen. Die Konkordate der deutschsprachigen Schweiz erteilen privaten Trägern auch die Bewilligung, spezielle Vollzugsformen zu vollziehen (insbesondere die Halbgefangenschaft, das Arbeitsexternat sowie Massnahmen für junge Erwachsene). Unterschiedlich ausgestaltet sind ferner die Konkordatsorgane (RII 2.2) und in Teilen deren Zuständigkeiten: Alle Konkordate sind befugt, die Kostgelder festzulegen, welche der Anstaltskanton dem Einweisungskanton in Rechnung stellen kann (DII 2.2). Die Konkordate können unverbindliche Richtlinien zum Vollzug von Sanktionen erlassen. Mit Zustimmung aller Konkordatskantone können in den Konkordaten der deutschsprachigen Schweiz einzelne Richtlinien auch als verbindlich erklärt werden. Das Konkordat der lateinischen Schweiz unterscheidet (in nicht hinreichend klarer Weise) unverbindliche Richtlinien und Empfehlungen von verbindlichen Beschlüssen und Reglementen. Soweit die Konkordate verbindliche Regeln generellabstrakter Natur erlassen, ist indessen zu fordern, dass diese in die jeweiligen kantonalen Rechtsordnungen überführt werden, weil konkordatliche Rechtsetzungkompetenzen faktisch keiner demokratischen Kontrolle unterliegen.
6
Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass Anstaltseinweisungen keineswegs nur innerhalb der Grenzen der einzelnen Konkordate erfolgen. Dies geschieht regelmässig bei Einweisungen in spezialisierte Anstalten (z.B. Frauenvollzugsanstalt, Einrichtungen für junge Erwachsene). Ferner dann, wenn sicherheits- oder vollzugsbedingte Gründe (z.B. die Separierung von Bandenmitgliedern) dies erfordern, in Ausnahmefällen auch zur Optimierung der individuellen Vollzugsplanung (z.B. Einweisung in eine Anstalt, welche eine bestimmte Ausbildungsmöglichkeit anbietet).
7
67
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
RII 2.2 Strafvollzugskonkordate Strafvollzugskonkordat der Nordwest und Innerschweiz – Vertragskantone: UR, SZ, OW, NW, LU, ZG, BE, SO, BS, BL, AG – Rechtsgrundlage: Konkordat über den Vollzug von Strafen und Massnahmen der Kantone der Nordwest- und Innerschweiz vom 5. Mai 2006; Reglement des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz vom 24. April 2008; Reglement betreffend einen Baufonds und die Ausrichtung von Baubeiträgen an Konkordatsinstitutionen vom 11. Mai 2001. – Konkordatsorgane: Konkordatskonferenz (Regierungsvertreter der Kantone) – Konkordatssekretariat (Halbamt) – Fachkonferenzen (der Einweisungs- und Vollzugsbehörden, der Vollzugsinstitutionen, der Bewährungshilfe) – Arbeitsgruppe Koordination und Planung – Fachkommission nach Art. 62d Abs. 2 StGB. – Beschlüsse: Beschlüsse über die Anstaltsplanung, die Qualitätsstandards im Vollzug, die Kostgelder etc. sowie Richtlinien betr. Anstaltspersonal, Bewährungshilfe, Urlaubswesen, Wohn- und Arbeitsexternate, Vollzugsplanung, Halbgefangenschaft, Gemeinnützige Arbeit, Ausländerinnen und Ausländer im Freiheitsentzug, Zusammenarbeit Straf- und Massnahmenvollzug – Migrations-/ Fremdenpolizeibehörden, Gemeingefährliche Straftäterinnen und Straftäter, Arbeitsentgelt, Massnahmenvollzug, bedingte Entlassung. Strafvollzugskonkordat der Ostschweiz – Vertragskantone: ZH, GL, SH, AR, AI, SG, GR, TG – Rechtsgrundlage: Konkordat der ostschweizerischen Kantone über den Vollzug von Strafen und Massnahmen vom 9. Oktober 2004. – Konkordatsorgane: Strafvollzugskommission (Regierungsvertreter der Kantone) – Sekretariat und Zentralstelle (Verwaltungsvertreter) – Fachkonferenzen (der Einweisungs- und Vollzugsbehörden, der Anstaltsleiter, der Bewährungshilfe) – Fachkommission nach Art. 62d Abs. 2 StGB. – Beschlüsse: Beschlüsse über die Kostgelder, Merkblätter sowie Richtlinien zu vergleichbaren Materien wie im Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz und zum Disziplinarrecht in den Konkordatsanstalten. Strafvollzugskonkordat der lateinischen Schweiz – Vertragskantone: FR, VD, VS, NE, GE, JU, TI (Teilbeitritt) – Rechtsgrundlage: Konkordat über den Vollzug der Freiheitsstrafe und Massnahmen an Erwachsenen und jungen Erwachsenen in den Kantonen der lateinischen Schweiz vom 10. April 2006. – Konkordatsorgane: Konferenz der für den Vollzug von Strafen und Massnahmen zuständigen kantonalen Behörden der lateinischen Schweiz (Regierungsvertreter der Kantone) – Sekretariat der Konferenz (Vollamt) – Konkordatskommission (Verwaltungsvertreter) – Kommission der Ämter für Bewährungshilfe. – Beschlüsse: Richtlinien (Directives), Entscheide (Décisions), Reglemente (Règlements) zu vergleichbaren Materien wie im Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz sowie zu den Arzt- und Zahnarztkosten, zum Vollzug an kranken, verunfallten, invaliden und alten Strafgefangenen etc. Weiterführende Informationen und aktuelle Konkordats-Übersichten www.prison.ch > Justizvollzug Schweiz > Who is who > Konkordate
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2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
DII 2.2 Kostgeldliste für die Jahre 2014/15 (Minimale und maximale Kostgelder pro Aufenthaltstag der drei Strafvollzugskonkordate. Vereinfachte, zusammenfassende Darstellung.) Fr. pro Tag Offene Strafanstalten für Männer Normalvollzug Spezialvollzug (Therapie, geschlossene Abteilung)
155 bis 218 225 bis 294
Geschlossene Strafanstalten für Männer Normalvollzug Spezial- oder therapeutischer Vollzug Vollzug in Sicherheitsabteilungen
210 bis 2851 251 bis 438 438 bis 582
Straf- und Massnahmeanstalten für Frauen Normalvollzug Massnahmen- und therapeutischer Vollzug Vollzug in Sicherheitsabteilungen Abteilung Mutter und Kind
232 bis 297 361 bis 438 438 bis 582 267 bis 351
Arbeitsexternat, Übergangsabteilungen
111 bis 1682
Vollzug in Regionalgefängnissen Normalvollzug Halbgefangenschaft
142 bis 155 85 bis 1193
1 2 3
Erweiterungsabteilung Strafanstalt Pöschwies: Fr. 160 Beitrag Strafgefangener im Arbeitsexternat: Fr. 21 bis Fr. 42 Beitrag Strafgefangener in Halbgefangenschaft: Fr. 20 bis Fr. 30
Quelle www.prison.ch > Justizvollzug Schweiz > Who is who > Konkordate > Nordwestund Innerschweiz > Handbuch > Kostgeldlisten (20.1 / 20.2 / 20.3)
2.3
Vollstreckungs- und Vollzugsorgane
Das Bundesrecht enthält – mit ganz wenigen Ausnahmen – keine Vorgaben zur kantonalen Behördenorganisation für die Vollstreckung freiheitsentziehender Strafen und Massnahmen. Soll ein Entscheid zwingend von einer richterlichen Behörde getroffen werden, spricht das StGB ausdrücklich vom «Gericht», andernfalls wird der Ausdruck «Vollzugsbehörde» (oder allgemeiner: «zuständige Behörde») verwendet. Da die meisten Kantone darauf verzichtet haben, ein Gericht als Vollzugsbehörde einzusetzen, sind für die bundesrechtlich nicht ausdrücklich einem Gericht zugewiesenen Entscheide administra-
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8
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
tive kantonale Vollzugsbehörden (eigentlich: «Vollstreckungsbehörden») zuständig. Nur die Kantone GE, TI, VD und VS haben spezialisierte Vollstreckungsgerichte («Tribunal» oder «Juge d’application des peines») für Vollstreckungsentscheide eingesetzt. 9
Mit dem StGB von 2002 werden die Aufgaben des Gerichts gegenüber dem vorher geltenden Recht etwas erweitert, bleiben aber im Vergleich mit unseren Nachbarstaaten bescheiden: Als Vollstreckungsbehörde entscheidet das urteilende Gericht bei einer bedingten Entlassung über eine allfällige Rückversetzung in den Straf- oder Massnahmenvollzug, über dazu subsidiäre Verfügungen sowie über Sanktionenänderungen (vgl. die Art. 62–65, 80, 89 und 95 StGB; Abschnitt 8.5).
10
Die übrigen Vollstreckungsentscheide fallen also in den meisten Kantonen in die Zuständigkeit der administrativen kantonalen «Vollzugsbehörde». Das kantonale Recht bezeichnet überwiegend ein Departement (bzw. eine Direktion) als für die Strafvollstreckung zuständige Behörde. Meist ist es das Justiz- und/oder das Sicherheitsdepartement. Vereinzelt liegt die Zuständigkeit auch beim Departement des Innern oder beim Volkswirtschaftsdepartement, in der lateinischen Schweiz auch bei einem «Département des institutions». Jedenfalls faktisch wird in allen Kantonen eine dem Departement untergeordnete, meist spezialisierte Verwaltungsbehörde als «Vollzugsbehörde» eingesetzt, wobei in einigen Kantonen besonders wichtige Entscheide in der Zuständigkeit des Departements oder sogar der Regierung verbleiben (AI, GL). Im Kanton Zug sind gewisse Zuständigkeiten dem Einzelrichteramt übertragen worden. Einzelne Kantone haben für spezielle Aufgaben überdies zusätzliche Organe geschaffen (Abschnitt 8.3). Insgesamt zeichnet sich die Regelung der Zuständigkeiten zur Strafvollstreckung im kantonalen Recht durch ein hohes Mass an Unübersichtlichkeit aus.
11
Das StGB verpflichtet die Kantone, für unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit besonders heikle Entscheide eine «begutachtende Kommission» zu schaffen, welche gewissermassen als «Hilfsorgan» der «Vollzugsbehörde» einzusetzen ist (Art. 62d Abs. 2 StGB): Für die Prüfung der bedingten Entlassung aus einer Verwahrung (Art. 64a Abs. 1 StGB) und der Anordnung einer stationären therapeutischen Behandlung (Art. 64 Abs. 3 StGB) hat die «Vollzugsbehörde» die Stellungnahme dieser unabhängigen sachverständigen Kommission einzuholen (Art. 64b Abs. 2 StGB; RII 6.2.7). Für Strafgefangene, welche eine «verwahrungswürdige» Straftat begangen haben (Art. 64 Abs. 1 StGB) ist eine Stellungnahme dieser Kommission auch einzuho-
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2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
len, wenn die Verlegung in eine offene Anstalt oder Vollzugsöffnungen in Aussicht genommen werden (Art. 75a StGB). Für die Einweisung in eine offene Einrichtung und für die Bewilligung von Vollzugsöffnungen der im Massnahmenvollzug eingewiesenen Person gilt Artikel 75a sinngemäss (Art. 90 Abs. 4bis StGB). In den Strafvollzugskonkordaten der deutschsprachigen Schweiz werden diese, für alle Konkordatskantone zuständigen Kommissionen durch das Konkordat eingesetzt. Die bundesrechtlichen begutachtenden Kommissionen orientieren sich an den durch die Kantone in den frühen 1990er-Jahren geschaffenen sog. «Fachkommissionen für die Begutachtung von ‹gemeingefährlichen Straftätern›» (Abschnitt 6.2.7). Für die Vollziehung der zu vollstreckenden freiheitsentziehenden Strafen oder Massnahmen sieht das Bundesrecht zwei weitere Organe vor: Der Freiheitsentzug selbst ist Sache der Vollzugsanstalten, also entweder der offenen oder geschlossenen Strafanstalten oder der Massnahmenvollzugseinrichtung (Art. 377 StGB). Mit Ausnahme des Kantons Uri verfügen sämtliche Kantone über mindestens eine Anstalt zum Vollzug von jedenfalls kurzen Freiheitsstrafen. Die kantonalen Anstaltsstrukturen bleiben allerdings weiterhin durch das Bundesrecht vor der Revision von 2002 geprägt: Für kurze Freiheitsstrafen stehen in den meisten Kantonen Abteilungen oder Haftplätze in Gefängnissen zur Verfügung, welche weit überwiegend dem Vollzug der Untersuchungshaft dienen. Diese Einrichtungen tragen je nach Kanton unterschiedliche Bezeichnungen, z.B. Untersuchungsgefängnis, Bezirksgefängnis, Regionalgefängnis oder Kantonalgefängnis. Einzelne Kantone haben für bestimmte oder die Gesamtheit der kantonalen Vollzugsanstalten überdies besondere Kommissionen eingesetzt, welche entweder Beratungsaufgaben («Fachkommissionen») oder Kontrollfunktionen («Aufsichtskommissionen») wahrnehmen.
12
Für die Vollziehung einer angeordneten Bewährungshilfe haben die Kantone ebenfalls entsprechende Organe bereitzustellen (Art. 376 StGB; Abschnitt 8.7). In den meisten Kantonen tragen diese fast durchwegs spezialisierten Behörden bereits seit den 1990er-Jahren die Bezeichnung «Bewährungshilfe» (früher: «Schutzaufsichtsamt»).
13
Eine Übersicht über die verschiedenen Typen von Vollstreckungs- und Vollzugsorganen vermittelt DII 2.3.
14
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
DII 2.3 Organe der Vollstreckung und des Vollzugs Typen von Organen Richterliche Vollstreckungsorgane: Administrative Vollstreckungsorgane: «Hilfsorgane» der Vollstreckung: Vollziehende Organe: «Hilfsorgane» des Vollzugs:
2.4 15
Urteilende Gerichte Vollzugsbehörden nach kantonalem Recht (in GE, TI, VD, VS: Strafvollzugsgerichte) Begutachtende Kommission (Art. 64b Abs. 2 StGB) Vollzugsanstalten Bewährungshilfe Aufsichtkommissionen über Vollzugseinrichtungen nach kantonalem Recht Fachkommissionen für Vollzugseinrichtungen nach kantonalem Recht
Private Vollzugsträger
Nach Art. 379 StGB können die Kantone «privat geführten Anstalten und Einrichtungen die Bewilligung erteilen, Strafen in der Form der Halbgefangenschaft und des Arbeitsexternats sowie Massnahmen nach den Artikeln 59–61 und 63 zu vollziehen». Nicht zulässig sind private Träger somit für den Vollzug von Freiheitsstrafen im Normalvollzug (Art. 77 StGB) und in Einzelhaft (Art. 78 StGB) sowie der Verwahrung (Art. 64 StGB), also für den «klassischen Kernbereich» der Freiheitsentziehung. Diese Differenzierung weicht in der Sache nur unwesentlich von der früheren Regelung in Art. 384 aStGB ab. Eine materielle Privatisierung – und somit eine Übertragung der Aufgabe des Straf- und Massnahmenvollzugs – liegt grundsätzlich nur dann vor, wenn sich der Staat aus einem Aufgabengebiet ganz zurückzieht und es vollumfänglich den Privaten überlässt, ob und wie sie eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Eine solche Übertragung ist an sich für den Strafvollzug unvorstellbar, weil der Staat nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich nicht mehr sicherstellen könnte, dass der materielle Strafanspruch durchgesetzt würde. Es wird also nicht die Aufgabe selbst privatisiert, sondern nur die Aufgabenerfüllung. Das heisst, dass der Strafvollzug auch bei einer Privatisierung eine Staatsaufgabe bleibt und der Staat die letzte Verantwortung für Wohlfahrt und Kontrolle der Gefangenen trägt.
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2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
Allerdings ermächtigt Art. 387 Abs. 4 Bst. b StGB den Bundesrat, versuchsweise und auf beschränkte Zeit den Vollzug von Freiheitsstrafen aller Art durch private Träger einzuführen oder zu gestatten. Diese Ermächtigung stellt eine grundlegende Relativierung des staatlichen Monopols für den Vollzug der (klassischen) Freiheitsstrafe dar. Die Vorschrift, dass Privatanstalten in jedem Fall der Aufsicht der Kantone unterliegen (Art. 379 Abs. 2 und 387 Abs. 4 Bst. b StGB), vermag daran ebenso wenig zu ändern, wie die Einschränkungen, dass sicherzustellen ist, dass die Art. 74–85, 91 und 92 strikte eingehalten werden und eine Ausweitung der privaten Trägerschaften nur versuchsweise und zeitlich begrenzt ermöglicht werden darf. Denn die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch die Kantone gestaltet sich in der Praxis äusserst schwierig; die Kantone haben sich dabei bisher eine grosse Zurückhaltung auferlegt. Würde überdies ein erheblicher Teil oder gar das ganze Anstaltensystem versuchsweise privatisiert, wäre ein solcher Vorgang de facto über Jahrzehnte hinaus nicht mehr reversibel.
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Einrichtungen des Massnahmenvollzugs, welche von privaten Trägern betrieben werden, sind im Bereiche der stationären Suchtmittelbehandlung seit jeher in der Mehrzahl. Gelegentlich werden auch strafrechtlich angeordnete Behandlungen psychischer Störungen in privaten Einrichtungen durchgeführt. Für den Vollzug von Freiheitsstrafen in der Vollzugsform der Halbgefangenschaft und des Arbeitsexternates stehen neben mehrheitlich staatlichen Institutionen auch einige privat geführte zur Verfügung. Die meisten privat geführten Einrichtungen erfüllen vorab gesundheits- oder sozialpolitische Aufgaben und nehmen solche der Strafrechtspflege bloss subsidiär wahr. Letztere werden normalerweise nicht mit einem generellen Leistungsauftrag umschrieben. Für die privaten Betriebe besteht auch keine Aufnahmepflicht im Einzelfall. Das kann in der Praxis – je nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage – zu einer gewissen Abhängigkeit der Vollzugsbehörden von den privaten Einrichtungen führen sowie zu Unklarheiten in Bezug auf die durch die Privateinrichtungen wahrzunehmenden Aufgaben. Trotz solcher Risiken hat sich in diesen Bereichen der Einbezug privater Trägerschaften indessen eingespielt und bewährt.
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Es ist zu beachten, dass es sich bei diesen privaten Trägerschaften fast ausnahmslos um gemeinnützige Träger handelt. Eine prominente Ausnahme bildete das im Kanton Zürich im Jahre 1999 für einige Jahre einer Privatfirma – ohne hoheitliche Funktionen – zum Betrieb übertragene Vollzugszentrum in Urdorf für den Vollzug von Halbgefangenschaften und des tageweisen Vollzugs. Seit dem Inkrafttreten des revidierten StGB von 2002 kann nicht mehr ausgeschlossen werden,
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
DII 2.4 Stellungnahmen zur Privatisierung des Strafvollzugs «Trotz aller Vorbehalte und Kritik sind die neueren Erfahrungen offenbar so ermutigend, dass man international von der weiteren ‹Expansion der Privatisierung› des Gefängniswesens ausgehen kann, ohne sich hinsichtlich der Gewährleistung von Menschenrechten unerwünschte oder gar gefährliche Entwicklungen einzuhandeln.» (KAISER Günther: Strukturwandel des Strafvollzugs durch Privatisierung. In: Donatsch Andreas / Forster Marc / Schwarzenegger Christian [Hrsg.]: Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag. Zürich 2002, 886) «Aus grundsätzlichen Erwägungen kann das staatliche Gewaltmonopol nicht leichthin an ein Privatunternehmen delegiert werden. Der Umgang mit Gefangenen und die rechtsstaaliche Umsetzung des Resozialisierungsauftrages stehen teilweise im Gegensatz zu den Vorstellungen eines profitorientierten Gewerbes. Wenn Strafvollzug den vom Gesetzgeber erteilten Auftrag erfüllen soll, muss er sich an den dem Strafrecht zugrunde liegenden ethischen Grundsätzen messen und kann nicht allein auf Kategorien des wirtschaftlichen Wettbewerbes reduziert werden.» (BIRCHER Silvio, Regierungsrat: Absage zur Privatisierung im Strafvollzug. In: SJZ 14/1997, 280) «Wenn der ökonomische Vergleich auch unter Berücksichtigung der staatlicherseits verbleibenden Dienstleistungskosten für Aufsicht und Überwachung Vorteile für die private Option ergeben sollte, steht einer verstärkten Zusammenarbeit von Staat und Privaten auch in diesem Bereich nichts entgegen. Sie darf jedoch nicht zu einer schleichenden Aushöhlung der Erfüllung öffentlich besetzter und verantworteter Standards führen oder gar eine Refeudalisierung des Strafvollzugs bewirken. Mängeln an Transparenz und Verlust von Kontrolle ist daher vorzubeugen.» (KAISER Günther / SCHÖCH Heinz: Strafvollzug. Eine Einführung in die Grundlagen. 5. Aufl. Heidelberg 2003, 80) «Angesichts der verfassungsrechtlich heiklen Grenzziehungen und der kriminalpolitischen Bedenken einer kommerziellen Beteiligung Privater am Strafvollzug erscheint es zweckmässiger, die Kontrolle und Betreuung von Strafgefangenen in staatlichen Händen zu belassen.» (CONINX Anna: Die Debatte über die Privatisierung des Strafvollzugs – Reflexionen aus Schweizerischer Sicht. In: KrimJ 4/2009, 292–302)
dass künftig Vollzugsaufgaben in erheblichem Umfang auch durch private kommerzielle Unternehmen wahrgenommen werden. Für diese müssten die finanzielle Anreize so ausgestalten sein, dass Inhaftierte möglichst kurz im stationären Vollzug verbleiben und möglichst erfolgreich resozialisiert bzw. in die Gesellschaft reintegriert werden. 19
Diese Neuorientierung geht zurück auf die in den 1980er-Jahren in den USA und in Australien, in den 1990er-Jahren dann auch in England erfolgte Übertragung von Vollzugsaufgaben an private, kommerzielle Träger. In der Folge wurden in den Jahren 1993 und 1994 auch in den eidgenössischen Räten mehrere Vorstösse eingereicht, welche rechtliche Grundlagen für eine Privatisierung des Strafvollzugs forderten. Begründet wird die Zulassung privater, kommerzieller Träger vorab mit Kosteneinsparungen. Einzelnen Vergleichsstudien, welche betriebliche
74
2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
Kosteneinsparungen von 10–18% ausgewiesen haben, wird allerdings vorgeworfen, dass sie auf einer nicht genügend transparenten und deshalb unzuverlässigen Kostenbasis beruhen und dass sie zudem Ungleiches miteinander vergleichen würden. Ein hinreichender Nachweis, dass private Träger einen kostengünstigeren Strafvollzug anbieten als staatliche, ist bislang tatsächlich nicht erbracht worden. Ferner wird von einer Übertragung von Vollzugsaufgaben an private Träger ein verstärkter Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Trägern erwartet, was eine qualitative Verbesserung der im Vollzug erbrachten Leistungen bewirken könnte. Solche Erwartungen könnten sich in Staaten mit einer zentralen Strafvollzugsbehörde durchaus bestätigen. Für die Schweiz sind sie aber kaum von Bedeutung, weil hier zwischen den Kantonen bereits eine Wettbewerbssituation besteht. Die Gegner einer Privatisierung des Strafvollzugs stossen sich in erster Linie an der damit verbundenen Übertragung von hoheitlichen Funktionen an Private, was sich allerdings – wie das Beispiel England zeigt – grundsätzlich vermeiden lässt. Die Bestrebungen zur Privatisierung des Strafvollzugs sind im Übrigen in den Zusammenhang der seit den 1990er-Jahren auch in der Schweiz feststellbaren allgemeinen Tendenz zur Entstaatlichung (und Kommerzialisierung) der Verbrechenskontrolle zu stellen. Die Diskussionen über die Übertragung von Vollzugsaufgaben an Private sind deshalb auch in der Schweiz noch keineswegs als abgeschlossen zu betrachten (DII 2.4). Angesichts der kantonalen Zuständigkeit für den Betrieb der Vollzugseinrichtungen ist eher nicht zu erwarten, dass hierzulande kurz- und mittelfristig Kernbereiche des Vollzugs von Freiheitsstrafen privatisiert werden könnten. Als grundsätzlich unbedenklich zu beurteilen ist dagegen die Übertragung von Teilfunktionen des Freiheitsentzugs an private – oder andere staatliche – Träger. Dies gilt jedenfalls für Aufgaben, welche nicht unmittelbar die Kontrolle der Strafgefangenen betreffen. Solche «Teilprivatisierungen» liegen auch in der Schweiz seit etlichen Jahren im Trend und betreffen namentlich die Auslagerung der Verpflegung, der Wäscherei, spezialisierter Betreuungs- und Behandlungsleistungen, in Ausnahmefällen auch von Teilen der Gefangenenarbeit oder von Aufgaben der Sicherung an Dritte. Keine grundsätzlichen Bedenken anzumelden sind auch in Bezug auf die seit 2001 einer Arbeitsgemeinschaft von SBB und Securitas übertragenen interkantonalen Gefangenentransporte. Auf der Route Zürich–Bern verkehrt ein spezieller «Gefängniszug», bestehend aus zwei Wagen mit je 22 Zellen; die «Feinverteilung» der Gefangenen erfolgt auf der Strasse. Allerdings ist zu bedenken, dass diese Teilprivatisierung kurz- und mittelfristig kaum reversibel sein dürfte. Denn von den jährlich 20’000 Gefangenentrans-
75
20
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
porten erfolgen rund 44% auf der Schiene. Unbedenklich ist schliesslich auch der Bau von Anstalten durch private Unternehmungen, wenn diese nachher durch den Staat gekauft, gemietet oder geleast werden.
2.5
Das Vollzugspersonal und seine Aus- und Fortbildung
21
Laut dem Anstaltenkatalog des Bundesamts für Statistik vom März 2015 weisen die Vollzugseinrichtungen des Straf- und Massnahmenvollzugs am Stichtag des 3. Septembers 2014 4’102 Vollzeitstellen aus. Hinzu kommen 407 externe Mitarbeitende. Von den 4’102 Stellen gehören 49% dem Bereich Sicherheit, 21% dem Bereich Arbeit, 13% der Sozialarbeit oder Bildung, 9% der Administration und 7% dem Gesundheitsdienst an. Eine Befragung der Vollzugseinrichtungen im Februar 2012 im Rahmen der vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten ersten schweizweiten Personalbefragung im Justizvollzug hat ergeben, dass 4’138 Angestellte in 89 Vollzugseinrichtungen tätig sind (nicht an der Umfrage beteiligt haben sich einige kleinere Gefängnisse der Kantone VS und GE). Für 3’822 Angestellte in 82 Vollzugseinrichtungen konnten detaillierte Angaben zu Vollzugsform, zum Verhältnis Mitarbeitende/Strafgefangene und zum Anteil der Frauen gemacht werden (SII 2.5.1). Je nach Vollzugsform entfallen auf eine Vollstelle unterschiedlich viele Insassen. In spezialisierten Massnahmeanstalten beträgt dieses Verhältnis 1:0,6, im geschlossenen und im offenen Strafvollzug je 1:1,5; in den regionalen, vorwiegend der Untersuchungshaft dienenden Einrichtungen dagegen entfallen zwei Insassen auf einen Mitarbeitenden (1:2). Diese Personalausstattung erscheint auf den ersten Blick hoch. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Vollzugseinrichtungen ihren Betrieb übers ganze Jahr während sieben Wochentagen zu 24 Stunden aufrechterhalten müssen. Um einzelne Funktionen – etwa die Besetzung der Anstaltspforte – durchgehend zu besetzen, müssen vier bis fünf Stellen eingesetzt werden. Am meisten Mitarbeitende sind in den Untersuchungs- bzw. Regionalgefängnissesn angestellt (31,5%), gefolgt vom geschlossenen Strafvollzug (24,3%), dem offenen Strafvollzug (18,1%) und dem Massnahmenvollzug (13,2%).
22
Das Bundesrecht enthält eine einzige Vorschrift zum Vollzugspersonal: Art. 377 Abs. 5 StGB verpflichtet die Kantone, ihr Vollzugspersonal aus- und weiterzubilden. Im kantonalen Recht finden sich dazu meist keine speziellen, konkretisierenden Vorgaben; verhältnismässig detail-
76
2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
SII 2.5.1 Mitarbeitende und Haftplätze nach Vollzugsformen für 82 Vollzugseinrichtungen gemäss der ersten gesamtschweizerischen Personalbefragung im Justizvollzug (Februar 2012) Die Befragung fand im Rahmen der vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Studie «Sicherheit – Alltag des Strafvollzugspersonals: Eine Studie zu Dispositiven, Praxis, Diskursen und Einstellungen im geschlossenen Strafvollzug der Schweiz» (2010–2012; http://p3.snf.ch/Project-130375) statt. Vollzugsform
Geschlossener Strafvollzug
Anzahl Anteil Mitarbei- Mitarbeitende tende in % (N=3822)
Haftplätze
Verhältnis Mitarbeitende/ Insassen
Anteil weiblich in %
1027
24,3
1569
1:1,5
20,9
Offener Strafvollzug
758
18,1
1161
1:1,5
18,5
Massnahmenvollzug
558
13,2
360
1:0,6
35,7
1315
31,5
2853
1:2,0
22,3
Ausschaffungshaft
79
1,9
186
1:2,3
2,5
Arbeitsexternat / Wohn- und Arbeitsexternat
47
1,2
95
1:2,0
31,9
Haftkrankenhaus
38
0,9
26
1:0,6
28,9
Gefängnis/Untersuchungshaft
Quelle ISENHARDT Anna / YOUNG Christopher / HOSTETTLER Ueli: Die Mitarbeitenden im Freiheitsentzug im Brennpunkt. Erste Ergebnisse einer schweizweiten Befragung über die Angestellten im Freiheitsentzug. In: Info bulletin – bulletin info, 1/2013, 5– 10; Siehe auch: HOSTETTLER Ueli / ISENHARDT Anna: Die Situation der Mitarbeitenden im Schweizer Justizvollzug. Zentrale Ergebnisse der gesamtschweizerischen Befragung. In: Info bulletin – bulletin info, 1/2015, 16–20. ISENHARDT Anna / HOSTETTLER Ueli / YOUNG Christopher: Arbeiten im schweizerischen Justizvollzug. Ergebnisse einer Befragung zur Situation des Personals. Bern 2014.
lierte Regelungen kennen einige Kantone der lateinischen Schweiz (FR, GE, JU, VD, VS), ferner die Kantone BE und AG. Die Vollzugsmitarbeiter sind überwiegend mit sog. Betreuungsaufgaben betraut (d.h. Aufgaben der Aufsicht und Begleitung der Strafgefangenen während der arbeitsfreien Zeit), mit solchen im Bereich der
77
23
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Gefangenenarbeit oder mit Sicherheitsaufgaben. In diesen Bereichen tätige Mitarbeitende sind gemeint, wenn allgemein vom «Vollzugspersonal» gesprochen wird. Die z.T. noch bis in die 1980er-Jahre verwendeten Bezeichnungen «Aufseher» oder gar «Gefangenenwärter» sind nicht mehr gebräuchlich. Auf die in den Vollzugseinrichtungen ebenfalls tätigen «Spezialisten» aller Art (vom Buchhalter oder EDVSpezialisten über den Krankenpfleger oder Sozialarbeiter bis zum Anstaltsarzt oder Direktionsmitglied) wird an dieser Stelle nicht eingegangen (vgl. Kapitel 7). 24
Das Vollzugspersonal wird in faktisch allen Kantonen durch die einzelnen Anstaltsleitungen rekrutiert, auch wenn in einigen Kantonen die Stellenausschreibungen zentral durch den Kanton erfolgen und die Anstellungsverträge meist durch eine übergeordnete Behörde unterzeichnet oder genehmigt werden müssen. Traditionell werden in den Vollzugsanstalten für Männer fast ausschliesslich männliche Mitarbeiter eingestellt, in den Vollzugsanstalten oder -abteilungen für Frauen weit überwiegend Mitarbeiterinnen. Seit den 1990er-Jahren sind einige Vollzugsanstalten indessen bestrebt, ihr Personal nach Geschlecht besser zu durchmischen. Dies betrifft vorab den Bereich der Gefangenenarbeit. In einzelnen Anstalten sind aber auch in den Bereichen der Betreuungs- und Sicherheitsaufgaben bereits gegen 20% der Mitarbeitenden Frauen. Im Massnahmenvollzug war 2012 der Anteil der Frauen mit 35,7% am höchsten. Interessant ist, dass der Frauenanteil der Belegschaft mit 20,9% im geschlossenen Strafvollzug höher ist als im offenen mit 18,5% und dass in den Gefängnissen und den Untersuchungshafteinrichtungen, wo die Arbeitsbelastung für die Mitarbeitenden aus verschiedenen Gründen – etwa enge Platzverhältnisse, Haftschock, Ungewissheit und vielfach auch nur rudimentäre Information zu den Inhaftierten – am höchsten ist, fast ein Viertel Frauen arbeiten (SII 2.5.1). Als Anstellungsvoraussetzung wird normalerweise – aber nicht überall konsequent – eine mit dem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis abgeschlossene Berufslehre verlangt (Richtlinien des Ostschweizer Strafvollzugskonkordates für die Auswahl und Anstellung von Personal des Justizvollzugs vom 2. April 2004). Für Mitarbeitende im Betreuungsbereich erwarten einige Anstalten zunehmend eine «einschlägige» berufliche Vorbildung, etwa in den Bereichen Sozialarbeit, (Sozial)Pädagogik, Kranken- oder Psychiatriepflege etc. Damit ist auch bereits gesagt, dass in der Schweiz keine Erstausbildung für Vollzugsmitarbeiter angeboten wird.
25
Angesichts der kantonalen Zuständigkeit für den Betrieb der Vollzugsanstalten beschränkte sich die Ausbildung des Vollzugspersonals bis in
78
2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
die 1970er-Jahre auf einen dreiwöchigen Kurs, der vom damaligen Schweizerischen Verein für Straf-, Gefängniswesen und Schutzaufsicht angeboten wurde, und für welchen Mitarbeitende mit einer bereits mehrjährigen Vollzugserfahrung eingeschrieben wurden. Im Übrigen wurde das Vollzugspersonal «on the job» mehr oder weniger gründlich auf seine Aufgaben vorbereitet. Vom erwähnten Verein ging denn auch die Initiative zur Schaffung eines gesamtschweizerischen Ausbildungszentrums aus. Diese Initiative führte im Jahre 1977 zur Gründung einer Stiftung «Schweizerisches Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal» (SAZ) durch das EJPD, die Konferenz der kantonalen Justizund Polizeidirektoren und die drei Strafvollzugskonkordate. Das SAZ hat seit 1997 seinen festen Sitz in Freiburg und verfügt über eine zeitgemässe Infrastruktur (Sekretariats- und Schulungsräume, Unterkünfte für Auszubildende). Es bietet Weiter- und Fortbildungskurse für das Vollzugspersonal an und ist in der Kaderausbildung tätig. Das SAZ führt auch weitere Lehrveranstaltungen durch, etwa für Mitarbeitende der Bewährungshilfe und der Vollzugsbehörden. Das eigentliche Kerngeschäft des SAZ ist indessen die sog. Grundausbildung des Vollzugspersonals, welche in deutscher und in französischer Sprache – letztere mit Simultanübersetzung ins Italienische – angeboten wird. Sie umfasst die Vermittlung von Kenntnissen in den vier Fächergruppen «Psychologie», «Welt des Gefängnisses», «Recht» sowie «Medizin/Psychiatrie». Die weiterhin berufsbegleitende Grundausbildung wird jährlich von über 100 Vollzugsmitarbeitenden abgeschlossen, seit 2003 mit einem Eidgenössischen Fachausweis als Fachmann/Fachfrau für Justizvollzug. Die Grundausbildung des SAZ setzt normalerweise nach einem Jahr Praxis in einer Vollzugsanstalt ein und umfasst, verteilt auf zwei Jahre, insgesamt 15 Kurswochen mit insgesamt 260 Unterrichtsstunden zu den Fächergruppen Psychologie, Welt des Gefängnisses, Recht sowie Medizin/Psychiatrie (DII 2.5). Dazu kommen 160 Stunden für Besichtigungen, Repetitorien, Prüfungen sowie Vorarbeiten und Auswertungen einer Diplomarbeit. Während der Zeit der Grundausbildung werden die Teilnehmer an ihrem Arbeitsplatz durch einen ebenfalls durch das SAZ ausgebildeten Praktikumsleiter begleitet. Vgl. zur Rekrutierung und Aus- und Weiterbildung des Vollzugspersonal auch die Empfehlung R (97) 12 des Europarates über Bedienstete, die mit der Durchführung von Sanktionen und Massnahmen befasst sind, vom 10. September 1997. Die erste schweizweite Befragung des Personals im Justizvollzug hat ergeben, dass von den befragten 1’836 Absolventinnen und Absolventen der Grundausbildung rund 2/3 mit der Ausbildung zufrieden sind, rund 1/5 ist weder zufrieden noch unzufrieden und etwa 1/10 sind unzufrieden (SII 2.5.2). 79
26
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
DII 2.5 Übersicht über die Grundausbildung am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal (SAZ) Das Personal im Schweizerischen Justizvollzug wird von den Kantonen und Anstalten eingestellt und durchläuft im ersten Ausbildungsjahr eine praktische Ausbildung in der Institution. Daran schliesst eine theoretische Ausbildung am SAZ in Freiburg an (während 15 Wochen verteilt auf zwei Jahre). Die Ausbildung wird mit der eidgenössischen Berufsprüfung abgeschlossen. Lehrplan theoretische Ausbildung im 2. und 3. Jahr Fächergruppe «Psychologie» – Regelkreis – Wahrnehmung und Beobachtung – Aggression − Sozialisation – Gruppenpsychologie – Transaktionsanalyse – Kommunikation − Stress und Burnout Fächergruppe «Welt des Gefängnisses» − Grundsätze und Aufgaben im Freiheitsentzug – Vollzugsformen innerhalb und ausserhalb des Freiheitsentzugs – Spezielle Aufgaben und Dienste im Freiheitsentzug – Ausländer im Vollzug – Spezielle Gruppen (Opfer und TäterInnen) – Spezialthemen (Geschichte, Medien) Fächergruppe «Recht» – Einführung ins Recht – Strafvollzugsrecht; Strafrecht – Disziplinarwesen – Kriminologie – Strafprozessrecht (inkl. Besuch einer Gerichtsverhandlung) – Menschen- und Grundrechte; Europäische Strafvollzugsgrundsätze − Das CPT Fächergruppe «Medizin/Psychiatrie» – Einführung in die Psychiatrie – Psychiatrische Krankheitsbilder – Psychiatrische Gutachten – Sexualdelinquenz – Aspekte des Drogenkonsums und der Drogenpolitik − Gefängnismedizin Quelle: SAZ
80
2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
Unzufrieden
Teils/teils
Zufrieden
Gesamt
SII 2.5.2 Zufriedenheit mit der Grundausbildung zur Fachfrau / zum Fachmann Justizvollzug am SAZ nach Aufgabenbereichen in Prozent gemäss der ersten gesamtschweizerischen Personalbefragung im Justizvollzug (Februar 2012)
Aufsicht & Betreuung
10,8
21,5
67,7
100
Anstaltsbetriebe
8,8
22,5
68,7
100
Sicherheitsdienst
9,0
25,4
65,6
100
Verwaltung
9,1
25,7
65,2
100
Spezialdienst1
11,7
24,4
63,9
100
Ausbildung & Freizeit
12,8
19,1
68,1
100
Andere
15,9
18,6
65,5
100
N=1’836
1
Zum Spezialdienst gehören der Sozialdienst, der Gesundheitsdienst, der psychologische Dienst und die Seelsorge.
Quelle ISENHARDT Anna / HOSTETTLER Ueli / YOUNG Christopher: Arbeiten im schweizerischen Justizvollzug. Ergebnisse einer Befragung zur Situation des Personals. Bern 2014, 32. Die von STRATENWERTH geleitete Untersuchung zeigte, dass die Zufriedenheit mit der Ausbildung in den 1970er-Jahren weit geringer war. Vor der Gründung des SAZ wurde die Aus- und Weiterbildung nur im Rahmen von i.d.R. kurzen Kursen angeboten. Von den in der Untersuchung befragten Personen gaben zwar 91,3% an, einen oder mehrere der damals angebotenen Kurse besucht zu haben, 81,0% meinten jedoch, dass diese Kurse nicht ausreichen und eine bessere Ausbildung nötig sei (STRATENWERTH Günter / BERNOULLI Andrea: Der schweizerische Strafvollzug: Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Aarau 1983, 54).
2.6
Organe zur Kontrolle des Vollzugs
Wie andere Verwaltungseinheiten unterstehen die durch die Kantone betriebenen Anstalten des Straf- und Massnahmenvollzugs der Aufsicht der übergeordneten administrativen Behörde. Darüber hinaus unterliegt auch der strafrechtliche Freiheitsentzug einer richterlichen Kontrolle (Abschnitt 5.14.5). Angesichts der mit dem Freiheitsentzug verbundenen erheblichen Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Strafgefangenen sowie der durch den Freiheitsentzug eingeschränkten
81
27
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Möglichkeiten der Strafgefangenen, ihre Rechte geltend zu machen und ggf. durchzusetzen, ist die Frage berechtigt, ob dieses Instrumentarium ausreicht oder ob zusätzliche, allenfalls verwaltungsexterne Kontrollorgane vorzusehen seien. 28
Die diesbezügliche Situation im schweizerischen Strafvollzug ist unübersichtlich: Die meisten Kantone verfügen über keine speziellen Kontrollorgane, einige über sog. «Aufsichtskommissionen» über den kantonalen Vollzug bzw. einzelne Vollzugsanstalten. Lediglich die Kantone Genf und Waadt haben eine parlamentarische Besuchskommission eingesetzt, welche sowohl die kantonalen Einrichtungen überwacht, als auch die Vollzugseinrichtungen in anderen Kantonen besucht, in welche Verurteilte eingewiesen wurden (GE: Art. 3 Loi sur l’exécution des peines, la libération conditionelle et le patronage des détenus libérés vom 22. November 1941; VD: Art. 16 Loi sur l’exécution des condamnations pénales vom 4. Juli 2006).
28a
Das Konkordat der lateinischen Schweiz sieht in Art. 33 des Konkordates eine interparlamentarische Kontrollkommission vor, welche sich aus drei Vertretern pro Konkordatskanton zusammensetzt. Die Aufgaben der Kommission regelt eine allgemeine Vereinbarung über die Aushandlung, Ratifikation, Ausführung und Änderung der interkantonalen Verträge und der Vereinbarungen mit dem Ausland vom 9. März 2001.
29
Die im Vergleich zu anderen europäischen Staaten deutliche Zurückhaltung bei der Einsetzung spezieller Kontrollorgane widerspiegelt den Sachverhalt, dass die administrative und richterliche Kontrolle des Freiheitsentzugs – zusammen mit der politischen und medialen Kontrolle in der kleinräumigen Schweiz – systematische Missstände im Vollzug bislang verhindert hat. Die Berichte zu den seit 1991 erfolgten fünf Augenscheinen in schweizerischen Vollzugseinrichtungen (letztmals vom 13. bis 24. April 2015), welche der auf Grund der Europäischen Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26. November 1987 eingerichtete Ausschuss (CPT) erstattet hat, machen indessen deutlich, dass verwaltungsexterne Kontrollen keineswegs als überflüssig zu beurteilen sind (DII 2.6). Eine zusätzliche Verstärkung der externen Kontrollen bewirkte das am 24. Oktober 2009 für die Schweiz in Kraft getretene Fakultativprotokoll zur Anti-FolterKonvention der UNO (RII 1.4) vom 18. Dezember 2002: Damit erhält der UNO-Unterausschuss zur Verhütung von Folter wie das europäische CPT einen unbeschränkten Zugang zu allen Orten, an welchen
82
2. Die innerstaatliche Organisation des Vollzugs
DII 2.6 Die Aktivitäten des CPT CPT-Besuche «Das CPT ist berechtigt, alle Orte in Vertragsstaaten zu besuchen, an denen Personen durch eine staatliche Behörde die Freiheit entzogen ist oder sein kann. Hierzu gehören Gefängnisse und Jugendgefängnisse, Polizeireviere, Hafteinrichtungen für Ausländer, psychiatrische Kliniken und Heime für ältere oder behinderte Menschen.» «Die Besuche des CPT werden entweder periodisch oder ad hoc durchgeführt. Periodische Besuche erlauben es dem Komitee, die Staaten in regelmässigen Abständen zu besuchen, gemäss einem Plan, der jährlich festgelegt wird. Ursprünglich waren die meisten Besuche des CPT regelmässiger Natur. Neue Vertragsparteien können einen Besuch des CPT, kurz nachdem sie durch den Vertrag gebunden sind, erwarten. Ad-hoc-Besuche können durchgeführt werden, wenn die ‹Umstände es erforderlich machen›. Dadurch kann das CPT rasch reagieren, wenn es Informationen erhält, aus denen hervorgeht, dass einer besonderen Angelegenheit oder Haftanstalt besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.» Kompetenzen des CPT «Gemäss der Konvention hat ein Staat der Delegation des CPT den Zugang zu seinem Hoheitsgebiet und unbeschränkte Bewegungsfreiheit an ‹allen Orten zu gewähren, an denen sich Personen befinden, denen die Freiheit durch eine staatliche Behörde entzogen ist›. Ausserdem gewährt er dem Komitee das Recht, sich mit Personen, denen die Freiheit entzogen ist, ohne Zeugen zu unterhalten und sich mit jeder Person, von der es annimmt, dass sie ihm sachdienliche Auskünfte geben kann, ungehindert in Verbindung zu setzen. Der Staat ist auch verpflichtet, dem CPT alle sonstigen Auskünfte zu erteilen, die dieses zur Erfüllung seiner Aufgabe benötigt.» Berichte des CPT «Nach jedem Besuch verfasst das Komitee einen Bericht, in dem es die Ergebnisse und Empfehlungen darlegt, die ihm notwendig erscheinen, um die Lage der Personen zu verbessern, denen die Freiheit entzogen ist. Dieser vertrauliche Bericht wird an den betroffenen Staat geschickt. Der Bericht beinhaltet die Aufforderung einer schriftlichen Antwort des Staates zu Massnahmen zur Umsetzung der Empfehlungen, Reaktionen auf Äusserungen und Erwiderung auf Informationsgesuche». «Die Ergebnisse des CPT sind vertraulich – von zwei Ausnahmen abgesehen. Erstens kann ein Staat die Veröffentlichung des Berichtes und seiner Antwort dazu beschliessen. Zweitens, wenn ein Staat die Zusammenarbeit verweigert oder es ablehnt, die Lage der Personen, denen die Freiheit entzogen ist, im Sinne der Empfehlungen des CPT zu verbessern, kann das Komitee beschliessen (mit Zweidrittelmehrheit und nachdem der Staat Gelegenheit hatte, sich zu äussern), eine öffentliche Erklärung abzugeben.» Quellen EUROPÄISCHES KOMITEE ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER UND UNMENSCHLICHER ODER ERNIEDRIGENDER BEHANDLUNG ODER BESTRAFUNG (CPT): Verhütung von Misshandlungen. Eine Kurzdarstellung des CPT. CPT/Inf/E (2002) 3. www.cpt.coe.int/german.htm
83
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Personen die Freiheit entzogen ist. Die Schweiz wurde überdies verpflichtet, ein «nationales Aufsichtsorgan» (oder mehrere kantonale) mit analogen Befugnissen auszustatten. Dieser Verpflichtung ist die Schweiz im Jahr 2010 mit der Schaffung der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVK) nachgekommen: Diese «konstituiert sich selbst» (Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. März 2009 über die Kommission zur Verhütung von Folter [SR 150.1]), besteht aus zwölf Mitgliedern und setzt sich aus Fachleuten zusammen (Art. 5 Abs. 1), «die über die erforderlichen beruflichen und persönlichen Kompetenzen und Kenntnisse, insbesondere im medizinischen, psychiatrischen, juristischen oder interkulturellen Bereich oder im Bereich des Freiheitsentzugs und des Besuchs von Orten des Freiheitsentzugs verfügen» (Art. 5 Abs. 2). Die Aufgaben der NKVK werden in Art. 2 des Bundesgesetzes geregelt: Danach überprüft sie «regelmässig die Situation von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, und besucht regelmässig alle Orte, an denen sich diese Personen befinden oder befinden könnten» (Art. 2 Bst. a). «Sie gibt Empfehlungen an die zuständigen Behörden ab mit dem Ziel die Behandlung und die Situation der Personen, denen die Freiheit entzogen ist, zu verbessern und Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu verhüten» (Art. 2 Bst. b). Zudem unterbreitet sie «Vorschläge und Bemerkungen zu geltenden Erlassen oder zu Erlassentwürfen» (Art. 2 Bst. c). Sie verfasst jährlich einen der Öffentlichkeit zugänglichen Bericht über ihre Tätigkeit (Art. 2 Bst. d) und «unterhält Kontakte mit dem Unterausschuss für Prävention und dem Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter, übermittelt den beiden Gremien Informationen und stimmt ihre Tätigkeiten mit ihnen ab» (Art. 2 Bst. e).
84
3. Das Strafensystem
3.
Das Strafensystem (LII 3)
3.1
Strafarten
Im StGB sind drei Arten von Strafen vorgesehen: - die Geldstrafe (für Übertretungen: Busse) - die gemeinnützige Arbeit - die Freiheitsstrafe
1
Vor der Revision von 2002 kannte das StGB nur zwei sog. «Hauptstrafen», nämlich die Busse und die Freiheitsstrafe (zusätzlich konnte der Richter auch noch sog. «Nebenstrafen» anordnen). Seit der Revision von 2002 sind für pekuniäre Strafen dagegen zwei Formen vorgesehen, nämlich die nach dem sog. «Tagesbussensystem» ausgestaltete Geldstrafe für Vergehen und die wie früher nach dem «Geldsummenprinzip» für Übertretungen zu verhängende Busse. Zudem hat die gemeinnützige Arbeit den Status einer vom Gericht anzuordnenden Hauptstrafe erhalten und ist nicht mehr bloss «Vollzugsform» einer richterlich ausgesprochenen Freiheitsstrafe (die Freiheitsstrafe wurde früher durch die Vollzugsbehörde nachträglich in gemeinnützige Arbeit umgewandelt). Die Revision des StGB von 2015 wird die letztere Neuerung der Revision von 2002 jedoch wieder rückgängig machen und die gemeinnützige Arbeit erneut bloss als Vollzugsform einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten, einer nach Anrechnung der Untersuchungshaft verbleibenden Reststrafe von nicht mehr als sechs Monaten oder einer Geldstrafe oder einer Busse im StGB verankern (vgl. Art. 79a nStGB).
2
Die dem Gericht zur Verfügung stehende Sanktionenpalette ist indessen vielfältiger: Das Gericht muss eine Freiheitsstrafe nicht als unmittelbar vollstreckbar anordnen, es kann sie auch bedingt oder teilbedingt aussprechen. Zusätzlich zu einer Freiheitsstrafe kann es ggf. eine strafrechtliche Massnahme anordnen, welche in der Regel anstelle der Freiheitsstrafe vollstreckt wird (Kapitel 9). Überdies kann es zusätzlich ggf. auch eine sog. «andere Massnahme» anordnen. Geldstrafe, Busse, gemeinnützige Arbeit, bedingte und teilbedingte Freiheitsstrafen und andere Massnahmen sind nicht Gegenstand dieser Darstellung; vgl. dazu EII 3.1 und EII 9.1.
3
85
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
LII 3 Literatur zum Sanktionenrecht Nach der Revision des StGB von 2002 BAECHTOLD Andrea: Prolegomena zur Änderung des Sanktionensystems im Rahmen der Gesamtrevision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches. In: Schuh Jörg (Hrsg.): Aktuelle Probleme des Straf- und Massnahmenvollzugs. Grüsch 1987, 351– 363; BÄNZIGER Felix / HUBSCHMID VOLZ Annemarie / SOLLBERGER Jürg (Hrsg.): Zur Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafrechts und zum neuen materiellen Jugendstrafrecht. 2. Aufl. Bern 2006; BRÄGGER Benjamin F.: Einführung in die neuen Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches zum Sanktionensystem und zum Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen. Bern 2007; HEER Marianne: Einige Schwerpunkte des neuen Massnahmenrechts. In: ZStrR 2003, 376– 422; HEINE Günter: Das neue Strafensystem im Spiegel der Rechtsprechung: blechen und schwitzen statt sitzen – gegebenenfalls gemischt! In: recht 1/09, 1–26; KILIAS Martin: Korrektur einer verunglückten Gesetzgebung. Zur erneuten Revision des ATStGB. In: ZSR 1/2011, 627–640; KUHN André et al. (Hrsg.): Droit des sanctions de l’ancien au nouveau droit. Bern 2004; KUHN André: Le sursis et le sursis partiel selon le nouveau Code pénal. In: ZStrR 2003, 264–279; KUNZ Karl-Ludwig: Die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe als zentrales Anliegen der Sanktionsreform in der Schweiz. In: Britz Guido et al. (Hrsg.): Grundfragen des staatlichen Strafens. Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag. München 2001, 453–466; KUNZ Karl- Ludwig: Zur Neugestaltung der Sanktionen des Schweizerischen Strafgesetzbuches. In: ZStrR 1999, 234–254; MANHART Thomas: Erste Erfahrungen mit dem neuen StGB für den Straf- und Massnahmenvollzug. In: Tag Brigitte / Hauri Max (Hrsg.): Das revidierte StGB Allgemeiner Teil. Erste Erfahrungen. Zürich 2008, 127–139; NIGGLI Marcel / WIPRÄCHTIGER Hans (Hrsg.): Basler Kommentar. Strafrecht I. Art. 1–110 StGB/JStG. 3. Aufl. Basel 2013; RIKLIN Franz: Zur Revision des Systems der Hauptstrafen. In: ZStrR 1999, 255–276; ROTH Robert: Nouveau droit des sanctions: premier examen de quelques points sensibles. In: ZStrR 2003, 1–23; SCHWARZENEGGER Christian / HUG Markus / JOSITSCH Daniel: Strafrecht II. Strafen und Massnahmen. 8. Aufl. Zürich 2007; STRATENWERTH Günter: Die freiheitsentziehenden Massnahmen im bundesrätlichen Entwurf für die Revision des Allgemeinen Teils des StGB. In: ZStrR 1999, 277–289; VIREDAZ Baptiste: Les principes régissant l’exécution des peines privatives de liberté (art. 74 et 75 al. 1 CP). Lausanne 2009. Zur Revision des StGB von 2015 ACKERMANN Jürg-Beat / EGLI Samuel: Die Strafartschärfung – eine gesetzesgelöste Figur. In: FP 2015, 158–163; ALBRECHT Peter: Rückschritte im Sanktionenrecht. In: ZStrR 2014, 270–282; BOTSCHAFT DES BUNDESRATS vom 4. April 2012 zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes; NIGGLI Marcel / WIPRÄCHTIGER Hans (Hrsg.): Basler Kommentar. Strafrecht I. Art. 1–110 StGB/JStG. 3. Aufl. Basel 2013; RIKLIN Franz: Gastkommentar: Strafrechtsreform 2015 – viel Lärm um wenig. In: NZZ vom 06. August 2015, 17.
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3. Das Strafensystem
EII 3.1 Strafarten nach StGB (ohne unbedingt vollziehbare Freiheitsstrafe) 1. Geldstrafe (Art. 34ff. StGB) Anwendungsbereich:
Die Geldstrafe kann für Vergehen und Verbrechen als Alternative zu einer Freiheitsstrafe bis zu 12 Monaten und zur gemeinnützigen Arbeit verhängt werden.
Modalitäten:
Die Geldstrafe kann unbedingt (unmittelbar vollstreckbar) ausgesprochen werden bedingt oder teilbedingt (Aufschub der gesamten Geldstrafe oder eines Teils derselben auf Bewährung für eine Probezeit von 2 bis 5 Jahren).
Bemessung:
Zuerst wird nach dem Verschulden des Täters die Zahl der Tagessätze (maximal 360) bestimmt. Danach wird aufgrund der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Höhe eines Tagessatzes (max. Fr. 3’000) festgelegt. Die Geldstrafe ergibt sich aus der Multiplikation der Tagessätze mit der Tagessatzhöhe (maximal Fr. 1’080’000 Mio.).
Vollzug:
Die Vollzugsbehörde legt eine Zahlungsfrist von max. 12 Monaten fest, kann diese aber auch verlängern und Ratenzahlungen bewilligen. Sie kann den Verurteilten ggf. betreiben und eine nicht bezahlte Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe umwandeln (1 Tagessatz = 1 Tag Freiheitsstrafe). Ist der Verurteilte schuldlos nicht in der Lage, die Geldstrafe zu bezahlen, kann das Gericht die Zahlungsfrist bis zu 24 Monaten verlängern, die Höhe des Tagessatzes herabsetzen oder die Geldstrafe in gemeinnützige Arbeit umwandeln (1 Tagessatz = 4 Arbeitsstunden).
2. Busse (Art. 106 StGB) Anwendungsbereich: Modalitäten: Bemessung:
Vollzug:
Die Busse wird als einzig mögliche Strafe für Übertretungen angeordnet. Bussen werden immer unbedingt verhängt. Nach dem Verschulden des Täters (maximal Fr. 100’000); als Geldsummenstrafe; ohne separater Berechnung einer schuldangemessenen Anzahl Strafeinheiten und eines den wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechenden Betrags pro Strafeinheit. Analog Geldstrafe. Ausnahme: Für den Fall der Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe wird deren Dauer nach dem Verschulden und den Verhältnissen des Täters (max. 3 Monate) bestimmt.
87
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 3. Gemeinnützige Arbeit (Art. 37ff. StGB) Anwendungsbereich:
Modalitäten:
Bemessung: Vollzug:
Gemeinnützige Arbeit kann als Alternative zu einer Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder einer Geldstrafe verhängt werden. Allerdings muss der Täter dieser Sanktion zustimmen. Gemeinnützige Arbeit kann unbedingt (unmittelbar vollstreckbar) ausgesprochen werden, oder aber bedingt oder teilbedingt (Aufschub der gemeinnützigen Arbeit insgesamt oder bloss eines Teils derselben für eine Probezeit von 2 bis 5 Jahren). Je nach dem Verschulden ordnet das Gericht die Dauer der gemeinnützigen Arbeit – höchstens 720 Stunden – an. Die Vollzugsbehörde setzt die Frist fest, innert welcher der Verurteilte die gemeinnützige Arbeit zu Gunsten sozialer Einrichtungen, Werken im öffentlichen Interesse oder hilfsbedürftigen Personen unentgeltlich zu leisten hat. Die Frist darf 2 Jahre nicht übersteigen. Wird die angeordnete Arbeit nicht geleistet, so wird diese vom Richter in eine Geldstrafe (sekundär in eine Freiheitsstrafe) umgewandelt (4 Stunden gemeinnützige Arbeit = 1 Tagessatz Geldstrafe = 1 Tag Freiheitsstrafe).
4. Bedingte Strafen (Art. 42ff. StGB) Anwendungsbereich:
Modalitäten: Bemessung: Vollzug:
Bei Freiheitsstrafen nur anwendbar für solche mit einer Dauer von 6 Monaten bis 2 Jahren. Voraussetzung: Eine unbedingte Strafe erscheint nicht notwendig, um den Täter vor weiteren Verbrechen oder Vergehen abzuhalten. Probezeit 2 bis 5 Jahre. Fakultativ Anordnung von Bewährungshilfe und Erteilung von Weisungen. Wie bei der unbedingt vollziehbaren Strafe. Bei Bewährung während der Probezeit wird auf den Vollzug der Strafe verzichtet. Bei Nichtbewährung und guter Prognose: Verwarnung oder Verlängerung der Probezeit. Bei Nichtbewährung und schlechter Prognose: Widerruf des bedingten Vollzugs.
5. Teilbedingte Strafe (Art. 43ff. StGB) Anwendungsbereich:
Voraussetzung:
Bemessung/ Modalitäten/Vollzug:
88
Bei Freiheitsstrafen nur für solche mit einer Dauer von 1 Jahr bis 3 Jahren anwendbar. Der aufgeschobene und der zu vollziehende Teil der Freiheitsstrafe müssen dabei mind. 6 Monate betragen, letzterer jedoch nicht mehr als die Hälfte der Strafe. Analog bedingte Strafe; ferner muss eine teilweise unbedingte Strafe als notwendig erscheinen, um dem Verschulden des Täters Rechnung zu tragen (bei Freiheitsstrafen im Bereich von 12 bis 24 Monaten misst das Bundesgericht der Verschuldensklausel indessen keine Bedeutung zu und stellt ausschliesslich auf spezialpräventive Überlegungen ab; BGE 134 IV 1 E. 5.4.3 und 5.5.2). Analog bedingte Strafe.
3. Das Strafensystem
3.2
Ordentliche Freiheitsstrafen
Freiheitsstrafen sind normalerweise für eine Dauer von mindestens 6 Monaten und längstens 20 Jahren zu verhängen (Art. 40 StGB). Die Obergrenze von 20 Jahren entspricht dem früheren Recht. Die Untergrenze von 6 Monaten wurde dagegen mit der Umsetzung der Revision des StGB von 2002 eingeführt: Damit wurde das Ziel verfolgt, kürzere Freiheitsstrafen durch nicht freiheitsentziehende Sanktionen (Geldstrafe, gemeinnützige Arbeit) zu ersetzen. Die Revision des StGB von 2015 zielt jedoch wiederum in die entgegengesetzte Richtung. Danach werden kurze unbedingte Freiheitsstrafen von mindestens drei Tagen wieder möglich sein (vgl. Art. 40 Abs. 1 nStGB). Gleichzeitig wird die gemeinnützige Arbeit nicht mehr als Sanktion, sondern als Vollzugsform konzipiert werden (vgl. Art. 79a nStGB). Als zusätzliche Vollzugsform wird neu die elektronische Überwachung im StGB verankert (vgl. Art. 79b nStGB).
4
Anders als im früheren Recht wird auf die überkommene Differenzierung der Freiheitsstrafe in verschiedene Strafarten (Haft, Gefängnis, Zuchthaus) zu Gunsten einer «Einheitsfreiheitsstrafe» verzichtet (Abschnitt 5.1). Der Vollzug der Freiheitsstrafe erfolgt indessen differenziert, d.h. in unterschiedlichen Anstaltstypen und Vollzugsformen (Abschnitte 5.3 und 5.4).
5
3.3
Kurze Freiheitsstrafen
Auf kurze, unbedingt vollziehbare Freiheitsstrafen unter sechs Monaten kann allerdings nicht ausnahmslos verzichtet werden. Sofern die Voraussetzungen für eine bedingt vollziehbare Strafe nicht vorliegen (weil weitere Straftaten zu befürchten sind) und eine Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeit nicht vollziehbar ist, kann der Richter ausnahmsweise eine vollziehbare Freiheitsstrafe von weniger als sechs Monaten aussprechen (Art. 41 StGB). Er wird allerdings verpflichtet, diesen Entscheid im Urteil näher zu begründen, also darzulegen, weshalb die alternativen, nicht freiheitsentziehenden Sanktionen im vorliegenden Fall nicht anwendbar sind. Kurze Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten sind somit subisdiär (eingeschränkt auch solche bis zu zwölf Monaten). Damit soll sichergestellt werden, dass der Richter nicht leichtfertig eine kurze Freiheitsstrafe vollziehen lässt. Dieses – in der Sache zu begrüssende – Kalkül ist für die Jahre 2007 bis 2011 tatsächlich aufgegangen: Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik belegen für diese Zeitspanne im Vergleich zu den Vorjahren einen
89
6
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
starken Rückgang bei den unbedingten Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten. Seit dem Jahr 2012 ist es jedoch zu einem sprunghaften Anstieg der unbedingten Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten gekommen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass der Bundesrat 2012 die Botschaft zur erneuten Revision des StGB verabschiedet hatte, nach welcher die kurzen Freiheitsstrafen von mindestens drei Tagen wieder eingeführt werden sollten. Die Eidgenössischen Räte haben diesen Revisionsvorschlag im Juni 2015 angenommen. Ein weiterer Anstieg der unbedingten Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten ist somit zu erwarten. 7
Anders als im früheren Recht unterliegt der Vollzug kurzer Freiheitsstrafen im Vergleich zu den längeren Freiheitsstrafen grundsätzlich keinen speziellen bundesrechtlichen Vorschriften – die Einheitsfreiheitsstrafe schliesst also die kurze Freiheitsstrafe ein. Bundesrechtliche Sonderregelungen für kurze Freiheitsstrafen betreffen bloss die anzuwendenden Vollzugsformen: Kurze Freiheitsstrafen sind in der Regel in der Form der Halbgefangenschaft zu vollziehen (Abschnitt 5.4.5). Auf Gesuch hin können sie auch im tageweisen Vollzug erstanden werden (Abschnitt 5.4.6), sofern sie nicht mehr als vier Wochen dauern. Der Vollzug in diesen besonderen Vollzugsformen kann in einer besonderen Abteilung eines Untersuchungsgefängnisses erfolgen (Art. 79 StGB). Die Kantone sind überdies befugt, kurze Freiheitsstrafen in besonderen Vollzugsformen nach kantonalem Recht, ggf. in speziellen Anstalten, zu vollziehen (Art. 377 StGB). Entsprechend der Revision des StGB von 2015 werden die gemeinnützige Arbeit und die elektronische Überwachung (Electronic Monitoring) als Vollzugsformen von kurzen Freiheitstrafen im StGB verankert. Beide Vollzugsformen wird die Vollzugsbehörde auf Gesuch des Verurteilten hin anordnen können.
3.4 8
Lebenslange Freiheitsstrafen
Wie im früheren Recht kann eine Freiheitsstrafe auch für eine lebenslängliche Dauer ausgesprochen werden. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland ist die Frage der Verfassungsmässigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe in der Schweiz kaum thematisiert worden, obgleich ihre Legitimierung keineswegs offensichtlich ist. Die lebenslange Freiheitsstrafe kann nach schweizerischem Recht nur dann verhängt werden, wenn sie im Gesetz ausdrücklich angedroht wird (Art. 40 StGB). Dies ist allerdings nur sehr selten der Fall: Im StGB bei Mord, Geiselnahme, Völkermord und bei Angriffen auf die Unabhän-
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3. Das Strafensystem
gigkeit der Eidgenossenschaft, ferner bei einzelnen Delikten des Militärstrafgesetzes und des Atomgesetzes. In der Praxis wird die lebenslange Freiheitsstrafe fast ausschliesslich bei Mord verhängt. Insgesamt kommt es pro Jahr zu weniger als zwei solchen Strafurteilen. Der Begriff «lebenslänglich» macht deutlich, dass diese Freiheitsstrafe potentiell bis zum Lebensende des Verurteilten dauern kann. Sind aber die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung gegeben (Abschnitt 8), kann eine Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe nach frühestens 15 Jahren, in ausserordentlichen Fällen bereits nach zehn Jahren erfolgen (Art. 86 StGB). Jährlich wird durchschnittlich in einem Fall eine bedingte Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe angeordnet. Wie viele «Lebenslängliche» tatsächlich bis zum Lebensende im Vollzug verbleiben, ist nicht bekannt, da die Statistik Verlegungen in vollzugsfremde Einrichtungen (Abschnitt 5.4.7), Strafunterbrüche (Abschnitt 4.3) und Fluchten nicht ausweist.
9
Der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe erfolgt wie jener kurzer Freiheitsstrafen grundsätzlich nach den Regeln der Einheitsfreiheitsstrafe. Die Kantone sind aber befugt, für lebenslänglich Verurteilte besondere Vollzugsformen (ggf. in speziellen Anstalten) einzuführen (Art. 377 StGB). Wo das kantonale Recht für langstrafige Gefangene besondere Vollzugsformen vorsieht, erfolgt der Vollzug überwiegend in solchen Spezialabteilungen. Wie für die zu sehr langen Freiheitsstrafen Verurteilten sind die Vollzugsbehörden in der Praxis bestrebt, den Vollzugsalltag für lebenslänglich Verurteilte über die lange Zeitdauer der Inhaftierung zu strukturieren, indem sie diesen Strafgefangenen ermöglichen, die Freiheitsstrafe in unterschiedlichen Vollzugsformen (ggf. unterschiedlichen Vollzugsanstalten) sowie individualisierten Vollzugsbedingungen zu erstehen.
10
3.5
Strafbefreiung
3.5.1
Der Sinn der Strafbefreiung
Hat das Gericht einen Täter identifiziert und einer Straftat für schuldig erkannt, dann hat es eine schuldangemessene Sanktion anzuordnen. Dieser Grundsatz entspricht dem allgemeinen Rechtsempfinden: Eine Übertretung der strafrechtlichen Ordnung soll eine als Übelzufügung wahrgenommene Sanktion nach sich ziehen.
91
11
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 12
Das Institut der Strafbefreiung durchbricht diese Regel: Es gibt Situationen, in welchen eine Sanktionierung des Täters unzweckmässig oder unverhältnismässig wäre. Das schweizerische Recht sieht eine Strafbefreiung bei Vorliegen dreier Konstellationen vor: wenn das Strafbedürfnis gering ist, wenn der Täter erhebliche Leistungen zur Wiedergutmachung des von ihm zu verantwortenden Schadens geleistet hat oder wenn er durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat bereits schwer betroffen ist (Art. 52–54 StGB). Liegt eine dieser Voraussetzungen vor, dann kann die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unverhältnismässig oder kriminalpolitisch unzweckmässig sein. Die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung müssen im Gesetz allerdings präzise und zurückhaltend umschrieben werden, damit das Institut der Strafbefreiung nicht eine willkürliche Rechtsprechung nach sich zieht. Sofern die Voraussetzungen für einen Strafverzicht also vorliegen, wird das Gericht einen Schuldspruch fällen und gleichzeitig einen Strafverzicht anordnen (BGer-Urteile 6B_522/2008 und 6B_523/2008 vom 27. November 2008).
13
Sind die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung eindeutig gegeben und alle wesentlichen Sach- und Rechtsfragen geklärt und unstrittig, dann macht es allein schon aus Gründen der Verfahrensökonomie keinen Sinn, einen solchen Fall zwingend durch das Gericht beurteilen zu lassen. Das StGB sieht deshalb vor, dass aus diesen Gründen ein Strafverfahren bereits im Stadium der Strafverfolgung oder der Überweisung an das Gericht eingestellt werden kann.
3.5.2
Strafbefreiung bei fehlendem Strafbedürfnis
14
Ein fehlendes Strafbedürfnis liegt dann vor, wenn sowohl das Verschulden des Täters als auch die Folgen der Straftat geringfügig sind (Art. 52 StGB). Eine Strafbefreiung mangels Strafbedürfnis darf also nur angeordnet werden, wenn die Einleitung des Strafverfahrens bereits eine ausreichende Reaktion auf die Straftat darstellt und sofern – auch bei minimalstem Verschulden des Täters – keine erheblichen Tatfolgen vorliegen, was namentlich ein Interesse des Opfers an einer gerichtlichen Beurteilung der Straftat nach sich ziehen kann.
15
Wo die Grenze zwischen absoluten «Bagatelldelikten», für welche eine Strafbefreiung zur Anwendung kommt, und anderen geringfügigen Straftaten, welche mit einer strafrechtlichen Sanktion zu belegen sind, anzusetzen ist, präzisiert Art. 52 StGB nicht. Diese Frage ist im Einzelfall durch die zuständigen Behörden und die Rechtsprechung zu
92
3. Das Strafensystem
beantworten. Liegen aber die genannten Voraussetzungen für eine Strafbefreiung vor, dann muss diese auch gewährt werden.
3.5.3
Strafbefreiung bei erfolgten Wiedergutmachungsleistungen
Eine Strafbefreiung setzt voraus, dass der Täter entweder den durch seine Tat bewirkten Schaden gedeckt oder alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, um das von ihm bewirkte Unrecht auszugleichen (Art. 53 StGB). Mit dem zweiten Satzteil soll sichergestellt werden, dass Täter in guten wirtschaftlichen Verhältnissen gegenüber anderen Tätern nicht privilegiert werden. Die Anstrengung zum Ausgleich des entstandenen Unrechts kann allerdings auch bloss symbolischer Natur sein, namentlich wenn kein konkretes Opfer vorliegt oder wenn sich der entstandene Schaden nicht mehr beheben lässt.
16
Liegt im konkreten Fall aber eine Straftat von erheblicher Schwere vor, dann vermögen eine blosse Schadensdeckung oder Anstrengungen zum Ausgleich des entstandenen Schadens eine Strafbefreiung nicht zu rechtfertigen. Deshalb begrenzt das Gesetz diese Form der Strafbefreiung auf Straftaten, für welche die Voraussetzungen einer bedingten Strafe erfüllt sind (wenn also eine Bestrafung nicht als notwendig erscheint, um den Täter von der Begehung weiterer Verbrechen oder Vergehen abzuhalten). Als dritte Voraussetzung für eine Strafbefreiung wird schliesslich verlangt, dass das Interesse der Öffentlichkeit und des Geschädigten an der Strafverfolgung gering ist (Art. 53 StGB).
17
Der Strafbefreiungsgrund erfolgter Wiedergutmachungsleistungen orientiert sich damit an den Interessen des Opfers, welchem meist mehr an einer Wiedergutmachung des ihm entstandenen Schadens liegt, als an einer Bestrafung des Täters. Andererseits stellt die Vorschrift sicher, dass sich ein Täter nicht durch blosse Schadensdeckung von einer Bestrafung «freikaufen» kann. Die zuständige Behörde wird auch mit Blick auf diesen Strafbefreiungsgrund den konkreten Einzelfall zu würdigen haben und verfügt dabei über ein breites Ermessen. Sind die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung indessen gegeben, dann ist diese auch zu gewähren.
18
93
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
3.5.4
Strafbefreiung bei Betroffenheit des Täters durch die Tatfolgen
19
Dieser Strafbefreiungsgrund wurde aus dem StGB vor der Revision von 2002 mit unverändertem Wortlaut übernommen. Vorausgesetzt wird, dass der Täter durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat so schwer betroffen ist, dass eine Strafe unangemessen wäre (Art. 54 StGB). Diese Voraussetzung liegt etwa dann vor, wenn der Täter im Zusammenhang mit einer Brandstiftung oder einem von ihm verschuldeten Verkehrsunfall selbst dauerhafte gesundheitliche Schädigungen erleidet oder wenn nahe Familienangehörige als unbeabsichtigte Opfer der Straftat das Leben verlieren.
20
Ob der Täter durch die Folgen seiner Straftat «schon genug bestraft» ist und eine zusätzliche strafrechtliche Bestrafung deshalb unangemessen wäre, wird wiederum im konkreten Einzelfall zu beurteilen sein. Weil das Gesetz nur «unmittelbare» Folgen der Straftat als Strafbefreiungsgrund zulässt, ist der Anwendungsbereich dieses Strafbefreiungsgrundes im Vergleich zu den beiden anderen in quantitativer Hinsicht bescheiden.
94
4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
4.
Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
4.1
Anordnung des Vollzugs
Die Anordnung der Vollstreckung einer Strafe oder Massnahme richtet sich ausschliesslich nach kantonalem Recht. Die «Anordnung des Vollzugs» betrifft drei Festlegungen: Erstens die Festlegung des Zeitpunkts, in welchem die rechtskräftige Strafe oder Massnahme anzutreten ist, zweitens der Vollzugsform (bei Vollzugsformen, für welche die Zuständigkeit nicht bei der Anstaltsleitung liegt) und drittens der Vollzugseinrichtung, in welcher sie zu erstehen ist. Alle Kantone haben zumindest die Zuständigkeit für die Anordnung des Vollzugs auf Gesetzes- und/oder Verordnungsebene geregelt. Grossmehrheitlich haben sie auch Regeln zur Festlegung des Zeitpunkts des Strafantritts erlassen. Das Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz hat für Einweisungen und Versetzungen einen einheitlichen «Vollzugsauftrag» geschaffen (§ 13 des Konkordatsreglementes vom 24. April 2008).
1
Wurden im Vollzug zusammentreffende Sanktionen durch Urteile verschiedener Kantone angeordnet, so haben sich die beteiligten Kantone über den Vollzug der dringlichsten oder zweckmässigsten Sanktionen bzw. den gleichzeitigen Vollzug von Sanktionen zu verständigen (Art. 13 V-StGB-MStG). Einzelheiten regeln die Art. 14 bis 17 V-StGB-MStG.
1a
In den Kantonen ist grossmehrheitlich eine einzige zentrale Verwaltungsbehörde für die Anordnung der Vollstreckung von (freiheitsentziehenden) Strafen und Massnahmen zuständig, die sog. «Vollzugsbehörde». In einigen Kantonen ist die Zuständigkeit formell beim Departement angesiedelt; es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Zuständigkeit teilweise auf mehrere dezentralisierte Behörden aufgeteilt wird.
2
Die Strafe oder Massnahme ist, nachdem das Urteil rechtskräftig geworden ist, normalerweise umgehend anzutreten, was etliche Kantone generell oder unter bestimmten Voraussetzungen (Fluchtgefahr, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit) ausdrücklich so vorsehen. Nur wenige Kantone geben für den Zeitpunkt des Strafantritts eine Regelfrist vor (z.B. BE: Spätestens innert sechs Monaten seit Bestimmung der Vollzugsform; AG: In der Regel innert drei Monaten seit Rechtskraft des Urteils). Allerdings hat der Verurteilte durchwegs die Mög-
3
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
lichkeit – auch wenn dies nur in wenigen Kantonen ausdrücklich festgelegt ist – ein Gesuch um einen «Strafaufschub» einzureichen. Anerkannte Gründe für einen Strafaufschub sind vorab gesundheitliche (Hafterstehungsunfähigkeit), was durch ein ärztliches Zeugnis zu belegen ist. Bei kürzeren Strafen werden regelmässig auch berufliche Gründe (namentlich bei in Saisonberufen Tätigen) oder familiäre Gründe (etwa die bevorstehende Niederkunft der Ehegattin) berücksichtigt. Ferner werden kurz vor allgemeinen Feiertagen (Ostern, Pfingsten, Weihnachten) in der Regel keine Vollzüge angeordnet. 4
Zur Festlegung der Vollzugseinrichtung und der Vollzugsform vgl. die Abschnitte 5.3 und 5.4.
5
Im Zusammenhang mit der Anordnung des Vollzugs ist durch die zuständige Behörde ferner die Dauer der noch zu erstehenden Strafe zu ermitteln, denn Art. 51 StGB schreibt vor, dass die Dauer der Untersuchungshaft auf die Strafe immer voll anzurechnen ist. Von der Strafdauer gemäss richterlichem Urteil ist also die erstandene Untersuchungshaft abzuziehen, was dazu führen kann, dass für den Vollzug einer Freiheitsstrafe bloss noch eine kurze Strafdauer (im Extremfall überhaupt keine mehr) offen bleibt. Das hat zur Konsequenz, dass im Vollzug von Freiheitsstrafen mit einer Dauer von sechs und mehr Monaten dennoch Strafen mit einer effektiven Vollzugsdauer von wenigen Monaten, Wochen oder gar Tagen anfallen können.
6
Schliesslich ist der Verurteilte in eine «Strafkontrolle» aufzunehmen, d.h. in ein kantonales Vollzugsregister, welches sicherstellt, dass das Urteil auch tatsächlich (im vorgegebenen Umfang) vollstreckt wird. Erstaunlicherweise hat bloss die Hälfte der Kantone dieses für die Sicherstellung eines rechtmässigen Freiheitsentzugs unerlässliche Instrument in einem Gesetz oder einer Verordnung geregelt. Wo dies der Fall ist, definieren bloss wenige Kantone (rudimentär) den Inhalt des Registers oder eine jährliche Kontrollpflicht der Behörde oder Regeln zur Entfernung von Eintragungen.
4.2 7
Vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug
Das bis zur Revision des StGB von 2002 bereits in 20 Kantonen bekannte Institut des vorzeitigen Strafantritts wurde nach der Revision des StGB von 2002 bis zur Inkraftsetzung der StPO in Art. 75 Abs. 2 StGB geregelt. Seit dem Inkrafttreten der StPO wird der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug in Art. 236 StPO geregelt.
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4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
LII 4.2 Literatur zum vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug HÄRRI Matthias: Art. 236 StPO. In: Niggli Marcel Alexander et al.: BSK-StPO. 2. Aufl. Basel 2014; HÄRRI Matthias: Zur Problematik des vorzeitigen Strafantritts. Diss. Bern 1987; SCHUBART Martin: Zur Rechtsnatur des vorläufigen Strafvollzuges. In: ZStrR 1978, 295–311; PIETH Mark: Schweizerisches Strafprozessrecht. Grundriss für Studium und Praxis. 2. Aufl. Basel 2012; RIKLIN Franz: Art. 236 StPO Vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug. 2. überarbeitete Aufl. Zürich 2014, 413–415; SCHMID Niklaus: Art. 236 StPO. In: Schmid Niklaus (Hrsg.): Schweizerische Strafprozessordnung. Praxiskommentar. 2. Aufl. Zürich/St.Gallen 2013; SURBER Reto Andrea: Das Recht der Strafvollstreckung. Zürich 1998, 220–222.
Danach kann die «Verfahrensleitung der beschuldigten Person bewilligen, Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehende Massnahmen vorzeitig anzutreten, sofern der Stand des Verfahrens es erlaubt» (Art. 236 Abs. 1 StPO). Der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug ist eine (in anderen Staaten unbekannte) Besonderheit des schweizerischen Vollzugsrechts (LII 4.2), welche auf die Berner Strafvollzugsverordnung aus dem Jahre 1928 zurückgeht. Dieses Institut ist strafrechtsdogmatisch kaum zu legitimieren, begründet sich aber aus einer pragmatischen Sichtweise: Ein vorzeitiger Antritt einer Freiheitsstrafe ermöglicht dem Beschuldigten, der bloss der Sicherung des Strafverfahrens dienenden Untersuchungshaft zu entrinnen, was meist Einzelhaft ohne Möglichkeiten zur Beschäftigung bedeutet. Demgegenüber erfolgt der vorzeitige Freiheitsentzug in einer geeigneten Vollzugsanstalt nach den weit anspruchsvolleren Regeln von Art. 236 Abs. 4 StPO. Da von der Untersuchungshaft keine positiven Wirkungen auf die spätere Legalbewährung zu erwarten sind, liegt das Institut des vorzeitigen Strafantritts auch im öffentlichen Interesse. Das ursprünglich als sinnvollere Alternative zum Untersuchungshaftvollzug gedachte Institut setzt nach dem Wortlaut von Art. 236 StPO nicht mehr voraus, dass sich der Angeklagte in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft befindet (so auch bereits der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen SH ABOG 1998 185).
8
Der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug wird mit Art. 236 StPO nur in den Grundzügen geregelt. Das Gesetz ermächtigt die Kantone, die Einzelheiten in ihren Vollzugserlassen zu konkretisieren und bspw. den vorzeitigen Vollzug von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig zu machen, wie etwa der Erwartung einer längeren unbedingten Freiheitsstrafe oder dem Vorliegen eines Gutachtes bei vorzeitigem Massnahmeantritt. Die Kantone haben den vorzeitigen Straf- und Massnahmen-
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
vollzug insgesamt sehr unterschiedlich konkretisiert: Im Recht einiger Kantone findet sich nicht mehr als ein Verweis auf dieses bundesrechtliche Institut (LU, NW) oder die Bezeichnung der dafür zuständigen Behörde (AI, BE, GE, GL, GR, JU, NE, UR, VS). Demgegenüber hat der Kanton Zürich dieses Institut umfassend und präzise geregelt (§19 bis §23 JVV/ZH). 9a
Ein Geständnis wird nicht vorausgesetzt, da ein solches Erfordernis in einem Spannungsverhältnis zu grundlegenden Verteidigungsrechten steht (z.B. dem Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst zu belasten, oder dem Recht des Beschuldigten, die Aussage zu verweigern). Der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug bedarf jedoch stets eines entsprechendes Gesuchs der beschuldigten Person.
10
Die Zuständigkeit für die Anordnung des vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzugs liegt gemäss Art. 236 Abs. 1 StPO bei der Verfahrensleitung (Staatsanwaltschaft oder Strafgericht; vgl. Art. 61 StPO). Ist bereits Anklage erhoben worden, muss das Strafgericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme geben (Art. 236 Abs. 2 StPO). Bund und Kantone können jedoch vorsehen, dass der vorzeitige Massnahmenvollzug der Zustimmung der Vollzugsbehörden bedarf (Art. 236 Abs. 3 StPO).
11
Zum Vollzug des vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzugs enthält das Bundesrecht keine detaillierten Vorschriften. Art. 236 Abs. 4 StPO bestimmt jedoch, dass mit dem Eintritt in die Vollzugsanstalt die beschuldigte Person ihre Strafe oder Massnahme antrete; sie untersteht von diesem Zeitpunkt an dem Vollzugsregime, wenn der Zweck der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft dem nicht entgegensteht (so auch bereits BGE 123 I 221; BGer-Urteil 1B_154/2007 vom 14. September 2007 E. 3.2.1). Dies betrifft namentlich den Schutz vor ungerechtfertigter Freiheitsentziehung. Die Anordnung und Aufrechterhaltung eines vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzugs muss jedenfalls richterlich überprüfbar sein und für die Kontakte des Inhaftierten mit seinem Verteidiger dürfen nicht schlechtere Bedingungen vorliegen als in der Untersuchungshaft. Andererseits können Interessen der Strafuntersuchung dazu führen, dass die Kontakte Inhaftierter im vorzeitigen Vollzug eingeschränkt werden, namentlich in Bezug auf Urlaube (BGE 117 Ia 257).
12
Der Betroffene ist grundsätzlich an seine Zustimmung zum vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug gebunden (BGE 117 Ia 372 E. 3a, 117 Ia 72 E. 1d). Sofern kein Haftgrund für die Anordnung von Untersu98
4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
chungshaft (mehr) vorliegt, ist die Weiterführung eines vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzugs nach Rückzug der Zustimmung des Betroffenen unter dem Gesichtspunkt von Art. 5 EMRK indessen fragwürdig. Das Bundesgericht hat in diesem Sinne an der grundsätzlichen Unwiderrufbarkeit einer Zustimmung zum vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug zwar festgehalten, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Haftvoraussetzungen weiterhin vorliegen, was wie im Falle einer Untersuchungshaft einer richterlichen Überprüfung offen steht (BGE 117 Ia 72; EuGRZ 1991 226). Etliche Kantone (BL, BS, SG, SZ, TG, VD, ZG, ZH) haben ausdrücklich geregelt, dass ein Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug jederzeit gestellt werden kann. Der Kanton Waadt erlaubt ferner jederzeit und voraussetzungslos einen Widerruf durch die zuständige Behörde. Ein vorzeitiger Strafantritt ist aufzuheben, bevor der in dieser Form erstandene Freiheitsentzug die mutmassliche Dauer des zu erwartenden Freiheitsentzugs erreicht (BGE 126 I 172).
13
Der vorzeitige Straf- und Massnahmenvollzug hat sich in der Schweiz durchgesetzt: Von den 6’923 am Stichtag im Jahre 2014 (definitiv oder vorzeitig) im Strafvollzug stehenden Personen befanden sich rund 12% im vorzeitigen Vollzug (2008 waren es 16%, 1996 11%, 1988 8%). In einzelnen, namentlich geschlossenen Anstalten, kann dieser Anteil mehr als einen Drittel der Gesamtpopulation ausmachen. Dieser «Erfolgsgeschichte» des vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzugs sind allerdings einige Vorbehalte entgegenzustellen: Vorab die Befürchtung, dass Inhaftierte im vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug länger auf ein Urteil warten müssen als solche in Untersuchungshaft, weil sie nicht mehr als dringliche Haftfälle gelten. Ferner die Erfahrung, dass in Einzelfällen das Strafmass nicht völlig unabhängig von dem nach vorzeitigem Straf- und Massnahmenvollzug bereits erstandenen Freiheitsentzug festgelegt wird. Und beim vorzeitigen Vollzug einer Massnahme ist überdies nicht zu übersehen, dass ein diesbezüglicher Entscheid die spätere Strafzumessung weitgehend präjudiziert.
14
4.3
Unterbrechung des Vollzugs
«Der Vollzug von Strafen und Massnahmen darf aus wichtigen Gründen unterbrochen werden» (Art. 92 StGB; LII 4.3). Diese aus dem früheren Recht übernommene Regel ist als ausgesprochen rudimentär zu bezeichnen. Denn eine Unterbrechung des Vollzugs bedeutet
99
15
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
eine Abweichung vom generell anerkannten (im StGB nicht ausdrücklich verankerten) Grundsatz, dass Freiheitsstrafen und Massnahmen ohne Unterbruch zu verbüssen sind. Eine weitere Abweichung von diesem Grundsatz ist lediglich in der Vollzugsform des tageweisen Vollzugs zulässig (Abschnitt 5.4.6). 16
Vollzugsunterbrechungen sind bundesrechtlich somit sowohl für Strafen wie auch für Massnahmen zulässig. Kantonale Vorschriften, welche dieses Institut ausdrücklich nur für Strafen vorsehen wollten, sind aufgehoben worden.
17
Dass bloss bei Vorliegen «wichtiger Gründe» eine Unterbrechung des Vollzugs zulässig ist, macht deutlich, dass dieses Institut nur ganz ausnahmsweise eingesetzt werden soll. Was aber sind wichtige Gründe? Diese werden im StGB nicht präzise umschrieben, was darauf hinweist, dass sich die für eine Vollzugsunterbrechung in Frage kommenden Voraussetzungen nicht auf eine einfache und abschliessende Weise umschreiben lassen. Im Recht der Kantone finden sich dazu keine wesentlichen Präzisierungen (die Kantone AI und JU verfügen über keine entsprechende Norm).
18
Gemäss Rechtsprechung werden bloss in der Person des Inhaftierten liegende Gründe als Voraussetzungen für eine Vollzugsunterbrechung anerkannt. Zwei Arten solcher Gründe stehen in der Praxis im Vordergrund: einerseits gesundheitliche, welche zur Unfähigkeit führen, die Strafe oder Massnahme zu erstehen, andererseits unaufschiebbare existenzwichtige Gründe. Erkrankungen dürfen aber nur dann zu einer Vollzugsunterbrechung führen, wenn eine ausreichende Behandlung innerhalb der Vollzugseinrichtung – ggf. im Rahmen einer abweichenden Vollzugsform (Abschnitt 5.4.7) – nicht gewährleistet werden kann. Die Unterbrechung des Vollzugs ist gegenüber allen anderen Vollzugsmöglichkeiten stets subsidiär einzusetzen (BGE 106 IV 321 ff.). In seltenen Fällen werden auch bloss kurzfristige Unterbrüche angeordnet, etwa zwecks Durchführung einer Operation oder für Frauen bei Geburt eines Kindes, wofür im Normalfall indessen besondere Einrichtungen des Vollzugs zur Verfügung stehen (Abschnitt 6.2.1). Die Unterbrechung dauert so lange, wie die gesundheitlichen Gründe vorliegen; sie kann also auch für eine unbestimmte Zeit angeordnet werden. Als unaufschiebbare existenzwichtige Gründe kommen vorab solche beruflicher Art in Frage (namentlich bei Selbständigerwerbenden), ferner solche vermögensrechtlicher Natur. Die nach älterer Praxis anerkannten zusätzlichen Gründe für eine Vollzugsunterbrechung (etwa
100
4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
LII 4.3 Literatur zur Unterbrechung des Vollzugs KOLLER Cornelia: Art. 92 StGB Unterbrechung des Vollzugs. In: Niggli Marcel Alexander / Wiprächtiger Hans (Hrsg.): Basler Kommentar. Strafrecht I, Art. 1–110 StGB/Jugendstrafgesetz. 3. Aufl. Basel 2013, 1854–1862; SURBER Reto Andrea: Das Recht der Strafvollstreckung. Zürich 1998, 328–331.
der Todesfall eines nahen Angehörigen) sind heute angesichts der Möglichkeiten zur Gewährung eines Urlaubs (Abschnitt 5.10.5) bloss dann noch massgeblich, wenn eine länger dauernde Anwesenheit ausserhalb der Vollzugseinrichtung unverzichtbar ist (etwa zur Versorgung von Kindern). Tritt ein Strafgefangener in den Hungerstreik, um eine Vollzugsunterbrechung zu erzwingen, liegt kein wichtiger Grund für eine Unterbrechung vor, solange keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass einer Gefahr für die Gesundheit des Betroffenen gegebenenfalls nicht durch Zwangsernährung begegnet werden kann (BGE 136 IV 97 E. 6). Wo das kantonale Recht die Gründe für eine Unterbrechung umschreibt, werden meist gesundheitliche Gründe beispielhaft angeführt. In seltenen Fällen finden sich auch abschliessende Umschreibungen, welche die Gründe allerdings nicht wesentlich präzisieren (so Art. 31 Abs. 2 SMVG/BE: «Als wichtige Gründe gelten a. ausserordentliche persönliche, familiäre oder berufliche Verhältnisse, b. vollständige Hafterstehungsunfähigkeit.»). Die Zuständigkeit für die Unterbrechung des Vollzugs regelt das kantonale Recht. Fast durchgehend entscheidet das zuständige Departement oder eine dem Departement untergeordnete Verwaltungsbehörde über eine Vollzugsunterbrechung; in den Kantonen mit einem Strafvollzugsgericht ist es der Strafvollzugsrichter.
19
Insbesondere die Kantone Bern und Zürich berücksichtigen bei einer Unterbrechung des Vollzugs auch Interessen der Opfer (Art. 21 SMVG/BE; § 27 StJVG/ZH): Im Kanton Bern werden Opfer im Sinne des OHG auf begründetes Gesuch hin über den Zeitpunkt und die Dauer einer Unterbrechung des Vollzugs orientiert, sofern nicht schützenswerte Geheimhaltungsinteressen des Strafgefangenen einer Orientierung entgegenstehen. Im Kanton Zürich erstreckt sich das Mitteilungsrecht grundsätzlich auf Opfer aller Straftaten. Eine vergleichbare Regelung wie im Kanton Bern wird auch in Neuenburg praktiziert (Art. 9 Instruction générale sur la détention dans les établissements pénitentiaires vom 25. August 2008).
20
101
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 21
Vollzugsunterbrechungen werden in der Praxis richtigerweise sehr selten angeordnet: Von den in den Jahren 1995 bis 2004 vorzeitig Entlassenen haben jährlich bloss zwischen 2,0% und 3,4% dieser Personen einen Strafunterbruch verzeichnet.
4.4 22
In Abweichung vom Grundsatz, dass der Urteilskanton jeweils auch für die Vollstreckung der Sanktionen zuständig ist, sieht Art. 387 Abs. 1 Bst. b StGB vor, dass der Bundesrat Bestimmungen über die Übernahme des Vollzugs von Strafen und Massnahmen durch einen anderen Kanton erlassen kann. Diese Vorschrift entspricht früherem Recht und ist seinerzeit durch den Erlass der Verordnung (1) vom 13. November 1973 zum Schweizerischen Strafgesetzbuch (aVStGB 1; SR 311.01) konkretisiert worden (Art. 3 aVStGB 1). In der Praxis erfolgt die Abtretung der Vollzugskompetenz fast ausschliesslich nur in Fällen, wo Urteile verschiedener Kantone im Vollzug zusammenfallen: Der Kanton, welcher die längste Strafe (oder eine Verwahrung) ausgesprochen hat, übernimmt in der Folge auch den Vollzug der Urteile aus anderen Kantonen (Art. 14 Bst. a V-StGB-MStG).
4.5 23
Übernahme des Vollzugs durch einen anderen Kanton
Abtretung des Vollzugs an einen anderen Staat
Die zunehmende Mobilität und die Staatsgrenzen überschreitende Kriminalität haben dazu geführt, dass der schweizerische Vollzug bereits in den 1980er-Jahren im Vergleich zu anderen europäischen Staaten den höchsten Anteil an Strafgefangenen ausländischer Nationalität verzeichnete. Daraus ergab sich ein erhebliches Interesse, die Vollstreckung solcher schweizerischer Strafurteile an die jeweiligen Heimatstaaten abtreten zu können (LII 4.5), dies in Abweichung vom Grundsatz, dass der Urteilsstaat auch für die Vollstreckung des Urteils zuständig ist.
102
4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
LII 4.5 Literatur zur Abtretung des Vollzugs an einen anderen Staat BAECHTOLD Andrea: Strafvollzug und Strafvollstreckung an Ausländern: Prüfstein der Strafrechtspflege oder bloss «suitable enemies»? In: ZStrR 2000, 245–269; MORGENSTERN Christine: Strafvollstreckung im Heimatstaat – der geplante EURahmenbeschluss zur transnationalen Vollstreckung von Freiheitsstrafen. In: Zs. für internationale Strafrechtsdogmatik 2008, 76–83; RIEDER-KAISER Anja: Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüssung. Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft Bd. 18. Frankfurt a.M. 2004; WEBER Stephan: Überstellung in den Heimatstaat. Ein internationales Konzept wider den Strafvollzug in der Fremde. Zugleich ein Beitrag der internationalen Vollstreckungshilfe in Strafsachen. Criminalia Bd. 15. Frankfurt a.M. 1997.
Die Art. 94 und 100 f. des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz, IRSG; SR 351.1) ermöglichen erst seit 1997 die Abtretung der Strafvollstreckung an ausländischen Staatsbürgern an ihre Heimatstaaten sowie auch die Vollstreckung ausländischer Strafurteile an Schweizern in der Schweiz. Da vorher im Ausland verurteilten Schweizern nach einer Überstellung das Recht auf eine Neubeurteilung der Tat in der Schweiz eingeräumt wurde und ausländische Staaten auf Gegenseitigkeit pochten, konnten Vollzugsabtretungen vor 1997 auf der Grundlage des IRSG in der Praxis nicht umgesetzt werden.
24
Von grosser praktischer Bedeutung war und ist deshalb das – übrigens durch die Schweiz initiierte – Übereinkommen des Europarates über die Überstellung verurteilter Personen (für die Schweiz in Kraft seit dem 1. Mai 1988). Diesem Übereinkommen sind mittlerweile alle Mitgliedstaaten des Europarates ausser Monaco sowie 33 Nichtmitgliedstaaten wie die USA, Kanada und Israel beigetreten. Was die Anzahl der Beitritte betrifft, ist dieses Übereinkommen das erfolgreichste des Europarates. Dies unterstreicht das breite Interesse an einer internationalen Kooperation im Bereich der Strafvollstreckung. Das Übereinkommen schafft keinen Rechtsanspruch auf Überstellung in den Heimatstaat. Deshalb konnte deren Verweigerung nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden (BGE 118 Ib 137). Das Übereinkommen umschreibt lediglich die Voraussetzungen und das Verfahren für derartige Überstellungen. Eine Überstellung ist danach an die Voraussetzung geknüpft, dass alle drei beteiligten «Parteien» einer Überstellung zustimmen: der Urteilsstaat, der Heimatstaat und der Verurteilte.
25
103
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 26
Die in das Übereinkommen gesetzten Erwartungen sind in quantitativer Hinsicht – nicht bloss für die Schweiz – allerdings nicht erfüllt worden. Dies u.a. deshalb, weil etliche verurteilte Ausländer an einer Überstellung in ihren Heimatstaat deshalb nicht interessiert sind, weil sie nach der Strafverbüssung im Urteilsstaat verbleiben möchten (zu den Anwendungsproblemen vgl. auch die Empfehlung R [92] 18 des Europarates über die praktische Anwendung des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 19. Oktober 1992).
27
Eine etwas breitere Anwendung des Übereinkommens soll künftig durch ein Zusatzprotokoll zum Übereinkommen sichergestellt werden (Botschaft des Bundesrates vom 1. Mai 2002; in Kraft für die Schweiz seit 1. Oktober 2004). Danach kann auf die Zustimmung des Verurteilten zu seiner Überstellung in zwei Fällen verzichtet werden: Einerseits, wenn der verurteilte Ausländer während des Vollzugs in seinen Heimatstaat geflüchtet ist und andererseits, wenn er nach der Strafverbüssung entsprechend dem Recht des Urteilsstaates mit Sicherheit in seinen Heimatstaat ausgeschafft würde, was das Vorliegen einer fremdenpolizeilichen Aus- oder Wegweisungsverfügung voraussetzt (zweiteres ist der für die Praxis zweifelsfrei weit wichtigere Fall). Diese Erleichterungen für Überstellungen sind mit Blick auf die gesellschaftliche Eingliederung ausländischer Straftäter grundsätzlich zu begrüssen – allerdings nicht voraussetzungslos. Zumindest ist sicherzustellen, dass im Heimatstaat die menschenrechtlichen Mindeststandards eingehalten werden und dass dem Überstellten im Vergleich zur Strafvollstreckung und zum Strafvollzug in der Schweiz insgesamt keine Nachteile erwachsen. Die Umsetzung des Zusatzprotokolls setzt im Übrigen voraus, dass die Migrationsbehörde rasch darüber entscheidet, ob einem Verurteilten die Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz abgesprochen werden soll.
28
Vor Inkrafttreten des Zusatzprotokolls konnte nur eine bescheidene Anzahl von Überstellungen verzeichnet werden: Für die Schweiz erfolgten in den Jahren 1993 bis 1998 insgesamt 70 Überstellungen von im Ausland verurteilten Schweizern zur Strafvollstreckung in die Schweiz sowie 101 Überstellungen von in der Schweiz verurteilten Ausländern in ihren Heimatstaat. Das Verhältnis von 70 «Vollstreckungsimporten» zu 101 «Vollstreckungsexporten» widerspricht den ursprünglichen Prognosen der kantonalen Vollzugsbehörden, welche befürchtet hatten, dass in der Schweiz einsitzende Ausländer einer Überstellung in den Heimatstaat kaum zustimmen würden, weil ihnen der schweizerische Vollzug bessere Vollzugsbedingungen gewähre. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die meisten Überstellungen nach den Destinationen Italien, Holland, 104
4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
Türkei, Frankreich und Grossbritannien erfolgten, also nicht ausschliesslich in Staaten, welche für besonders hochstehende Vollzugsbedingungen bekannt sind. Aus den Jahren nach 1998 sind bloss rudimentäre Angaben über die tatsächlich erfolgten Überstellungen verfügbar: In den Jahren 2000 bis 2003 wurden zehn Personen vom Ausland in die Schweiz und 15 Personen von der Schweiz ins Ausland überstellt. Die Gesamtzahl der seit 1993 bis 2003 erfolgten Überstellungen betrifft somit rund 200 Personen. Mit dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls 2004 konnte die beabsichtigte Zunahme der Überstellungen gegenüber der Vorjahre offenkundig erreicht werden: In den Jahren 2005 bis 2014 wurden 216 Personen auf eigenen Wunsch und zwei Personen gemäss Zusatzprotokoll vom Ausland in die Schweiz überstellt. Demgegenüber erfolgte ein Transfer von der Schweiz ins Ausland bei 287 Personen auf eigenen Wunsch und bei elf Personen gemäss Zusatzprotokoll, womit sich die Gesamtzahl aller erfolgten Überstellungen (in einem kürzeren Zeitabschnitt) auf mehr als 500 erhöht hat.
28a
Überstellungen scheitern in der Praxis nicht ausschliesslich an der mangelnden Zustimmung des Verurteilten. Etliche Heimatstaaten sind – aus Gründen einer Überbelegung ihrer Vollzugseinrichtungen oder aus Kostengründen – offensichtlich nicht daran interessiert, die Vollstreckung ausländischer Urteile an ihren Staatsbürgern zu übernehmen. Das führt in der Folge zwar kaum zu einer förmlichen Ablehnung des Überstellungsbegehrens, nicht selten aber zu Verfahrensverzögerungen bis zum Zeitpunkt, in dem der verbleibende kurze Strafrest eine Überstellung nicht mehr erlaubt. In Einzelfällen kann auch der Urteilsstaat an einer Überstellung wenig interessiert sein, weil Unsicherheiten über die Praxis im Heimatstaat in Bezug auf eine bedingte Entlassung oder eine allfällige Begnadigung nicht ausreichend zu klären sind oder weil das Überstellungsverfahren einen übermässigen Verwaltungsaufwand erfordern würde (z.B. für die Übersetzung und Beglaubigung des Urteils). Schliesslich kann der Urteilsstaat auch gehalten sein, eine Überstellung zu verweigern, weil im Heimatstaat ein menschenrechtskonformer Vollzug nicht gesichert erscheint (BGer-Urteil 1C_588/2008 vom 12. März 2009).
29
105
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
4.6
Strafaufhebung
LII 4.6 Literatur zu den Strafaufhebungsgründen Tod des Verurteilten BÉRARD Stefan / QUELOZ Nicolas: Fin de vie dans les prisons en Suisse : aspects légaux et de politique pénale. In: Jusletter 2. November 2015; BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Hrsg.): Suizide und Psychopharmaka im Gefängnis. Bern 1978, GUIGNET A.: Etude descriptive d’une population à haute risque: Les suicides à la prison préventive genevoise de Champ-Dollon du 1er octobre 1977 au 31 mars 1979. Diss. Genf 1981; MAAG Felix / MUGGLER-MAAG Jennifer: Todesfälle im Gefängnis. In: ZStrR 1984, 185–207; SATTAR Ghazala / KILLIAS Martin: Le suicide et d’autres causes de mort chez les détenus et les suspects – Une comparaison entre l’Angleterre et la Suisse. In: Crimiscope 28/2005; TERRA Jean-Louis: Prévention du suicide des personnes détenus. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard (Hrsg.): Médecine, santé et prison. ChêneBourg 2006, 333–344. Vollstreckungsverjährung HUGGENBERGER Ernst: Die Verjährung im schweizerischen Strafrecht. Zürich 1949; TRACHSEL Elisabeth: Die Verjährung gemäss den Art. 75–75bis des Schweizerischen Strafgesetzbuches. Diss. Zürich 1990; ZIMMERMANN S.: Strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung und Verjährung. Rechtsdogmatische und -politische Analyse mit vergleichenden Ausblicken nach Tschechien, Ungarn und Frankreich. Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Freiburg i.Br. 1997. Begnadigung oder Amnestie CLERC François: De l’exercice du droit de grâce par les cantons sous l’empire du CPS. In: ZStrR 1958, 93–117; GYSIN Roland: Wenn Gnade vor Recht ergeht. In: Plädoyer 1/2004, 11 f.; HESS-ODONI U.: Die Begnadigung – ein notwendiges Instrument der Strafjustiz. In: SJZ 2001, 413–418; LANGUIN Noëlle et al.: La grâce, institution entre tradition et changements. Lausanne 1981; WALLIMANN-BORNATICO M.: Die Amnestie. In: SJZ 1985, 196–197. 30
Der Grundsatz, dass rechtskräftige Strafurteile auch tatsächlich zu vollziehen sind (Teil I, Abschnitt 3.2.1) ist nicht ausnahmslos umzusetzen oder umsetzbar. Für eine Aufhebung einer mit rechtskräftigem Urteil angeordneten und vollziehbaren Strafe oder Massnahme kommen die folgenden Gründe in Frage: der Tod des Verurteilten, die Vollstreckungsverjährung sowie eine Begnadigung oder Amnestie (LII 4.6).
31
Die dem Täter persönlich auferlegte Freiheitsstrafe erlischt naturgemäss automatisch und ohne weitere Folgen mit dem Tod des Verurteilten.
106
4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
Todesfälle in Vollzugseinrichtungen sind zwar selten, aber dennoch nicht aussergewöhnlich: Pro Jahr verstarben in schweizerischen Vollzugseinrichtungen (inkl. Untersuchungshaft) in den Jahren 2003 bis 2013 durchschnittlich 10 bis 30 Inhaftierte (2013: 10 Todesfälle). Die Todesursachen betrafen in den Jahren 2003 bis 2013 etwa zu gleichen Teilen Todesfälle sowie Suizide. Bei diesen Zahlen ist darauf hinzuweisen, dass es vermutlich eine Dunkelziffer von Todesfällen (natürlicher Tod, meist nach akuter oder chronischer, terminaler Krankheit) gibt, die nicht als «Todesfälle im Vollzug» ausgewiesen werden. Es geht dabei um Insassen und Insassinnen, die sich zum Todeszeitpunkt zwar im Vollzug befinden, die aber nicht in der Vollzugsanstalt selber sterben, sondern z.B. in einem Regionalspital. Ein zweiter Strafaufhebungsgrund ist die sog. Vollstreckungsverjährung: Die Art. 99 ff. StGB hindern die Vollstreckung von Strafurteilen, wenn seit dem Zeitpunkt des Eintretens der Vollstreckbarkeit eine gewisse Frist verstrichen ist, ohne dass das Urteil tatsächlich vollstreckt wurde (z.B. 30 Jahre bei der lebenslänglichen Freiheitsstrafe, 20 Jahre bei einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf und weniger als zehn Jahren, fünf Jahre bei einer höchstens jährigen Freiheitsstrafe). Diese Fristen gelten allerdings nicht absolut (Art. 99 Abs. 2 StGB) und namentlich auch nicht für schwerste Verbrechen (Art. 101 StGB). Ein Strafaufhebungsgrund i.S. der Vollstreckungsverjährung bedeutet in der Sache auch Art. 89 Abs. 4 StGB, wonach bei Nichtbewährung nach einer bedingten Entlassung eine Rückversetzung in den Strafvollzug nicht mehr erfolgen darf, wenn seit Ablauf der Probezeit drei Jahre verstrichen sind. Hinter dem Strafaufhebungsgrund der Vollstreckungsverjährung steht vorab der Gedanke, dass das Interesse am Ausgleich des mit einer Straftat begangenen Unrechts im Zeitverlauf an Bedeutung verliert und der verurteilte Täter durch die über Jahre aufrechterhaltene Vollstreckungsandrohung bereits hinreichend bestraft worden ist. Vor diesem Hintergrund ist es einleuchtend, dass im Gesetz unterschiedlich lange Verjährungsfristen festgelegt wurden, denn das Bedürfnis nach der Vollstreckung des Urteils schwindet je nach der Schwere des Verschuldens des Täters unterschiedlich rasch.
32
Das Institut der Begnadigung und Amnestie (Art. 381 ff. StGB) bedeutet den (vollständigen oder teilweisen, bedingten oder unbedingten) Verzicht des Staates auf eine Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils. Ein solcher Verzicht ist ein ausserhalb der normalen Strafrechtspflege stehender, ausserordentlicher Eingriff in die justizförmige Reaktion auf Kriminalität und lässt sich nur durch die Notwendigkeit rechtfertigen, Härten des geltenden Rechts im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit zu
33
107
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
korrigieren. Begnadigungen oder Amnestien werden durch politische Behörden der Kantone gewährt (durch die Bundesversammlung, wenn es sich um Urteile des Bundes handelt) und bedeuten deshalb auch eine Durchbrechung des Prinzips der Gewaltentrennung. Begnadigungen beziehen sich auf einzelne Personen, Amnestien sind Begnadigungen, welche für bestimmte Gruppen von Taten oder Tätern gewährt werden. Im kantonalen Recht wird die Begnadigung (die Amnestie wird überwiegend nicht als Sonderfall geregelt) meist durch das kantonale Parlament ausgesprochen, teilweise aber auch durch die Kantonsregierung oder durch eine spezielle parlamentarische Begnadigungskommission. In einigen Kantonen ist das Begnadigungsverfahren unentgeltlich, andere erheben Gebühren von bis zu Fr. 600. Die Begnadigungsgesuche und Begnadigungen werden gesamtschweizerisch nicht statistisch erfasst. Rechnet man die Zahlen für die grossen Kantone hoch, dann werden schweizweit jährlich weniger als 300 Begnadigungsgesuche eingereicht. Die Quote der gutgeheissenen Gesuche ist in den meisten Kantonen bescheiden (häufig unter 10%): Im Kanton Zürich wurden zum Beispiel 2008 bis 2010 12 Begnadigungsgesuche eingereicht, wobei keines erfolgreich war. Im Kanton Bern wurden von 19 Gesuchen immerhin vier gutgeheissen. In wenigen Kantonen liegt die Zahl der gutgeheissenen Begnadigungsgesuche dagegen erheblich höher (38% im Kanton Basel-Stadt [2006–2010], wobei es sich nur in 17% der Gutheissungen um vollumfängliche Begnadigungen handelte).
4.7 34
Die Tragung der Vollzugskosten
Art. 380 StGB verpflichtet die Kantone zur Tragung der Kosten des Straf- und Massnahmenvollzugs und präzisiert, dass eine «angemessene» Beteiligung des Verurteilten an den Vollzugskosten erfolgen darf und zwar a. über eine Verrechnung mit der Arbeitsleistung im Vollzug (das Arbeitsentgelt darf also geringer sein als die durch die Arbeit des Strafgefangenen erzielte Wertschöpfung), b. über eine Kostenbeteiligung im Fall der Arbeitsverweigerung nach Massgabe seines Einkommens und Vermögens oder c. über einen Abzug eines Teils des Einkommens, das er in den Vollzugsformen der Halbgefangenschaft, des Arbeitsexternates, des Wohn- und Arbeitsexternates (Abschnitte 5.4.2, 5.4.3 und 5.4.5) oder entsprechend der Revision des StGB von 2015 neu auch des Vollzugs durch elektronische Überwachung erzielt. Kommt ein Strafgefangener im Normalvollzug oder in Einzelhaft dagegen seiner Arbeitspflicht nach, dann wäre es unzulässig, ihm einen Teil der Vollzugskosten in Rechnung zu stellen – auch dann nicht, wenn er sehr vermögend sein sollte. Nicht immer ist es aber der
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4. Die Vollstreckung von Strafen und Massnahmen
Kanton selbst, welcher letztlich die Kosten des Vollzugs zu tragen hat: Einige Kantone legen fest, dass diese teilweise an die Wohnsitzgemeinden zu überwälzen sind. Darüber hinaus kann der Staat für anfallende Gesundheitskosten auch auf Leistungen der Krankenkasse oder einer Krankenversicherung zurückgreifen. Eine detaillierte Regelung findet sich im Konkordat der lateinischen Schweiz (Art. 24 und 25). Vor der Revision von 2002 waren die Kantone noch befugt, Vollzugskosten dem Strafgefangenen oder unterstützungspflichtigen Verwandten aufzuerlegen (Art. 368 aStGB). Die sich auf diese Vorschrift stützenden kantonalen Ausführungsbestimmungen waren uneinheitlich: Einige Kantone bezeichneten grundsätzlich den Staat als Kostenträger (meist mit Rückgriffsmöglichkeit auf den Strafgefangenen), andere Kantone primär den Strafgefangenen (subsidiär den Staat). Und in vielen Kantonen wurde die Kostentragung im Strafvollzug anders geregelt als im Massnahmenvollzug. Diese uneinheitlichen Regelungen wirkten sich in der Praxis allerdings kaum aus, da Strafgefangene nur in ganz seltenen Fällen finanziell in der Lage waren, einen Teil der hohen Vollzugskosten (DII 2.2) zu tragen.
35
In der Praxis wird zwischen den Vollzugskosten im engeren Sinne und den sog. ausserordentlichen Vollzugskosten unterschieden. Unter Letztere fallen insbesondere ärztliche Aufwendungen wie Spital- und Zahnarztkosten sowie medizinische Hilfsmittel (doch werden diese ausserordentlichen Vollzugskosten nicht einheitlich definiert). Primärer Kostenträger der ausserordentlichen Vollzugskosten ist der Strafgefangene. Im Kanton Bern erfolgt ihre Deckung vorab durch den sog. «Lastenausgleich Sozialhilfe», Rückerstattungsansprüche an den Strafgefangenen richten sich nach dem Sozialhilfegesetz (Art. 85 SMVG/BE).
36
109
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5. 1
Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Nach welchen allgemein verbindlichen Grundsätzen richtet sich der Vollzug der Freiheitsstrafen? Dieser Fragestellung widmen sich die zwei nachfolgenden Abschnitte (Einheitsfreiheitsstrafe, Vollzugsgrundsätze). Sind die Freiheitsstrafen uniform nach diesen Grundsätzen oder differenziert zu vollziehen? Drei weitere Abschnitte beschreiben die verschiedenen Ebenen, auf welchen erhebliche Differenzierungen des Vollzugs erfolgen (Anstaltstypen, Vollzugsformen, Individualisierung). Welche konkreten Lebensbedingungen findet der Gefangene im Alltag des Freiheitsentzugs vor? Diese Bedingungen werden für einzelne Bereiche (materielle Haftbedingungen, Arbeit, Verdienstanteil, Beziehungen zur Aussenwelt etc.) in den Abschnitten 5.7 bis 5.13 dargestellt. In den zwei abschliessenden Abschnitten wird sodann auf die Rechtsstellung des Gefangenen im Vollzug der Freiheitsstrafe sowie auf spezielle Regelungen zu den Informationsrechten und -pflichten eingegangen.
5.1
Die Einheitsfreiheitsstrafe
2
Mit der Revision des Allgemeinen Teils des StGB von 2002 wurde die sog. «Einheitsfreiheitsstrafe» eingeführt, wie dies in den meisten europäischen Staaten seit Jahrzehnten der Fall ist, z.T. bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Richter bestimmt im Urteil somit lediglich die Sanktion der Freiheitsstrafe und deren Dauer. Die Festlegung der im Einzelfall massgeblichen Vollzugsbedingungen erfolgt damit unabhängig von der richterlichen Strafzumessung durch die Vollstreckungsbehörde oder die Leitung der Vollzugsanstalt. Damit werden die Vollzugsbedingungen vom Verschulden des Verurteilten konsequent entkoppelt und nach spezialpräventiven Erfordernissen ausgestaltet.
3
Die früher geltenden, den Deliktarten der Übertretung, des Vergehens und des Verbrechens entsprechenden Arten von Freiheitsstrafen sind damit aufgehoben worden, also die Haftstrafe («die leichteste Freiheitsstrafe»), die Gefängnisstrafe und die Zuchthausstrafe («die schwerste Freiheitsstrafe»). Das StGB von 1937 hatte noch eine konsequente Trennung der Verurteilten im Vollzug dieser drei Arten von Freiheitsstrafen vorgesehen und für sie unterschiedlich schwere Einschränkungen (in Bezug auf Besuche, Briefverkehr, Anstaltskleidung sowie die Möglichkeit der Selbstbeschäftigung und Selbstverköstigung) vorgeschrieben. Dieses Konzept erwies sich in den meisten Vollzugsanstalten
110
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
indessen als kaum praktikabel. Darüber hinaus ergaben sich auch Widersprüche zu spezialpräventiven Interessen: Von etlichen Haftgefangenen gingen z.B. erheblichere Sicherheitsrisiken aus als von Zuchthausgefangenen, während gerade für Gefangene mit langen Zuchthausstrafen gute Kommunikationsmöglichkeiten mit der Aussenwelt für ihre spätere gesellschaftliche Eingliederung wichtiger sind als für Haftgefangene. Die vollzugsbezogenen Unterschiede zwischen den drei Arten von Freiheitsstrafen sind deshalb durch Gesetzgeber und Praxis zunehmend nivelliert worden: Für den Vollzug der Gefängnisund der Zuchthausstrafe wurden zuletzt überhaupt keine Unterschiede mehr vorgeschrieben und praktiziert, während für den Vollzug der Haftstrafe gerade noch das Privileg erhalten blieb, dass sich diese Gefangenen anstelle der Verrichtung zugewiesener Arbeit auch selbst beschäftigen können.
5.2
Allgemeine Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen
LII 5.2 Literatur zur Programmatik der Freiheitsstrafe Schweiz BRENZIKOFER Paul: Bemühungen um Opfer von Verbrechen in der Schweiz. In: Schneider H.-J. (Hrsg.): Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege. New York 1982, 367–373; FUNK Florian: Vollzugskoordination – ein neuer Begriff. Einheitliche Planung von Strafantritt bis Bewährungshilfe. Vortrag gehalten an der Fachtagung der Schweizerischen Bewährungshilfe (ASP/SVB) in Kooperation mit dem Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal (SAZ) „Entwicklung der Praxis im Rahmen des neues StGB“. 7./8. November 2005. Freiburg i.Ü.; FURGLER, Kurt: Die Aufgabe des Strafvollzuges. In: Der Strafvollzug in der Schweiz 3/1976, 1– 9; KUNZ Karl-Ludwig: Soziales Lernen ohne Zwang. Ein Programm für den Strafvollzug der Zukunft. In: Zs. für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1/1989, 75– 102; VIREDAZ Baptiste: Les principes régissant l’exécution des peines privatives de liberté (art. 74 et 75 al.1 CP). Lausanne 2009. Rechtsvergleichend VAN ZYL SMIT Dirk / DÜNKEL Frieder (Hrsg.): Imprisonment Today and Tomorrow. International Perspectives on Prisoner’s Rights and Prison Conditions. 2. Aufl. The Hague/London/Boston 2001. Incapacitation ZIMRING Franklin E. / HAWKINGS Gordon: Incapacitation: Penal Confinement and the Restraint of Crime. New York/Oxford 1995; IRWIN John / AUSTIN James: It’s About Time. Americas Imprisonment Binge. 2. Aufl. Belmont 1996.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 4
Die im Vollzug von Freiheitsstrafen allgemein zu beachtenden Grundsätze sind in Art. 74 StGB («Vollzugsgrundsätze») und Art. 75 Abs. 1 StGB («Vollzug von Freiheitsstrafen. Grundsätze») festgelegt (RII 5.2). Diese Grundsätze sind präziser und dem heutigen Sprachgebrauch entsprechender umschrieben als im früheren Recht (Art. 37 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB: «Der Vollzug der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe soll erziehend auf den Gefangenen einwirken und ihn auf den Wiedereintritt in das bürgerliche Leben vorbereiten. Er soll zudem darauf hinwirken, dass das Unrecht, das dem Geschädigten zugefügt wurde, wiedergutgemacht wird.»). In der Sache selbst handelt es sich bei den Art. 74 und 75 Abs. 1 StGB indessen keineswegs um Innovationen des Gesetzgebers: Sie entsprechen Grundsätzen, welche das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung längst als massgeblich erklärt hat. Dennoch darf die Bedeutung einer konzisen Kodifizierung von in der Rechtsprechung etablierten Grundsätzen namentlich für die rechtsanwendenden Vollstreckungsbehörden und Vollzugsanstalten nicht unterschätzt werden.
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Art. 74 StGB bekräftigt zwei verfassungsrechtliche Standards, das Prinzip der Achtung der Menschenwürde und den Grundsatz, dass die Rechte Inhaftierter nur so weit beschränkt werden dürfen, als dies entweder der Freiheitsentzug selbst oder aber das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung erfordern. Aus dem Freiheitsentzug selbst ergeben sich unmittelbar z.B. (ggf. absolute) Einschränkungen für Kontakte und die Teilnahme an Veranstaltungen aller Art, welche ausserhalb des Anstaltsperimeters stattfinden. Dies betrifft beispielsweise sexuelle Kontakte mit Ehe- oder Lebenspartner oder Einschränkungen, welche sich aus der Notwendigkeit ableiten, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu gewährleisten (Kontroll- und Sicherungsaufgaben). Das «Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung» erfordert überdies etliche Rücksichtnahmen auf andere Mitgefangene, weshalb z.B. für Stereoanlagen maximale Lautstärken vorgegeben werden dürfen. Es erfordert auch eine Strukturierung des Tagesablaufs. Entsprechende Einschränkungen z.B. von Aktivitäten und Bewegungsmöglichkeiten innerhalb des Anstaltsperimeters sind deshalb zulässig. Dass solche Einschränkungen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen müssen, versteht sich im Übrigen von selbst.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
RII 5.2 Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen Art. 74 StGB 1. Vollzugsgrundsätze Die Menschenwürde des Gefangenen oder des Eingewiesenen ist zu achten. Seine Rechte dürfen nur so weit beschränkt werden, als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es erfordern. Art. 75 Abs. 1
2. Vollzug von Freiheitsstrafen. Grundsätze
Der Strafvollzug hat das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben. Der Strafvollzug hat den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich zu entsprechen, die Betreuung des Gefangenen zu gewährleisten, schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und dem Schutz der Allgemeinheit, des Vollzugspersonals und der Mitgefangenen angemessen Rechnung zu tragen.
Die in Art. 75 Abs. 1 StGB vorgegebenen Grundsätze verfolgen demgegenüber pönologische Anliegen, welche sich an den allgemein anerkannten Vollzugsgrundsätzen und am Grundsatz der Spezialprävention orientieren (vgl. Teil I, Kapitel 3 und 4). Vorab sollen die Gefangenen im Vollzug befähigt werden, künftig straffrei zu leben. Die in Satz 1 ebenfalls erwähnte Förderung des sozialen Verhaltens der Gefangenen steht offensichtlich im Zusammenhang mit der Rückfallverhütung, macht aber deutlich, dass sich Rückfallrisiken nur dann nachhaltig einschränken lassen, wenn die Gefangenen nach ihrer Entlassung im Alltag über Verhaltenskompetenzen verfügen, welche ein straffreies Leben überhaupt ermöglichen. In diesem Sinne sollen sich die Vollzugsbedingungen somit am Grundsatz der Rückfallverhütung nach der Entlassung aus dem Vollzug orientieren. Bundesrechtlich in hohem Masse problematisch erscheint vor diesem Hintergrund die für die aargauische Justizvollzugsanstalt Lenzburg erlassene Einschränkung, wonach «die erforderlichen Vorkehrungen für eine soziale und berufliche Eingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft» nur dann zu treffen sind, wenn der Strafgefangene über ein «Aufenthaltsrecht in der Schweiz» verfügt (§ 2 Abs. 2 Bst. a der Verordnung vom 21. Januar 2004 über die Organisation der Justizvollzugsanstalt Lenzburg [SAR 253.331]), auch wenn diese Vorgabe in der Praxis offenbar keine Anwendung findet.
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Die anzustrebende «Befähigung», nach der Entlassung ein straffreies Leben führen zu können, verlangt wohlverstanden nicht ausschliesslich nach Interventionen, welche auf die Persönlichkeit und die Handlungskompetenzen des Gefangenen gerichtet sind. Die künftige Legalbewäh-
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
rung ist erfahrungsgemäss entscheidend auch vom sozialen Umfeld (Partnerschaft, Familie, weiteren stabilen Sozialkontakten) abhängig, in welchem sich der Strafentlassene nach der Entlassung aufhalten wird. Deshalb schliesst die Aufgabe der Rückfallverhütung auch Massnahmen zur Pflege und Stabilisierung des künftigen sozialen Umfeldes ein. 8
In direktem Zusammenhang mit der Rückfallverhütung ist auch die Vorgabe zu verstehen, dass der Strafvollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich entsprechen soll (Art. 75 Abs. 1 StGB, Satz 2, erster Satzteil). Damit ist der Grundsatz der Normalisierung der Vollzugsbedingungen angesprochen. Nicht bloss die materiellen Haftbedingungen, sondern namentlich die Anforderungen an das Sozialverhalten im Alltag sollen möglichst wenig von den ausserhalb der Vollzugsanstalt herrschenden Bedingungen und Anforderungen abweichen, damit der Gefangene im Vollzug «das Leben nicht verlernt».
8a
Der Normalisierungsgrundsatz stösst im Anstaltsalltag indessen häufig auf praktische Schwierigkeiten und bedingt gelegentlich heikle Interessenabwägungen. Das illustriert etwa die umstrittene Frage, ob (gleichgeschlechtliche) sexuelle Beziehungen zwischen Strafgefangenen zuzulassen sind. Kann aus Art. 74 Satz 2 StGB, wonach die Rechte der Strafgefangenen eingeschränkt werden dürfen, wenn das Zusammenleben in der Vollzugsanstalt dies erfordert, ein Verbot solcher Beziehungen abgeleitet werden? Oder lässt sich aus der «besonderen Fürsorgepflicht» (s. N. 10) mit Blick auf nicht einvernehmliche Sexualkontakte ein solches Verbot ableiten? (Vgl. dazu BAECHTOLD, SZK 2/2010, 37– 43; NOLL, AJP 2013, 1773–1781).
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Der in Art. 75 Abs. 1 StGB, Satz 2, dritter Satzteil angesprochene Entgegenwirkungsgrundsatz trägt der Tatsache Rechnung, dass einer Normalisierung der Vollzugsbedingungen Grenzen gesetzt sind, dass sich innerhalb einer Vollzugsanstalt der normale Alltag eben nicht massstabgetreu abbilden lässt. Deshalb lässt sich das Paradoxon, «Menschen in Unfreiheit auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten», letztlich nicht auflösen. Der Entgegenwirkungsgrundsatz postuliert die Verpflichtung, Massnahmen zu treffen, damit den dem Freiheitsentzug immanenten schädlichen Folgen (in Bezug auf die Rückfallverhütung) entgegengewirkt wird. Dazu trägt bereits eine weitgehende Normalisierung des Alltags in der Vollzugsanstalt bei. Darüber hinaus sind alle Möglichkeiten zu nutzen, welche die Isolation der Gefangenen von der Aussenwelt zumindest partiell aufheben, damit sie mit den Anforderungen, welche der Alltag in der «freien Gesellschaft» stellt, konfrontiert 114
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
werden und stützender Sozialbeziehungen nicht vollends verlustig gehen. Dazu gehört auch, die Anstalt für Angehörige zu öffnen. Nicht unmittelbar mit der Rückfallverhütung verknüpft ist die Verpflichtung zur Betreuung der Gefangenen (Art. 75 Abs. 1 StGB, Satz 2, zweiter Satzteil): Da der Normalisierung innerhalb der Vollzugsanstalt Grenzen gesetzt sind und das Leben im Anstaltskollektiv die Handlungskompetenz des Gefangenen einschränkt, obliegt den Vollzugsorganen eine besondere Fürsorgepflicht: Weil der Gefangene infolge der Freiheitsentziehung z.B. nicht in der Lage ist, seinen Hausarzt oder ein Spitalambulatorium aufzusuchen und sich bei gesundheitlichen Problemen beraten zu lassen, sind die Vollzugsorgane verpflichtet, kompensatorisch in der Anstalt selbst gleichwertige Angebote zur Verfügung zu stellen. Die besondere Fürsorgepflicht betrifft indessen nicht bloss den Bereich der Gesundheitsversorgung, sondern gleichermassen auch die sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedürfnisse von Strafgefangenen.
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Unter den generellen Vollzugsgrundsätzen ist im StGB der Auftrag nicht mehr ausdrücklich erwähnt, auf die Wiedergutmachung des Schadens hinzuwirken, der durch die Straftat entstanden ist. Dies deshalb, weil der Gesetzgeber das Bemühen um die Wiedergutmachung des entstandenen Schadens – wie eine erfolgreiche Tataufbereitung – als gewissermassen selbstverständlichen Teilaspekt der Befähigung des Gefangenen zu einem straffreien Leben versteht. Im Zusammenhang mit der individuellen Vollzugsplanung sollen Bestrebungen zur Wiedergutmachung im Einzelfall aber weiterhin gefördert werden (Art. 75 Abs. 3 StGB; Abschnitt 5.5).
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Schliesslich verlangt Art. 75 Abs. 1 StGB, Satz 2, letzter Satzteil, dass dem Schutz der Bevölkerung im Allgemeinen, aber auch dem Schutz des Vollzugspersonals und der Mitgefangenen angemessen Rechnung zu tragen sei. Rückfällen soll also nicht bloss mit Blick auf die Entlassung aus dem Freiheitsentzug vorgebeugt werden, sie sollen auch bereits während des Strafvollzugs verhindert werden. Damit wird einerseits die Sicherung der Gefangenen nach aussen angesprochen, andererseits die Gewährleistung der «inneren Sicherheit» in der Vollzugsanstalt selbst, also der Grundsatz der Rückfallverhütung während der Zeit des Freiheitsentzugs.
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Art. 75 Abs. 1 StGB nennt die fünf Grundsätze der Rückfallverhütung nach der Entlassung aus dem Vollzug, der Normalisierung, der Entgegenwirkung, der besonderen Fürsorgepflicht und der Rückfallverhütung
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
während des Freiheitsentzugs in additiver Form. Damit wird deutlich, dass keiner dieser Grundsätze gegenüber anderen eine generelle Priorität besitzt. Weil im Anstaltsalltag die Verfolgung einzelner Grundsätze durchaus mit anderen Grundsätzen in Konflikt geraten kann, müssen diese gegeneinander abgewogen werden. Beispielsweise können Massnahmen zur Wahrnehmung der besonderen Fürsorgepflicht in Widerspruch zur Normalisierung des Anstaltsalltags geraten, oder Bestrebungen zur Rückfallverhütung während des Vollzugs zu solchen mit Blick auf die Zeit nach der Entlassung. Die additive Nennung der fünf Grundsätze in Art. 75 Abs. 1 weist darauf hin, dass im konkreten Fall Lösungen zu treffen sind, welche alle Grundsätze bestmöglich mitberücksichtigen. 13a
Der seit Beginn des 21. Jahrhunderts in etlichen Kantonen verfolgte «risikoorientierte Sanktionenvollzug» stellt die grundsätzliche Gleichwertigkeit der fünf Grundsätze zwar nicht in Frage, verstärkt aber das Gewicht der sicherheitsbezogenen Aspekte im Vollzug der Freiheitsentziehung. So hat der Kanton Basel-Stadt mit dem nach Vorbildern aus Kanada, Grossbritannien und den Niederlanden entwickelten Instrument «KARA» (Kriminologisch Analytisches Risk-Assessment) eine systematische Bewertung der Rückfallrisiken der einzelnen Strafgefangenen eingeführt. Im Kanton Zürich wurde mit dem «Risikoorientierten Sanktionenvollzug (ROS)» ein systematisches, standardisiertes und alle Vollzugsphasen vernetzendes Instrument eingeführt (DII 5.2). Das Instrument wurde als vom Bundesamt für Justiz geförderter Modellversuch in den Jahren 2010–2013 in den Kantonen Zürich, Thurgau, St. Gallen und Luzern getestet und soll in den kommenden Jahren in weiteren Kantonen eingeführt werden.
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Die oben beschriebenen Grundsätze bedeuten gegenüber dem früheren Recht (Art. 37 Ziff. 1 aStGB) eine erhebliche Präzisierung der Pflichten der für den Vollzug verantwortlichen Behörden. Die erwähnten Grundsätze stellen überdies ein eindeutiges Bekenntnis zu einem Strafvollzug dar, der darauf abzielt, Straffällige weder vollständig noch für immer aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschliessen. Sie bedeuten deshalb auch eine Absage an das namentlich in Teilen der USA vertretene Bestrafungs- und Vollzugskonzept der «Incapacitation» oder «Unschädlichmachung» (LII 5.2; anders z.T. im Massnahmenvollzug, vgl. dazu Abschnitt 9.4).
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
DII 5.2 Risikoorientierter Strafvollzug ROS Zweck Mit dem Einsatz von ROS soll die Rückfälligkeit der Strafgefangenen vor und während dem Vollzug vermindert werden. Damit sollen auch die Voraussetzungen für eine nachhaltige Integration der Strafgefangenen geschaffen werden. Prozessschritte Das Instrument gliedert sich in vier Schritte: • Triage: Nach Eingang des Falles bei der Vollzugbehörde wird der Fall aufgrund der im Strafregisterauszug enthaltenen Informationen mit dem «Fall Screening Tool» als A-Fall (geringes Delinquenzrisiko), B-Fall (erhöhtes Risiko) oder C-Fall (erhöhtes Risiko betr. Gewalt- und/oder Sexualdelikte) identifiziert. Für B- und C-Fälle gilt ein zusätzlicher Abklärungsbedarf. • Abklärung: Dieser durch die Abteilung für forensisch-psychologische Abklärungen der Vollzugsbehörde durchgeführte Prozessschritt umfasst eine Aktenanalyse und ein standardisiertes Risk-Assessment, welches das individuelle Rückfallrisiko und die risikorelevanten Problembereiche aufzeigt. Die Ergebnisse werden im sog. «Fallkonzept» zusammengefasst (Risikoquantifizierung, Problembereiche, Beeinflussbarkeit, Empfehlungen betr. Interventionen und Kontrollen). • Planung: Die Ergebnisse der Abklärung werden zu Handen der Vollzugsbehörde in eine Interventionsplanung übergeführt. Dazu wird eine sog. «Fallübersicht» erstellt, welche festhält, in welchen Vollzugsphasen (geschlossener Vollzug, offener Vollzug, Arbeits- bzw. Wohn- und Arbeitsexternat, Bewährungshilfe) welche Problembereiche zu bearbeiten sind. • Verlauf: Die Umsetzung der Planung wird mit Hilfe standardisierter Instrumente laufend überprüft und ggf. modifiziert. Quellen RUFLIN Regula et al.: Modellversuch Risikoorienterter Sanktionenvollzug. Schlussbericht Prozessevaluation vom 9. Dezember 2013. Bern 2013; BEWÄHRUNGSUND VOLLZUGSDIENSTE ZÜRICH (Amt für Justizvollzug ZH): Schlussbericht Modellversuch Risikoorientierter Sanktionenvollzug vom 23. Mai 2014. Literaturempfehlung LEHNER Dominik / HUBER Andreas: Risikoorientierter Strafvollzug. In: Brägger Benjamin F. (Hrsg.): Das schweizerische Vollzugslexikon. Basel 2014, 382−384; MAYER Klaus / TREUTHARDT Daniel: Modellversuch Risikoorientierter Sanktionenvollzug (ROS). In: Brägger Benjamin F. (Hrsg.): Das schweizerische Vollzugslexikon. Basel 2014, 311−318; MAYER Klaus / SCHLATTER Ursula / ZOBRIST Patrick: Das Konzept der Risikoorientierten Bewährungshilfe. In: Bewährungshilfe 1/2007, 33−64; RIKLIN Franz / BAECHTOLD Andrea (Hrsg.): Sicherheit über alles? Chancen und Gefahren des «Risk Assessment» im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe. Bern 2010.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.3
Anstaltstypen
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Das StGB verlangt von den Kantonen den Betrieb von lediglich zwei unterschiedlichen Anstaltstypen, die als geschlossene oder als offene Strafanstalten bezeichnet werden (Art. 76 StGB; VII 5.3a und 5.3b). Das Bundesrecht verlangt nicht, dass die beiden Anstaltstypen unabhängig voneinander betrieben werden: Einer geschlossen geführten Strafanstalt darf eine offene Abteilung angegliedert werden, einer offen geführten Strafanstalt eine geschlossene Abteilung. Eine Einweisung in eine geschlossene Strafanstalt (oder in eine geschlossene Abteilung einer offenen Strafanstalt) setzt voraus, dass Fluchtgefahr vorliegt oder die Erwartung, der Verurteilte werde weitere Straftaten begehen. Das massgebliche, bundesrechtlich zwingend vorgeschriebene Kriterium für die Differenzierung von Anstaltstypen liegt also im Grad der Sicherung der Inhaftierten: Geschlossene Anstalten haben mit baulichen, technischen, organisatorischen und personellen Mitteln sicherzustellen, dass Inhaftierte sich nicht durch eine Flucht dem Vollzug entziehen können und/oder weitere Straftaten begehen. Für offene Strafanstalten genügen dagegen Massnahmen, welche geeignet sind, einer spontanen Versuchung zur Flucht Hindernisse entgegenzustellen und eine Kontrolle der Anwesenheit der Inhaftierten zu gewährleisten. Die Einweisung in eine offene oder eine geschlossene Anstalt richtet sich somit nach spezialpräventiven Kriterien. Zusätzlich haben die Kantone auch Vollzugsplätze für die Vollzugsformen der Halbgefangenschaft und des Arbeitsexternates bereitzustellen, sei dies in eigenständigen Vollzugseinrichtungen oder als Abteilung einer offenen oder geschlossenen Strafanstalt (Art. 377 Abs. 1 StGB).
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Die bundesrechtlich vorgegebene Anstaltenstruktur unterscheidet sich erheblich vom früheren Recht. Früher waren für den Vollzug von Freiheitsstrafen vier unterschiedliche Anstaltstypen vorgeschrieben: Haftanstalten (für den Vollzug kurzer Freiheitsstrafen), Anstalten für Erstmalige (welche sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu halb offen oder offen geführten Anstalten entwickelt haben), Anstalten für Rückfällige (welche in dieser Periode zu geschlossen geführten Anstalten wurden) und freier geführte Anstalten (welche im Wesentlichen für den Vollzug der Halbfreiheit betrieben wurden). Darüber hinaus führte die Vorschrift, wonach in allen Anstalten Männer und Frauen zu trennen sind, dazu, dass in der deutschsprachigen Schweiz
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
VII 5.3a Offener Strafvollzug: Strafanstalt Saxerriet, 9465 Salez/SG Die Anstalt geht auf einen provisorischen Barackenbau aus dem Jahre 1921 zurück, der zunächst als Arbeitskolonie diente. 1964 wurde der Anstaltsneubau mit einer Kapazität von 117 Insassenplätzen in Betrieb genommen. Ein umfangreiches bauliches Sanierungs- und Erweiterungsprogramm wurde 1998 eingeleitet und 2002 abgeschlossen. 2009 wurde die Strafanstalt um die Wohngruppe Haus Feld erweitert und 2012 erfolgte die Eröffnung der geschlossenen Übergangsabteilung. Funktion Die Strafanstalt Saxerriet ist eine offene Strafanstalt für Männer im Rahmen des Ostschweizerischen Strafvollzugskonkordats. Sie nimmt alle Deliktsgruppen und Täterkategorien auf, es sei denn, es handle sich um offensichtlich Fluchtgefährdete oder Gemeingefährliche. Anlage Das Anstaltsareal ist nicht von baulichen Begrenzungsanlagen umschlossen. Es unterteilt sich in den Vollzugsbereich und den Arbeitsbereich des Anstaltsgeländes. Eingangs des Vollzugsbereiches befindet sich das Verwaltungsgebäude mit Annex (Küche, Wäscherei, Insassenspeisesaal, Aula). Drei Wohntrakte (mit unvergitterten Hafträumen), zwei weitere Trakte (u.a. für das Programm für Individualförderung, tiergestützte Therapie, Aufnahmeabteilung, geschlossene Abteilung, medizinischer Dienst), der Sportplatz und ein Flachbau (u.a. Mehrzweckhalle, Überwachungszentrale) umschliessen den Anstaltshof. Auf dem Arbeitsgelände sind die Industrie- und Gewerbebetriebe (3 Werkhallen) sowie der Gutsbetrieb (173 ha) angesiedelt. Gliederung/ Vollzugsplätze
Anzahl Mitarbeiter
Arbeitsplätze Insassen
Normalvollzug (davon geschlossene Übergangsabteilung) Abteilung Halbgefangenschaft und Arbeitsexternat Kapazität
Direktion, Abt. Leiter, Dir.-Sekretariat Betreuung und Sicherheit Gesundheit Sozialarbeit/Sozialpädagogik Teamleiter/Werkmeister Konsiliarisch und externe Mitarbeiter Anzahl Stellen auf 100 % gerechnet
Anzahl Vollzugsplätze 125 (17) 10 135 Anzahl Stellen 7 18 1 8 18 10 56,4 Anzahl Arbeitsplätze
Gewerbe/Industrie (Industriebetriebe, Mechanik, Schlosserei, Druckerei, Metzgerei) Landwirtschaft/Gärtnerei/Pferdehof/Agrowerkstatt Hausdienst/Küche/Wäscherei Programm zur Individualförderung (PzI) Arbeitsplätze insgesamt (Halbgefangenschaft/Arbeitsexternat)
43 52 15 10 120 (10)
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug Spezielle Angebote Programm für Individualförderung Für ca. 8 Insassen, die aus gesundheitlichen od. psychosozialen Gründen den Arbeitsanforderungen im Normalvollzug nicht gewachsen sind. Ziel: Förderung der psychischen u. sozialen Gesundheit, spätere (Teil-)Integration in den normalen Arbeitsprozess. Instrumentarium: Beschäftigung mit einfachen Industriearbeiten sowie handwerklich-kreative Tätigkeiten, Umgang mit Tieren, Förderung des Körperbewusstseins, Ernährungs- u. Hygienefragen, Gruppengespräche, Kommunikations- u. Konfliktbewältigungsstrategien. Wiedergutmachungsprogramm WGM 1 und WGM 2 Angebot an alle Insassen. Auseinandersetzung mit dem Delikt, den Tathintergründen u. insbesondere mit Opferbelangen. Ziel: Wiedergutmachungsaktivitäten im ideellen u./od. materiellen Sinne (Zahlungen an Opfer od. symbolisch an gemeinnützige Einrichtungen, Ableistung gemeinnütziger Arbeit u. ä.). WGM 1 hat eine Verknüpfung mit ROS (Risikoorientierter Sanktionenvollzug, vgl. DII 5.2). Schuldensanierung Unterstützung verschuldeter Insassen bei der Regulierung der finanziellen Verhältnisse, Aufstellung eines Schuldensanierungsplanes, Kontaktaufnahme mit Gläubigern zur Vereinbarung von Ratenzahlungen, Stundungen, Teilerlassen. Auf Wunsch Weiterbetreuung des Insassen bis max. drei Jahre nach der Entlassung. Suchtbehandlung Insassen mit einer Suchtproblematik (Drogen, Alkohol, Medikamente) werden von einem auf Suchtfragen spezialisierten Gesprächstherapeuten beraten und unterstützt (meist Einzelgespräche, einmal wöchentlich Rückfallgruppe). Ziel: Bearbeitung des Rückfalls u. Strategieentwicklung für einen besseren Umgang mit der Sucht. Ebenso wird eine Substitution mit Methadon durchgeführt. Therapie Das Therapeutenteam führt verschiedene Therapien durch. Hat das Gericht vollzugsbegleitend eine ambulante Behandlung angeordnet, beauftragt die Anstalt eine Fachperson mit der Durchführung der Massnahme. Die Fachperson legt zusammen mit dem Insassen in einem Behandlungsvertrag die Ziele, die Art, Form und den Ablauf der Therapie sowie die Berichterstattung an die Anstalt fest. Die Behandlung erfolgt grundsätzlich deliktorientiert mit dem Ziel, die Legalprognose des Insassen zu verbessern. Aggressions- und Stressbewältigungstraining (ASBT) Jährlich zwei Gruppen-Durchgänge à 10 Einheiten für Insassen mit Gewaltdelikten u. Aggressionsproblematik. Tiergestützte Therapie Die tiergestützte Therapie (mit Eseln) wird von der Leitung des forensisch-therapeutischen Dienstes, gemäss Auftrag der Strafanstalt, angeordnet. Für jeden Insassen werden individuelle Zielsetzungen formuliert. Die Therapie wird supervisorisch begleitet. Vom Insassen ist eine minimale Bereitschaft dazu Voraussetzung. Die Therapie verfolgt das Ziel, den Resozialisierungsauftrag der Strafanstalt zur Verminderung des Risikos neuer Straftaten zu erfüllen. Programm in der Angehörigenarbeit Vater-Kind Tage, Angehörigenanlässe u. intensivierte Kontakte Quellen BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Katalog der Justizvollzugseinrichtungen von September 2014. Bern 2015; KANTONALE STRAFANSTALT SAXERRIET (Hrsg.): Ausbau und Erneuerung der Strafanstalt Saxerriet. In: Bausteine, Informationsblatt über Strafvollzugsfragen. Sonderausgabe zur Einweihung, Nr. 4/5. Salez 2002; SICHERHEITS- UND JUSTIZDEPARTEMENT KANTON ST. GALLEN, AMT FÜR JUSTIZVOLLZUG (Hrsg.): Jahresbericht 2014. St. Gallen 2015; Auskünfte der Anstaltsdirektion.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
VII 5.3b Geschlossener Straf- und Massnahmenvollzug: JVA Solothurn, 4543 Deitingen Gefängnisbau 1835, wobei die Bauten erst 1886 als Zwangsarbeitsanstalt in Betrieb genommen wurden. 1990 erfolgte eine Funktionsänderung: Die Anstalt bestand fortan als sozialpädagogisches und therapeutisches Zentrum weiter. 1997 und 2004 wurde das Zentrum umgebaut, bevor im Jahre 2008 die offene Strafanstalt Schöngrün und das Therapiezentrum «Im Schache» organisatorisch zusammengelegt wurden. 2015 erfolgte die Zusammenführung der beiden Vollzugsarten an einem Standort in der neu gebauten Anlage in Deitingen, welche auch mit einem Wechsel vom offenen zum geschlossenen Strafvollzug verbunden war. Funktion Geschlossener Straf- und Massnahmenvollzug an rückfall- und fluchtgefährdeten Straftätern. Anlage Die Justizvollzugsanstalt Solothurn (JVA) im Deitinger Schachen bietet auf einer Fläche von 5.4 Hektaren eine geschlossene, multifunktionale Anlage, die Platz für 96 Insassen bietet. Die Anlage besteht aus drei Insassenhäusern, einem Mehrzweck-/ Verwaltungsgebäude, verschiedenen Betriebsgebäuden und mehreren Gewächshäusern. Insassenkategorie
Anzahl Mitarbeiter JVA
Anzahl Vollzugsplätze Geschlossener vorzeitiger und ordentlicher Vollzug stationärer Massnahmen / Verwahrungen 60 davon Beobachtung und Triage (B+T) 10 davon Wohngruppen (6 WG) 50 Geschlossener vorzeitiger und ordentlicher Vollzug Freiheitsstrafen / Verwahrungen 36 davon Wohngruppen (2 WG) 30 davon flexibel verwendbare Wohngruppe (1 WG) 6 Gesamtkapazität 96 zusätzliche Arrestzellen 3 Krankenzellen 3 Anzahl Stellen Massnahmenvollzug inkl. B+T 24.0 Strafvollzug inkl. Freizeit 10.9 Sicherheit 34.0 Betriebe 19.0 Logistik inkl. Direktor 16.8 Anzahl Stellen (JVA) 104.7
Externe Dienstleister (per LeistungsPsychotherapie (SoH) vereinbarung) Gesundheitsdienst (AJUV) BiSt Seelsorge Anzahl Stellen (extern) Arbeitsplätze Insassen Küche Bau und Unterhalt Officer Lingerie B+T Elektrowerkstatt Garten Montageatelier
5 8.6 1.4 0.6 15.6 Anzahl Arbeitsplätze 7 6 8 3 10 13 14 16
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug Schreinerei Mechanische Werkstatt Gemüsebau Total
8 6 9 100
Spezielle Angebote Milieutherapeutischer Ansatz in der Arbeit mit Insassen «Im Massnahmenvollzug steht die Therapie im Zentrum aller Interventionen. Die Umsetzung erfolgt nach einem milieutherapeutischen Ansatz. Danach wird Psychotherapie unter der fachlichen Leitung eines forensischen Psychiaters mit sozialtherapeutischer Arbeit in allen Bereichen des Anstaltslebens kombiniert. (…) Sie setzt sich aus den Elementen Wohnen, Arbeit und Freizeit zusammen und bildet damit die Grundlage für die Gestaltung des Alltags der Insassen. (…) [In der] Milieutherapie [sind] letztlich alle Mitarbeitenden der oben genannten Bereiche inklusive der Psychotherapeuten involviert.» (Betriebskonzept, S. 21) Psychotherapie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten werden durch den forensischen Dienst der psychiatrischen Klinik gestellt u. angeleitet. Folgende psychiatrisch-psychologische Leistungen werden erbracht: - Deliktorientierte Therapien (Einzel- & Gruppentherapien) - Unterstützende, ambulante Therapien - Psychiatrische Grundversorgung (Betriebskonzept, S. 22) Wohnbereich «Dem Wohnbereich kommt nicht zuletzt aufgrund der langen Aufenthalte im Vollzug eine wichtige unterstützende, aber auch fördernde Funktion im Hinblick auf die sozialen Kompetenzen der Insassen zu: In den Wohneinheiten entsteht ein vielfältiges Übungsfeld für Verantwortungsübernahme, wobei das Aufgreifen u. die Bearbeitung interpersoneller Konflikte im Zentrum stehen.» (Betriebskonzept, S. 22) Bildung im Strafvollzug (BiSt) «Bildungsangebote werden sowohl während der Arbeitszeit, als auch in der freien Zeit (nach Bedarf) angeboten. Jedem Insassen wird die Möglichkeit gegeben, an individuellen Lernzielen zu arbeiten. Er wird dabei entsprechend angeleitet u. unterstützt. Insassen ohne od. mit geringen Deutschkenntnissen absolvieren obligatorische Deutsch-Lernprogramme. Insassen mit einem ausgewiesenen Bildungsbedarf können am anstaltsinternen Bildungsprogramm «Bildung im Strafvollzug» (BiSt) teilnehmen. (…) BiSt findet während der Arbeitszeit statt (wöchentlich ½ Tag) u. ist obligatorisch für diejenigen, die in das Bildungsprogramm aufgenommen werden. Die JVA verfügt über sieben Lerngruppen. (…) Für Insassen, welche die entsprechenden Voraussetzungen mitbringen, wird anstaltsintern (Arbeitsbereiche der JVA Solothurn) eine berufliche Grundausbildung mit Attest angeboten.» (Betriebskonzept, S. 23) Quellen BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Katalog der Justizvollzugseinrichtungen von September 2014. Bern 2015; JUSTIZVOLLZUGSANSTALT SOLOTHURN (AMT FÜR JUSTIZVOLLZUG) (Hrsg.): Betriebskonzept - Justizvollzugsanstalt Solothurn. Solothurn 2015; JUSTIZVOLLZUGSANSTALT SOLOTHURN (AMT FÜR JUSTIZVOLLZUG) (Hrsg.): Handout (www.so.ch/ > Verwaltung > Departement des Innern > Amt für Justizvollzug > Justizvollzugsanstalt); Auskunft der Anstaltsdirektion.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
VII 5.3c Strafvollzug an Frauen: Strafanstalt Hindelbank, 3324 Hindelbank/BE Im Schloss Hindelbank wurde bereits ab 1896 eine Zwangsarbeitsanstalt für Frauen, ab 1912 dann eine Arbeits- und Strafanstalt für Frauen betrieben. Die heutige Strafanstalt entstand in den Jahren 1960–1962; umfangreiche Teilsanierungen wurden in den Jahren 1983 u. 1997 abgeschlossen. 1999 erfolgte die Eröffnung einer Aussenwohngruppe, 2002 diejenige der Spezialwohngruppe für Hochsicherheit u. Integration und 2011 die Eröffnung des stationären Massnahmenvollzugs. Funktion
Offener u. geschlossener Straf- u. Massnahmenvollzug (sowie fürsorgerische Freiheitsentziehung nach ZGB) an Frauen für die gesamte deutschsprachige Schweiz.
Anlage
Das 4,5 ha umfassende Anstaltsgelände wird seit 1997 durch einen Drahtzaun eingegrenzt. Innerhalb des Anstaltsareals befinden sich zwei grosse Zellentrakte mit insgesamt vier Wohngruppen des Normalvollzugs sowie der Spezialwohngruppe für Hochsicherheit und Integration. Dazu kommen zwei miteinander verbundene Gebäude für die Wohngruppe Mutter u. Kind, ein Gewerbehaus, eine Gärtnerei, ein Gesundheitszentrum (Ambulatorium), zwei Schulzimmer, eine Turnhalle und das historische Schloss (Verwaltung, Küche u.a.). Die Aussenwohngruppe Steinhof befindet sich in einem ehemaligen Herrschaftshaus im nahe gelegenen Burgdorf.
Gliederung/ Vollzugsplätze
Anzahl Mitarbeiter
Arbeitsplätze Insassen
Normalvollzug (3 Wohngruppen) Wohngruppe für Massnahmen Wohngruppe Hochsicherheit und Integration Wohngruppe Mutter und Kind Aussenwohngruppe Steinhof Kapazität 1) plus maximal 8 Plätze für Kinder
Anzahl Vollzugsplätze 64 17 8 61) 12 107
Anzahl Stellen Direktion, Leitung, Personaldienst 7,5 Zentrale Dienste / Hauswirtschaft (inkl. Kochwerk) /Liegenschaftsunterhalt 12,4 Sicherheitsdienst 12,7 Vollzug Strafen 22,6 Vollzug Massnahmen 12,5 Arbeit & Bildung 10,7 Gesundheitsdienst, HIV-Prävention 6,6 Seelsorge 0,4 Anzahl Stellen 85,4
Biowerk Hauswirtschaft Kochwerk Packwerk Stoffwerke Werkatelier Normalvollzug Waschwerk Werkatelier Hochsicherheit & Integration Aussenwohngruppe
Anzahl Stellen 6–10 7–10 8–10 8–12 16–22 3–5 18–26 4–7 4–10
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Spezielle Angebote
Wohngruppe Mutter und Kind In zwei ehemaligen Wohnhäusern für Angestellte sind bis zu sechs schwangere od. mit einem Kleinkind eingewiesene Frauen untergebracht, Mutter und Kind jeweils im gleichen Zimmer. Für die Kinder gibt es ein Spielzimmer und einen Spielplatz im Freien. Die Mütter arbeiten an einem normalen Vollzugsarbeitsplatz, die Kinder verbringen den Tag in der Kindertagesstätte der Gemeinde Hindelbank. Im Alter von drei Jahren endet für das Kind der Aufenthalt in der Anstalt. Drogen- u. HIV-Prävention Eine Präventionsbeauftragte sorgt – in vertraulichen Gesprächen mit den Insassinnen u. ohne Meldepflicht an die Anstaltsleitung – für die Information und Beratung der eingewiesenen Frauen über Zusammenhänge, Risiken und Vorbeugemassnahmen in den Bereichen Drogenkonsum, Sexualität, HIV u. Hepatitis. Ausserdem bewirtschaftet sie die Automaten, aus denen Drogenkonsumentinnen zwecks Vorbeugung gegen Ansteckungen saubere Spritzen beziehen können. Familien- u. Partnerbesuche Im Besucherhaus verfügt die Anstalt über ein Familien- und Beziehungszimmer (bestehend aus einem Wohn- und einem Schlafraum sowie einem Badezimmer). Dort können nicht urlaubsberechtigte Insassinnen alle zwei Monate während fünf Stunden mit ihrem angestammten Partner bzw. ihrer angestammten Partnerin od. mit ihren Angehörigen zusammen sein. Aussenwohngruppe Steinhof in Burgdorf In einer parkähnlichen Anlage stehen ein Haupthaus mit elf Zimmern zur Verfügung sowie eine Dependance, in welcher Arbeitsateliers untergebracht sind. Die Gruppe wird, vergleichbar einer Wohngemeinschaft, besonders offen geführt u. dient der gezielten Vorbereitung auf die Reintegration in die Gesellschaft. Sie kommt deshalb nur für Frauen in Frage, die nicht fluchtgefährlich sind u. voraussichtlich nach der Entlassung in der Schweiz leben werden. Die Insassinnen arbeiten im Hausdienst, im Garten u. in den Ateliers, jene in der Vollzugsform des Arbeitsexternates haben einen externen Arbeitsplatz.
Quellen BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Katalog der Justizvollzugseinrichtungen von September 2014. Bern 2015; POLIZEI- UND MILITÄRDIREKTION DES KANTONS BERN (Hrsg.): Anstalten Hindelbank - Portrait (www.pom.be.ch > Freiheitsentzug & Betreuung > Vollzug Erwachsene > Anstalten Hindelbank); Auskunft der Anstaltsdirektion.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
zusätzlich eine spezialisierte Frauenvollzugsanstalt (Anstalten in Hindelbank/BE; VII 5.3c) betrieben wurde, in der lateinischen Schweiz ferner eine selbständige Frauenvollzugsabteilung in einem Gefängnis (Prison La Tuilière in Lonay/VD). Mit der Reduktion der bundesrechtlich vorgeschriebenen Anstaltstypen hat der Gesetzgeber ausdrücklich nicht beabsichtigt, die bisherige Differenzierung der Anstaltstypen zu nivellieren. Massgeblich für diese Änderung war vielmehr erstens die Erfahrung, dass sich eine weitergehende Differenzierung von Anstaltstypen in den Kantonen durchgesetzt hat und deshalb keiner bundesrechtlichen Vorgabe mehr bedarf. Zweitens hat sich die hoch differenzierte und starre bisherige Anstaltenstruktur nicht durchwegs bewährt. Das allzu rigide Bundesrecht erschwerte z.B. in den 1970er-Jahren die Einrichtung spezialisierter Vollzugsbedingungen für drogenabhängige Straffällige und führte namentlich in periphären Landesteilen zu im Einzelfall aus spezialpräventiver Sicht nicht optimalen Anstaltseinweisungen. In einigen Fällen sind einzelne Kantone deshalb über Jahre von den bundesrechtlichen Vorschriften abgewichen (z.B. durch den Betrieb einer freier geführten Anstalt, in welcher keine Trennung nach dem Geschlecht der Insassen vorgenommen wurde oder durch bundesrechtswidrige Einweisungen in die einzelnen Anstaltstypen). Die Zurücknahme der bundesrechtlichen Vorgaben zur Differenzierung der Anstaltenstruktur soll den Kantonen somit die Möglichkeit eröffnen, unterschiedliche Anstaltstypen nach ihren jeweiligen, sich im Zeitverlauf u.U. kurzfristig verändernden Bedürfnissen einzurichten. Als Beispiel dafür kann die im ehemaligen Untersuchungsgefängnis Affoltern a. A./ZH im Jahre 2001 eingerichtete Vollzugsanstalt erwähnt werden (welche ausschliesslich effektiv vollstreckbare Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr vollzieht) oder das Vollzugszentrum Urdorf/ZH (für Kurzstrafen bis sechs Monate im Normalvollzug sowie Halbgefangenschaften).
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Im Interesse einer Harmonisierung der Vollzugsbedingungen in den geschlossenen und offenen Vollzugseinrichtungen hat das Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz in den Jahren 2006 und 2007 detaillierte Standards einerseits für den offenen, und andererseits für den geschlossenen Strafvollzug entwickelt. Diese umschreiben die jeweiligen Qualitätsziele, Qualitätsmerkmale, deren Messung, weitere Anforderungen sowie das Berichtswesen. Die Einhaltung der Standards wird regelmässig überprüft.
17b
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.4
Vollzugsformen
LII 5.4 Literatur zu den Vollzugsformen Allgemeines ANGST Rolf / GUENTER Jennifer / NOLL Thomas: Rückfallprävention durch Stufenvollzug: die wichtigen Übungsfelder der letzten Vollzugsstufen. In: SZK 2/2010, 47–52; BAECHTOLD Andrea: Ersatz kurzer Freiheitsstrafen: Alternativen zu was und wozu? In: Der Strafvollzug in der Schweiz 3/1985, 435–447; BRÄGGER Benjamin F. (Hrsg): Das schweizerische Vollzugslexikon. Von der vorläufigen Festnahme zur bedingten Entlassung. Basel 2014; HÜSLER Gebhard / LOCHER Jakob: Kurze Freiheitsstrafen und Alternativen. Bern 1991; KUNZ Karl-Ludwig: Die kurzfristige Freiheitsstrafe und die Möglichkeiten ihres Ersatzes. In: ZStrR 1986, 182–214; PETER-EGGER Gabriela: Kosten-Nutzen-Analyse verschiedener Strafvollzugsformen: Schwitzen statt sitzen? Was stiftet mehr volkswirtschaftlichen Nutzen? In: Krell Wolfgang (Hrsg.): Schwitzen statt sitzen. Gemeinnützige Arbeit als Alternative zur Strafe in Europa. Soziale Dienste 12. Weimar 2003, 149–158. Arbeitsexternat BAECHTOLD Andrea: ½ Freiheit + ½ Gefangenschaft =? In: Der Strafvollzug in der Schweiz 2/1976, 1–12; PITTELOUD Maroussia: Regard critique sur le régime du travail externe en droit suisse. In: Jusletter vom 6. Juli 2015; STRATENWERTH Günter / WOHLERS Wolfgang: Art. 77a StGB: Schweizerisches Strafgesetzbuch Handkommentar. Bern 2013, 201–203. Einzelhaft FRICKER Christoph: Disziplinar- und besondere Sicherheitsmassnahmen. Normative und tatsächliche Ausgestaltung im straf- sowie strafverfahrensrechtlichen Freiheitsentzug in der Schweiz. Bern 2004; KÜNZLI Jörg / FREI Nula / SPRING Alexander: Einzelhaft in Hochsicherheitsabteilungen. Menschenrechtliche Standards und ihre Umsetzung in der Schweiz. Gutachten zuhanden des Lenkungsausschusses EDA/EJPD vom 31. März 2014; WEIDMANN Raffael / DITTRICH Adolf: Neue Erkenntnisse über die psychopathologischen Wirkungen der Einzelhaft. Folgerungen für die Rechtsetzung und Rechtsanwendung? In: ZStrR 1985, 399–407; VOLKART Reto: Einzelhaft: Eine Literaturübersicht. In: Zs. für Psychologie und ihre Anwendungen, 1/1983, 1–23; VOLKART Reto / ROTHENFLUH Thomas / WERNER Paul: Eine kontrollierte Untersuchung über psychopathologische Effekte der Einzelhaft. In: Zs. für Psychologie und ihre Anwendungen 1/1983, 25–46. Halbgefangenschaft BAECHTOLD Andrea: ½ Freiheit + ½ Gefangenschaft =? In: Der Strafvollzug in der Schweiz 2/1976, 1–12; BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Hrsg.): Halbgefangenschaft und tageweiser Vollzug im Strafvollzug an Erwachsenen in der Schweiz. Bern 1985. Tageweiser Vollzug BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Hrsg.): Halbgefangenschaft und tageweiser Vollzug im Strafvollzug an Erwachsenen in der Schweiz. Bern 1985. Abweichende Vollzugsformen BAECHTOLD Andrea: Die Strategie der grünen Inseln – die Implementation neuer Steuerungsinstrumente im schweizerischen Strafvollzug. In: Flügge Christoph / Maelicke Bernd / Preusker Harald (Hrsg.): Das Gefängnis als lernende Organisation. Baden-Baden 2001, 350–362;
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug Electronic Monitoring ALBRECHT Hans-Jörg: Der elektronische Hausarrest. Das Potential für Freiheitsstrafenvermeidung, Rückfallverhütung und Rehabilitation. In: MschrKrim 2/2002, 84–104; CLEMENÇON Renate / RUMO WETTSTEIN Cornelia: Toute la famille a dû faire preuve de discipline! La surveillance électronique et ses effets sur l’environnement. In: Capus Nadja et al: (Hrsg.): Öffentlich-Privat. Neue Aufgabenteilung in der Kriminalitätskontrolle. Zürich/Chur 2006, 155–168; BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Hrsg.): Erfahrungen mit Electronic Monitoring nach dem Inkrafttreten des revidierten AT-StGB (2007/2008). Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse. Bern 2009; GRIVAT François: Contexte des arrêts domiciliaires (AD) ou de l’electronic monitoring (EM). In: SZK 2009/1, 44–48; HAMMERSCHID Lisa: Neuere Entwicklungen zum elektronisch überwachten Hausarrest. Ausschluss bestimmter Tätergruppen gerechtfertigt? Diss. Innsbruck 2014; HAVERKAMP Rita et al.: Die elektronische Aufsicht von als gefährlich eingeschätzten Entlassenen. Recht & Psychiatrie 1/2012, 9–20; HAVERKAMP Rita: Elektronisch überwachter Hausarrestvollzug. Ein Zukunftsmodell für den Anstaltsvollzug?; eine rechtsvergleichende, empirische Studie unter besonderer Berücksichtung der Rechtslage in Schweden. Diss. Freiburg (Breisgau) 2002; MAYER Markus / HAVERKAMP Rita / LÉVI René (Hrsg.): Will Electronic Monitoring Have Future in Europe? Freiburg i.Br. 2003; PETER-EGGER Gabriela: Interkantonaler Modellversuch. Elektronisch überwachter Strafvollzug (Electronic Monitoring / EM) für Kurz- und Langstrafen, 1999–2002. Evaluations-Schlussbericht. Zürich 2003; PETER-EGGER Gabriela: Interkantonaler Modellversuch Elektronisch überwachter Strafvollzug (EM) für Kurz- und Langstrafen, 1999–2002. Evaluationsbericht zur Rückfalluntersuchung. Zürich 2004; VILLETTAZ Patrice / KILLIAS Martin: Les arrêts domicilaires sous surveillance électronique dans les cantons de Genève, du Tessin et de Vaud. Rapport final à l’Office fédéral de la justice. Lausanne 2003; VILLETTAZ Patrice / KILLIAS Martin: Les arrêts domicilaires sous surveillance électronique: une sanction «experimentale». Etude préliminaire de la récidivie après l’exécution d’une peine privative de liberté sous forme des arrêts domicilaires dans les trois cantons latin. 2éme Rapport. Lausanne 2005; WEBER Jonas Peter: Der elektronisch überwachte Hausarrest und seine versuchsweise Einführung in der Schweiz. Basel/Genf/ München 2004. Vollzugsformen nach kantonalem Recht BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Hrsg.): Neue Wege im Straf- und Massnahmenvollzug. Modellversuche im Erwachsenenvollzug und in der Jugendhilfe. Bern 2003; MAEDER Christoph / BROSZIEWSKI Achim: Vom Umgang mit «Schwachen und Schwierigen» im offenen Strafvollzug. Ein soziologischer Evaluationsbericht über das Zusatzprogramm für leistungsschwache Insassen in der kantonalen Strafanstalt Saxerriet. St. Gallen 1997.
Die beiden erwähnten Anstaltstypen definieren bloss unterschiedliche Grade der Sicherung der Inhaftierten, nicht aber die konkreten Vollzugsbedingungen. Innerhalb der Anstaltstypen sieht das Bundesrecht weitere Differenzierungen der Vollzugsbedingungen vor, welche als Vollzugsformen bezeichnet werden (Art. 77–80 StGB). Die meisten dieser Vollzugsformen sind grundsätzlich im Vollzug aller
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18
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
DII 5.4 Typologie der Vollzugsformen Umfang des Freiheitsentzugs Umfassender Freiheitsentzug Kein Freiheitsentzug während der Arbeitszeit Freiheitsbeschränkender Vollzug
Zeitlicher Umfang Zu Beginn des Freiheitsentzugs einsetzbar • Normalvollzug • Einzelhaft • Halbgefangenschaft • Tageweiser Vollzug • Electronic Monitoring
Als spätere Vollzugsstufe einsetzbar • Normalvollzug • Einzelhaft • Arbeitsexternat
• Wohn- und Arbeitsexternat • Electronic Monitoring
RII 5.4 Vollzugsformen: Konkordatliche Richtlinien Nordwest- und Innerschweiz Richtlinien für die Verlegung in freier geführte Institutionen oder Abteilungen, die externe Beschäftigung, den Vollzug des Wohn- und Arbeitsetxernates im Straf- und Massnahmenvollzug, die Anforderungen an durchführende Institutionen (Externatsrichtlinien) vom 3. November 2006. Richtlinien für den Vollzug der Halbgefangenschaft vom 22. April 2005. Richtlinien über den Vollzug von Freiheitsstrafen in der Form der «Halbgefangenschaft» in privaten Institutionen vom 24. April 2008. Ostschweiz Richtlinien über die Gewährung des Arbeitsexternats und des Wohnexternats sowie über die Beschäftigung von eingewiesenen Personen bei einem privaten Arbeitgeber vom 7. April 2006. Richtlinien über den Vollzug von Halbgefangenschaft vom 7. April 2006. Lateinische Schweiz Décision du 25 septembre 2008 concernant le travail externe ainsi que le travail et le logement externes (décision sur le travail externe ainsi que sur le travail et le logement externe). Décision du 25 septembre 2008 relative à exécution des peines sous la forme de la semi-détention (décision sur la semi-détention). Décision du 24 septembre 2007 concernant l’exécution des sanctions pénales privatives de liberté ou à titre anticipée des personnes détenues et internées, malades, accidentées, infirmes ou âgées (décision sur les personnes malades, accidentées, infirmes ou âgées).
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Freiheitsstrafen anwendbar (Normalvollzug, Arbeitsexternat, Wohnund Arbeitsexternat, Einzelhaft, abweichende Vollzugsformen). Andere sind ausdrücklich kürzeren (Halbgefangenschaft) oder sehr kurzen Freiheitsstrafen (tageweiser Vollzug) vorbehalten (LII 5.4, DII 5.4). Die Kantone sind befugt, diese Vollzugsformen im kantonalen Recht (oder mittels konkordatlicher Empfehlungen) weiter zu konkretisieren. Die Konkordate haben ihre entsprechenden Richtlinien mit Blick auf die Revision des StGB von 2002 umfassend überarbeitet (RII 5.4). Die Revision des StGB von 2015 bestimmt zusätzlich die gemeinnützige Arbeit (vgl. Art. 79a nStGB) und die elektronische Überwachung (vgl. Art. 79b nStGB) als Vollzugsformen. So kann auf Gesuch des Verurteilten eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten, eine nach Anrechnung der Untersuchungshaft verbleibend Reststrafe von nicht mehr als sechs Monaten oder eine Geldstrafe oder eine Busse in der Form von gemeinnütziger Arbeit vollzogen werden, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte flieht oder weitere Straftaten begeht (vgl. Art. 79a Abs. 1 nStGB). Ausgeschlossen ist die gemeinnützige Arbeit dagegen für den Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe (vgl. Art. 79a Abs. 2 StGB). Auf Gesuch des Verurteilten hin kann die Vollzugsbehörde den elektronisch überwachten Hausarrest anordnen für den Vollzug einer Freiheitsstrafe oder einer Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen bis zwölf Monaten, oder anstelle des Arbeitsexternates oder des Arbeits- und Wohnexternates für die Dauer von drei bis zwölf Monaten, sofern nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte flieht oder weitere Straftaten begeht, über eine dauerhafte Unterkunft verfügt, einer geregelten Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung von mindestens 20 Stunden pro Woche nachgeht oder ihm eine solche zugewiesen werden kann, die mit dem Verurteilten in derselben Wohnung lebenden erwachsenen Personen zustimmen und der Verurteilte einem für ihn ausgearbeiteten Vollzugsplan zustimmt (vgl. Art. 79b Abs. 1 und 2 nStGB). Für den Begriff der «Vollzugsform» wird im Vollzugs-Jargon häufig auch der Ausdruck «Vollzugsregime» synonym verwendet. Sofern einzelne Vollzugsformen in einer vorgegebenen zeitlichen Abfolge zu verfügen sind, wird auch von «Vollzugsstufen» gesprochen.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.4.1
Normalvollzug
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Der Normalvollzug entspricht der «klassischen Form des Freiheitsentzugs»: «Der Gefangene verbringt seine Arbeits-, Ruhe- und Freizeit in der Regel in der Anstalt» (Art. 77 StGB). Er hält sich somit im Grundsatz während der ganzen Zeit der Strafverbüssung im Normalvollzug auf dem Anstaltsgelände auf. Nur ausnahmsweise kann ihm bewilligt werden, das Anstaltsgelände zu verlassen (z.B. für einen Ausgang, einen Urlaub oder die Verrichtung einer Arbeit).
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Voraussetzungen, Anordnung: Die Vollzugsform des Normalvollzugs wird an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft. Sie kommt deshalb immer dann zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen für eine der anderen Vollzugsformen nicht vorliegen. Die Bezeichnung «Normalvollzug» weist aber nicht darauf hin, dass der Freiheitsentzug normalerweise, also in der Regel, in dieser Form zu erstehen sei.
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Vollzug: In Verbindung mit der Vorschrift zur Vollzugsform der Einzelhaft (Art. 78 StGB; Abschnitt 5.4.4) ergibt sich, dass der Gefangene in der Vollzugsform des Normalvollzugs von den anderen Gefangenen nicht isoliert wird, sondern die Strafe in «Gemeinschaftshaft» verbüsst. Das bernische Gesetz über den Straf- und Massnahmenvollzug (SMVG/BE) verwendet in Art. 34 ausdrücklich den Begriff des «Gemeinschaftsvollzugs». Der Gefangene verbringt in dieser Vollzugsform zwar seine Ruhezeit in seiner Zelle, steht aber während der Arbeitszeit normalerweise ebenso in Kontakt mit anderen Gefangenen wie jedenfalls während eines Teils der Freizeit. Wie gross der zeitliche Anteil an «Gemeinschaftshaft» im Verhältnis zur Isolation in der Zelle sein muss oder sein darf, schreibt das Bundesrecht nicht vor – bloss das Verbot einer ununterbrochenen Trennung von anderen Gefangenen. In der Realität kann der Normalvollzug deshalb sehr unterschiedlich ausgestaltet sein: In den grossen Vollzugsanstalten arbeiten die Gefangenen (mit Ausnahme allfälliger Einzelarbeitsplätze) immer in einem Teilkollektiv. Ferner wird praktisch die gesamte freie Zeit normalerweise in der Wohngruppe (sog. «Gruppenvollzug») oder im Gesamtkollektiv ebenfalls gemeinsam verbracht (ausgenommen sind i.d.R. Teile der arbeitsfreien Zeit an Wochenenden; DII 5.4.1). In Anstalten, welche
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
DII 5.4.1 Tagesablauf für einen Insassen der JVA Solothurn Montag bis Freitag 06.30 06.45 – 08.00 07.45 – 08.00 08.00 – 08.15 11.30 – 11.45 11.45 – 12.00 12.00 – 13.00 12.45 – 13.00 13.00 – 13.15 16.15 – 16.30 16.30 – 16.45 17.15 – 18.10 17.30 – 20.15 19.00 – 20.30 20.45 – 21.00 21.30 – 22.00
Samstag und Sonntag 08.00/08.30
17.15 18.30 – 18.50 20.00 – 20.30
Zellenaufschluss/Vitalkontrolle Morgentoilette; Erstellen der Zellenordnung; Frühstück in der Wohngruppe; Medikamentenabgabe Ausrücken zur Arbeitsaufnahme Strafvollzug Ausrücken zur Arbeitsaufnahme Massnahmenvollzug1) Einrücken Strafvollzug Einrücken Massnahmenvollzug1) Mittagessen in der Wohngruppe; Medikamentenabgabe; Mittagspause Ausrücken zur Arbeitsaufnahme Strafvollzug Ausrücken zur Arbeitsaufnahme Massnahmenvollzug1) Einrücken, Arbeitsschluss Strafvollzug Einrücken, Arbeitsschluss Massnahmenvollzug1) Nachtessen in der Wohngruppe; Medikamentenabgabe Arbeitsfreie Zeit, Freizeit- und Sportangebote (Fitnessraum), Besuchsempfang (Di, Do), Spaziergang Strafvollzug Arbeitsfreie Zeit, Freizeit- und Sportangebote (Fitnessraum), Besuchsempfang (Di, Do), Spaziergang Massnahmenvollzug1) Zelleneinschluss Strafvollzug Zelleneinschluss Massnahmenvollzug1); Medikamentenabgabe Zellenaufschluss/Vitalkontrolle Massnahmenvollzug1); Medikamentenabgabe; Brunch in der Wohngruppe; Arbeitsfreie Zeit, Freizeit- und Sportangebote (Fitnessraum), Besuchsempfang, Spaziergang Nachtessen (in der Wohngruppe zubereitet) Zelleneinschluss, Medikamentenabgabe (Strafvollzug) Zelleneinschluss, Medikamentenabgabe (Massnahmenvollzug)1)
1)
Die Abteilung für Beobachtung und Triage (B+T) im Massnahmenvollzug funktioniert quasi autark und folgt somit einem anderen Tagesablauf.
Quellen JUSTIZVOLLZUGSANSTALT SOLOTHURN (Hrsg.): Eine moderne Anstalt – ein Beitrag zum Schutz der öffentlichen Sicherheit – Leaflet; Auskunft Anstaltsdirektion.
überwiegend dem Vollzug von Untersuchungshaft dienen, entspricht der «normale Vollzug» dagegen in vielen Vollzugseinrichtungen faktisch eher der Einzelhaft (die Gemeinschaftshaft bleibt auf den einstündigen gemeinschaftlichen «Spaziergang» an der frischen Luft reduziert, ggf. ergänzt durch einzelne gemeinschaftliche Freizeitveranstaltungen).
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.4.2
Arbeitsexternat
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«Im Arbeitsexternat arbeitet der Gefangene ausserhalb der Anstalt und verbringt die Ruhe- und Freizeit in der Anstalt» (Art. 77a Abs. 1 und 2 StGB). Im Gegensatz zum Normalvollzug hält sich der Gefangene während der Arbeitszeit somit nicht bloss ausnahmsweise, sondern grundsätzlich ausserhalb des Anstaltsgeländes auf.
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Die knappen bundesrechtlichen Vorgaben charakterisieren die Vollzugsform des Arbeitsexternates allerdings nur unzureichend und grenzen sie nicht eindeutig von anstaltsexterner Arbeit im Rahmen des Normalvollzugs ab: Im Arbeitsexternat (früher als «Halbfreiheit» bezeichnet) arbeitet der Gefangene wie ein «normaler Arbeitnehmer» bei einem anstaltsexternen Arbeitgeber. Er legt täglich seinen Weg zum Arbeitsplatz individuell und ohne Überwachung zurück. Das Arbeitsverhältnis regelt ein Arbeitsvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (welcher der Zustimmung durch die Anstaltsleitung bedarf). Entsprechend erhält der Gefangene vom Arbeitgeber einen Lohn (der allerdings i.d.R. von der Anstaltsleitung verwaltet wird), aus welchem er der Anstalt ein «Pensionsgeld» von normalerweise (je nach Konkordat) Fr. 21 bis Fr. 42 pro Aufenthaltstag entrichtet. Anders als bei der Halbgefangenschaft kann der Gefangene seinen Arbeitsplatz jedoch nicht frei wählen. Zudem dient das Arbeitsexternat als Stufe des progressiven Vollzugs der Wiedereingliederung nach einer langen Vollzugsdauer, während die Halbgefangenschaft eine Vollzugsmodalität darstellt.
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Von dieser Charakterisierung (und dem früheren Recht) abweichend, bindet Art. 77a Abs. 2 StGB das Arbeitsexternat ausdrücklich nicht mehr zwingend an die Verrichtung anstaltsexterner Erwerbsarbeit: Auch «Hausarbeit und Kinderbetreuung» wird als anstaltsexterne Arbeit anerkannt, welche im Rahmen eines Arbeitsexternates verrichtet werden kann (so ausdrücklich Art. 31 der «Instruction générale sur la détention dans les établissements pénitentiaires» des Kantons Neuenburg vom 25. August 2008). Weil das Arbeitsexternat nicht ausdrücklich an die Verrichtung externer Erwerbsarbeit gebunden ist, muss im Gesetzestext nicht ausdrücklich festgehalten werden, dass im Arbeitsexternat anstelle einer Erwerbsarbeit auch eine externe Ausbildung aufgenommen oder fortgesetzt werden kann (was die Praxis in seltenen Fällen auch schon früher zugelassen hat).
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Voraussetzungen: Die Anwendung der Vollzugsform des Arbeitsexternates ist an zwei verbindliche bundesrechtliche Voraussetzungen geknüpft: Der Gefangene muss einerseits in der Regel mindestens die Hälfte der Freiheitsstrafe verbüsst haben – ein früherer Übertritt in ein Arbeitsexternat ist somit zulässig, in der Praxis aber äusserst selten. Andererseits setzt ein Arbeitsexternat voraus, dass vom Gefangenen weder Fluchten noch weitere Straftaten befürchtet werden müssen. Die Vollzugsbehörde hat bei der Beurteilung dieser Voraussetzungen ein breites Ermessen (BGE 116 IV 277). Das Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz schränkt den Anwendungsbereich des Arbeitsexternates in seinen – unverbindlichen, aber in der Praxis weitgehend beachteten – Richtlinien (Externatsrichtlinien Straf- und Massnahmenvollzug; RII 5.4) indessen weiter ein: Ein Arbeitsexternat soll in der Regel frühestens 3 Monate nach Strafantritt gewährt werden und in der Regel nicht mehr als 12 Monate dauern. Das Konkordat der Ostschweiz empfiehlt demgegenüber, Arbeitsexternate erst 6 Monate nach Strafantritt zu bewilligen und die (je nach Strafdauer unterschiedliche) maximale Dauer von Arbeitsexternaten nicht voll auszuschöpfen (Richtlinien über die Gewährung des Arbeitsexternats und des Wohnexternats sowie über die Beschäftigung von eingewiesenen Personen bei einem privaten Arbeitsgeber; RII 5.4). Eine in der Regel sechsmonatige Karenzfrist bis zur Gewährung eines Arbeitsexternates sieht auch das Konkordat der lateinischen Schweiz vor (Décision du 25 septembre 2008 concernant le travail externe ainsi que le travail et le logement externes; RII 5.4). In Ergänzung zu den beiden verbindlichen Voraussetzungen gibt das Bundesrecht überdies die Regel vor, dass ein Übertritt in ein Arbeitsexternat normalerweise nicht direkt aus einer geschlossenen Vollzugsanstalt, sondern aus einer offen geführten Anstalt oder Anstaltsabteilung erfolgen soll.
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Anordnung: Ein Übertritt in ein Arbeitsexternat bedarf normalerweise einer Verfügung der zuständigen Strafvollstreckungsbehörde. Die Anordnung eines Arbeitsexternates ist nicht an eine Zustimmung des Gefangenen gebunden. In aller Regel sind Gefangene indessen an einem Übertritt in ein Arbeitsexternat interessiert. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall (meist als Folge von Unsicherheiten oder Ängsten, den Anforderungen in einem externen Arbeitsbetrieb nicht gewachsen zu sein), wird die Strafvollstreckungsbehörde allerdings nur in seltenen Fällen gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen ein Arbeitsexternat anordnen.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 28
Vollzug: Das Bundesrecht bestimmt nicht, in welchen Anstalten das Arbeitsexternat zu vollziehen ist. Eine Durchmischung von Gefangenen im Arbeitsexternat mit solchen im Normalvollzug ist indessen aus vollzugspraktischen Gründen auszuschliessen. Über getrennte Abteilungen für den Vollzug des Arbeitsexternates verfügen z.B. die Anstalten Witzwil/BE, Saxerriet/SG und Pöschwies/ZH. Sonderanstalten für den Vollzug des Arbeitsexternates (z.T. in Kombination mit der Vollzugsform der Halbgefangenschaft) sind das Vollzugszentrum Klosterfiechten/BS und Urdorf/ZH, während z.B. das Wohnheim Lindenfeld/LU und das Männerheim Satis/AG von einem privaten Träger geführt werden. Für die Aufrechterhaltung der Kontakte Strafgefangener mit der Aussenwelt gelten im Arbeitsexternat besondere Erleichterungen: In den Strafvollzugskonkordaten der deutschsprachigen Schweiz sollen wöchentliche Urlaube bis zu 48 Stunden und bis zu zwei monatliche Ausgänge von höchstens fünf Stunden ermöglicht werden. Das Konkordat der lateinischen Schweiz empfiehlt demgegenüber ein progressives Urlaubssystem, welches von 52 Stunden im ersten Vollzugsmonat bis zu monatlich 172 Stunden ab dem fünften Vollzugsmonat reicht (RII 5.4).
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Früheres Recht: Wie oben erwähnt, ist das Arbeitsexternat eine Vollzugsform, welche vor der Revision des StGB von 2002 als «Halbfreiheit» bezeichnet wurde. Die «Halbfreiheit» wurde in der Praxis bereits Ende der 1950-er Jahre ohne ausdrückliche bundesrechtliche Grundlage in einzelnen Anstalten eingeführt und erst mit der StGBRevision von 1971 der Sache nach im Bundesrecht verankert, ohne dass indessen der Begriff der «Halbfreiheit» verwendet wurde. Die damalige Regelung des heutigen Arbeitsexternates war allerdings wenig klar und vermischte das heutige Arbeitsexternat mit dem Vollzug in besonders offen geführten Anstalten, in welchen die Entlassung vorbereitet werden sollte (sog. «freier geführte Anstalten»).
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Kantonales Recht: Die meisten Kantone haben das Arbeitsexternat auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe ausdrücklich geregelt. Mit dem Inkrafttreten der Revision des StGB von 2002 wurden etliche früher geltende Einschränkungen bezüglich des Anwendungsbereiches (z.B. minimale Strafdauer von 9 oder 18 Monaten) hinfällig.
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Stellenwert: Das Arbeitsexternat hat sich als Vollzugsform im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt: In den Jahren 2003 bis 2014 erfolgten rund 7% aller Entlassungen aus der Halbfreiheit. Trotz der angespannten Arbeitsmarktlage und der Verminderung der Zahl der zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen 134
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
mit Wohnsitz in der Schweiz, bleibt die Zahl der jährlich angeordneten Arbeitsexternate, mit erheblichen Schwankungen, im letzten Jahrzehnt insgesamt konstant (im Kanton Bern jährlich rund 30 Anordnungen).
5.4.3
Wohn- und Arbeitsexternat
In der Vollzugsform des Wohn- und Arbeitsexternates (Art. 77a Abs. 3 StGB) «wohnt und arbeitet der Gefangene ausserhalb der Anstalt, untersteht aber weiterhin der Strafvollzugsbehörde».
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Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Vollzugsformen hält sich der Gefangene im Wohn- und Arbeitsexternat überhaupt nicht mehr auf dem Anstaltsgelände auf. Der Freiheitsentzug beschränkt sich auf eine «Unterstellung unter die Strafvollzugsbehörde». Die Freiheitsstrafe wird also paradoxerweise ohne Einschränkung der räumlichen Bewegungsfreiheit vollstreckt. Der Sache nach wird der Gefangene somit gewissermassen unter Kontrolle der Strafvollzugsbehörde «auf Probe» in eine verbindlich vorgegebene anstaltsexterne Wohn- und Arbeitssituation entlassen.
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Voraussetzungen: Für einen Übertritt in die Vollzugsform des Wohnund Arbeitsexternates setzt das Bundesrecht voraus, dass sich der Gefangene in der Vollzugsform des Arbeitsexternates bewährt hat. Der Wortlaut des Gesetzestextes schliesst damit nicht bloss einen direkten Übertritt vom Normalvollzug in ein Arbeits- und Wohnexternat aus, sondern auch die Möglichkeit, nach dem Normalvollzug vorerst ein Wohnexternat zu verfügen, nach der Bewährung im Wohnexternat sodann ein Wohn- und Arbeitsexternat. Ein solches Vorgehen hat sich im Massnahmenvollzug nach früherem Recht in Einzelfällen durchaus bewährt (bei Gefangenen mit ausreichendem Sozialverhalten, aber erheblichen Problemen, sich in der Arbeitswelt zu integrieren). Die künftige bundesgerichtliche Rechtsprechung wird klären, ob eine vom gesetzlichen Wortlaut abweichende Interpretation dieser Gesetzesbestimmung im Interesse spezialpräventiver Zielvorgaben (Art. 75 Abs. 1 StGB) zulässig bleibt. Die Richtlinien der drei Konkordate (RII 5.4) setzen im Übrigen eine vorgängige Bewährung im Arbeitsexternat ausdrücklich voraus. In den Konkordaten der Ostschweiz und der lateinischen Schweiz werden die Bewährungsfristen im Arbeitsexternat präzise vorgegeben. Die Dauer eines Wohn- und Arbeitsexternates soll in der Nordwest- und Innerschweiz sowie in der Ostschweiz in der Regel drei bis zwölf Monate betragen, in der lateinischen Schweiz ist nur eine zeitliche Obergrenze von zwölf Monaten vorgesehen.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 35
Anordnung: Einen Übertritt in ein Wohn- und Arbeitsexternat verfügt die zuständige Strafvollstreckungsbehörde. Auch dieser Entscheid setzt formell nicht eine Zustimmung des Betroffenen voraus.
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Vollzug: Zum Vollzug eines Wohn- und Arbeitsexternates gibt das Bundesrecht lediglich vor, dass der «Gefangene» weiterhin der Strafvollzugsbehörde unterstehe. Diese Behörde wird ihre Zuständigkeit – so die bisherige Praxis zum Wohn- und Arbeitsexternat im Massnahmenvollzug – in aller Regel entweder an die Vollzugsanstalt oder an die Bewährungshilfe delegieren. Diese werden den Gefangenen bei der Suche eines Arbeitsplatzes und einer Unterkunft (in einem Zimmer, einer Wohnung oder einem Heim) unterstützen, ihm diesbezügliche Weisungen erteilen und mit ihm während der Dauer des Wohn- und Arbeitsexternates in geeigneter Form einen strukturierten und regelmässigen Kontakt aufrechterhalten. Das Konkordat der lateinischen Schweiz erhebt bei den Strafgefangenen einen Kostenbeitrag von Fr. 5 pro Tag.
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Kantone, welche das Electronic Monitoring eingeführt haben (Abschnitt 5.4.8), setzen dieses Instrument in ausgewählten Fällen – als Vorstufe zum reinen Wohn- und Arbeitsexternat – auch kombiniert ein. In dieser Vorstufe wird der Verurteilte also verpflichtet, sich während einer festgelegten Zeit in seiner Wohnung oder seinem Zimmer aufzuhalten. Diese verbindlichen Anwesenheiten werden elektronisch kontrolliert.
37
Früheres Recht, Stellenwert: Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass die Vollzugsform des Wohn- und Arbeitsexternates vor der StGB-Revision von 2002 ausschliesslich im Massnahmenvollzug anwendbar war. Sie wurde vorerst im Massnahmenzentrum St. Johannsen/BE und in der Arbeitserziehungsanstalt Pramont/VS eingeführt, in Einzelfällen dann zunehmend auch in weiteren Anstalten (z.B. Hindelbank/BE, Arbeitserziehungsanstalten) erfolgreich eingesetzt. Die Ausdehnung dieser Vollzugsform auf den Vollzug von Strafen bedeutet damit eine echte Innovation.
136
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
5.4.4
Einzelhaft
Einzelhaft bedeutet die «ununterbrochene Trennung von den anderen Gefangenen» (Art. 78 StGB). Das hat zur Folge, dass der Gefangene seine Arbeits-, Frei- und Ruhezeit in einer Einzelzelle verbringt. Davon ausgenommen ist allenfalls lediglich der tägliche Spaziergang von einer Stunde (Abschnitt 5.14.3). Möglich sind ferner Kontakte ausserhalb der Zelle mit Besuchern, Anwälten und anstaltsinternen Diensten, etwa dem Sozial- oder Gesundheitsdienst der Anstalt. Sofern sich der Gefangene in Einzelhaft ausserhalb seiner Zelle aufhält, sollten – akustische und optische – Kontakte zu anderen Gefangenen aber stets vermieden werden.
38
Voraussetzungen: Die Einzelhaft im Strafvollzug darf nur in drei Fällen angeordnet werden: bei Antritt der Strafe und zur Einleitung des Vollzugs, zum Schutze des Gefangenen selbst oder Dritter sowie als Disziplinarsanktion. Die Maximaldauer regelt das Bundesrecht bloss für die Einzelhaft bei Antritt der Strafe und zur Einleitung des Vollzugs: Diese darf die Dauer von einer Woche nicht überschreiten. Darüber hinaus soll diese Form der Einzelhaft aber auch nicht länger dauern, als dies für die Vorbereitung des Vollzugs tatsächlich erforderlich ist. Dazu können Abklärungen aller Art gehören, z.B. die Untersuchung des Gesundheitszustandes und die Festlegung medizinischer oder therapeutischer Massnahmen, ferner die Festlegung eines geeigneten Arbeitsplatzes und der künftigen Wohngruppe, weiterer Aspekte der individuellen Vollzugsplanung sowie die Einführung des Gefangenen in die für den Aufenthalt in der Anstalt massgeblichen Regeln. Wird Einzelhaft zum Schutze des Gefangenen oder Dritter angeordnet, dann darf diese so lange dauern, wie sie notwendig und verhältnismässig ist, um den erforderlichen Schutz zu gewährleisten. Dieser Fall kann dann eintreten, wenn ein Gefangener andere Gefangene oder Mitarbeitende bedroht, wenn er selbst von anderen Gefangenen bedroht wird oder sich bedroht fühlt oder psychisch dem Alltag im Anstaltskollektiv nicht gewachsen ist. Die Dauer der Einzelhaft als Disziplinarsanktion ist im Disziplinarrecht festzulegen (Abschnitt 5.12).
39
Anordnung, Vollzug: Zuständig für die Anordnung der Einzelhaft ist (anders als bei den vorgehend dargestellten Vollzugsformen) nach der Praxis aller Kantone die Anstaltsleitung. Ausnahmen sind möglich im Falle von Einzelhaft als Disziplinarsanktion oder bei akuter Selbst- bzw. Fremdgefährdung. In diesen Fällen ist die Anstaltsleitung unverzüglich über die Anordnung der Einzelhaft zu informieren. Die Einzelhaft kann
40
137
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
in der Zelle des Gefangenen vollzogen werden oder (zur Gewährleistung einer konsequenten Isolation oder zum Schutze des Gefangenen) in einer speziellen Einzelzelle oder (bei Disziplinarsanktionen) in einer Arrest-Zelle (Abschnitt 5.12). 41
Früheres Recht: Anders als im StGB vor der Revision von 2002 ist die Einzelhaft bewusst nicht mehr als erste, obligatorische Vollzugsstufe ausgestaltet. Das StGB von 1937 hatte sogar noch vorgeschrieben, dass die Einzelhaft im Regelfall obligatorisch durchwegs für drei Monate anzuordnen sei. Eine zurückhaltende, am Grundsatz der Verhältnismässigkeit orientierte Anwendung der Einzelhaft – deren unerwünschte Folgen auf die psychische und physische Gesundheit und das Sozialverhalten Gefangener empirisch nachgewiesen sind – ist eine Konsequenz der in Art. 75 Abs. 1 StGB vorgegebenen Normalisierungs- und Entgegenwirkungsgrundsätze. Die nach geltendem Recht geforderte Zurückhaltung bei der Anwendung der Einzelhaft haben die Vollzugsbehörden allerdings bereits vor der Revision des StGB von 2002 weitgehend praktiziert: Die obligatorische Vorgabe, den Freiheitsentzug in einer ersten Phase in der Form der Einzelhaft durchzuführen, ist seit Jahrzehnten von den Vollzugsbehörden dadurch unterlaufen worden, dass diese Vollzugsstufe auf wenige Stunden oder gar bloss symbolische Minuten reduziert wurde. Diese Praxis hat sich namentlich in offen geführten Anstalten durchgesetzt, während grössere, geschlossen geführte Vollzugsanstalten die Einzelhaft z.T. durch eine sog. Aufnahmeabteilung (mit Gemeinschaftshaft) ersetzt haben.
42
Stellenwert: In der Vollzugspraxis hat sich die Vollzugsform der Einzelhaft als unverzichtbar erwiesen, darf aber nur ganz ausnahmsweise angeordnet werden. Da sie durch die Anstaltsdirektionen verfügt wird, ist die Anwendungspraxis von Anstalt zu Anstalt unterschiedlich. Dazu sind keine statistischen Angaben verfügbar – mit Ausnahme der als Disziplinarsanktion angeordneten Einzelhaft, welche normalerweise in den Jahresberichten der einzelnen Anstalten ausgewiesen wird (Abschnitt 5.12).
138
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
5.4.5
Halbgefangenschaft
In der Vollzugsform der Halbgefangenschaft setzt der Gefangene «seine Arbeit oder Ausbildung ausserhalb der Anstalt fort und verbringt die Ruhe- und Freizeit in der Anstalt» (Art. 77b StGB). Wie im Arbeitsexternat ist der Gefangene in Halbgefangenschaft für die Dauer der Ausübung einer Arbeitstätigkeit berechtigt, regelmässig das Anstaltsgelände zu verlassen. Anders als das Arbeitsexternat setzt die Halbgefangenschaft indessen nicht voraus, dass vorher ein Teil der Freiheitsstrafe im Normalvollzug verbüsst wurde. Halbgefangenschaften werden also für die gesamte Strafdauer angeordnet.
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Voraussetzungen: Die Halbgefangenschaft wird in den Art. 77b und 79 Abs. 1 StGB systematisch leider wenig übersichtlich geregelt: Art. 77b StGB liefert eine allgemeine Umschreibung der Halbgefangenschaft und hält fest, dass diese Vollzugsform nur anzuordnen ist, wenn keine Gefahr einer Flucht oder weiterer Straftaten vorliegt, während Art. 79 Abs. 1 StGB festlegt, dass die Halbgefangenschaft für Freiheitsstrafen, von welchen nach Anrechnung der Untersuchungshaft noch weniger als sechs Monate zu vollziehen sind, als Regel-Vollzugsform anzuordnen ist. Im Ergebnis bedeutet dies, dass gemäss richterlichem Urteil vollziehbare Freiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten sowie Freiheitsstrafen von sechs bis zwölf Monaten meist in der Form der Halbgefangenschaft zu erstehen sind. Von dieser Regel ist (z.G. des Normalvollzugs) abzuweichen, wenn die Gefahr von Fluchten oder weiteren Straftaten vorliegt.
44
Mit der Halbgefangenschaft verfolgt der Gesetzgeber einen anderen Zweck als mit dem Arbeitsexternat: Während der Gefangene im Arbeitsexternat einen ersten «Schritt in die Freiheit» im Arbeitsbereich vornimmt, um sich nach längerer Zeit im Normalvollzug vorerst hier an die Anforderungen des normalen Lebens zu gewöhnen (sich in die Arbeitswelt zu integrieren), ermöglicht die Halbgefangenschaft dem Verurteilten, seinen bisherigen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu behalten, verhindert also das Risiko einer Desintegration aus der Arbeitswelt.
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Anordnung: Halbgefangenschaften werden durch die zuständige Strafvollstreckungsbehörde verfügt und bedürfen formell keiner Zustimmung durch den Verurteilten. Die zuständige Behörde wird durch das kantonale Recht festgelegt und muss nicht identisch mit der
46
139
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Behörde sein, welche ein Arbeitsexternat und ein Wohn- und Arbeitsexternat verfügt. 47
Vollzug: Das Bundesrecht macht keine Vorgaben zu den in Halbgefangenschaft anzuwendenden Vollzugsbedingungen, geht aber davon aus, dass sich der Aufenthalt in der Anstalt im Grundsatz nicht vom Normalvollzug unterscheidet. Abweichend von diesem Grundsatz können Halbgefangene in der Anstalt normalerweise keine Besuche empfangen, haben aber erweiterte Urlaubsmöglichkeiten. Ferner verpflichten fast alle Kantone ihre Halbgefangenen, für Unterkunft und Verpflegung ein «Pensionsgeld» zu entrichten. Derartige Abweichungen sind der Sache nach sinnvoll, bedürfen aber einer kantonalen Rechtsgrundlage. Strafgefangene in Halbgefangenschaft haben sich wie solche im Arbeitsexternat mit einem «Pensionsgeld» von normalerweise (je nach Konkordat) Fr. 20 bis 40 pro Aufenthaltstag an den Vollzugskosten zu beteiligen. Eine Reduktion oder teilweise sogar ein Erlass des Kostenbeitrags ist jedoch möglich (z.B. bei gesetzlicher Unterhaltspflicht der eingewiesenen Person oder bei Ausübung strukturierter und betreuter Tätigkeit).
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Nach Art. 79 Abs. 3 StGB ist es zulässig, Halbgefangenschaften «auch in einer besonderen Abteilung eines Untersuchungsgefängnisses» zu vollziehen. Der Gesetzgeber geht also implizit davon aus, dass die Halbgefangenschaft normalerweise in einer besonderen Anstalt oder in einer Strafvollzugsanstalt vollzogen wird. Damit wird der Kreis der für den Vollzug der Halbgefangenschaft zulässigen Anstalten gegenüber dem bisherigen Recht erheblich erweitert. Traditionell wird diese Vollzugsform entweder in einer der ganz wenigen für den Vollzug der Halbgefangenschaft (z.T. in Verbindung mit dem Arbeitsexternat) spezialisierten Anstalten vollzogen, oder in einer Aussenstation einer Vollzugsanstalt oder – im häufigsten Fall – in überwiegend dem Vollzug der Untersuchungshaft dienenden Anstalten. Das weitgehend flächendeckende Netz dieser Anstalten stellt sicher, dass normalerweise alle Halbgefangenen ihren bisherigen Arbeitsort mit dem öffentlichen Verkehr und zumutbarem Zeitaufwand erreichen können (in der Praxis wird von maximal eine Stunde pro Arbeitsweg ausgegangen). Ausgenommen sind Arbeitsplätze, welche sich an sehr entlegenen Standorten befinden (etwa in abgelegenen Bergtälern). Um dieser Problematik jedenfalls z.T. gerecht zu werden, hat das Bundesgericht entschieden, dass für die Ermöglichung eines Freiheitsentzugs in Halbgefangenschaft ggf. auch eine Erwerbstätigkeit an einer neuen, in der Nähe einer Vollzugseinrichtung gelegenen Arbeitsstelle zulässig sei (BGE 99 Ib 45). 140
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Früheres Recht: Die Vollzugsform der Halbgefangenschaft hat mit der Revision des StGB von 2002 erhebliche Veränderungen erfahren. Früher war diese eine bundesrechtlich nicht zwingend vorgeschriebene, privilegierte Vollzugsform, welche ab 1972 für Strafen bis zu längstens drei Monaten reserviert war. Dieser Anwendungsbereich wurde später auf Strafen bis zu sechs Monaten und 1995 auf solche bis zu zwölf Monaten erweitert (Art. 397bis Abs. 1 Bst. f aStGB, Art. 4 aVStGB 1, Art. 1 aVStGB 3). Den Kantonen blieb aber freigestellt, ob sie diese Vollzugsform überhaupt einführen wollten und unter welchen Voraussetzungen die Vollzugsform im Einzelfall zu bewilligen sei (BGE 115 IV 131, 106 IV 197, 102 Ib 137). Seit der Revision des StGB von 2002 ist die Halbgefangenschaft von der «privilegierten Vollzugsform» zum verbindlichen «Regel-Vollzug» für Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten mutiert. Die Kantone sind somit verpflichtet, die Halbgefangenschaft flächendeckend anzubieten. Die Kantone sind überdies verpflichtet, diese Vollzugsform auch für Erwerbstätigkeiten zu ermöglichen, welche mit dem Tagesablauf in den Vollzugsanstalten nicht leicht in Einklang zu bringen sind (z.B. Nachtarbeit, unregelmässige Schichtarbeit, Arbeit auf Abruf etc.).
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Die seinerzeitige Einführung der Halbgefangenschaft stiess bei den Kantonen auf erheblichen Widerstand: Befürchtet wurde namentlich, dass Halbgefangene nach Arbeitsschluss in erheblichem Umfang nicht oder nicht rechtzeitig in die Anstalt zurückkehren würden, dass diese häufig in alkoholisiertem Zustand einrücken, unerlaubte Gegenstände (namentlich Alkohol und illegale Drogen) in die Anstalt einführen und so einen geordneten Anstaltsbetrieb in Frage stellen würden. Darüber hinaus herrschten Unsicherheiten in Bezug auf die Frage, ob und wie bei Freierwerbenden oder Arbeitnehmern mit unregelmässigen Arbeitszeiten kontrolliert werden kann, dass diese während der festgelegten Tageszeit tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Schliesslich wurden Probleme für die Zulassung von Verurteilten geltend gemacht, welche keiner «bürgerlichen» Erwerbstätigkeit (z.B. Strassenmusikanten, Prostituierte etc.), oder im grenznahen Ausland ihrem Erwerb nachgehen. Diese im Einzelfall tatsächlich auftretenden Probleme haben sich mittlerweile entweder als marginal oder als lösbar erwiesen. Im Verlaufe der Zeit hat sich auch die Berücksichtigung Arbeitsloser für die Vollzugsform der Halbgefangenschaft durchgesetzt, bei welchen allerdings eine Beschäftigung in einem Arbeitslosenprogramm oder eine andere feste Tagesstruktur vorausgesetzt wird.
50
Die fakultative Vollzugsform der Halbgefangenschaft wurde nach anfänglichem Zögern bis ins Jahr 1982 von allen Kantonen eingeführt,
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
später auch deren Erweiterung auf Strafen von bis zu zwölf Monaten. Und schon im Jahre 1983 wurde jede dritte unbedingte Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten in dieser Form vollzogen. Allerdings waren grosse Anwendungsunterschiede zwischen den Kantonen festzustellen: In einigen Kantonen wurde für sämtliche gerichtlich verfügten kurzen Freiheitsstrafen die Halbgefangenschaft bewilligt, in anderen Kantonen bloss in jedem zehnten Fall. 52
Kantonales Recht: Alle Kantone mit Ausnahme von Genf haben die Halbgefangenschaft auf Gesetzes- oder Verordnungsebene geregelt. Mit dem Inkrafttreten des StGB von 2002 sind die in wenigen Kantonen früher geltenden Einschränkungen zum Anwendungsbereich der Halbgefangenschaft entfallen (z.B. die Festlegung einer unteren Grenze von drei oder sieben Tagen sowie die in der Mehrzahl der Kantone festgelegte Obergrenze von sechs Monaten) sowie etliche Einschränkungen für die Anordnung dieser Vollzugsform.
52a
Richtlinien der Strafvollzugskonkordate: Mit Blick auf die Revision des StGB von 2002 haben die Konkordate in den Jahren 2005 bis 2006 ihre Richtlinien zur Halbgefangenschaft revidiert (RII 5.4). Die weitgehend identischen Richtlinien konkretisieren die Vorgaben des Bundesrechts und regeln das Verfahren bei der Anordnung und beim Abbruch der Vollzugsform.
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Stellenwert: Die Halbgefangenschaft ist bereits vor der Revision des StGB von 2002 zeitweilig zum Regel-Vollzug für kürzere Freiheitsstrafen geworden. Infolge der Einführung der gemeinnützigen Arbeit (Abschnitt 3.1) und des Electronic Monitoring (Abschnitt 5.4.8) hat die Halbgefangenschaft in quantitativer Hinsicht ihren Höhepunkt allerdings überschritten: Im Jahre 1984 erfolgten 37% aller Entlassungen aus Strafen von bis zu sechs Monaten aus der Halbgefangenschaft, 1990 waren es sogar 55%, 1996 40%, 2006 bloss noch 13% und 2013 sogar nur noch etwas mehr als 3%. Die Revision des StGB von 2002 hat einerseits den Anwendungsbereich der kürzeren Freiheitsstrafen eingeschränkt, andererseits aber die Halbgefangenschaft zum RegelVollzug für diese Strafen erhoben. Gemäss der Revision des StGB von 2015 werden neben der Verbüssung in Form der Halbgefangenschaft ebenfalls die gemeinnützige Arbeit und die elektronische Überwachung als weitere Formen für den Vollzug kurzer Freiheitsstrafen zur Verfügung stehen, wobei die Vollzugsform der Halbgefangenschaft weiterhin als Regelfall vorgesehen sein wird. Es ist aufgrund dieser anstehenden Gesetzesänderung zurzeit nicht absehbar, wie sich der Stellenwert der Halbgefangenschaft entwickeln wird. 142
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
5.4.6
Tageweiser Vollzug
In der Vollzugsform des tageweisen Vollzugs wird die Strafe «in mehrere Vollzugsabschnitte aufgeteilt, die auf Ruhe- oder Ferientage des Gefangenen fallen» (Art. 79 Abs. 2 StGB). Diese Vollzugsform ist ausschliesslich für Freiheitsstrafen von längstens vier Wochen zulässig. Der tageweise Vollzug stellt eine Abweichung vom – ungeschriebenen – Grundsatz im Vollzug einer Freiheitsstrafe dar, dass diese normalerweise ohne Unterbruch zu erstehen ist (eine zweite Ausnahme ist der Strafunterbruch; Abschnitt 4.3).
54
Voraussetzungen: Ausdrücklich verlangt das Bundesrecht lediglich, dass die zu erstehende Freiheitsstrafe nicht mehr als vier Wochen beträgt. In Analogie zur Halbgefangenschaft versteht es sich indessen von selbst, dass der tageweise Vollzug nur verfügt werden darf, wenn keine Gefahr einer Flucht oder weiterer Straftaten vorliegt. Der tageweise Vollzug verfolgt dasselbe Ziel wie die Halbgefangenschaft (die Vermeidung einer Desintegration aus der Arbeitswelt) und steht gewissermassen «in Konkurrenz» zu ihr. Deshalb setzt ihre Anordnung auch voraus, dass sie unter diesem Gesichtspunkt im konkreten Fall die geeignetere Vollzugsform darstellt.
55
Anordnung, Vollzug: Wie die Halbgefangenschaft wird der tageweise Vollzug durch die zuständige kantonale Strafvollstreckungsbehörde angeordnet, bedarf aber eines Gesuches des Verurteilten. Entsprechend kann der tageweise Vollzug entweder in einer besonderen Anstalt, in einer Strafvollzugsanstalt oder in einer besonderen Abteilung eines Untersuchungsgefängnisses (Art. 79 Abs. 3 StGB) erstanden werden. Während der Zeit der Inhaftierung untersteht der Gefangene grundsätzlich den Vollzugsbedingungen des Normalvollzugs, doch kann er normalerweise keinen Besuch empfangen und keine Urlaube beanspruchen. Strafgefangene im tageweisen Vollzug haben sich in der lateinischen Schweiz mit einem «Pensionsgeld» von Fr. 21 pro Aufenthaltstag an den Vollzugskosten zu beteiligen.
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Früheres Recht: Vor der Revision von 2002 war der tageweise Vollzug wie die Halbgefangenschaft ein privilegiertes Vollzugsregime, welches die Kantone nach eigenem Ermessen einführen und an eigene Voraussetzungen knüpfen konnten. Ferner war der tageweise Vollzug auf Freiheitsstrafen von bis zu zwei Wochen beschränkt (Art. 397bis Abs. 1 Bst. e aStGB, Art. 4 aVStGB 1). Bis Ende des 20. Jahrhunderts wurde diese Vollzugsform in 20 Kantonen tatsächlich eingeführt.
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143
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 58
Kantonales Recht: Beinahe alle Kantone verfügen über eine explizite Regelung des tageweisen Vollzugs auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe. Festgelegt werden meist der Vollzugsort (i.d.R. die Kurzstrafengefängnisse), die Anordnungsvoraussetzungen sowie die minimale Dauer eines Vollzugsabschnittes (meist 48 Stunden) sowie das Bewilligungsund Widerrufsverfahren.
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Stellenwert: In quantitativer Hinsicht ist der Anwendungsbereich des tageweisen Vollzugs äusserst bescheiden: Pro Jahr werden in der ganzen Schweiz weniger als 100 Vollzüge in dieser Vollzugsform verfügt. Obwohl der tageweise Vollzug auch nach der Ausdehnung auf Freiheitsstrafen von bis zu vier Wochen weiterhin eine marginale Vollzugsform bleiben wird, stellt er – unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Desintegration aus der Arbeitswelt – im Einzelfall dennoch eine überaus nützliche Alternative zur Halbgefangenschaft dar. Dies einerseits für Verurteilte, welche neben den Wochenenden lange Ferien oder mehrere zusammenhängende Freitage für eine tageweise Verbüssung der Freiheitsstrafe einsetzen können, andererseits für Verurteilte, bei welchen ein Vollzug in Halbgefangenschaft erhebliche praktische Probleme (unvorhersehbare oder zeitlich nicht planbare Arbeitseinsätze, allzu lange Arbeitswege etc.) nach sich ziehen würde.
5.4.7
Abweichende Vollzugsformen
60
Art. 80 StGB ermöglicht es, unter besonderen Voraussetzungen von den oben genannten Vollzugsformen abzuweichen. Dabei darf nicht bloss von einzelnen, für die verschiedenen Vollzugsformen verbindlichen Regeln abgewichen werden. Es ist ausnahmsweise sogar zulässig, Gefangene in einer vollzugsfremden «geeigneten Einrichtung» unterzubringen (Art. 80 Abs. 2 StGB), die Freiheitsstrafe also nicht in einer dafür spezialisierten Vollzugsanstalt zu vollstrecken.
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Voraussetzungen: Abweichende Vollzugsformen dürfen erstens ausschliesslich zu Gunsten von Gefangenen angeordnet werden, d.h. sie dürfen gegenüber den ordentlichen Vollzugsformen nicht beschwerende Auswirkungen auf die Gefangenen nach sich ziehen. Zweitens setzt eine solche Anordnung voraus, dass eine der nachstehenden drei Voraussetzungen erfüllt ist: Die abweichende Vollzugsform kann für die Zeit einer Schwangerschaft, einer Geburt oder unmittelbar nach der Geburt verfügt werden, ferner zur gemeinsamen Unterbringung einer Mutter mit ihrem Kleinkind (sofern dies auch im Interesse des Kindes
144
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
liegt) und schliesslich immer dann, wenn der Gesundheitszustand eines Gefangenen dies erfordert. Anordnung: Zuständig für die Anordnung einer abweichenden Vollzugsform ist die kantonale Strafvollstreckungsbehörde. Es wäre zulässig, Abweichungen, welche nicht eine Versetzung in eine «andere geeignete Einrichtung» nach sich ziehen, in der kantonalen Gesetzgebung abstrakt zu regeln und die Zuständigkeit für deren Anordnung an die betreffende Anstaltsleitung zu delegieren.
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Vollzug: Beim Vollzug in einer Vollzugseinrichtung sind – abgesehen von den ggf. verfügten Abweichungen – die allgemeinen Regeln der im konkreten Fall massgeblichen Vollzugsform anzuwenden. Wird die Strafe in einer «anderen geeigneten Einrichtung» vollstreckt, «so untersteht der Gefangene den Reglementen dieser Einrichtung, soweit die Vollzugsbehörde nichts anderes verfügt» (Art. 80 Abs. 2 StGB). Der Kreis der zulässigen «anderen geeigneten Einrichtungen» wird im Gesetzestext naturgemäss nicht konkretisiert. In Frage kommen grundsätzlich alle Institutionen, welche durchgehend als «Internate» geführt werden, namentlich Spitäler aller Art, Stationen für die medizinische Rehabilitation, Sozialheime, Altersheime und Frauenhäuser.
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Früheres Recht: Die Ermöglichung abweichender Vollzugsformen stellt eine – in dieser Form auch mit Blick auf unsere Nachbarstaaten – bedeutende Innovation der Revision des StGB von 2002 dar. In der Sache ist sie aber lediglich eine Kodifikation der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts. Dieses differenzierte bereits früher zwischen straferstehungsunfähigen Verurteilten, für welche eine Freiheitsstrafe aufzuschieben oder zu unterbrechen ist und hafterstehungsunfähigen Gefangenen. Als hafterstehungsunfähig gelten Gefangene, welche nicht in der Lage sind, in einer Vollzugsanstalt ihre Freiheitsstrafe zu erstehen, dies aber in einer anderen «Internats»-Einrichtung durchaus tun können. Für solche Gefangene ermöglichte das Bundesgericht einen Vollzug «in angepasster Form» in einer anderen Einrichtung (BGE 103 Ib 184, 106 IV 321). Die ersten Fälle eines Vollzugs in angepasster Form betrafen eine schwer krebskranke, aber nicht behandlungswillige Frau, welche ihre Freiheitsstrafe in einem geschlossenen Frauenkloster verbüsste, und einen Mann, der auf Inhaftierungen in einer Strafanstalt wiederholt mit schwersten Lähmungserscheinungen reagierte und seine Strafe in einer psychiatrischen Rehabilitationsstation erstand.
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145
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 65
Stellenwert: Abweichende Vollzugsformen werden auch künftig bloss in Ausnahmefällen verfügt werden (BGer-Urteil 6B_728/2008 vom 16. Januar 2009). Art. 80 StGB ermöglicht aber eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichts und damit die Chance, Freiheitsstrafen auch in besonderen Fällen doch zu vollstrecken und dabei spezialpräventiven Gesichtspunkten konsequenter zum Durchbruch zu verhelfen.
5.4.8
Electronic Monitoring
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Das Electronic Monitoring (elektronisch überwachter Hausarrest, EM) ist die jüngste im schweizerischen Strafvollzugsrecht verankerte Vollzugsform. Sie konnte in der Revision des StGB von 2002 noch nicht berücksichtigt werden. Das EM stützt sich auf eine Bewilligung, welche der Bundesrat (gemäss Art. 397bis aStGB) im Jahre 1999 den Kantonen BS, BL, BE, VD, GE und TI erteilt hatte und diese Vollzugsform als «Modellversuch» versuchsweise für die Dauer von drei Jahren einführte. Die Versuchsdauer ist vom Bundesrat verlängert und ab 2003 auch auf den Kanton Solothurn ausgedehnt worden. Weitere Verlängerungen der Bewilligungen hat der Bundesrat zunächst bis Ende 2007, dann bis Ende 2009 und schliesslich bis Ende 2015 verfügt. Mit Bundesratsbeschluss vom 2. September 2015 wurden die Bewilligung bis zu dem Tag, an dem die Regelung zum elektronisch überwachten Strafvollzug nach Art. 79b nStGB entsprechend der Revision des StGB von 2015 in Kraft treten wird, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2019 verlängert.
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Mit dem EM werden die desintegrierenden Konsequenzen der Freiheitsentziehung noch konsequenter vermieden als beim Einsatz aller bisher beschriebenen Vollzugsformen: Mit dem Arbeitsexternat, der Halbgefangenschaft und dem tageweisen Vollzug wird ja «bloss» eine Desintegration aus der normalen Arbeitswelt vermieden, während das Wohn- und Arbeitsexternat erst kurze Zeit vor einer bedingten oder definitiven Entlassung zum Zuge kommen kann. Demgegenüber kann mit der Vollzugsform des EM nicht bloss das bisherige Arbeitsumfeld, sondern auch das engere soziale Netz (Partnerschaft, Familie, übrige Sozialkontakte – soweit sich diese im häuslichen Rahmen abwickeln) weitgehend intakt bleiben (CLEMENÇON / RUMO WETTSTEIN 2006, 160 ff.).
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Voraussetzungen: Das Bundesrecht setzt die ausdrückliche Zustimmung des Verurteilten zur Anwendung dieser Vollzugsform voraus. Es beschränkt ihren Anwendungsbereich überdies entweder auf kürzere
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Freiheitsstrafen bis zu zwölf Monaten (sog. «front-door»-EM) oder auf die Periode von längstens zwölf Monaten unmittelbar vor einer bedingten Entlassung (sog. «back-door»-EM). Nicht anwendbar ist das EM auf teilbedingte Freiheitsstrafen (EII 3.1), auch wenn der unbedingt vollziehbare Teil der Freiheitsstrafe zwölf oder weniger Monate beträgt (BGer-Urteil 6B_582/2008 vom 5. November 2008). Weitere Voraussetzungen haben die erwähnten Kantone in eigenen Rechtsgrundlagen weitgehend einheitlich festgelegt – der Kanton BE z.B. in der Verordnung vom 26. Mai 1999 über den Vollzug von Freiheitsstrafen in der Form des Electronic Monitoring (EM-Verordnung; BSG 341.12). Danach setzt eine Bewilligung des EM namentlich voraus, dass der Verurteilte weder als flucht- noch als gemeingefährlich beurteilt wird und dass er eine geregelte Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung von mindestens 20 Wochenstunden nachweist. Anordnung: Zuständig für die Anordnung des EM ist die kantonale Vollstreckungsbehörde.
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Vollzug: Im EM wird die Freiheitsstrafe nicht in einer Vollzugsanstalt, sondern als «Hausarrest» in der Wohnung des Verurteilten vollstreckt. Diese Vollzugsform wurde übrigens in einigen Kantonen bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert angewendet und kann bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgt werden (WEBER 2004, 11). Die Anwesenheit des Verurteilten in seiner Wohnung wird elektronisch wie folgt überwacht: Am Fuss- (oder Arm-)gelenk des Verurteilten wird ein Sender in der Grösse einer Zigarettenschachtel angebracht, welcher sich nicht entfernen lässt. Die Signale des Senders gehen auf einen Empfänger, der am Telefonanschluss in der Wohnung des Verurteilten fest installiert ist. Über die Telefonleitung prüft ein Zentralcomputer in kurzen Abständen, ob die Signale des Senders durch den Empfänger registriert werden können. An diesen Zentralcomputer sind alle am EM beteiligten Kantone angeschlossen; er wird von einer Privatfirma (Securitas/Securiton) betrieben. Wird kein Sendesignal empfangen, dann stellt der Zentralcomputer fest, dass der Träger des Senders die Wohnung verlassen hat. Sofern eine registrierte Abwesenheit nicht im vorgängig individuell festgelegten «Tagesprogramm» vorgesehen ist, meldet der Zentralcomputer die Abwesenheit der Einsatzleitung vor Ort. Auf die Datenerfassung durch den Zentralcomputer darf normalerweise abgestellt werden (BGer-Urteil 6B_605/2008 vom 10. November 2008). Im erwähnten Tagesprogramm werden die für die Berufsausübung, den täglichen Einkauf und ausdrücklich bewilligte andere wohnungsexterne Aktivitäten (Therapien, Erziehungs- oder Schulungsprogramme, Sportaktivitäten etc.) erforderlichen Zeitfenster präzise
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
festgelegt und einprogrammiert. In Analogie zum Urlaub aus der Vollzugsanstalt hat der Verurteilte im EM überdies die Erlaubnis, über festgelegte Zeitperioden ausserhalb der Wohnung frei zu verfügen: In den ersten acht Wochen des EM-Vollzugs sind dies je vier Stunden samstags und sonntags, in den folgenden je acht Wochen jeweils sechs bzw. acht Stunden und ab der 33. Woche wird ein «Urlaub» von Freitag 17.00 Uhr bis Montag 08.00 Uhr bewilligt. Die EM-Überwachung sichert somit eine lückenlose Anwesenheitskontrolle. Während entsprechend der Bewilligung des Bundesrats bis Ende 2015 ein unbewilligtes Verlassen der Wohnung nicht zu verhindern und keine Erfassung des Aufenthaltsortes möglich war, wird die Revision des StGB von 2015 den Einsatz von satellitengestützten Überwachungselementen (so genanntes GPS) grundsätzlich erlauben. Im Hinblick auf diese Erneuerung im Sanktionenrecht hat der Bundesrat den Kantonen mit elektronischer Überwachung bereits mit der neuen Bewilligung ausdrücklich gestattet, per 1. Januar 2016 GPS einzusetzen. Schliesslich ist im EMVollzug wie im Vollzug in anderen Vollzugsformen eine vorzeitige bedingte Entlassung möglich; von seltenen Ausnahmen abgesehen werden Verurteilte im EM-Vollzug normalerweise nach zwei Dritteln der Strafverbüssung bedingt entlassen. 71
Für den EM-Vollzug wird vom Verurteilten ein Vollzugskostenbeitrag von Fr. 20 pro Vollzugstag erhoben. Zusätzlich haben die Verurteilten die durch die elektronische Überwachung entstehenden Telefongebühren zu tragen (im Kanton Bern rund Fr. 50 pro Monat oder bei Mobiltechnologie Fr. 2 pro Tag). Der Vollzugskostenbeitrag kann erlassen werden, was im Kanton Bern in fast der Hälfte der Fälle erfolgte. Die Kantone haben die Bewährungshilfen mit der Vollziehung des EM beauftragt, ausgenommen die Kantone Genf und Tessin, wo die Vollstreckungsbehörde dafür verantwortlich ist.
72
Stellenwert: Während der bisherigen Versuchsdauer (1999–2014) hat sich das EM in der «front-door»-Variante stärker entwickelt als erwartet, während EM «back-door» nur vereinzelt eingesetzt wurde. In allen sechs Kantonen wurden in dieser Periode mehr als 5’000 EMVollzüge durchgeführt. In den Jahren 2013 bis 2014 wurden mehr als die Hälfte der EM-Vollzüge für eine Strafdauer von weniger als drei Monaten angeordnet, wobei der Median genau bei 90 Tagen lag. In rund 7% der Fälle musste der EM-Vollzug – normalerweise nach einer vorgängigen Verwarnung – abgebrochen werden (Verletzung der Vollzugsregeln, neue Straftaten, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Kündigung der Telefonverbindung). Auf die «back-door»-Variante entfielen 2013 und 2014 gesamtschweizerisch bloss 44 EM-Vollzüge 148
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
(9%). Die Evaluationsergebnisse der teilnehmenden Kantone ergaben, dass die Kosten für den EM-Vollzug rund Fr. 55 pro Vollzugstag betragen (inkl. Investitionen Fr. 78, nach Abzug des Kostenbeitrags durch den Verurteilten). EM ist damit unwesentlich günstiger als die gemeinnützige Arbeit (rund Fr. 68), aber deutlich kostengünstiger als die Halbgefangenschaft (rund Fr. 128) und der Normalvollzug (ca. Fr. 215). Wird berücksichtigt, dass beim EM von Dritten erbrachte Leistungen kostenmässig nicht berücksichtigt sind (z.B. die Leistungen einer Suchtberatungsstelle), dann kann für den Vollzug des EM und einer gemeinnützigen Arbeit insgesamt von vergleichbaren Aufwendungen ausgegangen werden. Die Anordnung des EM erfolgte im Wesentlichen zu Lasten der Halbgefangenschaft, welche in den drei ersten EM-Jahren im Kanton Bern um 85% und im Kanton BaselLandschaft um 73% zurückgegangen ist. Eine Verdrängung des Normalvollzugs durch die Einführung des EM konnte dagegen nicht beobachtet werden (vgl. für detailliertere Angaben die Evaluationsberichte; LII 5.4). Die Zahl der Anordnungen von EM ist bis 2006 kontinuierlich angestiegen: von 66 Fällen im Jahre 1999 auf 549 Fälle im Jahre 2006; seit diesem Höchstwert wurde wiederum eine Abnahme beobachtet (2014: 203 EM-Vollzüge), was mit dem Rückgang der angeordneten kurzen Freiheitsstrafen aufgrund der 2007 in Kraft getretenen Revision des Sanktionenrechts begründet sein könnte. Die Vollzugsform des EM wird entsprechend der Revision des StGB von 2015 ins ordentliche Bundesrecht überführt und in Art. 79b nStGB als eine eigenständige Vollzugsform vorgesehen, die dann in allen Kantonen zur Anwendung kommt.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.4.9
Versuchsweise Einführung neuer Vollzugsformen
74
Der Bundesrat ist nach Art. 387 Abs. 4 Bst. a StGB befugt, versuchsweise und auf beschränkte Zeit neue Vollzugsformen einzuführen (und den Anwendungsbereich geltender Vollzugsformen zu ändern oder sogar neue Sanktionen einzuführen). Dieser «Experimentierartikel» ermöglicht die Erprobung neuer Vollzugsformen, ohne dass vorher ein langwieriges Gesetzgebungsverfahren eingeleitet werden muss. Damit erhält die Exekutive des Bundes eine sehr weitreichende Zuständigkeit, die in anderen Rechtsordnungen unbekannt ist.
75
Aufgrund dieser Zuständigkeit sind seinerzeit die Vollzugsformen der «gemeinnützigen Arbeit» (seit der Revision des StGB von 2002 eine eigenständige Sanktion, gemäss der Revision des StGB von 2015 jedoch wieder als eine Vollzugsform) und des «Electronic Monitoring» (entsprechend der Revision des StGB von 2015 als neue bundesrechtliche Vollzugsform konzipiert) versuchsweise eingeführt worden. Die Erprobung neuer Vollzugsformen kann als «Modellversuch» vom Bund überdies mit erheblichen finanziellen Zuschüssen gefördert werden, wie dies übrigens bei der Erprobung der «gemeinnützigen Arbeit» und des «Electronic Monitoring» der Fall war (BG über die Leistungen des Bundes für den Straf- und Massnahmenvollzug vom 5. Oktober 1984 und die dazugehörige Bundesrats-VO vom 29. Oktober 1986).
76
Zu den versuchsweise zu erprobenden Vollzugsformen haben die Kantone Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Deren Gültigkeit setzt die Genehmigung des Bundes voraus (Art. 387 Abs. 5 StGB).
5.4.10
Vollzugsformen nach kantonalem Recht
77
Die beschränkte gesetzliche Regelung des Vollzugs von Freiheitsstrafen durch den Bund hat zur Folge, dass die Kantone über einen breiten Spielraum verfügen, um in ihrem eigenen Recht zusätzliche Vollzugsformen einzuführen. Davon haben etliche Kantone Gebrauch gemacht, die zusätzlichen Vollzugsformen aber fast immer bloss auf der Ebene von Anstaltsordnungen verankert.
78
Bereits in den 1970er-Jahren wurden in einigen Anstalten besondere Abteilungen für «Lang-» oder für «Kurzstrafige» sowie für Drogenabhängige bzw. für Verurteilte in einem Methadonprogramm eingeführt, da für diese Gefangenen besondere Betreuungsbedürfnisse erkannt wurden. Seit den 1980er-Jahren wurden – als Konsequenz erhöhter
150
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Sicherheitsbedürfnisse – in praktisch allen geschlossen geführten Anstalten spezielle Sicherheitsabteilungen eingerichtet, mit ganz wesentlich vom Normalvollzug abweichenden Einschränkungen für die betroffenen Gefangenen (DII 5.4.10). Etliche Anstalten führen ferner seit ein bis zwei Jahrzehnten besondere Abteilungen für Gefangene, welche aus psychischen oder teilweise auch physischen Gründen nicht in der Lage sind, ihre Strafe im Normalvollzug (oder einer anderen Vollzugsform) zu erstehen (z.B. die Anstalten Realta/GR, Hindelbank/BE und Thorberg/BE, wobei letztere ihre Therapieabteilung per Sommer 2016 schliessen wird). Die Anordnung einer solchen Vollzugsform liegt dann in der Zuständigkeit der Anstaltsdirektion, wenn die besondere Vollzugsform auf spezielle Betreuungsbedürfnisse reagiert, den Gefangenen also nicht zusätzlich beschwert. Sofern für die einweisende Vollzugsbehörde damit zusätzliche Kosten entstehen, muss deren Zustimmung eingeholt werden. Soll ein Gefangener seine Strafe dagegen in einer Sicherheitsabteilung verbüssen, ist in jedem Fall eine Verfügung der für den betreffenden Strafgefangenen zuständigen kantonalen Strafvollstreckungsbehörde erforderlich.
79
Es ist davon auszugehen, dass für besondere Vollzugsformen für Gefangene mit erhöhten Sicherheitsrisiken und für Gefangene mit erheblichen Schwierigkeiten, sich im Anstaltskollektiv zu integrieren, jedenfalls mittelfristig weiterhin ein dringendes Bedürfnis besteht. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass – im Zeitverlauf wechselnde – neue Bedürfnisse die Einführung zusätzlicher Vollzugsformen nach kantonalem Recht nach sich ziehen werden, in absehbarer Zukunft z.B. eine besondere Vollzugsform für «Senioren». Derartige Vollzugsdifferenzierungen, mit welchen verhältnismässig kurzfristig und flexibel auf Veränderungen in der Gefangenenpopulation reagiert werden kann, sind zu begrüssen. Allerdings ist zu fordern, dass diese Vollzugsformen – Voraussetzungen, Verfahren, Vollzugsbedingungen – im kantonalen Recht vergleichbar detailliert geregelt werden wie die bundesrechtlichen Vollzugsformen.
80
151
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
DII 5.4.10 Justizvollzugsanstalt Lenzburg/AG: Sicherheitstrakt «Der Betrieb von SITRAK I (Hochsicherheit) und SITRAK II (erhöhte Sicherheit) wird vom 16-köpfigen SITRAK-Team sichergestellt. […] Unverzichtbar für die tägliche Arbeit der beiden Sicherheitsabteilungen ist das Selbstverteidigungstraining, das weiterhin von einem ausgewiesenen Fachmann der Kantonspolizei Aargau gestaltet und durchgeführt wird. […] Die von einer externen Psychotherapeutin geleitete regelmässige Supervision stellt ein wichtiges Instrument bei der Bewältigung von belastenden Situationen dar. In SITRAK I und SITRAK II werden immer wieder Gefangene eingewiesen, die, salopp formuliert, niemand haben will und die, objektiv betrachtet, überall am falschen Platz sind. Für das Vollzugspersonal gilt es deshalb auch, gewisse Eingewiesene und ihre destruktiven, oft unerklärlichen Verhaltensweisen auszuhalten. Gefangene können nicht dazu gezwungen werden, sich auf das Beziehungsangebot des SITRAK-Teams einzulassen. Die Herausforderung in der Alltagsarbeit der Sicherheitsabteilungen besteht darin, dieses Angebot auch gegenüber unkooperativen Gefangenen aufrecht zu erhalten. […] SITRAK I In der Hochsicherheitsabteilung mit Einzelhaftregime soll das SITRAK-Team einerseits die Sicherheit gewährleisten und andererseits darauf hin arbeiten, im Verhalten der eingewiesenen Gefangenen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln einen Veränderungsprozess einzuleiten. Dieser soll es ermöglichen, die Gefangenen dereinst in den SITRAK II und später in den Normalvollzug integrieren zu können oder auf die Zeit nach ihrer Strafe vorzubereiten. Solche Perspektiven sind allerdings für manche der Gefangenen im SITRAK I unrealistisch. Bei den Eingewiesenen handelt es sich oft um gemeingefährliche Menschen mit massiven Persönlichkeitsstörungen und/oder weiteren psychischen Krankheitsbildern. Manche von ihnen haben wenig bis keine Hoffnung, irgendeinmal in ein offeneres Regime versetzt zu werden – von einer möglichen Entlassung ganz zu schweigen. Für das SITRAK-Team gilt es immer wieder aufs Neue, Wege zu finden, um mit diesen Menschen, die buchstäblich nichts zu verlieren haben, tragfähige Beziehungen aufzubauen. In den Jahren 2012/2013 wurden im SITRAK I total 17 Ein- und 18 Austritte verzeichnet. Davon konnten drei Gefangene in den Normalvollzug versetzt werden. Vier weitere wurden in den SITRAK II versetzt und sechs in andere Abteilungen mit erhöhter Sicherheit. Ein Gefangener wechselte in eine andere Hochsicherheitsabteilung und einer in die Sicherheitsabteilung einer psychiatrischen Klinik. Drei Gefangene wurden schliesslich direkt aus dem SITRAK I ausgeschafft. […] Die Arbeitspflicht der Gefangenen und somit die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun, ist ein wichtiger Faktor für die Gewährleistung einer klaren, der Normalität angenäherten Tagesstruktur im SITRAK I […].
152
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
SITRAK II Der SITRAK II im Zentralgefängnis gewährleistet als Zwischenstufe zwischen SITRAK I und Normalvollzug eine sichere Unterbringung im Kleingruppenvollzug. Die Abteilung dient der Unterbringung von Gefangenen, die nicht (mehr) primär eine Gefahr für Mitgefangene und Vollzugspersonal darstellen, aber dazu neigen könnten, den Normalvollzug erheblich zu stören. Auch Neueintretende, deren Gefährlichkeit noch nicht abgeschätzt werden kann, können im SITRAK II platziert werden. Dass der SITRAK II einem echten Bedürfnis entspricht, zeigt sich in der konstant hohen Belegung in der Berichtsperiode. […] In den Jahren 2012/2013 traten total 31 Gefangene in den SITRAK II ein. Die Zahl der Austritte lag bei 30. Davon wurden 15 Gefangene in den Normalvollzug versetzt. Vier weitere wurden in andere Abteilungen mit erhöhter Sicherheit verlegt und einer in ein Massnahmenzentrum. Zwei weitere Gefangene mussten in den SITRAK I verlegt werden und deren vier wurden ab dem SITRAK II ausgeschafft. Vier Personen konnten aus dem SITRAK II in die Freiheit entlassen werden. Die Vollzugsangestellten des SITRAK II tragen im Zentralgefängnis auch die Verantwortung für die Betreuung der Arrestabteilung und der Kriseninterventionszellen. Diese Aufgaben verlangen grosse Flexibilität und stellen hohe Anforderungen an die psychische und körperliche Präsenz, ist das Team doch oft mit Gefangenen in psychischen Ausnahmesituationen konfrontiert. Die teils sehr prekäre Platzsituation im Zentralgefängnis (Überbelegung) verschärfte diese Problematik vermutlich zusätzlich. Im Zusammenhang mit den Verlegungen von Gefangenen in Arrest- oder Kriseninterventionszellen ist von Seiten des SITRAKTeams oft sehr grosses Fingerspitzengefühl vonnöten, um Eskalationen zu verhindern.» Quelle JUSTIZVOLLZUGSANSTALT LENZBURG: Jahrbuch 2012/2013. Lenzburg 2014, 57–61.
5.5
Planung und Individualisierung des Vollzugs
Mit den oben dargestellten Vollzugsformen werden die für die Gefangenen massgeblichen Vollzugsbedingungen gewissermassen standardisiert. Das bedeutet indessen nicht, dass für in einer bestimmten Vollzugsform stehende Gefangene identische Vollzugsbedingungen zur Anwendung kommen: Innerhalb der einzelnen Vollzugsformen ist der Vollzug aufgrund einer einzelfallbezogen zu erstellenden Vollzugsplanung weiter zu individualisieren. Ein erster Schritt zu einem individualisierten Vollzug kann darin bestehen, dass Vollzugsformen nach kantonalem Recht nicht umfassend, sondern modular aufgebaut werden (mit individuell flexibel anzubietenden Modulen zu den Bereichen Wohnen, Arbeit/Ausbildung, Freizeit etc.).
153
81
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 82
Das StGB geht indessen bereits einen Schritt weiter: Seit der Revision des StGB von 2002 schreibt Art. 75 Abs. 3 StGB den Kantonen vor, in ihren Anstaltsordnungen die Erstellung eines individuellen Vollzugsplanes vorzusehen, der gemeinsam mit dem Gefangenen auszuarbeiten ist. «Dieser enthält namentlich Angaben über die angebotene Betreuung, die Arbeits- sowie die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die Wiedergutmachung, die Beziehungen zur Aussenwelt und die Vorbereitung der Entlassung.» In der Praxis haben die meisten Vollzugsanstalten individuelle Vollzugspläne bereits vor der Revision des StGB von 2002 eingeführt; das Instrument der Vollzugsplanung ist in den weitaus meisten Kantonen auch bereits auf Gesetzes- oder Verordnungsebene verankert worden. Über die bundesrechtlichen Vorgaben hinaus geht der Kanton Zürich, der die anstaltsinterne Vollzugsplanung unter dem Stichwort «Vollzugskoordination» mit der Strafvollstreckung verknüpft (DII 5.5a).
82a
Die drei Strafvollzugskonkordate enthalten in den Vereinbarungen selbst summarische Bestimmungen zur Vollzugsplanung (Art. 16 Konkordat Nordwest- und Innerschweiz; Art. 10 und 11 Konkordat Ostschweiz; Art. 18 Konkordat lateinische Schweiz) und konkretisieren diese in speziellen Richtlinien. Die konkordatlichen Richtlinien sind indessen nicht einheitlich ausgefallen. Gemeinsam gilt für alle drei Konkordate, dass die Gesamtplanung des Vollzugs Sache der Vollzugsbehörde ist (was das Bundesrecht nicht ausdrücklich erwähnt, in der Sache aber voraussetzt), während das Instrument des Vollzugsplans durch die jeweilige Anstaltsleitung erstellt wird. Einheitlich wird auch festgelegt, dass ein ausführlicher Vollzugsplan nur zu erstellen ist, wenn der voraussichtliche Aufenthalt des Strafgefangenen mindestens bzw. mehr als sechs Monate dauert. Andernfalls beschränkt sich der Vollzugsplan im Wesentlichen auf die Planung des Austritts. In allen drei Konkordaten ist fakultativ auch der Einbezug Dritter (Vormund, Bewährungshilfe, etc.) in den Prozess der Vollzugsplanung vorgesehen. Ferner soll der Vollzugsplan regelmässig überprüft und aktualisiert werden (mindestens jährlich). Vgl. dazu für die Kantone der Nordwestund Innerschweiz und jene der Ostschweiz die Richtlinien für die Vollzugsplanung vom 22. April 2005 bzw. 7. April 2006, für jene der lateinischen Schweiz die Empfehlung Nr. 2 über die Bedingungen und die Modalitäten des Vollzugsplans für Strafen und Massnahmen im ordentlichen und im vorzeitigen Vollzug vom 25. September 2008.
83
Eine besondere Beachtung verdient auch die bundesrechtliche Vorgabe, dass im Vollzugsplan auch Massnahmen zur Wiedergutmachung des
154
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
DII 5.5a Vollzugskoordination und ihre Teilbereiche Vollzugskoordination (gesamter Vollzug)
Vollzugsplanung (vorwiegend interne Bereiche)
Vollzugsstufenplanung (Aussenkontakte, Reintegration)
Regelungsgegenstand Sicherstellung, Koordination und Vernetzung der einzelnen Aufgaben-, Planungs- und Entscheidungsbereiche für den gesamten Vollzug Unterbringung/Betreuung, Beschäftigung/Qualifikation, Aus- und Weiterbildung, Vergünstigungen, Erreichung Vollzugsziele, Wiedergutmachung, Entlassungsvorbereitung Vollzugslockerungen (Urlaubsgewährung, Versetzungen, Gewährung des Arbeitsexternates), Vorzeitige Entlassung Bewährungshilfe (inkl. Weisungskontrolle) Therapieinhalt, -ausrichtung und Therapieziele
Zuständig bzw. Lead Vollzugsbehörde
Vollzugseinrichtung
Vollzugseinrichtung und Vollzugsbehörde
Vollzugsbehörde und Bewährungshilfe Therapeut/Therapeutin
Therapieplanung (Behandlung) Quelle FUNK Florian: Vollzugskoordination – ein neuer Begriff. Einheitliche Planung von Strafantritt bis Bewährungshilfe. Vortrag gehalten an der Fachtagung der Schweizerischen Bewährungshilfe (ASP/SVB) in Kooperation mit dem Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal (SAZ). «Entwicklung der Praxis im Rahmen des neues StGB». 7./8. November 2005. Freiburg i.Ü. (mit terminologischen und redaktionellen Anpassungen).
durch die Straftat bewirkten Schadens aufgenommen werden sollen. Diese Aufgabe ist in der schweizerischen Vollzugspraxis bislang überaus stiefmütterlich wahrgenommen worden. Bloss in einer Minderheit der Kantone verweisen Gesetzes- oder Verordnungsbestimmungen auf diese Aufgabe, meist im Zusammenhang mit der Vollzugsplanung oder dem Arbeitsentgelt. Eigentliche Pionierleistungen erbringt in diesem Bereich seit mehr als einem Jahrzehnt die Strafanstalt Saxerriet/SG. Vielversprechend erschien auch ein um die Jahrtausendwende im Kanton Bern zur Tataufbereitung und Wiedergutmachung («TaWi») durchgeführter Modellversuch, der mangels Ressourcen leider nicht weitergeführt werden konnte. Erwähnenswert sind ferner einige isolierte Ansätze in einzelnen Anstalten, z.B. ein Programm zur finanziellen Wiedergutmachung in der Anstalt Bellechasse/FR (DII 5.5b).
155
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
DII 5.5b Massnahmen zur Wiedergutmachung im Strafvollzug Strafanstalt Saxerriet/SG Bereits in den 1990er-Jahren – d.h. lange vor der Aufnahme der Wiedergutmachung in die Vollzugsplanung gemäss StGB – hat die Strafanstalt Saxerriet die Tataufbereitung und Wiedergutmachung obligatorisch eingeführt. Das Wiedergutmachungsprogramm umfasst folgende Aufgaben: Materielle Wiedergutmachung (1) Schuldensanierung: Unterstützt durch Sozialarbeiter, Opferhilfe und Schuldenberater (2) Einsatz von 10% des Arbeitsentgelts für Wiedergutmachung: Je nach verursachtem Schaden Verwendung für Opferentschädigung, Schuldentilgung oder Unterstützung einer gemeinnützigen Organisation (3) Unentgeltliche Arbeit Immaterielle Wiedergutmachung Gespräche mit Wiedergutmachungsberatern, wobei es sich um Mitarbeitende der Betreuung oder Beschäftigung handelt, was ein optimales Gesprächsklima auf Vertrauensbasis sicherstellen soll (3-4 x pro Jahr): (1) Deliktbearbeitung: Konfrontation mit dem Delikt und dessen Folgen (2) Perspektivenwandel: Förderung von Opferempathie und Einsicht in das Unrecht der Tat Quelle SPINDLER Charlotte: Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Wiedergutmachung in der Strafanstalt Saxerriet. In: Info bulletin – bulletin info 1/2011, 12–15. Modellversuch zur Tataufbereitung und Wiedergutmachung («TaWi») im Kanton Bern «Das Berner TaWi-Modell bietet Straftäterinnen und Straftätern im Straf- und (in angepasster Form) im Massnahmenvollzug sowie Betreuten der Bewährungshilfe ein professionelles Angebot, auf kognitiver und emotionaler Ebene ihre Taten und die damit bei den Opfern verursachten Folgen aufzuarbeiten und dafür aktiv die Verantwortung zu übernehmen. Dieses Angebot ist freiwillig, d.h. weder mit negativen (Bestrafung) noch positiven (Belohnung) Anreizen verbunden. Sofern von den Opfern erwünscht, können – unter strikter Wahrung des Respekts gegenüber Opfer wie auch Täter bzw. Täterin – eine Mediation und Wiedergutmachungsleistungen angestrebt werden. Allenfalls sind substitutive Formen von Wiedergutmachung möglich (z.B. Spende an Hilfsorganisation). Auch Opfer können – in der Regel via Opferhilfe – eine Aussprache oder Aussöhnung mit den Täterinnen bzw. Tätern einleiten. Kontaktaufnahmen zu Opfern wie auch Mediationen werden immer von neutralen Fachpersonen durchgeführt. Die im Modellversuch mitwirkenden Institutionen und Fachstellen waren direkt an der praktischen Ausgestaltung der Umsetzungsphase beteiligt: Anstalten Thorberg, Witzwil und Hindelbank, Massnahmenzentrum St. Johannsen, Abteilung Bewährungshilfe und alternativer Strafvollzug, Integrierter forensisch-psychiatrischer Dienst, Gefängnisseelsorge und die kantonale Opferhilfe. 70 Mitarbeitende
156
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug wurden in einer 6-tägigen Ausbildung auf die TaWi-Aufgaben vorbereitet, darunter 16 externe Fachleute, welche mit den Vollzugsmitarbeitenden für die Tataufbereitung, insbesondere aber für die Kontaktaufnahme zu Opfern und für Mediationsleitung eingesetzt wurden ... Von den 678 Klientinnen und Klienten, die als Entscheidungsgrundlage persönlich über das TaWi-Angebot informiert worden waren, entschieden sich 74 (11%) für eine Teilnahme. Davon brachen 20 den begonnenen TaWi-Prozess von sich aus ab. In 18 Fällen führte der Austritt aus dem Vollzug oder eine Versetzung in eine ausserkantonale Institution zum Abbruch. 10 TaWi-Prozesse wurden infolge therapeutischer Indikation oder Sprachproblemen abgebrochen oder aussenstehenden Fachdiensten übertragen. 16 TaWi-Prozesse konnten abgeschlossen werden, wovon 4 zu einer Mediation führten. 10 TaWi-Prozesse waren bei Abschluss der Umsetzungsphase noch im Gange.» Quelle AMT FÜR FREIHEITSENTZUG UND BETREUUNG: Kurzinformation über den Modellversuch «Tataufbereitung und Wiedergutmachung (TaWi) – Berner Modell» 1999– 2003. Bern o. Jg. Ergänzende Dokumentation AMT FÜR FREIHEITSENTZUG UND BETREUUNG: TaWi. Konzept für die Umsetzungs- und Implementierungsphase. Modellversuch 1999–2002. Bern 2000; ANDRIS Silvia: Rechtliche und tatsächliche Rahmenbedingungen des Täter-Opfer-Ausgleichs in Haft Ein Beitrag zur Umsetzung des Täter-Opfer-Ausgleichs im baden-württembergischen Strafvollzug. DBH-Materialien Heft 72. Köln 2014; OSWALD Margit E. / BÜTIKOFER Andrea: Wissenschaftliche Evaluation des Modellversuchs «Tataufbereitung und Wiedergutmachung (TaWi) – Berner Modell» Umsetzungsphase. Schlussbericht. Bern 2003; GABRIEL Ute / MÜLLER Sonja / OSWALD Margit E.: Wiedergutmachung im Strafvollzug: Die Sicht der Inhaftierten. In: MSchrKrim 2/2002, 141–151; KASPAR Johannes / MAYER Stefanie: Täter-Opfer-Ausgleich im Strafvollzug – Grundlagen und praktische Erfahrungen aus Modellprojekten. In: Forum Strafvollzug 4/2015, 261–266.
157
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.6
Zusammenfassend: Die Differenzierung des Vollzugs der Freiheitsstrafe
DII 5.6 Differenzierung des Vollzugs der Freiheitsstrafe Differenzierungsebene Sanktion
Akteur
Kriterium
Zweck
Einführung
Gericht
Straftat
vor 1800
Anstalt
Vollzugs- Täterprofil behörde (und Straftat)
Vollzugsform
Vollzugsbehörde oder Anstalt Anstalt
Ausgleich des Verschuldens (und Kriminalprävention) Kriminalprävention (und Ausgleich des Verschuldens) Spezialprävention
Spezialprävention (insbes. positive)
Ende 20. Jahrhundert
Individualisierung
Täterprofil oder individueller Täter individueller Täter
Ende 19. Jahrhundert 2. Hälfte 20. Jahrhundert
84
Die in den Abschnitten 5.3 bis 5.5 dargestellten Differenzierungen des Vollzugs einer Freiheitsstrafe machen deutlich, dass das Konzept der Einheitsfreiheitsstrafe (Abschnitt 5.1) keineswegs zu homogenen Vollzugsbedingungen führen muss. Der strafrechtliche Freiheitsentzug kann für den Betroffenen somit – unabhängig von dessen Dauer – sehr unterschiedliche Beschwerungen nach sich ziehen und umgekehrt auch unterschiedliche Chancen eröffnen, wie dies etwa ein Vergleich zwischen den Vollzugsformen des Wohn- und Arbeitsexternates (wo der «Gefangene» durchgehend ausserhalb der Anstalt lebt) und der Vollzugsform des erhöhten Sicherungsvollzugs (wo der Gefangene rund um die Uhr in Einzelhaft gehalten wird und über eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten mit der Aussenwelt verfügt) illustriert.
85
Im Verlaufe des letzten Jahrhunderts ist der Vollzug der Freiheitsstrafe nicht bloss zunehmend differenziert ausgestaltet worden. Es haben zusätzlich Verschiebungen in der der Differenzierung zugrunde liegenden Logik stattgefunden (von tat- und verschuldensbezogenen zu spezialpräventiv motivierten Differenzierungen). Entsprechend hat sich die Zuständigkeit für die Vollzugsdifferenzierung verlagert (vom Gericht auf die Strafvollstreckungs- und Anstaltsbehörden) (DII 5.6).
158
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Diese Entwicklungen sind aus spezialpräventiver Sicht zu begrüssen. Sie haben allerdings zur Konsequenz, dass damit das schuldbezogene Mass der Freiheitsstrafe in der Vollzugsphase ein Stück weit «korrigiert» wird. Dies kann und muss unter zwei Voraussetzungen indessen hingenommen werden: Erstens sind die Vollzugsdifferenzierungen materiell- und verfahrensrechtlich so abzusichern, dass willkürliche oder diskriminierende Vollzugsdifferenzierungen ausgeschlossen werden können. Und zweitens muss gewährleistet werden, dass die Vollzugsdifferenzierungen tatsächlich nach spezialpräventiven Kriterien angeordnet werden und nicht zur blossen Disziplinierung der Gefangenen.
5.7
86
Materielle Haftbedingungen
Die materiellen Haftbedingungen (Unterbringung, Ausstattung des Haftraumes, Kleidung, Verpflegung) sind im Bundesrecht nicht ausdrücklich geregelt. Allerdings sind die allgemeinen Vollzugsgrundsätze (Art. 74 und 75 StGB; Abschnitt 5.2) auch auf die Ausgestaltung der materiellen Haftbedingungen anwendbar. Das kantonale Recht regelt diesen Bereich – von einigen Kantonen abgesehen – ebenfalls äusserst lückenhaft bzw. meist erst auf der Ebene der einzelnen Anstaltsordnungen. Entsprechend der allgemeinen Praxis sehen etliche kantonale Vorschriften im Normalfall namentlich die Einzelunterbringung der Gefangenen in einer Einerzelle vor. Wenige Zellen für zwei bis drei Gefangene stehen ergänzend für die Unterbringung psychisch schwer belasteter oder gar suizidgefährdeter Gefangener zur Verfügung – in einigen älteren Anstalten auch für den Normalvollzug. Zu Beginn dieses Jahrhunderts sind einige wenige Vollzugsanstalten bedauerlicherweise dazu übergegangen, mangels Vollzugskapazitäten Einzelzellen doppelt zu belegen (so z.B. in Teilen der Anstalt Pöschwies/ZH, wo auf den 1. Januar 2010 die Doppelbelegung allerdings wieder aufgehoben werden sollte, jedoch zumindest im Erweiterungsbau noch bis 2018 bestehen bleibt).
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Seit der Revision des StGB von 2002 ist für die materiellen Haftbedingungen vorab der Normalisierungsgrundsatz massgeblich. Dies hat das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung bereits vor längerer Zeit vorweggenommen, indem es festhielt, diesbezüglich sei auf den Massstab der «durchschnittlichen Lebensgewohnheiten» abzustellen (BGE 99 Ia 274; für Arreststrafen EuGRZ 1976, 307). Daraus ergeben sich namentlich Minimalanforderungen an Zellengrösse, Beleuchtung, Belüftung, Heizung, sanitarische Einrichtungen, Mobiliar und an den den Gefan-
88
159
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
genen zugebilligten Spielraum zur persönlichen Einrichtung ihrer Zelle. Darüber hinaus lassen sich aus dem Normalisierungsgrundsatz auch Anforderungen an die materielle Ausgestaltung der Arbeits- und Freizeiträume sowie an die Bekleidung und die Verpflegung der Gefangenen ableiten. Die Beurteilung der Grundrechtskonformität der materiellen Haftbedingungen erfordert allerdings stets eine Gesamtbeurteilung (BGE 123 I 221 E. II.1c) cc). 89
Für die Konkretisierung der Anforderungen an die materiellen Haftbedingungen spielt neben der spärlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts die Praxis des Bundesamtes für Justiz bei der Subventionierung von Anstaltsbauten eine erhebliche Rolle (Bundesgesetz vom 5. Oktober 1984 über die Leistungen des Bundes für den Straf- und Massnahmenvollzug [SR 341] und die dazugehörige Bundesratsverordnung vom 29. Oktober 1986 [SR 341.1]). In Bezug auf die Zellengrösse (Minimalgrösse einer Einzelzelle inkl. Nassbereich: 12 m2; 2er- und 3erZellen: 18 m2 bzw. 24 m2), Beleuchtung, Belüftung, Heizung und sanitarische Einrichtungen richtet sich das Bundesamt nach entsprechenden Normen im allgemeinen Wohnungsbau. Es ist unbestritten (aber nicht durchwegs so realisiert), dass die Zellen über genügend Tageslicht verfügen müssen, damit der Gefangene tagsüber ohne künstliche Belichtung lesen kann, dass ein nächtliches Ausschalten der Zellenbeleuchtung unzulässig ist (BGE 97 I 845), dass jede Zelle über fliessendes – aber nicht notwendigerweise auch warmes – Wasser verfügen muss, dass Zellen normalerweise natürlich zu belüften sind (oder andernfalls über eine ausreichende künstliche Belüftung verfügen), dass die Zellen auf eine normale Raumtemperatur zu beheizen sind und dass die Toiletten mit Wasserspülung ausgestattet sein müssen. Zudem müssen die Zellen jedenfalls mit einem Bett, einem Stuhl und einem Tisch oder Arbeitsplatz und einem Schrank oder Gestell eingerichtet sein (wobei eine Vorschrift, wonach das Bett tagsüber hinaufzuklappen sei, nicht zulässig ist; BGE 102 Ia 288). Darüber hinaus wird die Ausstattung der Zellen mit persönlichen Gegenständen (namentlich mit Wandschmuck) grosszügig gestattet (BGE 118 Ia 64 E. 3b bb; 106 Ia 287; 102 Ia 286 f.). In einigen Anstalten werden Kleintiere wie Kanarienvögel erlaubt, in den Anstalten Hindelbank/BE und Saxerriet/SG ist sogar die Haltung von Katzen unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen (wobei die Haltung von Tieren aus Sicherheits- oder Hygienegründen allerdings auch verboten werden kann; BGE 118 Ia 64). Auf internationaler Ebene zu erwähnen sind die Berichte des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafen (CPT), welche Empfehlungen zu den materiellen Haftbedingungen enthalten, auf welche sich 160
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
auch die Rechtsprechung des Europäische Gerichtshof für Menschenrecht beruft (z.B. zur Praxis des EGMR zur Überlegung von Hafteinrichtungen – Das Urteil Canali v. France [No. 40119/09]). Mit der Revision des StGB von 2002 ist die Ermächtigung des Bundesrates entfallen, ergänzende Vorschriften zur Anstaltsbekleidung und Anstaltskost aufzustellen – wovon der Bundesrat allerdings keinen Gebrauch gemacht hatte. Im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die «klassische» Anstaltsbekleidung (i.d.R. graue oder braune Jacke und Hose) durch eine «zivile» Bekleidung (Arbeitsbekleidung und Trainingsanzüge für die Freizeit) ersetzt worden. In den meisten Anstalten sind auch individuelle Bekleidungsstücke in der Freizeit zugelassen, einige haben – abgesehen von der Arbeitsbekleidung – Anstaltskleider vollständig abgeschafft. Auch diesbezüglich hat sich der Grundsatz der Normalisierung also weitgehend durchgesetzt.
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Dies gilt auch für die Verpflegung der Gefangenen, welche sich nach ernährungswissenschaftlichen Grundsätzen richtet und in vielen Anstalten durch externe Fachstellen periodisch überprüft wird. Aus ärztlichen Gründen indizierte Sonderkost (insbesondere für Diabetiker) wird ebenso angeboten wie vegetarische Verpflegung (BGE 118 Ia 64 E. 3h; 118 Ia 60 E. 3a). Generell durchgesetzt hat sich auch der Anspruch auf Sonderkost aus religiösen Gründen. Das Verpflegungsangebot umfasst – jedenfalls in grösseren Anstalten – somit neben der Standardverpflegung je nach Bedarf auch Menus, die den Essensvorschriften von Muslimen und Hindus entsprechen. In praktisch allen Anstalten wird andererseits an einem strikten Alkoholverbot festgehalten, was vom Bundesgericht ausdrücklich als zulässig beurteilt wurde (BGE 118 Ia 64 E. 3i).
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Die materiellen Haftbedingungen sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz erheblich verbessert worden. Unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Menschen- und Grundrechte sowie des Normalisierungsgrundsatzes sind diesbezüglich in den grossen Vollzugsanstalten kaum mehr Bedenken angebracht. In Bezug auf ältere, meist kleine regionale Gefängnisse, welche neben Freiheitsstrafen in erster Linie Untersuchungshaften vollziehen, kann dagegen noch keine durchwegs positive Bilanz gezogen werden. Dies illustriert der im März 1994 vom EJPD veröffentlichte «Bericht über die Folgearbeiten im Anschluss an den Besuch des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT)»: 2,2% der Einzelzellen in den besuchten Vollzugseinrichtungen weisen eine Grundfläche von weniger als 6 m2 auf (63 Zellen),
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
14,1% der Doppelzellen eine Grundfläche von weniger als 10 m2 (40 Zellen) und in 8,9% aller Zellen ist es nicht möglich, bei Tageslicht zu lesen (123 Zellen). In den darauf folgenden Jahren hat sich die Situation indes weiter verbessert, wobei bei einem erneuten Besuch des CPT im Jahre 2011 bezüglich der materiellen Haftbedingungen dennoch bemängelt wurde, dass Personen, welche die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen müssen, nicht in Zellen von weniger als 5 m2 untergebracht werden dürfen. Zudem müsse dafür gesorgt werden, dass die geltenden Bestimmungen über den täglichen Spaziergang von mindestens einer Stunde eingehalten werden. Es handelte sich jedoch um Einzelfälle. Auch das Bundesgericht hat Platzverhältnisse dann als unzureichend beurteilt, wenn in der Unterkunft pro Strafgefangener weniger als vier Quadratmeter zur Verfügung stehen (BGer-Urteile 1B_239/2015 und 1B_152/2015, beide vom 29. September 2015).
5.8
Arbeit
93
Seit der Entstehung der modernen Freiheitsstrafe ist mit ihr die Verpflichtung der Gefangenen zur Leistung von Arbeit unmittelbar verknüpft (ausgenommen die kurzlebige Einführung des «pennsylvanischen Strafvollzugssystems» Ende des 18. Jahrhunderts). Obwohl die Arbeitspflicht seit den Anfängen immer auch mit spezialpräventiven Motiven – wie der Resozialisierung, der Vermeidung von Haftschäden und der Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung (BGE 139 I 180 E. 1.8) – legitimiert wurde, überwogen in der Vollzugswirklichkeit auch in der Schweiz bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts doch repressivretributive Zielsetzungen (Zwangsarbeit) und wirtschaftliche Interessen (Bau von Strassen, Urbarmachung und Betrieb landwirtschaftlicher Domänen etc.; in der Anstalt Witzwil/BE z.B. auch die Betreibung einer Kehrichtdeponie für die Stadt Bern von 1914 bis 1954).
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Das geltende Bundesrecht hält – wie schon das StGB von 1937 (BGE 123 I 221 E. II. 3) – an der Arbeitspflicht der Gefangenen fest und unterstreicht die damit verfolgten spezialpräventiven Ziele mit der Festlegung, die Gefangenenarbeit habe «so weit als möglich seinen Fähigkeiten, seiner Ausbildung und seinen Neigungen zu entsprechen» (Art. 81 StGB Abs. 1; LII 5.8/5.9). Angesichts ihres spezialpräventiven Zwecks ist die Arbeitspflicht im Vollzug altersunabhängig und besteht auch nach Eintritt ins Pensionsalter weiter (BGE 139 I 180 E. 1.8). Der generelle Verzicht auf eine Verpflichtung der Strafgefangenen zur Arbeit, wie dies der Kanton Obwalden für kurze Freiheitsstrafen vorsieht, ist deshalb bundesrechtswidrig.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
LII 5.8/5.9 Literatur zur Gefangenenarbeit und Arbeitsentlohnung BAECHTOLD Andrea: Die Arbeitspflicht im Strafvollzug – ein Grundpfeiler der Freiheitsstrafe oder eine überkommene Ideologie? In: Gauthier Jean et al. (Hrsg.): Aktuelle Probleme der Kriminalitätsbekämpfung. Bern 1992, 379–392; BAECHTOLD Andrea: Der Verdienstanteil aus bundesrechtlicher Sicht. In: Der Strafvollzug in der Schweiz 2/1980, 84–86; BAECHTOLD Andrea: Gefangenenarbeit und Arbeitszwang – ein kriminalpolitisch funktionales Instrument? In: Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie 97. Baden-Baden 1997, 87–94; BUNDESAMT FÜR JUSTIZ (Hrsg.): Die finanzielle Entschädigung der Gefangenenarbeit. Eine Untersuchung des Bundesamtes für Justiz über die im Jahre 1976 den Strafgefangenen ausgerichteten Verdienstanteile. Bern 1981/1982; CORTHAY Claudiane / KUHN André: Offre de formation en prison: la misère. In: Plädoyer 3/2004, 54–58; HEIERLI Urs: Gefangenenarbeit, Entlöhnung und Sozialisation. Zürich 1973; HEISING Michael: Die Entlohnung der Gefangenenarbeit. Basel/Stuttgart 1968; HILLEBRAND Johannes: Organisation und Ausgestaltung der Gefangenenarbeit in Deutschland. Mönchengladbach 2009; LAMBIEL Isis: De la formation des détenus en milieu fermé: obstacles et solutions. In: Jusletter 15. September 2014; LOHMANN Hans Christian: Arbeit und Arbeitsentlohnung des Strafgefangenen. Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft. Bd. 5. Frankfurt a.M. 2002; RICHTER Marina / HOSTETTLER Ueli: Einführung Arbeitsagogik Anstalten Witzwil. Externe Evaluation. 1.9.2007–30.9.2010 – Schlussbericht. Freiburg i.Ü. 2010 (online www.pom.be.ch > Suche); SHEA Evelyne: Why work? A Study of Prison Labour in England, France and Germany. Berlin 2007; VAN ZYL SMIT Dirk / DÜNKEL Frieder (Hrsg.): Prison Labour: Salvation or Slavery? Dartmouth 1999.
Gegenüber der Rechtslage vor der Revision des StGB von 2002 sind drei Änderungen hervorzuheben: Erstens entfällt mit der Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe (Abschnitt 5.1) das frühere Privileg der Haftgefangenen, sich eine angemessene Arbeit selbst zu beschaffen (ein Privileg, welches in der Praxis ohnehin von geringer Bedeutung war). Zweitens wird die Beschäftigung eines Gefangenen bei einem privaten Arbeitgeber ausdrücklich von der Zustimmung des Gefangenen abhängig gemacht (Art. 81 Abs. 2 StGB), wodurch das Bundesrecht an das Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit vom 26. Juni 1930 (für die Schweiz in Kraft seit 23. Mai 1941!) angepasst wurde. Und drittens erhält die Aus- und Weiterbildung der Gefangenen den Status einer gleichwertigen Alternative zur Gefangenenarbeit (Art. 82 in Verbindung mit Art. 83 Abs. 3 StGB), womit die spezialpräventive Legitimation der Arbeitspflicht verdeutlicht wird. Vor diesem Hintergrund hat das Schweizerische Arbeiterinnen- und Arbeiterhilfswerk SAH Zentralschweiz von 2007 bis 2010 in sechs Vollzugsanstalten der deutschsprachigen Schweiz und von 2009 bis 2011 in zwei Anstalten der lateinischen Schweiz mit der grosszügigen finanziellen Unterstützung der Stiftung Doros das Pilotprojekt «Bildung im Strafvollzug»
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
(BiSt) durchgeführt. Die Hauptziele bestanden gemäss Projektbeschrieb in der Schaffung und Etablierung einer Fachstelle, der Ausarbeitung eines Lehrplans «Basisbildung» für die Anstalten und daraus resultierend der Erhöhung der Eingliederungschancen der Teilnehmenden nach der Haft. Nach der erfolgreich verlaufenen Pilotphase wurde das Schweizerische Arbeiterinnen- und Arbeiterhilfswerk SAH Zentralschweiz bzw. die ihm angegliederte Fachstelle «Bildung im Strafvollzug BiSt» von der KKJPD beauftragt, ab Januar 2011 im Regelbetrieb Basisbildung für Gefangene im Schweizer Justizvollzug anzubieten. Damit wurde auch eine öffentliche Finanzierung geschaffen. Im Jahr 2015 unterrichteten 37 Lehrerinnen und Lehrer in 28 Hafteinrichtungen der ganzen Schweiz Gefangene, die jeweils an einem halben Tag pro Woche an einer BiSt-Lerngruppe teilnahmen. Zudem unterstützten die BiSt-Lehrpersonen auch Lernende, die während der Gefangenschaft eine Teilqualifikation oder eine berufliche Ausbildung absolvierten (DII 5.8). Über dieses BiSt-Angebot hinaus stehen z.B. in der Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE auch weitere Bildungsangebote, die den Status von Alternativen zur Gefangenenarbeit haben, zur Verfügung: Informatikkurse, Deutsch für Fremdsprachige sowie Fernstudien aller Art, wofür i.d.R. vier Wochenarbeitsstunden zur Verfügung stehen. Ganz allgemein sind in jüngster Zeit die Bildungsangebote in den einzelnen Vollzugseinrichtungen erheblich erweitert worden. 96
In der Praxis erfolgt die Arbeitszuweisung im Rahmen der individuellen Vollzugsplanung sowohl unter Berücksichtigung der Neigungen und Fähigkeiten des Gefangenen wie auch der betrieblichen Notwendigkeiten. Letztere schliessen eine freie Wahl des Arbeitsplatzes durch den Gefangenen aus, doch kann sich dieser für einen alternativen Arbeitsplatz bewerben. In den grossen Vollzugsanstalten ist das Arbeitsangebot verhältnismässig breit: anstaltsinterne Arbeiten (Reinigungs-, Unterhaltsarbeiten, Küche, Bibliothek, Unterstützung von Betrieb und Verwaltung), Industriearbeiten (Serienarbeiten für Ungelernte), handwerklich-industrielle Werkstätten (z.B. Schreinerei, Metallwerkstätte, Agromechanik, Schneiderei, Weberei, Sattlerei, Druckerei, Buchbinderei, Töpferei, Glasbläserei), Landwirtschaft und Gärtnerei, z.T. auch «geschützte Werkstätten» (z.B. Arbeiten mit Papier, Stoff, Holz, Ton und Stein). Im industriellen Bereich besteht häufig eine enge und dauerhafte Zusammenarbeit mit externen Industriebetrieben.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
DII 5.8 «Bildung im Strafvollzug» (BiSt) Über BiSt: Was im Bildungswesen allgemein in der Schweiz nicht denkbar ist – ein einheitlicher Lehrplan und ein über Kantonsgrenzen hinweg einheitliches Bildungsangebot – ist im Strafvollzug heute eine Selbstverständlichkeit. Als Reaktion auf die Gleichstellung von Arbeit und Bildung im neuen StGB führte das Schweizerische Arbeiterinnen- und Arbeiterhilfswerk (SAH) Zentralschweiz mit grosszügiger finanzieller Unterstützung der Drosos Stiftung das Pilotprojekt Bildung im Strafvollzug (BiSt) durch. Nach einer vorgängigen Machbarkeitsstudie im Gefängnis Affoltern a.A./ZH startete das Projekt im Mai 2007 mit der Aufgabe, zuerst in sechs Anstalten der deutschsprachigen Schweiz bis Juni 2010 und ab 2009 bis 2011 in zwei Anstalten der lateinischen Schweiz, Angebote im Bereich der Basisbildung zu installieren und zu betreuen. Am Pilotprojekt teilgenommen haben das Gefängnis Affoltern a.A./ZH, die Etablissements de Bellechasse/FR, das Massnahmenzentrum Bitzi/SG, die Anstalten Hindelbank/BE, die Justizvollzugsanstalt Realta/GR, die Strafanstalt Schöngrün/SO, die Anstalten Thorberg/BE und das Prison de la Tuilière/VD. Das erfolgreiche Pilotprojekt wurde durch einen Beschluss der KKJPD, die das Projekt von Beginn weg wohlwollend begleitet hat, ab dem Jahr 2011 durch einen Leistungsvertrag mit dem SAH-Zentralschweiz in den Normalbetrieb überführt und neu durch die öffentliche Hand finanziert. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln können im Endausbau 155 Lerngruppen verteilt auf 28 Anstalten sowie eine Fachstelle finanziert werden. Der Ausbau der Bildungsplätze und der Einbezug neuer Anstalten erfolgt schrittweise. Bis Ende 2015 ist in den Konkordatsanstalten die Basisbildung für einen Drittel aller Inhaftierten zugänglich. Der Unterricht findet in kleinen Gruppen während eines halben Tages pro Woche statt und wird von einer ausgebildeten Lehrperson erteilt. Der Entscheid der KKJPD bezieht sich explizit auf die Bestimmungen des StGB, wonach «dem Gefangenen bei Eignung nach Möglichkeit Gelegenheit zu einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Aus- und Weiterbildung zu geben ist» (Art. 82 StGB) und auf die Aufgabe des Justizvollzugs, mit der Bildung die Chancen der Wiedereingliederung in Gesellschaft und Arbeitswelt zu erhöhen und die Rückfallquote zu senken. Laut dem Tätigkeitsbericht 2014 der Fachstelle BiSt haben seit Beginn im August 2007 bis Ende 2014 insgesamt 3’986 Inhaftierte das Angebot der Basisbildung absolviert. Insgesamt arbeiten 2015 37 Lehrerinnen und Lehrer in 28 Einrichtungen des Justizvollzugs. Angebot von BiSt: Die Basisbildung BiSt ist ein gesamtschweizerisches Programm der Grundbildung und ergänzt Kurs- und Berufsausbildungsangebote, die in den Anstalten der drei Strafvollzugskonkordate bestehen. BiSt wird durch eine Fachstelle anstaltsübergreifend und in der deutschsprachigen und lateinischen Schweiz (mit Ausnahmen des Kantons Tessin) koordiniert. Der BiSt-Unterricht und gemeinsame E-Lernprogramme basieren auf einem gemeinsamen Lehrplan. Ziele: Mit der Basisbildung soll ein Beitrag zur besseren Bewältigung des Anstaltsalltags sowie zur Erhöhung der Chancen bei der Wiedereingliederung in Arbeitswelt und Gesellschaft geleistet werden. Zielgruppe: Erwachsene Gefangene im Straf- und Massnahmenvollzug sowie im vorzeitigen Vollzug, die nicht über den Bildungsstand der Volksschule verfügen oder diesen verloren haben, sollen unabhängig von Alter, Herkunft, Sprache oder Verweildauer an den Angeboten von BiSt teilnehmen. Sie müssen aber grundsätzlich bildungsfähig sein und sich in Lerngemeinschaften einfügen wollen. Basisbildung: Vor allem sollen die Fähigkeiten im Rechnen, Lesen und Schreiben, aber auch im Sozialverhalten gefördert werden. Dazu kommen das Erlangen von Grundkennt-
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug nisse im Umgang mit dem Computer, acht Themen der Allgemeinbildung und – wo angebracht – die Unterstützung der Gefangenen bei beruflichen Ausbildungen und schulischen Teilqualifikationen. Die Inhalte orientieren sich an Alltagsthemen und Lebensfragen, welche die Gefangenen auf die Zeit nach ihrer Entlassung vorbereiten, z.B. die Stellenbewerbung, die Wohnungssuche, der Umgang mit Geld usw. Unterricht: Unterrichtet werden Gefangene wöchentlich während eines halben Tages während der Arbeitszeit. Der Unterricht erfolgt teils in Gruppen und teils entlang von individuellen Programmen. Lerngruppen umfassen im Normalvollzug sechs und im Massnahmenvollzug vier Gefangene und die Teilnahmedauer richtet sich nach individuell angepassten und vereinbarten Lernzielen. BiSt-Server: Zu Beginn des Pilotprojekts stellten die Justizvollzugsanstalten ihre eigene IT-Infrastruktur zur Verfügung. Schon bald führten jedoch die hohen Anforderungen an die Sicherheit und die Vorteile eines gemeinsamen Angebots zur Idee, einen zentralen Bildungs-Server zu realisieren. Seit Ende 2008 besteht das Angebot, den zentralen BiStServer bzw. die aufgeschalteten Lernprogramme im BiSt-Unterricht zu nutzen. Diese Infrastruktur wurde zusammen mit der Firma Bedag Informatik AG (Bern) aufgebaut. Fachstelle: Die Fachstelle BiSt mit sechs Mitarbeitenden (2015) ist dem SAHZentralschweiz mit Sitz in Luzern angegliedert. Sie ist Trägerin der Leistungsvereinbarung und damit verantwortlich für die Umsetzung der Basisbildung vor Ort, für die Evaluation und Entwicklung von Lehrmitteln, den Unterhalt des BiSt-Servers, die Qualitätssicherung des Unterrichts und die Weiterbildung der Lehrpersonen, die Öffentlichkeitsarbeit und die Zusammenarbeit mit den Anstalten und den Begleitorganen. Quellen: FACHSTELLE BIST: Tätigkeitsbericht der Fachstelle 2014 (deutsch-französisch). Luzern 2015; FACHSTELLE BIST: Bildung im Strafvollzug BiSt 2007 – 2011. Tätigkeitsbericht der Fachstelle BiSt. Luzern 2012; HOSTETTLER Ueli / KIRCHHOFER Roger / RICHTER Marina / YOUNG Christopher: Formation dans l’exécution des peines Fep. Projet-pilote, 1.7.2009– 30.6.2011. Fondation Drosos / OSEO Suisse central. Evaluation externe. Rapport final. Fribourg 2011; HOSTETTLER Ueli / KIRCHHOFER Roger / RICHTER Marina / YOUNG Christopher: Bildung im Strafvollzug BiSt. Pilotprojekt, 1. Mai 2007–30. Juni 2010. Drosos-Stiftung / SAH Zentralschweiz. Externe Evaluation. Schlussbericht. Freiburg i.Ü. 2010; HOSTETTLER Ueli / RICHTER Marina / YOUNG Christopher / KIRCHHOFER Roger: «Neugierde und Interessen werden geweckt». Das Pilotprojekt «Bildung im Strafvollzug» (BiSt) wurde wissenschaftlich evaluiert. In: Info bulletin – bulletin info, 1/2011, 21–23; RICHTER Marina / KIRCHHOFER Roger / HOSTETTLER Ueli / YOUNG Christopher: Wie eine «Insel» im Gefängnis. Bildung im Schweizer Strafvollzug. Tsantsa 16/2011, 50–60; Website: www.bist.ch
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Soweit die Arbeitsbetriebe nicht für den anstaltsinternen Bedarf produzieren (z.B. Küche, Reparatur- und Unterhaltsarbeiten), vertreiben sie ihre Produkte wie andere Unternehmen. Sie stehen damit namentlich in Bezug auf die Qualität ihrer Produkte, die Preisgestaltung und die Einhaltung vertraglicher Lieferbedingungen in direkter Konkurrenz zu privaten Anbietern. Sie sind deshalb gezwungen, eine vergleichbare Arbeitsproduktivität zu erzielen. Indirekt führt dies zur erwünschten Konsequenz, dass die Arbeitsanforderungen an die Gefangenen nicht allzu sehr von den Anforderungen in normalen Betrieben abweichen.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Im Gegensatz zu unseren Nachbarländern herrscht in diesen Vollzugsanstalten Vollbeschäftigung. Jeder arbeitswillige und arbeitsfähige Gefangene verfügt also über einen Arbeitsplatz (abweichend: Erweiterungsbau der Strafanstalt Pöschwies/ZH). Dennoch können Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Arbeit ausnahmsweise doch dazu führen, dass für einzelne Gefangene während einiger Tage keine Arbeit angeboten werden kann. Weiter ist anzumerken, dass die wöchentliche Arbeitszeit der Gefangenen aus betrieblichen Gründen (täglicher Spaziergang, Konsultation des Gesundheits- und Sozialdienstes etc.) regelmässig deutlich unter 40 Wochenarbeitsstunden liegt.
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Die grösseren Vollzugsanstalten bieten auch die Möglichkeit zur Absolvierung einer Berufslehre oder einer Attestlehre (ehemals Anlehre) an. Diese Angebote sind allerdings recht bescheiden und werden nur selten genutzt: In den offenen Anstalten ist die Zahl der zu einer hinreichend langen Strafe Verurteilten gering und aus den geschlossenen Anstalten ist der für eine Attestlehre zwingende Besuch einer externen Berufsschule nicht vertretbar. Weil viele Strafgefangene, wie etwa auch psychisch kranke und anderweitig behinderte Personen, einen erschwerten Zugang zur Arbeitswelt haben, bedürfen sie indessen einer systematischen, ihren individuellen Ressourcen entsprechenden Förderung. Mit Blick darauf richten etliche Vollzugsanstalten ihre Angebote im Arbeitsbereich zunehmend nach arbeitsagogischen Grundsätzen aus. Dies betrifft vorab die Anstalten des Massnahmenvollzugs (VII 9.2.1), aber etwa auch die Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE und die Anstalten Witzwil/BE. In arbeitsagogisch geführten Arbeitsbetrieben stellt die Arbeit kein Ziel an sich dar, sondern ist ein Instrument und ein Lernfeld für die Erhaltung und Erweiterung der – arbeitsbezogenen und sozialen – Handlungskompetenzen der Strafgefangenen.
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In den kleineren, regionalen Anstalten (welche überwiegend der Untersuchungshaft dienen) ist das Arbeitsangebot dagegen aus baulichen oder betrieblichen Gründen meist sehr bescheiden: Einige verfügen über keine Beschäftigungsmöglichkeiten, andere können bloss einfache Arbeiten für Ungelernte anbieten (serienmässige Montage- und Abpackarbeiten, Hausarbeiten aller Art). Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten können bloss in seltenen Ausnahmefällen genutzt werden. In diesen Anstalten ergibt sich aus der Einführung der Einheitsstrafe im StGB von 2002 deshalb ein erheblicher Handlungsbedarf.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 101
Man darf angesichts der jetzigen und mutmasslich künftigen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt übrigens die Frage aufwerfen, ob das Festhalten an einer Arbeitspflicht der Strafgefangenen unter dem Gesichtspunkt normalisierter Lebensbedingungen im Freiheitsentzug tatsächlich funktional sei. Während der Arbeitnehmer in Freiheit sich in Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit normalerweise mit erheblichem Aufwand und nicht immer mit Erfolg um das knappe Gut «Arbeit» bemühen muss, wird dieses Gut dem Strafgefangenen gewissermassen zwangsweise zugeführt: Was der Gefangene im Vollzug der Freiheitsstrafe als «Zwang» erfahren hat, soll er nach seiner Entlassung unversehens als ein «erstrebenswertes Gut» erkennen. Normalisierungsgerechter wäre es gewiss, die Arbeitspflicht aufzuheben und den Gefangenen – wie im extramuralen Leben – die Möglichkeit zu geben, sich um einen Arbeitsplatz in der Vollzugsanstalt zu bewerben. Diesen Schritt haben indessen erst ganz wenige Staaten (z.B. Frankreich und Spanien) gewagt und es ist schwer abzuschätzen, ob dabei tatsächlich Normalisierungsüberlegungen ausschlaggebend waren (oder bloss mangelnde Arbeitsplatzkapazitäten). Zudem besteht bei der Aufhebung der Arbeitspflicht die Gefahr, dass die Anstalten ihre Bemühungen zur Arbeitsbeschaffung reduzieren und es in der Folge auch für jene Gefangenen keine Beschäftigung mehr gibt, die arbeiten wollen.
5.9 102
Arbeitsentgelt (LII 5.8/5.9)
Seit Einführung des StGB von 1937 hat der Gefangene ein Anrecht auf eine finanzielle Gegenleistung für die von ihm verrichtete Arbeit. Diese wurde bis zur Revision des StGB von 2002 als «Verdienstanteil» bezeichnet, im Vollzugsjargon als «Pekulium». Schon in der Botschaft des Bundesrates zum StGB vom 23. Juli 1918 wurden zwei Zwecke für die Einführung eines Arbeitsentgeltes (bzw. Verdienstanteils) genannt: Die Erziehung des Gefangenen zur Arbeitsamkeit und Sparsinn sowie die Schaffung eines Spargutes für die Zeit nach seiner Entlassung. Dies bestätigend hat das Bundesgericht festgehalten, «dass der Verdienstanteil den Gefangenen zur Arbeit und zur Bewährung erziehen soll, zur Deckung gewisser Auslagen dient und insbesondere bezweckt, dem Häftling den Wiedereintritt in das Leben in Freiheit zu erleichtern und ihm die Mittel für den Lebensunterhalt in den ersten Wochen nach der Entlassung zu sichern» (BGE 102 Ib 255). Der Verdienstanteil setzte somit zwar die Erbringung einer Arbeitsleistung durch den Gefangenen voraus, war aber keine Abgeltung für die durch die Arbeitsleistung erbrachte Wertschöpfung, sondern eine Belohnung, welche spezialpräventive Zwecke verfolgte.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Hat der mit der Revision des StGB von 2002 erfolgte Ersatz des «Verdienstanteils» durch ein «Arbeitsentgelt» diese Ausgangslage in Bezug auf die Voraussetzungen und die Bemessung des Arbeitsentgelts verändert? Die Frage ist – vorsichtig – zu bejahen. Denn im früheren Recht wurde die Ausrichtung eines Verdienstanteils ausdrücklich nicht bloss von der erbrachten Arbeitsleistung, sondern auch generell vom Verhalten des Gefangenen abhängig gemacht (BGE 106 IV 378 E. 3; 99 Ia 262 E. 4). Nach Art. 83 Abs. 1 StGB erhält der Gefangene «für seine Arbeit ein von seiner Leistung abhängiges und den Umständen angepasstes Entgelt». Das bedeutet, dass eine erbrachte Arbeitsleistung stets mit einem Arbeitsentgelt abzugelten ist und dass die Höhe der Abgeltung von der erbrachten Leistung abhängen soll. Die Höhe der Abgeltung soll aber auch den Umständen angepasst sein. Damit kann nur gemeint sein, dass bei der Bemessung des Arbeitsentgelts nicht bloss die erbrachte Wertschöpfung zu berücksichtigen ist, sondern auch vom Strafgefangenen nicht beeinflussbare Faktoren, etwa die Art und Ausstattung der einzelnen Arbeitsplätze und die effektive Leistungsfähigkeit des Strafgefangenen. Für die Bemessung des Arbeitsentgelts nicht mehr massgeblich ist dagegen das allgemeine Verhalten des Gefangenen im Vollzug (etwa die Zellenordnung). Diese Innovation ist aus Gründen der Spezialprävention und der Normalisierung des Alltags im Vollzug zu begrüssen. Entgegen der hier vertretenen Auffassung will der Bundesrat allerdings nicht ausschliessen, dass Aspekte des Wohlverhaltens weiterhin in die Bemessung des Arbeitsentgeltes einfliessen (vgl. Botschaft des Bundesrats zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. September 1998, 2117). Dies entgegen dem Wortlaut von Art. 83 StGB, dessen Entstehungsgeschichte und ohne weitere Begründung.
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Anspruch auf ein Arbeitsentgelt haben auch Gefangene, welche gemäss Vollzugsplan anstelle einer Arbeit an einem Aus- oder Weiterbildungsprogramm teilnehmen (Art. 83 Abs. 3 StGB). Leistungen im Bereich der Aus- und Weiterbildung sind somit – richtigerweise – den Arbeitsleistungen gleichwertig. Die für solche Leistungen auszurichtende Vergütung soll «angemessen» sein, also im Rahmen der Vergütung für Arbeitsleistungen festgesetzt werden.
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Die Höhe des Arbeitsentgelts ist nach den bundesrechtlichen Grundsätzen durch die Kantone festzulegen. Das Arbeitsentgelt ist von den Kantonen aber tiefer anzusetzen als die durch die Arbeitsleistung erbrachte Wertschöpfung: Art. 380 StGB legt fest, dass der Strafgefangene an den Vollzugskosten durch eine angemessene Verrechnung seiner Arbeitsleistung zu beteiligen ist. Mit Blick auf die Revision des
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
StGB von 2002 haben die Strafvollzugskonkordate ihre diesbezüglichen Richtlinien angepasst, aber leider nicht durchwegs vereinheitlicht: In den Konkordaten der deutschsprachigen Schweiz beträgt das durchschnittliche Arbeitsentgelt Fr. 26 pro Tag, seine Höchstgrenze Fr. 35. In der lateinischen Schweiz wurde ein theoretischer Maximalbetrag von Fr. 33 festgelegt, wovon im Sinne von Art. 380 StGB obligatorisch Fr. 8 abzuziehen sind, was einen Höchstbetrag von Fr. 25 ergibt (Nordwest- und Innerschweiz: Richtlinien für das Arbeitsentgelt vom 5. Mai 2006; Ostschweiz: Richtlinien über das Arbeitsentgelt in Strafvollzugsanstalten vom 7. April 2006; lateinische Schweiz: Beschluss vom 25. September 2008 über Arbeitsentgelt und Vergütungen für die in den Konkordatsanstalten eingewiesenen Gefangenen). 106
Wie schon das StGB von 1937 enthält auch jenes nach der Revision von 2002 präzise Regeln über die Verwendung des Arbeitsentgelts während des Strafvollzugs. Damit soll sichergestellt werden, dass die mit der Ausrichtung eines Arbeitsentgelts verfolgten Zwecke (Förderung der Arbeitsmotivation und Schaffung einer Rücklage für die erste Zeit nach der Entlassung) tatsächlich erreicht werden. Art. 83 Abs. 2 StGB bestimmt, dass der Gefangene während des Vollzugs «nur über einen Teil seines Arbeitsentgeltes frei verfügen» kann. «Aus dem anderen Teil wird für die Zeit nach der Entlassung eine Rücklage gebildet. Das Arbeitsentgelt darf weder gepfändet noch mit Arrest belegt noch in eine Konkursmasse einbezogen werden. Jede Abtretung und Verpfändung des Arbeitsentgeltes ist nichtig.» In welchem Verhältnis das Arbeitsentgelt in einen frei verfügbaren und in einen Rücklage-Teil auf dem «Sperrkonto» aufzuteilen ist, schreibt das Bundesrecht nicht vor. Im Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz werden dem «Freikonto» 60% des Arbeitsentgelts zugeteilt, dem «Sperrkonto» 40%. In der Ostschweiz gehen 30 bis 50% auf das «Sperrkonto» und 50 bis 70% auf das «Freikonto». Ausnahmsweise darf die Rücklage mit Bewilligung der Anstaltsleitung für besondere Zwecke (z.B. Anschaffung eines PC, Unterhaltsleistungen an die Familie) angetastet werden. Die lateinische Schweiz kennt neben dem «Freikonto» (65%) und dem «Sperrkonto» (15%) zusätzlich ein «gebundenes Konto», welches namentlich für Wiedergutmachungsleistungen, Ausbildungs- und Gesundheitskosten eingesetzt werden kann. Gegen den Willen des Strafgefangenen darf der Staat in beschränktem Umfang auf Guthaben aus dem Arbeitsentgelt zurückgreifen, etwa zur Deckung von Auslagen, welche der Strafgefangene durch ein Disziplinarvergehen verursacht hat (BGE 102 Ib 254) oder für die Anschaffung einer neuen Brille für den Strafgefangenen (BGE 103 Ia 414). Die Anstaltsleitung oder die Vollzugsbehörde darf Auslagen zu Gunsten des Strafgefangenen ohne dessen Zustimmung 170
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
aber nur dann aus dem Arbeitsentgelt decken, wenn dafür eine ausdrückliche rechtliche Grundlage vorliegt. In der Praxis wichtig sind die Privilegien (Pfändungsverbot etc.) in Bezug auf das aus dem Arbeitsentgelt entstandene «Vermögen». Da die meisten Gefangenen erheblich verschuldet sind, wäre es ohne diese Privilegierung ausgeschlossen, aus dem Arbeitsentgelt eine Rücklage zu bilden. Überdies würde auch das Bestreben unterlaufen, die Gefangenen mit der Ausrichtung eines Arbeitsentgeltes zu Arbeitsleistungen zu motivieren. Im Gegensatz zum früheren Recht schreibt das StGB von 2002 nicht vor, wie das Arbeitsentgelt nach der Entlassung zu verwenden bzw. wem es auszuhändigen ist. Da das Arbeitsentgelt aber Eigentum des Strafentlassenen ist, versteht es sich von selbst, dass ihm dieses bei der Entlassung zu übergeben ist. Art. 94 StGB schliesst indessen nicht aus, dass bei einer bedingten Entlassung mit dem Instrument einer Weisung sichergestellt wird, dass das Arbeitsentgelt durch Dritte im wahren Interesse des Strafentlassenen verwaltet wird.
5.10
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Beziehungen zur Aussenwelt
Die Möglichkeiten der Gefangenen, während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe Beziehungen zur Aussenwelt zu unterhalten, sind im Verlaufe der letzten vier Jahrzehnte ganz erheblich erweitert worden. Dies ist zweifellos jener Bereich des Freiheitsentzugs, der in dieser Periode die grössten Veränderungen erfahren hat.
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Unter die Beziehungen zur Aussenwelt fallen einerseits direkte Kontakte Strafgefangener zu Personen, welche weder zum Anstaltspersonal noch zu den Mitgefangenen gehören. Solche Kontakte können persönlich und unmittelbar sein und in der Vollzugsanstalt stattfinden (z.B. Besuche) oder ausserhalb der Anstalt ermöglicht werden (z.B. Urlaube), sie können aber auch durch ein Medium vermittelt werden (z.B. durch das Medium eines Briefes oder eines Telefons). Zu den Beziehungen zur Aussenwelt gehört aber auch die Nutzung von unpersönlichen Informationsmedien (z.B. das Buch, die Zeitung, Radio und Fernsehen).
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Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wurden Kontakte Strafgefangener zur Aussenwelt nur eng begrenzt und nach präzisen Vorschriften zugelassen. Denn mit dem Freiheitsentzug wurde implizit auch das Ziel verknüpft, den Gefangenen vom gesellschaftlichen Leben, dem er sich offensichtlich nicht gewachsen gezeigt hat, zu isolieren und zu schützen. Um die seither erfolgten Veränderungen werten zu können,
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
seien exemplarisch einige in dieser Zeit geltende allgemeine Standards für die Beziehungen zur Aussenwelt genannt (welche aber von Anstalt zu Anstalt erhebliche Unterschiede aufweisen konnten): Pro Woche durfte ein Gefangener bloss einen, vom Anstaltspersonal konsequent zensurierten Brief absenden (auf Anstaltspapier, mit breitem Rand für Bemerkungen des Zensors, Versand in einem Briefumschlag mit Aufdruck der absendenden Anstalt). Telefonische Kontakte waren nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig und wurden akustisch überwacht (entweder indem das Telefongespräch im Büro des Sozialarbeiters stattfand oder durch eine Abhöranlage). Für Besuche, zu welchen nur engste Familienangehörige zugelassen wurden, gab es einen festen Besuchstermin alle zwei Wochen (an einem Wochentag). Urlaube wurden vorerst nur aus besonderen Gründen zugelassen (z.B. Teilnahme an einer Konfirmation oder Firmung eines Kindes, einer Beerdigung oder Besuch eines Spezialarztes oder zur unmittelbaren Vorbereitung der Entlassung); doch bereits in den 1960er-Jahren führten einige Anstalten bereits sog. «Beziehungsurlaube» ein (maximal 3–4 pro Jahr). Es wurden nur «erzieherisch wertvolle» Tageszeitungen und Zeitschriften zugelassen (also weder der «Blick», noch der «Playboy»), in einigen Anstalten sogar ausschliesslich eine einzige gutbürgerliche Tageszeitung. Der Empfang von Radiosendungen war nur zeitlich eingeschränkt in Gruppenräumen – so vorhanden – möglich (wobei das Programm nach erzieherischen Gesichtspunkten durch die Anstaltsleitung festgelegt wurde); bereits in den 1960er-Jahren wurde in einzelnen Anstalten eine Anlage eingerichtet, welche den Empfang von Radiosendungen in den Zellen ermöglichte (die aber ebenfalls durch die Anstaltsleitung programmiert wurden). Nach Einführung des Fernsehens blieb dieses – wie vorher das Radio – vorerst ebenfalls auf wenige Gruppenveranstaltungen beschränkt (z.B. während einer Fussball-Weltmeisterschaft). 111
Weshalb ist im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese rigide Abschottung der Gefangenen von der Aussenwelt aufgegeben worden? Zu dieser Entwicklung haben sehr unterschiedliche Faktoren beigetragen. Eine bedeutende Rolle spielte eine vorerst kleine Gruppe von Anstaltsdirektoren, welche – motiviert durch eigene Erfahrungen und pönologische Studien – der spezialpräventiven Zielsetzung des Vollzugs zum Durchbruch verhelfen wollte. Ein wichtiger Faktor war auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Grundrechten Strafgefangener (insbesondere zur persönlichen Freiheit und zur Informationsfreiheit), welche tradierte Einschränkungen als willkürlich aufhob. Neben diesen Akteuren waren es aber auch äussere Umstände, welche zur erwähnten Entwicklung entscheidend beigetragen haben:
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
LII 5.10 Literatur zu den Beziehungen zur Aussenwelt ALBRECHT Hans-Jörg: Angehörige zwischen Strafzwecken des Staates und Integration des Täters. In: Riklin Franz (Hrsg.): Mitgefangen. Die Gefangenen und ihre Angehörigen. Luzern 2002, 64–83; ASSOCIATION CARREFOUR PRISON: Guide pour Familles de Détenus. Suisse romande. Genève 2008; BONNARD Olivier: Les familles de prisonniers en suisse romande. Rencontres avec le père en prison, la mère et les enfants. Diss. Lausanne 1987; BRÄGGER Benjamin F.: Intimbesuche im geschlossenen Strafund Massnahmenvollzug in der Schweiz. Ein Überblick über den rechtlichen Rahmen und die praktische Umsetzung. SAK 32/2014, 141–153; BAG-S INFORMATIONSDIENST: STRAFFÄLLIGENHILFE: Verurteilte Eltern – bestrafte Kinder? Gemeinsam Verantwortung übernehmen. Heft 3/2012; DÜNKEL Frieder / PRUIN Ineke: Wandlungen im Strafvollzug am Beispiel vollzugsöffnender Maßnahmen. Internationale Standards, Gesetzgebung und Praxis in den Bundesländern. In: KrimPäd 50/2015, 30– 45; FINK Daniel: Ausgang und Hafturlaub: Mangelnde Kenntnisse der Praxis in der Schweiz. In: SAK 1/2015, 39–46; HASSEMER Winfried: Kommunikationsfreiheit in der Haft. In: Zs. für Rechtspolitik 11/1984, 292–296; KNAUER Florian: Strafvollzug und Internet. Rechtsprobleme der Nutzung elektronischer Kommunikationsmedien durch Strafgefangene. Berlin 2010; MALINVERNI Giorgio: Le droit des personnes privées de liberté au respect de leurs correspondances. In: Mélanges Pictet. Genève 1985, 77–101; NOLL Thomas: Sexualität zwischen männlichen Gefangenen. In: AJP 12/2013, 1773–1782; SOBOTICH Viviane: Staatliche Verantwortung bei Straftaten im Hafturlaub? Verfassungs- und staatshaftungsrechtliche Aspekte zum Fall «Zollikerberg». In: Ackermann Jürg-Beat (Hrsg.): Strafrecht als Herausforderung. Analysen und Perspektiven von Assistierenden des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich. Zur Emeritierung von Professor Niklaus Schmid. Zürich 1999, 563–573.
Einerseits technische Neuerungen (z.B. die Entwicklung von tragbaren, kleinformatigen Radiogeräten), andererseits Veränderungen in der Zusammensetzung der Gefangenen (welche allein aus Gründen mangelnder Sprachkenntnisse eine flächendeckende Zensur des Briefverkehrs und eine akustische Überwachung der Besuchs- und Telefonkontakte ausschloss). Klar ist zudem, dass der Normalisierungsgrundsatz und der Gegensteuerungsgrundsatz gemäss Art. 75 Abs. 1 Satz 2 StGB nach Aussenkontakten verlangen. Ungeachtet der Faktoren, welche die Öffnung des Freiheitsentzugs nach aussen bewirkt oder beeinflusst haben: Die Bedeutung der Teilhabe der Strafgefangenen am Leben ausserhalb des Anstaltsperimeters – insbesondere die Aufrechterhaltung von Kontakten zum persönlichen Beziehungsnetz – ist mit Blick auf die spezialpräventive Aufgabe des Freiheitsentzugs heute im Grundsatz unbestritten (LII 5.10). Diese Massnahmen – namentlich das Instrument des Urlaubs – können allerdings unverkennbar in Widerspruch zu einer anderen Aufgabe des Freiheitsentzugs geraten: der Verhinderung von Straftaten während der
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Periode des Freiheitsentzugs. Deshalb gehört die konkrete Ausgestaltung der Aussenkontakte Strafgefangener zu den sensibelsten Bereichen des Freiheitsentzugs. Weil dabei notwendigerweise unterschiedliche Interessen im konkreten Fall gegeneinander abzuwägen sind, verbleibt den Rechtsanwendern ein erhebliches Ermessen, obwohl der Gesetzgeber von Bund und Kantonen zunehmend konkretere Regeln vorgibt. 113
Die Beziehungen zur Aussenwelt sind im StGB – im Gegensatz zu früherem Recht – zusammenhängend und kohärent geregelt (Art. 84 StGB). Diese Vorschrift bezieht sich vorab auf persönliche und unmittelbare Kontakte zu Personen ausserhalb der Anstalt, also auf Besuche und Urlaube, verankert aber auch das generelle Recht Gefangener, «mit Personen ausserhalb der Anstalt Kontakt zu pflegen. Der Kontakt zu nahe stehenden Personen ist zu erleichtern» (Art. 84 Abs. 1 StGB). Solche Kontakte können aber eingeschränkt oder gar vollständig untersagt werden. Das Bundesrecht nennt dazu – abschliessend zu verstehen – drei Gründe: der Schutz der Ordnung in der Strafanstalt, die Sicherheit der Strafanstalt und allenfalls die Sicherstellung einer Strafverfolgung (Art. 84 Abs. 2 StGB). In diesem Sinne sieht auch die eidgenössische StPO vor, dass Kontakte zwischen der inhaftierten Person und anderen Personen in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft der Bewilligung der Verfahrensleitung bedürfen und Besuche wenn nötig unter Aufsicht stattfinden (Art. 235 Abs. 2 StPO). Der Verzicht auf eine detailliertere bundesrechtliche Regelung dieser Möglichkeiten zur Kontaktpflege scheint – angesichts der durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundrechtsschutz entwickelten Grundsätze – tatsächlich vertretbar. Dies auch deshalb, weil Art. 84 StGB für besonders sensible Kontakte (Briefverkehr mit dem Anwalt, Verkehr mit Aufsichtsbehörden und konsularischen Vertretungen) ausnahmsweise doch verbindliche Regeln vorgibt.
113a
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Ansprüche auf Aussenkontakte disziplinarrechtlich zeitweilig entzogen oder beschränkt werden dürfen (Art. 91 Abs. 2 Bst. b StGB).
114
Die zur Aufrechterhaltung der Beziehungen der Gefangenen zur Aussenwelt massgeblichen rechtlichen Vorgaben und die entsprechende Vollzugspraxis wird für die einzelnen Instrumente nachstehend zusammengefasst, vorerst für persönliche und unmittelbare Kontakte mit der Aussenwelt, anschliessend für Kontakte mittels eines Mediums und schliesslich für die Nutzung unpersönlicher Informationsmedien.
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
DII 5.10 «Relais Enfants Parents Romands» (REPR) Über die Stiftung REPR Der Zweck der Stiftung «Relais Enfants Parents Romands» REPR besteht darin, die Familie und die Angehörigen von Häftlingen in der Westschweiz zu unterstützen, Kinder in den Beziehungen mit ihren inhaftierten Eltern zu begleiten und die Öffentlichkeit für die Auswirkungen der Haft auf die Familien zu sensibilisieren. Entstanden ist REPR aus dem Verein «Carrefour Prison», welcher seit mehreren Jahren in Genf – vor allem beim Gefängnis Champ Dollon – Angehörige von Häftlingen unterstützt. Seit 2015 ist REPR eine Stiftung, welche in Genf, Lausanne und Fribourg Anlaufstellen für die fünf Kantone Genf, Freiburg, Neuenburg, Waadt und Wallis unterhält und mittlerweile ihre diversen Angebote in den meisten Anstalten der Romandie nachhaltig installieren konnte. REPR wird im Aufbau seit 2012 (und bis 2017) massgeblich von der Stiftung Drosos unterstützt. Angebot des REPR − Kostenlose telefonische Beratung (0800 233 233): anonyme Auskunft über die Funktionsweise der Gefängnisse und über das System oder einfaches Zuhören. − Anlaufstellen für die Familien der Inhaftierten: Zuhören, Information und Unterstützung der Personen vor und nach den Besuchen im Gefängnis durch die freiwilligen Beraterinnen und Berater in Wohnwagen, Mobilhomes oder Bürocontainern vor zehn Gefängnissen der Westschweiz. − Ateliers Créatifs: Workshops zur Interaktion zwischen Elternteil und Kind (sich bewegen, rennen, sich umarmen, «Zvieri» essen usw.). − Soziale Netzwerke Facebook und Twitter. − Shuttle: Transport der Familien zu den Strafanstalten EPO und La Croisée unter optimalen Bedingungen in einem Bus des Gefängnisses. − Website: www.repr.ch Quelle BUTHEY Nathalie: Mama ist im Gefängnis. Der Verein REPR dient als Bindeglied zwischen Inhaftierten und ihren Angehörigen. In: Info bulletin – bulletin info 2/2015, 16–18; Website: www.repr.ch
Wo im Folgenden nicht anders erwähnt, liegt die Zuständigkeit für den Einsatz der Instrumente zur Förderung der Beziehungen zur Aussenwelt bei den Anstaltsdirektionen. Diese werden dabei indessen auch durch private Organisationen unterstützt. Eine Vorbildrolle spielt diesbezüglich der in Genf domizilierte Verein «Relais Enfants Parents Romands», der sich für verbesserte Kontaktmöglichkeiten der Strafgefangenen mit ihren Familien, namentlich ihrer Kinder, einsetzt. Des Weiteren zu erwähnen sind die freiwillige Besuchsgruppen etwa der Heilsarmee usw.
175
114a
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.10.1
Briefverkehr
115
Das Bundesrecht enthält in Bezug auf den allgemeinen Briefverkehr Gefangener keine über die oben erwähnten Grundsätze zum Kontakt mit der Aussenwelt hinausgehenden Vorschriften. Wieder zu erwähnen ist einzig die Regelung für Personen in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft, deren ein- und ausgehende Post – mit wenigen Ausnahmen – kontrolliert wird (Art. 235 Abs. 3 StPO). Massgeblich für die Ausgestaltung brieflicher Kontakte ist damit im Grundsatz weiterhin die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundrechtsschutz. Danach ist die Achtung des Briefverkehrs Teil des Rechts auf freie Meinungsäusserung (BGE 119 Ia 71 E. a; Art. 8 EMRK). Die Festlegung, dass der Briefverkehr nur soweit beschränkt werden darf, als dies die Ordnung in der Anstalt oder der Haftzweck erfordert (BGE 99 Ia 288; 117 Ia 465), ist in Art. 84 Abs. 2 StGB ebenso präzisiert worden wie die – fakultative – Möglichkeit, den Briefverkehr nötigenfalls zu kontrollieren. Dass ein übermässiger Briefverkehr aus Gründen der Ordnung oder Sicherheit eingeschränkt werden kann (BGE 118 Ia 64 E. 3p), dürfte auch weiterhin Bestand haben, kaum aber die ältere Festlegung, eine Beschränkung auf zwei ausgehende Briefe pro Woche sei noch zulässig (BGE 99 Ia 286). Ungebührliche Mitteilungen müssen dem Adressaten nicht zugeleitet werden, wenn sie krass unanständige Bemerkungen oder unflätige Beleidigungen enthalten und dadurch Ordnung und Sicherheit in der Anstalt gefährden (BGE 101 Ia 152, 119 Ia 71). Für die Übersetzung von in einer fremden Sprache verfassten Briefen darf im Übrigen ein Kostenvorschuss verlangt werden, sofern durch diese Auflage der Kontakt mit engsten Angehörigen nicht verunmöglicht würde (BGE 102 Ia 287; 118 Ia 64 E. 3q).
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Für den Briefverkehr mit speziellen Adressatengruppen sieht das Bundesrecht besondere Privilegien vor. Der Briefverkehr mit dem Verteidiger (Art. 84 Abs. 4 StGB), mit Aufsichtsbehörden (Art. 84 Abs. 5 StGB) und mit der konsularischen Vertretung (Art. 84 Abs. 7 StGB) darf nicht kontrolliert oder beschränkt werden, was auch als Privileg des «freien Verkehrs» bezeichnet wird. Das Bundesgericht hat in etlichen Entscheiden präzisiert, unter welchen konkreten Voraussetzungen ein öffentliches Interesse eine Abweichung von diesem Grundsatz rechtfertigt (BGE 121 I 164 E. 2c; 111 Ia 341 E. 3c,d,e; 107 IV 25; 106 Ia 219; 105 Ia 98; 105 Ia 379). Im Missbrauchsfall kann der freie Verkehr mit dem Verteidiger indessen untersagt werden (Art. 84 Abs. 4 StGB), also nicht bereits dann, wenn ein entsprechender Verdacht vorliegt (dazu schon BGE 119 Ia 505). Der freie Verkehr kann von der
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Anstaltsleitung auch auf Geistliche, Ärzte, Rechtsanwälte, Notare, Vormünder und auf weitere Personen mit vergleichbaren Aufgaben ausgedehnt werden (Art. 84 Abs. 3 StGB). Das kantonale Recht präzisiert die für den Briefverkehr zu beachtenden Grundsätze bloss punktuell. So enthält z.B. das SMVG/BE in Art. 49 Abs. 3 die – an sich selbstverständliche – Vorschrift, dass die Gefangenen zu informieren sind, wenn ein Brief nicht weitergeleitet wird.
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In der Praxis erfolgt eine quantitative Einschränkung des Briefverkehrs bloss in den äusserst seltenen Fällen tatsächlich exzessiver Briefkontakte (weiterhin eine umfassende Kontrolle des Briefverkehrs ist im Kanton Aargau vorgesehen; § 68 Abs. 1 SMV/AG). Die umfassende inhaltliche Kontrolle der ein- und ausgehenden Briefpost wurde fast durchwegs abgeschafft (doch wird die eingehende Post i.d.R. auf Fremdgegenstände – insbesondere illegale Substanzen – überprüft; ausgenommen davon ist der Sonderfall des «freien Verkehrs»). Im Einzelfall – z.B. wenn ein Verdacht auf Missbrauch besteht oder für Gefangene in Sicherheitsabteilungen – wird indessen weiterhin eine systematische inhaltliche Briefkontrolle vorgenommen. Die Nichtweiterleitung eines Briefes mit ungebührlichem Inhalt erfolgt ebenfalls bloss in seltenen Einzelfällen.
118
Diese gegenüber früher ausgesprochen liberale Praxis hat insgesamt zu keiner Beeinträchtigung von Ordnung und Sicherheit in den Vollzugsanstalten geführt. Allerdings sind die Anstaltsleitungen in Bezug auf den Briefverkehr immer wieder mit Fragen konfrontiert, für welche die Rechtsgrundlagen keine unmittelbar schlüssigen Lösungen anbieten. Dies gilt etwa für den Fall, wo im freien Verkehr mit dem Verteidiger – oder einem anderen privilegierten Kontaktpartner – sich dieser nicht durch einen eindeutigen Absender als solchen ausweist oder wo der Verdacht besteht, dass eine Fälschung des Briefumschlages durch Dritte vorliegt. Dies gilt auch für Briefkontakte, welche mögliche Vorbereitungshandlungen für künftige Straftaten vermuten lassen (z.B. Betrug, Drogenhandel, Kontaktaufnahme pädophiler Gefangener mit Minderjährigen). Unter dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Kontrolle nicht einfach handhabbar sind schliesslich Kontakte, welche nicht auf Papier, sondern mittels anderer Medien erfolgen (Tonbandkassetten, CDROM). Solche Kontakte dürfen aus Gründen des Kontrollaufwandes wohl im Regelfall unterbunden werden, doch müssen Ausnahmen sicherlich zugelassen werden (etwa für Kontakte von Analphabeten mit ihren Angehörigen).
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177
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.10.2
Empfang von Paketen
120
Kontakte mit der Aussenwelt mit dem Medium des Paketes sind im Bundesrecht nicht speziell geregelt. Art. 84 StGB enthält in Abs. 2 Satz 1 StGB indessen eine ausreichende Rechtsgrundlage zur Kontrolle des Paketverkehrs und ggf. dessen Beschränkung oder gar Unterbindung. Strafgefangene haben also grundsätzlich das Recht, Pakete von anstaltsexternen Personen zu erhalten. Der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichts zufolge darf die Aufzählung der für eine Paketzustellung zulässigen Waren nicht zu eng sein und nicht zu eng gehandhabt werden (BGE 102 Ia 289), leicht zu kontrollierende Waren dürfen nicht zurückgewiesen werden (BGE 102 Ia 289, 99 Ia 279 f.), eine Begrenzung des Paketverkehrs auf zwei Sendungen pro Jahr ist jedenfalls zu eng, bei Untersuchungshaft müssten i.d.R. sechs Sendungen zugelassen werden (BGE 113 Ia 325).
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Im kantonalen Recht werden die Modalitäten für den Empfang von Paketen in der Regel erst auf der Stufe der einzelnen Anstaltsordnungen konkretisiert. Diese – im Übrigen sehr unterschiedlichen – Vorschriften benennen i.d.R. die für eine Paketzustellung unzulässigen Gegenstände und schränken meist auch die Zahl der jährlichen Paketsendungen und deren Maximalgewicht ein. Nicht zulässig sind normalerweise neben all jenen Gegenständen, über welche der Gefangene gemäss Anstaltsordnung nicht verfügen darf – namentlich Bargeld, Drogen, Alkohol, Ausbruchswerkzeuge – auch verderbliche Waren und schwer kontrollierbare Gegenstände.
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In der Praxis sind die Einschränkungen für den Empfang von Paketen in den letzten Jahrzehnten – in allerdings unterschiedlichem Masse – deutlich zurückgenommen worden. Gemäss der restriktivsten Praxis werden aber noch immer bloss Pakete von insgesamt sechs kg pro Jahr zugelassen, im Maximum unterliegen Gewicht und Frequenz der Pakete keiner Einschränkung; in der lateinischen Schweiz werden als Regel alle zwei Monate ein Paket von fünf bis sechs kg zugelassen. Massgebliche Kriterien für Einschränkungen sind heute – neben Hygiene und Gesundheit – praktisch ausschliesslich Erfordernisse der Kontrolle. Obwohl grössere Anstalten durchwegs über Röntgenanlagen verfügen, welche eine effiziente Kontrolle der eingehenden Pakete ermöglichen, kann der Kontrollaufwand – etwa in der Vorweihnachtszeit – erhebliche Ausmasse annehmen und quantitative Einschränkungen des Paketverkehrs erfordern. Einschränkungen des Paketverkehrs aus versteckten Motiven, wie dies früher teilweise Praxis war, sind nicht mehr zuläs-
178
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
sig – so etwa die Förderung der Arbeitsmotivation der Strafgefangenen dadurch, dass Genussmittel fast ausschliesslich nur durch das erarbeitete Arbeitsentgelt erworben werden können oder das Bestreben, der sozialen Ungleichheit der Gefangenen durch eine restriktive Regelung des Paketempfangs entgegenzuwirken. Keiner ausdrücklichen Regelung (über die Zulässigkeit einer Kontrolle hinaus) bedarf im Übrigen der Versand von Paketen von Strafgefangenen an Dritte allein schon deshalb, weil bereits die vom Strafgefangenen zu tragenden Portokosten solche Paketsendungen – häufig Bastelarbeiten enthaltend – zahlenmässig stark begrenzen.
5.10.3
123
Besuche
Für Besuche von Angehörigen, Bekannten und obligatorisch (Verteidiger, Aufsichtsbehörden, Konsulate) oder fakultativ privilegierten Personen (Geistliche, Ärzte, Rechtsanwälte, Notare, Vormünder und Personen mit vergleichbaren Aufgaben) gelten bundesrechtlich dieselben Regeln wie für den Briefverkehr (Abschnitt 5.10.1). Darüber hinaus schreibt das Bundesrecht vor, dass Besuche ohne Wissen der Beteiligten nicht überwacht werden dürfen (Art. 84 Abs. 2 StGB) und dass Verteidigerbesuche zwar (optisch) überwacht, die Gespräche aber nicht mitgehört werden dürfen (Art. 84 Abs. 4 StGB). Weitere Vorgaben macht das Bundesrecht nicht, doch sind der Rechtsprechung des Bundesgerichts etliche weitere Grundsätze zu entnehmen, namentlich in Bezug auf die Besuchsfrequenzen und die Zulassung von Besuchswilligen: Eine Wartefrist von einer Woche bis zu einem ersten Besuch ist zulässig, nach einem Monat der Inhaftierung besteht sodann ein Anspruch auf einen Besuch pro Woche von mindestens einer Stunde Dauer (BGE 118 Ia 64, 106 Ia 141). Der Kreis der besuchsberechtigten Personen auf «nahe Angehörige» darf nicht eng ausgelegt werden (BGE 118 Ia 64; 102 Ia 299 E. 3 sowie BGer-Urteil 6A_7/2004 vom 9. August 2004) – seit der Revision des StGB von 2002 dürfte die Einschränkung auf «nahe Angehörige» indessen nicht mehr zulässig sein. Die angesetzten Besuchszeiten dürfen ferner erwerbstätigen Personen Besuche nicht verunmöglichen (BGE 106 Ia 296). Schliesslich wäre es nicht zulässig, Anwaltsbesuche unter besonderen Voraussetzungen – z.B. bei Zugehörigkeit des Gefangenen zu einer kriminellen Vereinigung – auch dann in einem Besuchsraum mit Trennscheibe durchzuführen, wenn die Integrität des Anwaltes unbestritten ist (BGE 106 Ia 219). Wie andere Besucher dürfen aber auch Anwälte
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124
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
einer Sicherheitskontrolle unterzogen und angehalten werden, Schuhe und Gürtel auszuziehen (BGE 130 Ia 65). 125
Der Strafgefangene hat somit einen Anspruch darauf, im oben genannten Rahmen Besucher empfangen zu dürfen. Auch dem Gefangenen nahe stehende Personen, namentlich Ehegatten und Kinder, können an sich, gestützt auf die Grundrechte der persönlichen Freiheit und des Schutzes der Familie, einen Anspruch auf Gefangenenbesuche geltend machen, doch spielt dies in der Praxis kaum eine Rolle. Im Übrigen darf Medienschaffenden, welche einvernehmlich mit einem Strafgefangenen ein Interview durchführen wollen, ein Besuch nicht grundsätzlich verweigert werden (vgl. BGer-Urteil 1B_292/2010 vom 23. Dezember 2010). In Ergänzung zu den erwähnten bundesgerichtlichen Grundsätzen sind die Besuchsmodalitäten im kantonalen Recht zu präzisieren.
126
Das kantonale Recht enthält fast durchwegs summarische Bestimmungen zum Gefangenenbesuch, konkretisiert die bundesrechtlichen Besuchsgrundsätze aber meist erst auf der Ebene der einzelnen Anstaltsreglemente – und dies nicht immer in Übereinstimmung mit dem Bundesrecht. Mit Blick auf die Revision des StGB von 2002 mussten oder müssen diese Vorschriften in etlichen Kantonen und Anstalten überarbeitet werden.
127
Die Rechtsprechung des Bundesgerichts hat ab dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zu einer erheblich flexibleren und weniger einschränkenden Praxis bei den Besuchen von Strafgefangenen geführt. Allerdings bieten noch immer nicht alle Anstalten wöchentliche Besuchsmöglichkeiten an, wie dies das Bundesgericht verlangt hat. Wird in geografisch abgelegenen Vollzugsanstalten eine geringere Besuchsfrequenz indessen durch deutlich längere Besuchszeiten an Wochenenden kompensiert, müssten solche Regelungen wohl als insgesamt sinnvoll akzeptiert werden. Mehr Einschränkungen gegenüber früher gibt es dagegen generell in Bezug auf die Geschenke, welche Besucher den Strafgefangenen mitbringen dürfen: Mitbringsel werden aus Kontrollgründen quantitativ und qualitativ beschränkt; in den geschlossenen Vollzugsanstalten sind normalerweise ausschliesslich Mitbringsel zulässig, welche vom Besucher an einem Anstaltsautomaten erworben werden.
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Die Rahmenbedingungen für die Durchführung der Besuchskontakte sind ausserordentlich unterschiedlich. In den grösseren Vollzugsanstalten finden Besuche im Normalfall kollektiv in einem grossen Besucherraum oder – wenn es die Witterung erlaubt – in einem abgegrenzten 180
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Sektor des Anstaltsareals statt. Die u.U. mehrere Dutzend Strafgefangenen und mindestens ebenso vielen Besucher werden entsprechend bloss optisch daraufhin überwacht, dass keine unerlaubten Gegenstände – insbesondere Drogen – den Strafgefangenen übergeben werden. Aus Sicherheitsgründen oder auch bei Besuchen einer Familie mit Kindern werden Besuche ausnahmsweise auch in gesonderten Räumen durchgeführt. Sofern dies aus Sicherheitsgründen notwendig ist, werden die Besucher von den Gefangenen in seltenen Fällen auch durch eine Trennscheibe getrennt. In Gefängnissen, welche überwiegend dem Vollzug der Untersuchungshaft dienen, werden Besuche von Strafgefangenen dagegen häufig – wie solche von Untersuchungsgefangenen – in Einzelkabinen mit Trennscheibe durchgeführt. Auch unter besonders liberal ausgestalteten Besuchsbedingungen – z.B. Kollektivbesuche in einer grösseren Gartenanlage der Vollzugsanstalt – bilden Besuchskontakte in einer Vollzugsanstalt normalerweise keinen geeigneten Rahmen für einen persönlichen oder gar intimen Gedankenaustausch. Strafgefangene berichten, dass Besuche für sie immer auch «Stress» bedeuten und dass sowohl Gefangene wie auch Besucher in der Regel eher bestrebt sind, ihrem Gesprächspartner zu bestätigen, dass sie mit dem Leben in der Anstalt und mit der Situation als Partner eines Strafgefangenen gut oder jedenfalls ordentlich zurechtkommen, als den Gesprächspartner mit ihren tatsächlichen Sorgen und Nöten zu belasten. Im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben einige grössere Vollzugsanstalten deshalb besondere Besuchsformen eingeführt, welche bessere Rahmenbedingungen für persönliche Kontakte ermöglichen. Einige Vollzugsanstalten kennen für nicht fluchtgefährdete Gefangene den Besuch in einem erweiterten Ausgangsrayon ausserhalb des Anstaltsperimeters, was z.B. auch die Möglichkeit eines gemeinsamen Picknicks oder Restaurantbesuches einschliesst. Einige geschlossene Anstalten (Bostadel/ZG, La Stampa/TI, Orbe/VD, Hindelbank/BE) kennen das Institut des Intim- oder Familienbesuches, welches grundsätzlich Strafgefangenen mit längeren Strafen, aber ohne Urlaubsmöglichkeiten offen steht. Diese Anstalten verfügen über speziell für solche Besuche eingerichtete Appartements, in welchen sich Besucher und Besuchte ungestört über einen längeren Zeitraum – meist fünf bis sechs Stunden – aufhalten können. Im Grundsatz sind solche Besuche auch in den Anstalten des Kantons Zürich zulässig (Art. 99 der zürcherischen Justizvollzugsverordnung vom 24. Oktober 2001).
129
Bei der Zulassung von Besuchern wie auch bei der Durchführung der Besuche selbst sind die Anstaltsorgane regelmässig mit heiklen Abwägungsfragen konfrontiert: Unter welchen Bedingungen können Kin-
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181
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
der Strafgefangener als Besucher zugelassen werden? Unter welchen Voraussetzungen dürfen «dubiose» Besuchswillige vom Besuch grundsätzlich ausgeschlossen werden (z.B. ehemalige Komplizen, Drogendealer, Prostituierte, Mitglieder werbende Anhänger extremistischer Organisationen aller Art)? Wie lässt sich das Interesse an Kontrolle und Aufsicht über die Besuche mit dem Interesse an der Schaffung möglichst «normaler» Rahmenbedingungen für persönliche Kontakte verbinden? Wie weitgehend dürfen an Besuchern Körperkontrollen beim Anstaltseintritt vorgenommen werden? etc. Die für die letzten Jahrzehnte belegte Tatsache, dass die Besuchspraxis einerseits nur ganz selten zu Beschwerden geführt hat und dass durch diese andererseits die Sicherheit und Ordnung in den Anstalten nicht beeinträchtigt worden ist, legt es nahe, die in den meisten Anstalten geübte Besuchspraxis im Wesentlichen fortzusetzen.
5.10.4
Veranstaltungen mit externen Personen innerhalb der Anstalt
131
Beziehungen zur Aussenwelt können auch dadurch vermittelt werden, dass in der Anstalt direkte Kontakte zu externen Personen ermöglicht werden, welche mit Strafgefangenen nicht persönlich bekannt sind. Im Bundesrecht finden sich dazu (richtigerweise) keine konkreten Vorschriften und auch das kantonale Recht enthält dazu auf der Ebene der Anstaltsordnung gelegentlich bloss summarische Vorschriften.
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In der Praxis handelt es sich dabei meist um die Durchführung von Sportveranstaltungen in der Anstalt mit externen Mannschaften (z.B. Fussballturnier, Schachwettkampf), um kulturelle Veranstaltungen (Theaterproduktionen, musikalische Veranstaltungen) oder um bildende Anlässe (Vorträge, Kurse aller Art). Mit der zunehmenden Nutzung weitergehender Instrumente zur Öffnung der Anstalten nach aussen und nach der Einführung des individuellen Fernsehempfangs haben diese Veranstaltungen für die Strafgefangenen zwar an Attraktivität verloren, doch leisten sie namentlich in geschlossen geführten Anstalten weiterhin einen bedeutenden Beitrag zur Normalisierung des Alltags im Freiheitsentzug.
182
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
5.10.5
Urlaube
Urlaube entbinden Strafgefangene für einen definierten Zeitraum von der Verpflichtung, sich während des Freiheitsentzugs auf dem Anstaltsareal aufzuhalten. Damit widerspricht das Instrument des Urlaubs dem vorstehend erwähnten klassischen Konzept der strafrechtlichen Freiheitsentziehung. Urlaube sind das wirkungsvollste Instrument zur Aufrechterhaltung der Beziehungen Strafgefangener zur Aussenwelt (LII 5.10). Es ist deshalb überaus erstaunlich, dass das Bundesrecht vor der Revision des StGB von 2002 keine Vorschrift zum Gefangenenurlaub enthielt, obwohl dieses Instrument durch die Praxis und das kantonale Recht im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich ausgebaut worden ist. Allerdings hat der Bundesrat bereits im Jahre 1981 bestätigt, dass die Gewährung von Gefangenenurlauben zulässig und notwendig sei: Das Vollzugsziel «lässt sich nicht verwirklichen, wenn dem Gefangenen kein Kontakt zur Aussenwelt gewährt wird. Der Urlaub ermöglicht dem Gefangenen, solche Kontakte zu erhalten und aufzubauen. Die Gewährung von Urlaub ist deshalb von der Zielsetzung des Strafvollzugs her eine Notwendigkeit» (Antwort des Bundesrates vom 5. Oktober 1981 auf eine Einfache Anfrage SOLDINI).
133
Art. 84 Abs. 6 StGB kodifiziert diese Festlegung, allerdings ohne Einzelheiten der Gewährung von Urlauben zu regeln (RII 5.10.5a und 5.10.5b). Danach kommt dem Strafgefangenen unter drei Voraussetzungen ein Recht auf Urlaub zu: Erstens darf das Verhalten des Strafgefangenen im Strafvollzug dem nicht entgegenstehen. Wer erhebliche disziplinarische Probleme im Vollzug hat, verwirkt also das Recht auf Urlaub. Zweitens darf keine Gefahr bestehen, dass der Strafgefangene aus dem Urlaub flieht oder weitere Straftaten begehen wird. Für die Gewährung von Urlauben geht das Interesse an der Spezialprävention während des Freiheitsentzugs jenem an spezialpräventiven Wirkungen auf die Periode nach der Entlassung somit vor, doch sind selbstverständlich auch in diesem Falle die verschiedenen Interessen gegeneinander abzuwägen und verhältnismässige Lösungen zu treffen: Bezieht sich z.B. ein Rückfallrisiko bloss auf ausgesprochen geringfügige Straftaten, darf dies nicht zu einer Urlaubsverweigerung führen. Wird ein Urlaub wegen Rückfallgefahr verweigert, muss ein Sachverständiger das konkrete, individuelle Rückfallrisiko einer Urlaubsbewilligung abgeklärt haben. Die Erstellung einer allgemeinen Rückfallprognose mit Hilfe eines computergesteuerten Prognose-Systems ist nicht ausreichend (BGer-Urteil 6B_72/2007 vom 9. April
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183
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
2008). Und drittens muss eine Urlaubsgewährung aus einem der folgenden drei Gründe notwendig sein: entweder für die Pflege der Beziehungen zur Aussenwelt, zur Vorbereitung der Entlassung oder es müssen dafür «besondere Gründe» vorliegen (diese «besonderen Gründe» führen im Vollzugs-Jargon zu sog. «Sachurlauben»). Damit stellt das Bundesrecht klar, dass mit dem Instrument des Urlaubs Ziele im Sinne der allgemeinen Vollzugsgrundsätze (Art. 74 und Art. 75 Abs. 1 StGB) verfolgt werden, dass die Gewährung eines Urlaubs somit nicht als eine blosse «Hafterleichterung» missverstanden werden, aber auch nicht als Druckmittel eingesetzt werden darf (BGer-Urteil 1P_470/2004 vom 15. Oktober 2004 E. 5.3). 134a
Das Verfahren zur Urlaubsbewilligung ist bundesrechtlich nicht geregelt. Die einzige Ausnahme betrifft Strafgefangene, welche wegen einer schweren Straftat nach Art. 64 Abs. 1 StGB verurteilt wurden. Für diese Strafgefangenen verpflichtet Art. 75a StGB die zuständige kantonale Behörde, vor einem Urlaubsentscheid durch die begutachtende Kommission (Art. 62d Abs. 2 StGB) eine Überprüfung der Gemeingefährlichkeit vornehmen zu lassen (vgl. RII 6.2.7).
135
Das kantonale Recht regelt auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe meist summarisch die Voraussetzungen für eine Gewährung von Urlauben (Beziehungsurlaube, Sachurlaube), die Zuständigkeiten (Vollzugsbehörde, Anstaltsdirektion) und gelegentlich auch die Modalitäten (begleitete und unbegleitete Urlaube, Urlaubsdauer). Im Übrigen kommen die entsprechenden Richtlinien der Strafvollzugskonkordate zur Anwendung. Leider haben sich die drei Strafvollzugskonkordate noch immer nicht auf einheitliche Urlaubsrichtlinien verständigen können. In ihrer Grundstruktur und im Kern kann indessen von einer einheitlichen Urlaubsregelung gesprochen werden (RII 5.10.5a und 5.10.5b): Die Letztzuständigkeit für die Gewährung eines Urlaubs liegt immer bei der Vollzugsbehörde (auch wenn diese für bestimmte Gefangenenkategorien oder im Einzelfall an die Anstaltsdirektion delegiert werden kann. Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Urlaubs entsprechen insgesamt dem bundesrechtlichen Rahmen. Es wird grundsätzlich zwischen sog. «Sachurlauben» (bundesrechtlich: «Urlaub aus besonderen Gründen»; lateinische Schweiz: «Ausgänge») und sog. «Beziehungsurlauben» unterschieden.
184
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
RII 5.10.5a Richtlinien der Strafvollzugskonkordate zum Beziehungsurlaub
Mindestfrist
Frequenz
Konkordat Nordwest- und Innerschweiz
Konkordat Ostschweiz
Konkordat lateinische Schweiz
Offener Vollzug
1/6 der Strafe; frühestens nach 2 Monaten
1/6 der Strafe; frühestens nach 2 Monaten
1/3 der Strafe; frühestens nach 2 Monaten
Geschlossener Vollzug
1/3 der Strafe; frühestens nach 3 Monaten
1/3 der Strafe; frühestens nach 3 Monaten
analog «offener Vollzug»
Massnahmenvollzug
(1)
(2)
(3)
Offener Vollzug
alle 6 Wochen
alle 4 Woche
alle 2 Monate (3)
alle 4 Wochen
alle 2 Monate (3)
Geschlossener Vollzug Umfang (pro vollzogenem Monat)
Offener Vollzug
max. 32 h im 1. Jahr (im Jahr max. 16 Tage); max.42 h ab 2. Jahr (im Jahr max. 21Tage)
max. 32 h im 1. Jahr (im Jahr max. 16 Tage); max. 42 h ab 2. Jahr (im Jahr max. 21 Tage)
1.& 2. Urlaub: 24 h; 3.& 4. Urlaub: 36 h; 5.& 6. Urlaub: 48 h; ab 7. Urlaub: 54 h
Geschlossener Vollzug
max. 28 h im 1. Jahr (im Jahr max. 14 Tage); max. 32 h ab 2. Jahr (im Jahr max. 16 Tage)
max. 28 h im 1. Jahr (im Jahr max. 14 Tage); max. 32 h ab 2. Jahr (im Jahr max. 16 Tage)
analog «offener Vollzug»
Massnahmenvollzug
Je nach Therapieverlauf: max. 36 h (pro Jahr max. 18 Tage)
(2)
(3)
max. 56 h im 1. Jahr; max. 72 h ab dem 2. Jahr
max. 56 h im 1. Jahr; max. 72 h ab dem 2. Jahr
Maximaldauer (am Stück) Zusätzliche Sonderurlaube
Offener Vollzug
1 x max. 54 h
max. 96 h.; max. 5 Tage pro Jahr
max. 12 h (zur Weihnachtszeit)
Zusätzliche Ausgänge pro Monat
Offener Vollzug
max. 5 h; im 1. Jahr max. 1 Ausgang; ab 2. Jahr max. 2 Ausgänge
max. 5 h; im 1. Jahr max. 1 Ausgang, ab 2. Jahr max. 2 Ausgänge
fallspezifisch
185
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug Konkordat Nordwest- und Innerschweiz max. 5 h als Bestandteil therapeutischer Programme
Konkordat Ostschweiz
Konkordat lateinische Schweiz
max. 8 h im Rahmen therapeutischer Programme
analog «offener Vollzug»
Offener Massnahmenvollzug
Im Wissen der Einweisungsbehörde möglich
(2)
(3)
Geschlossener Massnahmenvollzug
Bewilligung durch Einweisungsbehörde nötig
(2)
(3)
Geschlossener Vollzug
(1) Der frühest mögliche Zeitpunkt der Urlaubsgewährung ist zwischen der Einweisungsbehörde und der Leitung der Vollzugseinrichtung abzusprechen. (2) Ausgangs- und Urlaubsgewährung gemäss Vollzugsplanung der Einweisungsbehörde, dem Vollzugsplan, dem Behandlungskonzept und der individuellen Entwicklung (bei Abwesenheit von mehr als 48 h ist die Zustimmung der Einweisungsbehörde erforderlich). (3) Für den Massnahmenvollzug sind die Festlegungen für den offenen bzw. geschlossenen Vollzug anwendbar. Quellen STRAFVOLLZUGSKONKORDAT DER NORDWEST- UND INNERSCHWEIZ: Richtlinien über die Ausgangs- und Urlaubsgewährung vom 19. November 2012; OSTSCHWEIZER STRAFVOLLZUGSKOMMISSION: Richtlinien über die Ausgangs- und Urlaubsgewährung vom 7. April 2006 (Fassung gemäss Beschluss vom 26. Oktober 2012); KONFERENZ DER JUSTIZ- UND POLIZEIDIREKTOREN DER LATEINISCHEN SCHWEIZ (LKJPD): Reglement vom 31. Oktober 2013 über die Gewährung von Ausgangsbewilligungen für erwachsene und junge erwachsene Verurteilte.
RII 5.10.5b Richtlinien der Strafvollzugskonkordate zu den Sachurlauben
Maximaldauer Normaldauer Quellen: s. RII 5.10.5a
186
Konkordat Nordwest- und Innerschweiz
Konkordat Ostschweiz
Konkordat lateinische Schweiz
16 h
16 h
unbegleitet: 16 h begleitet: 8 h unbegleitet: 12 h begleitet: 4 h
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
In der Praxis werden Urlaube aus offenen Vollzugsanstalten im Normalfall routinemässig bewilligt, solche aus geschlossenen Anstalten dagegen nur nach einer präzisen Planung des Urlaubs und nach diesbezüglichen Absprachen mit Angehörigen. Beinahe alle Urlauber kehren zeitgerecht und ohne Straftaten begangen zu haben in die Anstalt zurück: Die Missbrauchsquote liegt bei Urlaubern aus dem offenen Vollzug bei weniger als einem halben Prozent, bei Urlaubern aus dem geschlossenen Vollzug im Bereich von einem halben bis zu zwei Prozent der bewilligten Urlaube. In den Jahren 2010 bis 2013 kehrten zudem über 50% der unerlaubt Abwesenden innerhalb einer Woche freiwillig zurück. Im Verlaufe eines Jahrzehnts (1999–2009) haben drei strafrechtlich Verwahrte während eines Urlaubs eine Straftat begangen (Antwort des Bundesrates auf eine Einfache Anfrage GALLADÉ vom 18. Februar 2009).
136
Im Zusammenhang mit schweren Straftaten, welche von Urlaubern begangen wurden, stellte sich in jüngster Zeit die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen den Staat, der seine Bürger und deren Rechtsgüter zu schützen hat, in solchen Fällen eine Haftpflicht trifft. Obwohl in konkreten Fällen etliche heikle Rechtsfragen zu klären sind, lässt sich allgemein feststellen: Werden Urlaubsbewilligungen unter Einbezug des verfügbaren Wissensstandes und nach sorgfältiger Interessensabwägung getroffen, verstossen sie nicht gegen eine allgemeine gesetzliche Pflicht und sind somit nicht widerrechtlich, womit eine Staatshaftung entfällt. Zur Staatshaftung von zu einer lebenslangen Verwahrung Verurteilten vgl. Abschnitt 9.4.2 N. 66.
137
Zur Berücksichtigung der Informationsinteressen der Opfer im Zusammenhang mit der Urlaubsgewährung vgl. Abschnitt 5.15 N. 195.
138
5.10.6
Besuch von Veranstaltungen und Anlässen ausserhalb der Anstalt
Darunter fallen Angebote, ausserhalb des Anstaltsperimeters, begleitet durch Mitarbeitende der Anstalt oder freie Mitarbeiter, Anlässe aller Art besuchen zu können: Vorträge und Kurse, Theaterund Musikveranstaltungen, Sportanlässe, Ehepaar- und Familienwochenenden. Darunter können auch Anlässe subsumiert werden, welche von Anstalten, ggf. in Zusammenarbeit mit einem aussenstehenden Partner, organisiert werden, wie etwa die von der Anstalt Witzwil/BE in Zusammenarbeit mit Behindertenorganisationen früher regelmässig durchgeführten Behinderten-Trekkings oder Bergwanderwochen. Sol-
187
139
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
che Angebote bleiben aus Gründen der öffentlichen Sicherheit normalerweise auf offene Anstalten beschränkt. 140
Bundesrechtlich gibt es dazu keine ausdrücklichen Regelungen und auch im kantonalen Recht werden solche Angebote normalerweise erst auf der Stufe der Anstaltsreglemente geregelt. Als Konsequenz des Ausbaus der Urlaubsmöglichkeiten sind diese Angebote allerdings eher rückläufig.
5.10.7
Telefonverkehr
141
Auch zum Telefonverkehr enthält das Bundesrecht, über die allgemeinen Grundsätze von Art. 84 StGB hinaus, keine ausdrücklichen Vorschriften. Allerdings hat der Bundesrat bereits vor einem Vierteljahrhundert (in seiner Antwort auf eine Einfache Anfrage BIRCHER vom 9. Juni 1981) bekräftigt, dass der Telefonverkehr nur so weit beschränkt werden dürfe, als dies die Ordnung (und die Sicherheit) in der Anstalt gebietet. Das kantonale Recht regelt den Telefonverkehr meist erst auf der Ebene der Anstaltsreglemente, wobei einzelne Kantone über eine allgemeine Norm auf einer höheren Erlassstufe verfügen (so der Kanton Bern in Art. 49 Abs. 4 SMVG/BE).
142
In der Praxis verfügen die Strafgefangenen in den offen geführten Anstalten über einen freien Zugang zu Telefonkabinen. In den geschlossenen Anstalten ist die Praxis unterschiedlich. In etlichen geschlossenen Anstalten haben Strafgefangene ebenfalls einen freien Zugang zu telefonischen Aussenkontakten, in der Anstalt Pöschwies/ZH werden die anwählbaren Telefonnummern dagegen individuell beschränkt und auch die Gesprächsdauer ist begrenzt. Und im Kanton Aargau gilt weiterhin der Grundsatz einer umfassenden Überwachung des Telefonverkehrs (§ 68 Abs. 1 SMV/AG). Gespräche werden normalerweise akustisch nicht überwacht, aber teilweise aufgezeichnet. Die Gespräche werden in der Regel mit Telefonkarten beglichen. Aus Sicherheitsgründen können einzelne Gefangene oder Abteilungen indessen vom freien und unüberwachten Telefonverkehr ausgeschlossen werden. In hohem Masse problematisch ist eine verdeckte Überwachung von Telefongesprächen, weil der Telefonpartner von dieser Überwachung keine Kenntnis hat. Demgegenüber stehen in den überwiegend der Untersuchungshaft dienenden regionalen Gefängnissen meist keine solchen Einrichtungen zur Verfügung, was die Möglichkeiten zu telefonischen Kontakten mit Angehörigen über Gebühr einschränken kann.
188
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Während der Telefonverkehr von Gefangenen nach aussen somit in hohem Masse liberalisiert worden ist, unterstehen Anrufe von aussen weiterhin erheblichen Einschränkungen. Das bernische SMVG/BE bestimmt beispielsweise in Art. 49 Abs. 4, dass eingehende telefonische Mitteilungen nur in «dringenden Fällen weitergeleitet» werden. Die Problematik eingehender Telefonate liegt – abgesehen vom ganz erheblichen Vermittlungsaufwand – darin, dass telefonische Anrufer nicht mit Sicherheit identifiziert werden können und die Anstalten aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht befugt sind, Dritten zu offenbaren, dass ein bestimmter Insasse in der betreffenden Anstalt inhaftiert ist.
143
Auf Grund von ausdrücklichen Verordnungsbestimmungen oder anstaltsinternen Weisungen werden im Übrigen Mobiltelefone generell nicht zugelassen, da diese jede Art von Kontrolle des Telefonverkehrs verunmöglichen. Dieses Verbot lässt sich, angesichts der geringen Grösse der neueren Geräte, allerdings nicht lückenlos durchsetzen. Die Justizvollzugsanstalt Lenzburg/AG hat deshalb, mit Bewilligung des BAKOM, einen Störsender in Betrieb genommen, mit welchem der Mobiltelefonverkehr aus und in die Anstalt im Jahre 2008 zum Erliegen gebracht wurde.
143a
Im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung der Kommunikationsformen werden in einigen westschweizer Anstalten im Moment Konzepte entwickelt, wie kostengünstige, internetbasierte Dienste wie z.B. «Skype» für die Kommunikation mit Angehörigen vor allem von ausländischen Insassen genutzt werden könnten.
143b
5.10.8
Internetkommunikation/ Elektronisch gespeicherte Daten
Der Zugang zum Internet bleibt Strafgefangenen grundsätzlich verwehrt. Dies in der Regel auf der Grundlage anstaltsinterner Weisungen; ein ausdrückliches Verbot auf Verordnungsstufe kennen bloss die Kantone GR, NE, SH und ZH. Für dieses Verbot gibt es offensichtlich gute Gründe: Internetkontakte sind kaum oder nur sehr aufwändig kontrollierbar, können aber – etwa durch Drogenhändler oder Pädophile – leicht für die Vorbereitung krimineller Handlungen eingesetzt werden. Angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung des Internets vermag ein Verbot ohne Ausnahme indessen nicht zu befriedigen. Dies jedenfalls nicht für Gefangene in der Vollzugsform des Arbeits- und/oder Wohnexternates. Wie die unbestreitbaren Risiken der
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144
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Internetkommunikation gegenüber dem Normalisierungsgrundsatz in konkreten Fällen abzuwägen sind, muss indessen der künftigen Rechtsprechung überlassen bleiben. 144a
Nicht bloss im Zusammenhang mit der Internetkommunikation stellen elektronisch gespeicherte Daten die Anstalten vor erhebliche Kontrollprobleme. Deshalb werden z.B. CD- und DVD-Brenner sowie Laptops normalerweise nicht zugelassen. Die entsprechenden Regeln – so etwa zu privaten Spielkonsolen wie Playstations (vgl. BGer-Urteil 1P.780/2006 vom 22. Januar 2007) – werden meist in anstaltsinternen Weisungen konkretisiert.
5.10.9
Bezug von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern
145
Dazu findet sich im Bundesrecht keine und im kantonalen Recht (wenn überhaupt) meist bloss eine summarische Regelung. Gestützt auf den Grundrechtsschutz hat das Bundesgericht dazu allerdings eine reichhaltige Rechtsprechung entwickelt: Der Bezug von Druckschriften von aussen ist zulässig, sofern diese den Haftzweck nicht gefährden und davon nicht übermässig Gebrauch gemacht wird (BGE 102 Ia 296). Eine Bezugssperre für die Dauer der ersten Haftwoche ist aus Ordnungsgründen zulässig (BGE 118 Ia 64 E. 3I bb; 99 Ia 282 E. 10). Dies gilt auch für die ersten Tage einer disziplinarischen Arreststrafe (BGE 117 Ia 187), über mehrere Wochen indessen nur bei schweren oder wiederholten Disziplinarvergehen (BGE 118 Ia 64 E. 3r). Bei Missbrauchsgefahr kann ein Bezug von Druckschriften davon abhängig gemacht werden, dass diese durch die Anstaltsleitung bestellt werden (BGE 102 Ia 295), es sei denn, diese Auflage verunmögliche faktisch den Bezug von – nur im Ausland beziehbaren – Druckschriften (BGE 122 I 222 E. 6c). Ist bei einer in einer fremden Sprache verfassten Druckschrift ihre Unbedenklichkeit nicht ohne nähere Lektüre ersichtlich, kann ihre Aushändigung von der Vorlage einer Übersetzung abhängig gemacht werden (BGE 103 Ia 167). In einer Druckschrift ausgesprochene Kritik am Strafvollzug bedeutet nicht bereits eine Gefährdung des Haftzweckes; dies ist erst dann anzunehmen, wenn der Gefangene zum Widerstand gegen das Anstaltspersonal aufgerufen oder der Vollzug behindert wird (unveröff. BGE vom 21. Juni 1977, Stiffel c. Staatsanwaltschaft Zürich).
146
Diese Rechtsprechung wiederspiegelt die durch die Anstaltsleitungen bis in die 1980er-Jahre geübte (allzu) restriktive, paternalistische Bewilligungspraxis. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts und die
190
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
zunehmende Anerkennung des Normalisierungsgrundsatzes hat in der Praxis seither zu einer weitgehenden Liberalisierung geführt: Druckschriften, welche an einem Kiosk oder in einer Buchhandlung erhältlich sind, werden normalerweise auch im Vollzug zugelassen. Nicht zugelassen werden dagegen selbstverständlich Druckschriften mit rechtswidrigem Inhalt (namentlich harte Pornographie und Rassendiskriminierung), ferner solche, welche zu strafbaren Handlungen verleiten oder anleiten oder die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt gefährden.
5.10.10 Radio und Fernsehen Die Rechtslage in Bezug auf den Empfang von Radio- und Fernsehsendungen ist sowohl in Bezug auf das Bundesrecht wie auch auf das kantonale Recht vergleichbar mit jener für den Bezug von Druckschriften aller Art. Auch für diesen Bereich hat die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu massgeblichen Klärungen geführt: Strafgefangene haben zwar grundsätzlich das Recht, Radio- und Fernsehsendungen zu empfangen (BGE 102 Ia 297), können aber keinen Anspruch auf individuelle Geräte geltend machen (BGE 102 Ia 297; 99 Ia 262 E. 5 Ziff. 11; 97 I 839 E. 8b). Ein solcher kann aber bei längerer Haftdauer – für kontrollierte und allenfalls plombierte Geräte – entstehen (BGE 102 Ia 196 f.). Dies auch dann, wenn der Strafgefangene die allgemein zugänglichen Sendungen aus sprachlichen Gründen nicht versteht (BGE 106 Ia 136; unveröffentlichte E. 4d). Ob ein Gefangener generell einen Grundrechtsanspruch darauf hat, ein Fernsehprogramm eigener Wahl zu verfolgen, lässt das Bundesgericht offen (BGE 118 Ia 64 E. 3m). Ein solcher Anspruch besteht jedoch jedenfalls dann, wenn die Schallisolation zwischen den Zellen dies zulässt. Während ein Radioverbot bei einem Disziplinararrests von einigen Tagen zulässig ist, wäre eine Kumulation von Zeitungs-, Radio- und Fernsehentzug über mehrere Wochen kaum grundrechtskonform; auch eine Einzelmassnahme dürfte diesfalls nur bei schweren oder wiederholten Disziplinarvergehen zur Anwendung kommen (BGE 118 Ia 64 E. 3r).
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Diese Rechtsprechung dokumentiert den bis in die 1980er-Jahre sehr restriktiven Zugang zu Radio- und Fernsehsendungen, welcher vorab mit den «erzieherischen Aufgaben» des Vollzugs legitimiert wurde und Interessen der Informationsfreiheit als zweitrangig bewertete. In der heutigen Vollzugspraxis wird den Gefangenen grundsätzlich zugebilligt, in ihrer Zelle über eigene Radio- und Fernsehgeräte zu verfügen – sofern sie in der Lage sind, solche zu erstehen oder zu mieten. Massgeblich für diesen Wandel war allerdings nicht bloss die diesbezügliche
148
191
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
Rechtsprechung des Bundesgerichts und die vermehrte Berücksichtigung des Normalisierungsgrundsatzes, sondern auch die Einsicht, dass solche Angebote wesentlich zur Beruhigung des Anstaltsalltags beitragen – namentlich für Gefangene, welche sich abends und über die Wochenenden über lange Stunden in ihrer Zelle aufzuhalten haben. Von der Liberalisierung des Fernsehempfangs nicht immer profitieren können aus technischen Gründen in etlichen Anstalten Strafgefangene ausländischer Nationalität, welche mangels Sprachkenntnissen den im Kabelfernsehen angebotenen Sendungen nicht zu folgen vermögen.
5.11
Kontrollen und Untersuchungen sowie Anwendung unmittelbaren Zwangs
5.11.1
Kontrollen und Untersuchungen
149
Es ist unbestritten, dass die Zellen und die dort untergebrachte Habe der Strafgefangenen – einschliesslich Schriftstücke – sowie die Strafgefangenen selbst aus Gründen der Sicherheit und Ordnung grundsätzlich jederzeit kontrolliert werden dürfen. Solche Massnahmen bedeuten in der Sache indessen erhebliche Eingriffe in die Privatsphäre der Gefangenen. Kontrollen und Durchsuchungen sind daher nur zulässig, wenn sie den Anforderungen von Art. 85 StGB genügen: Im Gegensatz zu Zellenkontrollen sind Körperkontrollen danach nur im Verdachtsfall zulässig und von einer Person des gleichen Geschlechts durchzuführen. Die Anwesenheit anderer Gefangener bei der Körperkontrolle ist dann nicht zulässig, wenn sich der Gefangene dazu entkleiden muss. Schliesslich dürfen Untersuchungen im Körperinnern ausschliesslich durch einen Arzt oder durch anderes medizinisches Personal vorgenommen werden.
150
Diesen Vorgaben entspricht die Praxis in den grösseren Vollzugsanstalten seit längerer Zeit, während sie in kleinen Gefängnissen mit beschränkten Raum- oder Personalressourcen bislang nicht lückenlos umgesetzt werden konnten.
192
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
5.11.2
Zwangsmassnahmen
LII 5.11.2 Literatur zum Einsatz von Zwangsmassnahmen EIDGENÖSSISCHE JUSTIZABTEILUNG (Hrsg.): Suizide und Psychopharmaka im Gefängnis. Bern 1978; GUILBERT Patrick et al.: Jeûne et protestation. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Chêne-Bourg 2006, 369–383; MONA Martino: Einwilligung und Unfreiheit. Patientenautonomie im Strafvollzug zwischen Selbstbestimmung und Zwangsbehandlung. In: Riklin Franz / Mez Bettina (Hrsg.): Gefängnismedizin und Strafjustiz. Eine unheilvolle Verbindung. Bern 2012; REYES Hernan: Fouilles corporelles. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Chêne-Bourg 2006, 397–418; SCHWOB Renate: Zwangsbehandlung im Straf- und Massnahmenvollzug. Basel 1981; TERRA Jean-Louis: Prévention du suicide des personnes détenus. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Chêne-Bourg 2006, 333–344.
Die Anwendung unmittelbaren Zwangs gegenüber Strafgefangenen ist bundesrechtlich nicht geregelt und auch im kantonalen Recht finden sich bloss vereinzelt explizite Vorschriften. Diese Massnahmen stützen sich deshalb meist entweder auf die polizeiliche Generalklausel (wenn es um unmittelbare Gefahrenabwehr geht) oder werden dadurch legitimiert, dass sie für die Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Verpflichtungen unerlässlich seien (etwa bei ärztlichen Zwangsbehandlungen; LII 5.11.2). Verhältnismässig detaillierte Regelungen finden sich in den Kantonen Zürich (§ 23 Straf- und Justizvollzugsgesetz) und Bern (Art. 60 SMVG/BE), wo die Anwendung des unmittelbaren Zwangs als letztes Mittel auf schwerwiegende Vorkommnisse eingegrenzt wird. Eine detaillierte Regelung der Anordnung von Zwangsmedikationen kennt der Kanton Bern (Art. 62–66 SMVG/BE).
151
Besonders heikel sind Zwangsmassnahmen an suizidgefährdeten Strafgefangenen sowie im Falle von Hungerstreiks. Handelt es sich um urteilsfähige Insassen, geraten zwei Grundsätze zueinander in Widerspruch: das Grundrecht auf persönliche Freiheit und die besondere Fürsorgepflicht. Gemäss den Erhebungen des BUNDESAMTES FÜR STATISTIK belief sich die Anzahl der Suizide im schweizerischen Freiheitsentzug in den Jahren 2009 bis 2013 auf durchschnittlich sechs pro Jahr (2013: 2 / 2012: 9 / 2011: 6 / 2010: 6 / 2009: 7). Dies ergibt knapp einen Suizid auf tausend Insassen. Beinahe die Hälfte aller Selbsttötungen betrifft Nichtverurteilte, die sich in Untersuchungshaft befinden. Obwohl unbestritten ist, dass mit Blick auf Suizide der besonderen Fürsorgepflicht eine hohe Priorität zukommt, lässt sich kaum
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193
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
abstrakt regeln, wie weit in konkreten Fällen mit suizidverhütenden Massnahmen in die persönliche Freiheit Strafgefangener eingegriffen werden darf (z.B. permanente, langzeitliche Überwachung durch Videokameras, Unterbringung in einer Einzelzelle ohne suizidermöglichende Ausstattung und/oder ohne Bekleidung, medikamentöse Ruhigstellung). Entsprechend finden sich im kantonalen Recht dazu keine konkretisierenden Festlegungen. Gewisse Anstalten sehen jedoch Leitfäden zur Suizidprävention vor, um den Mitarbeitern im konkreten Fall eine Hilfestellung zu bieten.
5.11.3
Exkurs: Hungerstreik
LII 5.11.3 Literatur zum Exkurs: Hungerstreik BRÄGGER Benjamin F.: Zwangsernährung im Strafvollzug. Replik zu «Hungerstreik und Strafvollzug» von Markus Müller. In: Jusletter vom 16. August 2010; JACOBS Pauline: Force-feeding of prisoners and detainees on hunger strike. Right to selfdetermination versus right to intervention. Cambridge/Portland 2012; MÜLLER Markus: Hungerstreik und Strafvollzug. In: NZZ vom 29. Juli 2010; NOLL Thomas: Hungerstreik in U-Haft und Vollzug. In: FP 6/2013, 369–375 ; RIKLIN Franz: Zwangsmassnahmen im Bereich der Gesundheitsfürsorge (Verweigerung der Behandlung, Hungerstreik). In: Queloz Nicolas et al. (Hrsg.): Medizin und Freiheitsentzug. Médecine et détention. Bern 2002, 45–64; WALDENMEYER Catherine: Zwangsernährung im Schweizerischen Strafvollzug. Recht und Gesundheit Junge Rechtswissenschaft Luzern. In: LBR Bd. 70. Zürich 2013, 209–237; WINIGER Roland: Hungerstreik und Zwangsernährung. In: ZStrR 1978, 386–409. 153
Ein konkretes Problemfeld unmittelbaren Zwangs im Strafvollzug ist der relativ häufig vorkommende Hungerstreik; oftmals als Ausdruck davon, dass sich ein Häftling weigert, an der Durchsetzung der Strafe mitzuwirken. Obwohl die Mehrheit der Streikenden ihren Protest nach kurzer Zeit freiwillig wieder abbricht, gibt es auch Insassen, die fest entschlossen zu sein scheinen, den Hungerstreik bis zum unausweichlichen Ende durchzuziehen. Das Anstaltspersonal muss im Falle eines Hungerstreiks – d.h. sobald ein Häftling zu erkennen gibt, dass er in einen Hungerstreik treten will – den Gefängnisarzt, Psychiater und die Leitung der Justizvollzugsanstalt darüber in Kenntnis setzen. Während eines Hungerstreiks werden die Betroffenen selbstverständlich weiterhin mit Nahrungsmitteln versorgt, über die Folgen einer andauernden Nahrungsverweigerung informiert und mittels Gesprächskontakten z.B. mit einem Arzt, einem Anstaltsseelsorger oder Angehörigen zum Abbruch des Hungerstreiks motiviert. Der Häftling wird zudem in
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
regelmässigen Abständen vom Gefängnisarzt untersucht und parallel dazu von einem Psychiater begutachtet, um eine mögliche Suizidalität und andere psychische Auffälligkeiten zu eruieren. Im Falle, dass der somatische oder psychische Zustand aufgrund langandauernder Nahrungsverweigerung kritisch wird, weist der Gefängnisarzt den Häftling in ein Spital ein, welches den Anforderungen an eine weitgehende Überwachung und zeitnahe medizinische Intervention besser gerecht wird. Ob eine Zwangsernährung im Falle eines Hungerstreiks aus juristischer Sicht zulässig ist, wird kontrovers diskutiert. Das Bundesgericht stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Zwangsernährung aufgrund der Verpflichtung des Staates, das Leben und die Gesundheit seiner Häftlinge zu schützen (Art. 2 EMRK), zulässig sei (BGE 136 IV 97). Damit folgt es der Lehrmeinung, dass durch die Zwangsernährung kein unverhältnismässiger Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit oder die persönliche Freiheit des Häftlings vorliege. Das Selbstbestimmungsrecht des Streikenden gehe nicht so weit, dass er sein Leben aufs Spiel setzen dürfe, um den Staat – zur Erreichung seines widerrechtlichen Ziels – unter Druck zu setzen. Vorausgesetzt wird jedoch, dass die Zwangsernährung kunstgerecht durchgeführt wird, um nicht das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu verletzen. In denjenigen Kantonen, in welchen eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff fehlt, kann die Zwangsernährung gemäss dieser Lehrmeinung nötigenfalls auch gestützt auf die polizeiliche Generalklausel angeordnet werden. Die Gegenseite vertritt demgegenüber die Auffassung, dass eine Zwangsernährung dem Erfordernis der Verhältnismässigkeit nicht genügen könne und zudem gegen verschiedene Erlasse wie die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW, die «Deklaration von Malta» der World Medical Association WMA und die WMA-Deklaration von Tokio verstosse. Zudem wird der «widerrechtliche Zweck» des Hungerstreiks in Abrede gestellt, da es nie verboten sei, sein Leben zu riskieren. Der Kanton Bern verfügt mit Art. 61 SMVG/BE über detaillierte Vorgaben für den Fall eines Hungerstreiks: Solange von einer freien Willensbestimmung des Hungerstreikenden ausgegangen werden kann, darf keine Zwangsmassnahme ergriffen werden. Andernfalls ist eine Zwangsernährung unter ärztlicher Leitung anzuordnen, sobald Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Gefahr für den Betroffenen vorliegt, sofern die Zwangsmassnahmen zumutbar sind und sofern sich daraus weder eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der davon betrof-
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153a
153b
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
fenen Person ergibt. In der Praxis richten sich im Falle von Hungerstreiks auch die anderen Kantone nach diesen Grundsätzen. Im Übrigen liegt kein hinreichender Grund für eine Vollzugsunterbrechung vor, wenn ein Strafgefangener in den Hungerstreik tritt (BGE 136 IV 97).
5.12
Disziplinarrecht
LII 5.12 Literatur zum Disziplinarrecht ACKERMANN Jürg-Beat: Disziplinarstrafen in Zürcher Gefängnissen und EMRK 3. In: Donatsch Andreas / Forster Marc / Schwarzenegger Christian (Hrsg.). Festschrift für Stefan Trechsel. Zürich 2002, 835–859; BRÄGGER Benjamin F.: Überblick über das Disziplinarrecht im schweizerischen Freiheitsentzug. In: SZK 1/2003, 25–36; FRICKER Christoph: Disziplinar- und besondere Sicherheitsmassnahmen. Normative und tatsächliche Ausgestaltung im straf- sowie strafverfahrensrechtlichen Freiheitsentzug der Schweiz. Bern 2004; HUBER Lukas: Disziplinarmassnahmen im Strafvollzug. Diss. Basel/Frankfurt 1995; ISENHARDT Anna: Disziplinarverstösse im schweizerischen Straf- und Massnahmenvollzug. Ergebnisse einer Erhebung zur Situation in den Anstalten. In: SZK 2/2016; ISENHARDT Anna / GISLER Charlotte / HOSTETTLER Ueli: Arten und Anordnungshäufigkeit von Disziplinarsanktionen im Schweizer Straf- und Massnahmenvollzug. In: Neubacher Frank (Hrsg.): Krise, Kriminalität, Kriminologie. Mönchengladbach 2016. 154
Das Disziplinarrecht dient im Strafvollzug (wie für andere Personenkollektive: Beamte, Militär, Angehörige einer Universität etc.) der Durchsetzung der besonderen Pflichten der ihm Unterworfenen, ist also ein administratives Zwangsmittel (LII 5.12). Anders als im klassischen Strafrecht kann deshalb aus Opportunitätsgründen auf eine disziplinarische Sanktionierung verzichtet werden. Einige kantonale Disziplinarordnungen sehen ausdrücklich vor, dass leichte Disziplinarvergehen in einem informellen, einvernehmlichen Verfahren bereinigt werden. Obwohl das Disziplinarrecht im Strafvollzug schwere Eingriffe in die Grundrechte der Strafgefangenen erlaubt, namentlich die Anordnung eines Disziplinararrestes, enthielt das Bundesrecht bis vor kurzem keine diesbezüglichen Regeln.
155
Das kantonale Recht regelt das Disziplinarrecht meist auf Verordnungsstufe, auf Gesetzesstufe lediglich in den Kantonen AR, BE, GR, JU, NE, NW, SO, ZH, TG sowie in FR für die Anstalt Bellechasse. Anders als noch vor der Revision von 2002 haben beinahe alle Kantone die Disziplinarstraftatbestände detailliert umschrieben (der Kanton FR für die Strafanstalt Bellechasse sogar mit einer abschliessenden Aufzäh-
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5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
lung). Die Ausnahmen sind der Kanton Uri, welcher über keine Anstalt verfügt, sowie der Kanton Appenzell Innerrhoden. Ordentliches Disziplinarorgan ist fast immer die Anstaltsleitung. Ausnahmsweise erfolgt eine Delegation der Disziplinarkompetenz an untergeordnete Dienststellen oder – bei schwersten Disziplinarverstössen oder bei Verstössen gegen die Anstaltsleitung – auch an übergeordnete Behörden. Die Disziplinarsanktionen sind bereits überwiegend den bundesrechtlichen Vorgaben angepasst worden (Art. 91 Abs. 2 StGB). Einen bedingten Vollzug einer Disziplinarsanktion sehen rund die Hälfte der Kantone vor, teilweise allerdings nur für die Arreststrafe. Für den Arrest wird eine sehr unterschiedliche Höchstdauer festgelegt: In zwei Kantonen liegt die Höchstdauer bei 30 Tagen (FR und NE), in neun Kantonen bei 20 oder 21 Tagen (BE, AG, GR, SG, SH, SZ, TG, VS und ZH), in fünf Kantonen bei 14 oder 15 Tagen (JU, LU, NW, OW und SO) und in vier Kantonen bei 10 Tagen (BS, GE, TI und ZG). Die tiefste maximale Arrestdauer kennen die Kantone TI, ZG, BS und GE (10 Tage), die höchste die Kantone FR und NE (30 Tage). Disziplinarentscheide können durchwegs bei einer übergeordneten Instanz angefochten, und normalerweise ggf. an das Verwaltungsgericht weitergezogen werden. Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Disziplinarstrafen bestätigt (BGE 106 Ia 297). Disziplinarentscheide müssen bei schweren Disziplinarstrafen schriftlich (sonst jedenfalls mündlich) begründet werden (unveröff. BGE vom 19. Juli 1976, publ. in EuGRZ 1976 307). Als Disziplinarsanktion wurde in einem älteren Entscheid selbst die Kostschmälerung noch als rechtmässig erkannt, sofern diese nicht Hunger oder gesundheitliche Schäden nach sich zieht (BGE 99 Ia 289). Zulässig ist ferner eine disziplinarische Sperre des Bücher- und Zeitungsbezugs sowie von Radio- und Fernsehempfang für eine gewisse Zeit (BGE 118 Ia 64 E. 3r). Ausdrücklich als verfassungsrechtlich zulässig erklärte das Bundesgericht auch die eingriffsstärkste Disziplinarsanktion – die Arreststrafe. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Minimalanforderungen, namentlich bezüglich Zellengrösse, Belichtung und Belüftung, eingehalten werden. Arrestzellen mit Toiletten ohne Wasserspülung sind dann menschenwürdig, wenn für eine genügende Belüftung der Zelle und eine regelmässige Leerung des Kübels gesorgt wird. Sauberes Trinkwasser muss jedenfalls jederzeit verfügbar sein (unveröff. BGE vom 19. Juli 1976, publ. in EuGRZ 1976 308). Bei schweren Disziplinarverstössen darf der Vollzug der Arreststrafe von einigen Tagen mit der Sperre von Zeitungen und einem Verbot des Radioempfangs verbunden werden (BGE 117 Ia 189 E. 46). Die Haftbedingungen
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Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
im Arrest dürfen im Übrigen durchaus schlechter sein als im normalen Vollzug (BGE 124 I 231 E. 2b bb). 157
In Bezug auf die Arreststrafe stellt sich allerdings die Frage, ob diese nach ihrer Natur oder nach der Schwere des Eingriffs als strafrechtliche Sanktion i.S. von Art. 5 Ziff. 1 EMRK zu werten sei. Diese Frage ist vom Bundesgericht zunächst mit der Begründung verneint worden, diese Sanktion weiche hinsichtlich der Art, Dauer, Wirkungen und der Modalität des Vollzugs nicht in der Weise von den Lebensbedingungen ab, die für Gefangene üblicherweise gelten, als dass sie als selbständiger Freiheitsentzug i.S. von Art. 5 Ziff. 1 EMRK zu werten sei (unveröff. BGE vom 19. Juli 1976, publ. in EuGRZ 1976 307). Mittlerweile hat das Bundesgericht seine Praxis geändert und erklärt, eine Arreststrafe sei ab einer gewissen Dauer – ab 20 Arresttagen – als Sanktion i.S. von Art. 5 ERMK zu qualifizieren und müsse deshalb einer richterlichen Überprüfung zugänglich sein (BGE 118 Ia 64 E. 3 s bb; 125 I 104). In einigen Kantonen könnte die mögliche Höchststrafe für einen Disziplinarverstoss somit die vom Bundesgericht festgesetzte Grenze von 20 Arresttagen erreichen. Die übliche Höchstdauer von Arreststrafen erreicht diese Grenze in der Praxis jedoch nicht.
158
Mit dem Inkrafttreten des StGB von 2002 hat das Bundesrecht eine ausdrückliche Norm zum Disziplinarrecht erhalten (Art. 91 StGB). Diese hält vorab den Grundsatz fest, dass gegen Strafgefangene Disziplinarsanktionen verhängt werden können, sofern diese in schuldhafter Weise gegen Strafvollzugsvorschriften oder den Vollzugsplan verstossen haben. Zudem wird der Katalog der zulässigen Disziplinarsanktionen abschliessend vorgegeben: der Verweis, der zeitweise Entzug oder die Beschränkung der Verfügung über Geldmittel, der Freizeitbeschäftigung oder der Aussenkontakte, die Busse sowie der Arrest. Schliesslich werden die Kantone verpflichtet, disziplinarrechtliche Vorschriften zu erlassen, welche jedenfalls die Disziplinartatbestände, die Sanktionen und deren Zumessung umschreiben und das Verfahren regeln.
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Art. 91 StGB entspricht einem dringlichen Bedürfnis. Denn die Vorschriften der Kantone zum Disziplinarrecht sind – mit Ausnahmen – äusserst lückenhaft und entsprechen nicht durchwegs den bundesgerichtlichen Vorgaben. Eine empirische Untersuchung (FRICKER 2004) hat namentlich aufgezeigt, dass in etlichen Vollzugseinrichtungen Disziplinarmassnahmen nicht schriftlich eröffnet werden, dass den Betroffenen das rechtliche Gehör nicht durchwegs gewährt wird und dass über Disziplinarmassnahmen nicht immer ein umfassendes Re198
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
gister geführt wird. Nicht überall genügen ferner die Arrestbedingungen den Anforderungen (z.B. fehlende Spaziermöglichkeiten im Freien). Bemerkenswert sind auch die interkantonalen Unterschiede bei der Anwendung des Disziplinararrests, die sich nicht auf harte Fakten zurückführen lassen, sondern eher auf unterschiedliche Anstaltskulturen verweisen. Diese Studie beschäftigte sich hauptsächlich mit Arrest und der normativen und tatsächlichen Ausgestaltung dieser spezifischen Sanktion. Obwohl Anstalten aus allen Landesteilen einbezogen wurden, ist die Stichprobe wenig systematisch und nicht repräsentativ für eine gesamtschweizerische Sicht. Eine neue, vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie dagegen ermöglicht erstmals eine gesamtschweizerische Einschätzung des Disziplinarwesesn im Justizvollzug. Erste Resultate zu Formen und Prävalenz von Verstössen und zu Arten und Anordnungshäufigkeiten von Disziplinarsanktionen für 22 der 25 Einrichtungen des Straf- und Massnahmenvollzugs liegen für die Jahre 2011–2013 vor (SII 5.12). Die Problematik der Anwendung des Disziplinarrechts in der Praxis besteht im Übrigen häufig darin, dass die Feststellung des Sachverhalts – namentlich bei Schlägereien mit einer Mehrzahl von Beteiligten – mit grossen Unsicherheiten verbunden ist. Trotzdem sind Beschwerden gegen Disziplinarentscheide erstaunlich selten. Im Kanton Bern sind es pro Jahr aktuell rund 20 Beschwerden, in den 1990er-Jahren waren es jährlich noch höchstens ein halbes Dutzend Beschwerden.
160
Auch im revidierten StGB von 2002 ist (wie im kantonalen Recht) der heikle Fall des Zusammentreffens eines Disziplinarvergehens mit einer Straftat nicht geregelt. Diese Frage stellt sich z.B. dann, wenn ein Urlauber gegen die Weisung verstösst, im Urlaub keine Drogen zu konsumieren oder wenn er im Urlaub ein Fahrrad zum Gebrauch entwendet. Sind solche Straftaten den Untersuchungsbehörden zu melden? Darf ein solcher Verstoss dann sowohl disziplinarrechtlich als auch strafrechtlich sanktioniert werden (oder hat eine Disziplinarstrafe z.G. der strafrechtlichen Verurteilung zurückzutreten)? Müsste – falls sowohl das Disziplinarrecht als auch das Strafrecht angewendet wird – dies bei der Strafzumessung berücksichtigt werden? Diese Fragen werden kontrovers diskutiert. In der Praxis werden sie häufig dadurch entschärft, dass im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft Übertretungen und leichtere Antragsdelikte normalerweise nicht angezeigt werden. Dies rechtfertigt sich auch deshalb, weil in diesen Fällen die disziplinarrechtliche Sanktion (etwa Urlaubsentzug oder Arrest) vom Strafgefangenen als deutlich eingriffsstärker erlebt wird als die straf-
161
199
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
SII 5.12 Entwicklung der Verstösse allgemein und der Gewalt im Strafund Massnahmenvollzug von 2011 – 2013 gemäss der ersten gesamtschweizerischen Erhebung und Analyse Im Rahmen der vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Studie «Sicherheit im Freiheitsentzug – Die Bedeutung institutioneller Merkmale und individueller Eigenschaften von Insassen und Angestellten für die Sicherheit in Einrichtungen des Schweizer Freiheitsentzugs» (2013–2016; http://p3.snf.ch/Project-143207) konnten mit Ausnahme der Kantone Genf und Tessin alle Anstalten in die Erhebung einbezogen werden. Die Stichprobe umfasst 22 der zu Beginn der Erhebungen in der Schweiz existierenden 25 Einrichtungen des Strafund Massnahmenvollzugs. In allen 22 Anstalten wurden für die Jahre 2011, 2012 und 2013 alle offiziell registrierten Disziplinarverstösse erfasst, wobei sowohl Verstösse, die sanktioniert wurden, als auch einige wenige, bei denen von einer Sanktion abgesehen wurde, einbezogen wurden. Insgesamt wurden im untersuchten Zeitraum 14’513 Disziplinarverstösse registriert. Entwicklung der Verstösse von 2011–2013 2011
2012
Nicht zuordbar
2013
Häufigkeit
pro 100 Insassen
Häufigkeit
pro 100 Insassen
Häufigkeit
pro 100 Insassen
Gesamt
4731
204.27
4659
201.17
5429
224.71
20
Arbeit
666
28.76
540
23.32
979
40.52
2
Nichtbefolgen von Anweisungen
934
40.33
806
34.80
888
36.75
1
Störung des Anstaltsbetriebs
189
8.16
246
10.62
283
11.71
0
Besitz von verbotenen Gegenständen
443
19.13
472
20.38
385
15.94
5
Diestahl/ Sachbeschädigung
174
7.51
137
5.92
107
4.43
6
1102
47.58
1240
53.54
1506
62.33
3
95
4.10
91
3.93
72
2.98
1
Psychische und physische Gewalt
579
25.00
620
26.77
692
28.64
2
Urlaubsmissbrauch
330
14.25
275
11.87
299
12.38
0
Konsum/Besitz von illegalen Substanzen Schmuggel
200
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug Flucht ab Aussenaktivität/Urlaub Flucht/Fluchtvorbereitung ab Anstalt Andere
51
2.20
61
2.63
47
1.95
0
145
6.26
149
6.43
149
6.17
0
23
0.99
22
0.95
22
0.91
0
Entwicklung von Gewalt im Strafvollzug von 2011–2013 2011
2012
Nicht zuzuordnen
2013
Häufigkeit
pro 100 Haftplätze
Häufigkeit
pro 100 Haftplätze
Häufigkeit
pro 100 Haftplätze
Widersetzlichkeit & Beleidigung von Personal oder Drittpersonen
222
9.59
243
10.49
265
10.97
2
Drohung & Angriff auf Mitgefangene
219
9.46
251
10.84
244
10.10
0
Drohung & Angriff auf Personal
100
4.32
102
4.40
96
3.97
0
Beleidigung/ Gewalt gegen unbekannt
38
1.64
24
1.04
87
3.60
0
Gewalt gesamt
579
25.00
620
26.77
692
28.64
2
Insassenbstand am Stichtag: 2011 = 2'316, 2'012 = 2'316, 2013 = 2'416
rechtliche (eine Busse oder Geldstrafe). In den übrigen Fällen werden in der Praxis sowohl disziplinarrechtliche als auch strafrechtliche Sanktionen verhängt, wobei bei der Zumessung der zeitlich vorgehenden disziplinarischen Bestrafung auf ein hängiges Strafverfahren kaum Rücksicht genommen werden kann.
201
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.13
Soziale Sicherheit
LII 5.13 Literatur zur Sozialen Sicherheit KELLER Stefan: Sozialversicherungen im Falle einer Inhaftierung: Sozialversicherung allgemein, Alters- und Hinterlassenenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Insolvenzentschädigung, Berufliche Vorsorge, Ergänzungsleistungen, Erwerbsersatzordnung, Invalidenversicherung, Krankenversicherung, Militärversicherung, Unfallversicherung. In: Brägger Benjamin F. (Hrsg.): Das schweizerische Vollzugslexikon. Basel 2014, 414–420, 17–20, 48–51, 91–94, 162–165, 165–167, 246–250, 267–270, 301–303, 457–461; MURER Erwin: Die Einstellung der Auszahlung von Invalidenrenten der Sozialversicherung während des Straf- und Massnahmenvollzugs. In: Niggli M.A. et al. (Hrsg.): Festschrift für Franz Riklin. Zürich 2007, 153–165. 162
Fragen der Sozialen Sicherheit Strafgefangener sind im Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) und in der betreffenden bundesrechtlichen Spezialgesetzgebung geregelt. Art. 21 ATSG enthält den Grundsatz, dass Geldleistungen der Sozialversicherungen gekürzt oder verweigert werden können, wenn der Versicherungsfall bei vorsätzlicher Ausübung einer Straftat herbeigeführt wurde. Ferner können Geldleistungen mit Erwerbscharakter für Personen im Straf- und Massnahmenvollzug ganz oder teilweise eingestellt werden.
163
Der Alters- und Hinterlassenenversicherung sowie der Invalidenversicherung sind (versicherte) Strafgefangene als Nichterwerbstätige unterstellt und geniessen somit einen entsprechenden Versicherungsschutz. Der Anspruch eines Strafgefangenen auf eine IV-Rente darf nicht mehr entzogen werden (BGE 110 V 284 E. 1b). Eine IV-Rente ist vielmehr für die Dauer des strafrechtlichen Freiheitsentzugs zu sistieren, was die Ausrichtung von Zusatzrenten (z.B. einer Kinderrente) weiterhin ermöglicht (BGE 113 V 273; zum invalidenrechtlichen Status Strafgefangener auch BGE 133 V 1; 116 V 323; 116 V 20; 107 V 219; 102 V 167). Für AHV-Renten ist auch eine Sistierung unzulässig. Das Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz hat festgelegt, dass die Beiträge an diese Versicherung zur Hälfte von den Strafgefangenen selbst zu tragen sind (Zf. 7 der Richtlinien für das Arbeitsentgelt vom 5. Mai 2006).
164
Seit dem 1. Januar 1996 unterstehen alle Strafgefangenen mit Wohnsitz in der Schweiz dem Krankenkassen-Obligatorium. Die Leistungen der Versicherungen werden i.d.R. den Vollzugsanstalten abgetreten. Die
202
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Prämien erbringen entweder die Strafgefangenen aus ihrem Verdienstanteil oder werden von der Wohnsitzgemeinde bevorschusst. Das früher in den Statuten vieler Krankenkassen verankerte Prinzip, Leistungen während einem Freiheitsentzug zu sistieren (für Untersuchungsgefangene: BGE 106 V 179), ist somit nicht mehr zulässig. Ferner hat das Bundesgericht entschieden, dass die Krankenkassen verpflichtet sind, medizinische Leistungen auch dann zu übernehmen, wenn sie im Rahmen einer stationären therapeutischen Massnahme erbracht werden (BGE 106 V 179). In der Praxis bietet die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber Krankenkassen allerdings häufig erhebliche Schwierigkeiten: Abgesehen davon, dass einzelne Strafgefangene von ihrer Wohnsitzgemeinde nicht in das Versicherungsobligatorium überführt wurden, bietet die Abgrenzung der leistungspflichtigen medizinischen Aufwendungen immer wieder Anlass zu Konflikten zwischen den Vollzugsanstalten und den Krankenkassen. Weil der administrative Aufwand für die Geltendmachung von Leistungen der Krankenkassen für die Anstalten erheblich ist, verzichten einzelne Vollzugsanstalten ganz oder teilweise darauf, solche Ansprüche bei den Krankenkassen einzufordern. Keine einheitliche bundesrechtliche Regelung gibt es für den Schutz Strafgefangener gegen Unfälle, weil Strafgefangene nicht unter das Obligatorium des Unfallversichungsgesetzes fallen (mit Ausnahme der Strafgefangenen in Halbgefangenschaft und Arbeitsexternat). Ob ein bereits vor Strafantritt zugesprochenes Unfall-Taggeld gekürzt oder sistiert werden darf, hängt namentlich davon ab, ob unterhaltsberechtigte Angehörige vorhanden sind (vgl. BGer-Urteil 8C_841/2014 vom 28. Juli 2015). Die Kantone bzw. Vollzugsanstalten haben ihre Strafgefangenen indessen gegen die Folgen von Unfällen versichert, allerdings mit unterschiedlichen Leistungen. Das Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz empfiehlt den Kantonen, Unfallversicherungen mit folgenden Leistungen abzuschliessen: Todesfall Fr. 30’000, Invalidität Fr. 80’000, Taggeld Fr. 100 bis 120. Für das Ostschweizerische Strafvollzugskonkordat schreibt Art. 24 der Ausführungsbestimmungen vor, dass die Kantone entsprechend den Grundsätzen der SUVA für eine angemessene Deckung von Unfallschäden zu sorgen haben. In der Praxis kommt es im Vollzug – namentlich bei landwirtschaftlichen Arbeiten – immer wieder zu Unfällen mit schweren Folgen für Strafgefangene, weshalb solche Leistungen jedenfalls nicht als übermässig hoch zu werten sind.
203
165
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 166
Strafgefangene unterstehen schliesslich der obligatorischen Arbeitslosenversicherung. Das Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (Arbeitslosenversicherungsgesetz, AVIG; SR 837.0) enthält in Art. 14 eine spezielle Regelung für Personen im Freiheitsentzug: Wer die für die Ausrichtung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung vorausgesetzte Beitragszeit – sechs Monate beitragspflichtige Beschäftigung – nicht erfüllen konnte, weil er mehr als zwölf Monate inhaftiert war, ist von der Erfüllung der Beitragszeit befreit.
5.14
Die Rechtstellung des Gefangenen
5.14.1
Einleitung
167
Im modernen Rechtsstaat sind Strafgefangene nicht mehr rechtlose, der Willkür oder dem Wohlwollen der Obrigkeit ausgelieferte «Outlaws» oder «Staatssklaven», wie das Oberste Gericht der USA in einem Entscheid aus dem Jahre 1871 noch festgehalten hatte. Sie bleiben auch als Strafgefangene Träger der verfassungsmässigen Grundrechte und können weitere, in der Gesetzgebung verankerte Ansprüche geltend machen und ggf. durchsetzen. Die mit der Revision des StGB von 2002 in den Art. 74 ff. StGB eingeführte Rahmengesetzgebung zum Vollzug von freiheitsentziehenden Sanktionen erweitert den Katalog solcher Ansprüche, ebenso neuere Rechtsgrundlagen auf kantonaler Ebene.
168
Dennoch bleibt die Rechtsstellung der Strafgefangenen weiterhin verhältnismässig prekär. Dies hängt vorab damit zusammen, dass das Institut des «besonderen Rechtsverhältnisses» auf Strafgefangene weiterhin anwendbar ist (Abschnitt 5.14.2). Entscheidende Auswirkungen ergeben sich aber auch daraus, dass Strafgefangene bei der Durchsetzung ihrer rechtmässigen Ansprüche de facto schon allein deshalb über besonders schlechte Karten verfügen, weil ihre Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt sind, und weil sie sich vom Wohlwollen der Vollzugsbehörden abhängig fühlen.
204
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
5.14.2
Das besondere Rechtsverhältnis und seine Grenzen
LII 5.14.2 Literatur zum besonderen Rechtsverhältnis AEBERSOLD Peter: Der Zweck des Strafvollzugs und die Rechtsstellung der Gefangenen. Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1973. Basel 1973, 169–188; ENENGEL Petra: Grundrechtsschutz im Strafvollzug. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 3 und Artikel 8 EMRK. Diss. Wien 2014; KÜNZLI Jörg / EUGSTER Anja / VEERAKATTY Vijitha: Rechtsschutz und Freiheitsentzug. Juristische Studie zuhanden des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal SAZ. Bern 2014; MAYER Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Leipzig 1898; MÜLLER Jörg Paul / SCHEFER Markus: Grundrechte in der Schweiz. 4. Aufl. Bern, 2008 74–79; MÜLLER Markus: Das besondere Rechtsverhältnis. Ein altes Rechtsinstitut neu gedacht. Bern 2003.
Nach der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten und von MAYER (1898) ausformulierten Lehre stehen Strafgefangene (wie auch Staatsbeamte oder Angehörige der Armee) in einem «besonderen Gewaltverhältnis» zum Staat. Die Rechte der Strafgefangenen dürfen danach auch ohne gesetzliche Grundlage eingeschränkt werden. Solche Einschränkungen können direkt aus der Natur des betreffenden Gewaltverhältnisses abgeleitet werden, hier also aus dem Zweck des strafrechtlichen Freiheitsentzugs. Mit der Rechtsfigur des «besonderen Gewaltverhältnisses» wird somit eine – allerdings minderwertige – Rechtstellung des Strafgefangenen begründet (LII 5.14.2)
169
Das Bundesgericht hat sich in seiner älteren Rechtsprechung diese Lehre vorerst vorbehaltlos zu eigen gemacht: Der Strafgefangene stehe «in einem besonderen Gewaltverhältnis zum Staate, das eine verschärfte Abhängigkeit zu Gunsten eines bestimmten Zwecks öffentlicher Verwaltung bedeutet und damit die Freiheit, die Rechte des Betroffenen beschränkt» (BGE 68 I 78). Später ersetzte das Bundesgericht den Begriff des «besonderen Gewaltverhältnisses» durch jenen des «besonderen Rechtsverhältnisses», welches besondere Rechte und Pflichten begründe (BGE 98 Ib 305). Auf dieser Grundlage kann die Einschränkung von Rechten Strafgefangener ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage weiterhin begründet werden.
170
Dem Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972, die Rechtsfigur des «besonderen Rechtsverhältnisses» aufzugeben, ist das schweizerische Bundesgericht nicht gefolgt. Indes-
171
205
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
RII 5.14.2 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Anforderungen an allgemeine Strafvollzugserlasse «Aus rechtsstaatlichen Gründen erscheint es unerlässlich, die wichtigsten mit Untersuchungshaft oder Strafvollzug verbundenen Freiheitsbeschränkungen durch einen allgemeinen Erlass zu regeln, um den Gefangenen vor Willkür zu schützen. Doch dürfte eine Regelung, welche jede denkbare, mit dem Aufenthalt in einem Gefängnis verbundene Beschränkung der persönlichen Freiheit ordnet (...) weder notwendig noch möglich sein. Jede allgemeine Ordnung dieser Art wird gewisse Generalklauseln enthalten, da nicht alle im Einzelfall sich stellenden Probleme voraussehbar sind» (BGE 99 Ia 268; bestätigt in BGE 106 Ia 282). «Der Gesetzgeber ist (...) verpflichtet, bei der Suche nach einer sachgerechten Lösung der zu regelnden Verhältnisse in grundrechtsrelevantem Bereich mit zu berücksichtigen, unter welchen Umständen die betreffende Norm zur Anwendung gelangen wird und wie der Rechtsschutz gegen mögliche Grundrechtsverletzungen ausgestaltet ist; in diesem Zusammenhang ist auch die Natur und Bedeutung der allenfalls betroffenen Rechte des Gesetzesadressaten und die Schwere möglicher Verletzungen zu beachten (...) Im vorliegenden Zusammenhang ist nach den gemachten Ausführungen von Bedeutung, dass ein Gefängnisreglement (...) die Rechtsstellung des Häftlings namentlich gegenüber den Gefängnisbehörden klarzustellen hat. Für die entsprechenden Amtsstellen soll damit eine Regelung geschaffen werden, die ihnen vor allem in praktischen Fragen des täglichen Gefängnislebens eine angemessene Lösung aufzeigt und sie zu einem modernen Grundsätzen genügenden Haftvollzug anweist. Das Reglement wendet sich in erster Linie an Beamte der Kantonspolizei, (...) d.h. an juristisch nicht besonders ausgebildetes Personal. Diese Beamten sind darauf angewiesen, dass sie sich für die üblichen Fälle rasch und zuverlässig am Wortlaut der einzelnen Bestimmungen orientieren können, ohne interpretatorische Überlegungen anstellen zu müssen» (BGE 106 Ia 138). Weil mit der Inhaftierung wichtige Grundrechte eingeschränkt werden, muss ein Gefängnisreglement «durch eine ausreichende Regelungsdichte und eine klare Fassung selber eine erhöhte Gewähr für die Vermeidung verfassungswidriger Anordnungen bieten» (BGE 106 Ia 139, bestätigend BGE 123 I 221). «Die in einem allgemeinen Erlass zu treffenden Regelungen müssen nicht notwendigerweise in einem formellen Gesetz enthalten sein. Während für den grundlegenden Inhalt des Freiheitsentzugs (insbesondere die Vollzugsart und die Höchstdauer) eine solche Regelungsstufe unerlässlich ist, können Einzelheiten der konkreten Ausgestaltung des Vollzugs vom Gesetzgeber an die Exekutive delegiert werden» (BGE 99 Ia 269).
sen hat es im Nachgang zu diesem Entscheid in seiner Rechtsprechung zum Schutz der Grundrechte Strafgefangener dem Anwendungsbereich des «besonderen Rechtsverhältnisses» enge Schranken gesetzt: Wichtige Freiheitsbeschränkungen im strafrechtlichen Freiheitsentzug müssen in einem allgemeinen Erlass geregelt sein – nicht aber durchwegs zwingend in einem formellen Gesetz. Ein solcher Erlass muss durch eine ausreichende Regelungsdichte und eine klare Fassung Gewähr dafür bieten, dass verfassungswidrige Anordnungen vermieden werden. Bei der Ausgestaltung solcher Normen ist deshalb mitzuberücksichti-
206
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
gen, an welche Adressaten sich diese richten und unter welchen Umständen sie angewendet werden (RII 5.14.2).
5.14.3
Der Schutz der Grundrechte Strafgefangener
Die Grundrechte Strafgefangener dürfen nur so weit beschränkt werden, als dies der Strafzweck oder die Ordnung in der Anstalt erfordern. Ferner müssen sie im Einzelfall verhältnismässig sein, einem öffentlichen Interesse entsprechen und den Kerngehalt des Grundrechts wahren. Menschenunwürdige, schikanöse oder sachlich nicht begründete Eingriffe sind nicht zulässig (BGE 102 Ia 283). Bei der Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen sind auch die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze des Europarates (bis 1987 «Mindestgrundsätze des Europarates für die Behandlung der Gefangenen») zu berücksichtigen, sofern ihnen der Charakter von Grundrechtsverbürgungen zukommt (sofern diese also nicht kriminalpolitische Grundsätze postulieren; BGE 106 Ia 277 E. 3b; 102 Ia 279 E. 2c).
172
Diese durch die Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Grundsätze werden in Art. 74 StGB im Wesentlichen ausdrücklich bestätigt: «Die Menschenwürde des Gefangenen oder des Eingewiesenen ist zu achten. Seine Rechte dürfen nur so weit beschränkt werden, als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es erfordern».
173
Im Vordergrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz Strafgefangener steht – neben dem Anspruch auf willkürfreie Behandlung – das Grundrecht der persönlichen Freiheit. Dieses schützt nicht bloss das Recht auf freie Bewegung und körperliche Unversehrtheit, sondern alle elementaren Erscheinungsformen der Persönlichkeitsentfaltung (BGE 97 I 49 f., 97 I 842). Nach der bisherigen Rechtsprechung gehen die Gewährleistungen der EMRK nicht über den verfassungsrechtlichen Schutz der persönlichen Freiheit hinaus (BGE 102 Ia 283), doch bleibt die diesbezügliche Entwicklung weiterhin offen (Abschnitt 5.14.4).
174
Das eigentliche Paradebeispiel für die Konkretisierung der persönlichen Freiheit durch das Bundesgericht ist das sog. Recht der Strafgefangenen auf den Spaziergang, d.h. auf regelmässige Bewegungsmöglichkeiten im Freien. Auf der Grundlage von Ziff. 27.1 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, der als Minimum einen täglichen Spaziergang von
175
207
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
einer Stunde Dauer postuliert, hat das Bundesgericht im Verlaufe von zwei Jahrzehnten zunehmend präzisere und weitgehendere Ansprüche an die Ausgestaltung des Spaziergangs festgelegt (RII 5.14.3) und schliesslich verlangt, dass einem Gefangenen spätestens nach einer Haftwoche täglich ein Anspruch auf einen halbstündigen, nach einem Haftmonat auf einen stündigen Spaziergang zugestanden werden muss. Abweichungen von diesem Grundsatz sind bloss im Vollzug einer disziplinarischen Arreststrafe oder bei ausgesprochen gefährlichen Gefangenen zulässig. 176
Diese Rechtsprechung hat die Vollzugspraxis vorab deshalb vor erhebliche Probleme gestellt, weil viele – vor allem kleinere – Vollzugsanstalten über keine Spazierhöfe verfügten. In etlichen Anstalten wurden nachträglich Spazierhöfe eingerichtet, gelegentlich mit erheblichem Aufwand. Dies etwa im Regionalgefängnis Bern, wo Dienstwohnungen im obersten Stockwerk durch zwei Spazierhöfe ersetzt wurden. Nach wie vor werden in der Schweiz aber kleinere Gefängnisse ohne Spaziermöglichkeiten im Freien betrieben. Den bundesgerichtlichen Festlegungen zum Spaziergang wird in diesen Fällen normalerweise dadurch behelfsmässig Rechnung getragen, dass Inhaftierten, welche das Recht auf Spaziergang im Freien ausdrücklich beanspruchen, eine Verlegung in eine Vollzugsanstalt mit Spaziermöglichkeiten angeboten wird. Auch in vielen grösseren Vollzugsanstalten war ein Spaziergang im Freien noch in den 1970er-Jahren nur an Wochentagen möglich, weil über die Wochenenden nicht ausreichend Personal eingesetzt werden konnte, um den erhöhten Sicherheitsbedürfnissen Rechnung tragen zu können. Wo die baulichen Verhältnisse einen Spaziergang im Freien erlauben, wird dieser heute meist ab Beginn der Inhaftierung täglich im Umfang von einer Stunde ermöglicht.
177
Aus der übrigen Rechtsprechung des Bundesgerichts zur persönlichen Freiheit und anderen Grundrechten sind namentlich die nachstehenden Festlegungen hervorzuheben (vgl. auch die in Abschnitt 5.10 angeführten Bundesgerichtsentscheide):
178
Als Ausfluss der persönlichen Freiheit hat der Gefangene das Recht, persönliche Gegenstände mit hohem Affektionswert (wie Ehering, Uhr, Schreibmaterial, Fotos, Bücher, Toilettenartikel) im Vollzug zu behalten (BGE 118 Ia 75; 106 Ia 277 E. 5; 102 Ia 285 E. 3; 99 Ia 272 E. V). Dagegen darf die Haltung von Kleintieren aus Gründen der Sicherheit, der Anstaltsordnung, der Hygiene oder des Tierschutzes verweigert werden (BGE 118 Ia 64; Pra. 85 Nr. 124 E. 8).
208
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
RII 5.14.3 Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Recht auf Spaziergang im Freien I. Verfassungsrechtlich noch haltbar ist die Praxis, Gefangenen nach Ablauf einer Haftwoche mindestens dreimal wöchentlich einen Spaziergang von einer halben Stunde Dauer zu ermöglichen, sofern häufigerem Spaziergang bauliche oder personelle Hindernisse entgegenstehen (BGE 99 Ia 266 E. V Ziff. 8). II. Spätestens nach einer Haftwoche muss der Gefangene die Möglichkeit haben, täglich eine halbe Stunde an der frischen Luft zu spazieren, sofern er nicht im Freien arbeitet (BGE 102 Ia 279 E. 7; bestätigt im unveröff. BGE Möller/BE vom 21. April 1982). Bauliche Hindernisse vermögen diesen Anspruch nicht einzuschränken (BGE 105 Ia 35). Indessen hebt das Bundesgericht Vorschriften des Kantons Waadt nicht auf, obwohl sie diesen Anforderungen nicht genügen, weil dieser eine baldige Behebung der baulichen Hindernisse in Aussicht stellt (BGE 106 Ia 277 E. 8). Im Übrigen ist ein Ausschluss vom Spaziergang während der ersten Haftwoche nur dann zulässig, wenn davon keine gesundheitsschädigenden Folgen zu erwarten sind (unveröff. BGE vom 19. Juli 1976, publ. in EuGRZ 1976 306). III. Im Grundsatz haben Inhaftierte täglich Anspruch auf einen halbstündigen Spaziergang nach einer Haftwoche und auf einen stündigen Spaziergang nach einem Haftmonat. Im Vollzug einer disziplinarischen Arreststrafe darf dieser Anspruch während der ersten drei Arresttage entzogen werden. Besteht bei besonders gefährlichen Gefangenen ein Risiko von Gewaltanwendung und Fluchtgefahr, darf der grundsätzliche Anspruch auf einen halbstündigen Spaziergang reduziert werden (BGE 118 Ia 64 E. 3c, k, t). Diese Grundsätze werden mehrfach bestätigt (BGE 122 II 49 E. 5a, 118 Ia 360 E. 3c) – auch für ausländerrechtliche Administrativgefangene (BGE 122 I 222 E. 4b).
Die Garantie der persönlichen Freiheit gibt dem Gefangenen Anspruch auf eine einwandfreie ärztliche Behandlung (BGE 123 I 221 E. II. 2), nicht aber auf einen Beizug eines Arztes nach freier Wahl. Die freie Arztwahl kennt bloss der Kanton Obwalden; im Kanton Nidwalden können sich Gefangene mit kantonalem Wohnsitz durch ihren Hausarzt behandeln lassen. Ist das Vertrauensverhältnis zwischen dem Gefängnisarzt und dem Gefangenen gestört, dann muss – im Interesse einer einwandfreien ärztlichen Behandlung – ein anderer Arzt beigezogen werden (BGE 123 I 221 E. II. 2; 102 Ia 302 E. 2). Leibesvisitationen müssen von einer Person gleichen Geschlechts vorgenommen werden, sog. «intime», über eine blosse Kleiderkontrolle hinausgehende Leibesvisitationen von einer Person mit medizinischer Ausbildung (BGE 123 I 221 E. II. 2). Das StGB von 2002 kodifiziert und präzisiert diese Grundsätze in Art. 85 Abs. 2 StGB.
209
179
180
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug 181
Ein Recht Strafgefangener auf Eheschliessung hat das Bundesgericht in älteren Entscheiden verneint (BGE 68 I 71; 31 I 91). Im Lichte der Rechtsprechung zur EMRK (Fälle «Hamer» und «Draper», Conseil de l’Europe, Décisions et rapports, Nr. 24, Strasbourg 1981) musste diese Rechtsprechung mittlerweile indessen aufgegeben werden (BGE 117 Ia 465 E. 2b).
182
Die Kultusfreiheit gibt nicht jeder noch so kleinen Glaubensgemeinschaft das Recht, in einer Strafanstalt Gottesdienste durchzuführen. Ein solcher Anspruch kann aber für eine zahlenmässig erhebliche Gruppe von Moslems durchaus entstehen (BGE 113 Ia 304). Dass im Strafvollzug auch die Ausübung der Kultusfreiheit eingeschränkt werden kann, versteht sich von selbst, namentlich bei Fluchtgefahr oder zur Gewährleistung eines geordneten Anstaltsbetriebs (BGE 129 I 74 E. 4 und E. 6).
183
In den Schranken der Anstaltsordnung ist auch das Petitionsrecht gewährleistet (BGE 100 Ia 77; 109 Ia 208). Werden bei der Ausübung des Petitionsrechts aber Regeln der Anstaltsordnung verletzt, können Disziplinarmassnahmen verfügt werden (BGE 100 Ia 77). In Bezug auf die Vereinsfreiheit bestätigt das Bundesamt für Justiz den Anspruch Strafgefangener, zum Schutze der Interessen der Anstaltsinsassen einen Verein zu gründen (Informationen des Bundesamtes für Justiz an die Organe des Straf- und Massnahmenvollzugs 15/1980, 11 f.).
184
Für die Ausübung der politischen Rechte der Strafgefangenen ist auf Bundesebene das Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1) massgeblich (briefliche Stimmabgabe von Personen, welche ausserhalb ihres Wohnortes weilen). Zu den geschützten bürgerlichen Rechten gehört auch die Führung eines Prozesses (Recht auf den Besuch eines Notars, um im Ausland einen Zivilprozess führen zu können; Pra. Nr. 50 4/1999).
5.14.4 185
Völkerrechtliche Verpflichtungen
Aufgrund der von der Schweiz eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen (Abschnitt 1.4, RII 1.4) können Strafgefangene weitere Ansprüche geltend machen. Von praktischer Bedeutung sind namentlich das aus dem Zwangsarbeitsverbot abgeleitete Gebot, dass Strafgefangene nur mit ihrer Zustimmung bei einem privaten Arbeitgeber beschäftigt werden dürfen (Übereinkommen Nr. 29 über die Zwangs- und Pflichtarbeit), welches in Art. 81 Abs. 2 StGB kodifiziert wurde. Für Gefangene ausländischer Nationalität besteht ferner ein
210
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Anspruch auf Kontaktnahme mit ihrer konsularischen Vertretung (Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen), worauf Art. 84 Abs. 7 StGB ausdrücklich verweist. Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf die Organe des Europarates und der UNO eingeräumten Kontrollrechte (Abschnitt 2.6). Im Vordergrund stehen indessen die Garantien der EMRK, namentlich die Art. 3 EMRK (Schutz der körperlichen Integrität: Entscheide u.a. zu Spaziergang, Isolation, Verdunkelung, Leibesvisitation, Zellengrösse, Haftbedingungen sowie zu den Anforderungen ein eine hinreichende medizinisch-therapeutische Behandlung psychisch kranker Strafgefangener [Urteil Rivière c. Frankreich vom 11. Juli 2006, Beschwerde N° 338 3410], Art. 5 Abs. 1 lit. a) und Abs. 5 EMRK (Rechtmässigkeit der Strafhaft, Haftentschädigung), Art. 8 EMRK (Achtung des Familienlebens: Entscheide u.a. zu Einschränkungen von Korrespondenz und Besuchen), ferner auch die Art. 9 EMRK (Information und Meinungsäusserung, Religionsfreiheit), Art. 12 EMRK (Eheschliessung und Familiengründung) sowie Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
186
Obwohl die frühere Rechtsprechung der Organe der EMRK bereits im Jahre 1975 aufgegeben wurde, wonach dem Strafvollzug immanente Grundrechtsbeschränkungen hinzunehmen seien, zeichnet sich die Rechtsprechung zu den Haftbedingungen durch eine grosse Zurückhaltung aus, insbesondere wenn Grundrechte und Sicherungsbedürfnisse gegeneinander abgewogen werden müssen (vgl. z.B. den BaaderMeinhoff-Fall, Conseil de l’Europe, Serie A Nr. 28 vom 6. September 1978). Die Rechtsprechung der Organe der EMRK geht deshalb kaum über die verfassungsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts hinaus (BGE 102 Ia 277 E. 3b), wird aber vom Bundesgericht zunehmend berücksichtigt und antizipiert (z.B. BGE 117 Ia 465 E. 2b). Auswirkungen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat namentlich die im Zusammenhang mit Misshandlungen im Polizeigewahrsam getroffene Festlegung entfalten, wonach bei festgestellten Verletzungen eines Inhaftierten es Sache des Staates sei, den Nachweis zu erbringen, dass diese Verletzungen auf das Verhalten des Inhaftierten selbst zurückzuführen seien, was eine Umkehr der Beweislast bedeutet (Urteil Tomasi c. Frankreich, Serie A Nr. 241 Ziff. 112 ff.; EuGRZ 1994 104; zur neueren Rechtsprechung vgl. insbesondere BGer-Urteil 6B_1020/ 2008 vom 6. April 2009 E. 4.2 sowie VAN ZYL SMIT und SNACKEN, LII 1.4).
187
211
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
5.14.5
Rechtsmittel
188
Die den Strafgefangenen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel sind im kantonalen Recht – sehr unterschiedlich – geregelt. Dieses bezeichnet meist die Anstaltsdirektion oder das ihr übergeordnete Departement als Beschwerdeinstanz. In etlichen Kantonen sind spezielle Beschwerdeinstanzen zuständig, welche auf hierarchisch unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind (im Kanton Jura bspw. die Vollzugsbehörde, in Glarus der Verhörrichter und im Wallis die Kantonsregierung). Unterschiedlich werden auch die Beschwerdefristen bestimmt: Diese reichen von 24 Stunden bis zu 30 Tagen, betragen aber meist zwischen 10 und 20 Tagen. Soweit das kantonale Strafvollzugsrecht keine speziellen Vorschriften enthält, welche meist eine Minderung der Rechtstellung nach sich ziehen, findet das allgemeine Verwaltungsrecht Anwendung.
189
Im Kanton Bern beispielsweise legen die Art. 80 ff. SMVG/BE fest, dass zwar mündlich verfügt werden darf, die betroffenen Gefangenen aber eine schriftliche Verfügung verlangen dürfen. Gegen solche Verfügungen kann bei der Polizei- und Militärdirektion Beschwerde geführt werden, in persönlichen vollzugsrechtlichen Angelegenheiten innert 30 Tagen, gegen disziplinarische Sanktionen innert dreier Tage. Im ersten Fall kommt einer Beschwerde normalerweise aufschiebende Wirkung zu, im zweiten Fall in der Regel nicht. Interessant ist die Festlegung in Art. 81 Abs. 1 SMVG/BE, dass Beschwerden an die zuständige Stelle der Direktion einzureichen sind (an das Amt für Freiheitsentzug und Betreuung), welche «nach Durchführung eines einfachen Schriftenwechsels eine gütliche Einigung herbeizuführen» versucht. Gelingt dies nicht, werden die Akten zur Behandlung der Beschwerde an die Direktion weitergeleitet. Im Kanton Bern werden jährlich weniger als 40 Beschwerden eingereicht, wobei laut Auskunft des Rechtsdiensts des Amtes für Freiheitsentzug und Betreuung der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern in den letzten Jahren ein Rückgang der Beschwerden beobachtet werden konnte (2013: 23 zum Disziplinarrecht, 9 zum Vollzugsrecht; 2014: 12 zum Disziplinarrecht, 0 zum Vollzugsrecht; 2015: 12 zum Disziplinarrecht, 3 zum Vollzugsrecht).
190
Strafgefangene verzichten im Beschwerdeverfahren normalerweise auf einen anwaltlichen Beistand. Vor dem Hintergrund von Art. 29 Abs. 3 BV stellt sich die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Strafgefangene einen Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbei-
212
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
stand geltend machen können. Diese Frage ist nicht abschliessend geklärt, doch sind die diesbezüglich allgemein anzuwendenden Grundsätze des Verwaltungsverfahrens auch für die Strafvollstreckung und den Strafvollzug zu berücksichtigen. Dabei ist davon auszugehen, dass in aller Regel das Kriterium der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers erfüllt ist. Im Einzelfall umstritten ist dagegen oft die Frage, welche Sachverhalte tatsächlich als besonders schwere Eingriffe in die Rechtsposition des Strafgefangenen zu anerkennen sind. Mit dem am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) wurde das Beschwerdeverfahren auf Bundesebene modifiziert: Die vorher anwendbare staatsrechtliche Beschwerde bzw. Verwaltungsgerichtsbeschwerde wurde durch die sog. Einheitsbeschwerde ersetzt (i.d.R. in der Form der strafrechtlichen Beschwerde; sofern die Bundesrechtskonformität kantonaler Erlasse angefochten wird durch die Einheitsbeschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten; ggf. auch durch die sog. subsidiäre Verfassungsbeschwerde). Mit der Einheitsbeschwerde können Entscheide im Bereich des Strafund Massnahmenvollzugs angefochten werden, unabhängig davon, welche kantonale Instanz als letztinstanzliche Behörde entschieden hat und unabhängig davon, ob vom angefochtenen Entscheid kantonales Recht oder Bundesrecht betroffen ist. Als Rechtsbehelf steht Gefangenen weiterhin die Aufsichtsbeschwerde an den Bundesrat zur Verfügung, welchem allerdings seit mehreren Jahrzehnten keine praktische Bedeutung zukommt.
191
Ein Ausbleiben von Beschwerden von Strafgefangenen darf im Übrigen keineswegs als Nachweis ausreichender Vollzugsbedingungen bewertet werden. Ebenso wenig sind häufige Beschwerden ein Zeichen eines mangelhaften Vollzugs. Ein weitgehendes oder gar vollständiges Ausbleiben von Beschwerden ist i.d.R. die Konsequenz eines autoritärrepressiven Vollzugsregimes, eine übermässig grosse Beschwerdezahl weist umgekehrt auf ein Fehlen von informellen Konfliktregelungsmechanismen sowie auf führungsbezogene Mängel hin.
192
5.15
Informationsrechte und -pflichten
Auch Strafgefangene dürfen die Garantien in Anspruch nehmen, welche das Datenschutzrecht des Bundes und der Kantone sowie die Art. 320 und 321 StGB (Verletzung des Amtsgeheimnisses bzw. des Berufsgeheimnisses) zur Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes
213
193
Teil II: Strafen, Massnahmen und ihr Vollzug
vorgeben. Präzisierende oder einschränkende Spezialnormen für Strafgefangene finden sich im Bundesrecht nicht, in der kantonalen Gesetzgebung kaum. 194
Unter welchen Voraussetzungen in einer Vollzugsanstalt tätige Seelsorger, Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter oder freie Mitarbeiter berechtigt oder gar verpflichtet sind, den Vollzugsbehörden ohne Zustimmung des Betroffenen Geheimnisse zu offenbaren, welche sie in der Ausübung ihrer Funktionen erlangt haben, ist nicht abschliessend geklärt und auch nicht für alle erwähnten Geheimnisträger einheitlich beantwortbar. Diese Frage stellt sich in der Praxis namentlich in zwei Fällen: Wenn durch eine Offenbarung des Geheimnisses weitere Straftaten verhindert werden können und wenn Behandlungsinteressen für eine Offenbarung sprechen. Soweit eine Offenbarung geeignet und notwendig ist, konkrete Gefährdungen von Leib und Leben zu verhüten, ist zumindest von einem Informationsrecht des Geheimnisträgers auszugehen. Die an der Behandlung von Strafgefangenen beteiligten Ärzte und Therapeuten versuchen, mögliche Konflikte zwischen Behandlungsinteressen und Berufsgeheimnis zunehmend dadurch zu lösen, dass sie sich in einem «Behandlungsvertrag» vom Strafgefangenen unter bestimmten Voraussetzungen vom Berufsgeheimnis entbinden lassen. Sofern dadurch hinreichende Transparenz hergestellt werden kann und der Kerngehalt des Berufsgeheimnisses nicht ausgehebelt wird (was in einigen Fällen allerdings als durchaus fraglich erscheint), ist ein solches Vorgehen zu begrüssen. (Zu den Schweigepflichten und Informationsrechten der Bewährungshilfe im Bundesrecht vgl. im Übrigen Abschnitt 8.8 sowie zur allgemeinen Problematik RIEKENBRAUK Klaus: Schweigepflicht – Datenschutz – Zeugnisverweigerungsrecht. In: Cornel Heinz et al. (Hrsg.): Resozialisierung: Handbuch. 3. Aufl. Baden-Baden 2009, 521-560.)
195
Eine beachtenswerte (in der Sache aber durchaus diskutable) Sonderregelung findet sich im Kanton Bern: Nach Art. 22 SMVG/BE darf beliebigen Behörden Auskunft über Inhaftierte erteilt werden, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Einerseits muss die auskunftserheischende Behörde nachweisen, dass sie von einer verhängten Sanktion bereits Kenntnis hat. Und andererseits muss sie die beantragte Auskunft für ihre Aufgabenerfüllung tatsächlich benötigen. Die StPO sieht in Art. 214 Abs. 4 Folgendes vor: Das Opfer wird über die Anordnung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft und einer Ersatzmassnahme nach Art. 237 Abs. 2 Bst. c oder g sowie über eine Flucht der beschuldigten Person orientiert, es sei denn, es habe ausdrücklich darauf verzichtet. Die Orientierung über die Aufhebung der 214
5. Die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug
Haft kann unterbleiben, wenn die beschuldigte Person dadurch einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt würde. Ferner schreibt Art. 21 SMVG/BE in einem speziellen Fall auch eine Auskunftserteilung an Opfer vor: Opfer im Sinne des OHG sind auf begründetes Gesuch hin über Zeitpunkt und Dauer von Hafturlauben, den Zeitpunkt einer Vollzugsunterbrechung und über die bedingte oder definitive Entlassung sowie auch über die Flucht eines Inhaftierten und deren Beendigung zu informieren. Solche Auskunftserteilungen sind indessen zu verweigern «wenn für die Eingewiesenen schützenswerte Geheimhaltungsinteressen bestehen». Eine ähnliche, aber weniger präzise Regelung kennt auch der Kanton St. Gallen (Art. 33 Abs. 4 des Einführungsgesetzes vom 3. August 2010 zur Schweizerischen Straf- und Jugendstrafprozessordnung [EG-StPO; sGS 962.1]): Die Strafbehörden können Privatpersonen über Strafverfahren informieren, soweit diese ein schützenswertes Interesse glaubhaft machen und das Interesse an der Information gegenüber den Persönlichkeitsrechten der betroffenen Personen eindeutig überwiegt. Weitergehender ist schliesslich die Regelung im Kanton Zürich (§ 27 Abs. 1 Bst. b StJVG/ZH): Über den Strafantritt eines bestimmten Verurteilten, seine Beurlaubung, Versetzung und Entlassung dürfen nicht bloss Opfer orientiert werden, sondern auch andere Personen, welche ein besonders schutzwürdiges Interesse geltend machen können. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Opfer von Straftaten über wesentliche Entscheide zum Straf- und Massnahmenvollzug des Täters orientiert werden dürfen, haben bisher bloss wenige Kantone (unterschiedlich) geregelt. Mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über das Informationsrecht des Opfers vom 26. September 2014 (in Kraft seit dem 1. Januar 2016; AS 2015 1623) regelt dies Art. 92a StGB einheitlich. Danach können Opfer im Sinne des OHG, deren Angehörige und Dritte, welche über ein schutzwürdiges Interesse verfügen, verlangen, über Folgendes informiert zu werden: den Zeitpunkt des Straf- und Massnahmeantritts, die Vollzugseinrichtung, die Vollzugsform, Vollzugsunterbrechungen, Vollzugsöffnungen (Art. 75a Abs. 2 StGB), die bedingte oder definitive Entlassung, die Rückversetzung in den Straf- oder Massnahmenvollzug sowie über die Flucht des Verurteilten und deren Beendigung. Die Vollzugsbehörde hat den Verurteilten vor ihrem Entscheid anzuhören und kann die Information verweigern, wenn schutzwürdige Interessen des Verurteilten überwiegen. Bei Gutheissung des Gesuches hat sie die informationsberechtigte Person auf die Vertraulichkeit der gegebenen Informationen aufmerksam zu machen.
215
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
6.
Die Gefängnispopulation
6.1
Übersicht
6.1.1
Quantitative Entwicklung und Gefangenenraten
1
Die Zahl der inhaftierten Personen insgesamt wie auch der strafrechtlich zu Freiheitsentzug verurteilte Personen ist erheblichen Schwankungen unterworfen. Dies sowohl im Verlauf eines Kalenderjahres (mit Tiefstwerten über die Sommermonate und gegen Jahresende) als auch im Vergleich mehrerer Jahre (LII 6.1.1). Für die Erklärung dieser Veränderungen liegen keine allgemein schlüssigen Erklärungsmodelle vor. Jahreszeitliche Schwankungen lassen sich am ehesten durch eine unterschiedliche Aktivität der Organe der Strafrechtspflege erklären: In der Vorweihnachtszeit bis zum Jahresende sind die Vollstreckungsbehörden bestrebt, nicht dringliche Strafantritte bis nach Jahresbeginn aufzuschieben und andererseits alle zulässigen bedingten Entlassungen frühestmöglich vorzunehmen (ähnliches gilt für die Ferienzeit im Sommer). Längerfristige Schwankungen könnten durch einen – auch durch die Medien beeinflussten – Wandel des in der Öffentlichkeit vorherrschenden «Sicherheitsklimas» hervorgerufen werden. Gesichert ist dagegen, dass solche Schwankungen nichts mit Veränderungen im Ausmass der Kriminalität zu tun haben.
2
In der Schweiz waren nach der Strafvollzugsstatistik des Bundesamtes für Statistik im Jahre 2014 am Stichtag 6’923 Personen inhaftiert, davon 4’522 im Straf- und Massnahmenvollzug (einschliesslich vorzeitiger Straf- bzw. Massnahmenvollzug; jedoch ohne Untersuchungshaft, ausländerrechtliche Zwangsmassnahmen sowie andere Haftgründe; Berechnung gemäss Tabelle «Freiheitsentzug, Insassenbestand am Stichtag»). Der Vergleich der im Freiheitsentzug insgesamt verbrachten Aufenthaltstage belegt, dass die Gefangenenzahlen in den letzten Jahrzehnten erheblich angewachsen sind, in der Periode 1985 bis 2015 mit einem Zuwachs von beinahe 40% (Aufenthaltstage 1985: 1,2 Mio., 2015: 1,7 Mio.). Bei Vergleichen von Gefangenenzahlen über längere Zeiträume sind diese zur Entwicklung der Gesamtbevölkerung in Beziehung zu setzen: Die sog. «Gefangenenraten» bezeichnen die Zahl der inhaftierten Personen bezogen auf jeweils 100’000 Einwohner. Die Entwicklung der Gefangenenraten kann für die Schweiz bis ins Jahr 1890 zurückverfolgt werden – mit einem Unterbruch von 1942 bis in die 1980er-Jahre. Dabei wird ersichtlich, dass die in der Vorkriegszeit
216
6. Die Gefängnispopulation
LII 6.1.1 Literatur zur Gefängnispopulation DÜNKEL Frieder et al. (Hrsg.): Kriminalität, Kriminalpolitik, strafrechtliche Sanktionspraxis und Gefangenenraten im europäischen Vergleich. Bd. 1, Mönchengladbach 2010; FINK Daniel: Der Wandel der Gefangenenpopulation. In: Fink Daniel / Schulthess Peter M. (Hrsg): Strafrecht, Freiheitsentzug, Gefängnis. Ein Handbuch zur Entwicklung des Freiheitsentzugs in der Schweiz. Bern 2015, 246–261; FINK Daniel: Freiheitsentzug im Rückgang. In: Fink Daniel / Schulthess Peter M. (Hrsg.): Strafrecht, Freiheitsentzug, Gefängnis. Ein Handbuch zur Entwicklung des Freiheitsentzugs in der Schweiz. Bern 2015, 36–55; KILLIAS Martin / AESCHBACHER Rudolf: Combien y a-t-il de Suisses qui ont connu la prison? In: KrimBull 1/1988, 3–14; KUHN André: Détenus. Combien? Pourquoi? Que faire? Bern/Stuttgart/Wien 2000; NATIONALE KOMMISSION ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER (NKVF): Tätigkeitsbericht 2014. Bern 2015; sowie weitere aktuelle Berichte der NKVF abrufbar unter www.nkvf.admin.ch; WORLD HEALTH ORGANIZATION, Regional Office for Europe: Prisons and health. Copenhagen 2014. Statistiken National: http://www.prison.ch/; http://www.bfs.admin.ch/ (unter: 19 – Kriminalität, Strafrecht) International: http://www.prisonstudies.org/
sehr hohen Gefangenenraten nach Kriegsende um mehr als ein Drittel zurückgegangen sind und sich seither relativ konstant im Bereich von 69 bis 92 Inhaftierten pro 100’000 Einwohner bewegen; bis ins Jahr 1932 betrug dieser Wert meist deutlich mehr als 100. Die Gefangenenrate der sich im Straf- und Massnahmenvollzug befindlichen Personen hat sich analog entwickelt; seit 1988 bewegt sie sich im Bereich von 35 bis 48 Inhaftierten auf 100’000 Einwohner. Demgegenüber sind die Zahlen der Personen in Untersuchungshaft und im vorzeitigen Strafund Massnahmenvollzug seit Beginn der Datenerhebung im Jahre 1896 bis ins Jahr 2014 ziemlich konstant geblieben und zeigen im Zeitablauf keine Tendenz auf. Die Rate der ausländerrechtlich inhaftierten Personen sowie derjenigen, die sich aufgrund anderer Haftgründe im Freiheitsentzug befinden (Polizeihaft, Jugendvollzug nach JStG, fürsorgerische Unterbringung [FU] u.a.), blieb seit 1999 ebenfalls mehrheitlich konstant (SII 6.1.1a). Wenn im Folgenden vom gesamten Insassenbestand, den Inhaftierten oder freiheitsentziehenden Sanktionen im Allgemeinen die Rede ist, so werden alle oben genannten Haftformen miteinbezogen (Untersuchungshaft, Straf- und Massnahmenvollzug, vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug, ausländerrechtliche Zwangsmassnahmen sowie
217
2a
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
SII 6.1.1a Entwicklung der Gefangenenraten (nach Haftform) 100
Gefangenenrate (pro 100'000 Einwohner)
90 80
70 60 50 40 30 20 10 0
1999
2004
2009
2014
Insassenbestand insgesamt Straf- & Massnahmenvollzug Zwangsmassnahmen nach Ausländergesetz Andere Haftgründe (PolG / JStG / FU u.a.) Untersuchungshaft Vorzeitiger Strafvollzug Quelle: Berechnung gemäss T abelle «Freiheitsentzug, Insassenbestand am Stichtag» des Bundesamtes für Statistik.
andere Haftgründe wie Polizeihaft, Jugendvollzug nach JStG, fürsorgerische Unterbringung u.a.). In den übrigen Fällen wird explizit auf die ausgewiesene Gefangenengruppe hingewiesen. Die Ausführungen zu den Personen im Straf- und Massnahmenvollzug (jeweils inkl. vorzeitiger Vollzug und Halbgefangenschaft) umfassen beispielsweise nur diese Haftformen.
218
6. Die Gefängnispopulation
SII 6.1.1b Gefangenenraten im internationalen Vergleich1 (Bezugsjahre: 2012–2013, ausgewählte Daten) Schweiz Deutschland Frankreich Italien Österreich Niederlande Belgien Dänemark Norwegen Schweden Finnland England & Wales Spanien Portugal Griechenland
82 79 98 106 98 82 108 73 72 67 58 148 147 136 111
Russische Föderation Weissrussland Ukraine Polen Tschechische Republik Bulgarien Slowakei
475 335 305 217 154 151 187
USA2 Kanada
623 118
1
Quelle: www.prisonstudies.org/research-publications; Walmsley Roy, ICPS, International Centre for Prison Studies, King’s College London: World Prison Population List (tenth edition), 21.11.2013. Für die USA: www.bjs.gov.
2
Einzelne Bundesstaaten der USA weisen noch weit höhere Gefangenenraten aus (Louisiana: 1114, Mississippi: 918), andere erheblich tiefere (Maine: 185, Massachusetts: 242).
Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten liegt die Gefangenenrate der Schweiz derzeit im unteren Mittelfeld, im Vergleich zu den zentral- und osteuropäischen Staaten sowie namentlich den USA dagegen deutlich tiefer (SII 6.1.1b). Dieser Feststellung ist beizufügen, dass die Gefangenenraten in den meisten europäischen Staaten im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte angestiegen sind. Ein deutlicher Rückgang – eine Folge konsequent umgesetzter gesetzgeberischer Massnahmen – verzeichnete einzig Finnland (Gefangenenrate 1977: 110, 1999: 45), wobei auch hier die Gefangenenrate wieder angestiegen ist auf 57 pro 100’000 Einwohner im Jahre 2014.
6.1.2
3
Zusammensetzung der Gefangenenpopulation
Die Gefangenenpopulation zeigt ein unterschiedliches Profil, je nachdem, ob die Zusammensetzung der Gesamtheit der eingewiesenen Personen oder der zu einem bestimmten Zeitpunkt Inhaftierten untersucht wird. Im ersten Fall wird die Struktur der von der strafrecht-
219
4
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
lichen Freiheitsentziehung erfassten Personen beschrieben, im zweiten Fall die aktuelle Gefangenenpopulation. 5
Der Durchschnittsgefangene lässt sich wie folgt umschreiben: Strafgefangene sind männlichen Geschlechts, verfügen über keinen Schweizerpass, sind unter 35 Jahre alt, wurden wegen eines Vermögens- oder Betäubungsmitteldeliktes verurteilt und verbüssen eine unbedingte Freiheitsstrafe von einem Monat bis sechs Monaten. Dieses Profil des durchschnittlichen Strafgefangenen suggeriert indessen ein unzutreffendes Bild der heterogen zusammengesetzten Gefangenenpopulation.
6
Freiheitsentziehende Sanktionen – d.h. Straf- und Massnahmenvollzug, vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug, Untersuchungshaft, ausländerrechtliche Zwangsmassnahmen und andere Haftgründe (Polizeihaft, Jugendvollzug nach JStG, fürsorgerische Unterbringung u.a.) – werden fast ausschliesslich an Männern vollzogen. Der Anteil der inhaftierten Frauen liegt bei rund 6%. Er ist seit 1983 (Frauenanteil 4%) bloss schwach angestiegen. Dieser Wert liegt tiefer als der Frauenanteil bei den 2013 in den Vollzug eingewiesenen Frauen (8%) und bei den Verurteilungen insgesamt (2013: 16% Frauen). Frauen werden also deutlich weniger häufig als Urheberinnen von Straftaten verurteilt als Männer, seltener zu freiheitsentziehenden Sanktionen verurteilt und verbringen in der Folge eine kürzere Zeit im Freiheitsentzug. Über die Ursachen dieses geschlechtsbezogenen, mehrstufigen Selektionsmechanismus kann trefflich spekuliert werden. Hier genügt die Feststellung, dass Frauen im Freiheitsentzug eine marginale Stellung einnehmen (2013 insgesamt rund 220 verurteilte weibliche Inhaftierte).
7
Zum Zivilstand der Inhaftierten (vgl. Definition in N. 2 und 2a) ist anzumerken, dass rund drei Viertel der Strafgefangenen nicht verheiratet sind (genaue Zahlen sind nicht verfügbar). Dieser Anteil beträgt demgegenüber in der Gesamtbevölkerung (einschliesslich der Minderjährigen) bloss 43,6%.
8
Im Straf- und Massnahmenvollzug (inkl. vorzeitiger Vollzug und Halbgefangenschaft) am deutlich stärksten vertreten ist die Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen (2013: 38%; im Vergleich ist deren Anteil in der Gesamtbevölkerung 14%). Die 35- bis 44-Jährigen haben einen Anteil von 23%, die mehr als 44-Jährigen von bloss 21%. Die unter 25Jährigen sind mit einem Anteil von 18% vertreten (Gesamtbevölkerung 6%). Mehr als die Hälfte aller Personen im Straf- und Massnahmenvollzug hat somit das 35. Altersjahr noch nicht erreicht. Entsprechende
220
6. Die Gefängnispopulation
Zahlen zur Untersuchungshaft, den ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen oder den anderen Haftgründen werden nicht ausgewiesen. 2013 waren mehr als zwei Drittel der verurteilten Inhaftierten (68%) (vgl. Definition in N. 2 und 2a) ausländischer Nationalität (bei den Untersuchungsgefangenen betrug dieser Anteil sogar 81%). Dabei ist zu unterscheiden zwischen Ausländern mit Wohnsitz in der Schweiz und anderen Ausländern («Kriminaltouristen», Asylsuchende etc.): 2013 verfügten nur rund 30% der ausländischen Inhaftierten über einen Wohnsitz in der Schweiz. Der Anteil der Ausländer und Ausländerinnen an der Gefangenenpopulation ist im letzten Vierteljahrhundert kontinuierlich angestiegen (von 28% im Jahre 1982 auf 64% im Jahre 2005 und auf 73% im Jahre 2014). Die Herkunft der Inhaftierten ohne Schweizerpass hat sich in dieser Zeit ganz erheblich verändert: Im Jahre 1984 stammten 42% der inhaftierten Ausländer aus unseren unmittelbaren Nachbarstaaten, im Jahre 2002 betrug dieser Anteil noch 13% und 2013 sogar nur noch 9%. Der Anteil der Inhaftierten aus den Balkanstaaten erhöhte sich zwischen 1984 und 2002 13% auf 40% und reduzierte sich dann per 2013 wieder auf 26%; jener aus afrikanischen Staaten entwickelte sich von 4% auf 9% und per 2013 auf 24%. Die absoluten Zahlen der inhaftierten Verurteilten mit Schweizerpass waren zwischen 1987 (2’302 Inhaftierte) und 2001 (1’195 Inhaftierte) deutlich rückläufig und sind seither wieder angestiegen auf 1’391 Personen (2008) und weiter auf 1’466 Personen (2013).
9
Bei den Inhaftierungsgründen ist hervorzuheben, dass bloss 50% der Inhaftierten (vgl. Definition in N. 2 und 2a) strafrechtlich verurteilt sind. Unter Einbezug des «vorzeitigen Strafvollzugs» (Abschnitt 4.2) befinden sich 64% der Inhaftierten im Vollzug einer Strafe oder Massnahme (2013). Ein grosser Teil der Inhaftierten befindet sich in Untersuchungshaft (30%). Ausländerrechtliche Haft (insb. Ausschaffungshaft) und Auslieferungshaft mit circa 5% sowie andere Haftformen wie Polizeihaft, fürsorgerische Unterbringung und Jugendvollzug nach JStG mit circa 1% machen den Rest der Inhaftierungen aus. Diese Anteile sind – mit Abweichungen von wenigen Prozenten – über lange Jahre relativ konstant.
10
Zu den von den Inhaftierten verübten Delikten sind keine gesamtschweizerischen Daten verfügbar, weil sich diese aus erhebungstechnischen Gründen (Mehrfachdelikte, Rückversetzungen etc.) nicht unmittelbar auszählen lassen. Aus den Anstaltsstatistiken ergibt sich indessen, dass Vergehen gegen das BetmG und Vermögensdelikte überwiegen.
11
221
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
SII 6.1.2a Entwicklung der Aufenthaltsdauer im Straf- und Massnahmenvollzug1 Jahr 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2013 1
Durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Tagen 102 110 139 193 155 151 152
Mittelwert der Aufenthaltsdauer in Tagen 29 30 32 58 47 35 47
inkl. vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug und Halbgefangenschaft
Quelle: Tabelle «Strafvollzug: Einweisungen, mittlerer Bestand, Aufenthaltstage» des Bundesamtes für Statistik.
12
Die effektive Aufenthaltsdauer der Personen im Straf- und Massnahmenvollzug (inkl. vorzeitiger Vollzug und Halbgefangenschaft) hat im Verlaufe der letzten Jahrzehnte bis ins Jahr 2001 kontinuierlich zu- und dann bis 2008 wieder abgenommen; derzeit steigt die Aufenthaltsdauer wieder an (mittlere Aufenthaltsdauer 1984: 101 Tage, 2001: 202 Tage, 2008: 144 Tage, 2013: 152 Tage; SII 6.1.2a). Zwei Drittel der Personen im Straf- und Massnahmenvollzug beendeten 2013 die Freiheitsstrafe nach einem Aufenthalt von bis zu drei Monaten (67%). Längere und lange Aufenthalte sind demgegenüber selten: rund 27% der Strafentlassenen haben im Jahre 2013 mindestens drei Monate bis maximal eineinhalb Jahre im Freiheitsentzug verbracht, rund 6% mehr als eineinhalb Jahre. Die relative Konstanz der Inhaftiertenzahl ist somit offensichtlich das Ergebnis zweier gegenläufiger Entwicklungen: Der Zunahme der durchschnittlichen Haftdauer und der tendenziellen Abnahme der Zahl der Inhaftierungen (SII 6.1.2b).
12a
Die mit der Revision des Sanktionenrechts von 2002 angestrebte Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen (Teil II, Abschnitte 3.2 und 3.3) hatte bereits im Jahre 2007 zur Konsequenz, dass 56% weniger unbedingte Freiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten verhängt wurden. Seit 2008 ist jedoch wieder ein beträchtlicher Anstieg der Verurteilungen zu unbedingten Freiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten zu verzeichnen (2006: 5’462, 2007: 2’379, 2008: 2’675, 2009: 2’878, 2010: 3’458, 2011: 4’189, 2012: 5’746, 2013: 7’782; dagegen 2014: 6’857). Im Jahr 2014 wurden somit fast dreimal so viele Freiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten verhängt als noch im Jahr
222
6. Die Gefängnispopulation
SII 6.1.2b Entwicklung der Gefangenenraten und der Aufenthaltsdauer im Straf- und Massnahmenvollzug (1985-2014) 250
100
200
80
70 150
60 50
100
40 30
50
20
Gefangenenrate (Pro 100'000 Einwohner)
Aufenthaltsdauer im S trafvollzug (in Tagen)
90
10 0 1985
1990
1995
2000
2005
2010
0 2015
Mittelwert Aufenthaltsdauer (linke Skala) Median Aufenthaltsdauer (linke Skala) Inhaftierte insgesamt (rechte Skala) Inhaftierte im Straf- & Massnahmenvollzug (rechte Skala)
Quelle: T abelle «Strafvollzug: Einweisungen, mittlerer Bestand, Aufenthaltstage» des Bundesamtes für Statistik (linke Skala); Berechnung gemäss Tabelle «Freiheitsentzug, Insassenbestand am Stichtag» des Bundesamtes für Statistik (rechte Skala).
223
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
2007. Diese deutliche Zunahme der kurzen Freiheitsstrafen in den letzten Jahren könnte mit der nach der Revision von 2002 bald schon einsetzenden Kritik an der angeblich zu wenig abschreckenden Geldstrafe bzw. gemeinnützigen Arbeit erklärbar sein. 12b
Der Bundesrat hat noch vor dem Vorliegen der ersten Evaluation des neuen Strafsanktionenrecht auf diese Kritik reagiert und bereits 2012 den Entwurf für eine erneute Revision des Strafsanktionenrechts vorgelegt: Der Vorrang der Geldstrafe gegenüber der Freiheitsstrafe sowie der Möglichkeit des bedingten Vollzugs von Geldstrafen sollten wieder abgeschafft werden. Die gemeinnützige Arbeit sollte den Charakter einer eigenständigen Strafe verlieren und wieder zur Vollzugsform für kurze Freiheitsstrafen werden. Kurze Freiheitstrafen von mindestens drei Tagen sollten wieder eingeführt werden. Das Parlament verzichtete in der Folge zwar auf die Abschaffung des bedingten Vollzugs von Geldstrafen; die übrigen Vorschläge des Bundesrates wurden hingegen angenommen. Es ist daher zu erwarten, dass zukünftig noch mehr kurze Freiheitsstrafen ausgesprochen und vollzogen werden. Für den Vollzug solcher kurzer Freiheitsstrafen hat das Parlament neben der Halbgefangenschaft und der Gemeinnützigen Arbeit neu auch den elektronisch überwachten Hausarrest schweizweit als Vollzugsform eingeführt.
6.2 12c
Strafvollzug an speziellen Gefangenengruppen
Aufgrund ihrer besonderen Verletzlichkeit besteht für gewisse Gefangenengruppen das Risiko einer faktischen Diskriminierung. Den für diese Gruppen massgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Vollzugsbedingungen ist deshalb besondere Beachtung zu schenken. LII 6.2 Literatur zu besonderen Gefangenengruppen: Allgemeines QUELOZ Nicolas / NOLL Thomas / VON MANDACH Laura / DELGRANDE Natalia (Hrsg.): Verletzlichkeit und Risiko im Justizvollzug. Bern 2015.
224
6. Die Gefängnispopulation
6.2.1
Weibliche Strafgefangene
LII 6.2.1 Literatur zu weiblichen Strafgefangenen BAECHTOLD Andrea: Frauen im Vollzug. In: Benjamin F. Brägger (Hrsg.): Das schweizerische Vollzugslexikon. Basel 2014, 175–179; BUNDESAMT FÜR JUSTIZ: Frauenstrafvollzug. In: Info Bulletin – bulletin info 2/2015; CLAUSEN Frédéric / FINK Daniel: Ein konstant kleiner Frauenanteil. In: Fink Daniel / Schulthess Peter M. (Hrsg.): Strafrecht, Freiheitsentzug, Gefängnis. Ein Handbuch zur Entwicklung des Freiheitsentzugs in der Schweiz. Bern 2015, 264–279; ENDERLIN CAVIGELLI Regula: Schweizer Frauenstrafvollzug. Wird mit der Freiheit auch der Wille, Verantwortung zu tragen, entzogen? Eine empirische Untersuchung in der Frauenstrafanstalt Hindelbank. Bern 1992; FISCHER-JEHLE Petra: Frauen im Strafvollzug. Eine empirische Untersuchung über Lebensentwicklung und Delinquenz strafgefangener Frauen. Bonn 1991; FRANZE Karin: Resozialisierung unter den Bedingungen des Frauenstrafvollzugs. Eine Untersuchung und Bewertung der zur Resozialisierung straffällig gewordener Frauen angewandten Behandlungsmethoden in der JVA Aichach. Frankfurt a.M. 2001; HAVERKAMP Rita: Frauenvollzug in Deutschland. Eine empirische Untersuchung vor dem Hintergrund der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze. Berlin 2011; KAWAMURAREINDL Gabriele: Resozialisierung straffälliger Frauen. In: Cornel Heinz et al. (Hrsg.): Handbuch der Resozialisierung. 3. Aufl. Baden-Baden 2009, 344–373; KRAMMER Sandy et al.: Traumatisierung und psychische Gesundheit bei inhaftierten Frauen in der Schweiz. In: SZK 2/2015, 27–40; MAELICKE Hannelore: Ist Frauenvollzug Männersache? Eine kritische Bestandesaufnahme des Frauenstrafvollzugs in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. In: Schriften zur Gleichstellung der Frau. Bd. 12. BadenBaden 1995; OBERMÖLLER Bernd: Reform des Frauenstrafvollzugs durch problemorientierte Rechtsanwendung. Baden-Baden 2000; SCHNEEBERGER GEORGESCU Regine: Betreuung im Strafvollzug. Das Betreuungspersonal zwischen Helfen und Strafen, eine empirische Untersuchung in einem Frauengefängnis. Bern 1996; SCHNEIDER Hans J.: Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug. In: Hirsch H. J. et al. (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann. Berlin/New York 1986, 267–290; SLAMA Helena: Santé des femmes détenues. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard / Badinter Robert (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Genève 2006, 419–426; TÖNDURY-WEY Fiammetta A.: Der Straf- und Massnahmenvollzug an Frauen in der Schweiz. Diss. Zürich 1970; ZOLONDEK Juliane: Lebens- und Haftbedingungen im deutschen und europäischen Frauenstrafvollzug. Mönchengladbach 2007.
Art. 377 Abs. 2 Bst. a StGB sieht vor, dass die Kantone Abteilungen für Frauen betreiben können. Dazu kann der Bundesrat nach Art. 387 Abs. 1 Bst. d StGB weitere Ausführungsbestimmungen erlassen. Diese flexiblen Vorschriften ermöglichen den Kantonen, bedarfsgerecht sachgerechte Lösungen für den Frauenvollzug zu realisieren, etwa gemischtgeschlechtliche Einrichtungen für den Vollzug der Halbgefangenschaft und des Arbeitsexternates. Art. 75 Abs. 5 StGB verlangt deshalb, dass den geschlechtsspezifischen Anliegen und Bedürfnissen der Gefangenen Rechnung zu tragen sei. Ferner ist es
225
13
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
ausdrücklich zulässig, von den bundesrechtlichen Regeln zu Gunsten der inhaftierten Frauen in zwei Fällen abzuweichen (Art. 80 Abs. 1 Bst. b und c StGB): Einerseits «bei Schwangerschaft, Geburt und für die Zeit unmittelbar nach der Geburt», andererseits «zur gemeinsamen Unterbringung von Mutter und Kleinkind, sofern dies auch im Interesse des Kindes liegt». In diesen Fällen ist es überdies zulässig, eine Freiheitsstrafe in anderen Einrichtungen als in Vollzugsanstalten zu vollstrecken, also einem Heim, einem Frauenhaus oder einer Einrichtung des Gesundheitsbereiches (Art. 80 Abs. 2 StGB). Vor der Revision des StGB von 2002 war dieser spezialisierte Frauenvollzug noch nicht explizit im Gesetz verankert. Allerdings aber verlangte das StGB bereits in allen Anstalten konsequent eine getrennte Unterbringung der Strafgefangenen weiblichen Geschlechts von den männlichen Gefangenen. Diese Vorgabe führte vorerst dazu, dass in vielen Männervollzugsanstalten abgetrennte, kleine Abteilungen für Frauen betrieben wurden. Dieses Modell ist heute weiterhin der Normalfall in grossen und grösseren Untersuchungs- und Kurzstrafengefängnissen. 14
Die Angliederung von Frauenabteilungen an Männeranstalten ist in verschiedener Hinsicht problematisch: Erstens lässt sich eine physische Trennung der inhaftierten Frauen von den männlichen Insassen durch entsprechende bauliche und organisatorische Massnahmen zwar durchaus realisieren, eine konsequente optische (und meist auch akustische) Trennung ist dagegen nicht durchwegs umzusetzen (z.B. während des Spaziergangs). Zweitens orientieren sich die Vollzugsbedingungen in diesen Anstalten naturgemäss an der zahlenmässig weit überwiegend männlichen Population. Unter diesen Rahmenbedingungen ist es kaum möglich, frauenspezifische Vollzugsbedingungen zu schaffen, welche jenen für Männer gleichwertig sind. Dies gilt etwa für den Arbeitsbereich, wo inhaftierte Frauen überwiegend in der Lingerie oder mit ähnlichen, dem klassischen Frauenbild entsprechenden Arbeiten beschäftigt werden. Es ist in solchen (häufig nicht durchgehend besetzten) Frauenabteilungen auch nicht immer möglich, dem oft schlechteren physischen und psychischen Zustand und dem offensichtlich höheren Bedürfnis nach Privatsphäre und Intimität der inhaftierten Frauen und besonderen Ernährungs- und Hygienegewohnheiten gerecht zu werden, namentlich für Schwangere und Mütter mit Kleinkindern. Und drittens ist offensichtlich, dass der absolute Zwang zur Trennung von Männern und Frauen in derselben Anstalt in einem deutlich wahrnehmbaren Widerspruch zum «Normalisierungsgrundsatz» steht.
226
6. Die Gefängnispopulation
Die meisten dieser Probleme können in den beiden spezialisierten Frauenvollzugsanstalten insgesamt besser gelöst werden: Die Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE ist die einzige ausschliesslich dem Frauenvollzug dienende Anstalt. Die Anstalt La Tuilère/VD setzt sich aus zwei im Vollzugsalltag voneinander unabhängigen Teilanstalten zusammen – eine Teilanstalt ist für Frauen reserviert. Der Vollständigkeit halber ist ferner die Anstalt Riant-Parc/GE zu erwähnen (welche allerdings ausschliesslich dem Vollzug des Arbeitsexternates und der Halbgefangenschaft an Frauen dient) sowie die spezialisierte Frauenabteilung im Gefängnis Dielsdorf/ZH (in welcher Frauen sowohl in Untersuchungshaft als auch im Vollzug inhaftiert werden). In der Frauenvollzugsanstalt Hindelbank werden in einer breiten Palette von Vollzugsformen alle Strafen und auch Massnahmen vollzogen (ferner auch Massnahmen nach dem ZGB): Das Angebot reicht von der Hochsicherheitsabteilung über individualisierte Formen der Gemeinschaftshaft bis zur Aussenwohngruppe Steinhof in Burgdorf und umfasst auch eine Abteilung «Mutter und Kind» (VII 5.3c).
15
Obwohl seit der Revision des StGB von 2002 eine Trennung von Frauen und Männern im Vollzug bundesrechtlich nicht mehr zwingend vorgeschrieben ist, wird diese spezialisierte Frauenvollzugsanstalt zweifelsfrei weiterhin betrieben.
16
6.2.2
Jugendliche in Vollzugsanstalten (LII 6.2.2)
Eine konsequente Trennung des Vollzugs jugendstrafrechtlicher Sanktionen von erwachsenenrechtlichen ist erst seit der Revision des StGB von 2002 sichergestellt. Vorher war es noch zulässig, jugendstrafrechtlich zu einem Freiheitsentzug (der sog. «Einschliessungsstrafe») Verurteilte in eine sog. Haftanstalt (d.h. ein in Untersuchungs- und Kurzstrafengefängnis) einzuweisen, sofern sie eine Strafe von längstens 1 Monat zu verbüssen und das 18. Altersjahr bereits zurückgelegt hatten. In Einzelfällen wurden aber – entgegen den gesetzlichen Vorschriften – auch Einschliessungsstrafen an anderen Jugendlichen in Haftanstalten vollstreckt (bis in die 1970er-Jahre sogar strafrechtliche Massnahmen an Jugendlichen in Strafvollzugsanstalten).
17
Mit der Revision des StGB von 2002 wurden die jugendstrafrechtlichen Vorschriften aus dem Allgemeinen Teil des StGB herausgelöst und in einem Spezialgesetz (Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht [Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1]) zusammengefasst (EI 5.2b). Dieses Gesetz schreibt ausdrücklich vor, dass der jugendstraf-
18
227
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
LII 6.2.2 Literatur zu Jugendlichen im Vollzug AEBERSOLD Peter: Jugendliche – wenig Freiheitsentzug. In: Fink Daniel / Schulthess Peter M. (Hrsg.): Strafrecht, Freiheitsentzug, Gefängnis. Ein Handbuch zur Entwicklung des Freiheitsentzugs in der Schweiz. Bern 2015, 280–293; BARRY Monica / MCNEILL Fergus (Hrsg.): Youth Offending and Youth Justice. Research Highlights in Social Work. Bd. 52. London/Philadelphia 2009; BÜTIKOFER REPOND Frédérique: Les droits fondamentaux des mineurs privés de liberté. In: Baechtold Andrea / Senn Ariane (Hrsg.): Brennpunkt Strafvollzug. Bern 2002, 317–339; DÜNKEL Frieder / STAŃDO-KAWECKA Barbara: Juvenile Imprisonment and placement in institutions for deprivation of liberty – Comparative aspects. In: Dünkel Frieder et al. (Hrsg.): Juvenile Justice Systems in Europe. Current Situation and Reform Developments.Vol. 3. 2. Aufl. Mönchengladbach 2011, 1789–1838; HEINE Günter / LOCHER Jakob: Jugendstrafrechtspflege in der Schweiz. Eine Untersuchung des Sanktionensystems mit Dokumentation. Freiburg i.Br. 1985; HUG Christoph: Die Strafen im schweizerischen Jugendstrafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Praxis in den Kantonen der Ostschweiz. Zürich 1976; PRUIN Ineke / HAVERKAMP Rita: Andere Länder, andere Sitten? – Konzepte in Europa als Impulsgeber für den deutschen Jugendstrafvollzug. In: Schweder Marcel (Hrsg.): Handbuch Jugendstrafvollzug. Weinheim/Basel 2015, 859–874.
rechtlich angeordnete Freiheitsentzug in keinem Fall mehr in einer Vollzugseinrichtung für Erwachsene vollzogen werden darf (Art. 27 Abs. 2 JStG). Das JStG verpflichtete die Kantone in Art. 48, bis spätestens zehn Jahre nach Inkrafttreten des JStG (das heisst bis spätestens am 31. Dezember 2016) die notwendigen Einrichtungen für den Vollzug der Unterbringung (Art. 15 JStG) und des Freiheitsentzugs (Art. 27 JStG) zu errichten. 19
Diese konsequente Trennungsvorschrift bezieht sich auf den jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzug, nicht aber auf die Untersuchungshaft an Jugendlichen. Letztere kann in einer Untersuchungshaftanstalt für Erwachsene erfolgen, sofern die Jugendlichen in einer besonderen Abteilung von den Erwachsenen getrennt untergebracht werden und eine geeignete Betreuung sichergestellt ist (Art. 28 Abs. 1 der Schweizerische Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 [Jugendstrafprozessordnung, JStPO; SR 312.1]; BGE 133 I 286). Einzelne Kantone haben bereits vor Inkrafttreten des eigenständigen Jugendstrafrechts 2007 derartige Spezialeinrichtungen eingeführt (z.B. der Kanton Bern im Regionalgefängnis Thun und der Kanton Zürich im Gefängnis Horgen).In anderen Kantonen kann dem Trennungsgebot trotz Bemühungen nicht genügend Rechnung getragen werden (z.B. im Kanton Graubünden in der Justizvollzugsanstalt Sennhof). Obschon eine strikte Einhaltung des Trennungsgebots zu begrüssen ist, ist darauf zu achten, dass eine allzu
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6. Die Gefängnispopulation
schematische Handhabung nicht zu einer faktischen Einzelhaft führt, namentlich wenn sich in der entsprechenden Vollzugseinrichtung nur ein Jugendlicher im betreffenden Haftregime befindet. Isolierten Jugendlichen sollte in solchen Fällen die Möglichkeit gegeben werden, an gemeinsamen Aktivitäten (bspw. Sport) teilzunehmen.
6.2.3
Alte Menschen im Strafvollzug
LII 6.2.3 Literatur zu alten Menschen im Strafvollzug ADAY Ronald H.: Aging prisoners: Crisis in American Corrections. Westport 2003; BAECHTOLD Andrea: Seniorenvollzug. In: Benjamin F. Brägger (Hrsg.): Das schweizerische Vollzugslexikon. Basel 2014, 393–398; BAUMEISTER Barbara / KELLER Samuel: Alt werden im Straf- und Massnahmenvollzug. ZHAW Departement Soziale Arbeit. Dübendorf 2011; BAUMEISTER Barbara / KELLER Samuel: Alt werden und Sterben hinter Gittern. Fakten und Prognosen. In: Riklin Franz: Alt werden und Sterben hinter Gittern. Eine neue Realität für den Vollzug. Bern 2014; BÉRARD Stefan / QUELOZ Nicolas: Fin de vie dans les prisons en Suisse: aspects légaux et de politique pénale. In: Jusletter 2. November 2015; DÜNKEL Frieder: Alte Menschen im Strafvollzug. In: Forum Strafvollzug 1991, 350– 357; FLIEDNER Gerhild: Altwerden in Unfreiheit. Eine Analyse über Verlauf und Folgen des Haftaufenthaltes älterer Inhaftierter sowie Perspektiven zur Integration nach der Entlassung. Kasseler Gerontologische Schriften Bd. 16. Kassel 1994; GREVE Werner / MÖSSLE Regine (Hrsg.): Alt(ern) hinter Gittern – Strafe ohne Aussicht? In: KrimPäd 45/2007, 1–45; HANDTKE Violet et al.: Facing the challenges of an increasingly ageing prison population in Switzerland: In search of ethically acceptable solutions. In: Bioethica Forum 5/2012, 134–141; HANDTKE Violet et al.: Easily forgotten: Elderly female prisoners. In: Journal of Aging Studies 32/2015, 1–11; MARTI Irene: Lebensende im Gefängnis: Vorstellungen, Ängste und Hoffnungen von Gefangenen im geschlossenen Vollzug in der Schweiz. In: Queloz Nicolas et al. (Hrsg.): Verletzlichkeit und Risiko im Justizvollzug. Bern 2015, 143–150; MARTI Irene / HOSTETTLER Ueli / RICHTER Marina: Sterben im geschlossenen Vollzug: inhaltliche und methodische Herausforderungen für die Forschung. In: SZK 1/2014, 26–43; QUELOZ Nicolas: Finir sa vie en prison: ou quand l’Etat restreint excessivement le droit au choix de fin de vie. In: Belser Eva Maria / Waldmann Bernhard (Hrsg.): Mehr oder weniger Staat? Festschrift für Peter Hänni zum 65. Geburtstag. Bern 2015, 517–529; RIKLIN Franz (Hrsg.): Alt werden und sterben hinter Gittern. Materialien der „Fachgruppe Reform im Strafwesen“. Bd.6. Bern 2014; ROOS Helmut / EICKE Eva-Maria: Die Abteilung für ältere Gefangene in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt, Abteilung Kornhaus. In: Dünkel Frieder / Drenkhahn Kristin / Morgenstern Christine (Hrsg.): Humanisierung des Strafvollzugs – Konzepte und Praxismodelle. Mönchengladbach 2008, 107–114; SCHNEEBERGER GEORGESCU Regine: Über 60-Jährige im Vollzug. Zahlen und Fakten zur aktuellen Situation in der Schweiz. In: Info bulletin – bulletin info 2/2006, 3–9; SCHRAMKE HeinJürgen: Alte Menschen im Strafvollzug. Empirische Untersuchung und kriminalpolitische Überlegungen. Giessener Kriminalwissenschaftliche Schriften Bd. 5. Bonn 1996; WANGMO Tenzin et al.: Ageing Prisoners’ Disease Burden: Is Being Old a Better Predictor than Time Served in Prison? In: Gerontology 2015, 116–123; WANGMO Tenzin et al.: Aging Prisoners in Switzerland: An analysis of Their Health Care Utilization. In: Journal of Aging and Health, first published on July 6, 2015 as doi:10.1177/0898264315594137, 1–11.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug 20
Während eine konsequente Trennung des Vollzugs an Jugendlichen von Erwachsenen seit dem 19. Jahrhundert auf der Agenda der Vollzugsreformer steht, ist der Freiheitsentzug an alten Menschen bislang kaum systematisch thematisiert worden. Dies dürfte sich in den kommenden Jahren ändern, weil der Anteil an alten Menschen im Freiheitsentzug anwächst, u.a. als Folge der zurückhaltenden Praxis bei der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe und aus der Verwahrung, ferner als Konsequenz der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung. Laut dem Bundesamt für Statistik hat sich in der Periode von 1984 bis 2014 der mittlere Insassenbestand der über 60-jährigen Inhaftierten im Straf- und Massnahmenvollzug (inkl. vorzeitiger Vollzug und Halbgefangenschaft) von 58 (1984) auf 183 Personen (2014) verdreifacht.
21
Vor der Revision des StGB von 2002 war der Bundesrat zwar bereits befugt, für den Vollzug von Strafen und Massnahmen an «betagten Personen» ergänzende Bestimmungen aufzustellen (Art. 397bis aStGB), doch hat er von dieser Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht. Die analoge Befugnis wurde bisher auch im neuen Recht (Art. 387 Abs. 1 Bst. c StGB) vom Bundesrat nicht ausgeschöpft.
22
Dass für die Gruppe der alten Menschen im Freiheitsentzug künftig möglicherweise ein besonderer Handlungsbedarf vorliegt, dokumentiert Art. 377 Abs. 2 Bst. b StGB, wonach die Kantone für «Gefangene bestimmter Altersgruppen» spezielle Abteilungen führen können. Tatsächlich haben einzelne Vollzugsanstalten bereits seit einigen Jahren erste Versuche mit besonderen Vollzugsformen für «Senioren» eingeführt (u. a. Strafanstalt Saxierriet/SG, Strafanstalt Pöschwies/ZH). In der Justizvollzugsanstalt Lenzburg/AG hat im Mai 2011 zudem eine spezialisierte «Seniorenabteilung» («Abteilung 60plus»; DII 6.2.3) mit 12 Plätzen ihren Betrieb aufgenommen. In der JVA Realta Nuovo/GR (Baubeginn 2016) werden 10 Plätze für «Senioren» geschaffen und in der Strafanstalt Bostadel/ZG sind Bestrebungen im Gange, Altersabteilungen einzuführen («Abteilung 50+»). In Einzelfällen steht im Übrigen für diese Insassengruppe auch das Institut der «abweichenden Vollzugsform» (Art. 80 StGB; vgl. Abschnitt 5.4.7) zur Verfügung.
230
6. Die Gefängnispopulation
DII 6.2.3 Justizvollzugsanstalt Lenzburg/AG: Konzept der «Abteilung 60plus» «Die Abteilung 60plus soll in erster Linie langstrafigen oder verwahrten Gefangenen, welche das 60. Altersjahr erreicht haben, einen altersgerechten Vollzugsplatz (nach Art. 80 StGB, abweichende Vollzugsformen) bieten» (Jahrbuch 2010/2011, 59). Sie soll den altersbedingten Bedürfnissen und gesundheitlichen Beschwerden oder Beeinträchtigungen der «Senioren» gerecht werden. «Auch die Aufnahme von Gefangenen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, die das 60. Altersjahr noch nicht erreicht haben, ist Teil des Abteilungskonzeptes» (Jahrbuch 2010/2011, 59). Die Vollzugsform in der 60plus zeichnet sich im Vergleich zum Normalvollzug insbesondere durch längere Zellenöffnungszeiten und einer reduzierten Arbeitspflicht aus. «Die Arbeit gemäss Art. 81 StGB soll zugunsten rehabilitativer, sozialer und freizeitorientierter Aspekte in den Hintergrund treten» (Jahrbuch 2012/2013, 50). Die Abteilung wurde im Mai 2011 eröffnet. Unter Einhaltung der Sicherheitsanforderungen innerhalb und ausserhalb der Vollzugsinstitution soll eine möglichst hohe Selbständigkeit der Gefangenen erhalten und/oder diese gezielt verbessert werden. Die Selbständigkeit hat sich im Wesentlichen auf lebenspraktische Tätigkeiten wie Kochen, Waschen, Putzen, Pflege der Körperhygiene und Gestalten der Freizeit (Zeitung lesen, basteln, spielen etc.) zu beziehen. Dies soll durch den Einbezug des Gefangenen in möglichst viele Aktivitäten im Vollzugsalltag erreicht werden (Mithilfe bei der Essenszubereitung und -verteilung, beim Abwaschen, bei Hausreinigungs- und Umgebungsarbeiten usw.). Ein Aussenhof speziell für die 60plus Abteilung bietet den Gefangenen die Möglichkeit, sich unter freiem Himmel aufzuhalten und in einem Hochbeet Gemüse oder Blumen anzupflanzen (Jahrbuch 2010/2011, 60). Als eine wichtige Aufgabe des Betreuungsteams werden der Erhalt und die Förderung der kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten angestrebt. Gegebenenfalls werden individuelle Behandlungen mit Hirnleistungstraining, gestalterischen oder handwerklichen Tätigkeiten angeboten. Die Pflege der Sozialkontakte und die Bestrebung, Rückzugstendenzen und Vereinsamung entgegen zu wirken, sind wichtige Bestandteile des strukturierten Tagesablaufs der Abteilung. Folglich wird ein grosser Teil der Zeit zum gemeinsamen Verweilen in Aufenthalts-, Freizeit- und Arbeitsräumen eingesetzt. Allgemein ist das Thema «Nähe Distanz» eine Herausforderung: «Die geltende Praxis, mit Gefangenen keinen Körperkontakt zu haben, musste im speziellen Kontext der Abteilung 60plus neu überdacht werden. Zu den Pflichten der Vollzugsangestellten in der Abteilung 60plus zählen auch, einen Verband zu wechseln oder beim Auftragen einer Salbe behilflich zu sein. Das Personal ersetzt für betagte Gefangene mit der Zeit gewissermassen die Familie, da die Kontakte zur Aussenwelt stetig abnehmen» (Jahrbuch 2012/2013, 51). Für die Palliativpflege arbeitet die Abteilung auch mit externen Fachpersonen zusammen. Neben der deliktpräventiven Arbeit sind zusätzlich Themen betreffend Umgang mit Sterben und Tod (Versöhnung, Sühne, Wiedergutmachung, aber auch Patientenverfügung und Anordnung für den Todesfall) aufzugreifen (Jahrbuch 2012/2013, 51). Altersangemessene Betreuung und Pflege durch ausgebildetes Vollzugs- und externes Fachpersonal (z.B. Gesundheitsturnen) sollen das Angebot abrunden. Alle diese Bestrebungen sind im Vollzugsplan festzuhalten. Quellen: JVA LENZBURG: Betriebskonzept der «Abteilung 60plus». Altersabteilung im Neubau Zentralgefängnis der Justizvollzugsanstalt Lenzburg (Stand 2009). Lenzburg 2009; JVA LENZBURG: Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Jahrbuch 2010/2011. Lenzburg 2012; JVA LENZBURG: Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Jahrbuch 2012/2013. Lenzburg 2014.
231
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
6.2.4
Somatisch und psychisch Kranke
LII 6.2.4 Literatur zu somatisch und psychisch Kranken ACHERMANN Christin / HOSTETTLER Ueli: Infektionskrankheiten und Drogenfragen im Freiheitsentzug. Rapid Assessment der Gesundheitsversorgung. Gutachten z.Hd. des Bundesamtes für Gesundheit. Freiburg i.Ü. 2007 (online prisonresearch.ch/publikationen); BERTRAND Dominique / ELGER Bernice: Interventions médicales auprès des «groupes vulnerables» et rôle d’un service médical pénitentiaire quant à l’évaluation de la capacité à la détention. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard / Badinter Robert (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Genève 2006, 427–436; BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Schweizerische Gesundheitsbefragung 1992/93. Bern 1997; BRÄGGER Benjamin F. / GRAF Marc: Gefährlichkeitsbeurteilung von psychisch kranken Straftäern. In: Jusletter 27. April 2015; BRÄGGER Benjamin F.: Massnahmenvollzug an psychisch kranken Straftätern in der Schweiz. Eine kritische Auslegeordnung. In: SZK 2/2014, 36–44; HILLENKAMP Thomas / TAG Brigitte (Hrsg.): Intramurale Medizin – Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug. Berlin 2005; JENDLY Manon: Le secret de fonction et le secret médical incarceérés: proposition d’un modèle de partage des informations confidentielles en exécution des peines privatives de liberté. In: ZStrR 2006, 245–273; KEPPLER Karlheinz / STÖVER Heino (Hrsg.): Gefängnismedizin. Medizinische Versorgung unter Haftbedingungen. Stuttgart 2008; MASIA Maurizia et al.: Auswertungsbericht zum Fragebogen «Analyse von Präventionsmassnahmen und Behandlungsangeboten zu Infektionskrankheiten und Drogenabhängigkeit in Schweizer Anstalten des Freiheitsentzugs». Gutachten z.Hd. des Bundesamts für Gesundheit. Freiburg i.Ü. 2007 (online prisonresearch.ch/ publikationen); QUELOZ Nicolas et al. (Hrsg.): Medizin und Freiheitsentzug. Bern 2002; QUELOZ Nicolas: Gefängnis als Klinik? Zur Problematik psychisch auffälliger Insassen im Freiheitsentzug. Bern 2008; RIKLIN Franz / MEZ Bettina (Hrsg.): Gefängnismedizin und Strafjustiz. Materialien der „Fachgruppe Reform im Strafwesen“ Bd. 5. Bern 2012; SPRUMONT Dominique et al.: Zusammenfassung – Ärztliche Praxis in Hafteinrichtungen – Wirksamkeit der Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen. Neuchâtel 2009 (online prisonresearch.ch/ publikationen); WORLD HEALTH ORGANISATION, Regional Office for Europe (Hrsg.): Prisons and health. Copenhagen 2014; WORLD HEALTH ORGANIZATION/INTERNATIONAL COMMITTEE OF THE RED CROSS (Hrsg.): Tuberculosis Control in Prisons. A Manual for Programme Managers. Geneva 2000. 23
Der in Art. 75 Abs. 1 verankerte Auftrag, die Betreuung der Gefangenen zu gewährleisten, schliesst eine fachgerechte medizinische Behandlung erkrankter (und verunfallter) Strafgefangener ein. Der Bundesrat kann für den Vollzug an solchen Personen ergänzende Bestimmungen erlassen (Art. 387 Abs. 1 Bst. c StGB). Bisher hat der Bundesrat diese Ermächtigung nicht genutzt und es ist auch nicht zu erwarten, dass er diese Ermächtigung in absehbarer Zeit nutzt, nachdem eine gleich lautende Vorschrift im aStGB den Bundesrat nicht zu
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6. Die Gefängnispopulation
gesetzgeberischem Handeln veranlasst hat. Einzelheiten zur Behandlung und Pflege kranker Strafgefangener regelt somit das kantonale Recht (in praktisch allen Kantonen sind allgemeine Grundsätze bereits auf Verordnungsstufe festgelegt). Das Konkordat der lateinischen Schweiz hat in einem Beschluss entsprechende Grundsätze verabschiedet (Beschluss vom 24. September 2007 betreffend den Vollzug bzw. vorzeitigen Vollzug von freiheitsentziehenden Strafen und Massnahmen bei kranken, verunfallten, behinderten oder alten Gefangenen und Verwahrten). Die «Schweizerische Gesundheitsbefragung 1992/93» (Bundesamt für Statistik 1995) belegt, dass der Gesundheitszustand der Strafgefangenen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung insgesamt prekär ist: Von 10 Strafgefangenen fühlen sich bloss 2 psychisch gut, 2 mittelmässig und 6 schlecht; 53% nehmen wöchentlich Medikamente, 32% täglich Schlafmittel, 13% täglich Schmerzmittel und 19% täglich Beruhigungsmittel. Weil im Freiheitsentzug ein besonders hohes Risiko für die Verbreitung von Infektionskrankheiten (insbes. HIV, Hepatitis, Tuberkulose) besteht, hat das Bundesamt für Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz und der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren im Sommer 2008 ein auf mehrere Jahre angelegtes Projekt eingeleitet, mit welchem auf der Grundlage einer umfassenden Standortanalyse die notwendigen präventiven Massnahmen zur Infektionsverhütung und zur Behandlung von Infektionskrankheiten im Vollzug entwickelt wurden (Projekt «Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis», BIG). Gestützt auf die Ergebnisse dieses Projekts haben die Konferenz der kantonalen Polizei- und Justizdirektorinnen und -direktoren und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren Empfehlungen zur Harmonisierung der Präventionsarbeit im Straf- und Massnahmenvollzug verabschiedet (DII 6.2.4a und DII 6.2.4b).
24
In der Praxis erfolgt die normale hausärztliche Behandlung in der Vollzugseinrichtung selbst – in den grösseren Vollzugsanstalten und grossen Untersuchungs- und Kurzstrafengefängnissen durch den anstaltsinternen Gesundheitsdienst, in kleinen Anstalten durch im Einzelfall konsiliarisch beigezogene Ärzte. Wo ein anstaltsinterner Gesundheitsdienst und eine weitgehend permanente ärztliche Präsenz sichergestellt sind, kann die anstaltsinterne ärztliche Betreuung über eine bloss hausärztliche hinausgehen. Einige wenige grosse Vollzugsanstalten verfügen über vollamtlich angestellte Ärzte und über speziell eingerichtete Krankenzimmer. Die grösseren Vollzugsanstalten und die grossen Un-
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
tersuchungs- und Kurzstrafengefängnisse sind überdies auch für zahnärztliche Behandlungen eingerichtet (DII 6.2.4a und DII 6.2.4b). 26
Die Behandlung und Pflege somatisch und psychisch kranker Strafgefangener in den Vollzugsanstalten und jenen Untersuchungs- und Kurzstrafengefängnissen, welche über einen internen Gesundheitsdienst und eine weitgehend permanente Präsenz von Ärzten und Psychologen verfügen, entspricht in aller Regel hohen medizinischen Standards. In den anderen Einrichtungen kann insbesondere bei schweren Akuterkrankungen eine fachspezifische ärztliche Behandlung nicht immer zeitgerecht eingeleitet werden. Gerade in kleinen Anstalten kann die psychiatrische und psychologische Betreuung der Insassen teilweise nicht sichergestellt werden. Eine besondere Problematik stellt die Behandlung psychisch kranker, als gefährlich beurteilter Strafgefangener dar: Da für solche Strafgefangenen (mit Ausnahme der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Standort Rheinau; N. 27) keine gesicherten Behandlungseinrichtungen für Langzeitaufenthalte verfügbar sind, werden diese schliesslich meist in geschlossene Vollzugsanstalten eingewiesen, welche zwar eine hinreichende Pflege sicherstellen können, normalerweise aber keine darüber hinausgehende Behandlung.
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Gewährleisten die anstaltsinternen Strukturen eine fachlich einwandfreie Betreuung und Pflege erkrankter Strafgefangener nicht, erfolgt eine Verlegung in ein «Gefängnisspital» (oder ggf. auch in ein normales öffentliches Spital oder eine psychiatrische Klinik). Zu diesem Zwecke stehen für somatisch Kranke die Bewachungsstation am Inselspital in Bern (VII 6.2.4) und das Quartier cellulaire de l’hôpital cantonal universitaire de Genève zur Verfügung, für psychisch Kranke sechs Plätze in der Bewachungsstation am Inselspital, die 27 Plätze in den drei Stationen des Sicherheitstraktes der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Standort Rheinau, eine geschlossene Psychatrie-Abteilung am Universitätsspital Basel sowie das Quartier carceral psychiatrique de Belle-Idée in Genf. Ist auch in diesem Rahmen eine ausreichende ärztliche Behandlung und Pflege auf Dauer nicht gewährleistet, ordnet die Vollzugsbehörde bei Hafterstehungsunfähigkeit den Vollzug in einer abweichenden Vollzugsform an (Abschnitt 5.4.7), bei Straferstehungsunfähigkeit eine Unterbrechung des Vollzugs (Abschnitt 4.3). Für die lateinische Schweiz vgl. auch den Beschluss betreffend den Vollzug bzw. vorzeitigen Vollzug von freiheitsentziehenden Strafen und Massnahmen bei kranken, verunfallten, behinderten und alten Strafgefangenen oder Verwahrten vom 24. September 2007.
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6. Die Gefängnispopulation
VII 6.2.4 Bewachungsstation am Inselspital (BEWA), 3010 Bern/BE Die Bewachungsstation war während mehr als 30 Jahren im Tiefparterre des Bettenhochhauses untergebracht. Ungenügende Belichtung der Krankenzimmer, äusserst knappe Platzverhältnisse u. unzureichende Sicherungsmöglichkeiten führten zu einer Verlegung der Station: Im Sommer 2004 bezog die Bewachungsstation vollständig umgebaute u. erweiterte Räumlichkeiten im Gebäude der Klinik für Dermatologie. Funktion Die Bewachungsstation ist eine kantonale Vollzugseinrichtung (Art. 20 SMVV/BE) mit einem speziellen Vollzugszweck: Sie dient der Unterbringung verunfallter, somatisch u./od. psychisch kranker Eingewiesener, die aus Sicherheitsgründen nicht in ein anderes Spital eingewiesen werden können. Eingewiesen werden Männer u. Frauen im Straf- u. Massnahmenvollzug, in Polizei-, Untersuchungs- od. Sicherheitshaft, in Vorbereitungs-, Ausschaffungs- od. Auslieferungshaft sowie fürsorgerischer Unterbringung (Art. 23 SMVV/BE). Für in den Straf- u. Massnahmenvollzug Eingewiesene wird der Aufenthalt in der Bewachungsstation auf die Strafe angerechnet. Die Bewachungsstation wird von allen Kantonen der deutschsprachigen Schweiz (gelegentlich auch der Westschweiz) in Anspruch genommen. Anlage Die Bewachungsstation belegt das 2. OG der Klinik für Dermatologie. Sie ist für Fussgänger über eine Pforte mit Schleuse erreichbar, für Fahrzeuge über eine Fahrzeugschleuse im UG, von welcher ein Bettenaufzug direkt in die Station führt. Die verschiedenen Kliniken des Inselspitals sind über ein System unterirdisch angelegter Verbindungswege erreichbar. Die Bewachungsstation ist in vier getrennte Hauptbereiche unterteilt: Den Verwaltungsflügel (inkl. Besucherzimmer), das Ambulatorium, die Bettenstation (mit Räumen für die Beschäftigung/Ergotherapie) sowie eine Anlage mit zwei Spazierhöfen auf dem Dach des Gebäudes, welche durch eine interne Treppe erreichbar sind. Gliederung/Vollzugsplätze Die Bettenstation umfasst 16 Betten, die für Patientinnen u. Patienten mit medizinischen, chirurgischen oder psychiatrischen Problemen bereit stehen. Die Betten befinden sich teilweise in spezialisierten Zimmern (Sicherheitszelle zur Betreuung von fremdgefährlichen Patienten, Isolationszimmer zur Behandlung von Infektionskrankheiten, Zimmer mit Spezial-WC zur Asservation von Drogen). Anzahl Mitarbeitende Für die Aufgaben der Verwaltung der Abteilung u. der Betreuung u. Sicherung der Eingewiesenen stehen dem Leiter der Station, welcher dem Amt für Freiheitsentzug u. Betreuung unterstellt ist, insg. 25 Stellen zur Verfügung. Die ärztliche Versorgung u. der Pflegedienst werden durch der Spitaldirektion unterstellte Mitarbeitende abgedeckt. Spezielle Angebote Neben der Bettenstation betreibt die Bewachungsstation auch ein Ambulatorium: Eingewiesene, welche in Kliniken des Inselspitals ambulant versorgt werden (Eingewiesene aus Vollzugseinrichtungen) werden von einem gesicherten Warteraum aus in die jeweiligen Kliniken begleitet. Quellen: Auskunft der Leitung der Bewachungsstation; BFS (Hrsg.): Katalog der Justizvollzugseinrichtungen von Sept. 2014, Bern 2015.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
DII 6.2.4a Organisationen des Gesundheitswesens im Justizvollzug: «Konferenz Schweizerische Gefängnisärzte» (KSG), «Forum der Gesundheitsdienste im Schweizerischen Justizvollzug» und «Santé Prison Suisse» (SPS) Im Gesundheitswesen des Justizvollzugs engagieren sich zurzeit zwei Fachverbände und ein Fachrat für ihre inhaltlichen Anliegen: die «Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte» (gegründet 2004), das «Forum der Gesundheitsdienste im Schweizerischen Justizvollzug» (Aufbau ab 1992) und «Santé Prison Suisse» (seit 2013). Forum der Gesundheitsdienste im Schweizerischen Justizvollzug Das Forum ist seit 1992 sukzessive aufgebaut worden. Eine Reihe von thematischen Foren vermochten zunehmend Mitarbeitende aus den Gesundheitsdiensten der meisten Einrichtungen des Justizvollzugs einzubeziehen. Laut den Statuten des Forums besteht sein Zweck in der Vereinigung der im Gesundheitsdienst tätigen Personen in Einrichtungen des Justizvollzuges im Hinblick auf folgende Ziele: «a) sämtliche Vorkehrungen zu treffen, die dazu dienen, die Qualität, die Besonderheiten und die fachlichen Interessen dieses Tätigkeitsbereichs unter ärztlicher Schweigepflicht zu fördern und zu wahren; Behörden und Vollzugsorgane für die Wichtigkeit der Gesundheitsdienste mit qualifiziertem Personal zu sensibilisieren; b) Empfehlungen und Standards betreffend die medizinische Praxis im Strafvollzug auszuarbeiten; c) jährliche Tagungen für die Gesundheitsdienste im Justizvollzug zu organisieren; d) durchführen von Fort- und Weiterbildungen für die Gesundheitsdienste im Justizvollzug; e) mit Fachorganisationen zusammen zu arbeiten und gemeinsame Synergien zu nutzen.» Weitere Information zum Forum: http://www.prison.ch/de/justizvollzug-schweiz/who-iswho/fachverbaende-und-fachstellen Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte Laut den Statuten vom 23.1.2004 (revidiert 23.1.2009) hat die KSG folgenden Zweck: «die Vereinigung der in der Schweiz im Bereich der Gefängnismedizin (Gefängnisse und Strafvollzugsanstalten, Arbeitserziehungsanstalten usw.) tätigen Ärzte im Hinblick auf folgende Ziele: a) sämtliche Vorkehrungen zu treffen, die dazu dienen, die Unabhängigkeit, die Qualität, die Besonderheiten und die fachlichen Interessen dieses Tätigkeitsbereichs zu wahren; b) die Nachdiplom- und Weiterbildung im Bereich der Gefängnismedizin unter ihren präventiven und therapeutischen Aspekten mit Einbeziehung der ethischen und rechtlichen Dimensionen zu gewährleisten; c) einen Beratungsauftrag bei der Organisation der Pflegeleistungen im Strafvollzug zu sichern; d) die Einrichtung von geeigneten Strukturen zu veranlassen und zu fördern; e) die Beziehungen zwischen den betroffenen Partnern anzuregen und zu fördern; f) Empfehlungen betreffend die medizinische Praxis im Strafvollzug auszuarbeiten; g) jährliche Tagungen zwischen Ärzten zu organisieren, die im Strafvollzug tätig sind.» Die KSG unterhält zudem eine Website mit aktuellen Informationen zu medizinischen Themen: http://www.cmps-ksg.ch
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6. Die Gefängnispopulation Santé Prison Suisse SPS steht für einen interdisziplinären gesamtschweizerischen Fachrat, der als ein Produkt des vom BAG und der KKJPD getragenen Projekt «Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis» (BIG) im Mai 2013 aufgebaut wurde. Seit dem 1.1.2014 ist eine zweijährige Pilotphase von SPS angelaufen. Dem Fachrat gehören 12 Vertreterinnen und Vertreter von Institutionen des Justizvollzugs und des Gesundheitswesens an. Auf der Website werden folgende Ziele für SPS aufgeführt: «SPS setzt sich einerseits für die Harmonisierung der Gesundheitsversorgung im schweizerischen Justizvollzug ein, andererseits will SPS den interdisziplinären Dialog zwischen Fachleuten des Gesundheits- und des Justizvollzugswesens ermöglichen und fördern. Konkret strebt SPS einen Zustand an, in dem... - für alle Betroffenen und Beteiligten gesamtschweizerisch einheitliche Informationen zu allen gesundheitsrelevanten Themen im Justizvollzug verfügbar sind - schweizweit bzgl. der Gesundheitsversorgung im Justizvollzug einheitliche medizinische, ethische und organisatorische Standards angewendet werden - ein ständiger interdisziplinärer Dialog unter Einbezug aller Akteure besteht, der auf die Entwicklung gemeinsam getragener Lösungen hinsichtlich der Gesundheitsversorgung im Justizvollzug abzielt.» SPS hat ein ständiges Sekretariat das in den Räumen des SAZ untergebracht ist und unterhält eine Website mit umfassender themenspezifischer Information: http://sante. prison.ch
DII 6.2.4b
Projekt «Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis» (BIG) Das Bundesamt für Gesundheit, das Bundesamt für Justiz und die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren und -direktorinnen engagieren sich seit 2008 im Projekt «Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis» (BIG). Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis (BIG) Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wonach Anstalten des Freiheitsentzugs Orte sind, wo das Vorkommen von und die Risiken einer Ansteckung mit Infektionskrankheiten wie HIV/Aids, Hepatitis oder Tuberkulose verbreiteter sind als in Freiheit wurde nach Vorstudien der Universitäten Freiburg und Bern im Sommer 2008 das Projekt «Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis» (BIG) gemeinsam vom BAG, dem BJ und der KKJPD lanciert. Sie sind für die Umsetzung verantwortlich und die Finanzierung des Projektes ist durch das BAG sichergestellt. Es werden laut der Website folgende Ziele mit BIG angestrebt: - Minimale Risiken der Übertragung von Infektionskrankheiten im Vollzug - Minimale Risiken der Übertragung von Infektionskrankheiten aus dem Vollzug in die Aussenwelt und umgekehrt - In Relation zur Aussenwelt äquivalente Prävention, Testung und Therapie bezüglich Infektionskrankheiten im Vollzug - Im Verhältnis zur Aussenwelt äquivalente Drogentherapie im Vollzug - Nachhaltigkeit der entwickelten Massnahmen und Instrumente Weitere Informationen zum Projekt BIG sind auf der Website des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zu finden: http://www.bag.admin.ch/hiv_aids Quellen: Für eine gesamtschweizerische Bestandsaufnahme der Problematik und der Gesundheitsversorgung allgemein im Justizvollzug, die sich auf das Jahr 2007 bezieht: MASIA Maurizia / ACHERMANN Christin / HOSTETTLER Ueli / RICHTER Marina: Auswertungsbericht zum Fragebogen «Analyse von Präventionsmassnahmen und Behandlungsangeboten zu Infektionskrankheiten und Drogenabhängigkeit in Schweizer Anstalten des Freiheitsentzugs». Freiburg 2007 (online http://prisonresearch.ch/publikationen).
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
6.2.5
Drogenabhängige im Strafvollzug
LII 6.2.5 Literatur zu Drogenabhängigen im Strafvollzug ACHERMANN Christin / HOSTETTLER Ueli: Infektionskrankheiten und Drogenfragen im Freiheitsentzug. Rapid Assessment der Gesundheitsversorgung. Gutachten z.Hd. des Bundesamtes für Gesundheit. Freiburg i.Ü./Neuenburg 2007 (online prisonresearch.ch/publikationen); DUBOIS-ARBER Françoise et al.: Evaluation der AidsPräventions-Strategie in der Schweiz. Sechster zusammenfassender Bericht 1996–1998. Lausanne 1999; GERLICH Miriam / FRICK Ulrich / UCHTENHAGEN Ambros: Erfassung und Behandlung von chronischen Infektionskrankheiten in Haft- und Strafanstalten der Schweiz. Forschungsbericht aus dem Institut für Suchtforschung. Zürich 2004; GERLICH Miriam et al.: Prävention von HIV- und Hepatitis-Infektionen in Schweizer Untersuchungshaft- und Strafvollzugsanstalten. In: SuchtMagazin 2/2005, 14–18; GRAVIER Bruno / ITEN Anne: Epidémiologie et prévention des infections dans les prisons Suisse Romande (EPIPS). Lausanne 2005; KARGER Thomas: Behandlung von Suchtmittelabhängigkeit im schweizerischen Strafvollzug. Institut für Suchtforschung. Zürich 1996; KÜNZLI Jörg / ACHERMANN Alberto: Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Freiheitsentzug. Rechte und Pflichten von Inhaftierten und von Bund und Kantonen. In: Jusletter 7. Mai 2007; MAIER Thomas J.: Die Bedeutung von Zwangsmassnahmen für die Rehabilitation von Drogenabhängigen. Diss. Zürich 1994; NELLES Joachim / FUHRER Andreas (Hrsg.): Harm reducition in prison: Strategies against drugs, AIDS, and risk behaviour. Risikominderung im Gefängnis: Strategien gegen Drogen, AIDS, und Risikoverhalten. Bern/New York 1997; NELLES Joachim et al.: Provision of syringes: the cutting edge of harm reduction in prison? In: BMJ 7153/1998, 270–273; ORGANISATION MONDIALE DE LA SANTÉ (Hrsg.): Directives de l’OMS sur l’infection à la VIH et le SIDA dans les prisons. Genève 1993; RITTER Catherine: L’Approche des addictions en milieu carcéral. In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard / Badinter Robert (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Genève 2007, 173–189; ROYUELA Luis et al.: Drug use in prison. Assessment report. European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (Hrsg.). Lissabon 2014; STÖVER Heino / KNORR Bärbel: HIV und HepatitisPrävention in Haft - keine Angst vor Spritzen. Schriftenreihe «Gesundheitsförderung im Justizvollzug» Band 28. Oldenburg 2014; WORLD HEALTH ORGANIZATION, Regional Office for Europe (Hrsg.): Prisons and health. Copenhagen 2014. 28
Da die Anordnung einer stationären oder ambulanten Behandlung drogenabhängiger Straftäter an enge Voraussetzungen geknüpft ist (Art. 60 und 63 StGB; vgl. Abschnitte 9.2.2 und 9.3), erfolgt ein Freiheitsentzug an drogenabhängigen Straftätern grossmehrheitlich im Strafvollzug. In den 1990er-Jahren war der Anteil der Drogenkonsumenten und Drogenabhängigen in offenen Anstalten sehr hoch: Im Strafvollzug konsumierten 33% der 15- bis 39-Jährigen mindestens einmal wöchentlich Opiate und/oder Kokain (in der Gesamtbevölkerung betrug der Wert für dieselbe Altersgruppe 1%) (Bundesamt für Statistik: Gesundheitsbefragung 1992/93, Bern 1995). Für die Schweiz gibt es leider keine neueren Studien zum Drogenkonsum im Strafvollzug. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Anteil drogenkonsumierender
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6. Die Gefängnispopulation
Strafgefangener zurückgegangen ist. Eine Studie der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EBDD) zum Drogenkonsum in europäischen Gefängnissen geht davon aus, dass immer noch die Mehrheit der Gefangenen im Verlaufe ihres Lebens illegale Drogen konsumiert haben und viele ein problematisches Suchtverhalten während des Vollzugs aufweisen (ROYUELA, 2014). Der Strafvollzug an Drogenabhängigen richtet sich über die allgemeinen bundesrechtlichen Vorschriften hinaus ausschliesslich nach kantonalem Recht. Dieses verbietet in allen Vollzugseinrichtungen den Besitz, Handel und Konsum illegaler Drogen und droht disziplinarrechtliche Sanktionen an (schwerere Fälle werden strafrechtlich verfolgt). Dies gilt für alle Arten illegaler Drogen (dass mindestens in einer Anstalt der Konsum von Cannabis in der Zelle toleriert wird, bestätigt diese Regel). Mit systematischen Kontrollen wird deshalb versucht, den Drogenhandel und Drogenkonsum in der Anstalt zu unterbinden (Kontrolle von Urlaubern, Besuchern, des Postverkehrs, des Anstaltsgeländes sowie regelmässige Urinkontrollen bei den Strafgefangenen). Darüber hinaus bieten alle Vollzugsanstalten zumindest durch die Abgabe von Informationsmaterial Angebote zur Suchtprophylaxe an – in einzelnen Anstalten auch mittels «positiver Anreize» für negative Urinproben (z.B. Gutscheine oder zusätzliche Urlaube). Dessen ungeachtet ist eine vollständige Unterbindung von Drogenhandel und Drogenkonsum selbst in geschlossenen Anstalten ausgeschlossen. Namentlich die Einfuhr von Drogen in Körperöffnungen kann nicht einer lückenlosen Kontrolle unterworfen werden. Unter diesen Umständen lassen sich abstinenzorientierte therapeutische Programme innerhalb des Strafvollzugs nur dann erfolgreich etablieren, wenn für abstinenzwillige Drogenabhängige vollständig abgetrennte Abteilungen geführt werden. Immerhin bieten etliche Vollzugsanstalten im Rahmen der individuellen Vollzugsplanung abstinenzstützende Massnahmen an, sei dies im Rahmen des Gesundheitsdienstes oder durch eine externe Suchtberatung. Darüber hinaus wird – z.T. in Zusammenarbeit mit der Bewährungshilfe – die Motivation für einen Eintritt in eine Drogentherapie nach Beendigung der Freiheitsstrafe nach Möglichkeit nachhaltig gefördert.
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Diese Massnahmen der Prävention, Rehabilitation und Repression werden im Vollzug wie in der allgemeinen Drogenpolitik durch solche der «Harm reduction» (Massnahmen zur Vermeidung von negativen Folgen des Drogenkonsums) ergänzt. Im Kanton Bern sind z.B. bereits im Jahre 1993 durch das Amt für Freiheitsentzug und Betreuung entsprechende «Drogenpolitische Grundsätze» erlassen worden. Die
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
ersten Massnahmen der Harm reduction gehen auf eine Initiative des Bundesamtes für Gesundheitswesen im Jahre 1986 zurück. Im Vordergrund steht dabei die Vermeidung der Übertragung von HIV- und Hepatitis-Infektionen durch sexuelle Kontakte und den intravenösen Drogenkonsum. Diese Massnahmen umfassen heute neben der Abgabe von Informationsmaterial, von Kondomen und von Desinfektionsmitteln für Spritzen, dem Angebot von HIV-Tests sowie der kontrollierten Abgabe von Methadon in einzelnen Anstalten auch die Abgabe von sterilen Spritzen und eine kontrollierte Abgabe von Heroin (DII 6.2.5). In der Vollzugsanstalt Schöngrün/SO, die Ende November 2014 zugunsten der neuen Justizvollzugsanstalt Solothurn (JVA) aufgehoben wurde, standen zeitweilig mehr als die Hälfte aller Strafgefangenen in einem Programm zur Abgabe von Methadon oder Heroin. Über das umfassendste und differenzierteste Konzept zum Umgang mit drogenabhängigen Strafgefangenen verfügt derzeit wohl die Vollzugsanstalt Realta/GR. 30a
Mit der Lancierung des Projekts BIG – Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis – im Jahr 2008 soll der Tatsache, dass Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis oder Tuberkulose in Anstalten des Freiheitsentzugs – trotz aller Bemühungen – häufiger vorkommen als in der Aussenwelt, entgegengewirkt werden: Durch eine Angleichung der Gesundheitsvorsorge im Freiheitsentzug an jene in der Aussenwelt sollen die Risiken einer Übertragung innerhalb des Vollzugs aber auch aus dem Vollzug in die Aussenwelt und umgekehrt minimiert, die gleichwertige Prävention, Testung und Therapie sichergestellt und die Nachhaltigkeit der entwickelten Massnahmen und Instrumente gewährleistet werden. Im Rahmen dieses Projektes erarbeiteten die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und Direktoren und die Schweizerische Konferenz der Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren im Jahre 2013 Empfehlungen zur Harmonisierung der Gesundheitsvorsorge im Freiheitsentzug (DII 6.2.4b). Als ein Ergebnis des Projekts BIG kann die Bildung des Fachrats «Santé Prison Suisse» (SPS) angesehen werden, der vorerst in einer Pilotphase (bis Ende 2015) tagt. SPS versteht sich als gesamtschweizerische Plattform für Gesundheitsfragen im Justizvollzug die von der KKJPD und der GDK getragen wird und über ein ständiges Sekretariat in den Räumlichkeiten des SAZ in Freiburg verfügt (DII 6.2.4a).
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6. Die Gefängnispopulation
DII 6.2.5 Spezielle Massnahmen zur «Harm reduction» im Strafvollzug an Drogenabhängigen Kontrollierte Abgabe von Methadon Obwohl im Kanton Bern chronisch Opiatabhängigen zur Substitution illegaler Drogen bereits seit 1978 kontrolliert Methadon verabreicht wurde, konnte diese Massnahme – als Novität für die ganze Schweiz u. gegen den anfänglichen Widerstand der Konferenz der kantonalen Justiz- u. Polizeidirektoren – erst 1991 versuchsweise in den Anstalten Witzwil u. Hindelbank eingeführt werden. Aufgrund der positiven Versuchsergebnisse wurde die Methadon-Verschreibung Ende 1996 auf sämtliche bernische Vollzugsanstalten u. Gefängnisse ausgedehnt u. auch rechtlich verankert (heute geregelt in der Einführungsverordnung zur eidgenössischen Betäubungsmittelgesetzgebung vom 20. Juni 2012, BSG 813.131, sowie in den Richtlinien des Kantonsarztamtes zur betäubungsmittelgestützten Behandlung betäubungsmittelabhängiger Personen vom 16. April 2013). Die Abgabe von Methadon nach denselben Kriterien u. Verfahren wie ausserhalb der Gefängnismauern ist heute unbestritten u. wird in praktisch allen Vollzugseinrichtungen angeboten. Abgabe steriler Spritzen Nachdem in der Anstalt Schöngrün/SO vom Anstaltsarzt bereits 1993 chronisch Drogenabhängigen in Einzelfällen sterile Spritzen zur Verfügung gestellt wurden, wurde in der Frauenvollzugsanstalt Hindelbank in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheitswesen ab Sommer 1994 ein jähriger Pilotversuch zur HIVPrävention mit integrierter Spritzenabgabe durchgeführt. Auch dieser Pilotversuch wurde durch die Konferenz der kantonalen Justiz- u. Polizeidirektoren u. breite Vollzugskreise zunächst heftig bekämpft. Die positiven Ergebnisse des Versuchs – keine Zwischenfälle, keine negativen Nebenwirkungen, Reduktion des Spritzentausches gegen Null, keine Neuinfektionen mit Hepatitis, keine Abszesse etc. – führten zur Einführung der Spritzenabgabe in weiteren Anstalten: Champ-Dollon/GE (1996), Realta/GR (1997) sowie den bernischen Anstalten Thorberg u. Witzwil (1998). Diese Massnahme bleibt aber weiterhin umstritten u. wurde deshalb nicht breit eingeführt. Vordergründig deshalb, weil der intravenöse Drogenkonsum im Strafvollzug offenbar rückläufig ist, in der Sache aber eher wegen des Widerspruchs, dass mit dieser Massnahme die illegale Praxis des Drogenkonsums scheinbar «akzeptiert» wird. Kontrollierte Abgabe von Heroin Die in der Schweiz 1994 versuchsweise eingeführte kontrollierte Abgabe von Heroin an chronisch Drogensüchtigen führte bereits im Herbst 1995 zu einem entsprechenden Pilotversuch in der Anstalt Schöngrün/SO. Die Anstalt Schöngrün ist in der Zwischenzeit zu Gunsten der Justizvollzugsanstalt Solothurn im Deitinger Schachen aufgehoben worden. Nachdem die Heroinabgabe in der Versuchsphase vorerst auf eine Aussenstation der Anstalt mit 8 Plätzen beschränkt blieb, ist das insgesamt positiv evaluierte Programm anschliessend voll im Normalbetrieb der Anstalt integriert worden. Seit dem Jahr 2000 verfügt die Anstalt Realta/GR über professionelle Strukturen für die kontrollierte Abgabe von Heroin an maximal 10 Strafgefangene. Obwohl die Heroinabgabe in Vollzugskreisen von Realta/GR heute kaum mehr umstritten ist, ist nicht zu erwarten, dass diese Massnahme umgehend auch von anderen Anstalten übernommen wird, weil mit den verfügbaren Plätzen der derzeitige Bedarf offenbar abgedeckt ist.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
6.2.6
Strafgefangene ausländischer Nationalität
LII 6.2.6 Literatur zu Strafgefangenen ausländischer Nationalität ACHERMANN Christin: Straffällig, unerwünscht, ausgeschlossen: Ausländische Strafgefangene in der Schweiz. Diss. Bern 2008; ACHERMANN Christin / HOSTETTLER Ueli: AusländerIn ist nicht gleich AusländerIn. Strafvollzugsalltag und Entlassungsvorbereitung einer vielfältigen Insassengruppe. In: Riklin Franz (Hrsg.): Straffällige ohne Schweizerpass. Kriminalisieren – Entkriminalisieren – Exportieren. Luzern (Caritas) 2006, 21–35; ACHERMANN Christin / HOSTETTLER Ueli: Femmes et hommes en milieu péntitentiaire fermé en Suisse : Réflexions sur les question de genre et de migrations. In: Nouvelles questions féministes 26/2007, 70–88; ALBRECHT Peter: Ausländer im Strafverfahren. Diskriminierungsgefahr. In: Plädoyer 5/2009; BAECHTOLD Andrea: Strafvollzug und Strafvollstreckung an Ausländern: Prüfstein der Strafrechtspflege oder bloss «suitable enemies»? In: ZStrR 2000, 245–269; BECCI Irene / ROY Oliver (Hrsg.) Religious Diversity in European Prisons. Challenges and Implication for Rehabilitation. Cham 2015; BHUI Hindpal S.: Going the Distance: Developing Effective Policy and Practice with Foreign National Prisoners. Prison Reform Turst. London 2004; BOESE Stefanie: Ausländer im Strafvollzug. Die Auswirkungen ausländerrechtlicher Massnahmen auf die Realisierung des Vollzugszieles. Diss. Hamburg 2003; BUNDESAMT FÜR JUSTIZ: Ausländer im Gefängnis. Info Bulletin – bulletin info 1/2008; CARITAS SCHWEIZ (Hrsg.): Ausländer im Strafverfahren und Strafvollzug. In: Berichte 1/1989; KHOSROKHAVAR Farhad: L’islam dans les prisons. Paris 2004; MAIER Philippe: Muslime im Strafvollzug – Glaubenszugehörigkeit als taugliches Kriterium zur Analyse und Bewältigung von Problemen im Strafvollzug? In: Pahud de Mortanges René / Tanner Erwin / Heiniger Marcel (Hrsg.): Muslime und schweizerische Rechtsordnung. Les musulmans et l’ordre juridique suisse. Freiburg 2002, 309–331; NÄGELI Caterina / SCHOCH Nik: Ausländische Personen als Straftäter und Straftäterinnen. In: Uebersax Peter et al.: Ausländerrecht. Eine umfassende Darstellung der Rechtsstellung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz - von A(syl) bis Z(ivilrecht). Handbücher für die Anwaltspraxis. Band 8. 2. Aufl. Basel 2009, 1099 ff.; RIEDER-KAISER Anja: Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüssung. Frankfurt a.M. 2004; SCHNEUWLY PURDIE Mallory: Formatting Islam versus Mobilising Islam in Prison: Evidence from the Swiss Case. In: Behloul Samuel P. et al. (Hrsg.): Debating Islam: Negotiating Religion, Europe, and the Self. Bielefeld 2013, 99–118; STORZ Renate: Zur Staatsangehörigkeit von Strafgefangenen. Ein gesamtschweizerischer Überblick. Bern (Bundesamt für Statistik) 1994; WICKER HansRudolf: Ethnologische Überlegungen zu einem Strafvollzug im Zeitalter zunehmender transnationaler Mobilität. In: Baechtold Andrea / Senn Ariane (Hrsg.): Brennpunkt Strafvollzug. Regards sur la prison. Bern 2002, 223–237.
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Das Bundesrecht kennt keine speziellen Vorschriften für den Vollzug der Freiheitsstrafe an Verurteilten ausländischer Nationalität und bekräftigt damit den Grundsatz der Gleichbehandlung. Für Verurteilte, welche nach der Strafverbüssung in ihren Heimatstaat zurückkehren wollen oder müssen und namentlich für solche mit Wohnsitz ausserhalb der Schweiz ergeben sich allerdings besondere Vollzugsund Vollstreckungsprobleme. Auf diese Ausgangslage haben die
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6. Die Gefängnispopulation
Kantone mit besonderen Regeln auf der Ebene der Anstaltsordnungen sowie z.T. mit entsprechenden Konkordatsrichtlinien (RII 6.2.6) reagiert. (…)
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Angesichts der Tatsache, dass nur eine Minderheit der Strafgefangenen über einen Schweizerpass verfügt, ist die Frage berechtigt, ob es sich bei den ausländischen Strafgefangenen tatsächlich um eine «besondere Gefangenengruppe» handelt. Darüber hinaus dürfen Strafgefangene ausländischer Nationalität auch nicht als eine weitgehend homogene Gefangenengruppe verstanden werden. Denn diese setzen sich zumindest aus zwei sehr unterschiedlichen Populationen zusammen: Den ausländischen Strafgefangenen mit Wohnsitz in der Schweiz und jenen ohne ordentlichen Wohnsitz in der Schweiz, welche also ihren Lebensmittelpunkt nicht in der Schweiz haben. Unter Vollzugsgesichtspunkten ist weiter zu differenzieren nach jenen Strafgefangenen, welche nach der Strafverbüssung in der Schweiz bleiben werden und jenen, welche im Anschluss daran die Schweiz verlassen müssen oder wollen. Ausländische Strafgefangene ohne ordentlichen Wohnsitz in der Schweiz sind vorab Personen, welche zu eben dem Zweck in die Schweiz eingereist sind, um hier Straftaten (namentlich Vermögensdelikte und Drogenhandel) zu begehen. Darunter fallen aber auch Personen, welche sich in einem Asylverfahren befinden sowie Grenzgänger, Kurzaufenthalter und Durchreisende. Daraus wird ersichtlich, dass die formale Kategorie des «ausländischen Strafgefangenen» überaus heterogene Teilpopulationen umfasst und deshalb unter vollzugspolitischen Gesichtspunkten kaum handlungsleitend sein kann.
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Gesellschaftspolitisch hat diese formale Kategorie indessen im Verlaufe der letzten Jahrzehnte besondere Aufmerksamkeit erweckt. Dies erstens deshalb, weil die Zahl der Strafgefangenen ausländischer Nationalität kontinuierlich und ganz erheblich angestiegen ist: Im Jahre 1974 betrug der Ausländeranteil an allen Inhaftierten (vgl. Definition in N. 2 und 2a) noch 18%, im Jahre 1984 waren es bereits 32%, im Jahre 1998 54%, im Jahre 2008 rund 70% und im Jahre 2013 68%. Zweitens hat sich die regionale Herkunft der ausländischen Strafgefangenen deutlich verändert: In der kurzen Periode von 1992 bis 1998 hat sich der Anteil der Einweisungen aus westeuropäischen Staaten um fast einen Drittel reduziert, während jene aus afrikanischen Staaten und aus den Balkanstaaten (dem ehemaligen Jugoslawien und Albanien) um 85% bzw.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
RII 6.2.6 Richtlinien betreffend Ausländerinnen und Ausländer im Straf- und Massnahmenvollzug vom 2. November 2007 (Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz; Auszug) 1. Einweisungen zum Vollzug 1.1 Für die Einweisung von Ausländerinnen und Ausländern ohne rechtskräftige fremdenpolizeiliche Fernhaltemassnahmen gelten die gleichen Einweisungskriterien wie für Schweizer, wobei bei längeren Strafen insbesondere die Fluchtgefahr speziell zu berücksichtigen ist ... 1.2 Ausländerinnen und Ausländer mit rechtskräftigen fremdenpolizeilichen Fernhaltemassnahmen können in den offenen Vollzug eingewiesen werden, falls sie in der Schweiz über ein tragfähiges Beziehungsnetz verfügen und bei ihnen keine Flucht- und/oder Gemeingefahr vorliegt. Andernfalls werden sie in den geschlossenen Vollzug eingewiesen. 1.3 Bewährt sich die Ausländerin oder der Ausländer im geschlossenen Vollzug, wird [sie/er] nicht (mehr) als flucht- oder gemeingefährlich beurteilt, und verfügt [sie/er] über ein tragfähiges Beziehungsnetz in der Schweiz, kann sie/er in den halboffenen Vollzug versetzt werden. 1.4 Ausländerinnen und Ausländer mit – zusätzlich zum Straf- und Massnahmenvollzug – angeordneter Auslieferungshaft gelten als fluchtgefährlich. 2. Anteil an Ausländerinnen und Ausländern Bei der Einweisung ist darauf zu achten, dass in der einzelnen Vollzugseinrichtung nicht zu starke Gruppierungen von Verurteilten aus dem gleichen Land, stark vertretenen Nationen oder Glaubensgruppen entstehen. 3. Vollzugsregime; Ausgang/Urlaub/Wohn- und/oder Arbeitsexternat 3.1 Bezüglich des Urlaubswesens gelten die konkordatlichen Richtlinien. Spezialfälle werden zwischen Vollzugseinrichtung und Vollzugsbehörde abgesprochen. 3.2 Ausländerinnen und Ausländer mit fremdenpolizeilichen Fernhaltemassnahmen werden nicht in die Vollzugsstufe des Wohn- und/oder Arbeitsexternats versetzt. (...) Vgl. auch die Richtlinien des Konkordats der Nordwest- und Innerschweiz für die Zusammenarbeit zwischen den Behörden des Straf- und Massnahmenvollzugs sowie Migrations-/Fremdenpolizeibehörden vom 26. April 2002/4. November 2005. Die Konkordate der Ostschweiz und der lateinischen Schweiz haben keine speziellen Richtlinien zum Straf- und Massnahmenvollzug an Ausländerinnen und Ausländer erlassen. Allerdings verfügt das Ostschweizer Strafvollzugskonkordat über das Merkblatt vom 26. Oktober 2012 zum Umgang mit ausländischen Gefangenen im Strafvollzug, welche die Schweiz nach dem Vollzug verlassen müssen.
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6. Die Gefängnispopulation
112% zugenommen haben. Im Ergebnis stammten im Jahre 1998 bloss ein Drittel aller inhaftierten Ausländer aus westeuropäischen Staaten, aber nicht weniger als 37% aus den Balkanstaaten. In einzelnen geschlossenen Vollzugsanstalten bildeten die aus den Balkanstaaten stammenden Strafgefangenen bereits die Mehrheit aller Inhaftierten. Da in den westeuropäischen Staaten ähnliche – aber in quantitativer Hinsicht weniger dramatische – Tendenzen zu beobachten waren, war der Europarat bereits im Jahre 1984 durch den Erlass spezieller Richtlinien bestrebt, einer Diskriminierung ausländischer Strafgefangener entgegenzuwirken (Empfehlung Nr. R [84] 12 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten des Europarates über ausländische Gefangene). Mit Blick auf die Ausgestaltung der Freiheitsstrafe an Strafgefangenen ausländischer Nationalität ergeben sich die nachstehenden idealtypischen Konstellationen: Handelt es sich um Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz, welche nach der Strafverbüssung in der Schweiz bleiben werden, so werden diese wie Strafgefangene schweizerischer Nationalität behandelt. Abweichungen von diesem Grundsatz wären offensichtlich diskriminierend. Handelt es sich um Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz oder um Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz, welche nach der Strafverbüssung die Schweiz verlassen müssen (oder wollen), ist abweichend Folgendes zu berücksichtigen: In vielen Fällen ergibt sich aus dieser Ausgangslage eine besondere Fluchtgefahr, was zur Einweisung in eine geschlossene Vollzugsanstalt führt und die Gewährung von Urlauben und des Arbeitsexternates ausschliesst. In diesen Fällen wäre die gesellschaftliche Eingliederung der Strafgefangenen in ihrem Heimatstaat zu fördern, was häufig spezielle Massnahmen erfordert (z.B. die Förderung von Kontakten zu Landsleuten und in der Schweiz aktiven Organisationen aus dem jeweiligen Heimatstaat und die Vermittlung von Kontakten zu Personen und Organisationen im Heimatstaat). Die Richtlinien des Konkordats der Ostschweiz für die Vollzugsplanung (Abschnitt 5.5, N. 82a) verlangen unter Ziff. 2 ausdrücklich, dass solche Strafgefangenen im Vollzug zu befähigen seien, «im künftigen Umfeld straffrei [zu] leben und den Lebensunterhalt legal bestreiten zu können». Handelt es sich um Ausländer, deren Alltagskultur der schweizerischen Alltagskultur nicht entspricht (ihr künftiger Aufenthaltsort ist unbeachtlich), so verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung entsprechende differenzierte Vollzugsbedingungen und besondere Massnahmen. Dazu gehören namentlich Massnahmen zur Sicherstellung der sprachlichen Kommunikation (z.B. die Übersetzung der 245
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
Anstaltsordnung und von Weisungen in die geläufigsten Sprachen und ggf. der Einsatz von Übersetzern), die Rücksichtnahme auf besondere Essgewohnheiten, die Berücksichtigung religiöser Besonderheiten (z.B. für Muslime: Ramadan, Freitagsgebet, Ernährung) und des unterschiedlichen Arbeits-, Freizeit- und Sozialverhaltens. Möglich ist ferner die Überstellung verurteilter Personen in einen anderen Staat im Rahmen des Europarats-Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen (ÜÜvP, SR 0.343). Vorausgesetzt wird jedoch, dass sich der Urteilsstaat, der Vollzugsstaat und der Verurteilte über die Überstellung einigen; der Verurteilte Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist; das Urteil rechtskräftig ist; noch eine Strafe von wenigstens sechs Monaten vollzogen werden muss; und die zu sanktionierende Tat auch nach dem Recht des Vollzugsstaats strafbar ist (Art. 3 ÜÜvP). Der Vollstreckungsstaat ist an das Strafmass und die Art der Strafsanktion gebunden, welche vom Urteilsstaat festgelegt wurden. Er kann die Sanktion allenfalls nach Massgabe seines eigenen Rechts anpassen, sofern Art und Dauer der Strafe nicht mit dem eigenen Recht vereinbar sind. Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (ZP ÜÜvP, SR 0.343.1) sieht zudem zwei Konstellationen vor, in denen die Überstellung auch gegen den Willen des Verurteilten erfolgen kann: Erstens, wenn der Verurteilte aus dem Urteilsstaat geflohen ist und der Vollzug im Aufenthaltsstaat des Geflüchteten erfolgen soll (Art. 2 ZP ÜÜvP); zweitens, wenn der Verurteilte aufgrund einer strafrechtlichen Landesverweisung oder fremdenpolizeilichen Ausweisung ohnehin kein Recht hätte, nach dem Strafvollzug im Urteilsstaat zu verbleiben (Art. 3 ZP ÜÜvP). 36
Die Vollzugspraxis entspricht diesen Anforderungen weitgehend. Allerdings sind der Berücksichtigung unterschiedlicher Alltagskulturen dadurch Grenzen gesetzt, dass in der Vollzugsanstalt Strafgefangene mit unterschiedlichen Alltagskulturen gemeinsam in einem Anstaltskollektiv zusammenleben und «Privilegierungen» einzelner Insassengruppen im Anstaltskollektiv naturgemäss zu «Deprivilegierungen» anderer Insassengruppen führen. Als tatsächlich unbefriedigend ist jedoch die – in der Praxis meist kaum aktiv geförderte – Entlassungsvorbereitung jener Strafgefangenen zu werten, welche nach der Strafverbüssung die Schweiz zu verlassen haben. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Tätigkeit des Vereins «Shprese per te ardhmen» («Hoffnung für die Zukunft»), welcher seit 2003 in Albanien die berufliche Integration für zurückgekehrte Straftäter und Migranten erfolgreich fördert.
246
6. Die Gefängnispopulation
6.2.7
Strafvollzug an gemeingefährlichen Strafgefangenen
LII 6.2.7 Literatur zum Strafvollzug an gemeingefährlichen Strafgefangenen BAECHTOLD Andrea: Die Fachkommissionen zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit – Cui bono? In: Bauhofer Stefan / Bolle Pierre-Henri / Dittmann Volker (Hrsg.): «Gemeingefährliche» Straftäter. Délinquants «dangereux». Chur/Zürich 2000, 325– 344; BRUNNER Matthias: Straf- und Massnahmenvollzug – Die Fachkommissionen zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern. In: Niggli Marcel Alexander / Weissenberger Philippe (Hrsg.): Strafverteidigung. Basel/Genf/München 2002, 223– 296; GMÜR Mario: Die Gefährlichkeitsprognose. In: AJP 2004, 1307–1318; HUSI Sabine: Gemeingefährliche Täter und Täterinnen. Sonderdienst: Vollzug von Sanktionen, Bewährungshilfe und Risikobeurteilung. In: Justizvollzug Kanton Zürich: Jahresheft 2004. Jubiläumsausgabe 1999–2004. Zürich 2004, 27–29; PFRUNDER Martin-Lucas: Gemeingefährliche Straftäter im Chaos kantonaler Fachkommissionen. In: SJZ 20/1998, 435–437; STRATENWERTH Günter: Zur Rolle der sog. «Fachkommissionen». In: Donatsch Andreas et al. (Hrsg.): Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte. Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Stefan Trechsel. Zürich 2002, 887–895; WERREN Andreas: Gemeingefährliche Täter und Täterinnen. Herausforderungen für den Justizvollzug. In: Justizvollzug Kanton Zürich: Jahresheft 2004. Jubiläumsausgabe 1999–2004. Zürich 2004, 23–25; WIRTHLIN Martin: Die Beurteilung der Gemeingefährlichkeit durch die Fachkommissionen. In: ZBJV 2003, 415–441; WIRTHLIN Martin: Die Kommissionen nach Art. 62d Abs. 2 StGB und die Gehörsrechte der betroffenen Straftäter. Bemerkungen aus Anlass eines Urteils des Kantonsgerichts Baselland. In: Jusletter 26. Februar 2007.
Der Begriff des «gemeingefährlichen Strafgefangenen» kannte das Bundesrecht vor der Revision des StGB von 2002 nicht. Er hat erst im Nachgang zum Ende Oktober 1993 erfolgten Tötungsdelikt eines im Urlaub befindlichen Strafgefangenen an einer jungen Frau am Zollikerberg Eingang in das kantonale Recht und in die Vollzugspraxis gefunden: Als Reaktion auf diese die Öffentlichkeit in hohem Masse beunruhigenden Straftat haben die Kantone in den Jahren 1994–1997 insgesamt sechs kantonale oder regionale sog. «Fachkommissionen zur Beurteilung gemeingefährlicher Straftäter» eingerichtet, mit dem Auftrag, Strafgefangene zu Handen der Vollzugsbehörden auf «Gemeingefährlichkeit» zu beurteilen. Als «gemeingefährlich» wurden Strafgefangene klassifiziert, welche die körperliche und seelische Integrität Dritter unmittelbar und schwer gefährden. Dabei stützten sich die Fachkommissionen häufig auf einen durch den forensischen Psychiater Prof. Volker DITTMANN erarbeiteten Kriterienkatalog. Die entsprechenden kantonalen Regeln waren meist bloss auf der Ebene von Departementsweisungen festgelegt; umfassende und detaillierte Bestimmungen
247
37
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
auf Verordnungsebene wurden im Kanton Aargau erlassen (§ 59 ff. SMV/AG). In der Folge hat auch das Strafvollzugskonkordat Ostschweiz diesbezügliche Richtlinien erlassen (Ostschweiz: Richtlinien über den Vollzug von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Massnahmen bei potentiell gefährlichen Straftätern und Straftäterinnen vom 26. Oktober 2012). In der Praxis wurden die Klassifikationskriterien durch die kantonalen Fachkommissionen allerdings unterschiedlich angewandt: Im Kanton Zürich galten viermal mehr Strafgefangene als «gemeingefährlich» als im Kanton Bern (im Jahre 2004 ca. 200 bzw. rund 50). 38
Die Klassifikation eines Strafgefangenen als «gemeingefährlich» ist von den Vollzugsbehörden und den Anstaltsleitungen bei der Ausgestaltung des Vollzugs zu berücksichtigen. Dies bedeutet in der Praxis namentlich die Einweisung in eine geschlossene Vollzugsanstalt (ggf. in eine spezielle Sicherheitsabteilung), die Verweigerung von Hafturlauben, der Vollzugsformen des Arbeitsexternates und des Wohn- und Arbeitsexternates sowie der bedingten Entlassung. Diese Festlegungen erfolgen im Rahmen der normalen, individuellen Vollzugsplanung. Eine Zusammenlegung der als gemeingefährlich beurteilten Strafgefangenen in besonderen Wohngruppen bzw. im Rahmen einer speziellen Vollzugsform ist damit nicht verbunden.
39
Die durch das Klassifikationsverfahren gesicherte erhöhte Wahrnehmung gemeingefährlicher Strafgefangener durch die Vollzugsorgane hat sich insofern bewährt, als schwere, durch solche Strafgefangene verübte Straftaten bislang tatsächlich verhindert werden konnten. In der Literatur (LII 6.2.7) wird die Tätigkeit der Fachkommissionen allerdings kritisch verfolgt. Es wird namentlich bemängelt, dass das Klassifikationsverfahren ohne Mitwirkungsrechte der Betroffenen in einem summarischen, wenig transparenten und klandestinen Verfahren durchgeführt wird, dass den Betroffenen gegen die Klassifikationen der Fachkommissionen keine Rechtsmittel zur Verfügung stehen (aber natürlich gegen die sich darauf stützenden Entscheide der Vollzugsorgane), dass die Tätigkeit der Fachkommissionen keiner wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen wird und dass die Fachkommissionen unter dem Druck der öffentlichen Meinung Strafgefangenen allzu häufig «Gemeingefährlichkeit» attestieren, um dem Risiko zu entgehen, dass eine Person fälschlicherweise als ungefährlich beurteilt wird und erneut Straftaten begeht. So wird die Fehlerquote von falschpositiven Beurteilungen auf bis zu 60–70% geschätzt. Die zu Unrecht als gefährlich eingeschätzten Verurteilten haben das Problem, dass sie die falsche Beurteilung nicht widerlegen können, da sie wegen der positi-
248
6. Die Gefängnispopulation
ven Gefährlichkeitsprognose nicht entlassen werden. Dadurch wird das Problem der zu voreilig gestellten falschen Gefährlichkeitsprognosen noch verstärkt. Die Erfahrungen mit den erwähnten Fachkommissionen haben dazu geführt, dass das StGB von 2002 die Einrichtung von begutachtenden Kommissionen auf der Ebene des Bundesrechts vorschreibt (RII 6.2.7). Als «gemeingefährlich» gelten Strafgefangene, «wenn die Gefahr besteht, dass der Gefangene flieht und eine weitere Straftat begeht, durch die er die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigt» (Art. 75a Abs. 3). Diese Kommissionen erhalten indessen einen erweiterten Auftrag: Nach Art. 75a StGB beurteilen sie immer dann die Gemeingefährlichkeit von Strafgefangenen, welche einschlägige Straftaten begangen haben (Art. 64b Abs. 2), wenn die Vollzugsbehörde die Frage der Gemeingefährlichkeit nicht eindeutig beantworten kann. Die Beurteilung der Gemeingefährlichkeit durch die Kommissionen erfolgt mit Blick auf eine Einweisung in eine offene Anstalt sowie auf Vollzugsöffnungen aller Art (Urlaub, Arbeitsexternat, Wohn- und Arbeitsexternat, bedingte Entlassung). Der Kreis der durch diese Kommissionen zu beurteilenden Strafgefangenen wird durch die bundesrechtliche Regelung präziser, aber zweifellos allzu weit gefasst. Die Kommissionen haben sich nun mit einem Vielfachen von Fällen zu befassen und werden Schwierigkeiten haben, diese Fälle mit der erforderlichen Gründlichkeit individuell zu prüfen. Ob die Kantone das Beurteilungsverfahren im Sinne der oben referierten Kritik anpassen werden oder ob die künftige Rechtsprechung solche Anpassungen erzwingen wird, lässt sich derzeit nicht voraussehen. Die Kantone der deutschsprachigen Schweiz haben für den Bereich ihrer Konkordate je eine begutachtende Kommission eingesetzt, in der lateinischen wirken mehrere kantonale Kommissionen.
40
Das Bundesgericht hat in BGE 134 IV 289 die Anforderungen an die Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder präzisiert: Ein Inhaftierter kann den öffentlichen Ankläger als Kommissionsmitglied ablehnen, wenn dieser die Anklage im Verfahren vertreten hatte, welches zur Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe führte (nicht aber den mit diesem Verfahren befassten Richter).
40a
249
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
RII 6.2.7 Begutachtende Kommissionen nach Bundesrecht Art. 75a StGB Besondere Sicherheitsmassnahmen 1 Im Hinblick auf die Wahl des Vollzugsortes, die Urlaubsgewährung und die bedingte Entlassung beurteilt die Kommission nach den Artikeln 62d Absatz 2 und 64b Absatz 2 die Gemeingefährlichkeit von Gefangenen, die eine Straftat begangen haben, welche mit einer Höchststrafe von zehn Jahren oder mehr bedroht ist. 2
Gemeingefährlichkeit ist anzunehmen, wenn der Gefangene jemanden schwer geschädigt hat oder schädigen wollte und die Gefahr besteht, dass er flieht und zu erwarten ist, dass er weitere Straftaten begeht.
Art. 64b Abs. 2 Prüfung der Entlassung (aus der Verwahrung) Der Entscheid über die bedingte Entlassung (Art. 64a Abs. 1) sowie über die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für eine stationäre Behandlung (Art. 64 Abs. 3) ist gestützt auf eine unabhängige sachverständige Begutachtung sowie nach Anhörung einer Kommission aus Vertretern der Strafverfolgungsbehörden, der Vollzugsbehörden und der Psychiatrie zu treffen. Sachverständiger und Vertreter der Psychiatrie dürfen den Täter nicht behandelt oder in anderer Weise betreut haben. Art. 62d Abs. 2 Prüfung der Entlassung ... (aus einer stationären therapeutischen Massnahme) 1 Hat der Täter eine Tat im Sinne von Artikel 64 Absatz 1 begangen, so beschliesst die zuständige Behörde gestützt auf das Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen und nach Anhörung einer Kommission aus Vertretern der Strafverfolgungsbehörden, der Vollzugsbehörden sowie der Psychiatrie. Sachverständige und Vertreter der Psychiatrie dürfen den Täter nicht behandelt oder in anderer Weise betreut haben. 1 Art. 64 Abs. 1 umschreibt die Straftaten, welche den Anlass für eine Verwahrung abgeben können.
250
7. Die Strafanstalt als Organisation
7.
Die Strafanstalt als Organisation
7.1
Die Strafanstalt als Organisationseinheit der kantonalen Verwaltung
Das Bundesrecht schreibt lediglich vor, dass die Kantone zur Errichtung und zum Betrieb der Strafanstalten (und der Einrichtungen des Massnahmenvollzugs) verpflichtet sind (Art. 377 Abs. 1 bzw. Abs. 3 StGB). Die Stellung der Strafanstalten wird folglich ausschliesslich durch das kantonale Recht geregelt.
1
Mit einer Ausnahme handelt es sich bei allen Strafanstalten um Einrichtungen eines bestimmten Kantons. Die Ausnahme betrifft die Interkantonale Strafanstalt Bostadel in Menzingen/ZG, welche durch die Kantone Basel-Stadt und Zug gemeinsam errichtet wurde und betrieben wird (Art. 378 Abs. 1 StGB). Auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe werden die durch die Kantone geführten Strafanstalten nicht in allen Kantonen namentlich bezeichnet. Wo dies der Fall ist, wird nicht durchwegs ersichtlich, welche Funktionen einer bestimmten Strafanstalt zugeordnet werden (Anstaltstyp). Und nicht immer sind im kantonalen Recht (und in den Strafvollzugskonkordaten) Neueröffnungen von Strafanstalten, Schliessungen und Funktionsveränderungen nachgeführt. Den zuverlässigsten Überblick über die aktuell in Betrieb stehenden Strafanstalten vermittelt deshalb der periodisch aktualisierte sog. «Anstaltenkatalog» (BUNDESAMT FÜR STATISTIK [Hrsg.]: Katalog der Justizvollzugseinrichtungen von September 2014. Bern 2015).
2
Die Strafanstalten sind sehr unterschiedlich in die kantonale Verwaltungshierarchie eingegliedert. Sie gehören mehrheitlich zum Justizund/oder Polizei- oder zum Sicherheitsdepartement, in etlichen Kantonen aber auch zu anderen Departementen (z.B. zum Departement des Innern oder zum Volkswirtschaftsdepartement). In etlichen Kantonen sind sie direkt dem Departementsvorstand unterstellt. Namentlich in jenen Fällen, wo ein Kanton eine Mehrzahl von Vollzugseinrichtungen betreibt, ist die Strafanstalt Teil eines dem Departement untergeordneten kantonalen Amtes (BE: Amt für Freiheitsentzug und Betreuung; GR, SG und ZH: Amt für Justizvollzug; GE: Office pénitentiaire; NE und VD: Service Pénitentiaire).
3
251
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
7.2
Die interne organisatorische Differenzierung
4
Zur Gewährleistung ihrer komplexen Aufgaben verfügen die Strafanstalten über eine ausdifferenzierte Organisationsstruktur. Dies gilt allerdings nicht für kleinere Gefängnisse für den Vollzug der Untersuchungshaft und kurzer Strafen. Die nachstehenden Ausführungen beziehen sich deshalb ausschliesslich auf Strafanstalten für längere Freiheitsentzüge, welche normalerweise über 50 bis 250 Mitarbeiterstellen verfügen.
5
Die Organisationsstruktur der Strafanstalten folgt durchwegs konsequent hierarchischen Prinzipien: An ihrer Spitze steht ein Direktor oder eine Direktorin (und deren Stellvertretung), welche in einigen Fällen durch eine erweiterte Anstaltsleitung unterstützt werden (Abschnitt 7.3). Dem Direktor oder der Direktorin sind Bereichsleiter unterstellt, welche für die wichtigsten Aufgabenbereiche verantwortlich sind: Einige Strafanstalten verfügen über eine steile Organisationsstruktur mit bloss zwei Bereichsleitern, andere über eine flache Organisation mit fünf und mehr Bereichen. Die Bereiche Vollzug, Arbeitsbetriebe, Sicherheit, Verwaltung und Logistik sind organisatorisch in allen Strafanstalten ausgewiesen, in einigen aber entweder weiter ausdifferenziert oder teilweise in einem Bereich zusammengefasst (Abschnitt 7.4). Weitere organisatorisch sicherzustellende Aufgaben (Sozialdienst, Gesundheitsdienst etc.) sind entweder einem der oben erwähnten Bereiche untergeordnet oder nehmen die Stellung eines eigenständigen, unmittelbar der Direktion unterstellten Bereiches ein (Abschnitt 7.5). Diese voneinander abweichenden Organisationsstrukturen erklären sich zum Teil aus der unterschiedlichen Grösse sowie aus unterschiedlichen Funktionen und Betriebsstrukturen der einzelnen Strafanstalten. Teilweise widerspiegeln sie aber auch tradierte oder durch die aktuellen Direktion vertretene Führungsideologien.
6
In allen Strafanstalten wird der streng hierarchische Aufbau – allerdings in unterschiedlichem Masse – durch eine Ablauforganisation ergänzt und gemildert: Einzelne Zuständigkeiten werden nicht durch bestimmte, im Organigramm festgelegte Organisationseinheiten wahrgenommen, sondern durch Gremien, in welchen mehrere Funktionen vertreten sind. Dies können der horizontalen Vernetzung dienende Konferenzen z.B. der Bereichsleiter, der Leiter von Gewerbebetrieben oder der Wohngruppenleiter sein, aber auch Gremien, welche sich aus Vertretern aus unterschiedlichen Hierarchiestufen zusammensetzen (z.B. für die individuelle Vollzugsplanung).
252
7. Die Strafanstalt als Organisation
Einzelne Strafanstalten haben im Übrigen ausgewählte Zuständigkeiten auch in die Mitverantwortung der Gefangenen gelegt: Dies trifft namentlich für Anstalten mit Wohngruppenvollzug zu, wo etwa Festlegungen über kollektive Freizeitaktivitäten oder gemeinsame Mahlzeiten durch die Mitglieder der Wohngruppe getroffen werden können. Allerdings werden die Entscheidprozesse für derartige Festlegungen i.d.R. durch Mitarbeitende moderiert.
7.3
7
Die Anstaltsdirektion
Die Direktion der Strafanstalten wird praktisch ausschliesslich durch einen Vertreter des männlichen Geschlechts besetzt. Diese Regel wird erwartungsgemäss durch die Ausnahme der Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE bestätigt, der seit zwei Jahrzehnten Direktorinnen vorstehen. Seit 2004 wird auch das Regionalgefängnis Bern von Direktorinnen geleitet und seit 2014 auch das Etablissement de détention La Brenaz/GE.
8
Die Persönlichkeit des Anstaltsdirektors – im Folgenden wird der Einfachheit halber stets die männliche Form verwendet – prägt den Charakter seiner Strafanstalt in entscheidendem Masse, weitaus stärker, als dies in anderen europäischen Staaten der Fall ist. Die herausragende Stellung des Direktors hängt mit einer Reihe rechtlicher und faktischer Gegebenheiten zusammen: Erstens verfügt der Direktor über einen grossen Ermessensspielraum und Einfluss, weil das massgebliche kantonale Normengeflecht entweder lückenhaft und wenig detailliert ausgestaltet ist (Gesetz und Verordnung) oder in der Praxis durch die Direktion ausgearbeitet wird (Anstaltsordnung) oder in der Direktionskompetenz liegt (Weisungen). Zweitens hat der Direktor die Möglichkeit, auch an untergeordnete Organisationsstufen delegierte Zuständigkeiten im Einzelfall an sich zu ziehen, also auf allen Ebenen des Anstaltsgeschehens unmittelbar einzugreifen (ausgenommen bleiben lediglich die fachlichen Zuständigkeiten in den Bereichen der medizinischen Versorgung, der ärztlichen Therapie und der Seelsorge). Drittens wird die Stelle eines Direktors frei ausgeschrieben und normalerweise nicht aus dem Kreis der in der kantonalen Vollzugsverwaltung tätigen Mitarbeitenden besetzt. Viertens üben Direktoren ihre Tätigkeit in der Regel über eine lange Zeitdauer aus, häufig länger als ein Jahrzehnt. Fünftens ist der Direktor während seiner Amtszeit für die Rekrutierung der Anstaltsmitarbeitenden zuständig – auch wenn die Ernennung formell teilweise durch eine übergeordnete Behörde erfolgt. Die herausragende –
9
253
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
aber auch isolierte – Stellung des Anstaltsdirektors kann sich indessen auch negativ auswirken: Wird er von der vorgesetzten Behörde nicht hinreichend getragen oder ist das Verhältnis zu dieser Behörde gar konfliktbeladen, dann kann der Direktor leicht in Abhängigkeit zu seinen Mitarbeitenden geraten. Das gesteigerte öffentliche Interesse, die zunehmende Rechenschafts- und Legitimationspflicht und die hohe Konzentration von Verantwortung in der Person der Direktion tragen auch dazu bei, wie jüngste Beispiele in allen Landesteilen zeigen, dass sich bei Zwischenfällen die Kritik – berechtigt oder nicht – in erster Linie auf die Direktion richtet. 10
Im europäischen Vergleich untypisch ist schliesslich der Sachverhalt, dass häufig Persönlichkeiten zu Anstaltsdirektoren ernannt werden, welche über keine beruflichen Vollzugserfahrungen verfügen und dass das Anforderungsprofil in Bezug auf Ausbildung und Berufserfahrung wenig spezifisch ist. Die Direktionen der Strafanstalten werden durch Personen mit sehr unterschiedlicher Vorbildung besetzt: Pädagogen, Sozialarbeiter, Theologen, Psychologen, Juristen, Betriebsökonomen u.a.
7.4
Die Hauptbereiche einer Strafanstalt
7.4.1
Der Vollzugsbereich
11
In der Mehrheit der Strafanstalten werden die meisten Mitarbeitenden im Vollzugsbereich eingesetzt (siehe SII 2.5.1). Dieser Bereich ist für die Betreuung der Strafgefangenen ausserhalb der Arbeitszeit zuständig, weshalb er in einigen Anstalten auch als «Betreuungsbereich» bezeichnet wird. Die «Betreuer» sind indessen auch für einen geordneten Ablauf des Anstaltsalltags und entsprechende Kontrollaufgaben aller Art im Wohn- und Freizeitbereich der Anstalt verantwortlich. Vielfach ist der Vollzugsbereich auch bei der individuellen Vollzugsplanung federführend, namentlich in Bezug auf Urlaube und die Entlassungsvorbereitung.
12
In einzelnen Strafanstalten sind der Leitung des Vollzugsbereiches weitere Spezialdienste unterstellt, etwa der Sozial-, der Bildungsund/oder der Freizeitdienst. In anderen ist der Vollzugsbereich mit einem anderen Bereich zusammengelegt (dem Sicherheitsbereich). In der Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE und in der Anstalt Witzwil/BE ist der Sozialdienst personell vollständig in den Vollzugsdienst
254
7. Die Strafanstalt als Organisation
integriert worden. Neben Vorteilen dieser Lösung stellen sich mit der Thematik des «doppelten Mandats» für Mitarbeitende auch gewisse Herausforderungen. Die Betreuer werden aus Berufsleuten aller Art rekrutiert und am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal berufsbegleitend auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet (Abschnitt 2.5; vgl. auch die Richtlinien des Ostschweizerischen Strafvollzugskonkordates für die Auswahl und Anstellung von Personal des Justizvollzugs vom 2. April 2004). In Strafanstalten mit einem erweiterten Pflichtenheft für Betreuer (wie z.B. in Hindelbank/BE) werden spezifische Anforderungen an die ausbildungs- und berufsbezogenen Erfahrungen gestellt, indem vorab Personen aus den Bereichen Sozialarbeit, (Sozial-)Pädagogik, Erwachsenenbildung, Psychiatriepflege etc. für Betreuungsaufgaben rekrutiert werden. Derartige Ausbildungsqualifikationen sind allein deshalb erforderlich, weil diese Betreuer in der Lage sein müssen, einerseits die Person des Strafgefangenen zu akzeptieren, sich andererseits aber gegenüber delinquenten Neigungen und Verhalten der Strafgefangenen nachdrücklich abzugrenzen. Die früher übliche Praxis, in Strafanstalten für Männer ausschliesslich männliche Mitarbeiter als Betreuer einzusetzen und in Frauenvollzugsanstalten ausschliesslich Mitarbeiterinnen, wurde namentlich in den offen geführten Strafanstalten zu Gunsten einer geschlechtsbezogenen Durchmischung der Mitarbeitenden aufgegeben.
7.4.2
13
Der Bereich der Arbeitsbetriebe
In einigen Anstalten werden mehr Mitarbeitende im Bereich der Arbeitsbetriebe beschäftigt als im Vollzugsbereich. Dieser Bereich ist für die Beschäftigung der Strafgefangenen und deren Betreuung und Kontrolle während der Arbeitszeit verantwortlich. Die Mitarbeitenden im Arbeitsbereich werden meist als «Werkmeister» oder «Arbeitsmeister» bezeichnet. Sie sind als Leiter oder Mitarbeiter für den Betrieb einer gewerblichen oder industriellen Werkstätte operativ verantwortlich (Schreinerei, Schlosserei, Metallbau, Malerei, Druckerei, Buchbinderei, Schneiderei, Weberei, Töpferei, Gärtnerei, Bäckerei, Metzgerei etc.). Das heisst auch, Kundenkontakte pflegen und Aufträgen akquirieren. Ist einer Strafanstalt ein grosser Landwirtschaftsbetrieb angegliedert (z.B. in Witzwil/BE), dann ist dieser normalerweise organisatorisch als eigenständiger Bereich ausgestaltet. In einigen Strafanstalten sind einzelne Arbeitsbetriebe anderen Bereichen zugeordnet (z.B. die Küche
255
14
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
zum Logistikbereich oder die Gärtnerei zum Landwirtschaftsbereich). In anderen Strafanstalten sind diesem Bereich auch «geschützte Werkstätten» für nicht oder nicht voll arbeitsfähige Strafgefangene oder der Bildungsdienst angegliedert. 15
Die Arbeitsbetriebe einer Strafanstalt stehen vor der Aufgabe, zur Erhaltung und Förderung der Arbeitsfähigkeit der Strafgefangenen und deren späterer Eingliederung in die Arbeitswelt normalisierte Arbeitsbedingungen anbieten zu müssen und einen angemessenen Betriebsertrag zu erwirtschaften, ohne über den unternehmerischen Spielraum eines normalen Gewerbebetriebes zu verfügen. Denn in der Strafanstalt ist ein «reglementierter» Arbeitsmarkt vorgegeben: Die Arbeitsmeister können auf die Quantität und Qualität der ihnen zugeteilten Strafgefangenen nur sehr beschränkt Einfluss nehmen. Zudem sind die Arbeitsbetriebe mit Rücksicht auf das örtliche Gewerbe meist nur eingeschränkt in der Lage, ihre Produkte durch einen aktiven, kompetitiven Marktauftritt wie ein normaler Gewerbebetrieb zu vermarkten. Weiter stehen Anstaltsbetriebe für Aufträge von Kunden häufig in direkter Konkurrenz mit sozialen Institutionen, denen kein negatives Image anhaftet (geschützte Werkstätten aller Art), sondern im Gegenteil dem Kunden dienen, karitative Werte auszuweisen.
16
Als Mitarbeitende in den Arbeitsbetrieben werden qualifizierte Berufsleute männlichen oder weiblichen Geschlechts rekrutiert. Wie jene im Vollzugsbereich absolvieren sie die berufsbegleitende Ausbildung am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal. Leiterinnen und Leiter von Arbeitsbetrieben verfügen zudem i.d.R. über Meisterdiplome und können – dort wo die Rahmenbedingungen gegeben sind – auch Gefangene als Lehrmeister in einer Berufs- oder Attestlehre begleiten. In jenen Anstalten, welche den Arbeitsbereich nach arbeitsagogischen Grundsätzen ausgestaltet haben, wird eine entsprechende Ausbildung der Mitarbeitenden anstaltsintern vermittelt.
7.4.3 17
Der Sicherheitsbereich
Die Mitarbeitenden im Sicherheitsbereich einer Strafanstalt sind vorab für die «äussere Sicherheit» verantwortlich, also für die Bewachung des Anstaltsgeländes, für Kontrollaufgaben an der Anstaltspforte, die Betreuung der Sicherheitstechnologie (namentlich der am Anstaltsperimeter und innerhalb der Anstalt angebrachten Videokameras), teilweise auch für die Ausführung von Strafgefangenen (z.B. zu Gerichtsterminen) und den Telefondienst. Die Zahl der Mitarbeiten-
256
7. Die Strafanstalt als Organisation
den im Sicherheitsbereich ist in offen geführten Strafanstalten bescheiden; z.T. ist der Sicherheitsbereich vollständig in den Vollzugsbereich integriert. In geschlossen geführten Anstalten ist im Sicherheitsbereich dagegen eine erhebliche Zahl von Mitarbeitenden eingesetzt, namentlich dann, wenn auch der Sicherheitsdienst während der Nacht einbezogen wird (z.B. 35 Stellen Abteilung Sicherheitsdienst in der Strafanstalt Pöschwies/ZH; Stand September 2014). In einigen Anstalten, z.B. in den Etablissements pénitentiaires de la plaine de l’Orbe/VD, ist eine private Sicherheitsfirma mit der Sicherung des Anstaltsperimeters beauftrag. In mehreren Anstalten finden sich auch Schutzhunde, die bspw. zur Bewachung in der Nacht eingesetzt werden, als «vierbeinige Angestellte» auf den kantonalen Etats. Auch die Mitarbeiter (in seltenen Fällen auch Mitarbeiterinnen) im Sicherheitsbereich werden aus qualifizierten Berufsleuten rekrutiert, welche die am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Ausbildungspersonal berufsbegleitende Ausbildung absolvieren.
7.4.4
18
Der Bereich der Verwaltung und Logistik
Zum Bereich der Verwaltung und Logistik – welche in einigen Anstalten als organisatorisch getrennte Bereiche geführt werden – gehören normalerweise: das Anstaltssekretariat, das Rechnungswesen, der Personaldienst, die Insassenadministration sowie der technische Hausdienst und die Hauswirtschaft (z.T. inkl. Küche und Bäckerei). Für diese Aufgaben werden entsprechende Fachkräfte eingestellt; eine berufsbegleitende Ausbildung am Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal steht normalerweise jenen Mitarbeitenden offen, welche in erheblichem Masse ebenfalls für die Betreuung von Strafgefangenen eingesetzt werden.
7.5
Spezielle Anstaltsdienste
7.5.1
Der Sozialdienst
Praktisch alle Strafanstalten verfügen über einen spezialisierten Sozialdienst, der einerseits analoge Aufgaben übernimmt wie ein Sozialdienst einer Gemeinde. Darüber hinaus ist der Sozialdienst einer Anstalt aber auch für vollzugsbezogene Aufgaben verantwortlich. Dazu gehören normalerweise (in Koordination mit dem Vollzugsbereich, teilweise auch mit der Bewährungshilfe): die Organisation von Aussen257
19
20
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
kontakten der Strafgefangenen, insbesondere von Besuchen und Urlauben sowie die Vorbereitung der Entlassung. Für den Sozialdienst werden i.d.R. ausgebildete Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen rekrutiert. In Strafanstalten ohne spezialisierten Sozialdienst werden dessen Aufgaben von den in der Gefangenenbetreuung tätigen Mitarbeitenden wahrgenommen (Abschnitt 7.4.1).
7.5.2
Der Gesundheitsdienst
21
Der Gesundheitsdienst ist unterschiedlich in die Organisationsstruktur der einzelnen Strafanstalten eingeordnet: In einigen Anstalten ist er organisatorisch einem Hauptbereich der Anstalt unterstellt, in anderen untersteht er als eigenständiger Bereich unmittelbar der Direktion und in dritten ist er als Stabsstelle ausgestaltet. Dieser Dienst ist vorab für die medizinische Betreuung der Strafgefangenen verantwortlich (einschliesslich der zahnärztlichen Versorgung), meist auch für die Versorgung mit psychiatrischen Dienstleistungen (Kriseninterventionen, Therapien), teilweise überdies für präventivmedizinische Aufgaben. Da der Gesundheitsdienst normalerweise nur tagsüber personell besetzt ist (Ausnahme: Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE), wird die medizinische Versorgung für die übrige Zeit meist durch ein Pikett sichergestellt, ferner durch den lokalen Notfalldienst. Dem Dienst gehört i.d.R. ausgebildetes Kranken- oder Psychiatriepflegepersonal an, welches in fachlicher Hinsicht einem Arzt oder Psychiater unterstellt ist. In wenigen Anstalten organisieren Mitarbeitende mit Sanitäterausbildung zumindest in Absprache mit einem zuständigen Arzt eine minimale Versorgung (Abgabe von Medikamenten, Erste Hilfe, Organisation der Arztbesuche etc.). Ärzte oder Psychiater sind – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht vollamtlich in der Strafanstalt angestellt, sondern hauptberuflich als selbständige Ärzte oder in einem Spital bzw. einer Klinik tätig und werden konsiliarisch in den Anstaltsbetrieb eingebunden.
22
Der Verhältnis des in fachlicher Hinsicht nicht der Anstaltsleitung unterstellten Gesundheitsdienstes zum Vollzugsbereich bietet naturgemäss Anlass zu mannigfaltigen Konflikten. Besonders heikel ist in diesem Zusammenhang die Festlegung der Grenzen des ärztlichen Berufsgeheimnisses. Diese Problematik erfordert die verbindliche Festlegung klarer Grundsätze über die jeweiligen Zuständigkeiten und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Bereichen, ferner auch eine hohe diesbezügliche Transparenz gegenüber den Strafgefangenen, was nicht in allen Strafanstalten in ausreichendem Masse der Fall ist.
258
7. Die Strafanstalt als Organisation
Hilfreiche Grundsätze für den Umgang mit dieser Problematik finden sich in den Medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweiz. Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen vom 28. November 2002 (in: Schweiz. Ärztezeitung 7/2003, 306–310) sowie in Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates (Empfehlung No R [98] 7 vom 8. April 1998 über ethische und organisatorische Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in Vollzugsanstalten sowie Empfehlung No R [93] 6 vom 18. Oktober 1993 über strafvollzugsbezogene und kriminologische Aspekte der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten einschliesslich AIDS und damit zusammenhängender Gesundheitsprobleme im Strafvollzug). Die lateinische Konferenz der in Straf- und Massnahmenvollzugsfragen zuständigen Behörden (Strafvollzugskonkordat der lateinischen Schweiz) hat zu dieser Problematik zudem die Empfehlung vom 31. Oktober 2013 erlassen über den Informationsaustausch und die Nichtanwendung des Arzt- und/oder Amtsgeheimnisses im Zusammenhang mit der Gefährlichkeit eines Gefangenen, die einen Einfluss auf seine Beurteilung oder die Bedingungen für eine Vollzugsöffnung haben könnte. Ein weiteres Problem mit alltagspraktischen Auswirkungen ist zudem die Rolle des Arztes oder der Ärztin – und in abgeschwächter Weise auch des Pflegepersonals im Gesundheitsdienst vor Ort – in der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Gefangenen. Hier können Interessenskonflikte zwischen Anstaltsbetrieben, die auf Arbeitskräfte angewiesen sind, und dem medizinischen Fachpersonal, das die gesundheitlichen Interessen des Gefangenen verfolgt, entstehen. In einigen Anstalten gibt es latente Spannungen zwischen verscheidenden Aufgabenbereichen, etwa der Arbeit, Sicherheit, Betreuung und dem Gesundheitsdienst (aber auch Bereich Freizeit und Bildung), weil erstere Vorstellungen entwickeln, dass letztere im Betrieb die «Guten» (Helfen, Pflegen, Freizeitgestaltung) sein können, während sie selber vor allem kontrollieren, befehlen, fordern usw. müssen und deshalb von Gefangenen wenig Anerkennung für ihre Arbeit erhalten. Auf der Seite der Gefangenen führt die besondere Situation des Justizvollzugs auch dazu, dass gewisse Gefangene dem medizinischen Dienst grundsätzlich misstrauisch gegenüberstehen und das Gefühl haben, verglichen mit der Situation «draussen» qualitativ nicht ausreichenden versorgt zu sein.
259
22a
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
7.5.3
Die Gefangenenseelsorge
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Die Seelsorge durch die beiden grossen Landeskirchen ist in allen Strafanstalten sichergestellt, auch in Anstalten, welche diese Aufgabe in ihrem Organigramm nicht ausdrücklich nachweisen. Bei den Gefangenenseelsorgern (oder «Gefängnisseelsorgern») handelt es sich meist um von der Landeskirche für diese Aufgabe teilzeitlich freigestellte Geistliche, teilweise sind auch die örtlichen Pfarrkreise für diese Aufgabe verantwortlich. Gefangenenseelsorger sind für ihre seelsorgerische Tätigkeit in fachlicher Hinsicht nicht der Anstaltsleitung unterstellt, doch werden ihr Aufgabenbereich und ihr Einsatz in Absprache mit der Anstaltsleitung festgelegt. Organisatorisch ist die Gefängnisseelsorge meist entweder als «Stabsstelle» der Anstaltsleitung oder des Vollzugs- bzw. Betreuungsbereiches ausgestaltet. Im Normalfall ist die Gefangenenseelsorge weit überwiegend Einzelseelsorge. Sie wird ergänzt – jedenfalls an kirchlichen Feiertagen – durch Gottesdienste sowie z.T. auch durch Gruppenveranstaltungen.
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Eine besonders detaillierte Regelung der Gefangenenseelsorge kennt der Kanton Bern, wo die Zusammenarbeit zwischen den Strafanstalten und den drei Landeskirchen verbindlich vereinbart wurde (Richtlinien vom 19./25. Mai / 29. Juni / 5. Juli 2007 des Amts für Freiheitsentzug und Betreuung der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern und der Landeskirchen des Kantons Bern über den Dienst der Kirchen in den Heimen und Anstalten des Straf- und Massnahmenvollzugs sowie in den Gefängnissen des Kantons Bern). Im Kanton St. Gallen besteht eine Leistungsvereinbarung zwischen dem Kanton und den beiden grössten Landeskirchen. Die Gehälter der Seelsorger werden je nach Kanton unterschiedlich getragen: Im Kanton Bern z.B. übernimmt das zuständige Amt die Gehälter (nicht aber die Spesen) vollständig, im Kanton St. Gallen teilweise und im Kanton Basel-Landschaft trägt die Kirche die Gehälter der Seelsorger.
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7. Die Strafanstalt als Organisation
DII 7.5.3 Leitlinien für die Zusammenarbeit der Gefängnisseelsorge mit den Leitungen der Institutionen des Freiheitsentzuges (veröffentlicht am 11. Dezember 2012) Ingress Die Gefängnisseelsorge gehört zu den klassischen «gemeinsamen Aufgaben» von Kirche und Staat und ist in allen Kantonen der Schweiz grundsätzlich anerkannt und strukturell verankert. Die Untersuchungshaft sowie der Straf- und Massnahmenvollzug sind in den letzten Jahren komplexer geworden. Die fachlichen und professionellen Anforderungen für Mitarbeitende in den Institutionen des Freiheitsentzuges sind gestiegen. Dies trifft ebenfalls für die Gefängnisseelsorge zu. Die vorliegenden Leitlinien sollen der Zusammenarbeit der Gefängnisseelsorge mit den Institutionen des Freiheitsentzuges dienen und die Qualität der Seelsorge in den Institutionen sichern helfen. Die Schweizerische Anstaltsleiterkonferenz sowie der Schweizerische Verein für die Gefängnisseelsorge vereinbaren, sich bei der Zusammenarbeit an den nachfolgenden Grundsätzen und Voraussetzungen zu orientieren: 1. Kompetenz Gefängnisseelsorger/innen brauchen - eine theologische Kompetenz, i.d.R. ein Theologiestudium, - eine seelsorgerische Kompetenz (Spezialausbildung, welche für die begleitende und beratende Praxis qualifiziert, z.B. Nachdiplomstudium «Kirche im Straf- und Massnahmenvollzug» oder gleichwertige Zusatzausbildung), - eine systemische Kompetenz (Grundkenntnisse der Strukturen in den Institutionen des Freiheitsentzuges und deren Leitbilder und Zielsetzungen), - eine berufliche Weiterbildung und Supervision. Von Gefängnisseelsorger/innen wird erwartet: - dass sie offen sind für die Anliegen und Probleme der Eingewiesenen sowie für diejenigen des Personals und der Institution, - dass sie eine ökumenisch und interreligiös offene Grundhaltung leben; die Religionszugehörigkeit und die Glaubensauffassung aller ihrer Gesprächspartner/innen respektieren. 2. Anstellungsbedingungen und -voraussetzungen Die zuständigen landeskirchlichen Organe unterbreiten der zuständigen Anstellungsbehörde bzw. der Leitung der Institution des Freiheitsentzuges bei Neubesetzungen von Gefängnisseelsorgestellen in der Regel einen Zweiervorschlag, unter Berücksichtigung der Kompetenzen gemäss Ziffer 1. 3. Rahmenbedingungen des Freiheitsentzuges Die Institution des Freiheitsentzuges räumt der Gefängnisseelsorge das nötige Gewicht im Rahmen ihrer Organisation ein. Die Institutionsleitung stellt der Gefängnisseelsorge die nötige Information (mündlich und schriftlich), geeignete Räumlichkeiten und genügend Zeit zur Verfügung. Die Gefängnisseelsorge muss über allfällige spezifische Störungen / Aggressionsgefahren u.ä. von Insassen durch die Institutionsleitung informiert werden.
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug Die Institutionsleitung und die Gefängnisseelsorge sind sich bewusst, dass die seelsorgerische Schweigepflicht die Basis der Gespräche ist. Indessen informieren die Gefängnisseelsorger/innen die Institutionsleitung in adäquater Weise über Wahrnehmungen akuter Selbst- und Fremdgefährdung. (…) Weitere Informationen: http://www.gefaengnisseelsorge.ch
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Die Gefangenenseelsorger haben sich im Schweiz. Verein für Gefängnisseelsorge organisiert, welchem über 130 Mitglieder angehören. Von grosser Bedeutung ist ferner ein an der Universität Bern durchgeführtes Nachdiplomstudium für Gefängnisseelsorger, welches entscheidend zu einer Professionalisierung dieses Aufgabenbereiches in der (deutschsprachigen) Schweiz beigetragen hat (DII 7.5.3).
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Die seelsorgerische Betreuung der zahlreichen muslimischen Strafgefangenen entzieht sich demgegenüber einer Eingliederung in die Organisation der Strafanstalt, weil diese Glaubensgemeinschaft über keine den Landeskirchen vergleichbaren Strukturen verfügt. In der Praxis erfolgt die Seelsorge für Muslime deshalb aufgrund von Ad-hocVereinbarungen zwischen der Anstaltsleitung und örtlich verfügbaren islamischen Geistlichen. In den Anstalten Hindelbank wird die Betreuung der muslimischen Insassinnen durch eine Zusammenarbeit mit dem Islamischen Frauenzentrum «Dar-an-Nur» sichergestellt.
7.5.4
Bildungs- und Freizeitdienste
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Diese Dienste sind meist dem Vollzugsbereich angegliedert oder in diesen vollständig integriert, in einigen Strafanstalten aber organisatorisch verselbständigt. Angebote im Bildungsbereich sind meistens als Freizeitangebote ausgestaltet, können aber auch eine Alternative zur Gefangenenarbeit darstellen und mit einem Entgelt verbunden werden, was Art. 83 Abs. 3 StGB ausdrücklich vorsieht. Konsequenterweise hat die Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE deshalb den Bildungs- mit dem Arbeitsbereich zusammengelegt und diesen nach den Grundsätzen der Arbeitsagogik ausgestaltet. Spezialisierte Freizeitdienste finden sich vorwiegend in Strafanstalten, welche über eine entsprechende Infrastruktur verfügen – insbesondere Sportanlagen – und in Anstalten, welche nicht in teilautonome Wohngruppen gegliedert sind.
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(…)
262
7. Die Strafanstalt als Organisation
7.6
Nebenamtliche Funktionen und freie Mitarbeit
Viele Anstalten übertragen einzelne Aufgaben nebenamtlich im Auftragsverhältnis tätigen Mitarbeitenden, welche organisatorisch in einen Anstaltsbereich oder -dienst integriert sind. Diese Mitarbeitenden werden meist mit speziellen Aufgaben im Bildungs- oder Freizeitbereich betraut (z.B. Erteilen von Sprach- oder PC-Kursen oder Leitung von Musikgruppen oder Unterricht in speziellen Sportarten oder kreativen Techniken).
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Für solche Aufgaben werden z.T. auch «freie Mitarbeiter» eingesetzt, also ohne Entlöhnung tätige Mitarbeitende. Auf freie Mitarbeiter wird vielerorts auch für die individuelle Betreuung einzelner Strafgefangener zurückgegriffen, welche über kein soziales Beziehungsnetz verfügen. Sie werden mehrheitlich durch die Bewährungshilfen rekrutiert und betreut, teilweise aber auch durch kirchliche Institutionen, private Organisationen der Gefangenenhilfe oder durch Organisationen nationaler Immigrantengruppen.
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Der Einsatz nebenamtlicher und freier Mitarbeitender ermöglicht den Strafanstalten, rasch und kostengünstig auf sich verändernde und individuelle Bedürfnisse zu reagieren. Darüber hinaus bedeutet die Präsenz solcher Mitarbeitender auch ein wertvoller Beitrag zur Normalisierung des Anstaltslebens.
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7.7
Entwicklungstendenzen
Strafanstalten sind als Teil der kantonalen Verwaltungen nach bürokratischen Grundsätzen aufgebaut. Sie sind aber auch Unternehmungen zur normalisierungsgerechten Beschäftigung ihrer Strafgefangenen. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die seit Ende des 20. Jahrhunderts in den öffentlichen Verwaltungen unter dem Label «New Public Management» entwickelten Bestrebungen zur Entbürokratisierung der Verwaltung gerade in den Strafanstalten auf ein besonders lebhaftes Interesse gestossen sind.
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Programme des «New Public Management» (NPM) setzen sich zwar im Einzelnen aus unterschiedlichen Instrumenten und Massnahmen zusammen. Gemeinsam ist solchen Programmen aber immer das Bestreben, klassische Verwaltungsstrukturen abzubauen und diese durch Organisationsmodelle zu ersetzen, welche sich am modernen, leistungsbezogenen Dienstleistungsunternehmen orientieren. Zu diesem
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263
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
Zwecke müssen vorab die durch das Dienstleistungsunternehmen «Vollzugsanstalt» zu schaffenden «Produkte» in quantitativer und qualitativer Hinsicht definiert werden. Sodann sind Instrumente zur Bewertung der Effizienz und der Effektivität des Einsatzes von Ressourcen zu entwickeln und die Aufbau- und Ablauforganisation entsprechend anzupassen. In diesem Zusammenhang kann sich auch eine Teilauslagerung einzelner Aufgaben an Dritte als ökonomisch sinnvoll erweisen (Teilprivatisierung). 34
Allerdings müssen auch ökonomisch sinnvolle NPM-Massnahmen immer im Zusammenhang der gesamten Leistungsanforderungen an das «Gesamtunternehmen Strafanstalt» bewertet werden: So führt eine Teilprivatisierung von Aufgaben (z.B. der Anstaltsverpflegung oder der Anstaltswäsche) zur Vernichtung von Arbeitsplätzen für Strafgefangene, welche durch Arbeitsplätze anderer Art zu ersetzen sind. Sofern Strafanstalten konsequenter nach Grundsätzen des NPM ausgestaltet werden als die übergeordnete Verwaltung, ergeben sich überdies an der Schnittstelle Strafanstalt/übergeordnete Verwaltung naturgemäss Konflikte, etwa dann, wenn Strafanstalten nach dem Grundsatz der Globalsteuerung über eine hohe Haushaltautonomie verfügen, die übergeordnete Verwaltung aber weiterhin an kameralistische Haushaltprinzipien gebunden ist.
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Im schweizerischen Strafvollzug werden seit Ende des 20. Jahrhunderts vielerorts Massnahmen eingeführt, welche sich am NPM orientieren. Dazu gehören namentlich: Die Erhöhung der Haushaltautonomie der Strafanstalten (etwa durch die Einführung eines Globalbudgets, verbunden mit einer detaillierten Kostenträger- und Kostenstellenrechnung), der Abbau weiterer bürokratischer Hindernisse, welche ein wirtschaftliches Handeln der Anstalten behindern (z.B. personalrechtliche Hemmnisse oder solche, welche den Auftritt einer Strafanstalt als Produzent am Markt einschränken), die Konkretisierung der Leistungserwartungen an die Strafanstalt durch Leistungsaufträge oder Leistungsvereinbarungen, der Aufbau von Strukturen für ein professionalisiertes Qualitätsmanagement (z.B. im Massnahmenzentrum St. Johannsen/BE) sowie die Teilprivatisierung einzelner Aufgaben. Diese Veränderungsprozesse sind weder abgeschlossen noch irreversibel.
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Die erwähnten Bestrebungen zur Einführung unbürokratischer, am Modell des Dienstleistungsunternehmens orientierter Steuerungsinstrumente sind im Grundsatz zu begrüssen. Die vertieften Auseinandersetzungen zur Frage, welche «Produkte» in welcher Quantität und Qualität 264
7. Die Strafanstalt als Organisation
von Strafanstalten zu erzeugen sind und welche «Kunden» sie bedarfsgerecht bedienen sollen, haben die Strafanstalten tatsächlich von etlichem bürokratischem Staub befreit. Mit diesen Neuerungen verbundene Risiken dürfen indessen nicht übersehen werden. Dazu gehört die Gefahr, dass ökonomische Interessen den Blick auf die im Strafvollzug zu erbringenden Leistungen verstellen, wenn die Steuerung des Strafvollzugs über Ressourcen erfolgt. Dazu gehört weiter das Risiko, dass eine erhöhte Autonomie der Strafanstalten (ohne gezielte Leistungsvorgaben) nicht notwendigerweise zu einem optimalen GesamtVollzugssystem führt. Und dazu gehört überdies auch das Risiko, dass mit der Einführung des NPM klassische bürokratische Verwaltungsstrukturen zwar tatsächlich abgebaut, diese aber in der Folge durch eine neue «NPM-Bürokratie» ersetzt werden. Und über allen Neuerungen schwebt schliesslich die gesellschaftspolitisch kaum ausdiskutierte Frage, ob sich die von Strafanstalten zu leistenden Aufgaben (und die Aufgaben des Staates insgesamt) tatsächlich auf das Modell eines ausschliesslich nachfragegesteuerten Dienstleistungsunternehmens reduzieren lassen. Generell ist der Justizvollzug in den letzten Jahren im Zug dieser Entwicklungen in höherem Mass rechenschaftspflichtig und dadurch auch transparenter geworden. Dies bedeutet sowohl eine Öffnung gegen aussen, Legitimationszwang und damit auch vermehrte Kritik, die nicht immer sach- oder entwicklungsorientiert ist, sondern oft schlicht politischem Kalkül folgt. Auf der anderen Seite ist im Innern der Vollzugslandschaft auch eine institutionsübergreifende Diskussion in Gang gebracht worden, welche die Entwicklung von innen her unterstützt. Ein stellvertretendes Beispiel dafür ist etwa die Entwicklung von Minimalstandards für Vollzugstypen und weiteren Aspekten des Justizvollzugs im Rahmen der Konkordate.
265
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
8.
Bedingte Entlassung, Bewährungsund Entlassenenhilfe
8.1
Die bedingte Entlassung als spezialpräventiv motivierte Vollzugsstufe
LII 8.1 Literatur zur bedingten Entlassung BAECHTOLD Andrea: Strafvollzug und Strafvollstreckung an Ausländern: Prüfstein der Strafrechtspflege oder bloss «suitable enemies»? In: ZStrR 2000, 245–269; BOLLE Pierre-Henri: L’application de la libération conditionnelle (Art. 38 CP). Festgabe der Schweizerischen Rechtsfakultäten zur Hundertjahrfeier des Bundesgerichts. Basel 1975, 255–266; DÜNKEL Frieder / PRUIN Ineke: Die bedingte/vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug im europäischen Vergleich. In: Eduard Matt (Hrsg.): Bedingte Entlassung, Übergangsmanagement und die Wiedereingliederung von Ex-Strafgefangenen. Justizvollzugsanstalt, Strafvollstreckungskammer und das Zusammenspiel der Institutionen. Berlin 2012, 125– 146; GRABER Michel-Alexandre: La libération conditionnelle à l’épreuve du féderalisme. In: KrimBull 13/1987, 3–56; HÄNNI Hanspeter: Die Praxis der bedingten bzw. probeweisen Entlassung aus dem Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton Graubünden. Diss. Basel 1978; KELLER Annette: Vollzugsplanung und Case Management – Erfahrungen einer Anstalt. In: Queloz Nicolas / Luginbühl Ulrich / von Mandach Laura (Hrsg.): Am selben Strick ziehen: Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit im Justizvollzug. Bern 2013, 129–139; KOLLER CORNELIA: Kommentar zu Art. 86–89 StGB. In: Niggli Marcel Alexander / Wiprächtiger Hans (Hrsg.): Strafrecht I. Art. 1–110 StGB/Jugendstrafgesetz. Basler Kommentar. 3. Aufl. Basel 2013, 1800–1832; LANGUIN Noëlle et al.: La libération conditionnelle. Risque ou chance? La pratique en 1990 dans les cantons romands. Bâle/Genève 1994; LEHNER Dominik: Risk Assessment und Multi Agency Protection. In: SZK 2/2008, 27–32; MEYER Jacques: La libération conditionnelle: Vers un réaménagement des compétences et de la procédure? In: SJZ 1993, 358–362; PETERS Ingrid: Die bedingte Entlassung aus der Strafhaft nach schweizerischem und deutschem Recht. Diss. Basel 1960; STURZENEGGER Hubert: Die bedingte Entlassung im schweizerischen Strafrecht. Diss. Zürich 1954. 1
Die in den Art. 86 bis 89 StGB geregelte bedingte Entlassung ist die letzte fakultative Stufe im Vollzug einer Freiheitsstrafe, also Teil der Vollstreckung dieser Strafe (LII 8.1). Erfüllt der Strafgefangene die für die Gewährung der bedingten Entlassung gesetzten gesetzlichen Voraussetzungen, hat er einen Anspruch darauf, tatsächlich bedingt entlassen zu werden. Umgekehrt ist er nicht berechtigt, eine bedingte Entlassung abzulehnen. Zu beachten ist, dass aus teilbedingten Freiheitsstrafen eine bedingte Entlassung nicht zulässig ist (Art. 43 Abs. 3 StGB).
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
RII 8 Rechtsprechung des Bundesgerichts zur bedingten Entlassung (bE) Normzweck u. Rechtsnatur – Die bE ist ein Instrument der Spezialprävention (BGE 133 IV 201, BGE 125 IV 113, BGE 124 IV 195, 104 Ib 331, 103 Ib 28). – Sie ist die letzte Stufe im System des progressiven Strafvollzugs (BGE 133 IV 201, BGE 118 IV 220); der historische Bezug zum Institut der Begnadigung ist damit hinfällig geworden (BGE 101 Ib 454). – Strafgefangene, welche die Voraussetzungen erfüllen, haben einen Anspruch auf die bedingte Entlassung u. können diese umgekehrt nicht ablehnen (BGE 101 Ib 452). – Die bE gehört rechtlich gesehen zur Strafvollstreckung (BGE 104 Ib 331, 101 Ib 454, 70 IV 143). – Ihre Gewährung ist zur Regel geworden, von der nur aus guten Gründen abgewichen werden darf (BGE 133 IV 201, BGE 124 IV 194 ff., 119 IV 8). Voraussetzungen – Mindestdauer der Strafverbüssung: Bei deren Berechnung ist die auf die Strafe angerechnete Untersuchungshaft einzubeziehen (BGE 110 IV 67). – Verhalten während des Vollzugs: Dieses darf nicht gegen eine bE sprechen (BGE 105 IV 168), doch darf die Frage aufgeworfen werden, ob dies ein selbständiges Kriterium sei od. bloss ein bei der Beurteilung der Bewährungsaussichten mitzuberücksichtigender Umstand (BGE 133 IV 201, BGE 124 IV 195, 119 IV 7). Die Beurteilung des Verhaltens während dem Strafvollzug sowie die Prognose hinsichtlich zukünftigen Verhaltens in Freiheit fallen in das Ermessen der zuständigen Behörde u. in der Regel nicht in jenes des Haftrichters (BGer-Urteil 1B_330/2013 vom 16. Oktober 2013). Zeitlich weit zurückliegendes Verhalten vermag einen negativen Entscheid nicht zu begründen (BGE 124 IV 195, 119 IV 9). – Bewährungs- (od. Legal-)prognose: In die Prognose einzubeziehen sind das Vorleben des Täters, die Täterpersönlichkeit, das deliktische u. sonstige Verhalten des Täters sowie die voraussichtlichen Lebensverhältnisse nach der Entlassung (BGE 133 IV 201, BGE 104 IV 282, 104 Ib 331). Die begangenen Delikte u. Umstände der Tatbegehung sind nur dann massgeblich, wenn sie Rückschlüsse auf die Täterpersönlichkeit zulassen (BGE 103 Ib 28 bzw. BGE 105 IV 168). Bei der Beurteilung der Täterpersönlichkeit werden Einstellungsänderungen des Täters (BGE 104 IV 284) berücksichtigt, Einsicht in die Tatfolgen (BGE 98 Ib 198 f.), Reue (BGE 105 IV 168 f., 98 Ib 167) sowie eine erfolgte Reifung u. Festigung der Persönlichkeit (BGE 104 IV 284 f.). Beim Verhalten können Leistungen zur Schadenswiedergutmachung u. der Sachverhalt in die Prognose einbezogen werden, dass sich der Täter der Polizei gestellt hat (BGE 104 IV 284 f.). Prognostisch relevant kann auch das Verhalten in der Vollzugsanstalt sein, sofern dieses Rückschlüsse auf das Verhalten im normalen Leben zulässt, also etwa das Arbeitsverhalten (BGE 124 IV 203), nicht aber blosses Wohlverhalten im Strafvollzug (BGE 103 Ib 27, 101 Ib 153, 137 II 233). Reines Anpassungsverhalten im Vollzug ist prognostisch negativ zu bewerten (BGE 101 Ib 153, 103 Ib 27, 98 Ib 107). Massgeblich für die Beurteilung des Verhaltens im Vollzug ist jedenfalls dessen Entwicklung im Zeitverlauf (BGE 119 IV 9 f.). Bei der Beurteilung der künftigen Lebensverhältnisse dürfen keine allzu präzisen Zukunftspläne erwartet werden (BGE 98 Ib 198). Haben günstige Lebensverhältnisse in einem früheren Zeitpunkt eine Straffälligkeit nicht zu
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug verhindern vermocht, sind solche wenig aussagekräftig (BGE 104 IV 284). Die vorgesehene Ausgestaltung einer bE ist in die Prognose einzubeziehen (BGE 104 IV 282, 101 Ib 452). − Erstellung der Bewährungsprognose: Die erwähnten Kriterien sollen in eine Gesamtwürdigung einfliessen (BGE 104 IV 282; 133 IV 201), in welcher alle massgeblichen Aspekte zu prüfen sind (BGE 103 Ib 28). Für den Entscheid über eine bE ist eine Differenzialprognose zu erstellen, also zu prüfen, ob die Gefahr weiterer Straftaten bei einer bE od. bei Vollverbüssung der Strafe höher ist (BGE 124 IV 193). Deshalb kann eine bE selbst bei Rückfallgefahr kürzere Zeit vor der definitiven Entlassung angeordnet werden, wenn dank deren Ausgestaltung (Bewährungshilfe, Weisungen) eine geringere Rückfallgefahr zu erwarten ist als bei einer Vollverbüssung der Strafe. Der Schluss von den erhobenen Tatsachen auf das künftige Verhalten liegt im Ermessen der Entlassungsbehörde (BGE 104 IV 282). Dabei genügt für eine bE, wenn vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sich der Strafgefangene künftig bewähren wird, ohne dass die Entlassungsbehörde davon völlig überzeugt sein muss (BGE 98 Ib 107 f.). Allerdings ist das Instrument der bE zurückhaltend anzuwenden, wenn die Verletzung wertvoller Rechtsgüter davon betroffen sein könnte (BGE 133 IV 201; 125 IV 115 f., 124 IV 195, 193 Ib 28) u. wenn sie für ausländische «Kriminaltouristen» zu beurteilen ist (BGE 105 IV 167). Verfahren – Die für die bE zuständige Entlassungsbehörde muss – auch im Lichte der EMRK – nicht unbedingt eine richterliche sein (BGE 106 IV 156). – Das rechtliche Gehör ist dem Strafgefangenen in Form einer persönlichen Anhörung zu gewähren (BGE 109 IV 12, 101 Ib 251, 99 Ib 350). Dies auch dann, wenn der Strafgefangene ein Entlassungsgesuch eingereicht hat (BGE 99 Ib 349). Die Anhörung kann an Dritte delegiert werden, auch an den Sekretär der kantonalen Justizdirektion (BGE 105 IV 166), nicht aber an die Anstaltsdirektion (BGE 109 IV 14 f.). Auf eine Anhörung darf dann verzichtet werden, wenn eine bedingte Entlassung auf Grund der vorliegenden Tatsachen von vorneherein feststeht u. keine belastenden Massnahmen (Bewährungshilfe, Weisungen) vorgesehen sind (BGE 99 Ib 350; 98 Ib 172). – Der Strafgefangene hat im Rahmen des Verfahrens Anrecht auf die Einsichtnahme in die entsprechenden Akten. – Der Entscheid über die bE erfordert eine genaue u. umfassende Begründung (BGE 119 IV 8). – Zur Beschwerde beim Bundesgericht gegen Entscheide über eine bE sind der Betroffene sowie das EJPD berechtigt (BGE 101 Ib 351), nicht aber kantonale Organe der Strafrechtspflege (BGE 101 Ib 454, 101 Ib 323) od. das Opfer der Straftat (BGE 111 Ib 62 ff.). Ausgestaltung – Für die Festlegung der Dauer der Probezeit darf auch das Interesse einer mit Weisung verlangten Wiedergutmachung berücksichtigt werden (BGE 127 IV 148). – Im Zusammenhang mit einer bE erlassene Weisungen haben zum Zweck, die Bewährungschancen des zu Entlassenden zu verbessern (BGE 124 IB 199, 118 IV 219, 107 IV 89, 71 IV 177), doch darf auch die Schwere der Straftat berücksichtigt werden (BGE 107 IV 89). Massgeblich für die Wahl der Art einer Weisung sind fürsorgerische, kriminalpädagogische od. medizinisch-therapeutische Bedürfnisse (BGE 107 IV 89). Nicht zulässig wären Weisungen, durch welche dem zu Entlas-
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe senden vorwiegend od. ausschliesslich Nachteile zugefügt werden (BGE 94 IV 12, 77 IV 76). Widerruf – Massgebend für einen Widerruf der bE sind die Bewährungsaussichten (BGE 127 IV 148 ff.); der Vollzug der Strafe muss als wirksamer erscheinen als die Fortsetzung der bE (BGer-Urteil 6S.317/2001 vom 22. Januar 2002). – Bei einem Widerruf wegen Widerhandlung gegen eine erteilte Weisung ist vorauszusetzen, dass diese schuldhaft begangen wurde (BGE 100 IV 97, 71 IV 180) u. einen hinreichenden Schweregrad aufweist (BGE 97 I 925 f.). – Der Widerruf der fälschlicherweise gewährten bE hat sich an der zeitlichen Grenze von Art. 89 Abs. 4 StGB zu orientieren u. darf nicht mehr erfolgen, wenn seit dem Ablauf der Probezeit drei Jahre vergangen sind (BGer-Urteil 6B_840/2014 vom 6. Februar 2015), – Im Verfahren um einen Widerruf hat der Betroffene Anspruch auf rechtliches Gehör, allerdings nicht auf eine persönliche Anhörung (BGE 98 Ib 175 f.). Das Opfer der Straftat hat kein schutzwürdiges Interesse an einem Widerruf der bE (BGE 111 Ib 62). bE u. Aufenthalt – Eine bE gibt keinen Anspruch auf eine fremdenpolizeiliche Aufenthaltsbewilligung (BGE 109 Ib 178 f.).
In der Sache bedeutet das Institut der bedingten Entlassung den Verzicht auf die Vollstreckung eines Teils der schuldangemessenen Strafe. Dieser Verzicht ist aber bloss bedingt, d.h. an die künftige Bewährung des Strafgefangenen geknüpft. Ein solcher Verzicht rechtfertigt sich einerseits dadurch, dass mit der Aussicht auf einen Erlass eines Teils der Freiheitsstrafe Anreize für Strafgefangene geschaffen werden, während des Freiheitsentzugs Anstrengungen zur Vermeidung künftiger Straftaten zu unternehmen. Andererseits können mit einer bedingten Entlassung Auflagen verbunden werden (Weisungen, Bewährungshilfe; vgl. Abschnitt 8.4), welche geeignet sein können, die Eingliederung des Strafentlassenen zu fördern und eine weitere Straffälligkeit zu verhindern. Die bedingte Entlassung ist deshalb ein Instrument der Spezialprävention, also keine Vergünstigung oder Belohnung. Sie ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Regel geworden, von der nur aus guten Gründen abgewichen werden darf (RII 8). Die Strafvollzugskonkordate der deutschsprachigen Schweiz haben zur bedingten Entlassung weitgehend identische, das Bundesrecht konkretisierende Richtlinien erlassen (Nordwest- und Innerschweiz: Richtlinien für die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug vom 4. November 2005; Ostschweiz: Richtlinien betreffend die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug vom 7. April 2006). Weil der Entscheid über die Gewährung oder die Ablehnung der bedingten Entlassung sowohl für den Strafgefangenen als auch für den Schutz der Öffentlichkeit weitreichen269
2
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
de Konsequenzen hat, überrascht nicht, dass dieses Institut im Bundesrecht aussergewöhnlich detailliert geregelt ist. Die bundesrechtlichen Vorgaben entsprechen im Wesentlichen den diesbezüglichen Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates (Empfehlung Rec [2003] 22 über die bedingte Entlassung vom 24. September 2003). 3
Die oben beschriebene Stellung der bedingten Entlassung im Sanktionenrecht unterscheidet sich grundlegend von ihren Ursprüngen: Die bedingte Entlassung hat sich aus der Ende des 18. Jahrhunderts eingeführten «bedingten Begnadigung» von nach Australien deportierten britischen Straftätern entwickelt. In der Schweiz wurde sie von einer grossen Zahl der Kantone bereits vor Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt und dann in das StGB von 1937 aufgenommen. 2013 erfolgte bei den Strafgefangenen, bei welchen die Strafdauer eine bedingte Entlassung grundsätzlich zulässt (Abschnitt 8.2), eine bedingte Entlassung in mehr als sechs von zehn Fällen, wobei allerdings ganz erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen bestehen. Gesamtschweizerische hat die Quote der bedingten Entlassungen in den letzten Jahren abgenommen. Dies steht im Kontrast zu BGE 133 IV 201 E. 2.2., wonach die Gewährung der bedingten Entlassung (Art. 86 StGB) im Vergleich zum alten Recht (Art. 38 aStGB) noch stärker die Regel darstellen sollen.
8.2
Voraussetzungen der bedingten Entlassung
4
Die Gewährung der bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe wird bundesrechtlich an drei Voraussetzungen geknüpft (Art. 86 Abs. 1 StGB): Der Strafgefangene muss erstens bereits einen erheblichen Teil seiner Freiheitsstrafe verbüsst haben. Zweitens muss sein Verhalten im Strafvollzug eine bedingte Entlassung rechtfertigen. Und drittens muss anzunehmen sein, der Strafgefangene werde nach der bedingten Entlassung keine weiteren Verbrechen oder Vergehen begehen. Sind alle drei Voraussetzungen erfüllt, ist der Strafgefangene bedingt zu entlassen.
5
Die vorausgesetzte Mindestdauer der Strafverbüssung beträgt im Normalfall zwei Drittel der Freiheitsstrafe, aber mindestens drei Monate (Art. 86 Abs. 1 StGB; bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe 15 Jahre). Seit der Revision des StGB von 2002 können Strafgefangene «ausnahmsweise» allerdings bereits nach Verbüssung der Strafhälfte (aber mindestens drei Monaten) bedingt entlassen werden, wenn «ausserordentliche, in der Person des Gefangenen liegende Umstände dies
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
rechtfertigen» (Art. 86 Abs. 4 StGB; bei lebenslangen Freiheitsstrafen nach 10 Jahren). Damit wurde das schweizerische Recht vorsichtig an europäische Standards angenähert, wonach eine bedingte Entlassung meist nach Verbüssung der Strafhälfte möglich ist. Welche in der Person des Gefangenen liegenden Umstände von der Praxis künftig als «ausserordentlich» anerkannt werden, ist derzeit nicht absehbar. Die Vollzugsbehörden sind also in der Lage, im Einzelfall den frühesten Zeitpunkt einer ordentlichen bedingten Entlassung bereits nach Eingang des rechtskräftigen Urteils eindeutig zu bestimmen. Sie berücksichtigen dabei die Dauer der auf die Strafe angerechneten Untersuchungshaft. Werden mehrere Strafen gemeinsam vollzogen, ist die Gesamtdauer dieser Strafen massgeblich. Trifft eine Freiheitsstrafe mit einer Reststrafe aus einer widerrufenen bedingten Entlassung zusammen, dann bildet der Richter eine Gesamtstrafe, auf welcher sich die Mindestdauer der Strafverbüssung errechnet (Art. 89 Abs. 6 StGB; anders im StGB vor der Revision von 2002). Zur Berechnung des frühesten Zeitpunkt einer bedingten Entlassung aus gleichzeitig vollziehbaren Freiheitsstrafen (und zur kantonalen Zuständigkeit bei Rückversetzungen in den Strafvollzug) vgl. Art. 5 V-StGB-MStG (bzw. Art. 3 Abs. 2 V-StGBMStG).
6
Die für eine bedingte Entlassung an das Verhalten des Strafgefangenen im Vollzug zu stellenden Voraussetzungen sind unklar und umstritten. Welche Anforderungen sind an das Verhalten eines Strafgefangenen zu stellen, damit eine bedingte Entlassung im Sinne des Gesetzgebers «gerechtfertigt» ist? Sind dies andere oder erschwerte Voraussetzungen im Vergleich zur Regelung vor der Revision des StGB von 2002 (welche verlangte, dass das Verhalten des Strafgefangenen im Vollzug nicht gegen eine bedingte Entlassung sprechen dürfe)? Die frühere Regelung ist von der Lehre aus spezialpräventiver Sicht kritisiert worden, weil «Wohlverhalten» im Vollzug auch blosses Anpassungsverhalten sein kann. Und auch das Bundesgericht hat die Frage aufgeworfen, ob das Verhalten während des Strafvollzugs als selbständige Voraussetzung zu betrachten sei (oder bloss als ein Element für die Beurteilung der Bewährungsaussichten; RII 8). Aufgrund dieser Bedenken haben Expertenkommission und Bundesrat in ihren Entwürfen für die Revision des StGB von 2002 dieses Kriterium nicht mehr in den Gesetzestext aufgenommen, was von den eidgenössischen Räten allerdings korrigiert wurde.
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271
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug 8
Es ist zu hoffen, dass die Praxis bei der Auslegung der an das Verhalten des Strafgefangenen im Vollzug zu stellenden Anforderungen massgeblich auf den spezialpräventiven Sinn der bedingten Entlassung abstellen wird: Sofern sich aus dem Verhalten des Strafgefangenen im Vollzug keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er nach der Strafentlassung weitere Straftaten begehen wird, dürften Verhaltensmängel während des Vollzugs einer bedingten Entlassung nicht entgegenstehen.
9
Als dritte und letzte Voraussetzung für eine bedingte Entlassung nennt das StGB eine positive Bewährungs- oder Legalprognose: Für die Gewährung einer bedingten Entlassung muss anzunehmen sein, dass der Strafgefangene keine weiteren Verbrechen oder Vergehen begehen werde. Diese Vorgabe entspricht dem früheren Recht vor 2002, weshalb die diesbezüglich sehr umfangreiche und detaillierte Rechtsprechung des Bundesgerichts weiterhin massgeblich bleibt.
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Summarisch lässt sich diese Rechtsprechung wie folgt zusammenfassen (dazu im Einzelnen RII 8): Prognoserelevante Faktoren lassen sich aus dem (deliktischen und übrigen) Vorleben des Strafgefangenen ableiten, aus der Persönlichkeit des Strafgefangenen und seinem Verhalten im Zeitpunkt einer möglichen bedingten Entlassung sowie aus den mutmasslichen Lebensbedingungen nach einer Entlassung (Beziehungsnetz, Integration in die Arbeitswelt etc.). Diese Faktoren sind umfassend zu ermitteln und sollen in eine Gesamtwürdigung einfliessen (BGer-Urteil 6B_93/2015 vom 19. Mai 2015 E. 4.1 und 5.2). Für die Gewährung der bedingten Entlassung ist nicht erforderlich, dass aufgrund der Gesamtwürdigung der prognoserelevanten Faktoren ein Rückfall auszuschliessen ist; es genügt, wenn dies «vernünftigerweise» erwartet werden kann. Allerdings sollen umso geringere Risiken eingegangen werden, je schwerwiegender mögliche Rückfalltaten ausfallen könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Gesamtwürdigung als Differenzialprognose zu erstellen: Es ist zu prüfen, ob die Rückfallgefahr nach einer bedingten Entlassung oder nach Vollverbüssung der Freiheitsstrafe höher einzuschätzen ist. Damit wird es möglich, eine bedingte Entlassung trotz Rückfallgefahr kurz vor dem Termin der definitiven Strafverbüssung anzuordnen und Rückfallrisiken durch die Ausgestaltung der bedingten Entlassung (Abschnitt 8.4) einzuschränken. Mit dem Konzept der Differenzialprognose wird die spezialpräventive Funktion der bedingten Entlassung konsequent verdeutlicht.
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
8.3
Das Verfahren bei der bedingten Entlassung
Die Zuständigkeit für die bedingte Entlassung liegt beim Urteilskanton, sofern dieser den Vollzug nicht an einen anderen Kanton abgetreten hat. Die Kantone haben diese Zuständigkeit mehrheitlich dem für den Strafvollzug verantwortlichen Departement oder einer untergeordneten Verwaltungsbehörde (der Vollzugsbehörde) übertragen, in AI und GL der Gesamtregierung. Einzelne Kantone verlangen, dass die Entscheidinstanz mit dem urteilenden Richter Rücksprache nimmt (SG, SH) oder mit einer beratenden Kommission für die bedingte Entlassung (FR). In den Kantonen GE, TI, VD und VS liegt die Zuständigkeit für die bedingte Entlassung bei einem spezialisierten Vollzugsgericht («juge» oder «tribunal d’application des peines»).
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Art. 86 Abs. 2 StGB verlangt erstens, dass die Prüfung einer bedingten Entlassung von Amtes wegen zu erfolgen hat. In der Praxis reicht der Strafgefangene allerdings – ggf. unterstützt durch den Betreuungsoder Sozialdienst – ein begründetes Gesuch um bedingte Entlassung ein, was die Entscheidfindung erleichtert. Eine zeitgerechte Prüfung der Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung kann dann problematisch werden, wenn für einen im vorzeitigen Stravollzug stehenden Inhaftierten (Abschnitt 4.2) das Urteil erst unmittelbar vor der Verbüssung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe (oder gar später) ergeht. Wird die bedingte Entlassung verweigert, so ist mindestens einmal jährlich erneut zu prüfen, ob sie in einem späteren Zeitpunkt doch noch gewährt werden kann (Art. 86 Ziff. 3 StGB). In der Praxis eröffnet die zuständige Behörde in ihrem ablehnenden Entscheid häufig den Zeitpunkt, in welchem sie erneut prüfen wird, ob die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung vorliegen.
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Art. 86 Abs. 2 StGB schreibt zweitens vor, dass die für die bedingte Entlassung zuständige Behörde obligatorisch einen Bericht der Anstaltsleitung einzuholen hat. Dieser Bericht sollte sich in erster Linie gezielt zur Frage der Bewährungschancen und Rückfallrisiken aussprechen, was allerdings nicht durchwegs der Fall ist. Das Bundesrecht verlangt nicht, dass auch ein Bericht der Bewährungshilfe einzuholen ist. Ist die Bewährungshilfe im Rahmen einer durchgehenden Betreuung bereits mit dem Strafgefangenen befasst, wird diese indessen häufig ebenfalls um Berichterstattung ersucht (so z.B. im Kanton Solothurn). Bei als «gemeingefährlich» klassifizierten Strafgefangenen (Abschnitt 6.2.7) wird überdies ausnahmslos eine Stellungnahme der für
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
diese Klassifikation zuständigen begutachtenden Kommission (RII 6.2.7) eingeholt. 14
Drittens verlangt Art. 86 Abs. 2 StGB, dass dem Strafgefangenen vor einem Entscheid über die bedingte Entlassung das rechtliche Gehör zu gewähren sei. Dies auch dann, wenn der Strafgefangene ein Gesuch um bedingte Entlassung eingereicht hat. Das rechtliche Gehör ist ihm in der qualifizierten Form einer mündlichen Anhörung («de visu et de auditu») zu gewähren. Die Anhörung kann an «neutrale Dritte» delegiert werden, etwa an den Sozialdienst der Vollzugsanstalt oder die Bewährungshilfe (nicht aber an die Anstaltsdirektion). Steht eine bedingte Entlassung von vorneherein fest und sind keine belastenden Massnahmen (Abschnitt 8.4) vorgesehen, dann darf auf eine Anhörung allerdings verzichtet werden.
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Entscheide über eine bedingte Entlassung sind präzise und umfassend zu begründen. Eine bloss summarische Begründung ist bloss dann ausreichend, wenn die bedingte Entlassung – ohne belastende Massnahmen (Abschnitt 8.4) – gewährt wird. Letztinstanzliche kantonale Entscheide über eine bedingte Entlassung können mit Beschwerde in Strafsachen (Art. 78 ff. BGG) beim Bundesgericht angefochten werden.
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Die Kantone Bern, St. Gallen und Zürich berücksichtigen bei Entscheiden über die bedingte Entlassung auch Interessen der Opfer (Art. 21 SMVG/BE; Art. 57 Abs. 1 des Einführungsgesetzes vom 3. August 2010 zur Schweizerischen Straf- und Jugendstrafprozessordnung [EGStPO/SG; sGS 962.1]; § 27 Straf- und Justizvollzugsgesetz/ZH): Im Kanton Bern werden Opfer im Sinne des OHG auf begründetes Gesuch hin über den Zeitpunkt einer bedingten (und auch definitiven) Entlassung informiert, sofern nicht schützenswerte Geheimhaltungsinteressen des Strafgefangenen einer Orientierung entgegenstehen. In den Kantonen St. Gallen und Zürich erstreckt sich das Mitteilungsrecht grundsätzlich auf Opfer aller Straftaten. Eine vergleichbare Regelung wie im Kanton Bern wird auch in Neuenburg praktiziert (Art. 9 Abs. 1 Loi du 27 janvier 2010 sur l’exécution des peines privatives de liberté et des mesures pour les personnes adultes [LPMPA/NE; RSN 351.0]). Auf eidgenössischer Ebene wird zudem auf den 1. Januar 2016 das Bundesgesetz über das Informationsrecht des Opfers in Kraft gesetzt. Mit diesem Gesetz werden Opfer, ihre Angehörigen und Drittpersonen, soweit diese über ein schutzwürdiges Interesse verfügen, künftig auf schriftliches Gesuch hin namentlich über den Strafantritt, die Vollzugseinrichtung, allfällige Lockerungen, die Entlassung oder die Flucht des
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
Täters informiert. Eine Auskunft darüber kann nur verweigert werden, wenn berechtigte Interessen des Verurteilten überwiegen.
8.4
Die Ausgestaltung der bedingten Entlassung
Dem bedingt Entlassenen wird obligatorisch eine Probezeit auferlegt, deren Dauer anders festzulegen ist als vor der Revision von 2002: Die Probezeit entspricht normalerweise dem Strafrest, beträgt aber mindestens ein Jahr und höchstens fünf Jahre (Art. 87 Abs. 1 StGB). Bewährt sich der bedingt Entlassene bis zum Ablauf der Probezeit, dann wird er endgültig aus der Freiheitsstrafe entlassen (Art. 88 StGB). Bewährt er sich nicht, kann er zum Vollzug des Strafrests in die Vollzugsanstalt zurückversetzt werden (Abschnitt 8.5). Für Straftäter, welche wegen schwersten Straftaten verurteilt wurden (Art. 64 Abs. 1 StGB), kann die Probezeit um längstens fünf Jahre verlängert werden, wenn Bewährungshilfe oder Weisungen mit Blick auf die Rückfallverhütung weiterhin erforderlich erscheinen (Art. 87 Abs. 3 StGB).
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Für die Dauer der Probezeit kann die Vollzugsbehörde Bewährungshilfe anordnen (Abschnitt 8.7). Anders als im geltenden Recht vor der grossen Revision des StGB von 2002 soll eine Anordnung der Bewährungshilfe «in der Regel» erfolgen (Art. 87 Abs. 2 StGB). Diese Vorgabe kann vernünftigerweise nur so verstanden werden, dass Bewährungshilfe immer dann anzuordnen ist, wenn diese als erforderlich und geeignet erscheint, um während der Probezeit (und darüber hinaus) das Risiko weiterer Straftaten zu mindern. In der Praxis wird auf die Anordnung von Bewährungshilfe normalerweise dann verzichtet, wenn entweder keine speziellen Sozial- und Fachhilfen erforderlich sind oder wenn diese durch geeignete Dritte (örtlicher Sozialdienst, spezialisierte Beratungsstellen, Vormund, Familienangehörige etc.) ohnehin erbracht werden. Andernfalls – meist auch dann, wenn zusätzlich Weisungen gemäss Art. 87 Abs. 2 i.V.m. Art. 94 StGB erteilt werden – wird für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe angeordnet. Trotz zurückhaltender Unterstellungspraxis wurde 2013 bzw. 2014 für circa jeden Dritten der aus dem Straf- und Massnahmenvollzug bedingt Entlassenen Bewährungshilfe angeordnet.
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Dem bedingt Entlassenen kann die Vollzugsbehörde für die Dauer der Probezeit ferner Weisungen erteilen (Art. 87 Abs. 2 StGB), etwa zur Berufsausübung, zum Aufenthalt, zum Führen eines Motorfahrzeuges, zum Schadenersatz oder zur ärztlichen und psychologischen Betreuung
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
(Art. 94 StGB). In der Praxis betreffen Weisungen meist ärztliche, psychiatrische, psycho-, sozial- oder suchttherapeutische Behandlungen, den Aufenthalt oder die Berufsausübung sowie zunehmend auch die Verpflichtung zur Teilnahme an speziellen Trainingsprogrammen (Verkehrserziehungskurse, Lernprogramme zum Training sozialer Fertigkeiten etc.). Mit solchen Weisungen wird bezweckt, die Risiken erneuter Straftaten zu mindern, sie haben also eine spezialpräventive Funktion. Weil Weisungen für den bedingt zu Entlassenden durchaus einschneidende Eingriffe darstellen können (z.B. die Anordnung einer Lohnverwaltung, das Verbot selbständiger Berufstätigkeit, die Wohnsitznahme in einem Heim), versteht es sich von selbst, dass bei der Erteilung von Weisungen der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten ist.
8.5
Widerruf der bedingten Entlassung
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Die bedingte Entlassung erfolgt unter der Auflage, dass sich der Strafentlassene während der Probezeit «bewährt». Bewährt er sich nicht, wird die bedingte Entlassung widerrufen. Dieser Widerruf hat zur Konsequenz, dass der Betroffene in den Strafvollzug zurückversetzt wird, um den auf Bewährung bedingt erlassenen Strafrest nachträglich doch noch zu verbüssen. Circa jede fünfte bedingte Entlassung muss in der Folge widerrufen werden.
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Welche Voraussetzungen müssen vorliegen, dass eine Bewährung während der Probezeit zu verneinen ist und deshalb ein Widerruf der bedingten Entlassung erfolgt? Der bedingt Entlassene hat sich vorab dann nicht bewährt, wenn er während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen begeht. Das mit der Beurteilung der neuen Tat befasste Gericht ist für den Widerruf zuständig (Art. 89 Abs. 1 StGB). Anders als vor der Revision des StGB von 2002 führt die neue Straftat indessen in keinem Fall obligatorisch zu einem Widerruf der bedingten Entlassung: Das Gericht hat dann auf einen Widerruf der bedingten Entlassung zu verzichten, wenn zu erwarten ist, der Verurteilte werde keine weiteren Straftaten begehen (Art. 89 Abs. 2 StGB). Entscheidend sind also die Bewährungsaussichten: Ein Widerruf ist dann anzuordnen, wenn sich die Bewährungsaussichten so verändert haben, dass der Vollzug der Reststrafe als wirksamere Reaktion erscheint.
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Erlauben günstige Bewährungsaussichten den Verzicht auf einen Widerruf, dann kann das Gericht den Verurteilten verwarnen, die Probezeit um höchstens die Hälfte der ursprünglichen Probezeit
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
verlängern sowie Bewährungshilfe anordnen und Weisungen erteilen (Art. 89 Abs. 2 StGB). Solche subsidiäre Massnahmen sind aber bloss dann zu treffen, wenn sie das Gericht unter dem Gesichtspunkt der Rückfallverhütung als erforderlich beurteilt. Der bedingt Entlassene hat sich während der Probezeit überdies auch dann nicht bewährt, wenn er sich einer angeordneten Bewährungshilfe entzogen oder erteilte Weisungen missachtet hat (Art. 89 Abs. 3 StGB in Verbindung mit Art. 95 Abs. 5 StGB). Auch in diesem Fall erfolgt ein Widerruf durch das Gericht bloss dann, wenn ernsthaft zu erwarten ist, der Betroffene werde weitere Straftaten begehen (Art. 95 Abs. 5 StGB). Unter diesen Voraussetzungen stehen ebenfalls subsidiäre Massnahmen zum Widerruf zur Verfügung: Verlängerung der Probezeit um die Hälfte; Aufhebung oder Anordnung von Bewährungshilfe; Änderung, Aufhebung oder Erteilung von Weisungen (Art. 95 Abs. 4 StGB). Widerrufe wegen Nichtkooperation mit der Bewährungshilfe oder Missachtung von Weisungen sind in der Praxis selten. Allerdings kann namentlich die Missachtung einer Weisung einen Widerruf durchaus rechtfertigen. Dies gilt etwa für einen alkoholabhängigen Strafentlassenen, der erwiesenermassen unter Alkoholeinfluss erheblich rückfallgefährdet ist, sich aber nicht weisungsgemäss einer Antabuskur unterzieht. Die Festlegungen zum Widerruf unterstreichen erneut die spezialpräventive Funktion des Instituts der bedingten Entlassung.
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Der Widerruf einer bedingten Entlassung ist von derart grosser Tragweite, dass er seit der Revision des StGB von 2002 in die Zuständigkeit des Gerichts fällt. Obwohl die für diesen Entscheid massgebliche Beurteilung der Bewährungsaussichten naturgemäss einen Ermessensentscheid darstellt, regelt das Bundesrecht den Widerruf verhältnismässig detailliert. Es hält auch fest, dass ein Widerruf der bedingten Entlassung nicht mehr verfügt werden darf, wenn seit Ablauf der Probezeit drei Jahre vergangen sind (Art. 89 Abs. 4 StGB) – der bedingt Entlassene hat während dieses mindestens dreijährigen Zeitraums ja nachträglich den Nachweis der Bewährung doch noch erbracht. Bei einer Rückversetzung in den Vollzug ist ferner eine während des Widerrufsverfahrens erstandene Untersuchungshaft auf den Strafrest anzurechnen (Art. 89 Abs. 5 StGB). Ist die Reststrafe zusammen mit einer – für die neue Straftat ausgefällten – unbedingten Freiheitsstrafe zu vollziehen, dann bildet das Gericht aus diesen beiden Strafen eine Gesamtstrafe, auf welche die Regeln der bedingten Entlassung erneut anwendbar sind (Art. 89 Abs. 6 StGB).
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277
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug 25
Da das Widerrufsverfahren bundesrechtlich nicht geregelt ist, kommt dafür kantonales Verfahrensrecht zur Anwendung. Unbestritten ist, dass der Betroffene auch hier Anrecht auf rechtliches Gehör hat, allerdings nicht im qualifizierten Sinne einer mündlichen Anhörung (BGE 98 Ib 175 f.). Kein schutzwürdiges Interesse an einem Widerruf hat das Bundesgericht im Übrigen dem Opfer zugebilligt (BGE 111 Ib 62).
8.6
Bedingte Entlassung ausländischer Staatsbürger
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Die oben beschriebenen Regeln zur bedingten Entlassung sind unabhängig von der Nationalität des Strafgefangenen und dessen Aufenthaltsstatus in der Schweiz anzuwenden. Bei der Anwendung des Bundesrechts ergeben sich für ausländische Straftäter allerdings spezielle Probleme.
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Da eine bedingte Entlassung einem ausländischen Staatsangehörigen keinen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung eröffnet (BGE 109 Ib 178 f.), kann dieser nach Art. 69 AuG aus der Schweiz ausgeschafft werden (die Nebenstrafe der Landesverweisung ist mit der Revision des StGB von 2002 abgeschafft worden, wird aber entsprechend der Revision des StGB von 2015 wieder eingeführt). Im Zeitpunkt des Entscheids über eine bedingte Entlassung lässt sich oft nicht abschliessend klären, ob die Bewilligung für einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erteilt wird. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, bleibt in vielen Fällen dennoch unklar, ob eine Ausschaffung aus der Schweiz auch tatsächlich vollstreckt werden kann. Denn der völkerrechtliche Grundsatz des «Non-refoulement» (das Verbot der Ausschaffung in ein Land, in welchem der Betroffene der Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt wäre; Art. 25 Abs. 3 BV) kann eine solche Massnahme ausschliessen. Häufig kann eine Ausschaffung auch deshalb nicht vollstreckt werden, weil sich die Herkunft des Ausländers nicht ermitteln lässt. Diese Ausgangslage hat zur Konsequenz, dass im Zeitpunkt des Entscheids über eine bedingte Entlassung häufig nicht (definitiv) feststeht, ob der ausländische Strafgefangene in der Schweiz verbleibt oder diese zu verlassen hat. In einigen Fällen kann die Bewährungsprognose für diese beiden Zukunftsszenarien im Übrigen unterschiedlich ausfallen: Ausländischen Strafgefangenen, deren Straftaten u.a. massgeblich mit Integrationsproblemen in der Schweiz zusammenhängen, muss bei einem Verbleib in der Schweiz u.U. eine völlig ungenügende Bewährungsprognose gestellt werden, während die Bewährungsaussichten im Falle einer Rückreise in den Heimat-
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
staat als durchaus ausreichend zu beurteilen wären. Unter solchen Voraussetzungen ist es zulässig, eine bedingte Entlassung an die Bedingung zu knüpfen, dass der Betroffene die Schweiz tatsächlich verlässt (Entscheid VerwGer/BE Nr. 20 632U vom 15. April 1999). Auch wenn davon auszugehen ist, der bedingt zu entlassende Ausländer werde die Schweiz verlassen, ist die Beurteilung der Bewährungsaussichten in einem anderen Staat mangels präziser Informationen häufig überaus unsicher. Dies dürfte allerdings nicht zu einer Benachteiligung des ausländischen Strafgefangenen führen. Schliesslich ist zu beachten, dass im Falle einer Nichtbewährung ausserhalb der Schweiz ein Widerruf der bedingten Entlassung nicht vollstreckbar wäre, was in Grenzfällen eine zurückhaltende Gewährung der bedingten Entlassung wohl rechtfertigen kann.
8.7
28
Zuständigkeit, Funktion und Organisation der Bewährungshilfe
Bewährungshilfe kann bei einer bedingten Entlassung angeordnet werden (ferner bei bedingten oder teilbedingten Verurteilungen, bei ambulanten Massnahmen sowie im Rahmen einer freiwilligen Sozialbetreuung), ist also ein sanktionenrechtliches Institut (LII 8.7). Die freiwillige Sozialbetreuung ausgenommen, erfolgten in den Jahren 2013/2014 rund zwei Drittel der Anordnungen von Bewährungshilfen im Zusammenhang mit einer bedingten Entlassung.
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Als «Bewährungshilfe» wird aber auch die für die Implementierung dieses Instituts zuständige Behörde bezeichnet. Diese Behörden sind von den Kantonen einzurichten. Sie sind in der Regel für jene unter Bewährungshilfe gestellten Personen zuständig, welche im betreffenden Kanton Wohnsitz haben (Art. 376 StGB). Die Kantone dürfen die Aufgabe der Bewährungshilfe auch privaten Organisationen übertragen (Art. 376 Abs. 1 StGB). Das ist im Kanton Waadt der Fall, wo die Bewährungshilfe durch die privatrechtliche Stiftung «Fondation vaudoise de probation (FVP)» sichergestellt wird. Doch wird auch im Kanton Waadt die Bewährungshilfe durch den Kanton subventioniert und steht unter dessen Aufsicht. In den übrigen Kantonen ist eine spezialisierte Verwaltungsbehörde für die Durchführung der Bewährungshilfe zuständig.
29a
279
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
LII 8.7 Literatur zur Bewährungs- und Entlassenenhilfe AEBERSOLD Peter: Neue Formen der Bewährungshilfe in der Schweiz. In: Arbeitsgruppe für Kriminologie (Hrsg.): Alternativen zu kurzen Freiheitsstrafen. Diessenhofen 1979, 97–110; AEBERSOLD Peter: Strafaussetzung und Bewährungshilfe in der Schweiz. In: Dünkel Frieder / Spiess Gerhard (Hrsg.): Alternativen zur Freiheitsstrafe. Freiburg i.Br. 1983, 96–109; AMBERG Konrad: Der Sozialdienst der Justizdirektion des Kantons Zürich – Seine Möglichkeiten und Grenzen. In: ZStrR 1983, 82–96; BAECHTOLD Andrea: Alter Wein in neuen Schläuchen? – Die Bewährungshilfe nach der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches. In: Bewährungshilfe des Kantons Bern (Hrsg.): 90 Jahre Bewährungshilfe im Kanton Bern. Bern 2001, 111– 116; BONARD Olivier: Les familles de prisoniers en Suisse romande. Diss. Lausanne 1987; BRUNI Hans-Ulrich: Switzerland. In: Van Kalmthout Anton M. / Derks Jack T. M.: Probation and Probation Services. A European Perspective. Nijmegen 2000, 543– 568; BRUNI Hans-Ulrich / FINK DANIEL: Die Bewährungshilfe in der Schweiz. In: SZK 2/2003, 51–53, 1/2004 55–60, 2/2004, 41–44; BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Bewährungshilfe 2001–2009. Kennzahlen zur Praxis und ihrer Entwicklung. Neuchâtel 2011; CANTON Rob: Probation. Working with offenders. Milton 2011; CORNEL Heinz: Übergangsmanagement im Prozess der Resozialisierung. In: Bewährungshilfe 2012, 286–308; CORNEL Heinz / DÜNKEL Frieder / PRUIN Ineke / SONNEN Bernd-Rüdeger / WEBER Jonas: Diskussionsentwurf für ein Landesresozialisierungsgesetz. Mönchengladbach 2015; DÉCARPES Pascal / DURNESCU Ioan : Where are we in resettlement research? In: EuroVista 2/2014, 47–67; DÉCARPES Pascal: Probation practices and Übergangsmanagement in Germany: state of play and challenges. In: Fergus McNeill / Ioan Durnescu (Hrsg.): Understanding penal practices. Abingdon 2014, 77–91; DÉCARPES Pascal / DURNESCU Ioan: Probation and community sanctions. In: Encyclopedia of Criminology and Criminal Justice. New York 2014, 3957–3963; FRAUENFELDER Jörg: Bewährungshilfe im Kanton Zürich. In: Bewährungshilfe des Kantons Bern (Hrsg.): 90 Jahre Bewährungshilfe. Bern 2001, 121–140; In: Baechtold Andrea / Senn Ariane (Hrsg.): Brennpunkt Strafvollzug. Regards sur la prison. Bern 2002, 77–90; HÄMMERLE Andrea: «Neustart» – Ein Modellversuch der Straffälligenhilfe. Aarau/Frankfurt a.M. 1980; KAWAMURAREINDL Gabriele: Bewährungshilfe im Spannungsfeld von Resozialisierung und Kontrolle. In: Handbuch Jugendkriminalität. Wiesbaden 2011, 493–505; KIPP Angelo: Bewährungshilfe als Menschenrechtsprofession. In: Soziale Arbeit 2/2014, 49–54; KÖTTER Lena Barbara: Private Elemente in der Strafvollstreckung. Zur Privatisierung von Bewährungshilfe, Gerichtshilfe und gemeinnütziger Arbeit. Frankfurt a.M./Berlin/Bern. 2004; MATT Eduard : Übergangsmanagement und der Ausstieg aus Straffälligkeit. Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe. Herbolzheim 2014 ; MAYER Klaus: Risikoorientierte Bewährungshilfe. In: Info bulletin – bulletin info 2/2008, 16–17; PRUIN Ineke: Interdisziplinäre Erkenntnisse zur Entlassung aus dem Strafvollzug und ihre Bedeutung für die deutsche Reformdiskussion. In: Strafrecht als interdisziplinäre Wissenschaft: 4. Symposium Junger Strafrechtlerinnen und Strafrechtler. Baden-Baden 2015, 139–167; STUDER Brigitte / MATTER Sonja (Hrsg.): Zwischen Aufsicht und Fürsorge. Die Geschichte der Bewährungshilfe im Kanton Bern. Bern 2011; VAN KALMTHOUT Anton M. / DURNESCU Ioan (Hrsg.): Probation in Europe. Nijmegen 2008; ZIMMERMANN Dieter: Verschuldung. In: Cornel Heinz et al. (Hrsg.): Handbuch der Resozialisierung. 3. Aufl. Baden-Baden 2009, 438–465.
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
«Mit der Bewährungshilfe sollen die betreuten Personen vor Rückfällen bewahrt und sozial integriert werden. Die für die Bewährungshilfe zuständige Behörde leistet und vermittelt die hiefür erforderliche Sozial- und Fachhilfe» (Art. 93 Abs. 1 StGB). Diese Umschreibung verdeutlicht unmissverständlich die spezialpräventive Funktion des Instituts der Bewährungshilfe. Sie hebt sich deutlich ab von der vor der Revision des StGB von 2002 massgeblichen gesetzlichen Vorschrift, welche ausdrücklich eine Beaufsichtigung der Betroffenen verlangte, insgesamt durch ein paternalistisches Verständnis geprägt war und entsprechend nicht als «Bewährungshilfe», sondern als «Schutzaufsicht» bezeichnet wurde. Das frühere Verständnis von Schutzaufsicht / Bewährungshilfe erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte dieses Instituts: Die Bewährungshilfe geht zurück auf die sich namentlich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in ganz Europa ausbreitenden, philantropisch und/oder religiös motivierten bürgerlichen Bewegungen der Straffälligenhilfe (in der Schweiz: Asketische Gesellschaft in Zürich 1786, in welcher der antiaufklärerische Schriftsteller Johann Caspar LAVATER eine massgebliche Rolle spielte; Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, welche im Jahre 1827 eine erste Bestandesaufnahme zur Straffälligenhilfe erstellte). Die Betreuung bedingt Entlassener im Sinne der heutigen Bewährungshilfe fand erst später einen Niederschlag in gesetzlichen Regelungen (erstmals im Kanton Sankt Gallen 1838 und – in verbindlicher Form – im Kanton Aargau 1868; in anderen Kantonen – sogar im Kanton Zürich – erfolgte eine gesetzliche Regelung der Schutzaufsicht erst im Zeitpunkt des Inkrafttretens des StGB) und wurde auch im StGB von 1937 verankert. Heute haben sämtliche Kantone (mit Ausnahme von Appenzell Innerrhoden) die Bewährungshilfe auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe geregelt, teilweise detailliert in einer eigenständigen Verordnung, teilweise bloss summarisch.
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Heute sind die Bewährungshilfen in fast allen Kantonen spezialisierte, in die Strafrechtspflege eingebundene Sozialdienste. Im Kanton Bern z.B. stehen der Abteilung Bewährungshilfe und alternativer Strafvollzug (ABaS), welche die Dienstleistungen Bewährungshilfe, gemeinnützige Arbeit und Electronic Monitoring erbringt, rund 50 Mitarbeitende zur Verfügung, welche in vier Regionalstellen (Bern, Biel, Thun und Burgdorf) eingesetzt werden. Die Mitarbeitenden der Bewährungshilfen sind überwiegend ausgebildete Sozialarbeiter. Die Fallbelastung der einzelnen Bewährungshelfer und -helferinnen ist im Kanton Bern vertretbar: Im Durchschnitt entfielen im Jahre 2014 auf einen Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin der Bewährungshilfe 46 Klienten.
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281
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
RII 8.7 Richtlinien der Strafvollzugskonkordate zur Bewährungshilfe Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz Richtlinien für die Zusammenarbeit zwischen der Bewährungshilfe, den Vollzugsinstitutionen und den Einweisungsbehörden vom 4. November 2005 Strafvollzugskonkordat der Ostschweiz Richtlinien über die Bewährungshilfe bei bedingter Entlassung vom 8. April 2011 Strafvollzugskonkordat der lateinischen Schweiz Beschluss betreffend Übertragung der Zuständigkeit für die Bewährungshilfe und für Verhaltensregeln unter den Kantonen der lateinischen Schweiz vom 24. September 2007
In einigen Kantonen (AG, BE, BS, FR, TG, VD, ZH) erfolgt die Betreuung der unter Bewährungshilfe gestellten Personen überdies durch zusätzliche «freie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen», also durch ohne Entgelt tätige Laien, welchen unter Anleitung und Aufsicht der professionellen Sozialarbeiter einzelne Betreuungsmandate übertragen werden. Im Kanton Bern stehen rund 200 solcher freier Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Einsatz. 32
Bei ihrer Aufgabenerfüllung sind die Bewährungshilfen nicht bloss auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen. Sie nutzen zunehmend auch Angebote anderer staatlicher und privater Dienstleister (z.B. örtliche Sozialdienste, Suchtberatungsstellen). In einzelnen Bereichen besteht eine vertragliche Zusammenarbeit mit privaten Organisationen; im Kanton Bern namentlich mit der Felber-Stiftung, welche der Bewährungshilfe für Strafentlassene mehr als zwanzig Wohnungen zur Verfügung stellt und Beschäftigungsmöglichkeiten in einer eigenen Werkstatt anbietet.
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Obwohl die Bewährungshilfen ihrer Klientele vergleichbare Dienstleistungen anbieten wie andere Sozialdienste, bleiben sie doch ausdrücklich in die Strafrechtspflege eingebunden: Sie sind namentlich verpflichtet, den Behörden der Strafrechtspflege über betreute Personen Bericht zu erstatten (Art. 93 Abs. 3 und Art. 95 StGB), wogegen Auskünfte an Dritte richtigerweise an einschränkende Voraussetzungen geknüpft sind (Art. 93 Abs. 2 StGB). Die organisatorische Einbettung der Bewährungshilfe in die Strafrechtspflege erleichtert im Übrigen ihre Zusammenarbeit mit den Vollzugsbehörden und den Vollzugseinrichtungen («Übergangsmanagement»; vgl. DII 8.8c).
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
Einer minimalen Abstimmung der Tätigkeit der Bewährungshilfen dienen die von den Strafvollzugskonkordaten erlassenen konkretisierenden, aber leider nicht einheitlichen Richtlinien (RII 8.7). Für die zwischenkantonale Koordination von Bedeutung sind ferner zwei Vereinigungen: die Schweizerische Vereinigung Bewährungshilfe und Soziale Arbeit in der Justiz (prosaj) sowie die Schweizerische Leiterund Leiterinnenkonferenz der Bewährungshilfe (SKLB).
8.8
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Betreuungsaufgaben und Programme der Institution der Bewährungshilfe
Die der Bewährungshilfe übertragene Aufgabe, ihrer Klientele bei der sozialen Integration behilflich zu sein und sie vor Rückfällen zu bewahren, setzt vorab Hilfeleistungen in essenziellen Lebensbereichen voraus. Dazu gehört die Beschaffung einer Unterkunft, sei dies auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt, in einer Sozialwohnung, in von der Bewährungshilfe verwalteten Wohnungen, in betreuten Wohnungen oder in einem Wohnheim. Denn unter dem Gesichtspunkt der Kriminalitätsverhütung wäre es offensichtlich nicht zu verantworten, einen Strafgefangenen «auf die Gasse» zu entlassen.
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Mit Blick auf die Rückfallverhütung ebenso entscheidend ist die Beschaffung von Arbeit, damit der Strafentlassene in die Lage versetzt wird, eigenständig für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Angesichts der Arbeitsmarktlage und der beschränkten beruflichen und sozialen Kompetenzen vieler Strafentlassener ist deren Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt allerdings häufig ein unrealistisches Ziel. Unter solchen Voraussetzungen muss sich die Bewährungshilfe damit begnügen, einen Platz in einem Programm für Arbeitslose, einem niederschwelligen Arbeitsprogramm für beschränkt Arbeitsfähige oder in einer geschützten Werkstätte zu vermitteln. Auch wenn der Strafentlassene damit nicht in die Lage versetzt wird, selbst für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, erhält er so doch eine geregelte Tagesstruktur, welche sich rückfallhemmend auswirkt.
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Eine dritte, grundlegende Betreuungsaufgabe der Bewährungshilfe liegt in der Stabilisierung der finanziellen Verhältnisse der Strafentlassenen. Wo diese mangels eines Arbeitseinkommens nicht in der Lage sind, für ihren Unterhalt selbst aufzukommen, unterstützt sie die Bewährungshilfe in der Beschaffung von Unterstützungsleistungen aller Art (Leistungen der sozialen Fürsorge, Sozialversicherungsleistungen etc.). Ist ein Strafentlassener (vorerst) nicht in der Lage, seine finanziellen Ressour-
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283
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
cen selbständig zu verwalten, kann die Bewährungshilfe die Lohnverwaltung übernehmen. Und für verschuldete Strafentlassene kann sie eine Unterstützung bei einer Schuldensanierung anbieten. Im Kanton Zürich liegt die durchschnittliche Verschuldung der Klienten der Bewährungs- und Vollzugsdienste zwischen 70’000 und 80’000 Franken, wobei fast die Hälfte der Verschuldung auf die Delinquenz zurückzuführen ist. Zum Zwecke der Schuldensanierung verfügen einige wenige Kantone über meist kleinere Sanierungsfonds; ferner können zu diesem Zwecke Darlehen der Schweizerischen Stiftung für die Hilfe an Straffällige und ihre Familien beschafft werden (DII 8.8a). 38
Abgesehen von diesen sozialpraktischen Dienstleistungen bedingt eine auf soziale Integration und Rückfallverhütung ausgerichtete Bewährungshilfe in vielen Fällen auch – individuell sehr unterschiedliche – Beratungsleistungen. Hier geht es, neben einer häufig erforderlichen Beratung über Fragen der Gesundheitsvorsorge, vielfach um Unterstützungen in Beziehungsfragen: Umgang mit Konflikten in bestehenden – z.B. familiären oder beruflichen – Beziehungen oder Reaktivierung früherer und Aufbau neuer Beziehungen. Beratungsleistungen können auch die Vermittlung von Therapien und deren Stützung betreffen, namentlich bei suchtmittelabhängigen Strafentlassenen. Erst in geringem Masse beraten und begleiten die Bewährungshilfen dagegen ihre Klienten bei den Bemühungen zur persönlichen Tataufbereitung und zur Wiedergutmachung. Solche Beratungsleistungen setzen ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Bewährungshelfer und seinem Klienten und damit eine dauerhafte und verlässliche Beziehung voraus.
39
Die Vertrauensbeziehung zwischen Bewährungshelfer und Strafgefangenem wird nicht bloss durch das Amtsgeheimnis (Art. 320 StGB) geschützt, sondern in den Art. 93 ff. StGB auch im Verkehr mit anderen Behörden der Strafrechtspflege. Art. 93 Abs. 2 StGB bekräftigt vorab den Grundsatz, dass in der Bewährungshilfe tätige Personen Dritte über die persönlichen Verhältnisse ihrer Klientele nur orientieren dürfen, «wenn die betreute Person oder die für die Bewährungshilfe zuständige Person schriftlich zustimmt» (letzteres bestimmt das kantonale Recht). Die Behörden der Strafrechtspflege können bei der Bewährungshilfe zwar einen Bericht über eine betreute Person einholen (Art. 93 Abs. 3 StGB), Gerichte und Strafvollzugsbehörden namentlich vor einem Entscheid über die Anordnung von Bewährungshilfe oder Weisungen (wozu die Betroffenen schriftlich Stellung nehmen können; Art. 95 Abs. 3 StGB). Mit diesen Regeln wird angestrebt, sowohl dem Interesse des Vertrauensschutzes als auch den Informationsbedürfnissen der Behörden der Strafrechtspflege angemessen gerecht zu werden. 284
8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
DII 8.8a Schuldensanierung – Die Schweizerische Stiftung für die Hilfe an Straffällige und ihre Familien Stiftungszweck Die Ende 1981 gegründete Stiftung bezweckt, «Straffälligen eine die Eingliederung in die Gesellschaft fördernde, wirksame Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren. Deshalb unterstützt sie die Tilgung der Gesamtschulden von Straffälligen mit zinslosen, rückzahlbaren Darlehen, bei schweren Notlagen auch durch nicht rückzahlbare Unterstützungsleistungen». Durchführung der Schuldensanierung «Anfangs wird geklärt, ob der Straffällige über eine hinreichende Motivation und den nötigen Durchhaltewillen verfügt, um die Dauer einer Schuldensanierung durchzustehen. Eine Sanierung verlangt je nach persönlicher Situation, dass der Straffällige für die Schuldentilgung bis zu drei Jahre einsetzen und in dieser Zeit mit einem minimalen persönlichen Budget auskommen muss. Danach werden die Gläubiger und die geschuldeten Beträge exakt erfasst. Die Gläubiger werden um Stundung ihrer Guthaben bis zum Abschluss der Sanierungsarbeiten ersucht. Für den Schuldner wird ein detailliertes Budget erstellt, aus dem die maximale Höhe der Rückzahlungsrate ermittelt wird. Mit den Gläubigern wird sodann eine Dividende auf ihren Guthaben ausgearbeitet. Die Höhe hängt vom Ausmass der Verschuldung und der finanziellen Möglichkeit des Schuldners ab. Erfahrungsgemäss sollte ein Straffälliger in der Lage sein, seine Darlehensschuld innert drei Jahren abzutragen. Kann mit den Gläubigern ein Einvernehmen über die Dividende erzielt werden und stimmt die Stiftung dem Sanierungsplan zu, wird die Sanierung vertraglich geregelt: Die Gläubiger erhalten unverzüglich ihre Nachlassdividende und der Straffällige beginnt mit den Rückzahlungen.» Tätigkeit der Stiftung 1982–2011 Im Verlaufe der ersten drei Jahrzehnte der Stiftungstätigkeit sind «582 Gesuche um eine finanzielle Unterstützung von Schuldensanierungen eingegangen. In 432 Fällen hat die Stiftung ein Darlehen bewilligt und dieses zur Schuldensanierung eingesetzt». Dies entspricht einer Bewilligungsquote von 75%. «Die Stiftung hat für die Ablösung von Schulden bisher Darlehen von rund 4 Mio. Franken ausgerichtet. Damit konnte eine Schuldensumme von ca. 23.9 Mio. Franken abgelöst werden. Die den Gläubigern ausgerichtete Dividende beträgt somit im Durchschnitt 20% der ursprünglichen Guthaben. In Einzelfällen kann die Dividende aber auch nur 10% oder bis zu 90% betragen. Die Höhe der im Einzelfall ausgerichteten Darlehen ist sehr unterschiedlich. Meist geht es um Beträge zwischen 5’000 und 10’000 Franken. In Einzelfällen werden auch Darlehen von mehr als 20’000 Franken ausgerichtet. Die Verschuldung liegt in der Regel zwischen 20’000 und 80’000 Franken. » Amortisation der Darlehen «Die Darlehen werden in monatlichen Raten zurückbezahlt. Die Höhe dieser Raten wird in Abhängigkeit vom Einkommen, den finanziellen Verpflichtungen sowie des zu amortisierenden Darlehens festgelegt. In den meisten Fällen bewegen sich die Raten zwischen 250 und 500 Franken pro Monat. In wenigen Fällen wurden monatliche Rückzahlungen von nur 50 Franken akzeptiert, in anderen Fällen aber
285
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug auch Tilgungsraten von 1’200 Franken pro Monat verlangt. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass etliche verschuldete Straffällige über ein geringes Einkommen verfügen. Familien mit mehreren Kindern müssen gelegentlich mit kaum mehr als 4’000 Franken pro Monat auskommen. Die Mehrheit der Darlehen wird innerhalb einer Periode von ein bis drei Jahren amortisiert. In der Praxis verlängert sich die Rückerstattungsperiode indessen oft, weil unvorhersehbare Ereignisse – Verlust des Arbeitsplatzes, Invalidität, Familiennachwuchs, Scheidung – zeitweilig oder auf Dauer die Rückerstattung der vereinbarten Rate verunmöglichen. In solchen Fällen kann die Stiftung die Rückzahlungsraten herabsetzen, in Ausnahmefällen die verbleibende Schuld auch erlassen. Wenn eine Rückzahlung aussichtslos erscheint muss die Stiftung den ausstehenden Betrag abschreiben. Wird ein Darlehen indessen ohne Not nicht getilgt, ist die gesuchstellende Instanz gehalten, eine Betreibung einzuleiten.» Quelle Homepage der Schweizerischen Stiftung für die Hilfe an Straffällige und ihre Familien http://www.hilfeanstraffaellige.ch/ (Stand September 2015). 40
Bei den durch Bewährungshilfe zu erbringenden Leistungen ist zu beachten, dass diese Angebote (und keine Zwangsmittel) darstellen. Solche Angebote sollen aber nur dann und nur soweit gemacht werden, als der Strafentlassene tatsächlich auf eine Unterstützung durch Dritte angewiesen ist. Denn die Tätigkeit der Bewährungshilfe darf im Interesse der sozialen Integration und Rückfallverhütung nicht zu neuen Abhängigkeiten führen.
41
Die oben beschriebenen einzelfallbezogenen Betreuungsleistungen der Bewährungshilfe werden seit Beginn des 21. Jahrhunderts vereinzelt durch spezielle Programme ergänzt, welche sich an spezielle Gruppen von Straffälligen richten. Solche Programme wurden namentlich im Kanton Zürich entwickelt und umgesetzt, so das Pilotprojekt «Bewährungshilfe mit gefährlichen Straftätern» und die sog. «Lernprogramme» (DII 8.8b). Von diesen Programmen, welche besser als die traditionellen Leistungen der Bewährungshilfe evaluierbar sind, wird eine erhöhte Effizienz erwartet. Deshalb ist damit zu rechnen, dass künftig zunehmend derartige Programme angeboten werden. Auf einzelfallbezogenen Betreuungsleistungen wird allerdings auch in Zukunft nicht völlig verzichtet werden können.
41a
Zudem sind in einigen Kantonen in den letzten Jahren Konzepte einer risiko-orientierten Bewährungshilfe eingeführt worden (vgl. Abschnitt 5, N. 13a und DII 5.2).
286
8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
DII 8.8b Zürcher Lernprogramme Was sind Lernprogramme? Die Lernprogramme der Bewährungshilfe sollen die Teilnehmenden darin unterstützen, zukünftige Risikosituationen für delinquentes Verhalten rückfallfrei zu bewältigen. Dabei verfolgt ein kognitiv-verhaltensorientiertes Lernprogramm konkrete, klar umschriebene Verhaltensziele. Die Teilnehmenden sollen problematische Denk- u. Verhaltensweisen verändern. Während des strukturierten Trainingsablaufs werden ihre bisherigen Einstellungen u. Überzeugungen hinterfragt, die Motivation zur Verhaltensänderung gefördert sowie kognitive, soziale u. Selbstregulations-Fertigkeiten gefördert u. erweitert. In deliktorientierten Lernprogramme beziehen sich alle Übungen strikt auf das jeweilige Programmthema (z.B. Gewalt gegenüber Familienmitgliedern). Erfolgreiche Lernprogramme verwenden Methoden, die von den Teilnehmern eine aktive Beteiligung verlangen u. eine passive Konsumhaltung verhindern (JUSTIZVOLLZUG KANTON ZÜRICH /
BEWÄHRUNGS- UND VOLLZUGSDIENSTE 2006, 2–3). «Lernprogramme werden für zwei unterschiedliche Zielgruppen angeboten: zu einer bedingten Strafe Verurteilte und Strafgefangene. Während bei bedingt Verurteilten die Deliktorientierung im Vordergrund steht, wird bei den Strafgefangenen auf die Verbesserung sozialer Fertigkeiten fokussiert» (ERISMANN 2003, 44). Deliktorientierte Lernprogramme bei bedingten Freiheitsstrafen Angeboten werden die folgenden Programme, welche 10–16 Gruppensitzungen à 2 bis 2½ Std. sowie 3 Einzelsitzungen umfassen: risikobereite Verkehrsteilnehmende (START); alkoholauffällige Verkehrsteilnehmende (TdV); Training «Partnerschaft ohne Gewalt» (PoG) (Homepage Justizvollzug ZH). Lernprogramme für Strafgefangene und Strafentlassene Diese «Trainings für Insassen und Austretende von Strafanstalten» (TRIAS) werden in zwei Phasen angeboten, die 6 Sitzungen à 3½ Std. umfassen: – TRIAS Phase I: Probleme lösen, Konflikte bewältigen. Während des Vollzugs (durchgeführt in Strafanstalten) – TRIAS Phase II: Vorstellungsgespräche gut führen. Vor dem Aus-/Übertritt in die Freiheit oder ins Arbeitsexternat (durchgeführt bei den Bewährungs- und Vollzugsdiensten Zürich) (Homepage Justizvollzug ZH > TRIAS) Durchgeführt werden TRIAS-Programme derzeit in versch. Anstalten des Kantons Zürich (Strafanstalt Pöschwies, der ihr angegliederten Kolonie Ringwil (heute: Vollzugszentrum Bachtel), der Einrichtung für Halbgefangenschaft in Winterthur, der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon (heute: Massnahmenzentrum Uitikon) und der im Kanton Graubünden gelegenen Strafanstalt Realta (ERISMANN 2003, 46). Beispiel eines Lernprogramms: TRIAS Phase II Im Vordergrund steht das erfolgreiche Bestehen eines Bewerbungsgesprächs sowie anderer anforderungsreicher Gesprächssituationen. Konkret werden folgende Themen behandelt (Vermittlung theoretischer Grundlagen, Rollenspiele, Einzelarbeit, Gruppendiskussionen): selbstsicher auftreten; eigene Stärken und Schwächen darlegen; Interesse signalisieren; Lücken im Lebenslauf positiv darstellen; Konflikte ansprechen; Richtig verhandeln (ERISMANN 2003, 47). Quellen ERISMANN Martin: Zürcher Lernprogramme – eine neue Interventionsform in der Strafjustiz. In: SZK 2/2003, 41–50; JUSTIZVOLLZUG KANTON ZÜRICH (Hrsg.): Lernprogramme als neue Interventionsform in der Strafjustiz. Schlussbericht zum Modellversuch 1999–2003. Kurzfassung. Zürich 2006; www.justizvollzug.zh.ch unter Bewährungs- und Vollzugsdienste > Bewährungshilfe > Lernprogramme).
287
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
DII 8.8c Übergangsmanagement Seit etwa 10 Jahren wird europaweit diskutiert, wie Strukturen und Konzepte für die Entlassung aus dem Strafvollzug so gestaltet werden können, dass sie die Wiedereingliederung der Haftentlassenen stärker fördern als bisher. Eine solche Begleitung des Entlassungsprozesses wird im deutschen Sprachraum als «Übergangsmanagement» bezeichnet. Dieser Fachbegriff wurde zunächst in der Pädagogik verwendet, wo er die Gestaltung des Übergangs von Jugendlichen zwischen Schule und Arbeitsmarkt beschreibt, der Entscheidungen, Netzwerke und besondere Fähigkeiten (wie das Erstellen von Bewerbungsunterlagen) erfordert und sich manchmal schwierig gestalten kann. Der Idee der Unterstützung in einer Übergangsphase folgt auch das Übergangsmanagement im Kontext von Strafvollzug mit dem Ziel der Reintegration von ehemaligen Gefangenen. Typischerweise sind Gefangene in mehreren Lebensbereichen problembelastet. Ihre familiären Bindungen sind häufig instabil und regelmäßig weisen sie erhebliche Defizite im Bildungsbereich auf. Im Hinblick auf ihre Wiedereingliederung nach der Entlassung sind individuelle Problemlagen wie fehlende Arbeit, Drogen- und Alkoholabhängigkeiten, Schulden und fehlender Wohnraum möglichst schon aus der Haft heraus zu bearbeiten und erfordern häufig eine Weiterbetreuung nach der Entlassung. Die Umsetzung vernünftiger Konzepte wird häufig durch organisatorische und strukturelle Vorgaben erschwert. Nach der traditionellen Struktur übernimmt im Wesentlichen der Vollzug die Entlassungsvorbereitung, und seine Zuständigkeit endet am Tag der Haftentlassung. Der häufig komplexe Hilfebedarf vieler Gefangener kann durch den engen Personalschlüssel oft nicht ausreichend bearbeitet werden. Eine staatliche Weiterbetreuung nach der Entlassung ist gesetzlich nur vorgesehen, wenn die oder der Gefangene vorzeitig entlassen und für die Probezeit der Bewährungshilfe unterstellt wird. Die restlichen Haftentlassenen – also diejenigen, die nicht vorzeitig entlassen werden, nicht der Bewährungshilfe unterstellt werden oder etwa auch alle aus der Untersuchungshaft entlassenen Gefangenen – haben sich in der Regel mit ihren Problemen an die Institutionen und Behörden zu wenden, die auch für den «Normalbürger» zuständig sind. Auch wenn es grundsätzlich zu begrüssen ist, Haftentlassene nach ihrer Entlassung aus der Strafanstalt wie ganz normale Bürger zu behandeln, sind die allgemeinen Institutionen und Behörden in den Gemeinden mit dem regelmässig komplexen Hilfebedarf dieser Klientel häufig überfordert; und auch die Haftentlassenen verlieren schnell den Ueberblick oder sind intellektuell überfordert, wenn sie an unterschiedliche Behörden verschiedenen Anträge stellen müssen. In der Schweiz gibt es bereits einige Veränderungen bei der Betreuung und Unterstützung von Haftentlassenen, wie zum Beispiel die Ausdehnung der Dienstleistungen der Bewährungshilfe für nicht unter Bewährungshilfe gestellte Entlassene (siehe Abschnitt 8.9) oder die Zürcher Lernprogramme (siehe Abschnitt 8.8). Zahlreiche weitere Initiativen befassen sich ebenfalls mit der Gestaltung der Übergänge, mit dem Ziel, verbesserte Abstimmungen zu erreichen und die Haftentlassenen bei der Bearbeitung ihrer Problemfelder zu unterstützen. Im Kanton Zürich startete am 1. Juli 2015 eine neue Art von Fallführung mit CaseManagement-Ansatz zur besseren Gestaltung des Übergangs vom Vollzug in die Freiheit bei so genannten Risikostraftätern. Von Beginn des Strafvollzugs an besteht diesem Konzept zufolge eine doppelte Fallzuständigkeit von Vollzug
288
8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe und Bewährungshilfe. Alle relevanten Informationen werden automatisch weitergegeben. Unmittelbar vor der Entlassung wird die Zusammenarbeit intensiviert: Fünf Monate vor der Entlassung wird der Gefangener gefragt, wohin er entlassen werden möchte. Drei bis vier Monate vor der Entlassung wird ein Vorab-Entscheid über die bedingte Entlassung von der Vollzugsbehörde erlassen. Gleichzeitig wird bereits ein Bewährungshelfer ernannt und unter Berücksichtigung der Akten eine erste gemeinsame Fallbesprechung zwischen Vollzug und dem zuständigen Bewährungshelfer durchgeführt. Zwei bis drei Monate vor der Entlassung finden eine persönliche Anhörung des Gefangenen und eine Übergabebesprechung mit allen involvierten Arbeitspartnern statt, an welcher der Gefangene beteiligt wird. Einen Monat vor der Entlassung ergeht die definitive Entscheidung über die bedingte Entlassung mittels Verfügung. Bis zum Entlassungstermin wird die Zusammenarbeit mit allen Institutionen ausserhalb intensiviert und ein tragfähiges, verbindliches «Helfernetz» für die Zeit nach der Entlassung aufgebaut. Nach der Entlassung ist der zuständige Vollzugsmitarbeiter beim ersten Gespräch mit der Bewährungshilfe in Freiheit dabei, um Diskrepanzen auflösen zu können. Im Fall eines kritischen Verlaufs kann jederzeit während der Dauer der Bewährungsunterstellung eine gemeinsame Besprechung anberaumt werden. Anregungen für eine Gestaltung des Übergangsmanagements vermittelt der Blick in andere europäische Staaten: - In den Niederlanden wurde 2005 ein Nachsorgekonzept entwickelt, das alle Gefangenen unabhängig von einer Bewährungsunterstellung erfasst. Das «Project Nazorg ex-gedetineerden / gemeenteleijke contactpersonen nazorg» ist eine Kooperationsvereinbarung zwischen den Gefängnissen und den Gemeinden, die sich in erster Linie auf die durchgängige Betreuung und die dafür notwendige Übermittlung relevanter Informationen konzentriert. Alle Gemeinden haben Ansprechpartner für die Betreuung von Haftentlassenen benannt, die von den Haftanstalten frühzeitig eingebunden werden und die für die Bereiche Wohnung, Arbeit, Papiere und Gesundheit zuständig sind. Die Pflege dieses Netzwerkes und die Koordination regelmäßiger Treffen (zweimal jährlich) der Kontaktpersonen mit den zuständigen Mitarbeitern der Haftanstalten werden aus dem Justizministerium gesteuert. - In Dänemark existiert mit dem «køreplan for god losladelse» eine verbindliche Kooperationsvereinbarung aller an der Haftentlassung beteiligten Institutionen innerhalb und ausserhalb des Vollzugs. Hervorzuheben ist hier der Grundsatz, dass eine Organisation ihre Zuständigkeit und Verantwortung für den Haftentlassenen erst dann verliert, wenn die nächste zuständige Organisation die Übernahme bestätigt hat. Auch hier werden die Ansprechpartner in den Kommunen durch eine verantwortliche Person aus dem Justizministerium betreut und das Netzwerk gepflegt. - In Deutschland, das aufgrund der föderalen Struktur ähnlich wie die Schweiz sehr unterschiedliche Konzepte zum Übergangsmanagement bereithält, ist die Umgestaltung der Verantwortlichkeiten in Mecklenburg-Vorpommern hervorzuheben: hier wurde per Gesetz ein gesondertes „Landesamt für ambulante Straffälligenarbeit“ eingerichtet, das die Koordination zwischen Vollzug und Bewährungshilfe regelt und für Hilfen nach der Entlassung aus der Haft verantwortlich ist. Konkrete Vorgaben für die Zusammenarbeit (wie zum Beispiel der Zeitpunkt der ersten Kontaktaufnahme oder Vorgaben für die Informationsweitergabe) sind in einem «Qualitätshandbuch» geregelt.
289
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug Positive Erfahrungen werden vor allen Dingen aus Dänemark mit Blick auf Übergangswohnheime berichtet, in denen Haftentlassene zur Wiedereingliederung mit nicht straffälligen Menschen oder sogar mit ihren Familien zusammenleben. Aufgrund der limitierten Plätze in diesen Einrichtungen gelangt jedoch nur ein Bruchteil der Haftentlassenen mit diesen Konzepten in Kontakt (in der Schweiz werden Übergangswohnheime für Haftentlassene beispielsweise in Zürich durch das «Team 72» oder in Bern durch das «Haus Felsenau» betrieben). Quellen (siehe auch LII 8.7) KJAER MINKE Linda: The Effects of Mixing Offenders with Non-Offenders: Finding from a Danish Quasi-Experiment. In: Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention 1/2011, 80–99; SCANDINAVIAN RESEARCH COUNCIL FOR CRIMINOLOGY: Losladelse. Planlaegning og samarbejde i Danmark, Norge og Sverige. Aarhus 2013; UK MINISTRY OF JUSTICE: Transforming Rehabilitation: a summary of evidence on reducing reoffending. London 2013; WIRTH Wolfgang: Übergangsmanagement zur Arbeitsmarktintegration: Erfahrungen und Perspektiven im nordrhein-westfälischen Strafvollzug. In: DBH-Materialien Nr. 68. Köln 2012, 121–138.
8.9
Durchgehende Betreuung und Entlassenenhilfe
42
Die Behörden der Bewährungshilfe haben ihre Unterstützungsangebote seit vielen Jahrzehnten über die bundesrechtlichen Verpflichtungen ausgedehnt: Neben den bedingt Entlassenen und den zu einer bedingten Freiheitsstrafe Verurteilten werden auch Personen betreut, welche noch nicht verurteilt wurden oder sich noch in einer Vollzugsanstalt aufhalten. Überdies auch Personen, welche nach einer bedingten Entlassung oder ohne bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe entlassen wurden, ohne förmlich unter Bewährungshilfe gestellt zu werden. Dieser Aufgabenerweiterung versucht das StGB teilweise Rechnung zu tragen, indem die Kantone verpflichtet werden, für die Dauer des Strafverfahrens und des Strafvollzugs eine soziale Betreuung sicherzustellen, welche freiwillig in Anspruch genommen werden kann (Art. 96 StGB).
43
Das in den 1970er-Jahren im Kanton Zürich entwickelte Konzept der durchgehenden Betreuung hat sich mittlerweile in allen Kantonen weitgehend durchgesetzt. Allerdings bestehen in der tatsächlichen Anwendung des Konzeptes erhebliche Unterschiede. Das Konzept besagt, dass die Bewährungshilfe Unterstützung und Betreuung vorerst ohne formelles Mandat bereits im Stadium der Untersuchungshaft anbietet und während der Freiheitsentziehung und nach einer bedingten Entlassung bis zur definitiven Entlassung fortsetzt. Abgesehen davon, dass Untersuchungsgefängnisse in der Regel über keine oder nicht zureichend ausgestattete Sozialdienste verfügen und gerade in dieser –
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8. Bedingte Entlassung, Bewährungs- und Entlassenenhilfe
für Inhaftierte besonders belastenden – Phase eine sozialarbeiterische Unterstützung häufig besonders dringlich ist, erleichtert ein frühzeitiger Kontakt mit Straffälligen den Aufbau einer tragfähigen Beziehung zum Bewährungshelfer. Während des Vollzugs der Freiheitsstrafe wird der Kontakt nötigenfalls über einen freien Mitarbeiter fortgesetzt und im Vorfeld einer bedingten oder definitiven Entlassung mit Blick auf die konkrete Entlassungsvorbereitung intensiviert («Übergangsmanagement»; vgl. DII 8.8c). Obwohl das Bundesrecht nicht vorschreibt, dass die Bewährungshilfen ihre Dienstleistungen auch den nicht unter Bewährungshilfe gestellten bedingt oder definitiv Entlassenen öffnen, hat dies eine knappe Minderheit der Kantone getan. Aber auch dort, wo eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage dafür fehlt, kann die Bewährungshilfe im Einzelfall gelegentlich dennoch in Anspruch genommen werden. Im Übrigen sehen einzelne Kantone (etwa AG, TG, FR) sogar ausdrücklich vor, dass auch Angehörige der Straffälligen die Bewährungshilfe in Anspruch nehmen können. Im Interesse der spezialpräventiven Funktion der Bewährungshilfe sind derartige Erweiterungen ihres Mandates zweifelsfrei zu begrüssen.
8.10
44
Zusätzliche Aufgaben der Bewährungshilfe
In etlichen Kantonen werden der Bewährungshilfe zusätzliche Aufgaben übertragen, welche mit ihrer gesetzlichen Kernaufgabe unmittelbar nichts zu tun haben. Diese Erweiterung des Aufgabenbereiches kantonaler Institutionen der Bewährungshilfe erfolgt im Bestreben, die besonderen Kompetenzen der Bewährungshilfen im Umgang mit Straffälligen optimal zu nutzen. Einzelne Bewährungshilfen sind deshalb auch mit der Kontrolle von richterlichen Weisungen beauftragt, auch wenn keine Bewährungshilfe angeordnet wurde, andere mit der Durchführung ambulanter Massnahmen (Abschnitt 9.3). In vielen Kantonen sind die Bewährungshilfen überdies für den Vollzug nicht freiheitsentziehender Sanktionen verantwortlich, also für die gemeinnützige Arbeit (EII 3.1) und/oder das Electronic Monitoring (Abschnitt 5.4.8).
45
Weil den einzelnen kantonalen Bewährungshilfen unterschiedliche Aufgaben übertragen sind, lässt sich die Zahl der von diesen in irgendeiner Form betreuten Personen nicht präzise ermitteln. Vergleiche zwischen den einzelnen Kantonen sind aus diesem Grunde irreführend. Die Bewährungshilfen betreuten im Jahre 2014 3’570 Personen mit
46
291
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
einem richterlichen Bewährungshilfe-Mandat (ohne Gemeinnützige Arbeit und Electronic Monitoring), einschliesslich der freiwilligen Betreuungen sind es rund 3’970 Personen. Damit werden von den Institutionen der Bewährungshilfen weit mehr Personen erfasst, als in irgendeiner Form im Freiheitsentzug stehen. Die Gesamtaufwendungen für die Bewährungshilfen betragen demgegenüber weniger als 10% der Aufwendungen für die strafrechtliche Freiheitsentziehung.
292
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
9.
Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
9.1
Allgemeines Massnahmen- und Massnahmenvollzugsrecht
LII 9.1 Literatur zum allgemeinen Massnahmen- und Massnahmenvollzugsrecht ALBRECHT Peter: Die allgemeinen Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender Massnahmen gegenüber erwachsenen Delinquenten. Basel/Frankfurt 1981; HEER Marianne: Vor Art. 56–65, in BSK StGB, 3. Aufl. Basel 2013; HEER Marianne: Einige Schwerpunkte des neuen Massnahmenrechts. In: ZStrR 2003, 376– 422; MAIER Philipp / URBANIOK Frank: Die Anordnung und praktische Durchführung von Freiheitsstrafen und Massnahmen. Mit Behandlungkonzepten für erwachsene Straftäter nach Schweizerischem Strafgesetzbuch. Zürich 1998; MÖSCH PAYOT Peter: Rechtliche Rahmenbedingungen für freiheitsbeschränkende Massnahmen im Heimbereich. In: ZKE 2014, 5–30; POLLÄHNE Helmut: Kriminalprognostik. Untersuchungen im Spannungsfeld zwischen Sicherheitsrecht und Rechtssicherheit. Berlin/Boston 2011; SCHWARZENEGGER Christian / HUG Markus / JOSITSCH Daniel: Strafrecht II. Strafen und Massnahmen, 8. Aufl. Zürich 2007, 1–45, 147–217, 228– 252, 288–292; STRATENWERTH Günter: Neuere Tendenzen im Massnahmenrecht: Vereinbarkeit mit rechtsethischen Grundsätzen? In: AJP 2000, 1345–1451; STRATENWERTH Günter: Die freiheitsentziehenden Massnahmen im bundesrätlichen Entwurf für die Revision des Allgemeinen Teils des StGB. In: ZStrR 1999, 277–289; STRATENWERTH Günter: Schweizerisches Strafrecht. Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen. 2. Aufl. Bern 2006, 38–61, 256–351; STRATENWERTH Günter: Zur Rechtfertigung freiheitsbeschränkender sichernder Massnahmen. In: ZStrR 1988, 105–124; STRATENWERTH Günter: Zur Rechtsstaatlichkeit freiheitsentziehender Massnahmen im Strafrecht. In: ZStrR 1966, 337–383; WEBER Jonas: Zur Bedeutung der Grundsätze von Art. 56 StGB für die Anordnung stationärer Therapiemassnahmen. In: Berner Gedanken zum Recht: Festgabe der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern für den Schweizerischen Juristentag 2014. Bern 2014, 517–528; WIPRÄCHTIGER Hans: Die Revision des Strafgesetzbuches: Freiheitsentziehende Massnahmen – eine Bestandesaufnahme nach den Beratungen des Ständerates. In: AJP 2001, 139–146.
Massnahmen sind Strafsanktionen, welche das Strafgericht zusätzlich zu einer Strafe (in aller Regel einer Freiheitsstrafe; Art. 57 Abs. 1 StGB) anordnen kann. Neben den therapeutischen Massnahmen und der Verwahrung kennt dass StGB die sog. «anderen Massnahmen» (Art. 66–73 StGB), auf die in diesem Buch nicht weiter eingegangen wird (siehe jedoch die Übersicht in EII 9.1). Das StGB enthält in den
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1
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
Art. 56–58 allgemeine Grundsätze zu den therapeutischen Massnahmen und zur Verwahrung. 2
Massnahmen unterscheiden sich von Strafen vorab dadurch, dass sie nicht an das Verschulden des Täters anknüpfen, sondern an dessen Behandlungsbedürfnis oder an ein Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft (Art. 56 Abs. 1 StGB). Sie können auch gegenüber einem gemäss Art. 19 Abs. 1 StGB schuldunfähigen Straftäter ausgesprochen werden. Folglich wird die Dauer der Massnahme nicht durch das Verschulden des Straftäters bestimmt, sondern durch den Massnahmezweck, und deshalb im Urteil nicht festgelegt. Eine Massnahme dauert grundsätzlich so lange, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich eine Zweckerreichung als aussichtslos erweist. Eine Massnahme kann damit eine kürzere oder auch eine längere Freiheitsentziehung zur Folge haben, als dies dem Verschulden des Straftäters entsprechen würde.
3
Für eine solche Abweichung vom Prinzip, dass die strafrechtliche Sanktion proportional zum Verschulden des Straftäters zu bemessen ist, müssen gewichtige Gründe vorliegen. Und es muss sichergestellt sein, dass mit der Anordnung einer Massnahme der Grundsatz der Verhältnismässigkeit nicht verletzt wird (Art. 56 Abs. 2 StGB): «die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten» müssen die Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des Täters, die sich aus der Massnahme ergeben, rechtfertigen; d.h., das öffentliche Sicherheitsinteresse muss das persönliche Freiheitsinteresse des Betroffenen überwiegen.
4
Eine Massnahme darf sodann nur angeordnet werden, wenn «eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen» (Art. 56 Abs. 1 lit. a StGB), was als Subsidiarität der Massnahmen gegenüber Strafen bezeichnet wird. Zudem muss «ein Behandlungsbedürfnis der Täters» bestehen oder alternative die Massnahmen zur Wahrung der «öffentlichen Sicherheit» erforderlich sein (Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB). Des Weiteren müssen die spezifischen Voraussetzungen einer konkreten Massnahme erfüllt sein (Art. 56 Abs. 1 lit. c StGB). Schliesslich muss die angeordnete Massnahme notwendig und geeignet sein, die beim Täter festgestellten speziellen und erheblichen Rückfallrisiken zu beseitigen. Deshalb macht es in der Regel keinen Sinn, eine an sich geeignete Massnahme anzuordnen, wenn für den Vollzug keine Einrichtung zur Verfügung steht (Art. 56 Abs. 5 StGB). Art. 56 Abs. 6 StGB verlangt dann über die Anordnung hinaus, dass Massnahmen (wieder) aufzuheben sind, wenn die genannten Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind.
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9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
Für Beurteilung der Notwendigkeit bzw. der Erfolgsaussichten einer Behandlung, des Rückfallrisikos sowie der Möglichkeiten des Vollzugs einer Massnahme muss sich das Gericht auf eine sachverständige und unabhängige Begutachtung (in der Regel durch einen Psychiater) abstützen (Art. 56 Abs. 3 und 4 StGB). Dieses Gutachten muss aktuell sein (BGer-Urteil 6B_98/2012 vom 26. Juni 2012 E. 1.3.3). Soweit ein früheres Gutachten mit Ablauf der Zeit und zufolge veränderter Verhältnisse an Aktualität eingebüsst hat, sind neue Abklärungen unabdingbar (BGE 134 IV 246 E. 4.3, 128 IV 241 E. 3.4, vgl. bereits auch schon BGE 99 Ib 351 E. 4.b). Dabei ist zu beachten, dass Gefährlichkeitsprognosen nach forensisch-psychiatrischer Lehre in der Regel lediglich für den Zeitraum eines Jahres zuverlässig gestellt werden können (BGE 128 IV 241 E. 3.4). In forensisch-psychiatrischen Fachfragen darf dann ein Gericht nur aus triftigen Gründen und mit besonderer Begründung von einem Gutachten abweichen (BGer-Urteil 6B_298/2012 vom 16. Juli 2012, ferner auch BGE 101 IV 129 E. 3.a).
4a
Über diese Anordnungsgrundsätze hinaus regelt das allgemeine Massnahmerecht eine Reihe weiterer Fragen von praktischer Bedeutung: Wenn die Voraussetzungen für die Anordnung mehrerer Massnahmen vorliegen, soll das Gericht vorab die mit Blick auf die Rückfallverhütung geeignetere Massnahme wählen; falls mehrere Massnahmen gleichermassen geeignet erscheinen, jene Massnahme, welche den Täter am wenigsten beschwert (Art. 56a Abs. 1 StGB). Das Gericht darf auch mehrere Massnahmen zusammen anordnen, wenn dies mit Blick auf die Rückfallverhütung tatsächlich notwendig ist (Art. 56a Abs. 2 StGB) und die mehreren Massnahmen miteinander kompatibel sind (was z.B. eine gleichzeitige Anordnung zweier stationärer therapeutischer Massnahmen ausschliesst). Wie mehrere gleichzeitig vollziehbare Massnahmen oder Massnahmen und Freiheitsstrafen zu vollziehen sind, regeln im Übrigen die Art. 6 bis 10 V-StGB-MStG. Der Vollzug der Massnahme hat (mit Ausnahme der Verwahrung) gegenüber dem Strafvollzug Priorität; die damit verbundene Freiheitsentziehung ist auf die Strafe anzurechnen (Art. 57 Abs. 2 und 3 StGB). Verwahrung dürfen gemäss Art. 58 Abs. 2 StGB in Einrichtungen für den Vollzug von Freiheitsstrafen vollzogen werden; hingegen sind therapeutische Einrichtungen vom Strafvollzug getrennt zu führen (zu beachten ist jedoch der Vorbehalt in Art. 59 Abs. 3).
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Keine präzise Antwort findet sich im StGB auf die Frage, ob konkrete Behandlungsmassnahmen im Rahmen von Massnahmen auch zwangsweise, also gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt werden dürfen. Unbestritten ist dabei, dass zwangsweise Behandlungen nicht
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
voraussetzungslos durchgesetzt werden dürfen und jedenfalls dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit genügen müssen (BGE 130 IV 49, BGE 127 IV 154 sowie Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau WBE.2013.399 vom 24. Oktober 2013 [AGVE 2013 285– 296]). Ein detaillierter Regelungsversuch findet sich in den Art. 62 ff. des SMVG/BE. Zur Zulässigkeit medizinischer Zwangseingriffe in der fürsorgerischen Freiheitsentziehung vgl. BGE 126 I 112, 125 III 169, 124 I 304 und 118 II 254 sowie MÖSCH PAYOT, 2014. 7
Teilweise finden sich im kantonalen Recht, manchmal erst auf der Ebene der Anstaltsordnungen, Vorgaben zur inhaltlichen Ausgestaltung des Massnahmenvollzugs. Als höchst problematisch ist dabei die im Kanton Aargau getroffene Regelung zu erwähnen, wonach eine zu einer stationären oder ambulanten Massnahme verurteilte Person verpflichtet ist, «die therapeutische Fachperson von der Schweigepflicht gegenüber der Vollzugsbehörde [generell] zu entbinden» (§ 54 Abs. 4 und § 57 SMV/AG). Für die Vollstreckung der Massnahmen sind die gemäss kantonalem Recht auch für die Vollstreckung von Strafen verantwortlichen Behörden zuständig (mit der kaum nachvollziehbaren Ausnahme, dass im Kanton Neuenburg für Suchtbehandlungen nach Art. 60 StGB das urteilende Gericht für die Vollstreckung zuständig bleibt [Art. 29 Abs. 1 Bst. e LPMPA/NE]).
8
Ein Blick auf die Urteilsstatistik zeigt, dass Massnahmen in der Sanktionierungspraxis insgesamt eine bloss marginale Rolle spielen: Nur in etwas mehr als einem Prozent aller Urteile wird eine Massnahme angeordnet. Werden die angeordneten therapeutischen Massnahmen und Verwahrungen jedoch in Bezug gesetzt zu unbedingten Freiheitsstrafen von mehr als sechs Monaten (nur solche Strafen kommen, bei Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit, für eine Massnahme in Frage), so zeigt sich, dass die Anzahl dieser Massnahmen immerhin etwa 40% der Anzahl unbedingter Freiheitsstrafen beträgt. Schränkt man die Massnahmen auf stationäre therapeutische Massnahmen und Verwahrungen ein, so entspricht deren Anzahl immer noch circa 15% der Anzahl unbedingter Freiheitsstrafen von mehr als sechs Monaten. Das zeigt auf, dass dem Massnahmerecht für mittlere und schwerere Delikte eine ganz erhebliche Bedeutung zukommt.
296
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
EII 9.1 Andere Massnahmen Zusätzlich zu einer Strafe und einer therapeutischen oder verwahrenden Massnahme kann das Gericht die folgenden «anderen Massnahmen» anordnen: 1. Friedensbürgschaft (Art. 66 StGB) «1 Besteht die Gefahr, dass jemand ein Verbrechen oder Vergehen ausführen wird, mit dem er gedroht hat, oder legt jemand, der wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens verurteilt wird, die bestimmte Absicht an den Tag, die Tat zu wiederholen, so kann ihm das Gericht auf Antrag des Bedrohten das Versprechen abnehmen, die Tat nicht auszuführen, und ihn anhalten, angemessene Sicherheit dafür zu leisten.» 2. Tätigkeitsverbot (Art. 67 StGB) «1 Hat jemand in Ausübung einer beruflichen oder einer organisierten ausserberuflichen Tätigkeit ein Verbrechen oder Vergehen begangen, für das er zu einer Freiheitsstrafe von über sechs Monaten oder einer Geldstrafe von über 180 Tagessätzen verurteilt worden ist, und besteht die Gefahr, dass er seine Tätigkeit zur Begehung weiterer Verbrechen oder Vergehen missbrauchen wird, so kann ihm das Gericht die betreffende oder vergleichbare Tätigkeiten für sechs Monate bis zu fünf Jahren ganz oder teilweise verbieten. 2
Hat jemand gegen einen Minderjährigen oder eine andere besonders schutzbedürftige Person ein Verbrechen oder Vergehen begangen und besteht die Gefahr, dass er in Ausübung einer beruflichen oder einer organisierten ausserberuflichen Tätigkeit, die einen regelmässigen Kontakt mit Minderjährigen oder mit anderen besonders schutzbedürftigen Personen umfasst, weitere Straftaten dieser Art begeht, so kann ihm das Gericht die betreffende Tätigkeit für ein Jahr bis zehn Jahre verbieten. 3
Wird jemand wegen einer der nachfolgenden Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von über sechs Monaten, einer Geldstrafe von über 180 Tagessätzen oder einer Massnahme nach den Artikeln 59–61 oder 64 verurteilt, so verbietet ihm das Gericht für zehn Jahre jede berufliche und jede organisierte ausserberufliche Tätigkeit, die einen regelmässigen Kontakt zu Minderjährigen umfasst: a. Menschenhandel (Art. 182), sexuelle Nötigung (Art. 189), Vergewaltigung (Art. 190), Schändung (Art. 191), sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten (Art. 192), Ausnützung der Notlage (Art. 193) oder Förderung der Prostitution (Art. 195), sofern er die Straftat an einem minderjährigen Opfer begangen hat; b. sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187) oder sexuelle Handlungen mit Abhängigen (Art. 188); c. qualifizierte Pornografie (Art. 197 Ziff. 3), sofern die Gegenstände oder Vorführungen sexuelle Handlungen mit Kindern zum Inhalt hatten. 4
Wird jemand wegen einer der nachfolgenden Straftaten, begangen an einem volljährigen, besonders schutzbedürftigen Opfer, zu einer Freiheitsstrafe von über sechs Monaten, einer Geldstrafe von über 180 Tagessätzen oder einer Massnahme nach den Artikeln 59–61 oder 64 verurteilt, so verbietet ihm das Gericht für zehn Jahre jede berufliche und jede organisierte ausserberufliche Tätigkeit, die einen regelmässigen Kontakt zu volljährigen, besonders schutzbedürftigen Personen umfasst: Menschenhandel (Art. 182), sexuelle Nötigung (Art. 189), Vergewaltigung (Art. 190), Schändung (Art. 191), sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten (Art. 192), Ausnützung der Notlage (Art. 193) oder Förderung der Prostitution (Art. 195).»
297
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug 3. Kontakt- und Rayonverbot (Art. 67b StGB) «1 Hat jemand ein Verbrechen oder Vergehen gegen eine oder mehrere bestimmte Personen oder gegen Personen einer bestimmten Gruppe begangen und besteht die Gefahr, dass er bei einem Kontakt zu diesen Personen weitere Verbrechen oder Vergehen begehen wird, so kann das Gericht für eine Dauer bis zu fünf Jahren ein Kontakt- und Rayonverbot verhängen. 2
Mit dem Kontakt- und Rayonverbot kann das Gericht dem Täter verbieten: a. mit einer oder mehreren bestimmten Personen oder mit Personen einer bestimmten Gruppe direkt oder über Drittpersonen Kontakt aufzunehmen, namentlich auf telefonischem, schriftlichem oder elektronischem Weg, sie zu beschäftigen, zu beherbergen, auszubilden, zu beaufsichtigen, zu pflegen oder in anderer Weise mit ihnen zu verkehren; b. sich einer bestimmten Person zu nähern oder sich in einem bestimmten Umkreis ihrer Wohnung aufzuhalten; c. sich an bestimmten Orten, namentlich bestimmten Strassen, Plätzen oder Quartieren, aufzuhalten.
3
Für den Vollzug des Verbots kann die zuständige Behörde technische Geräte einsetzen, die mit dem Täter fest verbunden sind. Diese können insbesondere der Feststellung des Standortes des Täters dienen.» 4. Fahrverbot (Art. 67e StGB) «Hat der Täter ein Motorfahrzeug zur Begehung eines Verbrechens oder Vergehens verwendet und besteht Wiederholungsgefahr, so kann das Gericht neben einer Strafe oder einer Massnahme nach den Artikeln 59–64 den Entzug des Lernfahr- oder Führerausweises für die Dauer von einem Monat bis zu fünf Jahren anordnen.» 5. Veröffentlichung des Urteils (Art. 68 StGB) «1 Ist die Veröffentlichung eines Strafurteils im öffentlichen Interesse, im Interesse des Verletzten oder des Antragsberechtigten geboten, so ordnet sie das Gericht auf Kosten des Verurteilten an...» 6. Einziehung (Art. 69 und 70 StGB) a. Sicherungseinziehung «1 Das Gericht verfügt ohne Rücksicht auf die Strafbarkeit einer bestimmten Person die Einziehung von Gegenständen, die zur Begehung einer Straftat gedient haben oder bestimmt waren oder die durch eine Straftat hervorgebracht worden sind, wenn diese Gegenstände die Sicherheit von Menschen, die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung gefährden...» b. Einziehung von Vermögenswerten «1 Das Gericht verfügt die Einziehung von Vermögenswerten, die durch eine Straftat erlangt worden sind oder dazu bestimmt waren, eine Straftat zu veranlassen oder zu belohnen, sofern sie nicht dem Verletzten zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes ausgehändigt werden...» 7. Verwendung zu Gunsten des Geschädigten (Art. 73 StGB) «1 Erleidet jemand durch ein Verbrechen oder ein Vergehen einen Schaden, der nicht durch eine Versicherung gedeckt ist, und ist anzunehmen, dass der Täter den Schaden nicht ersetzen oder eine Genugtuung nicht leisten wird, so spricht das Gericht dem Geschädigten auf dessen Verlangen bis zur Höhe des Schadenersatzes beziehungsweise der Genugtuung, die gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzt worden sind, zu: a. die vom Verurteilten bezahlte Geldstrafe oder Busse; b. eingezogene Gegenstände und Vermögenswerte oder deren Verwertungserlös unter Abzug der Verwertungskosten; c. Ersatzforderungen; d. den Betrag der Friedensbürgschaft.»
298
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
9.2
Stationäre therapeutische Massnahmen
LII 9.2 Literatur zu den stationären therapeutischen Massnahmen Behandlung von psychischen Störungen gemäss Art. 59 StGB sowie Suchtbehandlung gemäss Art. 60 StGB AEBERSOLD Peter: Die Verwahrung und Versorgung vermindert Zurechnungsfähiger in der Schweiz. Basel/Stuttgart 1972; BRACHER Gustav: Die Bedeutung des Art. 44 StGB im Rahmen der Behandlung Alkoholkranker. In: ZStrR 1969, 303–313; CADUFF Franz: Psychiatrische Zwangsmedikation in der Schweiz – Gesetzgebung und Realität anhand einiger Fälle aus der Praxis. Schweizerische medizinische Wochenschrift 1997, 585–596; DRENKHAHN Kirstin: Sozialtherapeutischer Strafvollzug in Deutschland. Diss. Greifswald 2007; FROWEIN Jochen A. / PEUKERT Wolfgang: Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar. 3. Aufl. Berlin 2009; GERMANN Urs Philipp: Psychiatrie und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdifferenzierung der forensischen Psychiatrie in der deutschsprachigen Schweiz 1850–1950. Zürich 2004; JOSET Pierre: Drogenknast. Die Verbindung von Kriminalisierung und Therapie? In: ZStrR 1983, 187–207; MAIER Philipp / URBANIOK Frank: Die Anordnung und praktische Durchführung von Freiheitsstrafen und Massnahmen. Mit Behandlungkonzepten für erwachsene Straftäter nach Schweizerischem Strafgesetzbuch. Zürich 1998; MELZER Katja: Psychisch kranke Straftäterinnen. Frauen im Massregelvollzug. Frankfurt/Bern 2001; MERLINI Véronique: Personnes détenues présentant un grave désordre de la personalité: La prise en charge au Centre de sociothérapie «La Pâquerette». In: Bertrand Dominique / Niveau Gérard / Badinter Robert (Hrsg.): Médecine, santé et prison. Genève 2006, 437–449; NOLL Thomas et al.: Anforderungen an den Vollzug stationärer Massnahmen in einer geschlossenen Strafanstalt nach Art. 59 Abs. 3 StGB. In: AJP 2008, 1553–1559; POLLÄHNE Helmut: Kriminalprognostik. Untersuchungen im Spannungsfeld zwischen Sicherheitsrecht und Rechtssicherheit. Berlin/Boston 2011; RAUCHFLEISCH Udo: Aussenseiter der Gesellschaft. Psychodynamik und Möglichkeiten zur Psychotherapie Straffälliger. Göttingen 1999; RAUCHFLEISCH Udo: Begleitung und Therapie straffälliger Menschen. 4. Aufl. Göttingen 2013; REINFRIED Hans Werner: Mörder, Räuber, Diebe. Psychotherapie im Strafvollzug. Stuttgart/Bad Canstatt 1999; RIKLIN Franz: Zwangsmassnahmen im Bereich der Gesundheitsfürsorge. In: Queloz Nicolas et al. (Hrsg.): Medizin und Freiheitsentzug. Médecine et détention. Bern 2002, 45–64; SCHMID Daniel: Krank oder böse? Die Schuldfähigkeit und die Sanktionenindikation dissozial persönlichkeitsgestörter Straftäter und delinquenter «Psychopaths» sowie die Zusammenarbeit von Jurisprudenz und Psychiatrie bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit. Diss. Basel 2009; SCHWOB Renate: Zwangsbehandlung im Straf- und Massnahmenvollzug. Zürich 1981; URBANIOK Frank: Was sind das für Menschen – was können wir tun. Nachdenken über Straftäter. Bern 2003; UCHTENHAGEN Ambros / ZIMMER-HÖFLER Dagmar: Heroinabhängige und ihre «normalen» Altersgenossen. Bern/Stuttgart 1985. Massnahmen für junge Erwachsene gemäss Art. 61 StGB BAECHTOLD Andrea: Les jeunes adultes: groupe marginal ou central dans l’exécution des peines de notre temps? In: Bulletin d’informationpénitentiaire (Conseil de l’Europe) 12/1988, 17; BAECHTOLD Andrea: Die Arbeitserziehung junger Erwachse-
299
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug ner aus gesetzgeberischer Sicht. In: Der Strafvollzug in der Schweiz, 4/1982, 194– 198; BUNDI Hanspeter: «Im Knast habe ich die Freiheit gelernt». Die Geschichte der Arbeitserziehungsanstalt Arxhof, 1977 bis 1989. Zürich 1996; FORGO BAER Evi: Kunsttherapie in der AEA Uitikon, Gestaltendes Arbeiten als Spiegel der inneren Welt. In: Justizvollzug Zürich: Jahresheft 2004. Jubiläumsausgabe 1999–2004. Zürich 2004, 43–47; GALLAROTTI Elodie: Sanctions applicables aux jeunes adultes: le droit suisse dépassé? In: Jusletter 15. Juni 2015; GRAF Erich Otto: Untersuchungen zum therapeutischen Milieu in der Arbeitserziehungsanstalt Arxhof (AEA) in Bubendorf BL. Zürich (Pädagogisches Institut der Universität Zürich/Sozialpädagogische Forschungsstelle) 1986; MAURER Charles: Die Massnahme Arbeitserziehung – Ein paar kritische Bemerkungen zur Theorie und Praxis. In: ZStrR 1977, 390–401; MÜLLER Daniel / ROSSI David: Rückfall nach Massnahmenvollzug. Eine Studie zur Rückfälligkeit von jungen Erwachsenen aus den Massnahmenzentren Arxhof und Uitikon. Niederdorf 2009; NOLL Peter: Die Arbeitserziehung. In: ZStrR 1973, 149– 167; PRUIN Ineke / DÜNKEL Frieder: Young Adult Offenders in Europe. Interdisciplinary Research Resultsand Legal Practices. London 2007; PRUIN Ineke: Die Heranwachsendenregelungim deutschen Jugendstrafrecht. Jugendkriminologische, entwicklungspsychologische, jugendsoziologische und rechtsvergleichende Aspekte. Mönchengladbach 2007; ROSE Patrick: L’éducation au travail des jeunes adultes délinquants. Diss. Lausanne 1988; URBANIOK Frank et al.: Legalbewährung junger Straftäter nach Entlassung aus Arbeitserziehungsmassnahmen. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 56/2007, 109–122. 8a
Mittels geeigneter therapeutischer Interventionen sollen psychisch schwer gestörte, von Suchtmittel abhängige oder in ihrer persönlichen Entwicklung erheblich gestörte Straftäter von weiteren Straftaten abgehalten und wiedereingegliedert werden. Die zu einer stationären therapeutischen Massnahme vorurteilten Straftäter sollen zumindest einen sozialverträglichen und rechtskonformen Umgang mit ihrem Defizit erlernen. Für die Zielerreichung ist dabei entscheidend, dass die Therapie störungs- und deliktorientiert ausgestaltet ist und in einer dafür geeigneten Einrichtung erfolgt.
8b
Die Verpflichtung der Kantone, die von den Gerichten ausgefällten Urteile zu vollziehen (Art. 372 StGB), führt insbesondere dazu, dass sie die für den Vollzug von Therapiemassnahmen erforderlichen Einrichtungen errichten und betreiben müssen (Art. 377 Abs. 3 StGB). Gemäss Art. 379 StGB können die Kantone privat geführten Anstalten die Bewilligung erteilen, Therapiemassnahmen nach Art. 59–61 StGB zu vollziehen. In der Praxis finden sich private Anstalten heute in der Schweiz vor allem im Bereich der Suchttherapie sowie als Wohn- und Pflegeheime in einer späten Phase des Vollzugs einer Massnahme gemäss Art. 59 StGB.
8c
Zur Ausgestaltung des Vollzugs von Massnahmen finden sich im StGB nur wenige Bestimmungen: Art. 74 StGB (allgemeine Vollzugsgrund-
300
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
sätze) und Art. 90 StGB (Besonderheiten des Massnahmenvollzugs). Die für den Strafvollzug geltenden Grundsätze und Regeln werden jedoch sach- und sinngemäss auch im Massnahmenvollzug angewendet (was in Art. 90 Abs. 2bis-5 StGB explizit erwähnt wird). Dies gilt insbesondere für den individuellen Vollzugsplan gemäss Art. 90 Abs. 2 StGB.
9.2.1
Behandlung von psychischen Störungen (LII 9.2)
Die stationäre therapeutische Massnahme zur Behandlung psychisch gestörter Straftäter ist in Art. 59 StGB geregelt. Wie bei den übrigen Massnahmen bezeichnet diese Vorschrift den Massnahmezweck, damit zusammenhängend die für die Anordnung der Massnahme erforderlichen besonderen Voraussetzungen sowie die Regeln zur Beendigung der Massnahme. Sie enthält überdies Vorgaben zur Vollstreckung und zum Vollzug der Massnahme. Diese Bestimmungen sind als Spezifikationen des allgemeinen Massnahmerechts zu verstehen. Die drei erstgenannten Aspekte sind für das Verständnis einer speziellen Massnahme und der Ausgestaltung ihres Vollzugs unverzichtbar, können hier allerdings nur summarisch dargestellt werden.
9
Mit der Anordnung der Massnahme wird bezweckt, Rückfälle einer speziellen Gruppe von Straftätern zu verhindern oder zu mindern und damit die Öffentlichkeit zu schützen: Die Massnahme betrifft nicht alle Straftäter mit schweren psychischen Störungen, sondern bloss jene, deren Straftaten einen Zusammenhang mit der psychischen Störung aufweisen und einen gewissen Erheblichkeitsgrad aufweisen. Dies aber bloss dann, wenn der Vollzug der Massnahme geeignet ist, weiteren Straftaten zu begegnen. Die Anordnung der Massnahme setzt also sowohl eine Behandlungsnotwendigkeit als auch eine Behandlungsfähigkeit voraus, in der Regel auch eine jedenfalls minimale Behandlungswilligkeit des Straftäters.
10
Die Anordnung der Massnahme knüpft Art. 59 Abs. 1 StGB deshalb an zwei kumulative Voraussetzungen: Der Straftäter muss einerseits ein Verbrechen oder Vergehen begangen haben, das mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang steht und andererseits müssen die im Vollzug der Massnahme durchzuführenden Behandlungsmassnahmen geeignet erscheinen, um «der Gefahr weiterer mit seiner psychischen Störung zusammenhängenden Taten» zu begegnen. Sind diese beiden Voraussetzungen und die Voraussetzungen des allgemeinen Massnahmerechts gegeben, dann ist die Massnahme anzuordnen. Die Formulie-
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301
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
rung in Art. 59 Abs. 1 StGB, wonach das Gericht die Massnahme anordnen «kann», wenn die beiden spezifischen Voraussetzungen vorliegen, ist nur scheinbar missverständlich: Sie verweist darauf, dass auch die Voraussetzungen des allgemeinen Massnahmerechts erfüllt sein müssen. 12
Die Massnahme ist vorab wie alle anderen therapeutischen Massnahmen dann aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind (Art. 56 Abs. 6 StGB). Dieser Entscheid führt entweder zu einer bedingten Entlassung aus der Massnahme (wenn der Massnahmezweck hinreichend erreicht wurde) oder zur Anordnung einer anderen Massnahme oder des Strafvollzugs (wenn sich die Fortsetzung der Massnahme als undurchführbar oder aussichtslos erweist); vgl. dazu Abschnitt 9.2.4. Art. 59 Abs. 4 StGB legt für die stationäre Behandlung von psychischen Störungen überdies eine zeitliche Obergrenze von fünf Jahren fest, welche allerdings bloss als Regel zu beachten ist: Liegen nach dieser Dauer einerseits die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung noch nicht vor und bestehen andererseits Aussichten, den Massnahmezweck doch noch zu erreichen, dann kann das Gericht die Massnahme um jeweils höchstens fünf weitere Jahre verlängern. Damit hat der Gesetzgeber zwei unterschiedliche Interessen auszubalancieren versucht: Indem eine Regel-Obergrenze festgelegt und deren Verlängerung an eine richterliche Anordnung geknüpft wird, soll der Verurteilte vor einer übermässigen Freiheitsentziehung geschützt werden. Dass dies tatsächlich erforderlich ist, illustriert eine ältere Untersuchung von AEBERSOLD (1972), welche nachweist, dass der Vollzug der Massnahme in jedem zweiten Fall mindestens doppelt so lange dauert wie die richterlich festgelegte schuldangemessene Freiheitsstrafe. Andererseits soll die Massnahme im Interesse der Rückfallverhütung so lange fortgesetzt werden können, als dies erforderlich und aussichtsreich erscheint – was bei etlichen psychischen Störungen eine sehr lange Behandlungsdauer erfordern kann und sich zum Voraus zeitlich nicht festlegen lässt. Diese Regelung ermöglicht daher letztlich doch eine zeitliche unbeschränkte Dauer der Massnahme.
13
Der Vollzug der Massnahme erfolgt im Regelfall in einer «geeigneten psychiatrischen Einrichtung oder einer Massnahmenvollzugseinrichtung» (Art. 59 Abs. 2 StGB). Was ist darunter zu verstehen? Ein Massnahmenvollzug im Sinne von Art. 59 erfolgt vorab in einer im konkreten Fall für die Behandlung der vorliegenden psychischen Störung geeigneten öffentlichen oder privaten Psychiatrischen Klinik des allgemeinen Gesundheitswesens. Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Kliniken verpflichtet sind, strafrechtliche Massnahmepati302
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
enten im Einzelfall aufzunehmen und zu behandeln, richtet sich nach dem kantonalen Recht. Dass solche Kliniken vernünftigerweise dann nicht verpflichtet werden, zu einer strafrechtlichen Massnahme Verurteilte aufzunehmen, wenn sie im konkreten Fall nicht in der Lage sind, eine angemessene Behandlung durchzuführen, ergibt sich aus dem Massnahmezweck. Andererseits kann dieser Grundsatz die zuständigen Behörden vor erhebliche Vollstreckungsprobleme stellen: Die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgte Öffnung der Psychiatrie hat dazu geführt, dass die psychiatrischen Kliniken weniger als früher in der Lage sind, nicht kooperative Patienten zu betreuen (namentlich wenn Flucht- oder Gemeingefahr vorliegt). Dazu kommt, dass Psychiatrische Kliniken nicht immer ohne weiteres bereit sind, den von den Vollzugsbehörden geforderten Berichterstattungspflichten über den Therapieverlauf nachzukommen. Die Behandlung selbst erfolgt in der Psychiatrischen Klinik nach denselben Regeln und mit denselben Mitteln, wie sie für die übrigen Patienten zur Verfügung stehen. Allerdings werden häufig zwischen der einweisenden Behörde und der Klinik besondere Vereinbarungen getroffen, welche z.B. die stunden- oder tageweise Beurlaubung oder Kontakte der Massnahmepatienten zu Dritten einschränken – im vorzeitigen Massnahmeantritt können auch Auflagen der Untersuchungsbehörden erfolgen. Insgesamt lässt sich aber nicht übersehen, dass sich der Massnahmenvollzug in einer Psychiatrischen Klinik in einem fragilen und konfliktbesetzten Spannungsfeld zweier nach unterschiedlichen Logiken funktionierender öffentlicher Aufgabenbereiche – Strafrechtspflege und Gesundheitswesen – abspielt. Deshalb hat der Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen, dass solche Massnahmen auch in einer spezialisierten Massnahmenvollzugseinrichtung vollzogen werden können. Darunter sind Einrichtungen zu verstehen, welche von den für den Straf- und Massnahmenvollzug verantwortlichen Behörden für den Vollzug therapeutischer Massnahmen nach Art. 59 StGB (und weiteren Massnahmen) betrieben werden. Diese Einrichtungen sind gegenüber Psychiatrischen Kliniken vorab in jenen Fällen zu bevorzugen, wo eine psychiatrische Behandlung einer psychischen Störung für die Verhütung von Rückfällen zwar erforderlich ist, dafür aber nicht ausreicht, weil die psychische Störung durch Verhaltensstörungen überlagert wird, welche umfassende sozialpädagogische Interventionen, alltagsbezogene Trainings im Arbeits- und Freizeitbereich sowie häufig auch eine erhöhte Kontrolldichte voraussetzen. Die grösste und eine langjährige Praxis aufweisende Massnahmenvollzugseinrichtung ist das dem bernischen Amt für Freiheitsentzug und Betreuung unterstellte und von den Vollzugsbehörden in der ganzen deutschsprachigen Schweiz genutzte Massnahmenzentrum 303
14
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
St. Johannsen/BE (VII 9.2.1). Diese Einrichtung wurde 1982 für den Vollzug aller stationären strafrechtlichen Massnahmen geschaffen (mit Ausnahme der Massnahmen für junge Erwachsene). Heute hat es seinen Schwerpunkt in den Massnahmen nach Art. 59 StGB. Im Gegensatz zu einer Psychiatrischen Klinik untersteht das Massnahmenzentrumnicht einer ärztlichen Leitung, doch entsprechen Behandlungsangebot und personelle Ausstattung den Anforderungen, welche an eine therapeutische Einrichtung im Sinne von Art. 59 StGB zu stellen sind (BGE 108 IV 81 E. 3c). 15
Ähnliche Einrichtungen wie St. Johannsen sind die 60 Therapieplätze aufweisende Justizvollzuganstalt Solothurn und das Massnahmenzentrum Bitzi/SG mit drei offenen (36 Plätze) und zwei geschlossenen Wohngruppen (16 Plätze) und seit 2014 mit einer Aussenwohngruppe (6 Plätze). Zu erwähnen ist weiter die in der Strafanstalt Pöschwies/ZH betriebene Forensisch-Psychiatrische Abteilung mit 24 Plätzen. Schliesslich ist auf die dem bernischen Amt für Freiheitsentzug und Betreuung unterstellte Bewachungsstation am Inselspital Bern (VII 6.2.4) hinzuweisen, welche seit 2004 auch eine kleine Abteilung für psychisch kranke Straftäter umfasst, aber nur für Kurzaufenthalte bis zu längstens sechs Monaten genutzt werden kann. In der Westschweiz wird mit dem Quartier carceral psychiatrique de Belle-Idée/GE eine vergleichbare Einrichtung betrieben. Massnahmen nach Art. 59 an Frauen werden regelmässig in der Frauenvollzugsanstalt Hindelbank/BE vollzogen, welche 2011 eine Wohngruppe (17 Plätze) für stationäre Massnahmen eröffnet hat (VII 5.3c).
16
Besteht bei einem Straftäter Flucht- oder Wiederholungsgefahr, so wird die Massnahme in einer geschlossenen Einrichtung vollzogen (Art. 59 Abs. 3 StGB). Dafür stehen im Bereich der Psychiatrie derzeit die forensisch-psychiatrische Station am Universitätsspital Basel zur Verfügung sowie 27 Plätze in den drei Stationen des Sicherheitstraktes der Psychiatrischen Klinik Rheinau/ZH. Als geschlossene, spezialisierte Massnahmevollzugseinrichtung kann auch die – allerdings auf Aufenthalte von normalerweise höchstens drei Monaten beschränkte – Beobachtungs- und Triagestation im Massnahmenvollzugszentrum St. Johannsen/BE gelten, ferner die geschlossene Wohngruppe im
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9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
VII 9.2.1 Massnahmenzentrum St. Johannsen, 2525 Le Landeron/BE Auf dem Gelände der um das Jahr 1096 gegründeten, heute noch teilweise erhaltenen Benediktinerabtei St. Johannsen wurde bereits im Jahre 1883 eine «Korrektionsanstalt für Männer» eingerichtet. Das heutige Massnahmenzentrum wurde nach einer Gesamtsanierung mit neuen baulichen und betrieblichen Strukturen und einem neuen Vollzugskonzept im Jahre 1982 in Betrieb genommen. 1989 wurde die Doppelabteilung C (Suchtabteilung) in zwei unabhängige Abteilungen umgebaut für Massnahmen gemäss Art. 44 Ziff. 1 und 6 aStGB. 2001 entstand aus einer dieser Abteilungen die geschlossene Beobachtungs- und Triagestation (BeoT). Funktion Vollzug sämtlicher stationärer (und ambulanter) Massnahmen an Männern mit Ausnahme der Massnahmen an jungen Erwachsenen. Anlage Das dorfähnlich gegliederte Massnahmenzentrum ist in einen inneren und einen äusseren Ring aufgeteilt. Während der innere Ring eine höhere Sicherheitsstufe aufweist, ist der äussere Ring lediglich durch einen Drahtzaun begrenzt. Im Zentrum befinden sich voneinander unabhängige Gebäude für die Unterbringung der Eingewiesenen in fünf Wohngruppen sowie für die Verwaltung, gewerbliche Arbeitsbetriebe, die Anstaltsküche, ein – um den Kreuzgang der ehemaligen Abtei angeordnetes – Mehrzweckgebäude sowie das Schiff der Klosterkirche. Ausserhalb der Umzäunung befinden sich ein Hallenbad sowie ein Landwirtschaftsbetrieb mit einer Fläche von 120 Hektaren. Vollzugsplätze 4 Abteilungen à 18 Plätze 1 geschlossene Beobachtungs- u. Triageabteilung (BeoT), in der Regel Aufenthalt während den ersten 6 Monaten Anzahl Vollzugsplätze insg. Mitarbeitende Direktion/Administration Soziotherapie Psychotherapie und Gesundheit Arbeitsagogik Sicherheit Anzahl Stellen insg. Arbeitsplätze Agromechanik Autowerkstatt Gärtnerei Gebäudereinigung, Unterhaltsarbeiten, Malerei, Office Küche Landwirtschaft (Tierhaltung, Ackerbau, Waldarbeiten) Mailingatelier Schreinerei Unterhalt Aussenanlagen Waschküche, Textilien Werkatelier
72 9 81 11,7 28,8 8.9 28.45 14,0 91.85 1 2 7 6 7 13 7 3 3 3 8
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug Atelier BEOT Anzahl Arbeitsplätze insg.
8 68
Das Behandlungskonzept beruht auf der Vernetzung von Soziotherapie, Psychotherapie u. Arbeitsagogik (3-Säulen-Konzept), die sich in einer koordinierten Vollzugsplanung niederschlägt u. ein ganzheitliches, ständig aktualisiertes Bild des Eingewiesenen und seiner Entwicklungsmöglichkeiten ergibt. Soziotherapie Die Betreuung der Eingewiesenen erfolgt in den Wohngruppen, in denen ein konsequenter Gruppenvollzug umgesetzt wird, der mit seinen Übungsfeldern die Grundlage zur Erweiterung der Sozialkompetenzen und zur Überprüfung der in der Psychotherapie und Arbeitsagogik erarbeiteten Veränderungen bietet. Der Eingewiesene vermag so einerseits erfolgreiche Techniken für einen gesunden zwischenmenschlichen Umgang zu entwickeln u. sich adäquat in Gruppen zu verhalten. Andererseits lernt er, sich innerhalb einer Gruppe abzugrenzen, sich als eigene Persönlichkeit zu begreifen und so zu einer autonomen Personalität zu finden. Psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung Das Zentrum verfügt über einen eigenen Psychiatrisch-Psychologischen Dienst (PPD), der alle psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen der Eingewiesenen durchführt. Die Behandlungen sind grundsätzlich deliktorientiert ausgerichtet und folgen den aktuellen Standards der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie, schwergewichtig dem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsmodell. Jeder Eingewiesene wird einzeltherapeutisch behandelt, ferner stehen Gruppentherapie-Programme für die Behandlung von Tätern zur Verfügung, die Sexualstraftaten oder Gewaltdelikte verübt haben. Das Behandlungskonzept ist auf Menschen mit psychischen Störungen bzw. Substanz-Abhängigkeiten abgestimmt, die zur Besserung der Legalprognose eine intensive stationäre, auf mehreren Ebenen eingreifende Behandlung benötigen, jedoch nicht den Rahmen eine psychiatrischen Klinik: Persönlichkeitsstörungen, Pädophilie, leichte Intelligenzminderung mit Verhaltensstörung, Substanz-Abhängigkeitserkrankungen. Arbeitsagogik Arbeitsagogik ist das professionelle Leiten u. Begleiten von Menschen bei der Arbeit. Ziel ist es, die persönlichen u. sozialen Fähigkeiten der Eingewiesenen individuell zu stabilisieren u. zu fördern, sie in der Arbeit anzuleiten u. zu befähigen, die Arbeiten auszuführen. Der Eingewiesene wird dabei am neutralen Medium Arbeit kontinuierlich gespiegelt u. gemessen. Auf diese Weise erhalten die Eingewiesenen immer wieder die Gelegenheit, ihr arbeitsbezogene Handeln zu betrachten, Feedback entgegen zu nehmen u. sich daran zu orientieren. Dabei sollen die Schlüsselqualifikationen der Eingewiesenen gefestigt u. erweitert werden. Die Chancen einer selbständigen Lebensgestaltung, die (Wieder-) Eingliederung in die Gesellschaft u. in die Arbeitswelt sollen damit erhöht werden. Quellen BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Katalog der Justizvollzugseinrichtungen von September 2014. Bern 2015; Broschüre Massnahmenzentrum St. Johannsen vom 21. März 2014; MASSNAHMENZENTRUM ST. JOHANNSEN: Jahresbericht 2014; Auskunft der Anstaltsdirektion.
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9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
DII 9.2.2 Milieutherapie beim Vollzug stationärer therapeutischen Massnahmen in einer geschlossenen Strafanstalt «Ergänzend zu den delikt- (1. Behandlungselement) und persönlichkeitsbezogenen (2. Behandlungselement) Interventionen fokussiert die milieutherapeutische Arbeitsweise auf die folgenden Zielsetzungen: 1. Allgemein den Veränderungsprozess und die Veränderungsbereitschaft durch ein veränderungsförderndes Umfeld unterstützen. 2. Inhalte aus der externen deliktorientierten und persönlichkeitsbezogenen Arbeit durch Nachbearbeitung und gezielte Interventionen im Alltag vertiefen. 3. Kontinuierlich reflektierende und korrigierende verhaltensbezogene Interventionen zur Verfügung stellen, die insbesondere auf das spezifische Problemprofil des Massnahmeklienten fokussiert sind. 4. Allgemeines Training sozialer Kompetenzen, Anleitung und Unterstützung in Alltagsfragen. 5. Vermittlung emotional korrigierender Erfahrung (z.B. im übertragenen Sinne «Elterneinheitlichkeit», Fürsorge, Wertschätzung, Orientierung, Akzeptanz von Grenzen etc.). 6. Einüben von Risikomanagement und allgemeinen Copingstrategien im Alltag. 7. Informationsvermittlung zu therapierelevanten Themen (z.B. Medikamentenwirkungen, Behandlungsvertrag, Funktionsweise und Ziele von Gruppentherapien, Wirkungen und Folgen von Suchtmittelkonsum, Folgen bei Opfern von Sexualstraftaten etc.). Aus einer milieutherapeutischen Perspektive heraus wird die soziale Wirklichkeit des Klienten, also der Alltag innerhalb der Massnahmestation, bewusst für therapeutische Veränderungsprozesse genutzt. In einer soweit als möglich «normalen» und therapiefördernden Umgebung erwerben oder vertiefen Klienten soziale Regeln, Umgangsformen und Alltagskompetenzen. Dabei geht es um die gezielte Auseinandersetzung mit dem Normalen, um die Beschäftigung mit alltäglichen Bedürfnissen, Regeln und Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Einschränkungen. Von zentraler Bedeutung – gewissermassen begriffsnotwendig – bei der Milieutherapie sind drei Aspekte: die therapeutische Arbeit auf der Wohngruppe, die Therapie durch das gesamte Team und die spezifischen milieutherapeutischen Gruppenangebote.» Quelle NOLL Thomas et al.: Anforderungen an den Vollzug stationärer Massnahmen in einer geschlossenen Strafanstalt nach Art. 59 Abs. 3 StGB. In: AJP 2008, 1556.
Massnahmenzentrum Bitzi/SG sowie die Massnahmenabteilung in der Justizvollzugsanstalt Solothurn (VII 5.3b). Als geeignete Vollzugseinrichtungen hat der Gesetzgeber auch geschlossen geführte Strafanstalten beurteilt, «sofern die erforderliche therapeutische Behandlung gewährleistet ist» (Art. 59 Abs. 3 StGB). Dass therapeutische Massnahmen in besonderen Abteilungen getrennt vom Strafvollzug zu vollziehen sind, verlangt das Gesetz bedauerlicherweise nicht mehr ausdrücklich (Ände-
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Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
rung des StGB vom 24. März 2006). Therapeutische Behandlungsmassnahmen, die auf dem gebotenen professionellen Niveau vollzogen werden sollen, erfordern indessen in der Praxis eine solche Trennung. Welche inhaltlichen Anforderungen an den Vollzug stationärer therapeutischer Massnahmen in geschlossenen Strafanstalten zu stellen sind, ist noch nicht völlig geklärt. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass er sich jedenfalls durch ein systematisches milieutherapeutisches Angebot (DII 9.2.2) vom Strafvollzug in Kombination mit einer ambulanten Massnahme zu unterscheiden hat. 17
Angesichts des Vorrangs der therapeutischen Behandlung, welche sich konsequent nach dem Stand des medizinischen Wissens zu richten hat, lassen sich die Anforderungen an die Durchführung einer stationären Massnahme auf gesetzlicher Ebene – anders als für den Vollzug einer Freiheitsstrafe – nicht präzise fassen. Die Art. 90 und 91 StGB enthalten immerhin einige Regeln zur Vollstreckung und zum Vollzug von Massnahmen, welche überwiegend den Schutz der Verurteilten im Auge haben: Eine ununterbrochene Trennung von den anderen Eingewiesenen («Einzelhaft«) ist nur zulässig als vorübergehende therapeutische Massnahme zum Schutz des Eingewiesenen oder Dritter sowie als Disziplinarsanktion (Art. 90 Abs. 1 StGB; BGer-Urteil 6B_241/2008 vom 12. Juni 2008). Für jeden Eingewiesenen ist ein vorwiegend auf die therapeutische Behandlung ausgerichteter «Vollzugsplan» zu erstellen (Art. 90 Abs. 2 StGB). Die Vollzugsformen des Arbeitsexternates und des Wohnexternates sind ausdrücklich auch im Massnahmenvollzug anwendbar (Art. 90 Abs. 2bis StGB). Soweit dies mit der therapeutischen Behandlung vereinbar ist, sind auch Personen im Massnahmenvollzug zur Arbeit verpflichtet und haben das Recht, Kontakte nach aussen zu pflegen. Die für den Strafvollzug geltenden Grundsätze zur Arbeit, Aus- und Weiterbildung und zum Arbeitsentgelt sind sinngemäss ebenso anzuwenden wie die Vorschriften zu den Beziehungen zur Aussenwelt (Art. 90 Abs. 3 und 4 StGB). Im Übrigen sind auch die Vorschriften betreffend Kontrollen und Untersuchungen sinngemäss auf den Massnahmenvollzug anwendbar (Art. 90 Abs. 5 StGB), ferner jene über das Disziplinarrecht (Art. 91 StGB) und die Unterbrechung des Vollzugs (Art. 92 StGB). Die im Vierten Titel des StGB für den Vollzug der Freiheitsstrafe festgelegten Vollzugserleichterungen sind im Massnahmenvollzug im Übrigen in der Sache ebenfalls anwendbar, soweit sie therapeutisch indiziert sind. Dies ergibt sich als Selbstverständlichkeit aus dem Zweck der Massnahmen, weshalb dem Gesetzgeber eine diesbezüglich ausdrückliche Gesetzesnorm als entbehrlich erschien.
308
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
Die Bedeutung der therapeutischen Massnahmen zur Behandlung psychischer Störungen hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen: Zwischen 1987 und 1996 sind in der Schweiz jährlich etwa 30 stationäre Massnahmen an geistig Abnormen gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB angeordnet worden. In den Jahren 1997 bis 2006 stieg die Anzahl Anordnungen auf circa 50 pro Jahr. Und seit dem Inkrafttreten von Art. 59 StGB ist die Zahl auf über 100 im Durchschnitt angestiegen; 2013 waren gesamtschweizerisch 120 Anordnungen zu verzeichnen.
9.2.2
18
Suchtbehandlung (LII 9.1)
Die stationäre therapeutische Massnahme der Suchtbehandlung (Art. 60 StGB) bezweckt ebenfalls, das Risiko von Rückfällen bei einer speziellen Gruppe von Straftätern gezielt einzuschränken: den suchtmittelabhängigen Straftätern. Allerdings zielt die Massnahme wiederum nicht auf alle suchtmittelabhängigen Täter, sondern bloss auf jene, deren Straftaten in Zusammenhang mit der Abhängigkeit stehen und eine gewisse Erheblichkeit aufweisen. Sie betrifft nur Täter, bei welchen eine therapeutische Behandlung als geeignet erscheint, um Rückfälle zu verhindern oder zu mindern. Abgesehen von der Zielgruppe unterscheidet sich diese Massnahme somit zunächst nicht von den für die Behandlung psychischer Störungen in Art. 59 StGB vorgesehenen Massnahmen. Anders als vor der Revision 2002 ist die Massnahme aber nicht mehr bloss auf Straftäter anwendbar, welche von illegalen Drogen oder von Alkohol abhängig sind. Damit wurde der Erfahrung Rechnung getragen, dass auch Abhängigkeiten von anderen Suchtmitteln – namentlich von Medikamenten – für Straftaten mitverantwortlich sein können und dass auch solche Abhängigkeiten behandelbar sind.
19
Für die Anordnung der Massnahme müssen wie in Art. 59 StGB neben den im allgemeinen Massnahmerecht vorgegebenen Voraussetzungen wiederum zwei spezielle Voraussetzungen erfüllt sein: Der Straftäter muss ein mit der Suchtmittelabhängigkeit zusammenhängendes Verbrechen oder Vergehen begangen haben und es muss erwartet werden können, dass mit einer stationären Suchtmittelbehandlung der Rückfallgefahr begegnet werden kann (Art. 60 Abs. 1 StGB). Weil die Therapierbarkeit von Suchtmittelabhängigkeiten normalerweise die Behandlungswilligkeit des Betroffenen voraussetzt, ist dieser Voraussetzung besondere Beachtung zu schenken (Art. 60 Abs. 2 StGB). Die Absenz dieser Voraussetzung ist im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass das Gericht bei neun von zehn drogenabhängigen Straftätern
20
309
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
darauf verzichten muss, eine Massnahme anzuordnen. Gemäss langjähriger Praxis ist im Übrigen auch ein indirekter Zusammenhang zwischen Sucht und Straftat für die Anordnung der Massnahme ausreichend (Beschaffungskriminalität oder Straftaten, welche durch eine suchtbedingte Verwahrlosung mitbedingt wurden). Sind sämtliche Voraussetzungen erfüllt, dann hat das Gericht auch diese Massnahme anzuordnen. 21
Die Aufhebung der Massnahme ist ebenfalls analog geregelt wie bei den Massnahmen nach Art. 59 StGB. Die einzigen Abweichungen betreffen die Dauer der Massnahme: Art. 60 Abs. 4 StGB begrenzt die Massnahme auf eine Dauer von in der Regel drei Jahren. Diese Regeldauer darf vom Gericht zwar ebenfalls verlängert werden, aber bloss einmal um ein Jahr und unter keinen Umständen (also auch unter Einschluss einer Rückversetzung nach einer bedingten Entlassung) darf die Massnahme die Höchstdauer von sechs Jahren überschreiten. Diese engeren zeitlichen Grenzen sind deshalb gerechtfertigt, weil die stationären Behandlungsprogramme für Drogenabhängige (einschliesslich der Nachbetreuung) die Dauer von drei Jahren normalerweise nicht übersteigen. Bei den heute weitgehend standardisierten Behandlungsprogrammen für Alkoholabhängige liegt die normale Behandlungsdauer selten über zwölf Monaten. Weil Art. 60 StGB die Massnahme nicht mehr wie vor der Revision von 2002 auf eine absolute Höchstdauer von zwei Jahren beschränkt, sondern eine Massnahmedauer von in der Regel drei Jahren vorsieht, welche auf vier (bzw. sechs) Jahre verlängert werden kann, wird die ältere Praxis hinfällig, wonach die Massnahme normalerweise nur anzuordnen ist, wenn die Freiheitsstrafe die Dauer von drei Jahren nicht übersteigt (BGE 107 IV 20). Denn die Befürchtung, die Anordnung der Massnahme könnte zu einer «Privilegierung» im Vergleich zum Vollzug der Freiheitsstrafe führen, kann allenfalls bei Freiheitsstrafen von mehr als sechs Jahren geltend gemacht werden (nach 2/3 von sechs Jahren, also vier Jahren Strafvollzug, ist eine bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe ja ebenfalls möglich).
22
Der Vollzug der Massnahme erfolgt in einer auf Suchtbehandlungen spezialisierten Einrichtung, allenfalls in einer – ebenfalls Suchtbehandlungen anbietenden – Psychiatrischen Klinik (Art. 60 Abs. 3 StGB). Bei allen diesen Einrichtungen kann es sich um öffentliche oder um von einem privaten Träger geführte Institutionen handeln, welche – sofern das kantonale Recht nichts anderes bestimmt – nicht verpflichtet werden können, zu einer Suchtmittelbehandlung Verurteilte auch aufzunehmen. Für die im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens 310
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
betriebenen stationären Einrichtungen zur Behandlung Alkoholabhängiger wurde früher die Bezeichnung «Trinkerheilstätte» verwendet, welche aber zunehmend durch «neutralere» Bezeichnungen ersetzt wird (z.B. «Klinik für Suchttherapien»). Solche Einrichtungen stehen jedenfalls in allen grösseren Kantonen zur Verfügung (im Kanton Zürich z.B. die Forel Klinik in Ellikon mit über 124 Behandlungsplätzen im Jahr 2014 [inklusive Tagesklinik]). Bunter ist das Bild der auf die Behandlung von Drogenabhängigen spezialisierten Einrichtungen: Neben einigen im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens betriebenen Einrichtungen sind die meisten dieser Einrichtungen durch die Initiative kleiner Trägergruppen entstanden. Einige verfügen über mehrere Dutzend Plätze (z.B. das Centre Le Levant in Lausanne), andere haben den Charakter kleiner und kleinster Wohngemeinschaften. Obwohl im Verlaufe der letzten Jahrzehnte weitgehend anerkannte Grundsätze für die Behandlung Drogensüchtiger entwickelt wurden und die kantonalen Behörden ihre Aufsicht professionalisiert und verstärkt haben, gibt es – anders als etwa bei der Behandlung von Alkoholabhängigen – keine als allgemein verbindlich geltenden, detaillierten Behandlungsstandards. Die in solche Einrichtungen einweisenden Vollzugsbehörden sind vor die schwierige Aufgabe gestellt, die geeignetste Therapieeinrichtung auszuwählen, wenn möglich unter Berücksichtigung der Präferenzen der Verurteilten. Mit Bezug auf kleine, wenig strukturierte und transparente und deshalb erheblich personenabhängige Wohngemeinschaften ist dies eine u.U. aufwändige und heikle Aufgabe, namentlich dann, wenn diese Wohngemeinschaften stark ideologisch oder religiös geprägt sind. Einen besonderen Status hat das Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige in Lutzenberg/AR, welches aufgrund einer interkantonalen Vereinbarung vom 21. August 1981 von den Kantonen GL, SH, AI, AR, SG, GR, TG sowie dem Fürstentum Liechtenstein getragen wird. Im Übrigen stehen für Suchtmittelbehandlungen auch wenige exklusiv im Bereich der Strafrechtspflege angesiedelte Einrichtungen zur Verfügung (Massnahmenzentrum St. Johannsen/BE [VII 9.2.1], die Justizvollzugsanstalt Solothurn [VII 5.3b] sowie das Massnahmenzentrum Bitzi/SG). Nicht mehr zulässig ist die nach altem Recht noch zulässige Praxis, eine Massnahme an Drogenabhängigen in einer normalen Strafvollzugsanstalt zu vollziehen.
23
Im Übrigen gelten die im Zusammenhang mit der Behandlung von psychischen Störungen oben angeführten bundesrechtlichen Regeln zum Massnahmenvollzug auch für Massnahmen an Suchtmittelabhängigen (Einzelunterbringung; Vollzugsplan; Arbeit, Aus- und Weiterbil-
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311
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
dung, Arbeitsentgelt; Beziehungen zur Aussenwelt; Kontrolle und Untersuchungen; Disziplinarrecht; Unterbrechung des Vollzugs; Art. 90 und 91 StGB). 25
Zwischen 1986 und 1995 sind in der Schweiz durchschnittlich circa 350 stationäre Suchtbehandlungen pro Jahr angeordnet worden. Zwischen 1996 und 2005 ging die Anzahl Anordnungen auf etwa 250 pro Jahr zurück. Auch seither sind die Anordnungen weiter rückläufig; der Jahresdurchschnitt zwischen 2006 und 2013 beträgt circa 150; 2013 wurden gesamtschweizerisch noch 109 stationäre Suchtbehandlungen angeordnet.
9.2.3
Massnahmen für junge Erwachsene (LII 9.2)
26
Mit der Massnahme wird bezweckt, auf die Kriminalität der Altersgruppe der jungen Erwachsenen von 18- bis 25 Jahren mit einer besonderen, altersangemessenen Sanktion so zu reagieren, dass Rückfälle möglichst vermieden werden. Diese Massnahme rechtfertigt sich aus jedenfalls drei Gründen: Erstens zeichnet sich die Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen durch eine besonders hohe Kriminalitätsbelastung aus, weshalb sich besondere Massnahmen zum Schutze der Öffentlichkeit vor weiteren Straftaten geradezu aufdrängen. Zweitens ist in diesem Alter die Persönlichkeitsentwicklung meist noch nicht abgeschlossen, mit der Konsequenz, dass junge Erwachsene für «sozialpädagogische» Einwirkungen in der Regel empfänglicher sind als ältere Personen. Und drittens sind Straftaten junger Erwachsener vielfach durch die Problematik des Hineinwachsens in die Erwachsenenwelt verknüpft, weshalb darauf mit einer altersspezifischen Massnahme reagiert werden muss. Natürlich kommt auch diese Massnahme nur dann zur Anwendung, wenn der junge Erwachsene erhebliche Straftaten begangen hat und wenn diese tatsächlich mit einer gestörten spätpubertären Persönlichkeitsentwicklung zusammenhängen. Im Übrigen muss auch diese Massnahme geeignet erscheinen, um mit der unzureichenden Persönlichkeitsentwicklung zusammenhängenden Rückfallrisiken entgegenzuwirken.
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Die Massnahme ist erst mit der Revision des StGB aus dem Jahre 1971 ins StGB aufgenommen worden. Sie wurde vor der Revision des StGB im Jahre 2002 – in der Sache irreführend – als «Arbeitserziehung für junge Erwachsene» bezeichnet und von einer Reihe antiquitierter und teilweise sogar diffamierender Voraussetzungen abhängig gemacht. Trotz dieser höchst problematischen rechtlichen Vorgaben hat sich die Mass-
312
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
nahme in der Praxis zu einer altersangemessenen stationären Interventionsform entwickelt, welche vor den anerkannten Standards der Sozialpädagogik und Sozialtherapie normalerweise bestehen kann. Die in Art. 61 StGB redaktionell völlig neu umschriebenen «Massnahmen für junge Erwachsene» unterscheiden sich deshalb in der Realität nicht von der früheren «Arbeitserziehung für junge Erwachsene», sondern «legalisieren» gewissermassen die Rechtswirklichkeit. Die Massnahmen an jungen Erwachsenen nach Art. 61 StGB unterscheiden sich vom früheren Recht grundsätzlich bloss dadurch, dass sie vom Gericht wie alle anderen Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts in Verbindung mit einer schuldangemessenen Strafe angeordnet werden (vor der Revision des StGB von 2002 wurde eine Massnahme an jungen Erwachsenen wie im Jugendstrafrecht stets ohne Strafe angeordnet; sog. «Monismus»). Die spezifischen Voraussetzungen zur Anordnung der Massnahme, welche wiederum ergänzend zu jenen des allgemeinen Massnahmerechts zu beachten sind, umschreibt Art. 61 Abs. 1 StGB wie folgt: Der Straftäter darf im Zeitpunkt der Tat noch nicht 25 Jahre alt gewesen sein und muss ein Verbrechen oder Vergehen begangen haben. Dieses muss mit einer gestörten Persönlichkeitsentwicklung des Täters zusammenhängen, welche durch die Anordnung der Massnahme voraussichtlich derart beeinflusst werden kann, dass Rückfälle verhindert oder gemindert werden. Sind alle diese Voraussetzungen gegeben, dann ist die Massnahme anzuordnen (so schon BGE 102 IV 171; vgl. auch BGE 118 IV 351). Schwerste Straftaten stellen keine Kontraindikation für die Anordnung der Massnahme dar (abweichend: Urteil OGer BE vom 22.10.2004), wohl aber eine besondere Gefährlichkeit des Täters, sofern diese die Aufgabenerfüllung der Einrichtung in Frage stellt (BGE 125 IV 237 E. 6b). Da bei jungen Erwachsenen Drogenkonsum und abhängigkeit verbreitet sind, steht die Massnahme häufig in Konkurrenz zur Suchtbehandlung (Art. 60 StGB).
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Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Massnahme unterscheiden sich nur in Bezug auf die zeitliche Dauer von den vorgenannten Massnahmen: Eine Massnahme für junge Erwachsene ist normalerweise spätestens nach vier Jahren aufzuheben (darf nach Rückversetzung aus der bedingten Entlassung aber insgesamt höchstens sechs Jahre dauern), spätestens aber nachdem der junge Erwachsene das 30. Altersjahr vollendet hat (Art. 61 Abs. 4 und 5 StGB). Die festgelegte Höchstdauer von vier Jahren orientiert sich vorab daran, dass dem jungen Erwachsenen im zeitlichen Rahmen der Massnahme die Möglichkeit eröffnet werden soll, ggf. eine Berufslehre erfolgreich abzuschliessen.
29
313
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
VII 9.2.3 Massnahmenzentrum Uitikon (MZU), 8142 Uitikon/ZH Im Schlossgut Uitikon wurde 1874 eine Zwangserziehungsanstalt für Männer und Frauen eingerichtet, welche 1926 in eine Arbeitserziehungsanstalt für Männer umgewandelt wurde. Die mehrfach umgebaute und erweiterte Anstalt dient seit 1971 als Massnahmeeinrichtung für junge Erwachsene und verfügt seit 1976 auch über eine geschlossene Abteilung. Im Jahre 2006 wurde die Bezeichnung «Massnahmenzentrum Uitikon» eingeführt. Im Zusammenhang mit der Revision des StGB von 2002 wurde sein Auftrag auf den Vollzug von jugendstrafrechtlichen Sanktionen gemäss JStG erweitert. Damit wurde das Massnahmenzentrum zu einer spezialisierten Vollzugseinrichtung für junge Erwachsene und Jugendliche zwischen 16 und 30 Jahren. Funktion Vollzug der Massnahme nach Art. 61 StGB an jungen erwachsenen Männern sowie Vollzug von Freiheitsstrafen ab sechs Monaten an Jugendlichen (Art. 25 Abs. 2 JStG) ab dem 16. Altersjahr u. von Schutzmassnahmen an Jugendlichen (Art. 15 Abs. 1 JStG i.V.m. Art. 16 Abs. 3 JStG; Art. 15 Abs. 2 JStG). Ziel Ziel des MZU ist es, die eingewiesenen jungen Straftäter zu befähigen, selbstständig u. legal zu leben u. für ihre Lebensgestaltung in jeder Beziehung Selbstverantwortung zu übernehmen. Damit sollen Rückfälle verhindert u. die Gesellschaft geschützt werden. Anlage Die Anlage umfasst das Verwaltungsgebäude «Schlössli», ihm gegenüber befindet sich der Wohntrakt der Offenen Vollzugsabteilung, südlich davon die Wohngruppe Austritt, Schule und Therapie, westlich davon die Geschlossene Vollzugsabteilung mit integrierter Küche und Turnhalle, nordseitig die Ausbildungsbetriebe und die Freizeitanlage mit Fussballplatz und Schwimmteich. Die gesamte Anlage umfasst ca. 80 ha, davon werden 54 ha landwirtschaftlich genutzt. Gliederung /Anzahl Vollzugsplätze Geschlossene Abteilung mit Wohn- und Berufsabklärungsbereich Offene Abteilung mit Lehrlingshaus und Wohngruppe Austritt Vollzugsplätze insgesamt Anzahl Stellen Direktion und Verwaltung Geschlossene Abteilung GA Sozialpädagogik (3 Wohngruppen) GA Ausbildungsbetriebe (Schreinerei, Metallbau, Malerei, Atelier) GA Schule Offene Abteilung OA Sozialpädagogik (2 Wohngruppen) WGA Sozialpädagogik (1 Wohngruppe, externe Wohnungen) OA Ausbildungsbetriebe (Schreinerei, Metallbau, Malerei, Gärtnerei, Küche, Hauswirtschaft, Technischer Dienst) OA Schule Forensische Abteilung Sicherheit/Technischer Dienst Anzahl Stellen insgesamt
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30 34 64 8,2 11,6 16,5 7,0 2,2 16,8 14,0 2,8 22,1 1,0 7,5 11,2 92.5
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug (zusätzlich Aushilfen und Nebenämter im Auftragsverhältnis: Arzt mit Spezialvertrag, Seelsorge, Sportlehrperson, Supervisorinnen und Supervisoren) Ausbildungs- und Arbeitsbetriebe In den internen und externen Ausbildungsbetrieben werden Ausbildungen mit den Abschlüssen Eidg. Fähigkeitsausweis EFZ und Eidg. Berufsattest EBA angeboten. In folgenden Bereichen können Ausbildungen absolviert werden: Autowerkstatt, Gärtnerei, Hauswirtschaft, Küche, Landwirtschaft, Malerei, Metallbau, Schreinerei und Technischer Dienst. Intern: Gärtnerei, Küche, Malerei, Metallbau, Schreinerei, Malerei, Technischer Dienst; extern: Garage, Landwirtschaft. Ziel der Ausbildungsbetriebe der Geschlossenen und Offenen Abteilung ist die Abklärung der beruflichen Neigung und Eignung und die Festigung von bereits vorhandenen beruflichen Erfahrungen. Dies soll den Einstieg in die Berufsausbildung erleichtern. Im weiteren Verlauf stehen die Vermittlung von beruflichem Wissen und handwerklichem Können sowie die Förderung von beruflicher Identität im Fokus der Ausbildung. Die Ausbildungsbetriebe bieten den jungen Straftätern die notwendigen Grundlagen für das Erreichen eines eidg. Abschlusses, womit eine wesentliche Voraussetzung zur (Re-)Integration in die Gesellschaft gewährleistet ist. 3-Säulen-Modell Berufsbildung, Persönlichkeitsentwicklung, konfrontative Täter- und Deliktarbeit sowie therapeutische Modelle werden als gleichberechtigte Behandlungsmodule in den Vollzugsalltag integriert. Das MZU arbeitet mit dem 3-Säulen-Modell (Sozialpädagogik, Therapie, Berufsausbildung). Von den jungen Straftätern wird in allen drei Bereichen eine intensive Mitarbeit gefordert. Die drei Säulen sind gleichwertig. Risikoorientierte Täterarbeit Die Risikoorientierte Täterarbeit ist die fürsorglich-konfrontative Auseinandersetzung mit den jungen Straftätern und ihren kriminogenen Faktoren. Sie ist für die jungen Straftäter verpflichtender Bestandteil der Massnahme. Die Risikoorientierte Täterarbeit als Bestandteil des Risikoorientierten Sanktionenvollzugs (ROS) dient dem Erwerb und der Einübung eines individuellen Risikomanagements. Zentrales Anliegen der Risikoorientierten Täterarbeit ist die Verantwortungsübernahme des Täters für sein Deliktverhalten und seine Lebensumstände. Sie setzt einerseits auf unmittelbare Konfrontation des jungen Straftäters mit seinem regelwidrigen Verhalten im Alltag, andererseits auf deliktrekonstruktive Auseinandersetzungen mit seinen Straftaten bzw. mit seinen Einweisungsgründen. Dabei gilt der Grundsatz, dass jede Konfrontation konstruktiv und unterstützend sein soll. Über allem muss beim jungen Straftäter die Erkenntnis stehen, dass delinquentes und gewalttätiges Verhalten einen unzureichenden Versuch der Lebensbewältigung darstellt. Quellen BUNDESAMT FÜR STATISTIK (Hrsg.): Katalog der Justizeinrichtungen von September 2014. Bern 2015; MASSNAHMENZENTRUM UITIKON: Gesamtkonzept 2014; MASSNAHMENZENTRUM UITIKON: Ausbildung. April 2014; MASSNAHMENZENTRUM UITIKON: Das MZU. Einsehbar unter: www.justizvollzug.zh.ch > Über uns > Organisation > Massnahmenzentrum Uitikon.
315
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug 30
In Bezug auf den Vollzug der Massnahme verlangt Art. 61 Abs. 2 StGB, dass «Einrichtungen für junge Erwachsene [...] von den übrigen Anstalten und Einrichtungen dieses Gesetzes getrennt zu führen» sind. Diese Voraussetzung ist von grundlegender Bedeutung, weil sich eine altersspezifische Massnahme nur in eigenständigen Einrichtungen umsetzen lässt. Falls ein junger Erwachsener auch wegen einer vor dem 18. Altersjahr begangenen Tat verurteilt wurde, kann eine Massnahme nach Art. 61 StGB in einer Einrichtung für Jugendliche vollzogen werden. Diese Vorschrift macht deutlich, dass den Massnahmen an jungen Erwachsenen die Funktion eines Scharniers zwischen dem Jugend- und dem Erwachsenenstrafrecht zukommt: Massnahmen an jungen Erwachsenen sind gewissermassen Massnahmen an Straftätern, welche in Bezug auf das biologische Alter dem Jugendstrafrecht zwar entwachsen sind, aber vergleichbare Behandlungsbedürfnisse aufweisen.
30a
Die im Vollzug der Massnahme zu erbringenden Leistungen umschreibt Art. 61 Abs. 3 wie folgt: «Dem Täter sollen die Fähigkeiten vermittelt werden, selbstverantwortlich und straffrei zu leben. Insbesondere ist seine berufliche Aus- und Weiterbildung zu fördern». Diese dürren Worte unterstreichen, dass das Ziel der Rückfallverhütung bei jungen Erwachsenen vorab dadurch angestrebt werden soll, dass sie zu einem eigenverantwortlichen, selbständigen Leben befähigt werden. Dass dies auch – aber nicht nur – eine geglückte Integration in die Arbeitswelt voraussetzt, versteht sich eigentlich von selbst. Die allgemeinen Vorgaben zum Vollzug von Massnahmen gemäss Art. 90 und 91 StGB sind im Übrigen auch für Massnahmen für junge Erwachsene verbindlich.
30b
Eine Studie von MÜLLER und ROSSI (2009) zur Rückfälligkeit von jungen Erwachsenen untersucht die Rückfallkennzahlen von ehemaligen Bewohnern der Massnahmenzentren Arxhof und Uitikon, welche die Massnahmenzentren in den Jahren 1994 bis 2003 verlassen haben. Aus der Studie geht eine Gesamtrückfallquote von 62.5% hervor, wobei die Rückfälligkeit bei ehemaligen Bewohnern, die regulär aus der Massnahme ausgetreten sind oder erfolgreich eine Lehre oder Anlehre abgeschlossen haben, niedriger ist (Rückfallquote von 51.5% resp. 52.0%). Ehemalige Bewohner, welche mindestens zwei Jahre in der Massnahme verblieben, wurden ferner signifikant weniger häufig rückfällig als «Kurzaufenthalter» (Aufenthalte von null bis sechs Monaten). Eine weitere Differenzierung erfolgt aufgrund des Eintrittsalters, wobei ehemalige Bewohner, welche bei Eintritt bereits 20 Jahre oder älter waren, signifikant weniger häufig rückfällig wurden als
316
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
Jüngere. Eine Analyse der Rückfalldeliktschwere ergibt zudem, dass bei 60.5% der rückfällig gewordenen jungen Erwachsenen von einer Abnahme der Deliktschwereausgegangen werden kann. Vergleicht man diese Zahlen mit vergleichbaren Studien in deutschen Jugendgefängnissen mit einer Rückfallquote von bis zu 80%, kann man von einem erfreulichen Resultat sprechen (URBANIOK et al. 2006). Einrichtungen für junge Erwachsene im Sinne von Art. 61 StGB sind in der Praxis durchwegs Einrichtungen, in welchen weitgehend exklusiv nur diese Massnahme vollzogen wird. Zulässig sind überdies Einweisungen von Jugendlichen, welche das 17. Altersjahr vollendet haben nach Art. 16 Abs. 3 JStG und Einweisung von Jugendlichen nach dem ZGB.
31
Die Einrichtungen für junge Erwachsene sind den für den Straf- und Massnahmenvollzug zuständigen Behörden unterstellt. Derzeit stehen vier kantonale Einrichtungen für rund 200 junge erwachsene Männer zur Verfügung: die Massnahmeeinrichtungen Arxhof/BL, Kalchrain/TG, Uitikon/ZH (VII 9.2.3) und Pramont/VS. Diese Einrichtungen werden als offene Massnahmeeinrichtungen geführt, wobei die Massnahmeneinrichtungen Uitikon, Kalchrain und Pramont auch über eine geschlossene Abteilung verfügen. Für die nur ganz selten angeordneten Massnahmen an jungen erwachsenen Frauen wird dagegen keine einzige spezialisierte Einrichtung betrieben. Nachdem der Bundesrat darauf verzichtet hat, in Anwendung von Art. 387 Abs. 1 Bst. d StGB wie im früheren Recht (Art. 2 VStGB 2) festzulegen, dass Massnahmen an jungen erwachsenen Frauen je nach den persönlichen Umständen entweder in einem Erziehungsheim für weibliche Jugendliche, einer Frauenstrafanstalt oder einer anderen geeigneten Einrichtung zu vollziehen sind, bleibt unklar, wo solche Massnahmen künftig zu vollstrecken sind. Die Befugnis des Bundesrates, für den Straf- und Massnahmenvollzug an Frauen ergänzende Bestimmungen zu erlassen (Art. 387 Abs. 1 Bst. d StGB), bezieht sich (erstaunlicherweise) ausdrücklich nur auf abweichende Vollzugsformen nach Art. 80 StGB.
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Die vier oben erwähnten Einrichtungen arbeiten nach unterschiedlichen Konzepten, weshalb sie sich auch in Bezug auf die eingewiesenen jungen Erwachsenen unterscheiden. Einer Einweisung in eine bestimmte Einrichtung muss deshalb immer eine eingehende Abklärung der individuellen «Behandlungsbedürftigkeit» und «Behandlungsfähigkeit» eines jungen Erwachsenen vorausgehen. Und es kommt immer wieder vor, dass der Vollzug der Massnahme in einer bestimmten Einrichtung vorerst erfolglos bleibt, sich nach einer Versetzung in eine andere
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317
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
Einrichtung dann aber als Erfolg versprechend erweist. Ungeachtet der unterschiedlichen Strukturen und Konzepte der Einrichtungen für junge Erwachsene arbeiten diese durchwegs nach sozialpädagogischen und sozialtherapeutischen Grundsätzen: Sie unterscheiden sich – abgesehen von der Ausrichtung auf eine etwas ältere Altersgruppe – deshalb im Grundsatz kaum von einem Erziehungsheim für jugendliche Straftäter. Im Grunde genommen handelt es sich um «Erziehungsheime für junge Erwachsene»: Wie diese weisen Einrichtungen für junge Erwachsene eine ausgeprägte interne Differenzierung aus, beschäftigen für die Betreuung der jungen Erwachsenen sozialpädagogisch und sozialtherapeutisch ausgebildete Mitarbeitende und sind bestrebt, einerseits im Alltag des Massnahmenvollzugs ein altersentsprechendes, entwicklungsförderndes Klima zu entwickeln und andererseits mit individualisierten Angeboten (Allgemein- und Berufsbildung, «Soziales Training», Therapien etc.) speziellen Bedürfnissen gerecht zu werden. 34
Die Bedeutung der Massnahmen für junge Erwachsenen liegt in der altersbezogenen Erweiterung der Sanktionenpalette, nicht in der Anzahl der vom Gericht ausgesprochenen Massnahmen: In den 1980er Jahren wurde die Massnahme gesamtschweizerisch im Durschnitt circa 80 mal pro Jahr angeordnet. In den 1990er Jahren sank der Durchschnitt auf etwa 65 Anordnungen pro Jahr. Seit dem Jahr 2000 wurden– stark schwankend – jährlich zwischen 28 und 54 Massnahmen für junge Erwachsenen verhängt, im Durchschnitt in 38 Fällen pro Jahr. 2013 kam es zu 28 Anordnungen.
9.2.4
35
Die Aufhebung einer stationären therapeutischen Massnahme, die bedingte Entlassung und die im Anschluss daran zu treffenden Anordnungen
Da eine Massnahme grundsätzlich so lange dauern soll, wie deren Vollzug zur Rückfallverhütung erforderlich und Erfolg versprechend erscheint, enthält das StGB in den Art. 62 bis 62d StGB ein differenziertes und präzises Regelwerk zur Aufhebung einer Massnahme und zu den daran anschliessenden Anordnungen. Die Aufhebung einer Massnahme und eine bedingte Entlassung aus der Massnahme sind vom Gericht mindestens einmal jährlich von Amtes wegen zu prüfen. Auf Gesuch des Betroffenen, kann auch eine Prüfung ausserhalb des Prüfungsintervalls von einem Jahr erfolgen: Nach Art. 5 Abs. 4 EMRK haben Personen, deren Freiheitsentzug von persönlichen Eigenschaften oder sonst veränderlichen Umständen abhängt, ein Recht auf Prüfung des Freiheitsentzugs in angemessenen Abständen und innert 318
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
kurzer Frist. Die Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK dürfte im Massnahmenvollzug regelmässig erfüllt sein. Die schematische jährliche Überprüfung birgt zudem das Risiko, zu einer Routinekontrolle zu verkommen, ohne eine effektive Prüfung der relevanten Fragen vorzunehmen. Wie im Strafvollzug ist der Betroffene persönlich anzuhören und ein Bericht der Vollzugseinrichtung einzuholen (bei schweren Straftaten nach Art. 64 Abs. 1 StGB ist zusätzlich obligatorisch ein Gutachten eines Sachverständigen sowie eine Beurteilung durch die Fachkommission nach Art. 62d Abs. 2 StGB zu berücksichtigen). Zusammenfassend können die folgenden drei Konstellationen unterschieden werden: Die Massnahme kann sich in dem Masse als erfolgreich erwiesen haben, dass der Straftäter bedingt aus der Massnahme entlassen werden kann, sie kann sich aber auch – weil die Erreichung des Massnahmezweckes aussichtslos erscheint – als erfolglos erwiesen haben. Sie kann schliesslich, aus welchen Gründen auch immer, künftig schlicht undurchführbar sein.
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Als erfolgreich kann der Massnahmenvollzug in einer stationären Einrichtung dann bezeichnet werden, wenn die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung vorliegen (Art. 62 StGB). Anders als bei der bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe ist die bedingte Entlassung aus einer Massnahme an keine zeitliche Untergrenze gebunden und auch nicht vom Verhalten im Vollzug abhängig. Massgebliches Kriterium für eine bedingte Entlassung aus einer Massnahme ist einzig das Vorliegen einer hinreichend positiven Bewährungsprognose (dieses Kriterium hat der Gesetzgeber bei den Massnahmen anders formuliert als bei den Strafen – in der Sache geht es in beiden Fällen um dasselbe). Die Ausgestaltung der bedingten Entlassung unterscheidet sich von jener bei Strafen nur in Details: Die Probezeit bei Massnahmen nach Art. 59 StGB beträgt eins bis fünf, bei den beiden anderen Massnahmen eins bis drei Jahre. Der bedingt Entlassene kann zusätzlich verpflichtet werden, sich während der Probezeit ambulant behandeln zu lassen. Die Probezeit kann nötigenfalls mehrmals verlängert werden, darf aber bei den Massnahmen nach Art. 60 und 61 StGB die Höchstdauer von sechs Jahren normalerweise nicht überschreiten. Bewährt sich der bedingt Entlassene während der Probezeit, so wird er endgültig entlassen – die Freiheitsstrafe wird nicht mehr vollzogen (auch dann nicht, wenn der im Vollzug der Massnahme erstandene Freiheitsentzug kürzer war als die Freiheitsstrafe). Der in der Praxis seltene Fall, dass die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung just in dem Zeitpunkt erfüllt sind, in welchem eine Massnahme nach Art. 60 oder 61 StGB ihre gesetzliche Höchstgrenze erreicht hat, führt ebenfalls zu einer definitiven Entlassung
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319
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
und zum Verzicht auf den Vollzug der Freiheitsstrafe. In den meisten Fällen einer bedingten (oder auch definitiven) Entlassung sind im Übrigen besonders intensive Vorkehrungen zur Nachsorge der Entlassenen zu treffen. 38
Die Nichtbewährung nach einer bedingten Entlassung knüpft Art. 62a StGB daran, dass der bedingt Entlassene während der Probezeit erneut eine Straftat begangen hat, welche aufzeigt, dass das Risiko fortbesteht, welchem durch die Massnahme begegnet werden sollte. Das für die neue Straftat zuständige Gericht kann in diesem Falle entweder eine Rückversetzung in den stationären Massnahmenvollzug anordnen, die Massnahme aufheben und durch eine andere Massnahme ersetzen, die Massnahme aufheben und den Vollzug der Freiheitsstrafe anordnen (in beiden Fällen: sofern die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind) oder auch bloss eine subsidiäre Anordnung treffen (Verwarnung, ambulante Behandlung oder Bewährungshilfe oder eine Weisung anordnen, Verlängerung der Probezeit). Eine Nichtbewährung während der Probezeit setzt allerdings nicht zwingend voraus, dass der bedingt Entlassene eine neue Straftat begangen hat: Entzieht sich der bedingt Entlassene der Bewährungshilfe oder missachtet er erteilte Weisungen oder weist sein Verhalten während der Probezeit ernsthaft darauf hin, dass er eine schwere Straftat im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB begehen könnte, dann kann das Gericht ebenfalls eine Rückversetzung in den Straf- oder Massnahmenvollzug anordnen oder eine subsidiäre Anordnung treffen (Art. 62a Abs. 3 StGB bzw. Art. 62a Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 95 Abs. 3–5 StGB). Welche Anordnung das Gericht bei einer Nichtbewährung aus der breiten Palette der zulässigen Möglichkeiten trifft, richtet sich ausschliesslich danach, mit welcher Anordnung die beste Aussicht besteht, Rückfälle zu verhindern oder zu mindern. Für das Verfahren um Rückversetzung in den Massnahmenvollzug aus einer bedingten Entlassung hat das Bundesgericht den Anspruch des Betroffenen auf unentgeltliche Verbeiständung angesichts der unbestimmten Dauer der bevorstehenden Freiheitsentziehung bejaht (BGE 117 Ia 277).
39
Falls sich eine angeordnete Massnahme als erfolglos erweist, weil die Erreichung des damit verfolgten Zweckes nach den gemachten Erfahrungen als aussichtslos erscheint, ist die Massnahme aufzuheben (Art. 62c Abs. 1 Bst. a StGB). Auch in diesem Falle stehen dem Gericht mehrere Möglichkeiten offen: Er kann eine beliebige andere therapeutische Massnahme anordnen (sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind und diese als Erfolg versprechend erscheint; Art. 62c Abs. 3 StGB), bei besonders schweren Straftaten (Art. 64 Abs. 1 StGB) sogar eine 320
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
Verwahrung. Ist der im Massnahmenvollzug erstandene Freiheitsentzug kürzer als die aufgeschobene Freiheitsstrafe, dann kann er alternativ dazu die Reststrafe vollziehen lassen oder – sofern die Voraussetzungen für eine bedingte Freiheitsstrafe oder eine bedingte Entlassung vorliegen – deren Vollzug aufschieben. Schliesslich kann das Gericht die Vormundschaftsbehörde darüber informieren, dass er eine vormundschaftliche Massnahme für erforderlich erachtet. Im konkreten Fall hat das Gericht somit zu prüfen, welche dieser Anordnungen zulässig sind und unter den zulässigen jene zu wählen, welche unter dem Gesichtspunkt der Rückfallverhütung am erfolgversprechendsten erscheint. Der dritte und letzte Fall – die Undurchführbarkeit der Massnahme – liegt dann vor, wenn entweder eine gesetzliche Höchstdauer der Massnahme erreicht ist (Art. 60 und 61 StGB) oder wenn keine geeignete Einrichtung zum Vollzug der Massnahme zur Verfügung steht (Art. 62c Abs. 1 Bst. a und c StGB). Die in diesem Falle zu treffenden Anordnungen decken sich mit jenen im eben beschriebenen Fall einer erfolgslosen Massnahme.
40
Schliesslich ermächtigt Art. 62c Abs. 6 StGB das Gericht sogar, immer dann eine andere stationäre therapeutische Massnahme anstelle der ursprünglichen anzuordnen, wenn diese andere Massnahme mit Blick auf das Ziel der Rückfallverhütung geeigneter erscheint. Das Gericht ist in diesen Fällen nicht an die Aufhebungsgründe von Art. 62c Abs. 1 StGB gebunden. Eine im Urteil angeordnete stationäre therapeutische Massnahme eröffnet dem Gericht somit die Möglichkeit, je nach dem Vollzugsverlauf konsequent und mit hoher Flexibilität das Ziel der Rückfallverhütung zu verfolgen. Damit wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass sich dieser Verlauf – namentlich bei einem längeren Massnahmenvollzug – im Zeitpunkt des Strafurteils nicht vorhersehen lässt. Für den Verurteilten führt diese Flexibilität aber zur Konsequenz, dass für ihn während der ganzen Dauer des Massnahmenvollzugs letztlich offen bleibt, unter welchen konkreten Umständen er die richterlich verfügten Sanktionen zu erstehen hat: Im Extremfall ist es nach dem oben Gesagten durchaus möglich, dass ein Straffälliger, der gemäss Urteil zunächst in eine durch einen privaten Träger geführte Wohngemeinschaft für Drogenabhängige oder in eine psychiatrische Privatklinik eingewiesen wurde, schliesslich in einer geschlossenen Strafanstalt bis zu seinem Lebensende verwahrt wird.
41
321
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
9.3
Ambulante therapeutische Massnahmen
LII 9.3 Literatur zu den ambulanten therapeutischen Massnahmen BINSWANGER Ralf: Probleme der Durchführbarkeit ambulanter Massnahmen nach StGB Art. 43/44 aus psychiatrischer Sicht. In: ZStrR 1978, 366–385; BRÜHWILER Markus / RAMSEIER Fritz: Eine Alternative zur Freiheitsstrafe – Untersuchungen über die ambulante Massnahme nach Art. 43 und 44 StGB. Zürich (Schule für Soziale Arbeit) 1983; FRAUENFELDER Ursula: Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger als strafrechtliche Massnahme nach Art. 43 und 44 StGB. Zürich 1978; MÖRGELI Andreas: Die Kontrolle der angeordneten ambulanten Massnahme bei Aufschub der Strafe. In: Schuh Jörg (Hrsg.): Aktuelle Probleme des Straf- und Massnahmenvollzugs. Grüsch 1987, 307–333; MORGENSTERN Christine: Internationale Mindeststandards für ambulante Strafen und Massnahmen. Mönchengladbach 2002; RAUCHFLEISCH Udo: Die ambulante psychiatrische Behandlung nach StGB Art. 43 im Urteil von Richtern und Psychotherapeuten. In: ZStrR 1985, 176–191; SCHNEEBERGER GEORGESCU Regine: Der Vollzug ambulanter strafrechtlicher Massnahmen in der Schweiz – Ein Stück mit sechs Protagonisten und noch mehr Problemen. In: Baechtold Andrea / Senn Ariane (Hrsg.): Brennpunkt Strafvollzug. Regards sur la prison. Bern 2002, 91–107.
9.3.1
Voraussetzungen
42
Nach dem 1. Weltkrieg wurden in etlichen psychiatrischen Kliniken ambulante psychotherapeutische Behandlungen angeboten. In den kantonalen Strafgesetzbüchern war diese Sanktion allerdings nicht vorgesehen (bzw. nur anzuordnen als Weisung bei der bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe). Etliche kantonale Gerichte verfügten allerdings dennoch ambulante Therapien für vermindert Zurechnungsfähige (also contra legem), unbeirrt auch über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des StGB hinaus. Mit der Revision des StGB von 1971 wurde dieser Zustand gewissermassen legalisiert: Die ambulanten Massnahmen wurden in das Sanktionenrecht aufgenommen.
43
Die Massnahmen nach Art. 63 bis 63b StGB zielen auf grundsätzlich dieselben Tätergruppen wie die Art. 59 und 60 StGB (psychisch schwer Gestörte und Suchtmittelabhängige) und sind vom Gericht, mit einer Ausnahme, unter den analogen Voraussetzungen anzuordnen: Eine ambulante therapeutische Massnahme setzt nicht voraus, dass der Straftäter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat – sie kann bei allen Straftaten angeordnet werden (Art. 63 Abs. 1 StGB). Falls sowohl eine stationäre wie auch eine ambulante Massnahme zulässig sind, wählt das Gericht die mit Blick auf die Rückfallverhütung erfolgver-
322
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
sprechendere. Trifft dies für beide Massnahmen gleichermassen zu, kommt die ambulante Massnahme– als weniger beschwerende Massnahme –zum Zuge (Art. 56a StGB). Die frühere Zurückhaltung des Bundesgerichts in Bezug auf die Anordnung ambulanter Massnahmen ist damit hinfällig geworden (BGE 116 IV 101). Für die Beurteilung der «Eignung» einer ambulanten Massnahme spielt insbesondere auch eine entscheidende Rolle, ob bzw. wie weit der Straffällige motiviert ist, sich auf eine Behandlung tatsächlich einzulassen oder ob er einer ambulante Behandlung bloss zustimmt, um den Richter möglichst milde zu stimmen.
9.3.2
Mit und ohne Aufschub des Strafvollzugs
Das Gericht kann eine ambulante Behandlung in zwei verschiedenen Formen anordnen, welche für den Verurteilten ganz erheblich unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen: Lässt er die ambulante Massnahme ohne Aufschub der vollziehbaren Freiheitsstrafe vollstrecken, dann wird der Straffällige in eine Strafanstalt eingewiesen; die ambulante Massnahme wird im Rahmen der Freiheitsentziehung in einer Strafanstalt durchgeführt. Diese Form einer ambulanten Massnahme könnte im Lichte der Strafvollzugsgrundsätze des Art. 75 Abs. 1 StGB (Abschnitt 5.2) zwar als «eigentlich unnötig» gewertet werden, weil die Strafanstalten bei allen Strafgefangenen erforderlichenfalls angehalten sind, therapeutische Behandlungen durchführen zu lassen. Die Anordnung einer therapeutischen Massnahme durch das Gericht hat indessen den unbestreitbaren Vorteil, dass die Anstaltsleitung im konkreten Fall ausdrücklich verpflichtet wird, eine solche Massnahme auch tatsächlich durchzuführen und dass auch der Strafgefangene angehalten ist, sich dieser Massnahme zu unterziehen. Entscheidet sich das Gericht dagegen ausnahmsweise (BGE 129 IV 161 E. 4.1) für einen Aufschub der vollziehbaren Freiheitsstrafe, dann erfolgt die Massnahme, ohne dass dem Verurteilten gleichzeitig die Freiheit entzogen wird: Der Verurteilte verbleibt (normalerweise) an seinem bisherigen Aufenthalt und lässt sich während der Massnahmedauer ambulant behandeln (Art. 63 Abs. 2 StGB).
44
Obwohl die eigentliche therapeutische Behandlung mit und ohne Strafaufschub völlig identisch sein kann, handelt es sich bei den beiden Formen einer ambulanten Massnahme in der Sache um völlig unterschiedliche Massnahmen: Erfolgt sie ohne Strafaufschub, dann hat sie den Charakter einer sowohl an die Anstaltsleitungen wie auch an den Verurteilten gerichteten richterlichen Weisung; wird ein Strafaufschub
45
323
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
angeordnet, dann bedeutet dies eine Substituierung der Freiheitsstrafe durch eine nicht freiheitsentziehende Sanktion. Ob das Gericht eine vollziehbare Freiheitsstrafe tatsächlich vollstrecken lässt, hängt davon ab, ob dies erforderlich ist, «um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen» (Art. 63 Abs. 2 StGB). Mit anderen Worten: Sind die Behandlungsaussichten mit Strafaufschub günstiger, dann ist dieser normalerweise zu gewähren (zurückhaltender gemäss früherem Recht noch BGE 116 IV 101). Falls eine sofortige Behandlung gute Resozialisierungschancen bietet, welche der Strafvollzug klarerweise verhindern oder vermindern würde, geht die Therapie vor (BGer-Urteil 6B_95/2014 vom 16. Oktober 2014 E. 3 mit Hinweis auf BGE 129 IV 161 E. 4.1 und E. 4.3 und BGer-Urteil 6B_495/2012 vom 6. Februar 2013 E. 6.2). Dies allerdings unter Vorbehalt von Art. 63b Abs. 3 StGB: Gefährdet ein Strafaufschub die öffentliche Sicherheit, sind also Rückfälle (von einer gewissen Erheblichkeit) während einer ambulanten Behandlung mit Strafaufschub zu befürchten, hat das Gericht von einem Strafaufschub abzusehen (so schon BGE 100 IV 14). Unterzieht sich der Betroffene dagegen bereits einer aussichtsreichen Behandlung, dann ist ein Strafaufschub angezeigt (BGE 114 IV 88 E. 2, 3 und 93 E. 4, 105 IV 87; zur ambulanten Behandlung durch Abgabe von Heroin vgl. BGer-Urteil 6B_869/2008 vom 21. Januar 2009). Bei der Beurteilung dieser Sachverhalte wird sich der Richter zwar auf gutachterliche Empfehlungen stützen können, welche sich insbesondere zur Gefährlichkeit des Betroffenen und den möglichen psychischen Auswirkungen des Strafvollzugs auf den Heilungserfolg äussern müssen, doch verbleibt ihm dabei ein erheblicher Ermessensspielraum. Die ältere Praxis, dass ein Strafaufschub normalerweise bloss für Freiheitsstrafen bis zu 18 Monaten in Frage kommt (BGE 107 IV 22) – ausnahmsweise aber auch für längere (BGE 120 IV 1 E. 2b: 2 ½ Jahre Freiheitsentzug, 119 IV 309 E. 8b: 6 Jahre Freiheitsentzug) – ist hinfällig geworden, weil die für diese Praxis massgeblichen Gesichtspunkte mit der Revision des StGB von 2002 erheblich verändert wurden (einerseits sind bedingt vollziehbare Strafen nicht mehr bloss für Freiheitsstrafen bis zu 18 Monaten zulässig, sondern für Strafen bis zu zwei Jahren, andererseits wurde die Höchstdauer der ambulanten Massnahmen verlängert).
324
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
9.3.3
Vollstreckung und Vollzug der ambulanten Massnahme
Der Vollzug einer ambulanten Massnahme kann für eine Dauer von längstens zwei Monaten stationär erfolgen, wenn dies zur Einleitung der Behandlung erforderlich ist (Art. 63 Abs. 3 StGB). Dies kann etwa geboten sein, um einen Suchtmittelabhängigen von seiner körperlichen Abhängigkeit zu entziehen oder um einen psychisch kranken Straftäter auf für ihn notwendige Medikamente einzustellen. Die ambulante therapeutische Behandlung selbst richtet sich nach für die Behandlung psychischer Störungen bzw. Suchtmittelbehandlungen allgemein anerkannten therapeutischen Standards. In der Praxis werden meist psychotherapeutische Behandlungsformen aller Art angewendet, häufig in Verbindung mit medikamentösen Behandlungen oder auch ausschliesslich medikamentöse Behandlungen (z.B. Antabuskuren oder eine ärztlich kontrollierte Abgabe von Methadon oder Heroin). Zulässig sind nicht bloss ärztliche Behandlungsmassnahmen, sondern auch weitere im Umfeld des Gesundheitswesens praktizierte anerkannte Therapieformen, einschliesslich der Paramedizin (BGE 124 IV 246). Bei der praktischen Durchführung solcher Behandlungen ergeben sich indessen grundlegende Unterschiede je nachdem, ob das Gericht einen Strafaufschub gewährt hat oder nicht.
45a
Hat das Gericht keinen Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe angeordnet, wird die «ambulante» Behandlung während des Aufenthalts in einer Strafanstalt durchgeführt – meist in der Form einer Einzeltherapie, gelegentlich auch als Gruppentherapie. Für die Durchführung der Behandlung werden die normalerweise dem Gesundheitsdienst angegliederten, in der Regel teilzeitlich tätigen Therapeuten der Anstalt eingesetzt, ausnahmsweise auch andere, im Einzelfall beigezogene externe Therapeuten. Selbst wenn der Straffällige in der Gerichtsverhandlung einer ambulanten Therapie ausdrücklich zugestimmt hatte, erfährt er während des Strafvollzugs den richterlichen Behandlungsauftrag (anders als nicht straffällig gewordene Patienten) nicht bloss als fremdbestimmt, sondern ist überdies nicht in der Lage, einen Therapeuten seines Vertrauens frei zu bestimmen. Allenfalls kann er den Wunsch äussern, durch diesen oder jenen Therapeuten behandelt oder nicht behandelt zu werden. Ob unter diesen Voraussetzungen die Erfolgsaussichten einer ambulanten Behandlung a priori verschlechtert werden oder ob diese für den Straffälligen sogar eine Chance für den Einstieg in eine Behandlungsmassnahme darstellen, ist in Fachkreisen umstritten. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass das für eine erfolgreiche
45b
325
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
Behandlung erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Patient auch dann gefährdet ist, wenn die Behandlung in einem zwischen dem Therapeuten und dem Patienten vereinbarten «Behandlungsvertrag» transparent ausgestaltet wird. Dies auch deshalb, weil der – fachlich unabhängige und grundsätzlich einer Schweigepflicht unterstehende – Therapeut vom Strafgefangenen häufig doch als «Gehilfe der Strafjustiz» wahrgenommen wird. 45c
Darüber hinaus stösst die Durchführung einer ambulanten Behandlung im Rahmen des Vollzugs einer Freiheitsstrafe nicht selten an Grenzen: Zum einen verfügen nicht alle Strafanstalten über einen quantitativ und qualitativ ausreichenden Therapeutenstab, sind also nicht jederzeit in der Lage, die Durchführung einer ambulanten Massnahme regelmässig wöchentlich oder alle zwei Wochen, mit ausreichender Therapiedauer und hoher Konstanz der einzelnen Therapeuten zu gewährleisten. Andererseits können auch vollzugsbedingte Faktoren (etwa die Versetzung in eine andere Vollzugsanstalt oder disziplinarische Massnahmen) den Behandlungsverlauf erheblich beeinträchtigen. Strafanstalten sind eben nicht nach therapeutischen Gesichtspunkten organisiert. Wie erfolgreich in einer Strafanstalt «trotzdem» therapeutische Behandlungen durchgeführt werden können, hängt letztlich entscheidend davon ab, wie sorgfältig vor einer Anordnung der Massnahme die besonderen Bedingungen ihrer Durchführung in die Entscheidfindung einbezogen worden sind und wie gut das Instrument der ambulanten Massnahme in die Alltagskultur der Anstalt integriert ist.
45d
Wurde ein Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe gewährt, verbleibt der Verurteilte normalerweise an seinem normalen Aufenthalt; er wird jedenfalls nicht in eine stationäre Behandlungseinrichtung eingewiesen. Sollte in einem späteren Zeitpunkt von seiner Belassung in Freiheit jedoch eine Gefährdung für Dritte ausgehen, kann der Aufschub rückgängig gemacht werden: Die aufgeschobene Freiheitsstrafe wird vollzogen, die ambulante Massnahme während des Vollzugs fortgesetzt (Art. 63b Abs. 3 StGB). Während der Dauer des Strafaufschubs hat sich der Verurteilte einer – tatsächlich – ambulanten Behandlung zu unterziehen, welche auch in diesem Falle nach den allgemein anerkannten therapeutischen Standards erfolgt. Welche Behörde für die Vollstreckung einer solchen ambulanten Massnahme verantwortlich ist, regelt das kantonale Recht unterschiedlich: In den meisten Kantonen sind die «Vollzugsbehörden» zuständig, in anderen die Bewährungshilfen.
45e
Bei der Bezeichnung des Therapeuten berücksichtigt die zuständige Behörde bestmöglich Wünsche des Straffälligen und den Sachverhalt, 326
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
dass etliche Straffällige bereits in einer therapeutischen Behandlung stehen. Als Therapeuten kommen je nach dem Behandlungsauftrag niedergelassene oder in einem Spital oder einer Klinik tätige Ärzte, Psychiater oder andere anerkannte Fachtherapeuten in Frage (im Kanton Zürich werden die Behandlungen durch den dem Amt für Justizvollzug unterstellten Psychiatrisch-Psychologischen Dienst durchgeführt). Die tatsächliche Eignung eines beliebigen Therapeuten für die Durchführung einer strafrechtlich angeordneten ambulanten Massnahme lässt sich durch die Behörde zum Voraus häufig kaum ermitteln. In der Praxis berücksichtigt sie deshalb meist Therapeuten, für welche aus der Vergangenheit gute Erfahrungen vorliegen. Für die «Erfolgskontrolle» einer ambulanten Behandlung trifft die zuständige Behörde die notwendigen Absprachen mit dem Therapeuten. Die Kommunikation zwischen Vollzugsbehörde und Therapeut erfolgt indessen nicht immer zufriedenstellend, sei es, weil ein allzu bürokratischer Stil der Behörde dies verhindert, sei es, weil sich der Therapeut den Informationsbedürfnissen der Behörde erfolgreich zu entziehen vermag. Obwohl die Durchführung der ambulanten Massnahmen mit Strafaufschub wissenschaftlich noch nicht aufgearbeitet ist und auch nur ganz wenige Erfahrungsberichte vorliegen, hat sich diese Massnahme – gemessen an den erfolgreichen Abschlüssen – unbestritten bewährt und darf als ein in der Schweiz seit mehr als drei Jahrzehnten erfolgreich eingeführtes Instrument der Substitution der Freiheitsstrafe durch nicht freiheitsentziehende Sanktionen gewertet werden.
9.3.4
Aufhebung der ambulanten Massnahme
Die Aufhebung einer ambulanten Massnahme richtet sich grundsätzlich nach denselben Grundsätzen wie bei stationären Massnahmen (Art. 63a StGB). Eine bedingte Entlassung aus einer ambulanten Massnahme ist allerdings naturgemäss ausgeschlossen. Die Regeln für stationäre Massnahmen gelten auch für die jeweilige zeitliche Höchstdauer einer Massnahme und deren Verlängerung (Art. 63 Abs. 4 und Art. 63a Abs. 2 Bst. c StGB). Bei einem erfolgreichen Abschluss einer ambulanten Behandlung nach Strafaufschub wird die aufgeschobene Freiheitsstrafe nicht mehr vollzogen (Art. 63b Abs. 1 StGB), sie wird also definitiv durch die ambulante Massnahme substituiert. Bei Erfolgslosigkeit der Massnahme wird die aufgeschobene Freiheitsstrafe normalerweise vollzogen (sofern nicht die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung oder eine bedingte Freiheitsstrafe vorliegen), wobei das Gericht festlegt, in welchem Masse die mit der ambulanten Behandlung verbundene Freiheitsentziehung auf die Strafe anzurechnen ist (zur
327
46
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
Tragweite des Beschleunigungsgebots gemäss Art. 29 Abs. 1 BV für die Anordnung des Vollzugs einer aufgeschobenen Freiheitsstrafe vgl. BGE 130 I 269 E. 3 und 4). Als Alternative zur nachträglichen Vollstreckung (eines Teils) der Freiheitsstrafe hat das Gericht aber auch hier die Möglichkeit, eine stationäre therapeutische Massnahme anzuordnen, wenn die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt sind und dies unter dem Gesichtspunkt der Rückfallverhütung als Erfolg versprechend erscheint (Art. 63b Abs. 2–5 StGB). Der Entscheid, ob eine aufgeschobene Freiheitsstrafe zu vollziehen oder ob eine stationäre therapeutische Massnahme anzuordnen ist, muss auf eine aktuelle psychiatrische Begutachtung abgestützt werden (BGE 134 IV 246). 47
Damit wird deutlich, dass das Massnahmerecht weitgehend nach dem Prinzip kommunizierender Röhren ausgestaltet ist: Nach dem oben Gesagten kann das Gericht eine vorerst ambulante Massnahme, welche mit Aufschub der Freiheitsstrafe angeordnet wurde, in eine stationäre therapeutische Massnahme umwandeln (BGer-Urteil 6B_253/2015 vom 23. Juli 2015 E. 2.2.2). Diese aber darf das Gericht unter den Voraussetzungen von Art. 62c Abs. 4 später sogar durch eine Verwahrung ersetzen (BGer-Urteil 6B_685/2014 vom 25. September 2014). Im Ergebnis bedeutet dies, dass eine durch das Gericht im Zeitpunkt des Urteils angeordnete Substituierung der Freiheitsstrafe durch eine nicht freiheitsentziehende Sanktion in einem späteren Zeitpunkt zu einer verwahrenden Freiheitsentziehung in einer geschlossenen Vollzugsanstalt führt, welche ggf. bis zum Lebensende des Verurteilten andauert. Diese – aus dem Gesetzestext nicht unmittelbar ersichtliche Aussicht – ist kein bloss theoretisches Szenario: Umwandlungen von ambulanten Massnahmen in Verwahrungen wurden bereits nach früherem Recht angeordnet (Beschluss OGer des Kantons Zürich vom 25.6.1999 i.S. ASMV c. U.G., E. 4). Solange die Rechtsprechung die Voraussetzungen für solche Umwandlungen nicht präzisiert, könnte die «Attraktivität» der ambulanten therapeutischen Massnahme für Straffällige deshalb beeinträchtigt werden.
48
Obgleich die ambulanten Massnahmen bundesrechtlich verhältnismässig detailliert normiert wurden, bleibt den Kantonen ein erheblicher Gestaltungsspielraum, namentlich in Bezug auf deren Vollstreckung. Dieser Spielraum wird auf der Ebene der Gesetzgebung aber kaum ausgeschöpft, also der Praxis überlassen.
49 bis 53
(neu: N. 45a bis e)
328
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
9.3.5
Die Bedeutung der ambulanten therapeutischen Massnahmen als strafrechtliche Sanktion
In den 1990er Jahren wurden in der Schweiz im Durchschnitt jährlich über 650 Straffällige zu einer ambulanten Massnahme verurteilt, was sechs Prozent aller unbedingten Freiheitsstrafen entspricht und die Zahl aller stationären therapeutischen Massnahmen deutlich übersteigt (jährlich rund 430). In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts gingen die Anordnungen von ambulanten Massnahmen auf durchschnittlich 480 pro Jahr zurück. Seit 2011 ist ein deutlicher Rückgang auf circa 290 Anordnungen pro Jahr zu verzeichnen. Nach wie vor wird in etwa drei Viertel der Fälle ein Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe angeordnet. Der Anteil der erfolgreich abgeschlossenen ambulanten Massnahmen wird statistisch nicht ausgewiesen. Klar ist jedoch, dass die Massnahmedauer die Strafdauer vielfach um ein Mehrfaches übersteigt; nur in ganz seltenen Fällen liegt sie unter der Strafdauer.
9.4
Die Verwahrung
LII 9.4 Literatur zur Verwahrung AEBERSOLD Peter: Von der Kastration zur Incapacitation. Über den Umgang mit gefährlichen, insbesondere sexuell gestörten Tätern. In: Bauhofer Stefan / Bolle Pierre-Henri / Dittmann Volker (Hrsg.): «Gemeingefährliche» Straftäter. Délinquants «dangereux». Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie. Bd. 18, Chur/Zürich 2000, 171–192; ALBRECHT Peter: Die Verwahrung nach Art. 64 StGB. Wirklich nur «ultima ratio»? In: AJP 2009, 1116–1122; BERNARD Stephan / STUDER Rafael: Psychiatrische Gutachter ohne strafprozessuale Kontrolle? In: ZStrR 2015, 76–100; BOTSCHAFT DES BUNDESRATS zur Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter. In: BBl 2001, 3433– 3464; BOTSCHAFT DES Bundesrates zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches in der Fassung vom 13. Dezember 2002. Umsetzung von Artikel 123 der Bundesverfassung über die lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter vom 23. November 2005. In: BBl 2006, 889–918; DER BUNDESRAT: Bericht in Erfüllung des Postulats 13.3978 Rickli vom 27. September 2013, 1. Juli 2015. EBNER Gerhard et al.: Verwahrung gefährlicher Straftäter: Kluft zwischen politischen Forderungen und medizinisch-wissenschaftlicher Machbarkeit. In: SZK 2/2005, 71–72; FORSTER Marc: Lebenslange Verwahrung: zur grundrechtskonformen Auslegung von Art. 123a BV. In: AJP 2004, 418–424; GERMANN Urs: Sonderfall Verwahrung. In: Fink Daniel / Schulthess Peter (Hrsg.): Strafrecht, Freiheitsentzug, Gefängnis. Ein Handbuch zur Entwicklung des Freiheitsentzugs in der Schweiz. Bern 2015, 198–215; KUNZ Karl-Ludwig: Die Verwahrung psychisch unauffälliger Straftäter – ein Problem für den Rechtsstaat? Überlegungen zur Legitimität der sichernden Verwahrung. In: ZStrR 2004, 234–250; JEANNERET Yvan / KUHN André: L’internement à vie devant le Tribunal fédéral: l’indépendance et le courage de la
329
54
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug Haute Cour à l’honneur. In: Jusletter 16. Dezember 2013; MAZZUCCHELLI Goran: Die Verwahrung ist kein Gottesurteil. In: Plädoyer 2/2003, 36–44; SEFEROVIC Goran: Die Umsetzung der Verwahrungsinitiative – In zwei Schritten zur eingeschränkten Anwendbarkeit der lebenslänglichen Verwahrung. In: Sicherheit & Recht 2/2014, 105–113; TRECHSEL Stefan: Von der Initiative zum Strafgesetz. Gedanken zur Gestaltung der lebenslangen Verwahrung im StGB. In: Jusletter 17. Mai 2004; WEBER Jonas Peter: Zur Verhältnismässigkeit der Sicherungsverwahrung. Ausblick auf die künftige Anwendung von Art. 64 EStGB. In: ZStrR 2002, 398–409. 55
Die auf das Preussische Allgemeine Landrecht (1794) bzw. die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (1532) zurückgehende Massnahme der Verwahrung bezweckt ebenfalls den Schutz der Öffentlichkeit vor Rückfällen verurteilter Straftäter. Anders als bei den therapeutischen Massnahmen soll dieser Massnahmezweck indessen nicht durch eine therapeutische Einwirkung auf die Person des Straftäters erzielt werden, sondern durch eine «Unschädlichmachung» des Straftäters mittels verschuldensunabhängiger, zeitlich unbeschränkter Freiheitsentziehung. Die Verwahrung definiert den Straftäter nicht als verantwortliche, mit der Sanktion anzusprechende Person, sondern als «auszuschaltenden Gefahrenherd» (KUNZ 2004). Nach diversen Revisionen des Verwahrungsrechts sind heute drei verschiedene Arten der Verwahrung zu unterscheiden: die ordentliche Verwahrung, die lebenslängliche Verwahrung sowie die nachträgliche Verwahrung.
9.4.1
Die ordentliche Verwahrung
9.4.1.1
Anordnung
56
Die in den Art. 64 bis 64b StGB geregelte ordentliche Verwahrung ersetzte 2007 die Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern (Art. 42 aStGB) und die Verwahrung von geistig Abnormen (Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 aStGB), wobei sich die erfassten Zielgruppen der neuen bzw. der alten Bestimmungen im Einzelnen nicht unwesentlich unterscheiden. Mehr noch als unter dem alten Recht soll sich die Anordnung einer Verwahrung heute auf Straftäter beschränken, von welchen ein hohes Risiko ausgeht, dass sie weitere schwere Straftaten begehen werden.
57
Art. 64 Abs. 1 StGB knüpft die Anordnung einer Verwahrung an zwei kumulative Voraussetzungen: Die eine betrifft die Schwere der Anlasstat, die andere die Prognose über das künftige Legalverhalten des Straffälligen.
330
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
Die Anlasstat für eine nicht durch das Verschulden begrenzte Freiheitsentziehung muss naturgemäss eine schwere sein (BGE 127 IV 1): Es muss sich entweder um einen Mord handeln, eine vorsätzliche Tötung, eine schwere Körperverletzung, eine Vergewaltigung, einen Raub, eine Geiselnahme, eine Brandstiftung oder «eine andere mit einer Höchststrafe von fünf oder mehr Jahren bedrohte Tat» (bei Letzterer handelt es sich allerdings im konkreten Einzelfall nicht immer um ein tatsächlich schweres strafbares Verhalten). Ferner muss der Täter durch diese Tat die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigt haben oder beeinträchtigt haben wollen.
57a
Die zweite Voraussetzung betrifft die Legalprognose des Straffälligen: Diese muss ernsthaft erwarten lassen, dass der Straftäter weiterhin analoge Straftaten begeht, wie sie als Anlasstat vorausgesetzt sind. Diese Prognose kann entweder «auf Grund der Persönlichkeitsmerkmale des Täters, der Tatumstände und seiner gesamten Lebensumstände» (lit. a) gestellt werden (was von der Lehre nicht bloss deshalb kritisiert wird, weil diese Prognosekriterien äusserst unbestimmt sind, sondern auch mit der Begründung, dass wissenschaftlich erhärtete Legalprognosen auf dieser Grundlage nicht zu erstellen sind). Die Prognose kann aber auch aus «einer anhaltenden oder lang dauernden psychischen Störung von erheblicher Schwere, mit der die Tat in Zusammenhang stand» (lit. b), abgeleitet werden (was in der Sache Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 aStGB entspricht).
57b
9.4.1.2
Vollstreckung und Vollzug der Verwahrung
Anders als bei den therapeutischen Massnahmen und im Unterschied zum früheren Recht geht der Vollzug der Freiheitsstrafe dem Vollzug der Verwahrung immer voraus (Art. 64 Abs. 2 StGB). Treffen im Vollzug mehrere Verwahrungen zusammen, so werden sie wie eine einzige Verwahrung vollzogen (Art. 8 Abs. 1 V-StGB-MStG).
57c
Vor Ablauf des Vollzugs der Freiheitsstrafe prüft die zuständige Vollzugsbehörde, ob die Voraussetzungen für eine stationäre therapeutische Behandlung erfüllt sind und folglich anstatt der Verwahrung eine Therapiemassnahme vollzogen werden soll (Art. 64b Abs. 1 lit. b StGB), was dann gegebenenfalls beim anordnenden Gericht zu beantragen ist.
57d
Der Vollzug der Verwahrung erfolgt entweder in einer Massnahmevollzugseinrichtung oder in einer geschlossenen Strafanstalt (Art. 64 Abs. 4 StGB).
57e
331
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug 57f
Bei der ordentlichen Verwahrung sind Vollzugsöffnungen grundsätzlich möglich (Art. 90 Abs. 4bis StGB) und im Hinblick auf eine spätere bedingte Entlassung auch erwünscht. Dazu ist vorgängig die Fachkommission gemäss Art. 62d Abs. 2 StGB anzuhören, wenn die Vollzugsbehörde selber nicht eindeutig beurteilen kann, ob die Bewilligung von Vollzugslockerungen eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt (Art. 75a StGB).
57g
Nach welchen Regeln die Verwahrung zu vollziehen ist, lässt sich aus dem Gesetzestext nicht unmittelbar erschliessen. Auf den Vollzug der Verwahrung ausdrücklich anwendbar sind bloss die allgemeinen Vollzugsgrundsätze (Art. 74 StGB), die wenigen speziellen Vorgaben für den Massnahmenvollzug generell (Art. 90 StGB) sowie die gemeinsamen Bestimmungen (Disziplinarrecht, Art. 91 StGB; Unterbrechung des Vollzugs, Art. 92 StGB). Die Gesetzesmaterialien belegen indessen, dass der Gesetzgeber auch die übrigen Bestimmungen des Vierten Titels (Art. 75–89 StGB) als grundsätzlich auf den Verwahrungsvollzug anwendbar erachtet hat. Verwahrte dürfen im Vollzug jedenfalls nicht schlechter gestellt werden als Strafgefangene.
57h
Faktische Auswirkungen auf den Vollzug hat allerdings die Unbestimmtheit der Verwahrungsdauer: Sie verhindert eine zeitliche verbindlich strukturierte Vollzugsplanung. Der Status des «als öffentliches Risiko» qualifizierten Verwahrten hat zusammen mit den unbestimmten Zukunftsperspektiven naturgemäss auch Auswirkungen auf die Psyche und das Verhalten der Verwahrten: Depressive Reaktionen sind ebenso verbreitet wie die Tendenz, dass sich Verwahrte durch eine beflissene – und gelegentlich unterwürfige – Anpassung an die Anstaltsregeln für eine Entlassung aus der Verwahrung zu qualifizieren versuchen. Diese Probleme werden sich unter dem qualifizierten Regime einer «lebenslänglichen Verwahrung» (Abschnitt 9.4.2) zweifellos noch akzentuieren. Verwahrte, welche nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse auf absehbare oder sogar unabsehbare Zeit nicht mit einer Entlassung rechnen können, sollten jedenfalls über diesen Sachverhalt eindeutig aufgeklärt werden. Wenn sich der Verwahrte immer wieder an den Strohhalm einer bedingten Entlassung klammert und mehrfach erneut einen negativen Entscheid hinnehmen muss, ist mit weit schwerwiegenderen depressiven Entwicklungen zu rechnen.
57i
Ein angemessener Umgang mit Verwahrten im Vollzug ist auch deshalb anspruchsvoll, weil sich Verwahrte, die sich mit einem sehr langen Vollzug abgefunden haben, im Anstaltsalltag zwar oftmals als ausgesprochen angepasst und deshalb für die Mitarbeitenden «angenehme» 332
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
Inhaftierte erweisen, aber durch das Anpassungsverhalten Persönlichkeitsentwicklungen, die in einem späteren Zeitpunkt eine bedingte Entlassung ermöglichen könnten, verhindert werden. Im Rahmen der Vollzugsplanung sind die Anstalten deshalb häufig bemüht, den Verwahrten «anstaltsinterne Lebensperspektiven» aufzuzeigen, indem Versetzungsmöglichkeiten in spezielle Vollzugsformen oder offenere Verwahrungsanstalten in Aussicht gestellt werden, in welchen der Anstaltsalltag besondere anstaltsinterne Freiräume eröffnet. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich in einem viel beachteten Urteil ausführlich mit dem Verwahrungsvollzug auseinander gesetzt. Dabei ist es insbesondere zum Ergebnis gekommen, dass zwischen dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Sicherungsverwahrung zugunsten der Verwahrten ein Abstand gewahrt werden müsse (sog. «Abstandsgebot»: BVerfGE 109, 133). Begründet wird dies damit, dass der Freiheitsentzug bei der Sicherungsverwahrung nicht der Vergeltung bereits begangener Rechtsgutverletzungen dient, sondern einzig der Verhinderung künftiger Straftaten, deren Eintritt sich regelmässig nicht sicher voraussagen lässt. Zum Ausmass der Besserstellung hat das deutsche Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass sich die Besserstellung am Gebot der Verhältnismässigkeit zu orientieren habe und die Möglichkeiten soweit ausgeschöpft werden müssen, als sich dies mit den Interessen der Justizvollzugsanstalten verträgt. Sofern es sich um eine besonders lange Unterbringung handelt, sind gegebenenfalls zusätzliche Vergünstigungen zu erwägen, «um dem hoffnungslos Verwahrten einen Rest an Lebensqualität zu gewährleisten» (BVerfGE 109, 133). Es muss sich noch zeigen, inwiefern das Abstandsgebot auch in der Schweiz Beachtung finden wird. 9.4.1.3
57j
Aufhebung, bedingte Entlassung, Umwandlung
Die Aufhebung einer Verwahrung (Art. 64a StGB) erfolgt in der Form einer bedingten Entlassung, sobald zu erwarten ist, der Straffällige werde sich in Freiheit bewähren. Für die Probezeit von zwei bis fünf Jahren (welche mehrmals verlängerbar ist) kann Bewährungshilfe angeordnet und es können Weisungen erteilt werden. Für eine Rückversetzung in den Verwahrungsvollzug genügt die begründete Gefahr, dass der Entlassene weitere schwere Straftaten analog der Anlasstat begehen wird, dass er sich der Bewährungshilfe entzieht oder Weisungen missachtet hat. Andernfalls wird er nach Ablauf der Probezeit endgültig entlassen.
58
(neu: N. 66a)
58a
333
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug 58b
Anstelle einer bedingten Entlassung aus der Verwahrung (oder eine Fortsetzung der Verwahrung) kann das Gericht die Verwahrung jederzeit auch durch eine stationäre therapeutische Massnahme ersetzen (Art. 65 StGB), sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind. Vor Antritt der Verwahrung und in der Folge alle zwei Jahre ist diese Frage von Amtes wegen zu prüfen (Art. 64b Abs. 1 Bst. b StGB).
58c
Das Verfahren für die Prüfung einer Entlassung aus der Verwahrung entspricht jenem bei den therapeutischen Massnahmen. Nach Ablauf von zwei Jahren ist jährlich zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung vorliegen (Art. 64b Abs. 1 StGB). Entscheide über eine bedingte Entlassung oder die Umwandlung in eine stationäre therapeutische Behandlung setzen aber zusätzlich und obligatorisch eine unabhängige aktuelle Begutachtung durch einen Sachverständigen voraus (Art. 64b Abs. 2 Bst. b StGB; BGer-Urteil 6B_109/2013 vom 19. Juli 2013 E. 3.4) sowie die Anhörung einer Fachkommission, welcher Vertreter der Strafverfolgungsbehörden, der Vollzugsbehörden und der Psychiatrie angehören (Art. 64b Abs. 2 StGB; RII 6.2.7). Die Kommissionsanhörung erfolgt in der Praxis jedoch nur, wenn die Vollzugsbehörde eine bedingte Entlassung oder die Anordnung einer stationären Therapie überhaupt in Betracht zieht. Bei letzterer kann entgegen dem Wortlaut von Art. 64b Abs. 2 StGB auf die Anhörung der Fachkommission verzichtet werden, da das Gericht in diesem Fall über die Behandelbarkeit des Betroffenen zu urteilen habe und nicht über Vollzugsöffnungen wie etwa die bedingte Entlassung, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen könnten. Das Bundesgericht hat zudem entschieden, dass trotz Begutachtungspflicht nicht zwingend ein neues Gutachten erstellt werden muss, sofern das bisherige Gutachten noch aktuell ist. Hierfür ist nicht das Alter des letzten Gutachtens massgebend, sondern die Frage, ob sich die Verhältnisse seit dem letzten Gutachten verändert haben (BGE 128 IV 241 E. 3.4).
334
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
9.4.2
Die lebenslängliche Verwahrung
Mit der Annahme der Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» in der Volksabstimmung vom 8. Februar 2004 wurde die Bundesverfassung durch einen neuen Art. 123a BV ergänzt (RII 9.4.2).
59
Art. 123a BV ist seinerzeit sowohl vom Bundesrat als auch von den eidgenössischen Räten zur Ablehnung empfohlen und in der Lehre harsch kritisiert worden. Das Hauptbedenken richtet sich gegen das Anliegen, die Verwahrung für die von Art. 123a erfasste Zielgruppe ohne regelmässige Überprüfung bis zum Lebensende der Verurteilten aufrecht zu erhalten: Eine Entlassung aus der Verwahrung ist nach dem Wortlaut von Abs. 2 faktisch ausgeschlossen – offensichtlich ein Widerspruch zu Art. 5 EMRK. Die Kritik beklagte des Weiteren die wenig klare und z.T. widersprüchlich Redaktion des Verfassungstextes (namentlich Abs. 2 Satz 1), die Umschreibung der Zielgruppe mit unpräzisen Begriffen (Abs. 1: «Sexual- und Gewaltstraftäter», «extrem gefährlich», «nicht therapierbar») sowie die sachlich nicht überzeugende Abgrenzung dieser Zielgruppe (weshalb werden Brandstifter nicht ebenfalls erfasst?). Zudem wurden dargelegt, dass die Möglichkeiten der Psychiatrie, zuverlässige Langzeitprognosen zu erstellen, masslos überschätzt werden.
60
Die Verfassungsnorm ist nicht unmittelbar anwendbar und musste deshalb im StGB präziser gefasst werden. Eine vom EJPD eingesetzte Arbeitsgruppe wurde mit der beinahe unlösbaren Aufgabe betraut, die gesetzlichen Ausführungsbestimmungen zu Art. 123a BV in der Weise zu erarbeiten, dass diese sowohl dem Verfassungstext als auch der EMRK gerecht werden.
61
Nachdem die Vorschläge der Arbeitsgruppe von drei der vier Bundesratsparteien und von vielen wichtigen Organisationen (Ärzte- und Juristenverbände, Universitäten, Menschenrechtsorganisationen, Bischofskonferenz, etc.) abgelehnt wurden, hat der Bundesrat einen wesentlich modifizierten Entwurf vorgelegt (Botschaft zur Umsetzung von Art. 123a BV vom 23.11.2005, Ziff. 1.2.2, BBl 2006 889). Nach
62
335
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
RII 9.4.2 Art.123a BV 1
Wird ein Sexual- oder Gewaltstraftäter in den Gutachten, die für das Gerichtsurteil nötig sind, als extrem gefährlich erachtet und nicht therapierbar eingestuft, ist er wegen des hohen Rückfallrisikos bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Hafturlaub sind ausgeschlossen. 2
Nur wenn durch neue, wissenschaftliche Erkenntnisse erwiesen wird, dass der Täter geheilt werden kann und somit keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt, können neue Gutachten erstellt werden. Sollte auf Grund dieser neuen Gutachten die Verwahrung aufgehoben werden, so muss die Haftung für einen Rückfall des Täters von der Behörde übernommen werden, die die Verwahrung aufgehoben hat. 3
Alle Gutachten zur Beurteilung der Sexual- und Gewaltstraftäter sind von mindestens zwei voneinander unabhängigen, erfahrenen Fachleuten unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung wichtigen Grundlagen zu erstellen.
kontroversen parlamentarischen Beratungen konnten die Ausführungsbestimmungen zur lebenslangen Verwahrung schliesslich auf den 1. August 2008 in Kraft gesetzt werden. Die wichtigsten, kontrovers diskutierten Festlegungen werden nachstehend dargestellt. 63
Der unbestimmte Begriff des Sexual- und Gewaltstraftäters wird mit einem abschliessenden Anlasskatalog konkretisiert (Art. 64 Abs. 1bis StGB): Eine lebenslange Verwahrung setzt demnach voraus, dass der Täter bestimmte, schwerste Straftaten begangen hat und dadurch die physische oder sexuelle Integrität einer anderen Person besonders schwer beeinträchtigt hat oder beeinträchtigen wollte. Weiter wird vorausgesetzt, dass der Täter mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit weitere dieser Verbrechen begehen wird (womit der unbestimmte Begriff der extremen Gefährlichkeit präzisiert werden soll). Schliesslich setzt die Anordnung einer lebenslänglichen Verwahrung voraus, dass von einer therapeutischen Behandlung langfristig kein Erfolg zu erwarten ist (wodurch der unbestimmte Begriff der mangelnden Therapierbarkeit umschrieben wird). Zur Langfristigkeit hält BGE 140 IV 1 fest, diese liege nicht bereits bei einer Dauer von 20 Jahren vor (E. 3.3). Aus welchen Gründen eine Therapierbarkeit auf Dauer auszuschliessen ist, spielt dabei keine Rolle. Die Therapierbarkeit misst sich daran, ob sich mit einer Behandlung die Gefährlichkeit des Täters beseitigen lassen wird.
64
Mit Blick auf die EMRK besonders heikel war die Frage, wie der zweite Absatz von Art. 123a BV, der eine sehr eingeschränkte Überprüfbarkeit der lebenslänglichen Verwahrung vorschreibt, gesetzlich zu konkretisie-
336
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
ren ist. Die Aufhebung einer lebenslänglichen Verwahrung (Art. 64c StGB) folgt einem mehrstufigen, behördlichen Prüfungsverfahren von Amtes wegen oder auf Gesuch hin, wobei eine periodische Überprüfung gesetzlich nicht vorgesehen ist. Gegenstand der Prüfung ist in einem ersten Schritt die Frage nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen (z.B. neue Behandlungsmethoden oder Medikamente) und somit die objektive Therapierbarkeit des Betroffenen (Art. 64c Abs. 1 StGB). Erst in einem zweiten Schritt erfolgt eine individuelle Beurteilung der Gefährlichkeit des Täters. Die Vollstreckungsbehörde hat sich bei ihrem Entscheid auf den Bericht der Eidgenössischen Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich verwahrter Straftäter (Art. 64c Abs. 1 StGB) zu stützen, die von der Fachkommission gemäss Art. 62d Abs. 2 StGB zu unterscheiden ist. Die Eidgenössische Fachkommission gehört administrativ zum Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und besteht aus zehn Fachpersonen besteht, die vom Bundesrat gewählt werden (Verordnung über die Eidgenössische Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich verwahrter Straftäter vom 26. Juni 2013 [SR 311.039.2]). Sie prüft einzig das Vorhandensein neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Anwendbarkeit auf den Einzelfall im Sinne eines medizinischen Gutachtens, hat jedoch keine Entscheidungskompetenz. Wird eine Behandelbarkeit bejaht, so ist dem Täter diese Behandlung vorerst im Rahmen der lebenslänglichen Verwahrung anzubieten (Art. 64c Abs. 2 StGB). Zeigt sich, dass durch diese Behandlung erreicht werden kann, dass er für die Öffentlichkeit keine Gefahr mehr darstellt, so ist die lebenslängliche Verwahrung durch das zuständige Gericht durch eine therapeutische Massnahme nach den Artikeln 59 bis 61 StGB in einer geschlossenen Einrichtung zu ersetzen (Art. 64c Abs. 3). Die Vorgabe in Art. 123a BV, wonach die Therapierbarkeit durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse nachgewiesen sein müsse, soll so verstanden werden, dass dieser Nachweis bereits durch neue Erkenntnisse über das Vorgehen in der Therapie erbracht wird, also nicht bloss durch neue Therapiemethoden. Wie bei der ordentlichen Verwahrung besteht auch bei der lebenslänglichen Verwahrung die Möglichkeit, nach zwei Dritteln des Vollzugs der vorausgehenden Freiheitsstrafe (bei lebenslänglicher Freiheitsstrafe nach 15 Jahren) zu prüfen, ob die lebenslängliche Verwahrung aufgeschoben und durch eine stationäre Behandlung ersetzt werden kann oder ob eine bedingte Entlassung in Betracht kommt (Art. 64c Abs. 6 StGB).
65
Eine bedingte Entlassung ist auch aus der lebenslänglichen Verwahrung möglich, wenn der Täter infolge hohen Alters, schwerer Krankheit oder
65a
337
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
aus einem anderen Grund für die Öffentlichkeit keine Gefahr mehr darstellt (Art. 64c Abs. 4 StGB). Sie ist durch das zuständige Gericht anzuordnen. 66
Die gesetzliche Regelung bestimmt weiter, dass während des Vollzugs der lebenslänglichen Verwahrung und während des vorangehenden Vollzugs der Freiheitsstrafe Hafturlaube oder andere Vollzugsöffnungen unzulässig sind (Art. 84 Abs. 6bis StGB).
66a
Schliesslich konkretisiert Art. 380a StGB die in Art. 123a BV festgelegte Haftung des Staates für Schäden, die aus einem Rückfall nach bedingter Entlassung oder Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung entstanden sind: Für diese Haftung wird, unabhängig von individuellem Verschulden, lediglich vorausgesetzt, dass ein schwerer Rückfall nach Art. 64 Abs. 1bis StGB tatsächlich erfolgt ist. Für den entstandenen Schaden haftet das zuständige Gemeinweisen, d.h., in aller Regel der Kanton, dessen Behörden die bedingte Entlassung bzw. die Aufhebung verfügt haben.
9.4.3 66b
67 bis 70
Nachträgliche Verwahrung
Seit dem 2007 kann einen ordentliche Verwahrung nicht mehr nur mit dem Sachurteil, sondern auch nachträglich während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe angeordnet werden (Art. 65 Abs. 2 StGB). Dies allerdings nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass während des Vollzugs der Freiheitsstrafe neue, dem Gericht im Zeitpunkt der Verurteilung nicht bekannte Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, welche die Anordnung einer Verwahrung legitimieren. Der Anwendungsbereich der nachträglichen Verwahrung wird dadurch (richtigerweise) so stark eingeschränkt, dass sie nur in seltenen Fällen angeordnet werden kann. (neu: N. 57c bis 57i)
338
9. Strafrechtliche Massnahmen und ihr Vollzug
9.4.4
Die Bedeutung der Verwahrung als strafrechtliche Sanktion
Im Lichte der in der Öffentlichkeit verbreiteten Ängste vor schweren Straftaten kommt der Verwahrung vorab eine «Beschwichtigungsfunktion» zu. Ob und in welchem Masse sie dem Anspruch, schwere Straftaten zu verhüten, tatsächlich gerecht wird, ist nicht belegbar, weshalb die Anordnung und Aufrechterhaltung von Verwahrungen nur unter einschränkenden Voraussetzungen als «ultima ratio» und unter ständiger Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes zu verantworten ist.
71
Die Entwicklung der Anzahl Anordnungen macht deutlich, dass die Praxis diesem Postulat bisher gefolgt ist: Die Anzahl der Verwahrungen von Gewohnheitsverbrechern gemäss Art. 42 aStGB war seit Inkrafttreten des StGB 1942 kontinuierlich rückläufig: von einem Jahresdurchschnitt von 138 Verwahrungen in der Periode 1942 bis 1950, auf 118 von 1951 bis 1960, 81 von 1961 und 1970, 31 von 1971 bis 1980, 18 von 1981 bis 1990, 5 von 1991 bis 2000 sowie 1 von 2001 bis 2006. Demgegenüber haben die Verwahrungen psychisch Abnormer (Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 aStGB) – bei grossen jährlichen Schwankungen – von durchschnittlich 9 Verwahrungen in der Periode 1984 bis 1993 auf 14 Verwahrungen in der Periode 1997 bis 2006 zugenommen. Im Jahresdurchschnitt stehen für beide Verwahrungsarten 21 Verwahrungen in der Periode 1984 bis 1993 und 16 Verwahrungen in der Periode 1997 bis 2006 zu Buche.
72
Seit Inkrafttreten von Art. 64 StGB im Jahre 2007 bewegt sich die der Anordnungshäufigkeit der ordentlichen Verwahrung gesamtschweizerisch zwischen 2 und 7. Die lebenslängliche Verwahrung ist seit deren Inkraftsetzung im August 2008 bisher insgesamt zwei Mal rechtskräftig angeordnet worden.
73
Die Anzahl der sich im Verwahrungsvollzug befindenden Straftäter hat zwischen 1992 und 2006 um das 2,5-Fache zugenommen, konkret von 83 auf 216 Personen. Dies kann vor allem mit einer im Vergleich zu früher restriktiveren Entlassungspraxis begründet werden: Während in der Periode 1984 bis 1988 ungefähr gleich viele Personen aus der Verwahrung entlassen wie neue Verwahrungen angeordnet wurden (im Jahresdurchschnitt 27 bzw. 26 Personen), entfällt in der Periode 2002 bis 2006 auf fünf Neuanordnungen bloss noch eine Entlassung. Nach Inkraftsetzung des revidierten Strafsanktionenrechts ging die Anzahl
74
339
Teil II: Strafen, Massnahmen und Vollzug
Verwahrter bis Ende 2013 auf 144 Personen zurück, was insbesondere mit der Umwandlung von Verwahrungen gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 aStGB in stationäre Behandlungen gemäss Art. 59 StGB zu erklären ist. Da die restriktive Entlassungspraxis anhält, ist für die Zukunft ein weiteres Anwachsen der Verwahrtenpopulation zu erwarten.
9.5 75
Weiterentwicklung des Massnahmen- und Massnahmenvollzugsrechts
Art. 387 StGB ermächtigt den Bundesrat – wie bei den Strafen und deren Vollzug – versuchsweise für eine beschränkte Zeit, erstens den Anwendungsbereich der einzelnen Massnahmen und der Vollzugsformen für Massnahmen zu ändern und zweitens sogar neue Massnahmen und neue Vollzugsformen für Massnahmen einzuführen. Diese Kompetenzzuweisung an den Bundesrat trägt dem Anliegen Rechnung, die strafrechtlichen Massnahmen rasch und ohne aufwändige Gesetzgebungsverfahren neuen Bedürfnissen anpassen zu können. Dass der Bundesrat indessen – anders als vor der Revision von 2002 – sogar völlig neue Massnahmen ohne Meinungsbildung und Entscheidfindung in den eidgenössischen Räte einführen kann, findet in den Strafrechtsordnungen anderer Staaten keine Analogie. Bedenkt man überdies, dass die Begrenzung der Geltungsdauer einer neuen Massnahme auf eine «beschränkte Zeit» nach der bisherigen Praxis eine extensive Interpretation zulässt (die Dauer der Geltung der durch den Bundesrat im Jahre 1990 als Vollzugsform «auf beschränkte Zeit» eingeführten gemeinnützigen Arbeit betrug rund 15 Jahre), darf hinter diese Übertragung legislativer Aufgaben an die Exekutive durchaus ein Fragezeichen gesetzt werden.
340
Teil III: Entwicklungsperspektiven
1. Künftige Entwicklungen als Konsequenz rechtspolitischer Festlegungen
1.
Künftige Entwicklungen als Konsequenz rechts- und gesellschaftspolitischer Festlegungen
LIII Literatur zu den Entwicklungsperspektiven Allgemein ARLOTH Frank: Aktuelle Fragen und neuere Entwicklungen im Strafvollzug. Zugleich eine Besprechung der Werke von Böhm, Kaiser/Schöch und Laubenthal. In: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 9/2003, 293–704; BAECHTOLD Andrea: Glanz und Elend der Freiheitsstrafe. In: Niggli Marcel Alexander / Hurtado Pozo José / Queloz Nicolas (Hrsg.): Festschrift für Franz Riklin. Zürich 2007, 31–41; BERNHARDT Sigrid et al.: Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. In: Zs. für Evangelische Ethik 34, 1990, 218–294; CHRISTIE Nils: Limits to Pain. The Role of Punishment in Penal Policy. Eugene 2007; DÜNKEL Frieder / SNACKEN Sonja: Strafvollzug in Europa. In: NK 4/2000, 31–37; KAISER Günther / SCHÖCH Heinz: Strafvollzug. Eine Einführung in die Grundlagen. 5. Aufl. Heidelberg 2003; KUHN André: Détenus. Combien? Pourquoi? Que faire? Bern/Stuttgart/Wien 2000; KUHN André et al.: Öffentliche Meinung und Strenge der Richter. Vergleich zwischen den von schweizerischen Richtern ausgesprochenen Strafen und den von der Öffentlichkeit gewünschten Sanktionen. In: SZK 1/2004, 28–32; KUNZ KarlLudwig: Kriminologie. 6. Aufl. Bern/Stuttgart/Wien 2011; KUNZ Karl-Ludwig: Soziales Klima, Sanktionspraxis und Kriminalitätsvolumen – Ein Nationenvergleich. In: SZK 2/2015, 18–26; LAUBENTHAL Klaus: Die geschichtliche Entwicklung der lebenslangen Freiheitsstrafe. In: Recht im Wandel - Wandel des Rechts: Festschrift für Jürgen Weitzel zum 70. Geburtstag. Köln 2014, 726–745; MATHIESEN Thomas: Prison on Trial. 3. Aufl. Winchester 2006; MORGAN Rod: Imprisonment. A brief history, the contemporary scene, and likely prospects. In: Maguire Mike / Morgan Rod / Reiner Robert (Hrsg.): The Oxford Handbook of Criminology. 4. Aufl. Oxford/New York 2007, 1113–1167; MÜHL Jeldrik: Strafrecht ohne Freiheitsstrafen - absurde Utopie oder logische Konsequenz? Die Laufzeitleistungsstrafe als alternative Sanktion. Diss. Bochum 2014; NIGGLI Marcel Alexander: Wie viel Strafe braucht der Mensch? Zur Strafdebatte in Europa. In: Stapferhaus Lenzburg (Hrsg.): Strafen. Ein Buch zur Strafkultur der Gegenwart. Baden 2004, 185–199; REUBAND Karl-Heinz: Steigende Repressionsneigung im Zeitalter der «Postmoderne»? Das Sanktionsverlangen der Bundesbürger 1989 und 2002 im Vergleich. In: NK 3/2003, 100–104; SCHNEEBERGER GEORGESCU Regine: Über 60 Jährige im Vollzug. Zahlen und Fakten zur aktuellen Situation in der Schweiz. In: Info Bulletin – bulletin info 2/2006, 3–9; WADLE Nina: Privatisierung im deutschen Strafvollzug. In: Schriften zum Strafrecht und Strafprozessrecht. Band 115. Frankfurt a.M. 2013; WEISS Robert / SOUTH Nigel (Hrsg.): Comparing Prison Systems: Toward a comparative and international Penology. International studies in global change. Vol. 8. 1998, 427–481. Zur exkludierenden Kriminalpolitik in den Vereinigten Staaten ADELSBERG, Geoffrey (Hrsg.): Death and other penalties. Philosophy in a time of mass incarceration. New York 2015; GARLAND, David: Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart. Frankfurt a.M.
343
Teil III: Entwicklungsperspektiven 2008; GESCHER Norbert: Boot-Camp-Programme in den USA. Ein Fallbeispiel zum Formenwandel in der amerikanischen Kriminalpolitik. Schriften zum Strafvollzug, Jugendstrafrecht und zur Kriminologie 3. Mönchengladbach 1998; GOFFMAN Alice: On the run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika. München 2015; IRWIN John /AUSTIN James: It’s about time. America’s imprisonment binge. 3. Aufl. Belmont 2001; MOORE Nina M.: The political roots of racial tracking in American criminal justice. New York 2015; PRICE Joshua M.: Prison and social death. New Brunswick 2015; RIKLIN Franz: The Death of Common Sense – kritische Gedanken zur gegenwärtigen amerikanischen Kriminalpolitik. In: Strafrecht und Öffentlichkeit. Festschrift für Jörg Rehberg. Zürich 1996, 269–283; SAID Wadie E.: Crimes of terror. The legal and political implications of federal terrorism prosecutions. New York 2015; WEITEKAMP Elmar G. M. / HERBERGER Scania: Amerikanische Strafrechtspolitik auf dem Weg in die Katastrophe. Von selektiver Inhaftierung, der Implementierung fixierter Strafen, dem Ausbau der Gefängnisse, dem Start eines Drogenkrieges, der Ausweitung der Todesstrafe und der Verabschiedung des Violent Crime Control and Law Enforcement Act of 1994. In: NK 2/1995, 16–22; WACQUANT Loïc: Elend hinter Gittern. Konstanz 2000. Zum Konzept der Restorative Justice AEBERSOLD Peter: «Restorative Justice» in der Schweiz. In: Schöch Heinz / Jehle Martin (Hrsg.): Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit. Mönchengladbach 2004, 437–450; BLUMENTHAL Heather: Restorative Justice. Taking a New Approach to Crime and Corrections. In: Let’s Talk 1999/2, 2–5; CONSEDINE Jim: Restorative Justice. Healing the Effects of Crime. 2. Aufl. Lyttleton 1999; DOMENIG Claudio: Restorative Justice und integrative Symbolik. Möglichkeiten eines integrativen Umgangs mit Kriminalität und die Bedeutung von Symbolik in dessen Umsetzung. Diss. Bern 2008; DÜNKEL Frieder / GRZYWA-HOLTEN Joanna / HORSFIELD Philip (Hrsg.): Restorative Justice and Mediation in Penal Matters. Vol. 1 & 2. Mönchengladbach 2015; JOHNSTONE Gerry: A restorative justice reader. Texts, sources, context. Cullompton/Portland 2003; LANG Sabine / MÖLLER Kathrin: Restorative Justice. In: NK 1/1998, 6–7; STRANG Heather / BRAITHWAITE John (Hrsg.): Restorative justice. Philosophy to Practice. Aldershot 2000; THE EUROPEAN FORUM FOR VICTIM-OFFENDER MEDIATION AND RESTORATIVE JUSTICE (Hrsg.): Victim-Offender Mediation in Europe. Making restorative justice work. Leuven 2000; STERN Vivien: Prisons and their communities: Testing a new approach. An account of the Restorative Prison Project 2000–2004. London 2005; STRANG Heather / BRAITHWAITE John: Restorative justice and civil society. Cambridge/New York 2001; STRANG Heather / BRAITHWAITE John: Restorative justice and family violence. Cambridge/New York 2002; UMBREIT Mark S. / COATES Robert B. / KALANJ Boris: Victim meets offender. The impact of restorative justice and mediation. Monsey 1994; WEITEKAMP Elmar / KERNER Hans-Jürgen (Hrsg.): Restorative justice in context. International practice and directions. Devon 2003; YOUNG Marlene: Restorative Community Justice. Washington DC 1995.
344
1. Künftige Entwicklungen als Konsequenz rechtspolitischer Festlegungen
Die Entwicklung des Vollzugs der Strafen und Massnahmen folgt nicht «objektiv» erkennbaren Gesetzmässigkeiten, sondern ist das Ergebnis gesellschaftspolitischer Festlegungen (Teil I, Kapitel 2). Die künftige Bedeutung und Ausgestaltung der strafrechtlichen Freiheitsentziehung ist also prinzipiell nicht vorhersehbar, sondern abhängig von der dem Strafrecht insgesamt zugeschriebenen Funktion, von den der staatlichen Kriminalpolitik vorgegebenen Zielen und Aufgaben und damit von Entwicklungen im gesellschaftspolitischen Umfeld. Über diesbezügliche Perspektiven liesse sich ausgiebig spekulieren: Sind die – in der Schweiz bloss ansatzweise – zu beobachtenden Tendenzen zur Privatisierung des Vollzugs (und der Strafjustiz) Anzeichen dafür, dass die Ausgestaltung der Freiheitsentziehung künftig mehr und mehr durch wirtschaftliche Partikulärinteressen bestimmt werden könnte? Welche Wirkungen auf den Vollzug wären zu erwarten, wenn das Strafrecht künftig nicht mehr zurückhaltend als Abwehrreaktion auf erheblich verpöntes Verhalten eingesetzt würde, sondern vorab als Steuerungsinstrument für die (tatsächliche oder symbolische) Lösung gesellschaftlicher Probleme aller Art? Oder wenn die Strafrechtspflege vollends für kurzfristige Interessen der Alltagspolitik instrumentalisiert würde?
1
Obwohl Entwicklungsrisiken dieser Art durchaus ernst zu nehmen sind, dürfen sie – mit Blick auf die Schweiz und eine mittelfristige Perspektive – wohl vorerst ausgeblendet werden. Denn wie andere gesellschaftliche Institutionen zeigt auch der Straf- und Massnahmenvollzug auf der Zeitachse ein recht träges Verhalten, lässt sich also nicht kurzfristig grundlegend verändern (ARLOTH 2003, 704). Deshalb bieten der gegenwärtige Stand des Straf- und Massnahmenvollzugs und die in jüngster Zeit zu beobachtenden oder antizipierten Veränderungen durchaus eine Grundlage, um unmittelbare Entwicklungschancen und Entwicklungsrisiken des Straf- und Massnahmenvollzugs abschätzen zu können.
2
Ein Vorbehalt muss für die Schweiz allerdings angebracht werden: Wie die Volksinitiative zur Einführung der lebenslangen Verwahrung gezeigt hat (Teil II, Abschnitt 9.4.2, Art. 123a BV; vgl. auch die ebenfalls erfolgreiche Volksinitiative für die Unverjährbarkeit pornographischer Straftaten an Kindern, in Kraft seit 30. November 2008, Art. 123b BV), ermöglichen die ausgebauten Volksrechte unter besonderen Voraussetzungen durchaus grundlegende Änderungen des Sanktionenrechts in verhältnismässig kurzer Zeit. Wenn diese Volksrechte im Einzelfall zu problematischen und wenig kohärenten gesetzlichen Neuerungen führen, dann darf dies natürlich nicht den Volksrechten angelastet werden. Derartige Entwicklungen machen vielmehr deut-
2a
345
Teil III: Entwicklungsperspektiven
lich, dass unser politisches System aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger voraussetzt, weshalb die grundlegenden Fragen des Sanktionenrechts und damit des Straf- und Massnahmenvollzugs einer laufenden und vertieften öffentlichen Diskussion bedürfen. 3
Zurück zu den allgemeinen Entwicklungsperspektiven: Die Ausgestaltung der strafrechtlichen Freiheitsentziehung ist entscheidend von ihrer Positionierung im Gesamtsystem der strafrechtlichen Rechtsfolgen abhängig. Diese definiert sowohl ihren quantitativen Anwendungsbereich als auch ihre inhaltliche Ausgestaltung, ohne diese beiden Aspekte allerdings abschliessend und präzise zu bestimmen. Im Folgenden soll deshalb vorab untersucht werden, welche quantitativen Entwicklungen des Straf- und Massnahmenvollzugs unter der Annahme zu erwarten sind, dass die Positionierung der Freiheitsstrafe im Sanktionensystem und übergeordnete gesellschaftliche Rahmenbedingungen keine wesentlichen Änderungen erfahren (Kapitel 2). Ergänzend erfolgen Hinweise auf mögliche Paradigmenwechsel und auf Faktoren, welche diese begünstigen könnten (Kapitel 3). Abschliessend sollen sich abzeichnende Veränderungen in Bezug auf die Population der Strafgefangenen diskutiert werden (Kapitel 4).
346
2. Die Bedeutung der quantitativen Entwicklung der Freiheitsentziehung
2.
Die Bedeutung der quantitativen Entwicklung der Freiheitsentziehung
In der Schweiz hat die Freiheitsstrafe ihre zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch dominante Stellung bis zum Ende des Jahrhunderts verloren (Teil I, Kapitel 1). Ähnliche Entwicklungen sind auch in anderen europäischen Staaten zu beobachten (KAISER/SCHÖCH 2003, 95). Sie sind die Konsequenz der Einführung von alternativen Sanktionen, insbesondere der «klassischen» Alternative der bloss bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe, in weit geringerem Masse auch von Diversionsregelungen, der Erweiterung der Strafbefreiungsvoraussetzungen und der Einführung von Alternativen zur kurzen Freiheitsstrafe wie der gemeinnützigen Arbeit. Die Freiheitsstrafe ist damit zu einer Residualoder Auffangsanktion geworden.
1
Diese Entwicklung entspricht dem jedenfalls seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhundert in der Lehre weitgehend etablierten Postulat, dass der strafrechtliche Freiheitsentzug bloss als «ultima ratio» einzusetzen sei. Resolutionen der Vereinten Nationen und des Europarates haben dieses Postulat mit Nachdruck bekräftigt (United Nations Standard Minimum Rules for Non-Custodial Measures; «Tokyo Rules» 1990. Europäische Grundsätze betreffend «Community sanctions and measures», Empfehlung No R[92]16 vom 19. Oktober 1992). Die gesetzgeberische Realität und die Praxis sind im Verlaufe der letzten Jahrzehnte allerdings hinter diesen Vorgaben zurückgeblieben: Obwohl die erwähnten Postulate in Bezug auf die Anordnungen freiheitsentziehender Sanktionen in den meisten europäischen Staaten aufgenommen wurden, blieben die Gefangenenpopulationen in diesem Zeitraum davon weitgehend unbeeinflusst. Als prominente Ausnahme sei immerhin Finnland erwähnt, wo die Gefangenenrate in der Periode von 1950 bis 1998 um 72% reduziert wurde. In etlichen Staaten – so auch der Schweiz – ist demgegenüber sogar eine Zunahme der inhaftierten Personen zu verzeichnen (ARLOTH 2003, 701; DÜNKEL/SNACKEN 2000, 31; KAISER/SCHÖCH 2003, 99; KUNZ 2008, 212 ff.). Dass sich die Zunahme der Gefangenenpopulationen nicht durch eine erhöhte Kriminalitätsentwicklung erklären lässt, ist im Übrigen gesichert (DÜNKEL/SNACKEN 2000, 32). International vergleichende Analysen belegen vielmehr, dass hohe Gefangenenraten mit einem hohen Mass an sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit korrelieren (WEISS/SOUTH 1988).
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Teil III: Entwicklungsperspektiven 3
Diese Feststellungen machen deutlich, dass das in Wissenschaft und Politik (bloss scheinbar?) breit abgestützte Postulat einer Zurückdrängung der Freiheitsstrafe zu Gunsten anderer Reaktionsformen eine tatsächliche Zurückdrängung der Freiheitsstrafe nicht zu garantieren vermag. In einigen Staaten ist dafür die Zunahme von Umwandlungsstrafen verantwortlich, namentlich von Bussen in Freiheitsstrafen, in anderen die Erhöhung der Dauer der angeordneten Freiheitsstrafe oder auch eine zunehmend zögerliche Praxis bei der bedingten Entlassung aus einer Freiheitsstrafe oder Verwahrung (so namentlich in der Schweiz) (DÜNKEL/SNACKEN 2000, 33 und 37; KUHN 2000, 23; MORGAN 2002, 1129). In der Schweiz dürfte dabei auch die seit längerem diskutierte und nun verabschiedete Revision des StGB von 2015 eine erhebliche Rolle spielen; diese wird kurze unbedingte Freiheitsstrafen von mindestens drei Tagen wieder ermöglichen (vgl. Art. 40 Abs. 1 nStGB) und die gemeinnützige Arbeit nicht mehr als eigenständige Sanktion, sondern bloss noch als Vollzugsform der Freiheitsstrafe vorsehen (vgl. Art. 79a nStGB).
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Dass solchen dem Ultima-ratio-Grundsatz entgegengesetzte Tendenzen in Zukunft erfolgreich entgegengesteuert wird, muss gerade im Hinblick auf die Revision des StGB von 2015 wohl eher verneint werden. Voraussehbar ist die Entwicklung allerdings (noch) nicht. Erfahrungswissenschaftlich belegte Zweifel an der kriminalpräventiven Wirkung der Freiheitsentziehung, namentlich der kurzen und der sehr langen Freiheitsstrafe, dürften dafür auch in Zukunft nicht ausreichen. Denn für die Attraktivität der Freiheitsentziehung ist deren kriminalpräventive Wirkung offensichtlich kaum ausschlaggebend. Weit wichtiger sind die in der Bevölkerung verbreiteten oder dieser Bevölkerung zugeschriebenen punitiven Bedürfnisse, welche mit der Anordnung von Freiheitsstrafen besser bedient werden als mit alternativen Reaktionsformen. Dazu ist allerdings anzumerken, dass solche punitive Bedürfnisse von den Medien häufig überzeichnet und von den politischen Entscheidungsträgern überschätzt werden (für die Schweiz: KUHN et al. 2004, 30 ff.; NIGGLI 2004, 191; vergleichend: REUBAND 2003, 101).
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Derzeit bleibt deshalb offen, ob der stationäre Vollzug an für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar gefährlichen Straftätern auch für mittelschwere Delikte zu Gunsten von integrativ wirksameren ambulanten Sanktionen zurückgedrängt werden kann. Mehr als allgemeine Überlegungen liegen dazu allerdings noch nicht vor. Erwähnenswert ist namentlich das Konzept einer Laufzeit-Leistungsstrafe (BERNHARDT et al. 1990). Danach wäre der stationäre Vollzug für die Dauer der Strafe durch eine beschwerende Absenkung des Lebensstandards des Verur348
2. Die Bedeutung der quantitativen Entwicklung der Freiheitsentziehung
teilten zu ersetzen: Für die Strafdauer hätte der Verurteilte entweder 20% seines Monatseinkommens als Strafe zu bezahlen oder während 20% der üblichen Arbeitszeit zusätzlich gemeinnützige Arbeit zu verrichten. In eine vergleichbare Richtung zielt auch der Vorschlag zur Einführung eines ambulanten Strafvollzugs (BAECHTOLD 2007): Der Verurteilte wäre während der Dauer der Strafe anstelle einer Unterbringung in einer Vollzugsanstalt mit einer Reihe von erheblich beschwerenden Eingriffen zu belegen (Einzug und Sperre des Passes, Lohnverwaltung, Meldepflichten betr. Aufenthalt, Zivilstandsänderungen und Arbeitgeber, Unterstellung unter Bewährungshilfe mit regelmässigen Kontaktierungspflichten, Weisungen zur Erbringung gemeinnütziger Arbeit und anderer persönlicher Leistungen). Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass solche Strafen dem stationären Vollzug in general- und spezialpräventiver Wirkung unterlegen wären. Eine weitere Zurückdrängung der strafrechtlichen Freiheitsentziehung könnte am ehesten durch einen kriminalpolitisch exogenen Faktor bewirkt werden: Angesichts der zunehmenden und als bedrohlich gewerteten Verschuldung der öffentlichen Haushalte (des Bundes, der Kantone und der Gemeinden) wird die Finanzierung der strafrechtlichen Freiheitsentziehung zu einer erheblichen Belastung. Entsprechend werden auch in diesem Bereich Ressourcen reduziert und weitere, substanzielle Einsparungen erwartet. Dass hier, nominell gesehen, tatsächlich ein Einsparungspotenzial vorliegt, zeigt EIDGENÖSSISCHES JUSTIZ- UND POLIZEIDEPARTEMENT EJPD, Bericht des Bundesrates vom 27. September 2010 zum Postulat Rickli 10.3693; Kosten des Strafvollzugs in der Schweiz: Im Jahr 2010 beliefen sich die Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden konsolidiert auf 147,1 Milliarden Franken. Neun Milliarden oder 6,1% dieser Gesamtausgaben machten Aufwendungen für öffentliche Sicherheit (Polizei, Rechtsprechung, Feuerwehr, Forschung und Entwicklung im Bereich der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht anderweitig genannt und Strafvollzug) aus. Davon fielen im Jahr 2010 10,99% oder 993 Millionen Franken auf den Strafvollzug. Vergleicht man die Kosten des Strafvollzugs von 2010 mit denjenigen von 2005 (2005: 802 Millionen Franken), lässt sich eine Zunahme der Kosten von rund einem Viertel (24%) feststellen. Das ist im Vergleich zu anderen Staaten zwar verhältnismässig wenig (namentlich im Vergleich zu den Vereinigten Staaten; WACQUANT 2000, 75 ff.), angesichts des offensichtlichen finanzpolitischen Handlungsbedarfs allerdings keineswegs irrelevant.
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Teil III: Entwicklungsperspektiven 6
Für die Umsetzung der Einsparungserwartungen stehen, nachdem das Rationalisierungspotenzial weitestgehend ausgeschöpft ist, zwei grundsätzliche Optionen offen: Entweder werden die Aufwendungen für den Vollzug bei prinzipiell unveränderter Gefangenenpopulation heruntergefahren – was in der Folge zu einem qualitativen Leistungsabbau im Vollzug und zu einer (zum Voraus allerdings nicht quantifizierbaren) Zunahme der Rückfälle Strafentlassener führen wird. Oder die qualitativ im Grundsatz unveränderten Leistungen des Vollzugs werden für eine quantitativ deutlich verminderte Gefangenenpopulation erbracht – was nach den verfügbaren erfahrungswissenschaftlichen Einsichten ohne negative Konsequenzen für die öffentliche Sicherheit umsetzbar wäre. Für das Szenario eines qualitativen Leistungsabbaus spricht der Sachverhalt, dass dieses politisch wohl leichter umsetzbar wäre, für jenes einer Intervention auf quantitativer Ebene sprechen kriminalpräventive Interessen. Ob sich Letztere aber tatsächlich durchsetzen können, ist wiederum eine Frage politischer Festlegungen (DÜNKEL/SNACKEN 2000, 32; MORGAN 2002, 1122; vgl. zur Strategie einer Reduktion der Gefangenenpopulation auch die Empfehlung R[99]22 des Europarates über die Überbelegung in den Strafanstalten sowie den übermässigen Anstieg der Zahl inhaftierter Personen vom 30. September 1999).
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Beide Szenarien sind für die Vollzugsverantwortlichen im Übrigen mit besonderen Risiken verbunden. Ungeachtet, ob eine Reduktion der Aufwendungen mit einem qualitativen Leistungsabbau erkauft wird oder mit einer Verminderung der Gefangenenpopulation: In beiden Fällen ist abzusehen, dass sich die Leistungsbilanz des Vollzugs, gemessen am Kriterium des Rückfalls, verschlechtern wird. Ein qualitativer Leistungsabbau hat, wie eben erwähnt, unmittelbar höhere Rückfallrisiken zur Folge, während sich nach einer Verminderung der Gefangenenpopulation bloss noch jene Straftäter im Freiheitsentzug aufhalten werden, welche sich durch eine besonders schlechte Kriminalprognose auszeichnen (ARLOTH 2003, 702).
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3. Die Entwicklung der Freiheitsentziehung in inhaltlicher Hinsicht
3.
Die Entwicklung der Freiheitsentziehung in inhaltlicher Hinsicht
Die einleitend beschriebenen pönologischen Grundsätze (Teil I, Kapitel 3) und die inhaltlichen Vollzugsstandards (Teil II, Kapitel 5), welche das Primat eines kriminalpräventiven, auf Integration ausgerichteten und rechtsstaatlich abgesicherten Vollzugs bekräftigen, haben sich im Verlaufe der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts im europäischen Raum (weitgehend) durchgesetzt (DÜNKEL/SNACKEN 2000, 33 f.). Dies gilt im Grundsatz auch für die zentral- und osteuropäischen Staaten, obgleich diese der westeuropäischen Entwicklung noch erheblich nachhinken.
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Es ist allerdings deutlich geworden (Teil II, Kapitel 5), dass diese im Grundsatz anerkannten Vorgaben auch in der Schweiz weder lückenlos noch mit aller Konsequenz umgesetzt wurden. Und selbst in Bereichen, wo dies tatsächlich der Fall ist, dürfen Rückfälle in atavistische Vollzugsverständnisse keineswegs ausgeschlossen werden. Solche Risiken verdeutlichen nicht bloss die Berichte über die Behandlung von Personen, welche durch die Vereinigten Staaten in Afghanistan, im Irak und auf Guantánamo inhaftiert wurden. Schliesslich sind erst einige Jahrzehnte vergangen, seit Inhaftierte auch in schweizerischen Vollzugsanstalten aus disziplinarischen oder «therapeutischen» Gründen mit kaltem Wasser abgespritzt oder in nasse Wolldecken eingebunden wurden. Und das Verständnis, Strafgefangene nicht als Menschen der anderen (und minderen) Art, sondern als Bürger im Freiheitsentzug zu betrachten, hat eine noch kürzere Geschichte. Derzeit und in unmittelbarer Zukunft bestehen allerdings keine erkennbaren Risiken für eine rückwärtsgerichtete Entwicklung des strafrechtlichen Freiheitsentzugs insgesamt.
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Sollen die oben angegebenen Standards aber umfassend und auf Zeit gesichert werden, sind die mit der Revision des StGB von 2002 tatsächlich erheblich verbesserten gesetzlichen Grundlagen nicht ausreichend. In Ergänzung dazu müssen protektive Faktoren bewusst und konsequent gefördert werden. Dies wird namentlich bei der Weiterentwicklung des «risikoorientierten» Strafvollzugs zu beachten sein. Eine Voraussetzung für die Absicherung grundlegender Vollzugsstandards ist ferner eine entsprechende Ausbildung des im Straf- und Massnahmenvollzug und in der Strafvollstreckung tätigen Personals (welche in der Schweiz derzeit auf vergleichsweise hohem Niveau vermittelt wird) und die Festlegung operationalisierter Vollzugsvorgaben sowie Evalua-
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Teil III: Entwicklungsperspektiven
tions- und Kontrollmechanismen (was in der Schweiz erst in Ansätzen umgesetzt ist). 4
Schliesslich ist auch an dieser Stelle anzumerken, dass die etablierten Standards sich ohne hinreichende finanzielle Ressourcen nicht implementieren lassen. Die Vollzugspolitik wird also nicht bloss durch inhaltliche Vorgaben bestimmt, sondern lässt sich auch indirekt über die Zuteilung finanzieller Ressourcen steuern. Deshalb ist das für die Schweiz im Grundsatz unbestrittene Konzept eines kriminalpräventiven, auf Integration ausgerichteten und rechtsstaatlich abgesicherten Vollzugs zwar mittelfristig kaum gefährdet, darf aber keineswegs auf alle Zeiten als gesichert betrachtet werden.
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Obwohl also davon ausgegangen werden darf, dass die oben beschriebene Vollzugsstrategie in der Schweiz wie in den übrigen europäischen Staaten auch künftig (mehr oder weniger konsequent) weiter verfolgt wird, kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass diese Strategie durch andere Optionen jedenfalls teilweise überlagert wird. Als Alternative zur Disposition stehen derzeit zwei entgegengesetzte Optionen: Die in Teilen der USA vertretene Strategie eines exkludierenden oder gar an «feindstrafrechtlichen» Grundsätzen ausgerichteten Vollzugs und die namentlich in Kanada und Neuseeland prominente Strategie eines auf die Herstellung des Rechtsfriedens zielenden, wiedergutmachungsorientierten Vollzugs. Bei beiden erwähnten Optionen handelt es sich um allgemeine kriminalpolitische Konzepte zur Reaktion auf strafbares Verhalten, welche aber auch Auswirkungen auf die Vollziehung freiheitsentziehender Sanktionen nach sich ziehen.
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Die exkludierende Strategie bedeutet im Bereich des Freiheitsentzugs vorab, dass der Strafgefangene durch die Freiheitsentziehung konsequent aus der Gesellschaft ausgeschlossen, und während deren Dauer als potenzieller Straftäter «unschädlich» gemacht werden soll. Die Strategie bedeutet darüber hinaus eine Ausgestaltung der Vollzugsbedingungen derart, dass der Strafgefangene durch einen besonders harten Vollzugsalltag und mit auf seine Demütigung ausgerichteten Eingriffen in seine Persönlichkeitsrechte nicht bloss abgeschreckt werden, sondern den Freiheitsentzug auch demonstrativ als eine Niederlage gegenüber dem staatlichen Vollzugsapparat erfahren soll. In dieser Strategie wird der Strafgefangene zum weitgehend entmündigten Objekt staatlichen Strafens – erst mit dem unterwerfenden Bekenntnis seiner Niederlage kann er den Anspruch geltend machen, wieder von der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Die eben (allzu holzschnittartig) umschriebene Strategie hat im europäischen Raum auf absehbare Zukunft wohl 352
3. Die Entwicklung der Freiheitsentziehung in inhaltlicher Hinsicht
keine Chance – nicht bloss deshalb, weil in kriminalpräventiver Hinsicht keine Belege für ihre Wirksamkeit vorliegen, sondern weil sie der etablierten Vollzugstradition widerspricht. Doch ist zu bedenken, dass das hinter der Strategie stehende Menschenbild auch hierzulande durchaus vertreten wird. Die in der Schweiz geführten Diskussionen um die Ausgestaltung der Massnahme der Verwahrung sowie der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht machen deutlich, dass auch europäische Staaten diesbezüglich keineswegs immun sind. Gefährdet sind namentlich Inhaftierte, welche sich als «Gesellschaftsfeinde» etikettieren lassen (dazu können etwa Sexualdelinquenten, besonders gefährliche – möglicherweise verwahrte – Gefangene und Terroristen gehören), aber auch schlicht «lästige Gefangene» (z.B. disziplinarisch auffällige oder nicht kooperative Ausschaffungshäftlinge). Es ist somit nicht von vorneherein auszuschliessen, dass exkludierende Strategien für solche Gruppen von Straftätern selektiv übernommen werden könnten (MORGAN 2002). Die unter dem Stichwort «Restorative Justice» (wieder gutmachende Justiz) vertretene Strategie bedeutet für den Vollzug, dass der Strafgefangene während des Freiheitsentzugs konsequent als Verantworter des durch seine Straftat verursachten Schadens angesprochen wird. Die Zeit der Freiheitsentziehung dient nicht seiner Exklusion aus der Gesellschaft, sondern soll den Strafgefangenen in die Lage versetzen, sein schädigendes Verhalten als solches zu erkennen, anzuerkennen und nach Möglichkeiten zu suchen, den von ihm zu verantwortenden Schaden bestmöglich zu beheben. Entsprechend wird der Strafgefangene im Vollzug zum mitverantwortlichen Akteur, allerdings nicht zum alleinigen: Sofern ein persönliches Opfer zu Schaden gekommen ist, soll auch dieses in den Prozess der Schadensbehebung oder Schadensminderung aktiv einbezogen werden, immer vorausgesetzt, das Opfer sei dazu bereit. Und da von einer Straftat auch eine weitere Öffentlichkeit (mehr oder weniger) betroffen ist, soll auch diese (also etwa Vertreter des von der Straftat betroffenen Stadtquartiers oder Dorfes) als Akteur an der Festlegung und Umsetzung wieder gutmachender Massnahmen beteiligt werden. Nach dieser (wiederum allzu summarisch referierten) Strategie soll der Vollzug einer Freiheitsstrafe also vorab eine «friedensstiftende» Wirkung entfalten, dies in der Erwartung, damit auch günstige Voraussetzungen für die Verhütung künftiger Straftaten zu schaffen. Im Gesamtkonzept der «Restorative Justice» ist die Ausgestaltung des Freiheitsentzugs wohlverstanden bloss eine sekundäre Fussnote. Es ist aber nicht auszuschliessen, dass einzelne Elemente dieser Strategie auch im schweizerischen Vollzug aufgenommen werden. 353
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Teil III: Entwicklungsperspektiven 7a
Wird an der Strategie eines integrativ wirkenden Vollzugs konsequent festgehalten, dann müssen in jedenfalls zwei Bereichen grundlegende Verbesserungen realisiert werden: Einerseits verlangt diese Aufgabenstellung eine über die ganze Zeit der Inhaftierung und der Strafvollstreckung andauernde systematische Vernetzung des stationären Vollzugs sowohl mit der Bewährungshilfe und anderen im ambulanten Vollzug tätigen Institutionen als auch mit allgemeinen (öffentlichen und privaten) Dienstleistern der sozialen Hilfe (im weitesten Sinne). Andererseits muss die Integrationsaufgabe auch für Strafgefangene ernsthaft wahrgenommen werden, welche in der Schweiz keine Aufenthaltsberechtigung (mehr) haben. Das verlangt nach internationaler Kooperation bei der Vollstreckung und beim Vollzug von strafrechtlichen Sanktionen und müsste im Ergebnis dazu führen, dass solche Sanktionen im Grundsatz (und nicht bloss optional) im Heimatstaat vollstreckt werden können. Diese Vision setzt aber offensichtlich eine Harmonisierung des Sanktions- und Vollzugsrechts sowie entsprechende internationale Instrumente voraus.
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Wie die für die künftige Entwicklung eines integrativ wirkenden Vollzugs massgeblichen Akteure darauf tatsächlich Einfluss nehmen werden, ist nur teilweise absehbar. Mit erheblicher Sicherheit ist zu erwarten, dass der Einfluss der im internationalen Recht verankerten Akteure, namentlich die EMRK und die CPT (Nationale Kommission zur Verhütung von Folter), weiter zunehmen wird, wodurch eine Stärkung menschenrechtsbezogener Vollzugsaspekte gefördert wird. Zu erwarten ist ebenfalls eine verstärkte Bedeutung der Kantone, welche die Zusammenarbeit über die Konkordatsgrenzen hinaus fördern wollen. Dabei wird die bis vor wenigen Jahren wenig aktive KKJPD eine führende Rolle einnehmen (geplante Schaffung eines «Kompetenzzentrums Justizvollzug»). Sowohl vom Einfluss der Akteure des internationalen Rechts als auch von der verstärkten Zusammenarbeit der Kantone sind in der Folge eine weitere Verrechtlichung des Vollzugs und eine Vollzugsharmonisierung zu erwarten. Ob sich die Bundesbehörden wie seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch in Zukunft weitgehend reaktiv mit dem Strafvollzug befassen werden oder die Rolle eines die Entwicklung mitbestimmenden Akteurs einnehmen werden, ist dagegen nicht absehbar. Der Einfluss der Medien wird zweifellos weiterhin beträchtlich sein, wobei offen ist, ob sich neben dem Kriminalitätsängste bedienenden Boulevardjournalismus auch der Fachjournalismus Gehör verschaffen will. Zivilgesellschaftliche Akteure spielen in der Schweiz derzeit und wohl auch in naher Zukunft allenfalls bloss auf kantonaler Ebene eine Rolle. Die künftige Bedeutung der Wissenschaft ist schliesslich ebenfalls unklar: Einerseits ist ihr direkter Einfluss, 354
3. Die Entwicklung der Freiheitsentziehung in inhaltlicher Hinsicht
jedenfalls in der Gesetzgebung des Bundes, im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte deutlich rückläufig (Erarbeitung von Vorentwürfen, Einsitz in Expertenkommissionen). Andererseits hat die früher beinahe inexistente empirische Forschung zum Straf- und Massnahmenvollzug ganz erheblich zugenommen, ebenso die Zahl der sich damit befassenden wissenschaftlichen Publikationen. Es ist zu hoffen, dass sich die politischen Entscheidungsträger den sich daraus ergebenden Einsichten, jedenfalls mittelfristig, nicht völlig zu entziehen vermögen.
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Teil III: Entwicklungsperspektiven
4.
Absehbare Veränderungen der Insassenpopulation
1
Ungeachtet der oben diskutierten strategischen Ausrichtung des Freiheitsentzugs lassen sich Entwicklungen in Bezug auf die Insassenpopulation beobachten, welche die Frage aufwerfen, ob in naher Zukunft so oder so Anpassungen in der Ausgestaltung des Strafund Massnahmenvollzugs unvermeidlich sein werden. Je nach den oben diskutierten Festlegungen auf strategischer Ebene können diese Entwicklungen erheblich akzentuiert oder auch gebremst werden.
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Nicht bloss in der Schweiz ist deutlich geworden, dass als Konsequenz gesellschaftlicher Strukturveränderungen der Anteil der in gesundheitlicher, sozialer und/oder wirtschaftlicher Hinsicht besonders vulnerabler und benachteiligter Strafgefangener in den letzten Jahrzehnten angewachsen ist und wohl auch künftig zunehmen wird (MORGAN 2002, 1138 ff.). Das bedeutet natürlich nicht, dass der Normalisierungsgrundsatz für diese Insassengruppen unbeachtlich würde, verlangt aber, dass dieser Grundsatz auf diese reale Gefangenenpopulation ausgerichtet wird. Entsprechend sind diese Strafgefangenen beispielsweise nicht (oder nicht prioritär) darauf vorzubereiten, nach der Entlassung in den allgemeinen Arbeitsmarkt einzutreten, wenn dies von vorneherein aussichtslos erscheint, sondern auf die Bewältigung realistischer Lebensperspektiven (etwa als Bezüger der Arbeitslosen- oder Invalidenversicherung, als Teilnehmer von Arbeitsprogrammen, als Teilzeit-Arbeitnehmer in Nischengewerben usf.). Mit Blick auf diese Gefangenenpopulation liegt die Herausforderung an die Vollzugsverantwortlichen vorab darin, solche Integrationsleistungen mit derselben Konsequenz vorzubereiten, wie solche in die «normale, bürgerliche Gesellschaft», ohne damit zur gesellschaftlichen Selektionsinstanz für Randständigkeit zu werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass den Vollzugsanstalten des Straf- und Massnahmenvollzugs nicht mehr rehabilitative Funktionen, sondern die Funktion von Asylen für zahlenmässig anwachsende Segmente randständiger Personen zugewiesen wird.
3
Absehbar sind ferner Veränderungen im Altersaufbau der Gefangenenpopulationen. Zwei gewichtige Gründe lassen erwarten, dass der Anteil der «Vollzugssenioren» in Zukunft erheblich zunehmen wird (MORGAN 2002, 1135). Dafür spricht bereits die in der Gesamtbevölkerung feststellbare Zunahme der älteren Altersgruppen. Obwohl diese im Gegensatz zu den jüngeren nicht zu den besonders kriminalaktiven 356
4. Absehbare Veränderungen der Insassenpopulation
Bevölkerungsgruppen gehören, müssen sich solche Verschiebungen erfahrungsgemäss doch auf die Gefangenenpopulation auswirken. Entscheidend für die Zunahme der Gruppe älterer Strafgefangener dürfte indessen die in jüngster Zeit beobachtete Zurückhaltung bei bedingten Entlassungen aus dem Freiheitsentzug, insbesondere aus der Verwahrung (Teil II, Abschnitt 9.4.1.3) sein. Mit der zu erwartenden Zunahme der älteren Strafgefangenen einhergehen wird deshalb auch eine Zunahme der Langzeitgefangenen. Strafgefangene im Alter von über 60 Jahren und solche, welche sich seit mehreren Jahrzehnten im Freiheitsentzug befinden, sind derzeit seltene Ausnahmefälle. Sowohl in Bezug auf die quantitativ an Bedeutung gewinnende Gruppe der «Vollzugssenioren» als auch auf jene der «Langzeitgefangenen» liegen in der Schweiz zwar Ansätze, aber keine umfassenden Vollzugskonzepte vor (wertvolle Anregungen dazu finden sich in der Empfehlung Rec[2003]23 des Europarates über die Behandlung der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten und anderen Langzeitgefangenen durch die Strafvollzugsverwaltungen vom 9. Oktober 2003). Schliesslich ist absehbar, dass der Anteil der Strafgefangenen ohne Schweizerpass in Zukunft weiter zunehmen wird. Einerseits ist weiterhin mit einer (moderaten) Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz zu rechnen und andererseits (und entscheidend) mit vermehrter Mobilität und verstärkten Migrationsbewegungen, welche über die im Jahre 2015 eingesetzte Flüchtlingsbewegung aus dem Nahen Osten weit hinausgehen wird. Auch abgesehen von den sog. «Kriminaltouristen» sind in der Schweiz nicht integrierte Ausländer infolge ihrer sozial prekären Stellung besonders anfällig, im Netz der Strafrechtspflege hängen zu bleiben. Deshalb gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich der bereits heute überaus hohe Anteil ausländischer Strafgefangener rückläufig entwickeln könnte. Umso konsequenter künftig alternative Sanktionen aber für weitgehend integrierte (und weder flucht- noch rückfallgefährdete) Straftäter eingesetzt werden, desto höher wird der Anteil der Strafgefangenen ohne Schweizerpass ausfallen. Dieser Entwicklung könnte bloss dadurch entgegengewirkt werden, dass für straffällige Ausländer ohne Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz das Konzept des «Vollzugs im Heimatstaat» (oder besser: im Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes) zur Regel erhoben würde. Eine breite Umsetzung dieses Konzeptes würde aber nicht bloss eine verstärkte zwischennationale Kooperation voraussetzen, sondern auch eine Harmonisierung des Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrechts und der tatsächlichen Vollzugsbedingungen sowie auch eine minimale Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen. Angesichts der nationalstaatlichen Prägung der strafrechtlichen Intervention darf mit 357
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Teil III: Entwicklungsperspektiven
einer solchen Entwicklung allerdings auch mittelfristig nicht gerechnet werden. 5
Diese summarischen und nicht vollständigen Hinweise machen deutlich, dass sich der Straf- und Massnahmenvollzug weiterhin auf erhebliche Veränderungen einzustellen hat. Es ist ein Gebot der Klugheit, diese Veränderungen nicht bloss reaktiv nachzuvollziehen, sondern nationale und internationale Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und sowohl die Rechtslage als auch die Vollzugsstrukturen prospektiv danach auszurichten.
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Sachregister Die erste Ziffer bezeichnet den Teil (I, II oder III), die zweite Ziffer das Kapitel (1–9) und die dritte Ziffer die Randnummer (II/5 18 verweist also auf Teil II, Kapitel 5, Randnummer 18). Auf in Kästchen gesetzte Ergänzungstexte verweisen deren Nummern (z.B. DI 4.2, RII 1.2; vgl. das Verzeichnis der Ergänzungstexte Seiten XIII–XVII). Verweise auf inhaltlich zentrale Textstellen werden kursiv ausgezeichnet, sofern mehrere Verweise angegeben sind. Abschreckungsvollzug I/3 22; I/4 6; III/3 6 abweichende Vollzugsformen II/5 60– 65; II/6 22 Abtretung des Vollzugs – an einen anderen Kanton II/4 22 – an einen anderen Staat RII 1.4; II/4 23–29; III/4 4 Affoltern a. A. (Untersuchungsgefängnis) II/5 17 alternative Sanktionen I/2 25; I/4 5; II/3 2, 6; II/9 45; III/2 1, 2 – Vollzugskosten II/5 72 ambulante Massnahmen II/9 42–54 – Aufhebung II/9 46 – Dauer II/9 46 – mit/ohne Strafaufschub II/9 44, 45, 45a–45e – quantitativ II/9 54 – Rechtsprechung BGer II/9 45 – Vollzug II/8 45; II/9 45a–45e – Voraussetzungen II/9 42–45 Amnestie II/4 33 Angleichungsgrundsatz s. «Normalisierung» Anordnung des Vollzugs II/4 1–6; RII 4.1 Anstaltenkatalog II/7 2 Anstaltsbau – panoptischer I/2 18, 20 – Zellengefängnisse/Einzelunterbringung I/2 18, 20, 23; II/5 87–89, 92 Anstaltsbekleidung QI 2.7; II/5 87, 88, 90 Anstaltsdirektion s. «Strafanstalt» Anstaltsordnung s. «Hausordnung»
Anstaltsmitarbeiter s. «Vollzugspersonal» Anstaltsreglemente (historisch) QI 2.6; QI 2.7 Anstaltstypen I/2 25; II/5 15–17; II/6 13, 15; II/7 2 Anwalt II/4 11; II/5 38, 113, 116, 118, 124; II/9 38 Arbeit I/3 9; II/5 93–101 − Arbeitsagogik II/5 99; II/7 27; VII 9.2.1 – Arbeitsbetriebe s. «Strafanstalt» – Arbeitspflicht I/2 12–14, 17, 18; II/5 93–96, 101 – Berufslehre II/5 99 – Selbstbeschäftigung II/5 3, 95 – Vollbeschäftigung II/5 98, 100 Arbeitsentgelt II/5 102–107 – Bemessung II/5 103 – historisch I/2 17 – Höhe II/4 34; II/5 105 – Verwendung II/5 106, 107 – Voraussetzungen II/5 103 – Zweck II/5 102 Arbeitserziehung(sanstalt) II/5 37; II/9 27 Arbeitsexternat II/5 15; II/5 23–31, 45, 144; DII 5.4; II/9 57f Arbeits- und Wohnexternat s. «Wohnund Arbeitsexternat» Arbeitshäuser I/2 12, 13 Arxhof (Anstalt für junge Erwachsene) II/9 32 Aufenthaltsdauer (im Vollzug) II/6 12; SII 6.1.2a; SII 6.1.2b
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Sachregister Aufsichtskommission s. «Kommissionen» Ausländer/innen (im Vollzug) II/5 6; II/6 31–36; III/4 4 – bedingte Entlassung s. «bedingte Entlassung» – Herkunft II/6 9, 34 – Konkordatsrichtlinien RII 6.2.6 – konsularische Beziehungen RII 1.4; II/5 185 – quantitativ II/6 9, 34 – in Untersuchungshaft EI 5.2a – Vollzug im Heimatstaat s. «Abtretung des Vollzugs» Aussenwelt, Beziehungen zur I/2 25; I/3 9; II/5 5, 9; II/5 108–148, 158 (s. auch «Besuche», «Briefverkehr», «Bücher», «Fernsehempfang», «Internetkommunikation», «Pakete», «Radioempfang», «Telefonverkehr», «Urlaube», «Veranstaltungen», «Zeitungen») bedingte Entlassung II/8 1–28; RII 8 – Ausgestaltung II/8 17–19; RII 8 – ausländische Staatsbürger II/8 26–28; RII 8 – bei gemeingefährlichen Strafgefangenen II/8 13 – Bewährungshilfe II/8 17, 18, 22, 23 (s. auch «Bewährungshilfe») – historisch I/2 20; II/8 3 – aus lebenslanger Freiheitsstrafe II/3 9; II/8 5 – aus Massnahmen II/8 11; II/9 35–38, 46, 58 – Mindestdauer der Strafverbüssung II/8 4–6; RII 8 – Probezeit II/8 17–19, 20–24; RII 8 – Prognose II/8 4; II/8 9, 10; RII 8 – quantitativ II/8 3 – rechtliches Gehör II/8 14; RII 8 – Rechtsprechung BGer II/5 191; RII 8 – Richtlinien der Strafvollzugskonkordate II/8 2 – Verhalten des Strafgefangenen II/8 4; II/8 7, 8; RII 8 – Verfahren II/8 11–16; RII 8; II/9 57f – Voraussetzungen II/8 4–10; RII 8 – Weisungen II/8 17–19, 22, 23, 45; RII 8
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– Widerruf II/8 20–25; RII 8 – Zuständigkeit II/8 11; RII 8 – Zweck II/8 1–3; RII 8 Bedingter Strafvollzug s. «Freiheitsstrafen» Begnadigung II/4 33; II/8 3; RII 8 begutachtende Kommission s. «Kommissionen» Behandlungsideologie I/3 13, 14 Behandlungsmassnahmen, Erfolgskriterien I/4 8, 9; DI 4.2 Bellechasse (Strafanstalt) I/2 23; II/1 5; II/5 83, 155; Bentham, Jeremy I/2 18 Bern (Regionalgefängnis) II/5 176; II/7 8 Beschämung s. «Abschreckungsvollzug» Besuche II/5 109–111, 113; II/5 124– 130 – ausserhalb des Anstaltsperimeters II/5 129 – von besonderen Adressatengruppen II/5 124 – Familien- und Partnerbesuche II/5 129; VII 5.3c – Mitbringsel II/5 127 Bewachungsstation (am Inselspital) II/6 27; VII 6.2.4; II/9 15 Bewährungshilfe II/8 18, 22, 23; II/8 29–46; II/9 45d – Aufgaben II/8 33–46 – durchgehende Betreuung II/8 13; II/8 42, 43 – Entlassenenhilfe II/8 44 – Funktion II/8 30 – historisch II/8 30 – Konkordatsrichtlinien RII 8.7 – Organisation II/8 31 – quantitativ II/8 18, 46 − risikoorientierte II/8 41a – Schuldensanierung DII 5.3a; II/8 37; DII 8.8a – Wirkungen II/8 18 – Zuständigkeit II/2 13; II/8 29–29a BIG s. «Gesundheit» Bildungsmassnahmen (an Strafgefangenen) s. «Weiterbildung» Bitzi (Massnahmenzentrum) II/9 15
Sachregister Bostadel (Strafanstalt) II/5 129; II/7 2 Briefverkehr II/5 109–111; II/5 115– 119 – mit speziellen Adressatengruppen II/5 113, 116, 118 Bücher, Bezug von II/5 109, II/5 145– 146, 156 Bund, Zuständigkeit I/2 24; II/1 4; RII 1.2; II/2 1, 2; II/5 74, 75; II/9 75 Bundesbeiträge I/2 24; RII 1.2; II/2 1; II/5 75, 89 Bundesgericht, Rechtsprechung I/2 24; II/5 169–184; RII 5.14.2 – allgemeine Strafvollzugserlasse II/5 169–172; RII 5.14.2 – bedingte Entlassung s. «bedingte Entlassung» – Grundrechte II/5 115, 116, 120, 124, 145, 147, 156, 157; II/5 169–192 – Spaziergang II/5 175; RII 5.14.3 Champ-Dollon (Gefängnis) DII 6.2.5 Clemens XI., Papst I/2 16 Codex Hammurabi I/2 3 Codex Urammu I/2 3 Constitutio Criminalis Carolina I/2 11 CPT (Europäischer Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) II/1 9; RII 1.4; II/2 29; DII 2.6; II/5 92 Dielsdorf (Gefängnis) II/6 15 Differenzierung des Vollzugs I/2 25; II/5 15–86; DII 5.6 Direktion der Vollzugseinrichtungen s. «Strafanstalt» Disziplinarrecht II/5 154–161; II/6 29; II/9 17, 24, 30; SII 5.12 – Anwendung II/5 159, 160 – Arreststrafe II/5 39, 40, 145; II/5 154– 159; SII 5.12 – Beschwerden II/5 155, 160 – Disziplinarorgan II/5 155 – Disziplinarsanktionen II/5 147; II/5 155–159 – Disziplinarverfahren II/5 154–156, 159 – historisch I/2 9 – Verstösse SII 5.12 – Zusammentreffen Disziplinarvergehen/Straftat II/5 161
Drogenabhängige – im Massnahmenvollzug II/9 19–25 – im Strafvollzug II/5 78; VII 5.3a; VII 5.3b; VII 5.3c; II/6 28–30; DII 6.2.5 durchgehende Betreuung s. «Bewährungshilfe» Edward VI., König I/2 12 Eigenverantwortung (des Strafgefangenen) I/3 7, 8, 9, 11, 14; II/7 7 Einheitsbeschwerde II/5 191 Einheitsfreiheitsstrafe s. «Freiheitsstrafen» Einzelhaft I/2 17–20; II/5 38–42; DII 5.4 – im Vollzug therapeutischer Massnahmen II/9 17 Einzelunterbringung s. «Anstaltsbau» Electronic Monitoring II/5 36a, 66–73, 75; DII 5.4 Entgegenwirkungsgrundsatz II/5 9, 13, 41 Entlassenenhilfe s. «Bewährungshilfe» Ersatzfreiheitsstrafe (Umwandlungsstrafe) I/2 10; III/2 3 Erziehungszweck (des Vollzugs) s. «Resozialisierung» Europäische Strafvollzugsgrundsätze II/1 9; RII 1.4; II/5 172, 175 Europarat – Übereinkommen und Empfehlungen I/4 5; RII 1.4; II/2 26; II/4 25–29; II/6 34; II/7 22; II/8 2; III/2 2, 6; III/4 3 – Europäische Strafvollzugsgrundsätze s. «Europäische Strafvollzugsgrundsätze» Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (CPT) s. «CPT» Evaluationsforschung s. «Wirkungen» Exlusion des Strafgefangenen I/1 8; III/3 5–6 Fachkommission s. «Kommissionen» Fernsehempfang II/5 109, 110; II/5 147, 148, 156 Forel Klinik Ellikon II/9 22 Fluchten I/3 4, 5 Frauenvollzug II/2 7; II/5 16, 61; VII 5.3c; II/6 13–16
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Sachregister – Mutter-Kind-Abteilungen II/5 61; VII 5.3c; II/6 15, 16 – quantitativ II/6 6 – Vollzugsanstalten II/6 15 – Vollzugsvorschriften II/6 16 freie Mitarbeit(er) s. «Vollzugspersonal» Freiheitsstrafen – bedingte/teilbedingte II/3 3; EII 3.1; DII 8.8b – Einheitsfreiheitsstrafe II/3 5; II/5 2, 3, 95 – Ersatzfreiheitsstrafe s. «Ersatzfreiheitsstrafe» – kurze I/4 5; II/2 12; II/3 6, 7; II/4 5; II/6 12 – lebenslange II/3 8–10 – ordentliche II/3 4, 5 – quantitativ I/1 6; II/6 2 – Wirkungen s. «Wirkungen» – unbedingte I/1 6–8; II/5 1–195 Fürsorgepflicht, besondere I/3 11, 12, 16, 19, 20; II/5 10, 13, 152 fürsorgerische Freiheitsentziehung EI 5.2a Galeerenstrafe I/2 2, 14 Gefangenenraten II/6 2, 3; SII 6.1.1a; SII 6.1.1b; SII 6.1.2b Gefängnisstrafe II/3 5; II/5 3 Gefangenenseelsorge (Gefängnisseelsorge) QI 2.4; QI 2.7; I/3 12; II/5 194; II/7 9; II/7 23–26 Gefängnispopulation II/6 1–40 – quantitativ II/6 1–3; SII 6.1.1a; SII 6.1.1b, III/2 2 – in Untersuchungshaft EI 5.2a – Zusammensetzung II/6 4–40; III/4 1–5 Geldstrafe I/2 10; II/3 2, 3; EII 3.1 gemeingefährliche Strafgefangene II/6 37–40; II/8 13; III/3 6 – Fachkommissionen s. «Kommissionen» – begutachtende Kommission nach Bundesrecht II/2 11; DII 2.3; II/5 134a; II/6 40; RII 6.2.7; II/8 13; II/9 58 – Konkordatsrichtlinien II/6 37 gemeinnützige Arbeit II/3 2–4; EII 3.1; II/8 45 Gemeinschaftshaft s. «Normalvollzug»
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Generalprävention EI 1; I/2 17; I/3 22 Geschichte (Freiheitsstrafe, Vollzug) I/2 1–26 geschlossener Strafvollzug I/3 9; II/5 15, 17b; VII 5.3b geschützte Werkstätten II/5 96; II/7 14; VII 9.2.1 Gesundheit – der Gefangenen II/6 24, 28; DII 6.2.4b – Gesundheitsdienst I/3 12; II/5 179, 194; II/6 25, 26; II/7 5; II/7 21, 22 – Gesundheitswesen DII 6.2.4a Gewaltmonopol I/2 1, 5 Good Live Modell I/4 4a Grundrechte (der Strafgefangenen) I/2 24; II/5 167–192; RII 5.14.2 – ärztliche Behandlung II/5 179 – Eheschliessung II/5 181 – Kultusfreiheit II/5 182 – Leibesvisitationen II/5 180 – persönliche Freiheit II/5 174, 175, 178–180 – Petitionsfreiheit II/5 183 – politische Rechte II/5 184 – Rechtsprechung des Bundesgerichts s. «Bundesgericht» – Rechtsprechung zur EMRK s. «Menschenrechte» – Spaziergang II/5 175, 176; RII 5.14.3 – Vereinsfreiheit II/5 183 Grundsätze (des Vollzugs) s. «Vollzugsgrundsätze» Gruppenvollzug I/3 9; II/5 22; II/7 7 Hafterstehungs(un)fähigkeit II/4 3; II/5 64 Haftstrafe II/3 5; II/5 3 Halbfreiheit s. «Arbeitsexternat» Halbgefangenschaft II/2 5; II/5 15; II/5 43–53; DII 5.4 Harm reduction II/6 30; DII 6.2.5 Hausarrest s. «Electronic Monitoring» Hausordnung (Anstaltsordnung) QI 2.6; QI 2.7 Heroinabgabe II/6 30; DII 6.2.5 Hindelbank (Strafanstalt) I/2 23; II/5 16, 37, 78, 89, 95; 129; VII 5.3c; DII 5.5b; II/6 15, 28; DII 6.2.5; II/7 8, 12, 13, 21, 23, 28; II/9 15 Horgen (Gefängnis) II/6 19
Sachregister Howard, John I/2 17–18; LI 2 Hungerstreik II/5 153–153b Im Schache (Massnahmenzentrum) II/9 15, 23 Incapacitation s. «Unschädlichmachung» Individualisierung des Vollzugs I/2 25; II/5 81–83; DII 5.5a; DII 5.6 Informationsrechte/-pflichten II/5 193–195; II/7 22; II/8 33, 39; II/9 7 Insassenrat I/3 9 Internetkommunikation II/5 144–144a Jugendstrafrecht/-vollzug I/5 7; EI 5.2b; II/6 17–19; VII 9.2.3 junge Erwachsene, Massnahmen an II/2 7; II/9 26–34; VII 9.2.3 – Aufhebung II/9 29, 35–41 – Dauer II/9 29 – quantitativ II/9 34 – Vollzug II/9 30–33; VII 9.2.3 – Voraussetzungen II/9 28 Kalchrain (Anstalt für junge Erwachsene) II/9 32 Karl V., Kaiser I/2 11; II/9 55 Karl der Grosse, Kaiser I/2 5 Kleidung (der Strafgefangenen) s. «Anstaltsbekleidung» Klosterfiechten (Vollzugszentrum) II/5 28 Klosterhaft I/2 9 Konkordate s. «Strafvollzugskonkordate» Kommissionen – Aufsichtskommission II/2 12, 28a; DII 2.3; II/2 28 – für die bedingte Entlassung II/8 11 – Begnadigungskommission II/4 33 – begutachtende Kommission nach Bundesrecht II/2 11; DII 2.3; II/5 134a; II/6 40, 40a; RII 6.2.7;II/8 13; II/9 58 − Eidg. Fachkommission für lebenslang Verwahrte II/9 64 – Fachkommission II/2 11, 12; II/6 37–39 – für die Urlaubsgewährung II/5 134a Kontrollen – der Besucher II/5 130; II/6 29
– der Strafgefangenen II/5 149, 150, 180; II/6 29 – Urinkontrollen II/6 29 – des Vollzugs s. «Strafkontrolle» – der Zellen II/5 149, 150 Körperstrafen I/2 4, 5 Kostgelder II/2 5; DII 2.2; RII 2.2 kranke Strafgefangene II/6 23–27; VII 6.2.4 Kriminalitätskontrolle, -prävention, -verhütung I/1 4; I/2 25; I/4 1–9; II/5 6; II/9 4–4a; III/2 4, 6; III/3 1 Lavater, Johann Caspar II/8 30 La Stampa (Strafanstalt) II/5 129; II/6 13 La Tuilère (Strafanstalt) II/6 15 Le Levant/Lausanne (Drogentherapie) II/9 23 Lenzburg (Strafanstalt) I/2 20, 23; II/5 6, 143a; DII 5.4.10; II/6 22, 32 Lernprogramme II/8 19, 41; DII 8.8b Lindenfeld (Wohnheim) II/5 28 Lutzenberg (Drogentherapie) II/9 23 Massnahmen II/9 1–75 – Allgemeines Massnahmerecht II/9 1–8 – ambulante s. «ambulante Massnahmen» – andere Massnahmen II/3 3; II/9 1; EII 9.1 – Arten s. für therapeutische Massnahmen «junge Erwachsene», «psychische Störungen», «Suchtbehandlung» – Aufhebung II/9 12, 21, 35–41, 58 – Begutachtung II/9 4–4a – Frauen im Massnahmenvollzug II/9 15, 32 – quantitativ II/9 8, 18, 25, 54, 71–74 – bei Schuldunfähigkeit II/9 1 – stationäre therapeutische II/2 15, 17; II/5 164; II/9 8a–41 – Verwahrung II/9 55–74; III/3 6 – Vollzug II/9 8c, 13–17, 22–24, 30–33, 57c–57i; VII 9.2.1; VII 9.2.3 – vorzeitiger Massnahmeantritt s. «Strafantritt» – Voraussetzungen II/9 4–4a, 11, 20, 28, 57–57b, 63 – Zwangsbehandlung II/9 6 – Zweck II/9 4–4a, 10, 19, 26, 55, 56
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Sachregister Menschenrechte/Menschenrechtskonvention I/4 6; II/1 8; RII 1.4; II/4 12; II/5 5, 92, 174, 181; II/5 186, 187; II/9 60–61, 64–65 Methadonabgabe II/6 30; DII 6.2.5 Milieutherapie VII 5.3b; DII 9.2.2 Minderjährige Gefangene EI 5.2b; II/6 17–29; VII 9.2.3 Mitarbeitende s. «Vollzugspersonal» Mitverantwortung (der Strafgefangenen) s. «Eigenverantwortung» Modellversuche I/2 24; II/5 66, 75 Mütter mit Kindern (im Vollzug) s. «Frauenvollzug» New Public Management II/7 32–36 Normalisierung I/3 7–10, 20; II/5 8, 13, 88, 90–92, 97, 101, 132, 144, 146, 148; II/6 14; II/7 15, 31 Normalvollzug II/5 20–22; DII 5.4 «Nothing works» I/4 4 offener Strafvollzug I/3 9; II/5 15, 17b; VII 5.3a – historisch I/2 21 Opfer I/1 8; I/3 16; II/3 18; II/4 20; II/5 138, 195; VII 5.3a; VII 5.5b; II/8 16, 25; RII 8 Orbe (Strafanstalt) II/5 129 Pakete, Empfang von II/5 120–123 Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. I/2 11; II/9 55 Pekulium s. «Arbeitsentgelt» Pensionsgeld II/5 24, 47, 56 Personal s. «Vollzugspersonal» Pestalozzi, Johann Heinrich I/2 17; QI 4.1 Pilotprojekte (Modellversuche) I/2 24; II/5 66, 75 Planung des Vollzugs s. «Vollzugsplanung» Polizeihaft EI 5.2a Pönologie I/3 1–22 Pöschwies (Strafanstalt) QI 2.7; II/3 10; II/5 28, 87, 98, 142, 159; DII 5.4.1; II/6 22; II/7 17, 28; DII 8.8b; II/9 15 Pramont (Anstalt für junge Erwachsene) II/5 37; II/9 32 Privatisierung (des Vollzugs) II/2 15– 20; DII 2.4; II/7 33, 35; II/8 29–29a; III/1 1
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Privatstrafrecht I/2 1, 3–6 Psychiatrie-Abteilung Universitätsspital Basel II/6 27; II/9 16 Psychiatrische Klinik Universitätsklinik Zürich, Standort Rheinau II/6 27; II/9 16 psychiatrische Versorgung II/5 78; II/6 26, 27; VII 6.2.4; VII 9.2.1 psychische Störungen, Behandlung von II/9 8a–18, 35–41, 47; VII 9.2.1 – ambulante s. «ambulante Massnahmen» – Aufhebung II/9 12, 35–41 – Dauer II/9 12 – quantitativ II/9 18 – Vollzug stationärer therapeutischer Massnahmen II/9 13–17, 22–24, 30– 33;VII 9.2.1 – Voraussetzungen II/9 11 Pufendorf, Samuel von I/2 17 Punitivität I/1 7; I/4 6; III/2 4 Quartier carceral psychiatrique de Belle-Idée II/6 27; II/9 15 Quartier cellulaire de l’hôpital universitaire de Genève II/6 27 Radioempfang II/5 109, 110; II/5 147, 148, 156 Realta (Strafanstalt) II/5 78; II/6 30; DII 6.2.5; DII 8.8b Rechtmässigkeit I/3 6, 18 Rechtsgrundlagen II/1 1–9 – bundesrechtliche II/1 2–4; RII 1.2 – kantonale II/1 5–7; RII 1.2; RII 1.3 – völkerrechtliche II/1 8, 9; RII 1.4 Rechtsmittel II/5 14; II/5 188–192; II/6 39 – Beschwerdefrist II/5 188 – Beschwerdeinstanz II/5 188 – Rechtsbeistand II/5 190 – staatsrechtliche Beschwerde II/5 191 − strafrechtliche Beschwerde II/5 191; II/8 15 – Verwaltungsgerichtsbeschwerde II/4 25; II/5 14, 191 Rechtsprechung des Bundesgerichts s.« Bundesgericht» Rechtstellung (der Strafgefangenen) I/2 25; II/5 167–171; RII 5.14.2
Sachregister Rechtsverhältnis, besonderes II/5 169– 171 Relais Enfants Parents Romands (REPR) DII 5.10 Resozialisierung I/3 13–16; DI 3.2.6; QI 4.1; III/3 7a–7b Restorative Justice III/3 7 Riant-Parc (Anstalt) II/6 15 Richtlinien (der Strafvollzugskonkordate) s. «Strafvollzugskonkordate» Risikoorientierter Strafvollzug (ROS) II/5 13a; DII 5.2; VII 5.3a; VII 9.2.3 RNR-Modell I/4 4a Rousseau, Jean-Jacques I/2 17 Rückfall, Statistik I/4 2; SI 4.1 ; II/9 30b Satis (Männerheim) II/5 28 SAZ (Schweizerisches Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal) I/2 24; II/2 25, 26; DII 2.5 – Lehrplan II/2 26; DII 2.5 Saxerriet (Strafanstalt) I/2 23; II/5 28, 83, 89; VII 5.3a; II/6 22; Schallenwerke/Schallenhaus I/2 12, 13; QI 2.4 Schöngrün/Oberschöngrün (Strafanstalt) I/2 23, II/6 30; DII 6.2.5 Schuldensanierung s. «Bewährungshilfe» Schutzaufsicht s. «Bewährungshilfe» Schweiz. Akademie der medizinischen Wissenschaften II/7 22 Seniorenvollzug II/5 80; II/6 20–22; DII 6.2.3; III/4 3 Sexual- und Gewalttäter VII 5.3b; II/9 59–66a; RII 9.4.2; III/3 6 Sicherheitsabteilung II/5 78–80; DII 5.4.10; II/6 15, 38 Sicherheitsauftrag I/3 4, 5, 19, 20; II/5 12, 15; II/7 17, 18; II/9 55 Sicherheitshaft EI 5.2a Solothurn (JVA) VII 5.3b; DII 5.4.1; II/6 30; DII 6.2.5; II/9 15–16, 23 Sozialdienst I/3 12; II/7 5, 12; II/7 20 Soziale Kontrolle I/1 1 soziale Sicherheit (der Strafgefangenen) II/5 162–166 – Alters- und Hinterlassenenversicherung II/5 163 – Arbeitslosenversicherung II/5 166
− Invalidenversicherung II/5 163 – Krankenkassen II/5 164 – Unfallversicherung II/5 165 soziales Training I/3 15; DI 4.2 soziales Umfeld I/4 9; II/5 7 Spaziergang s. «Grundrechte» Spezialprävention I/1 4, 8; EI 1; I/2 17; I/3 13; II/5 2, 6–8, 12, 84–86; II/8 2, 30 Spritzenabgabe II/6 30; DII 6.2.5 St. Jakob (Strafanstalt) I/2 20 St. Johannsen (Massnahmenzentrum) I/2 23; II/5 37; DII 5.5b; II/7 35; II/9 14–16, 23; VII 9.2.1 Steinhof (Aussenwohngruppe) VII 5.3c; II/6 15 Stooss, Carl I/2 22; QI 4.1 Strafanstalt (Organisation) II/7 1–36 – als Teil der kantonalen Verwaltung II/7 1–3 – Arbeitsbetriebe II/7 14–16 – Direktion II/7 8–10 – interne Differenzierung II/7 4–7 – Sicherheitsbereich II/7 17, 18 – Verwaltungsbereich II/7 19 – Vollzugsbereich II/7 11–13 Strafvollzug – ordentlicher II/4 1–6; II/5 39, 41 – vorzeitiger II/4 7–14; II/8 12 – vorzeitiger Massnahmenvollzug II/4 7, 9, 10, 14; Strafarten EII 3.1; II/5 3 Strafaufhebung II/4 30–33 Strafaufschub II/4 3 – ambulante Massnahmen mit Strafaufschub s. «ambulante Massnahmen» Strafbedürfnis s. «Punitivität» Strafbefreiung I/1 5; II/3 11–18 – bei fehlendem Strafbedürfnis II/3 14, 15 – bei erfolgter Wiedergutmachung II/3 16–18 – bei Betroffenheit des Täters durch die Tat II/3 19, 20 Straferstehungs(un)fähigkeit I/3 19; II/4 18; II/5 61, 64 Strafkontrolle II/4 6 Straftheorien I/1 3; EI 1
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Sachregister Strafunterbruch s. «Unterbrechung des Vollzugs» Strafvollstreckung s. «Vollstreckung» Strafvollzugskonkordate I/2 24; II/1 3; II/2 3–7; RII 2.2 – Richtlinien II/2 5, 24; RII 2.2; II/5 26– 28, 105; RII 5.4; RII 5.10.5; II/6 37; RII 6.2.6; II/7 13; II/8 2; RII 8.7 Stufensystem (Progressivsystem) I/2 18, 20, 23; II/5 19; DII 5.4; RII 8 Suchtbehandlung, Massnahmen zur II/9 19–25, 35–41; VII 9.2.1 – ambulante s. «ambulante Massnahmen» – Aufhebung II/9 21, 35–41 – Dauer II/9 21 – quantitativ II/9 25 – Vollzug stationärer therapeutischer Massnahmen II/9 22–24; VII 9.2.1 – Voraussetzungen II/9 20 Suizide s. «Todesfälle» Tagesablauf QI 2.6; QI 2.7; I/3 7, 9; DII 5.4.1 tageweiser Vollzug II/5 54–59; DII 5.4 Tatausgleich s. «Wiedergutmachung» Telefonverkehr II/5 109–111; II/5 141– 143b – Mobiltelefone II/5 143a – Skype II/5 143b Therapie – im Strafvollzug I/3 16; VII 5.3b; II/5 194; II/6 26, 29; II/7 9 – Sozialtherapie/Massnahmen I/4 7; II/9 16, 17, 22, 23, 27, 33, 45a–45e; VII 9.2.1 Thorberg (Strafanstalt) II/5 78, 159; DII 5.5b; DII 6.2.5; Thun (Regionalgefängnis) II/6 19 Todesfälle (im Vollzug) II/4 31 – Suizide II/4 31; II/5 152 Transporte (von Gefangenen) II/2 20 Übereinkommen, internationale RII 1.4 Übergangsmanagement DII 8.8c, II/8 282, 288, 292 Übernahme des Vollzugs s. «Abtretung des Vollzugs» Überstellung s. «Abtretung des Vollzugs»
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Uitikon (Anstalt für junge Erwachsene) DII 8.8b; II/9 32; VII 9.2.3 unmittelbarer Zwang II/5 151 UNO, Übereinkommen und Empfehlungen RII 1.4; II/2 29; III/2 2 Unterbrechung des Vollzugs I/3 19; II/4 15–21 – von Massnahmen II/4 16 – quantitativ II/4 21 Untersuchung der Besucher, Strafgefangenen, Zellen s. «Kontrollen» Untersuchungshaft I/2 8; EI 5.2a; II/4 5, 8, 12; II/6 10, 19; II/8 6, 24, 43 Unschädlichmachung I/1 8; I/3 5; I/4 1; II/5 14; II/9 55; III/3 6 Urdorf (Vollzugszentrum) II/2 18; II/5 17, 28 Urlaube II/5 109, 110, 112, 113; II/5 133–138; RII 5.10.5a; RII 5.10.5b – aus vorzeitigem Strafantritt II/4 11 – Beziehungsurlaube II/5 110, 134, 135; RII 5.10.5a – konkordatliche Richtlinien II/5 135; RII 5.10.5a; RII 5.10b – Missbrauch II/5 136, 137 – Sachurlaube II/5 110, 134, 135; RII 5.10.5b − für Verwahrte II/9 57f, 66 USA/Vereinigte Staaten I/2 18; I/3 5, 13; I/4 4, 6; II/2 19; II/5 14; III/2 5; III/3 2, 5, 6 Veranstaltungen – mit externen Personen innerhalb der Anstalt II/5 131, 132 – ausserhalb der Anstalt II/5 139, 140 Verbannung I/2 4, 5, 8 Verdienstanteil s. «Arbeitsentgelt» Verpflegung (der Strafgefangenen) QI 2.7; II/5 87, 88, 91 Verwahrung II/9 5, 47; II/9 55–74; III/3 6 – Anstalten II/2 15 – Aufhebung II/9 58 – Dauer II/9 55, 58 – gemäss Art.123a BV II/9 59–66a; RII 9.4.2 – quantitativ II/9 72–74 – Vollzug II/9 57c–57i – Voraussetzungen II/9 39, 41, 57–57b
Sachregister – Zielgruppe II/9 56 Völkerrecht II/1 8, 9; RII 1.4; II/5 185–187 – konsularische Beziehungen II/1 8; RII 1.4; II/5 185 – Menschenrechte s. «Menschenrechte» – «Non-refoulement»-Grundsatz II/8 27 – Überstellung verurteilter Personen s. «Ausländer/innen» – Zwangsarbeit s. «Zwangsarbeit» Vollstreckung (von Strafen und Massnahmen) I/5 2; II/1 6, 7; RII 1.4; II/4 1–36; RII 8 Vollstreckungs- und Vollzugsorgane – Anstalten II/2 12; DII 2.3 – kantonale II/2 8–14; DII 2.3 – Kontrollorgane II/2 27–29; DII 2.6 – private s. «Privatisierung» Vollstreckungsverjährung II/4 32 Vollzugsauftrag I/3 3, 19, 22 Vollzugsbehörde s. «Vollstreckungsund Vollzugsorgane» Vollzugsformen I/2 25; II/5 18–80; DII 5.4 – abweichende II/5 60–65 – einzelne bundesrechtliche Vollzugsformen s. «Arbeitsexternat», «Einzelhaft», «Electronic Monitoring», «Halbgefangenschaft», «Normalvollzug», «tageweiser Vollzug», «Wohnund Arbeitsexternat» – Konkordatsrichtlinien RII 5.4 – nach kantonalem Recht II/3 10; II/5 77–80; VII 5.3a; VII 5.3b; VII 5.3c; DII 5.4.10 – Typologie DII 5.4 – versuchsweise Einführung II/5 66; II/5 74–76; II/9 75 Vollzugsgericht II/2 8; II/8 11 Vollzugsgrundsätze II/5 4–14; RII 5.2; (s. auch «Entgegenwirkungsgrundsatz», «Fürsorgepflicht», «Normalisierung», «Rechtmässigkeit», «Resozialisierung», «Sicherheitsauftrag», «Spezialprävention», «Vollzugsauftrag») Vollzugskoordination II/5 82; DII 5.5a Vollzugskontrolle s. «Strafkontrolle»
Vollzugskosten DII 2.2; II/4 34–36; II/8 46; III/2 5 – bei alternativen Sanktionen II/5 72 – ausserordentliche II/4 36 − Beteiligung des Strafgefangenen II/5 105 Vollzugspersonal II/2 21–26 – Ausbildung II/2 22, 25, 26; DII 2.5; SII 2.5.2 – Bundesrecht II/2 22 – freie Mitarbeiter II/7 29–31 – nebenamtliche II/7 29–31 – quantitativ II/2 21; SII 2.5.1 – Rekrutierung II/2 24; II/7 13, 16, 18, 20, 21 Vollzugsplanung I/2 25; II/2 7; II/5 81– 83; DII 5.5a; RII 5.10.5; II/7 6 Vollzugsregimes s. «Vollzugsformen» Vollzugsregister s. «Strafkontrolle» Vollzugsstufen II/5 19, 41; DII 5.4 – historisch I/2 18, 20, 25 vorzeitiger Strafvollzug II/4 7–14 Wagnitz , Heinrich I/2 17 Wauwilermoos (Strafanstalt) I/2 23 Weiterbildung (der Strafgefangenen) II/5 95, 99, 100, 104; VII 5.3b; DII 5.8 Wiedergutmachung I/3 17; II/5 11, 83; VII 5.3a; DII 5.5b; II/8 38; RII 8; II/9 5; III/3 5, 7 – als Strafbefreiungsgrund II/3 16–18 Winterthur (Anstalt für Halbgefangenschaft) DII 8.8b Wirkungen (der Freiheitsstrafe) I/1 8; I/3 7; I/4 1–9 Witzwil (Strafanstalt) I/2 21; II/5 93, 139; DII 5.5b; DII 6.2.5; II/7 12, 14, 23, 28 Wohn- und Arbeitsexternat II/5 32–37, 144; DII 5.4; II/9 57f Zeitschriften, Empfang von, s. «Zeitungen» Zeitungen, Empfang von II/5 109, 110; II/5 145, 146, 156 Zellen (Ausstattung, Beleuchtung, Belüftung, Grösse, Heizung) II/5 87–92, 156 Zuchthausstrafe II/3 5; II/5 3 Zuständigkeit, Bund und Kantone RII 1.2; II/2 1, 2
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Sachregister Zwangsarbeit I/2 2, 8, 12–14; RII 1.4; II/5 185 (s. auch «Arbeit») Zwangsmassnahmen – an Ausländern EI 5.2a; III/3 6 – historisch QI 2.7 – Zwangsbehandlung/-medikation II/5 151, 152; II/9 6 – Zwangsernährung s. «Hungerstreik»
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